Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Die Kollegin Dr. Margrit Spielmann feierte am
29. April ihren 60. Geburtstag. Im Namen des Hauses
gratuliere ich nachträglich sehr herzlich und wünsche alles Gute.
({0})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Situation im Hinblick auf das akute Atemwegssyndrom ({1}) in der
Bundesrepublik ({2})
2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen,
Rainer Funke, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP: Opferrechte stärken und verbessern
- Drucksache 15/936 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({4})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen
vom 27. August 2002 zum Abkommen vom 14. No-
vember 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
land und Kanada über Soziale Sicherheit - Drucksa-
che 15/881 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
12. September 2002 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Slowakischen Republik über So-
ziale Sicherheit - Drucksache 15/883 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen
Vertrag vom 3. November 2001 über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft
- Drucksache 15/882 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({5})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Registrierung von
Betrieben zur Haltung von Legehennen ({6}) - Drucksache 15/905 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Götz-Peter
Lohmann, Dagmar Freitag, Helga Kühn-Mengel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Hermann, Petra Selg, Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Durch Bewegung und Sport Gesundheit und Prävention fördern - Drucksache 15/931 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({7})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
4 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache ({8})
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Änderung des Zeitraumes für den Bericht der Bundesregierung
über den Stand der Auszahlungen und die Zusammenarbeit der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft mit den Partnerorganisationen und den Bericht
der Bundesregierung über den Stand der Rechtssicherheit
für deutsche Unternehmen im Zusammenhang mit der
Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft
- Drucksache 15/938 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Berichte über höchste April-Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung, Praxistauglichkeit des Hartz-Konzeptes
und Ausbaupläne des Vorstandes der Bundesanstalt für
Arbeit
6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hintze, Peter
Altmaier, Dr. Gerd Müller, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU: Ein Verfassungsvertrag für eine
bürgernahe, demokratische und handlungsfähige Europäische Union - Drucksache 15/918 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel Bahr ({10}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Initiativen
des Brüsseler Vierergipfels zur Europäischen Sicherheitsund Verteidigungs-Union ({11}) über den Europäischen
Verfassungskonvent vorantreiben - Drucksache 15/942 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
({12})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
8 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Finanzplatz Deutschland weiter fördern - Drucksache 15/930 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({13})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter
Rossmann, Jörg Tauss, Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Grietje Bettin,
Hans-Josef Fell, Volker Beck ({14}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie
der Abgeordneten Ulrike Flach, Christoph Hartmann ({15}), Cornelia Pieper, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP: Für eine erfolgreiche Fortsetzung der gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und Ländern im
Rahmen der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung ({16}) - Drucksache 15/935 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
10 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum Vertrag vom 27. Januar 2003
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland - Körperschaft des öffentlichen Rechts - Drucksache 15/879 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({17})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO
11 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der
Kriegsdienstverweigerung ({18}) - Drucksache 15/908 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({19})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralf Göbel,
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Ausschreibung des BOSDigitalfunks im Jahr 2003 einleiten - Drucksache 15/816 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({20})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina Reiche,
Dr. Peter Paziorek, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Unterstützung für eine Bewerbung des Standortes Greifswald/Lubmin für den
ITER ({21}) - Drucksache 15/929 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({22})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
14 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und
Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern ({23}) - Drucksachen 15/420,
15/522 - ({24})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Max Stadler, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung
der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und
der Integration von Unionsbürgern und Ausländern
({25})
- Drucksache 15/538 ({26})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses
({27}) - Drucksache 15/955 Berichterstattung:
Abgeordnete Rüdiger Veit
Dr. Michael Bürsch
Hartmut Koschyk
Erwin Marschewski ({28})
Josef Philip Winkler
Dr. Max Stadler
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({29}) gemäß
§ 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/951, 15/960 Berichterstattung:
Abgeordnete Susanne Jaffke
Klaus Hagemann
Otto Fricke
15 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Schutzes von Verfassungsorganen
des Bundes - Drucksache 15/805 ({30})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({31})
- Drucksache 15/969 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Dieter Wiefelspütz
Thomas Strobl ({32})
Volker Beck ({33})
16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina
Krogmann, Ursula Heinen, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Den Missbrauch
Präsident Wolfgang Thierse
von Mehrwertdiensterufnummern grundlegend und umfassend bekämpfen - Drucksache 15/919 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({34})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Darüber hinaus wurde vereinbart, den Tagesordnungspunkt 14 - europäische Ausländer-, Asyl- und Zuwanderungspolitik - und den Tagesordnungspunkt 18 d - Gentechnikrecht - abzusetzen.
Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam:
Der in der 40. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN über die Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln in der
vertragsärztlichen Versorgung - Drucksache 15/800 überwiesen:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Der in der 41. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre
Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Abgeordneten Joachim
Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Jerzy Montag, HansChristian Ströbele, Volker Beck ({35}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002
zur Terrorismusbekämpfung und zur Änderung anderer Gesetze - Drucksache 15/813 überwiesen:
Rechtsausschuss ({36})
Innenausschuss
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne haben die Präsidentin der Nationalversammlung
der Republik Ungarn, Dr. Katalin Szili, und ihre Delegation Platz genommen, die ich herzlich willkommen
heiße.
({37})
Im September 1989 hat Ungarn mit der Öffnung des
Eisernen Vorhangs das Tor zur Wiedervereinigung
Deutschlands und Europas aufgestoßen. Mit dem bevorstehenden Beitritt zur Europäischen Union vollendet
sich für Ihr Land der Weg, der damals begonnen wurde.
Sie können gewiss sein, dass wir Deutschen den Mut
und die Freiheitsliebe, die Ungarn 1989 nicht zum ersten
Mal in seiner Geschichte bewiesen hat, nicht vergessen
werden. Wir freuen uns darauf, mit Ihnen in der Europäischen Union demnächst gemeinsam die Zukunft Europas gestalten zu können.
Ich hoffe, dass Sie bei Ihren Gesprächen und Begegnungen die freundschaftliche Dankbarkeit spüren werden, die wir für Ihr Land empfinden.
Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und wünsche Ihnen
einen angenehmen Aufenthalt in Berlin.
({38})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung:
Zukunft sichern - Globale Armut bekämpfen
Es liegen drei Entschließungsanträge der Fraktion der
CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auf den Tag genau heute vor 58 Jahren haben die Vereinigten Staaten von Amerika mit anderen zusammen
unser Land vom Hitler-Faschismus befreit. Wir alle,
auch ich ganz persönlich, danken dem amerikanischen
Volk dafür.
({0})
Die USA haben die Zukunft Berlins in schwerer Zeit
gesichert und die Vereinigung unseres Landes ermöglicht. Die engen Bindungen zu den USA und ihren Bürgern und Bürgerinnen werden deshalb immer fortbestehen und nicht durch Meinungsunterschiede - sollten
diese auch in noch so wichtigen Fragen bestehen - berührt.
In den letzten Monaten hat sich die ganze Welt mit
der Einlösung der Resolution 1441 des UN-Sicherheitsrates befasst; jeder kannte diese Ziffer. Ich möchte,
dass alle politisch Handelnden und die Weltöffentlichkeit mit der gleichen Leidenschaft auch für die Umsetzung der Resolution 55/2 der UN-Generalversammlung
arbeiten, mit der die Staats- und Regierungschefs im
September 2000 beschlossen haben, der Armut entgegenzutreten und sie drastisch zu reduzieren. Dies ist eine
wichtige weltweite Aufgabe für die Zukunft.
({1})
Bis zum Jahr 2015 soll der Anteil der Menschen, die
von weniger als 1 US-Dollar am Tag leben müssen,
halbiert werden. Tatsächlich sind Taten notwendig:
1,2 Milliarden Menschen - ich sagte es - leben von weniger als 1 US-Dollar am Tag und sind damit extrem
arm. 113 Millionen Kinder im schulpflichtigen Alter
können nicht zur Schule gehen. Täglich sterben
6 000 Kinder unter fünf Jahren, weil sie keinen Zugang
zu sauberem Trinkwasser haben.
Diese Zahlen müssen uns aufrütteln. Aber - auch das
muss ich sagen - wir haben auf der Frühjahrstagung von
Weltbank und Internationalem Währungsfonds vor gerade einem Monat einen Bericht zur Umsetzung dieser
Ziele gehört. Dabei wurde festgestellt, dass sich die Rahmenbedingungen zur Erreichung dieser Ziele drastisch
verschlechtert haben. Die Gründe liegen in der weltwirtschaftlichen Situation, den direkten und indirekten Auswirkungen des Irakkrieges, den mangelnden Fortschritten im Welthandel und dem drastischen Einbrechen bei
den ausländischen Direktinvestitionen. Für einzelne
Länder kommt dann noch die dramatische Belastung
aufgrund der SARS-Epidemie hinzu.
Bei der Fortschreibung der derzeitigen Trends - es ist
wichtig, dass wir uns das vor Augen führen - bis zum
Jahr 2015 wäre es zwar möglich, das Ziel, den Anteil der
Armen weltweit zu halbieren, zu erreichen; aber die Umsetzung dieses Ziels hängt davon ab, ob Länder wie
China und Indien besondere Erfolge erringen. Viele Länder in Afrika würden dieses Ziel jedoch verfehlen. Deshalb muss die Schlussfolgerung sein, sowohl die Anstrengungen zur Entwicklungsfinanzierung - nach
Angaben der Weltbank brauchen wir weltweit zusätzlich
50 Milliarden US-Dollar -, besonders bezogen auf
Afrika, zu verstärken als auch endlich Beschlüsse zur
Beseitigung handelspolitischer Diskriminierungen der
Entwicklungsländer zu erreichen. Wir sind entschlossen,
diese Verpflichtungen auch umzusetzen.
({2})
Meine Sorge war und ist: Wenn Kriege wieder als
normales Instrument von Politik betrachtet werden, besteht die extreme Gefahr einer Verschiebung der Gewichte auf der internationalen Tagesordnung. Schon seit
dem Jahr 2000 sind die weltweiten Rüstungsausgaben
wieder drastisch angestiegen. Ein neuer weltweiter Rüstungswettlauf muss vermieden werden; denn er würde
Mittel und Aufmerksamkeit von der großen, zentralen
Aufgabe der Armutsbekämpfung ablenken. Das dürfen
wir nicht zulassen.
({3})
Wir müssen die Mittel auf den Kampf gegen Armut,
Ungerechtigkeit, Hunger und Unwissenheit konzentrieren. Jenseits aller aktuellen Diskussion empfinde ich es
als einen niemals hinzunehmenden Skandal, dass Mittel
für Krieg in Milliardenhöhe schlagartig mobilisiert werden können, im Kampf gegen Armut und gegen das Sterben von Kindern aber um jeden Dollar und jeden Euro
zusätzlich gerungen werden muss.
({4})
Allein der Nachtragshaushalt, den die amerikanische Regierung zum Irakkrieg vorgelegt hat - 80 Milliarden USDollar -, beträgt ungefähr das Anderthalbfache dessen,
was alle Industriestaaten jährlich an Mitteln zur Entwicklungszusammenarbeit ausgeben. Im Jahre 2002 waren das 57 Milliarden US-Dollar.
Prävention ist nicht nur menschenwürdiger, sondern
auch billiger und verantwortungsbewusster. Wir alle
spüren doch täglich, dass wir nicht auf einer Insel leben,
dass uns global verursachte Umweltkatastrophen erreichen sowie Unsicherheit und Gewalt zunehmen. Deshalb möchte ich uns allen einprägen: Entwicklungszusammenarbeit ist die kostengünstigste Sicherheitspolitik.
Das gilt auch für unsere eigene Sicherheit. Mit unserer
Entwicklungszusammenarbeit leisten wir daher einen
Beitrag zu unserer eigenen Sicherheit.
({5})
Die Mittel, die der Kollege Struck in seinem Bereich
auch für die Prävention einsetzt, möchte ich dabei nicht
gering schätzen.
({6})
- Offensichtlich hat dich meine letzte Bemerkung gefreut. ({7})
Deshalb arbeiten wir weltweit als Partner für Entwicklung und Frieden zusammen.
In dieser globalen Partnerschaft für Entwicklung tragen übrigens alle Beteiligten Verantwortung: Die Entwicklungsländer müssen dafür sorgen, dass verantwortliche Regierungsführung praktiziert und Korruption
bekämpft wird. Aufseiten der Industrieländer geht es um
Investitionen, Kredite, Beratung, Technologietransfer,
Marktöffnung und um die Schaffung gerechter internationaler Strukturen.
Das von der Bundesregierung vorgelegte Aktionsprogramm 2015 formuliert das Armutsbekämpfungsziel für diesen Zeitraum und setzt dabei die Ziele in folgenden drei Ländergruppen um - ich bitte Sie, dies zu
verstehen -:
Erstens geht es um die Zusammenarbeit mit den Ländern, die eine besonders verantwortliche Regierungsführung zeigen. Dabei wollen wir zukünftig verstärkt auch
die Neue afrikanische Initiative erreichen und unterstützen.
Zweitens geht es aber auch um die Zusammenarbeit
in Krisenregionen und in politisch instabilen Ländern,
um zur Lösung von Konflikten beizutragen und um
rechtsstaatliche Institutionen und gesellschaftliche Offenheit zu fördern.
Drittens geht es um Zusammenarbeit beim gesellschaftlichen und staatlichen Aufbau nach Krisen, KrieBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
gen oder Bürgerkriegen, wie etwa in Südosteuropa oder
auch in Afghanistan.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, besonders enttäuscht zeigen sich die Entwicklungsländer weltweit davon, dass die Industrieländer ihre Ankündigungen bisher
nicht eingelöst haben, aus der Doha-Handelsrunde eine
Entwicklungsrunde zu machen. Sie sind zu Recht enttäuscht. Alle hehren Sprüche über die Segnungen des
freien Handels und der Marktwirtschaft müssen für die
Menschen in den Entwicklungsländern hohl klingen, solange nach wie vor die Praxis der Exportsubventionen
im Agrarbereich fortgesetzt und den Entwicklungsländern damit unfaire Konkurrenz auf den Weltmärkten und
in ihren eigenen Ländern gemacht wird. Das ist nicht
hinnehmbar.
({8})
Sie werden sich auch so lange enttäuscht fühlen, wie
ihnen die im Jahr 2001 zugesagte verbilligte Einfuhr von
Arzneimitteln für die Bekämpfung von Epidemien nicht
ermöglicht wird. Ich weise darauf hin, dass es ein Land
gibt, das sich unter dem Einfluss seiner Pharmakonzerne
einer solchen Regelung widersetzt hat. Ich fordere die
Regierung dieses Landes und die internationale Gemeinschaft insgesamt auf, diese Regelung zur verbilligten
Einfuhr von Medikamenten in Entwicklungsländer zur
Bekämpfung von Epidemien umgehend umzusetzen und
die Entwicklungsländer nicht weiter zu enttäuschen.
({9})
Wenn in diesem Bereich keine Veränderungen stattfinden, wird auch die Konferenz von Cancun im September keine Fortschritte erzielen.
Wir setzen auf das Auslaufen der Agrarexportsubventionen generell und wir unterstützen den Vorschlag des
französischen Präsidenten Chirac, der jetzt ein Moratorium bei den Exportsubventionen gegenüber den afrikanischen Ländern für die Dauer der WTO-Verhandlungen
fordert. Wie gesagt, der Abbau dieser Exportsubventionen ist weltweit notwendig; aber es ist wichtig und gut,
wenn - insbesondere auf Afrika bezogen - erst einmal
mit einem solchen Schritt ein Signal gesetzt wird.
Lassen Sie mich an ein paar Beispielen deutlich machen, wie wir versuchen, die Ziele bei der Bekämpfung
der Armut umzusetzen, die sich die internationale Gemeinschaft im Jahr 2000 vorgenommen hat. So haben
wir die Entschuldungsinitiative für die Entwicklungsländer beschlossen. Sie müssen seit dieser Zeit eigene
Pläne zur Bekämpfung der Armut und der Arbeitslosigkeit in ihrem Land vorlegen. Daran müssen sie die Zivilgesellschaft beteiligen.
Das können Sie sich vielleicht an folgendem Beispiel
verdeutlichen: In einem Land wie Tansania kommen Finanzmittel aus der Entschuldung zum Beispiel den Schulen zugute, damit Kinder in die Schule gehen können.
Nichtregierungsorganisationen unterstützen diese Schulen und die Kinder dabei und legen offen, welche Mittel
aus der Entschuldung wirklich vor Ort angekommen
sind und für Schulbücher, für Klassenräume usw. verwendet wurden. Das ist nicht nur ein Beitrag dazu, verstärkt Kontrolle auszuüben und die Wirksamkeit der
Maßnahmen zu verstärken, sondern auch dazu, die Zivilgesellschaft und die Demokratie zu fördern sowie dafür
zu sorgen, dass die Mittel aus der Armutsbekämpfung
und der Entschuldung tatsächlich den Menschen vor Ort
zugute kommen - ein gutes Beispiel, denke ich.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut verbinden wir - das
muss man im Zusammenhang sehen - zum einen Ernährungssicherheit, zum anderen aber auch die Stärkung der
Rechte der Frauen, Initiativen für eine Energiewende,
für den Zugang zu sauberem Trinkwasser und für die
Chance, dass alle Kinder vom siebten bis zum
14. Lebensjahr wenigstens die wichtigste Grundbildung
erhalten.
Lassen Sie mich mit der Bekämpfung des Hungers
beginnen. Die deutsche Politik steht fest zu dem internationalen Ziel, das Recht auf Nahrung weltweit durchzusetzen. Es ist ein Skandal, dass immer noch fast
800 Millionen Menschen hungern, obwohl genug Nahrungsmittel für alle Menschen produziert werden.
({11})
Wichtigste Aufgabe unserer Politik ist deshalb, dazu beizutragen, dass der Zugang zu Land und Ressourcen in
den Partnerländern gesichert wird und dass die EUAgrarpolitik geändert wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir unterstützen übrigens - das ist wichtig - nicht nur die ärmsten Entwicklungsländer, sondern auch die Länder wie Brasilien, die
selbst einen anderen Weg einschlagen wollen. Brasilien
versucht mit seiner Aktion Null Hunger - Fome
Zero -, dazu beizutragen, dass die armen Menschen in
ihrem Land eine gute Perspektive haben. Das kann und
muss ein ansteckendes Symbol für ganz Lateinamerika
und für die Entwicklungsländer insgesamt sein.
({12})
Es geht uns um die Verbesserung der Grundbildung.
Wir werden unsere Neuzusagen für Grundbildung inklusive beruflicher Bildung von 135 Millionen Euro im Jahr
2002 auf 150 Millionen Euro im Jahr 2003 steigern.
Es geht uns um die Stärkung der Rolle der Frauen. Ich
will auf den Arab Human Development Report der Vereinten Nationen hinweisen. Er führt die Tatsache, dass
arabische Länder zum Teil in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zurückbleiben, unter anderem darauf zurück,
dass Frauen in diesen Ländern nicht ausreichend in die
gesellschaftlichen und politischen Prozesse einbezogen
sind. Deshalb ist die Stärkung der Rolle der Frauen eine
wichtige Aufgabe im Interesse ihrer selbst, vor allen Dingen aber auch ein Beitrag zu Modernisierung, Reformfähigkeit und Aktivitäten im Sinne der wirtschaftlichen
Entwicklung. Das zu stärken ist eine ganz wichtige, zentrale Aufgabe unserer Entwicklungszusammenarbeit.
Es geht auch darum - das tun wir -, dafür zu sorgen,
dass Frauen Zugang zu den Familienplanungsmöglichkeiten haben. Sie müssen ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung wahrnehmen können. Sie müssen selbst
entscheiden können, wie viele Kinder sie haben wollen.
Sonst können sie ihre Möglichkeiten der Familienplanung überhaupt nicht nutzen und haben keine Chance.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, weltweit leben
42 Millionen Menschen mit HIV/Aids. Auch das ist ein
Aktionsfeld im Bereich der Armutsbekämpfung. In unserer Regierungszeit haben wir den Kampf gegen HIV/
Aids jährlich - wir werden das auch im kommenden Jahr
tun - mit 300 Millionen Euro bilateral, über die Weltbank, aber auch über die Europäische Union unterstützt.
Was brauchen wir in Bezug auf eine neue Energiezukunft? Die Ausgangslage ist dramatisch: Die Industrieländer verbrauchen 75 Prozent der Energie, während
2,4 Milliarden Menschen, also 46 Prozent der Weltbevölkerung, keinen Zugang zu kommerzieller Energie haben. Wenn wir das Ziel der Armutsbekämpfung überhaupt erreichen wollen, dann müssen wir diesen
Menschen Zugang zu Energie eröffnen. Dabei ist klar,
dass das nicht nach den alten Mustern des Energieverbrauchs und der Energieerzeugung erfolgen kann. Sonst
wäre der ökologische Kollaps programmiert.
Wenn wir die Investitionen erreichen wollen, die in
diesem Bereich notwendig sind, müssen wir Energieeffizienz und erneuerbare Energien fördern.
({13})
Da haben wir einen besonderen Schwerpunkt, der wichtig für die internationalen Beziehungen ist. Wir werden
im nächsten Jahr eine Konferenz für erneuerbare Energien durchführen und dabei die globale Koalition für erneuerbare Energien stärken. Es geht darum, eine neue
Energiezukunft für die Welt zu ermöglichen, eine Zukunft, die nachhaltig und partnerschaftlich ist und auch
deshalb niemals das Mittel Militär zur Ressourcensicherung einsetzt. Dies ist die Perspektive, die für die europäischen Länder von Bedeutung ist.
Wenn wir diese Ziele erreichen wollen, dann müssen
wir die Entwicklungsfinanzierung stärken. Ich weise
darauf hin, dass zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 nach
langen Jahren des Sinkens und der Stagnation der offiziellen Entwicklungshilfe die Ausgaben der Geberländer
weltweit gestiegen sind, und zwar von 53 Milliarden
US-Dollar auf 57 Milliarden US-Dollar. Das wird aber
nicht ausreichen. Die deutschen Entwicklungshilfezahlungen sind zwar von 2001 auf 2002 um 369 Millionen
US-Dollar auf 5,359 Milliarden US-Dollar gestiegen,
was eine Steigerung um gut 7 Prozent ist. Aber der Anteil am Bruttonationaleinkommen ist bei 0,27 Prozent
geblieben. Wir halten an dem Ziel fest - das werden wir
umsetzen -, bis 2006 einen Anteil von 0,33 Prozent, wie
zugesagt, zu erreichen - trotz aller Konsolidierungsbemühungen, die ich kenne. Aber wir müssen dieses Ziel
einlösen, um das zu erreichen, was ich eben skizziert
habe.
({14})
Insgesamt ist auch die Entschuldungsinitiative ein
großer Fortschritt. 26 Länder haben bisher einen Schuldenerlass erhalten. Das entspricht einem Umfang von
41 Milliarden US-Dollar. Unter Hinzurechnung traditioneller und zusätzlicher freiwilliger Erlassmaßnahmen
beträgt die Entlastung bisher circa 60 Milliarden USDollar. Das ist ein großer Schritt neben der Entwicklungsfinanzierung, die ich genannt habe.
Uns alle - ich habe es zu Beginn angesprochen - hat
in den letzten Monaten der Krieg im Irak umgetrieben,
ein Krieg, den wir nicht gewollt haben und den wir wie
Millionen von Menschen überall in der Welt bis zuletzt
zu verhindern gesucht haben. Jetzt sagen manche, der
Krieg sei doch ganz glimpflich verlaufen, und fragen,
warum wir den Krieg kritisiert hätten. Aber ist es
glimpflich, wenn Zehntausende Zivilisten und Soldaten
ihr Leben verlieren,
({15})
wenn Tausende von Kindern körperlich und seelisch
schwer verletzt und für ihr Leben geschädigt werden, wo
doch die Perspektive der nicht militärischen Entwaffnung bestand? - Ich sage: Nein.
({16})
Der Krieg ist militärisch gewonnen. Saddam Hussein
ist gestürzt und das ist gut. Aber der Frieden ist noch
lange nicht erreicht. Das zeigen uns die Bilder täglich.
Jetzt geht es darum, Frieden zu schaffen und dem irakischen Volk tatsächlich die Freiheit von Diktatur und
Fremdherrschaft zu geben. Nur die Vereinten Nationen
haben dafür die Legitimität. Die Menschen im Irak müssen allein über die Ölvorkommen und die Erlöse aus den
Ölgeschäften verfügen und entscheiden dürfen. Dafür
müssen die Vereinten Nationen sorgen.
({17})
Das wird im Übrigen bei der Beratung der anstehenden UN-Resolution deutlich werden und wird dann gemeinsam mit der Frage der Aufhebung der Sanktionen
zu beschließen sein.
Ich möchte zum Schluss auf die Hilfe hinweisen, die
wir schon heute für die Menschen im Irak faktisch leisten. Die Bundesregierung hat sich im Irak mit
50 Millionen Euro direkt engagiert, um die unmittelbare
Not der Menschen zu lindern. Mit diesem Geld unterstützen wir UN-Hilfsorganisationen, das Internationale
Rote Kreuz und auch private und kirchliche Hilfsorganisationen. An dieser Stelle fordere ich noch einmal ausdrücklich: Alle Hilfsorganisationen müssen ungehinderten Zugang zu den leidenden Menschen haben,
unabhängig von militärischer Kontrolle und militärischem Einfluss.
({18})
Mit unserer Finanzierung liefert das Welternährungsprogramm täglich 2 000 Tonnen Lebensmittel in
den Irak. Das Internationale Rote Kreuz baut allmählich
die Wasserversorgung im Irak mit auf und nimmt sich
der Versorgung in den Krankenhäusern an.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss Ihnen aber
mitteilen - ich stehe sowohl mit dem zuständigen EUKommissar als auch mit Cap Anamur, die sich nach wie
vor im Land aufhalten, in Kontakt -, dass die Lage besonders in den Slums von Bagdad nach wie vor dramatisch ist. Die Versorgung der Bevölkerung ist in keiner
Weise gesichert.
Deshalb war es wichtig, dass am 6. Mai der erste
Hilfsflug der Europäischen Union medizinische Hilfsgüter im Wert von 10 Millionen Euro nach Bagdad gebracht hat. Wir unterstützen die Europäische Union im
Umfang von 100 Millionen Euro für Nothilfe und Wiederaufbau. Deutschland ist damit zu rund einem Viertel
an der Finanzierung beteiligt.
Wir stehen in enger Verbindung mit dem Internationalen Roten Kreuz und anderen Organisationen wie dem
Hammer Forum, die besonders schwer verletzte Kinder
aus dem Irak zur Behandlung nach Deutschland holen
wollen. Nachdem bisher nur US-Flugzeuge im Irak landen konnten, war die Möglichkeit, Kinder auszufliegen,
nicht gegeben. Jetzt besteht diese Möglichkeit und wir
werden sie zugunsten der verletzten Kinder nutzen. Wir
freuen uns, dass das Hammer Forum bereits Zusagen für
Betten in deutschen Krankenhäusern erhalten hat.
({19})
Die Weltbank selbst wird - auch aufgrund unserer
Anregungen und mit unserer Unterstützung - mit einer
eigenen Kommission im Land vertreten sein, um Empfehlungen für den Wiederaufbau zu geben. Finanzielle
Darlehen kann sie aber erst dann vergeben, wenn eine legitimierte Regierung oder ein entsprechender Beschluss
des UN-Sicherheitsrats sie dazu auffordert.
Der Wiederaufbau wird - selbstverständlich unter der
Autorität der Vereinten Nationen - so wichtige Bereiche
wie den Aufbau des Gesundheitswesens und des Bildungswesens, den Aufbau des Landes und die notwendigen Gesellschafts- und Wirtschaftsreformen umfassen
müssen. Wir sind darauf vorbereitet, in diesem Rahmen
weitere Hilfe zu leisten, und werden uns im Rahmen unserer Möglichkeiten engagieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fühle mich in
unserer schwierigen, aber so notwendigen Arbeit immer
wieder durch vielfältige Unterstützung und auch entsprechende Anregungen und Anerkennung ermutigt. Die
Kirchen würdigen, dass wir Armutsbekämpfung als
überwölbendes Ziel für alle Bereiche der deutschen Entwicklungszusammenarbeit berücksichtigen.
Die Anerkennung ist nicht nur national, sondern auch
international. Das Zentrum für globale Entwicklung in
Washington hat einen Index entwickelt, der bewertet,
wie sich die Politik der 21 wichtigsten Industrieländer
auf die Entwicklungschancen der ärmsten Länder auswirkt. Ich möchte Ihnen mit großer Freude in Erinnerung
rufen, dass die Bundesrepublik in diesem so genannten
Development Friendliness Index an der Spitze der G-7Länder liegt. Ich denke, das ist eine wichtige Anerkennung der Politik, die wir zugunsten der Entwicklungsländer leisten.
({20})
Diese Anerkennung und Auszeichnung bestärkt uns
darin, weiterhin entschlossen für eine progressive und
starke Entwicklungspolitik einzutreten, die mit vielfältigen Partnerschaften und Allianzen mit allen gesellschaftlichen Gruppen arbeitet. Wir müssen es gemeinsam schaffen, die Ziele der Armutsbekämpfung zu
erreichen. Dazu müssen und werden wir die Mittel für
die Entwicklungszusammenarbeit, wie versprochen, ausweiten und uns auch durch aktuelle Krisen nicht ablenken lassen.
Die Menschen in den Entwicklungsländern, aber auch
die Generationen, die nach uns kommen, werden uns danach bewerten, was wir getan haben, um globale Armut
zu bekämpfen, Globalisierung gerecht zu gestalten, eine
gerechte Weltordnung zu erreichen und den Frieden zu
sichern. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist
sich ihrer Verantwortung bewusst und sie nimmt ihre
Verantwortung wahr.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
({21})
Ich erteile dem Kollegen Dr. Christian Ruck, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Debatten
über Entwicklungspolitik haben immer zwei Adressaten:
die Menschen in den Zielländern, deren Entwicklung wir
befördern wollen, und unsere eigenen Bürger und Steuerzahler in Deutschland, deren Unterstützung wir brauchen
und um die wir werben.
Die Botschaft an unsere eigenen Bürger lautet: Entwicklungspolitik macht Sinn; sie macht die Welt besser
und sie sichert auch die Zukunft unseres Landes. Wir
müssen deutlich machen: Es war auch die Politik der
wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung der
letzten Jahrzehnte, die dazu beigetragen hat, dass in der
Tat viele Länder eine zum Teil phänomenale wirtschaftliche und soziale Entwicklung durchlaufen haben, dass
vielerorts das Bevölkerungswachstum eingedämmt
wurde, dass dafür Lebenserwartung und Alphabetisierungsrate gestiegen sind und dass es in Schwellen-, Entwicklungs- und Transformationsländern noch nie so
viele Demokratien gegeben hat wie heute.
Wir müssen unseren Bürgern aber auch sagen, dass
wir unsere Anstrengungen verstärken müssen; denn trotz
aller Erfolge sind die Probleme gewachsen und wachsen
weiter. Die Einkommensschere zwischen Industrie- und
Entwicklungsländern klafft weiter auseinander, ebenso
wie die Chancenunterschiede in den Entwicklungsländern immer krasser werden. Korruption, schwache
Strukturen, Misswirtschaft, Umweltzerstörung und gewalttätige Konflikte hemmen vielerorts eine weitere Entwicklung und lassen für viele Länder die Globalisierung
eher zum Risiko als zur Chance werden. Gerade aber in
Zeiten der Globalisierung lassen sich soziale Konflikte,
aber auch Natur- und Gesundheitskatastrophen sowie
Wirtschaftskrisen in der früher so genannten Dritten
Welt weder von Europa - das gilt auch für Deutschland noch von den USA fern halten. Der 11. September 2001
ist dafür ein Menetekel.
Deswegen müssen wir unseren eigenen Bürgern verdeutlichen: Trotz hoher Arbeitslosigkeit in Deutschland
und eigener politischer Misswirtschaft - Entwicklungspolitik ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch Sicherung der eigenen Zukunft.
({0})
Sie ist kein politischer Luxus, sondern politische Hausaufgabe. Sie dient der Gefahrenabwehr, der Beseitigung
ökologischer und sozialer Zeitbomben sowie der Sicherung von Zukunftsmärkten für unsere Wirtschaft. Um
aber zu überzeugen und Widerstände zu überwinden, reichen Horrorvisionen und Appelle nicht aus. Wir brauchen auch überzeugende Konzepte. Das bedeutet auch
in der Entwicklungspolitik klare Definition der Ziele und
Interessen, durchdachte Schwerpunktsetzung und Wahl
der Instrumente, effiziente Umsetzung sowie Bündelung
der Kräfte. Von einer solchen schlüssigen entwicklungspolitischen Konzeption, die auch durchgesetzt wird, sind
Sie, Frau Ministerin, und ist Rot-Grün - leider - weit
entfernt.
({1})
Schon die Frage nach den Zielvorstellungen und Interessen ist schlichtweg ungenügend beantwortet. Sie,
Frau Ministerin, kümmern sich in der Tat um jede Katastrophe und um jeden Krisenherd. Das bringt Schlagzeilen und internationale Anerkennung. Aber das birgt auch
die Gefahr in sich, dass das Ministerium in die Ecke eines internationalen Katastrophen- und Sozialhilfeministeriums gerät. Dies ist eindeutig zu kurz gesprungen und
wird auf Dauer den eigenständigen Aufgabenbereich des
BMZ nicht rechtfertigen können.
({2})
Entwicklung zu befördern bedeutet weit mehr als das
Lindern der Folgen von Katastrophen und Hilfe für
Arme. Vorrangiges Ziel unseres Aufgabengebietes muss
doch in der Tat der Aufbau und die Durchsetzung tragfähiger Strukturen für Entwicklung und die Beseitigung
entwicklungshemmender Rahmenbedingungen sein.
Dies ist die einzig nachhaltige Form von Armutsbekämpfung.
Unser Streit über die Frage, wie wir uns im Irak engagieren sollten, macht doch deutlich, dass Sie, Frau Ministerin, trotz der Lippenbekenntnisse dieses Prinzip im
Alltag nicht beherzigen. Jetzt, in diesen Wochen und
Monaten, werden die Weichen für die Zukunft des Irak
und der Region gestellt. Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem
es um den Aufbau des Staates und seiner Organe sowie
von Verwaltungsstrukturen und Institutionen als Voraussetzung für Stabilität und nachhaltige Entwicklung geht.
Das müsste jetzt angepackt werden. Das ist die originäre
Aufgabe einer modernen Entwicklungspolitik. Jetzt
wäre der Zeitpunkt, an dem unsere Entwicklungszusammenarbeit im Irak den Grundstein für die Prinzipien legen könnte, die unsere Interessen und unsere Wertvorstellungen widerspiegeln - wir müssen sie offensiv
vertreten -, nämlich Demokratie, soziale Marktwirtschaft, die Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Erhaltung der Schöpfung.
({3})
Aber Sie, Frau Ministerin, verharren trotz Ihrer
freundlichen Eingangsformulierung nach wie vor in einer antiamerikanischen Ideologie und reden allenfalls
von humanitärer Hilfe. Sie haben bisher auch keinen erkennbaren Einsatz dafür gezeigt, dass wenigstens das
UN-Embargo gegen den Irak beendet wird. Das ist in
unseren Augen ebenfalls ein Skandal.
Aus unseren Interessen folgt das Ziel, strategische
Kooperationen im wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereich einzugehen, die uns auch bei der Lösung
unserer Probleme helfen. Ich denke dabei an die Zusammenarbeit mit indischen oder chinesischen Wissenschaftlern im Energiebereich und in der Luft- und Raumfahrt oder an die Sicherung wichtiger Zukunftsmärkte
für unsere Wirtschaft. Entwicklungszusammenarbeit
kann, wenn sie richtig konzipiert ist, Türöffner und Katalysator für die deutsche Wirtschaft sein. Dies liegt angesichts unserer eigenen Wirtschaftskrise auch im Interesse der Deutschen. Aber die Verfolgung genau dieser
Ziele und die Wahrnehmung genau dieser Interessen
sind aus unserer Sicht während Ihrer Amtszeit verkümmert, Frau Ministerin. Sie haben sie aus den Augen verloren oder sie sind Ihnen in Ihrem Hause entglitten.
Auch das kostet Verbündete.
Anstatt dass Sie klare politische Leitlinien umsetzen,
droht der politische Alltag immer mehr zu einem Gemischtwarenladen zu werden,
({4})
in dem kein Thema ausgelassen wird: heute Kleinkaliberwaffen, morgen ziviler Friedensdienst, übermorgen
Blutdiamanten. Sie springen auf jede internationale Aktion auf; die Fülle der Themen ist inzwischen selbst für
Insider in Ihrem Hause nicht mehr zu überschauen. Deswegen ist von einer durchdachten Wahl der Schwerpunkte und Instrumente keine Rede mehr.
Auch Ihr Konzentrationskonzept ist eigentlich zu
einem Flop geworden. Der Rückzug aus der Zusammenarbeit mit wichtigen Schwellenländern ist strategisch
falsch und schwächt das Ministerium. Die Aktion hat
dazu geführt, dass gerade Schlüsselsektoren, wie der Bereich Bildung und Ausbildung, den Sie angesprochen
haben, de facto auf dem Rückzug sind. Letztlich waren
doch alle Bemühungen umsonst, da Ihnen eine wirkliche
Konzentration nicht gelungen ist, weder in Bezug auf die
Anzahl der Schwellenländer - sie ist von 70 auf 100 gestiegen - noch in Bezug auf die Sache.
Ich nenne das Beispiel Indonesien: Sie sind vorsätzlich ausgerechnet aus dem Forstsektor ausgestiegen,
Frau Ministerin; angeblich weil Sie sich auf vier andere
Schwerpunkte konzentriert haben. Bei unserer Reise
fanden wir allerdings eine beachtliche Zahl von so genannten Neben- und Sonderschwerpunkten. Fazit: Ihre
Konzentrationsbemühungen enden damit, dass eine
wirkliche Konzentration nicht stattfindet, während
gleichzeitig Schlüsselthemen und Schlüsselländer aussortiert wurden.
Dafür haben Sie nun auf Biegen und Brechen durchgesetzt, dass Fidel Castros Kuba neues Partnerland wird.
Das Land wird von einem Regime geführt, das erst vor
kurzem 78 Oppositionelle und Journalisten in Schnellprozessen zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt hat. Eine
solche Schwerpunktsetzung erweist der Glaubwürdigkeit unserer Entwicklungspolitik allerdings einen Bärendienst.
({5})
Sie haben in Ihrer Regierungserklärung das Thema
Armutsbekämpfung fokussiert. Armutsbekämpfung ist
natürlich auch für uns ein zentrales Thema. Die Frage ist
nur, mit welchen Instrumenten wir wirklich einen wesentlichen Schritt vorankommen. Ein solches Instrument
ist Empowerment, das in einigen Slums in Brasilien eingesetzt werden könnte; andere Instrumente sind eine
Landreform und die Durchsetzung einer ordentlichen
Bezahlung für Lehrer in Entwicklungsländern, damit
wirklich jedes Kind eine Schule besuchen kann. Zwischen diesen Instrumenten und Schwerpunkten muss
man eine Wahl treffen. Ihre Entschuldungsinitiative, die
wir im Grundsatz unterstützt haben, hat erhebliche
Schwächen und Mängel. Zum Beispiel hat Bolivien das
Geld, das speziell zur Armutsbekämpfung bereitgestellt
wurde, inzwischen im allgemeinen Haushalt verfrühstückt.
Das Beispiel Uganda ist besonders grotesk. Auch dieses Land wurde entschuldet. Uganda ist jetzt der weltgrößte Goldexporteur - durch die Ausbeutung des überfallenden Nachbarlandes Kongo. Das war nicht Sinn
unseres gemeinsamen Anliegens der HIPC-Initiative.
({6})
Ihre neueste Überschrift Umsetzung des Milleniumgipfelziels, Halbierung der extremen Armut in den
nächsten 15 Jahren, ist ebenfalls heroisch. Auf der Frühjahrstagung der Weltbank hieß es dazu, dass die konkrete
Ausgestaltung eines entsprechenden Programms noch
nicht absehbar ist. Das gilt erst recht für die Bundesregierung, die uns seit zwei Jahren einen Umsetzungsplan
für dieses Ziel verspricht. Wenn aber auch von den Ankündigungen eines äußerst ehrgeizigen Ziels nur heiße
Luft bleibt, Frau Ministerin, dann treiben Sie die deutsche Entwicklungspolitik in ein massives Glaubwürdigkeitsdilemma.
Ich glaube nicht, dass Sie richtig beraten sind, beim
Thema Armutsbekämpfung und anderen Themen Ihr
Heil in internationalen Organisationen zu suchen. Damit
bin ich bei dem Stichwort Effizienz und Bündelung der
Kräfte. Wenn sich in der Entwicklungspolitik wirklich
etwas bewegen soll, müssen alle wichtigen Einrichtungen an einem Strang und in eine Richtung ziehen. Hier
gilt ganz konkret: Das UN-System leidet vielerorts unter
fehlender Koordinierung und Schlagkraft. Auf andere,
effizientere und wichtigere Organisationen wie die Weltbank nehmen wir weniger Einfluss, als uns zusteht.
Auch Sie, Frau Ministerin, haben es bisher nicht geschafft, eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen der deutschen und der europäischen Entwicklungszusammenarbeit
zu initiieren. Das bedeutet natürlich Reibungsverluste.
Das Gleiche gilt für Ihr eigenes Haus. Die Umorganisation des Ministeriums vom 7. April ist nicht nur sachlich kaum begründbar; sie hat auch dermaßen hinter dem
Rücken der Mitarbeiter stattgefunden, dass deren Motivation völlig daniederliegt - und das in einer Zeit, in der
auf immer weniger Personal immer mehr Arbeit zukommt. Dieser Vorgang ist unseres Erachtens ein eklatantes Beispiel von Führungsschwäche, die Ihrem Haus
noch jahrelang zu schaffen machen wird. Auch das führt
natürlich zu Reibungsverlusten.
Die größten Reibungsverluste aber entstehen im Kabinett. Inzwischen macht offensichtlich fast jedes Ressort Entwicklungspolitik, ohne dass die eine Hand weiß,
was die andere tut. In Indonesien zum Beispiel sind wir
durch Zufall über ein sehr großes und auch sehr gutes
Entwicklungsprojekt des Bundesforschungsministeriums gestolpert. Auch das Entwicklungsministerium hat
dies nur durch Zufall erfahren - weil man eben nicht
miteinander spricht.
Solange sich die Spitze des Außenministeriums für
weite Teile dieser Welt nicht interessiert, geschweige
denn engagiert entwicklungspolitische Ziele unterstützt
- gegenüber korrupten und gewalttätigen Regimen und
Politikern, zum Beispiel im Kongo; dazu wird Kollege
Fischer noch eindringliche Worte an uns richten -, bleibt
uns oft nicht mehr übrig, als zuzusehen, wie jahrelange
Aufbauarbeit brachliegt oder zerstört wird. Das ist politische Ineffizienz.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Frau
Ministerin, trotz großer Worte ist das Gewicht der Entwicklungspolitik in Deutschland fachlich und politisch
in den letzten Jahren gesunken. In der Entwicklungspolitik hat man den berühmten roten Faden und den langen
Atem verloren. Das gilt auch für die finanzielle Qualität.
Ich will mit Ihnen nicht wieder über einzelne Millionen
streiten, aber Tatsache ist eindeutig, dass Sie im Jahr
2002 in Ihrem Haushalt 283 Millionen Euro weniger zur
Verfügung hatten als 1998 bei Regierungsübernahme.
Wir möchten die Zahlen, die Sie immer nennen, so nicht
im Raum stehen lassen.
Zum Schluss Folgendes: Mit unserem Entschließungsantrag haben wir den Versuch unternommen, Vorstellungen zu einer Trendumkehr zu entwickeln - mit wichtigen Elementen wie der Reform der Abläufe in der
Entwicklungszusammenarbeit, der Verstärkung der Einflussnahme und Koordination im Rahmen der multilateralen Zusammenarbeit, der stärkeren Verzahnung zwischen
Außenpolitik, Entwicklungspolitik und Verteidigungspolitik und einer Konzentration unserer Hilfe zur Entwicklung auf die Länder, in denen etwas bewegt werden
kann, und zwar mit Instrumenten, die etwas bewegen,
und in Sektoren, die den Schlüssel zur Entwicklung darstellen. Dies ist ein sehr konkreter Maßnahmenkatalog.
Er kann natürlich kritisiert werden. Es ist ein Angebot
zur Diskussion. Dieses Angebot ist ernst gemeint. Wir
alle ringen ja um den besten Weg zur Armutsbekämpfung. Aber wie in allen Politikbereichen muss diese
Bundesregierung auch in der Entwicklungspolitik einen
neuen Anlauf nehmen. Dazu fordern wir Sie nachdrücklich auf.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegen Gernot Erler, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Regierungserklärung hat uns Bundesministerin
Heidemarie Wieczorek-Zeul eine klare Botschaft vermittelt. Sie lautet: Das wichtigste Ziel der internationalen
Politik Deutschlands und der Entwicklungszusammenarbeit ist die Bekämpfung der globalen Armut. Dieses ist
nicht nur ein allgemeines generelles Ziel, sondern dahinter steht der sehr konkrete Ehrgeiz, eine Halbierung der
Armut bis zum Jahre 2015 zu erreichen. Da bleiben,
Herr Kollege Ruck, nur noch zwölf Jahre. Dieses Ziel
überwölbt alle Politikbereiche; dahinter steht ein strategisches Konzept, das viele Einzelpolitiken einschließt:
So müssen die Anstrengungen, im Bereich der Finanzierung von Entwicklungspolitik voranzukommen, verdoppelt werden. Im Zusammenhang damit steht die Verringerung von Ausgaben für andere Dinge wie für
militärische Interventionen und Aufrüstungsvorhaben.
An deren Stelle muss Prävention treten.
Zu diesen Einzelpolitiken gehört der Kampf für fairere Austauschbeziehungen. Dieser Bereich ist vom Volumen her sogar größer als der der Entwicklungszusammenarbeit; denn hier geht es um den Abbau von
Exportsubventionen, ganz besonders im Agrarsektor, um
den Abbau von Schutzzöllen, eben um eine Umsetzung
der Marktöffnung, von der die Industrienationen bisher
immer nur reden, und um eine Verdopplung von fairem
Handel. All das sieht die Bundesregierung vor.
Ein wichtiger Bestandteil ist auch die Bekämpfung
von Seuchen wie Aids, Malaria und Tuberkulose, die
ganze Regionen entvölkern und damit eine erfolgreiche
Bekämpfung der Armut völlig unmöglich machen. Wir
ahnen, was es bedeuten würde, wenn etwa SARS in von
Armut geprägte Regionen vordringen würde, wo es
keine Möglichkeiten zur Bekämpfung dieser Krankheit
gibt. Daran erkennt man, wie wichtig dieses Ziel ist.
Zu diesen Einzelpolitiken - das hat die Frau Bundesministerin dargestellt - gehört auch der Kampf für mehr
Grundbildung und Gleichberechtigung von Frauen.
Ohne diese beiden Elemente ist nämlich eine Bekämpfung der Armut unmöglich bzw. chancenlos; sie sind
nämlich Voraussetzung für eine Steuerung der Bevölkerungsentwicklung.
Dazu gehört auch ein energischer Einsatz für eine globale Energiewende. Es muss die skandalöse Situation
beendet werden, dass 20 Prozent der Bevölkerung drei
Viertel aller Energieressourcen für sich beanspruchen.
Dies ist egoistisch, da diese Ressourcen nicht wieder
herstellbar sind.
Schließlich gehört dazu auch die von Deutschland
ausgegangene Entschuldungsinitiative. Hier wurden
zwar schon mehr als 40 Milliarden Dollar bewegt, aber
wenn man sich die Deformation des Weltwirtschaftssystems anschaut, muss man leider feststellen, dass diese
Erfolge durch globale Entwicklungen immer wieder
konterkariert werden.
Meine Damen und Herren, so sehen die Umrisse eines
Gesamtkonzeptes aus. Die Konzentration auf die Armutsbekämpfung, in die 80 Prozent der Ressourcen
Deutschlands für finanzielle und technische Zusammenarbeit fließen, zeigt Wirkung. Das wird auch national
und international anerkannt. Es ist ja erst wenige Tage
her, dass die Frau Bundesministerin Wieczorek-Zeul
eine sehr hohe Auszeichnung für ihren Einsatz bei der
Armutsbekämpfung erhalten hat - vom Center for Global Development in Washington zusammen mit der Zeitschrift Foreign Policy -, wörtlich für ihren Einsatz,
ihre Vision und ihre Vorreiterrolle zur Verringerung von
weltweiter Armut und Ungleichheit im Rahmen ihres
Engagements in der so genannten Utstein-Gruppe, in der
sie gemeinsam mit den Fachministerinnen von Großbritannien, Norwegen und den Niederlanden gearbeitet hat.
Frau Wieczorek-Zeul, ich möchte Ihnen herzlich im Namen der SPD-Bundestagsfraktion zu dieser hohen Auszeichnung gratulieren. Sie zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
({0})
Ich bin eigentlich froh, dass auch Sie, Herr Ruck, in gewisser Weise der Ministerin Anerkennung zollen. Sie haben nämlich ganz vergessen, in Ihren eigenen Antrag hineinzuschauen, den Sie zu dieser Debatte vorgelegt
haben.
Da finde ich den Satz:
Deutsche Entwicklungspolitik hat sich den Ruf erworben, selbstkritisch, seriös und frei von kurzsichtigem Eigeninteresse zu sein.
({1})
Das ist eine ganz gute Bewertung: Wenn ich das mit dem
vergleiche, was Sie früher zur Entwicklungspolitik gesagt haben, grenzt das beinahe an positiven Enthusiasmus. Dass Sie hier als Pflichtübung ein paar kritische
Anmerkungen emotionslos vorgetragen haben, gehört zu
einer parlamentarischen Debatte dazu. Aber ich denke,
es überwiegen die konsensfähigen Passagen auch in Ihrem Antrag. Das ist im Grunde genommen eine gute Basis für künftige gemeinsame Zusammenarbeit.
Meine Damen und Herren, Zukunft sichern - Armut
bekämpfen, das ist ein anspruchsvolles Ziel, das ein
Land alleine nicht leisten kann. Das kann nur eine handlungsfähige Weltgemeinschaft leisten. An dieser Stelle
müssen wir uns intensiv mit der Frage befassen, inwieweit eigentlich die Ereignisse der letzten Wochen, inwieweit der Irakkrieg zu einer solchen Handlungsfähigkeit
der Weltgemeinschaft beigetragen hat.
Ich will noch einmal festhalten: Jede militärische Intervention begrenzt die Möglichkeit anderen Handelns,
weil Entscheidungen über die Nutzung begrenzter Ressourcen getroffen werden. Wenn man die Kosten zusammenzählt - die Kriegskosten selber, die Kosten für die
Wiederherstellung des durch Kriegsschäden beeinträchtigten Landes und die Kosten für die nachhaltigen Sicherungssysteme, die anschließend geschaffen werden müssen -, steht schon heute fest, dass der Irakkrieg ein
Mehrfaches von dem, was die Weltgemeinschaft im Jahr
für Entwicklungshilfe ausgibt, verbraucht hat und verbrauchen wird. Das ist eine Katastrophe. Ebenso wissen
wir, dass durch die langfristigen Sicherungssysteme auf
dem Balkan, in Afghanistan und nun künftig auch im
Irak auf Dauer enorme Ressourcen gebunden werden,
die wir eigentlich dringend für die Armutsbekämpfung
brauchen.
Deswegen ist es sehr bedeutsam, sich an dieser Stelle
darüber auseinander zu setzen, ob es eine Alternative zu
diesem Krieg gegeben hat, ob er vermeidbar war. Wir
beharren darauf, dass er vermeidbar war, und wir werden
uns mit Ihnen weiter darüber auseinander setzen.
Ich mache hier deutlich, Herr Kollege Schäuble: Wir
halten Ihre Feststellungen in dem Papier, das Sie am
28. April als Beschluss Ihrer Partei vorgestellt haben, für
nicht akzeptabel. Sie versuchen damit, die Verbindlichkeit der Prinzipien der staatlichen Souveränität und der
territorialen Integrität sowie das völkerrechtliche Interventionsverbot herabzusetzen. Genau das Gegenteil ist
notwendig, wenn die weltweite Armut bekämpft werden
soll.
({2})
Wenn wir es nicht schaffen - das ist zwar eine andere
Ebene, hat aber mit unserem heutigen Thema zu tun -,
von dem Prinzip nachträglicher Reparatur durch Stabilitätsregime, durch Stabilitätspakte, also von militärischen
Interventionen, wegzukommen und es nicht endlich hinbekommen, Stabilitätspakte, Stabilitätsregime vorher,
zur Kriegsverhinderung, einzusetzen, wenn wir es
nicht schaffen, die auf diese Weise verbrauchten Ressourcen für die globale Armutsverringerung einzusetzen,
dann haben wir keine Chance, das Ziel der Halbierung
der globalen Armut bis zum Jahr 2015 zu erreichen.
Das wird - ich glaube, da sind wir uns einig - nicht
nur eine moralische, sondern auch eine sicherheitspolitische Niederlage sein, die wir alle teuer, sehr teuer, zu
teuer bezahlen werden müssen. Deswegen werden wir
diese Auseinandersetzung auf jeden Fall hier in diesem
Parlament und auch anderswo fortsetzen müssen. Aber
ich freue mich, dass die Gemeinsamkeiten und die Unterstützung der Konzentration auf Armutsbekämpfung in
Bezug auf die Politik der Bundesregierung überwiegen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich erteile Kollegen Markus Löning, FDP-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Ministerin, wenn Sie
mir die Vorbemerkung erlauben: Sie haben zu Beginn
Ihrer Rede ein gewisses Bekenntnis zur deutsch-amerikanischen Freundschaft abgegeben; aber im Laufe der
Rede kam doch der eine oder andere antiamerikanische
Reflex zum Vorschein.
({0})
Wir hatten das Thema gestern im Ausschuss. Ich fordere
Sie von dieser Stelle aus noch einmal ausdrücklich auf:
Unterstützen Sie unsere amerikanischen Freunde bei
dem Ziel, das Embargo gegen den Irak so schnell wie
möglich aufzuheben.
({1})
Dieses Embargo war immer gegen Saddam Hussein und
nie gegen die Bevölkerung gerichtet.
Wenn wir einen erfolgreichen Aufbau im Irak wollen,
dann ist es wichtig, dass das Embargo möglichst schnell
verschwindet.
Wir reden heute über das Thema Armut. Sie haben
die entsprechenden Zahlen schon genannt. Etwa ein
Fünftel der Weltbevölkerung ist von Armut betroffen.
Auf lange Sicht gesehen stellt das eine Verbesserung dar;
denn noch vor 50 Jahren war mehr als die Hälfte der
Weltbevölkerung von absoluter Armut betroffen. Wir
sollten absolute Armut aber nicht nur unter materiellen
Gesichtspunkten sehen, sondern wir sollten auch klarstellen: Armut beschränkt und raubt Lebenschancen,
führt zu Krankheit und zu weniger Bildungschancen; Armut verhindert ein Leben in Würde. Deswegen ist für
uns Liberale die Armutsbekämpfung ein zentraler Bestandteil der Entwicklungspolitik.
({2})
Lassen Sie mich auf drei Aspekte kurz eingehen.
Sie haben das Thema Entschuldung angesprochen.
Ich sage wie der Kollege Ruck: Wir brauchen eine Entschuldung der ärmsten Länder - im Prinzip. Sie führen
in diesem Zusammenhang das Beispiel Tansania an. Warum führen Sie aber nicht das Beispiel Bolivien an? Ich
erwarte von der Bundesregierung, dass kritisch hingeschaut wird, wenn es nicht funktioniert hat, wenn der
Partner die versprochenen und erhaltenen Mittel nicht so
einsetzt, wie es vereinbart wurde. Bolivien setzt die Mittel nicht zur Armutsbekämpfung ein. Ich erwarte von der
Bundesregierung, dass sie hier tätig wird und dass sie
gegenüber den bolivianischen Partnern klar macht: So
geht das nicht!
({3})
Lassen Sie mich auf einen weiteren Aspekt eingehen:
Korruptionsbekämpfung. Wenn wir Armut effektiv
bekämpfen wollen, brauchen wir Wohlstand. Die Menschen müssen in die Lage versetzt werden, ihren eigenen
Lebensunterhalt zu verdienen. Kleine und große Unternehmen müssen sich entwickeln können. Das kann nur
geschehen, wenn wir eine funktionierende Marktwirtschaft haben. Für eine funktionierende Marktwirtschaft
brauchen wir effektive Gesetze und eine verlässliche
Verwaltung. Korruption steht dem entgegen. Korruption
ist ein Erzübel in der Entwicklungspolitik.
({4})
Korruption behindert Unternehmen beim Wachstum;
sie behindert gerade kleine Unternehmen, die den Schritt
vom informellen in den formellen Sektor tun wollen, die
kreditwürdig sein wollen, die Genehmigungen brauchen
und die Arbeitsplätze schaffen wollen. Korruption behindert das aufs Schwerste und verhindert die Entstehung von Wohlstand. Die Korruptionsbekämpfung muss
daher ein ganz zentraler Teil jeder Entwicklungspolitik
sein.
Korruption behindert auch Direktinvestitionen. Ausländische Direktinvestitionen werden dringend benötigt,
um in den Entwicklungsländern Arbeitsplätze zu schaffen. Sie wird es aber nicht geben, solange dort korrupte
Verwaltungen existieren, die abkassieren, die die Gewinne abschöpfen, die behindern, wo sie nur können,
und die nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind. Korruption muss mit allem Nachdruck bekämpft werden.
({5})
Lassen Sie mich auf einen weiteren Aspekt eingehen,
der von Ihrer Seite oft sehr kritisch beleuchtet wird. Ich
glaube, wir müssen in der Globalisierungsdiskussion
sehr viel stärker darauf dringen, dass die Chancen der
Globalisierung bei der Bekämpfung von Armut gesehen
werden. Wenn wir uns anschauen, welche Länder in den
letzten 50 Jahren in der Armutsbekämpfung erfolgreich
gewesen sind, dann müssen wir sagen, dass es die Länder gewesen sind, die ihre Märkte geöffnet haben, die
sich vom Staatsdirigismus abgewandt haben, die ihren
Bürgern und ihren Unternehmen Freiräume gegeben haben, sich zu entfalten. Es sind vor allem die Länder, die
Handel ermöglicht haben, die Subventionen, Zollschranken und andere Handelshemmnisse abgebaut haben. Aus
Handel entsteht Wohlstand, Handel bekämpft die Armut.
Zahlen aus Asien belegen das. Dort lebte noch vor
25 Jahren weit mehr als die Hälfte der Menschen in absoluter Armut. Inzwischen liegt dieser Anteil bei ungefähr 20 Prozent. Das ist immer noch viel zu viel, zeigt
aber deutlich, dass es eine Entwicklung in die richtige
Richtung gibt.
({6})
Ich fordere Sie nachdrücklich auf: Reden Sie nicht so
schlecht über die Globalisierung, sondern reden Sie über
die darin liegenden Chancen für die Ärmsten der Armen,
die Armut zu bekämpfen!
({7})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Thilo Hoppe,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir einen kurzen religiösen Einstieg: Als
Christ darf ich eigentlich nicht an die Reinkarnation
glauben. Dennoch hänge ich manchmal der Frage nach,
wie es wäre, wieder geboren zu werden - das nächste
Mal aber auf der anderen Seite des Globus, auf der Verliererseite, in den Elendsvierteln von Lima oder Kalkutta. Eine solche Vorstellung könnte uns noch stärker
motivieren, die Überwindung von extremer Armut als
etwas anzusehen, was uns selber betrifft. Aber auch ohne
die Vorstellung der Reinkarnation gibt es sehr viele gute
Gründe, den notwendigen Nord-Süd-Ausgleich als
Weltinnenpolitik zu verstehen.
({0})
Die ungeheuren Herausforderungen sind von der Ministerin ausführlich beschrieben worden. Sie gipfeln darin, dass trotz aller Bemühungen und Fortschritte die
Zahl der Hungernden noch erschreckend hoch ist.
Rund 25 000 Menschen verlieren jeden Tag den Kampf
um das Überleben; sie sterben den Hungertod. Dies ist
ein ungeheurer Skandal deshalb, weil dieses - ich kann
es nicht anders ausdrücken - Massensterben vermeidbar
ist. Zahlen sind Zahlen. Doch dahinter stehen Menschen.
Wer den vom Hungertod gekennzeichneten Menschen
schon einmal hautnah begegnet ist, den wird die Frage
nicht mehr loslassen: Warum? Warum gibt es dieses
Hungerleid, obwohl auf der Welt genügend Nahrungsmittel für alle angebaut werden?
Ich möchte bei den Erklärungsmustern vor zwei Fallen warnen:
Falle Nummer eins ist der Versuch, die Ursachen für
das Hungerelend nur in den Ländern zu suchen, die davon betroffen sind: Naturkatastrophen, Bevölkerungsexplosion, schlechte Regierungsführung, primitive Anbaumethoden, Korruption, Bürgerkrieg könnten beispielhaft
genannt werden.
Falle Nummer zwei ist der Versuch, die Menschen in
der so genannten Dritten Welt allesamt nur als unschuldige Opfer anzusehen und die Ursachen allein im Kolonialismus und seinen Folgen, allein in den ungerechten
Strukturen der Weltwirtschaft auszumachen.
Nur beide Erklärungsversuche zusammen, in Kombination, führen weiter.
Hunger ist kein Schicksal; Hunger ist gemacht. Hunger ist oft eine Folge verfehlter Regierungspolitik, einer
Bad Governance. Die Regierung von Simbabwe ist ein
besonders krasses Beispiel dafür.
({1})
Aber es gibt auch Regierungen im Süden - das sind
viele, die meisten -, denen es wirklich um die Menschen
geht. Warum sind so viele ernst gemeinte Bemühungen
von Regierungen gescheitert, die wirklich Good Governance praktizieren?
Wer bereit ist, genau hinzusehen, wird zu dem Ergebnis kommen, dass auch Strukturanpassungsmaßnahmen
des Weltwährungsfonds das Elend im Süden vergrößert
haben. Devisenspekulation, der Verfall der Rohstoffpreise - besonders krass zurzeit auf dem Kaffeemarkt und die Zerstörung vieler Märkte im Süden durch Agrarexportsubventionen der USA und Europas, all das sind
äußere Faktoren - kaum beeinflussbar von den Entwicklungsländern -, die Armut und Hungerelend verschärfen.
Beides, Missstände in einigen Entwicklungsländern und ungerechte Strukturen der Weltwirtschaft,
ist dafür verantwortlich, dass mehr als 800 Millionen
Menschen hungern. Der Entschließungsantrag der CDU/
CSU, der heute vorgelegt worden ist, hat die Tendenz, in
die Falle Nummer eins zu tappen und den zweiten Bereich, den internationalen, zu vernachlässigen.
Es ist deshalb richtig und - im wahrsten Sinne des
Wortes: Not wendend - notwendig, dass die Entwicklungspolitik seit 1998 nicht nur als Entwicklungshilfe,
sondern auch als globale Strukturpolitik verstanden
wird. Die Richtung stimmt. Ob das Tempo stimmt, darüber kann man - auch innerhalb der Koalition - geteilter
Meinung sein. Ich hoffe, dass es gelingt, auch den Finanzminister und die Haushälter davon zu überzeugen,
dass wir 2004 mehr Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit brauchen.
({2})
Auch die Bemühungen um eine grundlegende Reform
des IWF und der Weltbank, die Schaffung eines internationalen Insolvenzrechts im Sinne eines fairen und transparenten Schiedsverfahrens und die Einführung einer internationalen Devisenspekulationssteuer müssen innerhalb
des gesamten Kabinetts verstärkt werden. Doch dass es in
diesen Bereichen auf der Frühjahrstagung von IWF und
Weltbank keine nennenswerten Fortschritte gegeben hat,
lag nicht an der Bundesregierung, sondern an der Blockadehaltung der USA.
Welche fatalen Folgen für die Entwicklungsländer die
gegenwärtige Agrarpolitik der EU - besonders die
Agrarexportsubventionen - hat, hat Frau WieczorekZeul schon ausführlich benannt. Das wird in einem Koalitionsantrag deutlich, der sich noch in den Ausschussberatungen befindet. Deutschland nimmt bei den Bemühungen um die Durchsetzung des Rechts auf Nahrung
und beim Ringen um eine andere Haltung der EU gegenüber den Entwicklungsländern eine Vorreiterrolle ein.
Renate Künast allein kann es aber nicht richten, sie
braucht Bündnispartnerinnen und Bündnispartner innerhalb der EU.
Hoffnungsvoll stimmt mich, dass Heidemarie
Wieczorek-Zeul, Renate Künast und Jürgen Trittin jetzt
gemeinsam für fair gehandelte Produkte aus den Ländern des Südens Werbung machen. Sie appellieren dabei
an die Bevölkerung, nicht nur auf die billigsten Waren
zurückzugreifen, sondern auch der Frage nachzugehen:
Wo kommen diese Produkte eigentlich her und wer hat
sie unter welchen Bedingungen produziert?
Ein solcher Gerechtigkeits- und Ökoaufschlag wie
überhaupt jede Form von Entwicklungshilfe seien ein
Luxus für bessere Zeiten, wenn es uns selber schlecht
gehe, hätten wir weniger abzugeben, meinen manche. In
Zeiten der enger zu schnallenden Gürtel sei Entwicklungszusammenarbeit nicht mehr trendy, sagte mir
kürzlich ein Kollege. Hoffentlich ist das nur eine Einzelstimme.
Ich wünsche mir sehr - darüber gibt es Gemeinsamkeiten auch in den Redebeiträgen -, dass wir gemeinsam
erklären: Bei der Entwicklungszusammenarbeit geht es
nicht um Almosen; es geht um Partnerschaft und darum,
dass wir unsere Politik dort korrigieren, wo sie zur Vergrößerung des Elends mit beiträgt. Ich nenne nur das
Stichwort: Agrarexportsubventionen.
({3})
Eine neue Partnerschaft mit den Ländern des Südens
und ein stärkeres Engagement für Gerechtigkeit sind Investitionen in die Zukunft und in die gemeinsame Sicherheit. Langfristig gesehen ist es auch unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten vernünftiger, auf einen
gerechten Ausgleich zwischen Nord und Süd hinzuwirken als ein weiteres Auseinanderklaffen hinzunehmen.
Mehr Gerechtigkeit und Solidarität sind zwar nicht
zum Nulltarif möglich, aber so, dass alle gewinnen können: Zukunftsperspektiven, Lebensqualität, Sicherheit
und Würde.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Arnold Vaatz,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, wir brauchen den Gedanken an eine Reinkarnation, den der Kollege Hoppe gerade erwähnt hat, nicht,
um uns bei dieser Angelegenheit in unserer Haut nicht
allzu wohl zu fühlen. Das beginnt bereits damit, dass wir
gelegentlich dazu neigen, das Thema Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechte an die Peripherie unserer Plenartage zu setzen, also erst am späten Abend zu
verhandeln. Frau Bundesministerin, ich bin der Bundesregierung dankbar, dass wir es heute geschafft haben, zu
diesem Thema in der Kernzeit zu diskutieren.
({0})
Ich denke, alle heute hier Anwesenden finden es gut, und
ich bedauere, dass der Saal nicht etwas voller ist; denn
das Thema hätte es wirklich verdient.
({1})
Der Kollege Ruck hat es bereits richtig ausgeführt:
Der Gedanke an die Notwendigkeit von Entwicklungshilfe muss natürlich zuallererst bei den Bürgern in der
Bundesrepublik Deutschland präsent gemacht werden.
Das ist nicht möglich, wenn der Eindruck entsteht, wir
würden uns nur halbherzig darum kümmern. Deshalb
werben wir für die Entwicklungspolitik und versuchen,
dafür die öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Demzufolge will ich anerkennen, Frau Ministerin, dass
es Ihnen vergleichsweise oft gelingt, die Entwicklungszusammenarbeit und damit natürlich auch Ihre Person in
den Medien zu platzieren.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
Abg. Winfried Nachtwei ({2})
Mit Pressearbeit allein ist es aber nicht getan. Entwicklungspolitik braucht Inhalte, sie braucht Strategien,
Ressourcen und die richtigen Instrumente. Ihre Mängel
hat Ihnen der Kollege Ruck bereits eindrucksvoll erklärt,
ich muss das nicht wiederholen. Ich will aber an die
Adresse des Kollegen Erler ergänzend sagen: Sie haben
unseren Antrag als Lob für Ihre Entwicklungshilfepolitik
aufgefasst. Sie hätten auch das Recht, dies so aufzufassen, wenn Sie die Bundesrepublik Deutschland seit
50 Jahren regieren würden. Entwicklungspolitik muss
aber kontinuierlich betrieben werden. Es ist auch nicht
so, dass wir, wenn wir mit einer Reihe von Maßnahmen
der Bundesregierung nicht einverstanden sind, gleich
über die Entwicklungspolitik der Bundesrepublik
Deutschland schimpfen; denn bei der Entwicklungspolitik geht es nicht nur um die Regierung, sondern auch um
viele selbstlose Entwicklungshelfer, die in den betreffenden Ländern ihren Dienst tun und es verdient haben,
dass wir uns hinter sie stellen.
({3})
Mittelfristig ist die Qualität, in der diese Aufgabe gelöst wird, nicht allein für die betroffenen Menschen elementar, sondern sie auch elementar in Bezug auf unsere
Zukunft hier in den gesamten hoch entwickelten Ländern; denn wenn wir die Not nicht lindern, schlägt das
auch auf uns zurück.
Deshalb kann Entwicklungszusammenarbeit nur
langfristig angelegt sein. Um das zu erreichen, muss man
dafür sorgen, dass Hilfe wirklich helfen kann. Das setzt
Rahmenbedingungen in den Adressatenländern voraus,
die es ermöglichen, dass die zugedachte Hilfe an dem
Punkt wirkt, für den sie gedacht ist.
Dass das Interesse der Bundesregierung eindeutig
auch darauf zielt, diese Rahmenbedingungen entwickeln
zu helfen, daran habe ich meine Zweifel. Ich nenne dazu
ein Beispiel: Wir haben vorhin darüber gesprochen, dass
sich das öffentliche Interesse in den letzten Monaten
sehr stark auf den Irak konzentriert hat. Wir in diesem
Saal sind uns darüber einig, dass es im Irak diese Rahmenbedingungen für eine sinnvolle Entwicklung eben
nicht gab. Dort herrschte - auch darüber sind wir uns einig - ein grausamer Diktator.
Es gehört zu den großen Fehlleistungen unserer amerikanischen Freunde - das will ich durchaus einräumen -,
dass sie diesen Menschen anfangs zu unkritisch bewertet
und unterstützt haben. Aber solche Fehlleistungen sind
kein amerikanisches Privileg. Ich nenne nur das Beispiel
Mugabe, auf das ich später noch zu sprechen kommen
werde.
({4})
Ich komme zurück zu Saddam Hussein. Wir ahnen
heute, dass die genaue oder zumindest ungefähre Zahl
seiner Opfer - wenn überhaupt - wohl erst in den nächsten Monaten oder Jahren korrekt eingeschätzt werden
kann. Er und seine Paladine haben dieses Land geplündert, wie es sich ein Mitteleuropäer auch unter Aufbietung all seiner Phantasie kaum vorstellen kann. Es wird
berichtet - Sie haben das alle gelesen -, dass er noch
kurz vor seinem Sturz versucht hat, mit Traktoren Dollarnoten aus dem Irak zu bringen. Allein dass eine solche
Nachricht glaubhaft ist, sagt über diesen Menschen mehr
aus als tausend Worte.
({5})
Dabei ist dieses Land eines der erdölreichsten Länder
der Welt, ein Land, das sich unter geeigneten Rahmenbedingungen wie kein anderes Land selbst helfen könnte.
Der Irak hat ein Vielfaches der Rohstoffe von Deutschland.
Als der Irakkrieg begann, ist die deutsche Bundesregierung in dem Glauben, gegen dieses Land werde ein
ungerechter Krieg geführt, so weit gegangen, die engsten
Beziehungen zu unserem wichtigsten transatlantischen
Partner nachhaltig zu beschädigen und ihm in den Arm
zu fallen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, im Erstellen der Krisenszenarien haben Sie sich gegenseitig
überboten. Sie sollten dazu einmal den Beitrag von Hans
Magnus Enzensberger, der vor einiger Zeit im Feuilleton
der FAZ erschienen ist, lesen.
({6})
Dort wird ein Album der rot-grünen Untergangsorgiastik
ausgebreitet: So erwartete Herr Trittin etwa Hunderttausende Opfer und Frau Beer hatte die Vision, der ganze
mittlere Osten würde in die Luft fliegen.
Aus all diesem geht hervor: Die Amerikaner waren
Ihnen ein viel größerer Stein des Anstoßes als dieser
Diktator, der Berichten zufolge
({7})
seine Fedajin zu Kannibalen abgerichtet hat. Das ist die
Realität in der Bundesrepublik Deutschland und das ist
beschämend.
({8})
Die tollsten Stilblüten, Frau Ministerin WieczorekZeul, haben Sie abgeliefert. Sie meinten, eine deutsche
Beteiligung beim Wiederaufbau müsse rundweg abgelehnt werden. Sie meinten, wer bombt, habe zu zahlen.
Deshalb halte ich es für besonders wichtig, dass Sie
heute allmählich Zeichen senden, dass die Bundesregierung in dieser Frage umdenkt. Dass das schließlich geschehen ist, schreibe ich auch dem beharrlichen Druck
unserer Unionsfraktion zu.
({9})
Was ich aber für dreist halte, das ist die hier immer
wieder unkritisch vorgetragene Meinung, es habe eine
Chance auf eine friedliche Entwaffnung bestanden.
({10})
Das ist eine ungeheuerliche Ignoranz gegenüber der tatsächlichen Lage in diesem Land. Denn was steckt hinter
dieser Haltung? - Sie sagen damit, dass Sie bereit gewesen wären, die Aufgabe, diesen Diktator zu beseitigen,
dem unterdrückten, geknechteten, geknebelten und bedrohten irakischen Volk zuzumuten und zuzusehen, wie
es bei dem Versuch zugrunde geht. Das ist zynisch und
unwürdig. Diesen Standpunkt können wir nicht teilen.
({11})
Frau Wieczorek-Zeul, es wäre besser gewesen, wenn Sie
die Energie, die Sie in Ihre antiamerikanischen Attacken
investiert haben,
({12})
ansatzweise dazu benutzt hätten, dieses Regime anzugreifen, das zwei vernichtende Kriege geführt hat und
unzählige Menschen das Leben gekostet hat.
({13})
Jetzt ist der Diktator weg. Jedes Kind versteht, dass
sich die wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht auf die
platte Formel reduzieren lässt: Wer bombt soll zahlen. Es
geht im Irak um die Wiederherstellung von Stabilität,
Menschenrechten, Minderheitenrechten und Frauenrechten. Dabei hilft diese Ideologie nicht; vielmehr sind Realismus und Pragmatismus gefragt. Deshalb fordere ich
die Bundesregierung auf, zusammen mit unseren europäischen Partnerstaaten umgehend ein gemeinsames
und überzeugendes Konzept für den Neubeginn im Irak
zu erarbeiten.
Wenn Sie ein Konzept haben, dann fordere ich Sie
auf, sich dafür einzusetzen, dass es - im Gegensatz zu
der Situation der letzten Monate, als es verschiedene
Vorstellungen gab - von den EU-Staaten einmütig vertreten wird und dass versucht wird, es in Kooperation
mit und nicht gegen die Vereinigten Staaten von Amerika umzusetzen. Es ist nämlich ganz offensichtlich ein
Ausdruck von Hilflosigkeit, wenn Sie Ihre Kräfte für
immer neue Achsenkonstruktionen und Sondergruppierungen in der Europäischen Union verwenden. Wir hätten von Ihnen zum Beispiel gerne gehört, wie Sie inhaltlich zu den polnischen Vorschlägen über eine
Beteiligung der Bundeswehr bei der Stabilisierung der
Nachkriegsordnung im Irak stehen. Das wäre, auch für
die Öffentlichkeit, wichtig gewesen. Bisher haben Sie
dazu aber nur Proben von gekränkter Eitelkeit abgegeben, mehr nicht.
({14})
Erst wenn diese Fragen geklärt sind, können im Irak
erstmalig die politischen Rahmenbedingungen für eine
langfristige wirtschaftliche Entwicklung hergestellt werden. Um die Herstellung der Rahmenbedingungen muss
es bei einer entwicklungspolitischen Debatte gehen. Helfen Sie dabei und beginnen Sie sofort mit den Vorplanungen.
Ich finde es beunruhigend, dass die Bundesregierung
die Aufmerksamkeit, die sie dem Irakkonflikt intensiv
- das war aber politisch destruktiv - hat zukommen lassen, in dieser Zeit anderen Krisenherden in der Welt, vor
allen Dingen den Entwicklungsländern, verweigert hat.
In nenne als Beispiel Afrika. Die CDU/CSU-Fraktion
hat heute einen Antrag die Demokratische Republik
Kongo betreffend eingebracht; Kollege Hartwig Fischer
wird sich gleich damit befassen. Demzufolge kann ich
zu einem anderen regionalen Konflikt sprechen, und
zwar zu dem in Simbabwe.
Welche Hoffnungen hatte die Welt vor 30 Jahren in
Robert Mugabe gesetzt! In der Zwischenzeit hat er sich
zu einem erbarmungslosen und korrupten Diktator entwickelt, der dieses Land mit seinen als Landreform titulierten Massenenteignungen weißer Farmer in ein wirtschaftliches und humanitäres Desaster gestürzt hat.
Inzwischen ist der größte Teil der 4 500 kommerziellen
Farmen unter Begleiterscheinungen wie Folter, Vandalismus und Mord zwangsgeräumt worden. Nicht nur die
weißen Farmer sind die Leidtragenden; insgesamt
900 000 Menschen, vor allem schwarze Farmarbeiter,
befinden sich auf der Flucht, es liegen riesige Ackerflächen brach, Ernten wurden gezielt vernichtet. Für
9 Millionen Menschen bahnt sich eine Katastrophe an.
Man hat den Eindruck, diese Katastrophe sei gewollt,
das dortige Regime wünsche sie sich zum Machterhalt.
Seit Beginn der Terrorkampagne hat die CDU/CSUFraktion viele Appelle für ein konsequentes Einschreiten
an die Bundesregierung und an die internationale Staatengemeinschaft gerichtet. Sie sind entweder gar nicht
oder viel zu spät und zu halbherzig beachtet worden.
Deshalb ist es zu begrüßen, dass unsere Fraktion mit ihrer letzten Simbabwe-Initiative nun offenbar doch endlich einen Stein ins Rollen gebracht hat. Wir begrüßen
es, dass die südafrikanische Regierung, von deren Goodwill Mugabes Regime ein Stück weit abhängt, inzwischen sogar zu einer grundsätzlichen Überprüfung ihrer
Position bereit ist.
Solange die Bundesregierung und die anderen demokratischen Regierungen der Welt ihren Blick nur halbherzig auf diese Region richten, so lange besteht die Gefahr, dass aus dem Ungeist der Mugabe-Diktatur eine
Kettenreaktion entsteht, die eines Tages die gesamte Region erfassen könnte. Wenn Sie die Äußerungen von
Sam Nujoma in Namibia ernst nehmen, dann wissen Sie,
dass auch dort nichts Gutes zu erwarten ist. Eine ähnliche Situation steht also auch dort bevor.
Deutschland ist der größte Entwicklungshilfegeber
Namibias. Deshalb möchte ich Sie auffordern, Frau
Bundesministerin Wieczorek-Zeul: Wenden Sie sich an
dieses Land und senden Sie die unmissverständliche
Warnung, dass die Dinge, die sich in Simbabwe zugetragen haben, in Namibia auf keinen Fall von der deutschen
Entwicklungshilfe geduldet werden.
({15})
Meine Damen und Herren, ich könnte noch sehr viel
sagen, aber meine Redezeit geht leider zu Ende. Auf ein
Land im südlichen Afrika möchte ich aber noch ganz
kurz zu sprechen kommen, die Republik Südafrika.
Die Republik Südafrika verliert im Augenblick pro Monat mehr Spezialisten als Russland. Dort ist momentan
ein unglaublich starker Wegzug von weißen Spezialisten
und Experten, die einen großen Teil der Wirtschaftsinfrastruktur bilden, zu verzeichnen. Wenn dieser Prozess
so weitergeht, dann wird die Republik Südafrika nicht
mehr die Lokomotive einer afrikanischen Hoffnung sein.
Demzufolge bitte ich Sie: Lösen Sie sich von Ihrer alten Antiapartheidromantik und nehmen Sie zur Kenntnis, dass sich einige Symbolfiguren des Antiapartheidkampfs bei aller berechtigten Ehre, die man ihnen bisher
erwiesen hat, mittlerweile Auffassungen angeeignet haben, die denen ihrer ehemaligen Widerparts ähnlicher
sind als denen von Demokraten.
Herr Kollege Vaatz, Sie müssen bitte zum Ende kommen, da Sie Ihre Redezeit schon deutlich überschritten
haben.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident. - Geißeln Sie
das mit der erforderlichen Schärfe! Ich meine, damit
können Sie mehr für eine gedeihliche Entwicklung tun
als durch den Einsatz von mehreren Millionen Euro.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile der Kollegin Karin Kortmann, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, dass ich auch Dr. Ruth Pfau hier begrüße,
die sich seit vielen Jahrzehnten für Lepra- und Tuberkulosekranke einsetzt und heute im Gesundheitsministerium in Pakistan arbeitet. Sie wohnt dieser Debatte bei
und zeigt damit, wie wichtig es ist, dass eine solche Regierungserklärung, die vor zwei Jahren zum ersten Mal
gehalten wurde, in einem wiederkehrenden Rhythmus
abgegeben wird.
Ein Kollege der Union fragte gestern, ob wir keine
anderen Themen haben, sodass es zu dieser Debatte
heute kommt. Dazu muss ich sagen: Es handelt sich für
uns um eine der wichtigsten Zukunftsdebatten. Sie
macht den Stellenwert deutlich, den dieses Thema im
Gegensatz zur Union - diesen Eindruck habe ich durch
den Beitrag von Herrn Vaatz gewonnen - innerhalb der
SPD hat.
({0})
Ich möchte betonen, dass es für uns alle erleichternd
war, in der vergangenen Woche die Worte des amerikanischen Präsidenten zu hören, wonach der Krieg im Irak
weitgehend beendet sei. Wir leben in einer umkämpften
Welt, in der es um den Zugang zu Ressourcen geht. Es
geht um den Zugang zu Wasser, Energie, Öl und - beispielsweise in Angola - auch um den Zugang zu und die
Herrschaft über Tropenhölzer und Diamanten.
Wir werden auch heute nicht müde, zu bekräftigen,
dass die globalen Probleme nicht durch Kriege, sondern
nur durch nichtmilitärische Sicherheit zu lösen sind.
({1})
Die Roadmap - oder besser gesagt: der vorgelegte Friedensplan - für Israel und die palästinensischen Gebiete
könnte ein Beispiel für diese neue Sicherheitspartnerschaft werden und zur Befriedung einer ganzen Region
beitragen. Dieser Zusammenschluss wird von den Vereinten Nationen, der EU, Russland und den Vereinigten
Staaten gefördert. Er verdient unsere Unterstützung.
({2})
Die Bundesregierung, Herr Vaatz, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Opposition, hat überhaupt keinen
Grund, sich angesichts ihrer humanitären Hilfeleistungen
für den Irak zu verstecken oder das Büßergewand überzustreifen. Ich will Ihnen Folgendes deutlich machen: Wir
haben 6 Millionen Euro für das Welternährungsprogramm, 3 Millionen Euro für den UNHCR, 4 Millionen
Euro für das IKRK, 500 000 Euro für UNICEF und
200 000 Euro für die Caritas zur Verfügung gestellt. Zurzeit wird geprüft, inwieweit für CARE weitere Mittel bereitgestellt werden können, damit die Trinkwasserversorgung gewährleistet werden kann.
Während des Krieges besaßen Sie die Unverfrorenheit, bereits einen Stabilitätspakt für den Irak vorzulegen, aber Sie haben nicht ausgeführt, wie der humanitären Katastrophe begegnet werden kann. Ihnen ging es
schon sehr früh um eine Nachkriegsordnung, nicht um
die Frage, wie der leidenden Bevölkerung in der aktuellen Situation geholfen werden kann.
({3})
Ich bin froh darüber, dass unsere Ministerin in der
Lage ist, auf aktuelle Notlagen schnell zu reagieren und
Instrumente zur Krisenprävention und -bewältigung
zur Verfügung zu stellen. Wo wären wir denn heute,
wenn wir damals beim Hurrikan Mitch nicht schnell
hätten Hilfe leisten können? Welche Hilfeleistungen hätten die Menschen in Mosambik zu erwarten gehabt?
Ähnliches gilt für die Erdbebenkatastrophen. In der Politik des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ist der rote Faden erkennbar.
({4})
Heidemarie Wieczorek-Zeul hat allen Grund, auf diese
Arbeit stolz zu sein, die viel Respekt und Unterstützung
verdient.
({5})
Die Bundesregierung bietet - das habe ich bereits erwähnt - unterschiedliche, sich ergänzende Instrumentarien an, um die Ursachen von Krieg und Vertreibung einzudämmen. Damit auch für Sie klar ist, worum es geht:
Es geht um die wirtschaftliche Dynamik und die aktive
Teilhabe der Armen und darum, diese zu erhöhen. Es
geht um das Recht auf eine eigenständige Nahrungssicherung und um faire Handelschancen für die Entwicklungsländer. Es geht darum, Verschuldung abzubauen
und Entwicklung zu finanzieren. Es geht darum, soziale
Grunddienste zu gewährleisten und den Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen zu sichern und vor allem
eine intakte Umwelt zu fördern. Es geht darum, Menschenrechte zu garantieren und Kernarbeitsnormen zu
respektieren sowie die Beteiligung der Armen zu sichern
und verantwortungsvolle Regierungsführung zu stärken.
Das ist ein bunter, aber kein in sich gegensätzlicher
Strauß; es sind Zielkriterien, die aufeinander aufbauen
und sich gegenseitig bedingen. Für uns kommt es darauf
an, Entwicklung und Frieden im Zeichen der Globalisierung neu zu definieren und eine Politik zur Gestaltung dieser Ziele international zu vereinbaren, die den
Ländern des Südens und des Ostens Entwicklungs- und
Teilhabechancen ermöglicht, die denen der Länder des
Nordens und des Westens vergleichbar sind. Eine Aufteilung in die erste, zweite, dritte oder gar vierte Welt ist
nicht nur ethisch verwerflich und ökonomisch gefährlich, sondern bietet auch sozialen Sprengstoff, der nicht
mehr zu steuern ist.
({6})
Insofern hat der Satz von Willy Brandt - das zeigt den
roten Faden innerhalb der SPD - heute mehr denn je
seine Berechtigung: Wo Hunger herrscht, kann Friede
nicht Bestand haben.
({7})
Kollegen und Kolleginnen der Opposition, Sie haben
einen Antrag vorgelegt, der in seiner Analyse sehr wohl
nachvollzieht, dass wir uns in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit in einer Umbruchphase befinden. Von den Beziehungen zwischen Geber- und Empfängerländern, von der Art und Weise, wie Hilfe
geleistet wird, und von den Rahmenbedingungen für die
Entschuldung der ärmsten Länder ist darin die Rede.
Viele der alten, sich heute nicht mehr bewährenden Formen der entwicklungspolitischen Hilfe werden schrittweise durch neue, vor allem auch wirkungsvollere ersetzt. Was ich aber bei Ihnen vermisst habe, ist, dass dies
zum großen Teil durch die erneut bekräftigte Verpflichtung der internationalen Staatengemeinschaft zur Bekämpfung der weltweiten Armut begründet ist.
Drei wichtige Etappen haben in den letzten zweieinhalb Jahren zu diesem Erfolg geführt: Es sind das die
Millenniumserklärung der Vereinten Nationen im
Jahre 2000, der Monterrey-Konsens, bei dem es um die
Frage der Entwicklungsfinanzierung ging, und die UNKonferenz in Johannesburg und die dortige Verständigung auf einen breitenwirksamen Aktionsplan. Von Ihnen kam dazu kein einziges Wort, weil Sie diese Ereignisse anscheinend nicht realisiert haben. Die Halbierung
der Armut bis zum Jahr 2015 ist deswegen für diese
Bundesregierung zur größten Herausforderung, zum
überwölbenden Ziel der internationalen Staatengemeinschaft erklärt worden.
Die Millennium Development Goals sind Teil eines
in den letzten Jahren entstandenen internationalen entwicklungspolitischen Weltkonsenses. Sie sind Ausdruck
für diese neue globale Partnerschaft zwischen Nord und
Süd. Damit wird ein neuer Ansatz verfolgt, der von der
bisherigen Projektförderung weggeht und stärker in Programmen, in Sektoren und in Regionalkonzepten denkt.
Ich glaube, gestern im Ausschuss haben wir alle verstanden, dass der Stabilitätspakt für Südosteuropa ein lebendiges Beispiel für diesen Ansatz ist. Er leistet länderübergreifend schnelle, unbürokratische und effektive
Hilfe für eine ganze Region und fördert dadurch den Dialog und das Miteinander sich ehemals bekämpfender
Gruppen. Ich bitte die Bundesregierung dringendst, sich
dafür einzusetzen, dass dieser Stabilitätspakt fortgesetzt
werden kann, weil Frieden und Entwicklung sowie hohe
Zuwachsraten im Außenhandel Deutschlands mit den
Staaten des Stabilitätspaktes nach Darstellung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages und der KfW
gerade das Ergebnis dieser neuen Entwicklungskooperation sind.
Die Zeiten, Kolleginnen und Kollegen der Opposition, in denen Nationalstaaten glaubten, Entwicklungsprobleme allein lösen zu können, wie es beispielsweise
jahrelang durch den bilateralen Schuldenerlass versucht
wurde, sind passé. Internationale Problemstellungen erfordern auch internationale Lösungen und die Suche
nach einer globalen Ordnungspolitik, die sich an den
Zielen einer zukunftsfähigen, menschenwürdigen und
ökologisch nachhaltigen kohärenten Politik ausrichten.
Ich hätte mir gewünscht, dass Sie diese Fragestellungen
auch aufgreifen.
Daher unterstütze ich die Politik der Bundesregierung - nicht weil ich eine gute Sozialdemokratin bin,
sondern weil ich finde, dass die Bundesministerin einen richtigen Ansatz verfolgt, wenn sie für eine Stärkung der Vereinten Nationen eintritt, wenn sie sich für
eine beteiligungsfreundlichere Ausrichtung von IWF
und Weltbank einsetzt, auch wenn die Bundesregierung
mit den Ergebnissen der Frühjahrstagung nicht ganz
einverstanden ist; sie will, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen in den Politikdialog einbezogen
werden und ihr Konsultativstatus in den internationalen
Gremien Unterstützung findet.
Ich merke jetzt, dass meine Redezeit leider abläuft,
und wiederhole zum Schluss: Hören Sie auf mit der
Drehtürpolitik! Sie reden hier im Parlament darüber, die
Entwicklungspolitik mit Kuba einzustellen. Gleichzeitig
wird aber beim Präsidenten der Reisekostenantrag eingereicht, um an der UN-Konferenz gegen Wüstenbildung
in Havanna teilzunehmen. Es ist schön, wenn viele von
Ihnen nach Kuba reisen. Wir wollen doch einen Wandel
durch Annäherung. Was wäre in seinem Interesse besser,
als diese vor zwei Jahren hier begonnene Politik zu stabilisieren? Sie können nicht auf der einen Seite für einen
rechtsstaatlichen Dialog mit China sein und auf der anderen Seite, weil es Ihnen nicht passt, die Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba auflösen. Das passt nicht zusammen.
({8})
Ihr Antrag ist ein Sammelsurium, ein Bauchladen von
Ansätzen, in dem der rote Faden, Herr Ruck, den Sie so
nachdrücklich gefordert haben, nicht erkennbar ist.
({9})
Lesen Sie ein wenig mehr in den Papieren aus dem
BMZ; das würde auch Ihnen helfen.
({10})
Ich erteile das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Uschi Eid.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Entwicklungspolitik ist echte Partnerschaft
der Grundsatz unserer Zusammenarbeit; die Bundesministerin hat dies sehr deutlich dargelegt. Die afrikanischen Reformpolitiker haben sogar ihrer neuen Entwicklungsstrategie diesen Namen gegeben und sprechen von
der neuen Partnerschaft für Afrikas Entwicklung.
Woran aber zeigt sich, ob wir die Menschen in der
Dritten Welt auf gleicher Augenhöhe als echte Partner
und gleichberechtigte Gegenüber akzeptieren? Es zeigt
sich darin, dass alle Seiten, also auch wir, ihre eigenen
Interessen klar und offen formulieren. Eine solche Offenheit nützt allen, nicht nur wegen eines ehrlichen Umgangs miteinander; vielmehr ist sie auch notwendig, damit sich die Entwicklungsländer auf die Anforderungen
der Globalisierungsprozesse einstellen können. Nur
wenn entsprechende Anpassungsleistungen und Reformen erbracht werden, dann können sich diese Länder
stärker in die internationale Wirtschaftsdynamik integrieren. Weil sie das selber wollen, um die Lebensbedingungen in ihren Ländern zu verbessern, unterstützen wir
sie darin. Ich glaube, die Ministerin hat sehr deutlich die
Schritte aufgezeigt, wie wir sie unterstützen.
In meiner Aufgabe als Afrika-Beauftragte des Bundeskanzlers erlebe ich, wie viele afrikanische Politiker
bestrebt sind, nachhaltige Armutsbekämpfung durch
wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen. Sie wissen,
dass die Vorbedingung für Wirtschaftswachstum ein der
ökologischen und sozialen Marktwirtschaft förderliches
Umfeld ist. Herr Löning, das müssen wir ihnen nicht sagen; das wissen sie selber.
Dieses förderliche Umfeld ist notwendig, damit Unternehmen wieder mehr wirtschaftliches Interesse an
Afrika haben. Entsprechend versuchen Regierungen wie
zum Beispiel in Ghana, in Mosambik, in Südafrika oder
in Kenia, Afrika wieder zu einem attraktiveren Standort
für wirtschaftliche Investitionen zu machen. Dabei geht
es aber in erster Linie nicht um Investitionen aus dem
Ausland, sondern um inländische Investitionen. Es
muss deshalb alles getan werden, um die Kapitalflucht
aus Afrika zu beenden.
Dazu sind zwei Punkte wichtig. Zum einen müssen
die Rahmenbedingungen wirtschaftsfreundlicher gestaltet werden: Rechtsstaatlichkeit, Vertragssicherheit, geregelte Eigentumsrechte, ein funktionierendes Bankensystem und selbstverständlich Kampf gegen Korruption.
Das ist gar keine Frage; da sind wir uns alle hier im
Hause einig. Unternehmen aus Europa und Afrika brauchen beide verlässliche und transparente Rahmenbedingungen, um langfristige Investitionen tätigen zu können.
Wir sind bereit, in unserer Entwicklungskooperation einen wesentlichen Beitrag zur Formulierung der notwendigen Reformen für wirtschaftliche Entwicklung zu leisten. Auch bieten wir Beratung für kleine und
mittelständische Unternehmen an, damit diese auf den
Exportmärkten wie zum Beispiel der Europäischen
Union konkurrenzfähig werden.
Es war notwendig, dass wir uns auf Initiative der
Bundesministerin das Ziel gesetzt haben, dass die ärmsten Länder bei uns alles außer Waffen verkaufen können.
Aber eine reine Marktöffnung nützt nichts, wenn die
Länder noch nicht konkurrenzfähig sind. Damit sie das
werden, unterstützen wir sie in unserer Entwicklungskooperation.
Zum Zweiten spielt die regionale Integration eine
überragende Rolle. Meist ist die Kaufkraft in einzelnen
Ländern viel zu klein, als dass sich umfangreiche Investitionen lohnen würden. Daher fördern wir zum Beispiel
die regionale Integration im südlichen Afrika, in der
SADC-Region, oder in Ostafrika, in der Ostafrikanischen Union. Der Ausbau des innerafrikanischen Handels ist der erste Schritt, um auch international wettbewerbsfähig zu werden. Entsprechend ist die Förderung
der regionalen Integration ein Schwerpunkt unserer Zusammenarbeit mit Afrika.
Für Afrika ist die WTO-Konferenz in Cancun von
größter Bedeutung. Die laufende WTO-Runde muss eine
Entwicklungsrunde sein; das haben alle Länder einvernehmlich beschlossen. Aber wir wissen, dass wir diesen
Anspruch bisher noch nicht erfüllen konnten. Wir brauchen einen Durchbruch in den Agrarverhandlungen;
sonst wird man die WTO-Runden nicht als Erfolg werten können. Afrika braucht mehr Zugang zu unseren
Agrarmärkten. Europa darf seine Überschüsse nicht zu
Dumping-Preisen auf die afrikanischen Märkte drücken.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen aber
auch, dass die traditionelle Handelspolitik in einer Welt
global vernetzter Produktionsstrukturen durch neue Kooperationsformen ergänzt werden muss. Deshalb fördern
wir so genannte strategische Partnerschaften und arbeiten mit Unternehmen, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen zusammen.
Lassen Sie mich das für den Bereich Bekleidung illustrieren. Hier sind mehrere große Handelsketten auf
uns zugekommen, um bei ihren Zulieferern weltweit die
Einhaltung sozialer und ökologischer Mindeststandards
durchzusetzen. Wir beteiligen uns daran, indem wir den
Unternehmen in den Entwicklungsländern helfen, sich
auf die Anforderungen von deutschen Verbrauchern und
Unternehmen einzustellen. Dadurch sichern wir nicht
nur langfristig die Handelsbeziehungen. Wenn wir mit
dem Projekt erfolgreich sind, haben wir über einer Million Beschäftigten in Entwicklungsländern geholfen, unter besseren Bedingungen zu arbeiten. Auch dem deutschen Einzelhandel ist durch diese Partnerschaft
geholfen. Denn er wird durch transparente MonitoringVerfahren wieder ein Stück Vertrauen der Verbraucher
zurückgewinnen. So können wir eine klassische Situation erreichen, bei der alle Seiten nur gewinnen können.
Einen ähnlichen Ansatz starten wir für die Kaffeewirtschaft in der nächsten Woche in London. Dort wird
auf Initiative des BMZ mit den großen Kaffeekonzernen,
der Internationalen Kaffeeorganisation, mit Gewerkschaften und internationalen Nichtregierungsorganisationen ein Verhaltenskodex für die Produktion und die
Vermarktung von Kaffee entwickelt.
Sie sehen, wir gehen neue Wege in der Handels- und
Entwicklungspolitik. Wir brauchen solche neuen Partnerschaften mit der Wirtschaft und allen gesellschaftlichen Gruppen, damit wir das Ziel der Bundesregierung
erreichen, einen relevanten Beitrag zur Halbierung der
weltweiten Armut bis 2015 zu leisten.
Dass wir auf dem richtigen Weg sind, wurde dadurch
unter Beweis gestellt, dass die Ministerin in den USA für
diese Politik ausgezeichnet worden ist. Frau Ministerin,
ich möchte Ihnen von hier aus dazu ganz herzlich gratulieren. Das gibt uns allen Mut, gemeinsam auf diesem
Weg weiter zu schreiten.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegen Ulrich Heinrich, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltige Entwicklung und nachhaltige Armutsbekämpfung sind das Ziel unserer Entwicklungspolitik.
Wir bekennen uns ausdrücklich zum Millenniumsziel
der Halbierung der Armut. Bezüglich der Frage, wie
treffsicher wir allerdings bei dieser Arbeit sind und wie
viele Erfolge wir aufzuweisen haben, möchte ich eine
kurze nüchterne Bilanz ziehen.
Wenn wir mit den Institutionen über die Evaluierung
ihrer Projekte reden, bekommen wir fast überall die Antwort, etwa 75 Prozent der Projekte seien erfolgreich.
Das zieht sich so ungefähr durch alle Bereiche. Ist das
nun gut oder schlecht? Sind die Angaben auch bei einer
nachhaltigen Betrachtungsweise noch haltbar? Ich für
meinen Teil habe erhebliche Zweifel. Es gibt auch nicht
wenige sachkundige Beobachter der Entwicklungszusammenarbeit, die zu anderen Ergebnissen kommen,
nämlich dass nach vielen Jahrzehnten gut gemeinter,
häufig auch sehr teurer Entwicklungspolitik die Bilanz
eher mager aussieht. Das ist nicht nur auf bundesrepublikanischer Ebene, sondern weltweit festzustellen.
Lassen Sie uns deshalb gemeinsam darangehen, effizienter zu werden, um mit dem vorhandenen Geld mehr
zu erreichen und nicht dauernd nach mehr Geld zu rufen.
Denn auf absehbare Zeit wird nicht mehr in der Kasse
sein. Da können wir uns einig sein. Knappe Kassen müs3502
sen Kreativität und Innovationen auslösen. Was müssen
wir verändern, um zu besseren Ergebnissen zu kommen?
Die Vorgehensweise in den einzelnen Ländern muss
nach meiner Meinung strategischer geplant werden. Vorbild könnte hier der Stabilitätspakt für Südosteuropa
sein. Hier wurde wirklich strategisch geplant, hier hat
man runde Tische gebildet und war in kurzer Zeit erfolgreicher als angenommen.
({0})
Wir brauchen eine bessere Kooperation der Geberländer untereinander, um durch Verfahrensvereinfachungen Duplizitäten auszuschließen. Die Geberländer
dürfen sich von den Empfängerländern nicht gegenseitig
ausspielen lassen. Wenn ein Wettlauf der Geberländer
vor Ort stattfindet, dann ist das unproduktiv, sinnlos und
eine Verschwendung von Ressourcen.
({1})
Wenn Sie sehen, dass in einem durchschnittlichen
afrikanischen Staat gleichzeitig etwa 600 Entwicklungsprojekte laufen und darüber 2 400 Quartalsberichte geschrieben werden müssen, dann werden Sie verstehen,
was ich meine, wenn ich sage: Teure, ineffiziente Bürokratie muss dringend abgebaut werden. Wenn wir uns
hier einig sind und uns gegenseitig loben, dann verändern wir nichts an der Produktivität und der Effektivität
unserer eingesetzten Mittel.
({2})
In die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit muss
stärker die Zivilgesellschaft einbezogen werden. Unser
Schwerpunkt liegt immer noch in der Zusammenarbeit
mit den Regierungen, die häufig korrupt sind. In diesen
Fällen ist das Ergebnis der Zusammenarbeit negativ. Wir
müssen die Zivilgesellschaften stärker mit einbinden,
damit sie sich selber emanzipieren können. Die Emanzipation der Bürger ist notwendig, damit sie lernen, politisch mitzubestimmen.
({3})
Die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit muss
stärker vom Verhalten der Regierungen der Empfängerländer abhängig gemacht werden. Ich nenne in diesem
Zusammenhang das Stichwort Good Governance.
Erfolgreiche Entwicklungspolitik ist nicht vorstellbar,
wenn im Partnerland Korruption und Rechtschaos vorherrschen und keine einigermaßen zuverlässigen Strukturen vorhanden sind.
Rechtschaos und ein überbetriebener Bürokratismus
stellen in Entwicklungsländern häufig ein Hemmnis für
wirtschaftliche Aktivitäten dar. Wo überbetriebener Bürokratismus herrscht, kann eine nachhaltige Entwicklung
nicht gedeihen, und zwar unabhängig von dem von uns
geleisteten Input.
Die Empfängerländer müssen ihrerseits die Bereitschaft erkennen lassen, Eigentum zu respektieren, und
sie müssen die gesetzlichen Voraussetzungen für das
vorhandene inoffizielle Vermögen - alles, was sie besitzen und mit dem sie tagtäglich überleben - schaffen,
damit mit diesem Vermögen aktiv Kapital geschöpft
werden kann und es sich als aktiver Kapitalwert niederschlägt. Derjenige, der nichts vorzuweisen hat, ist nicht
in der Lage, Kredite aufzunehmen, was eine wichtige
Voraussetzung für wirtschaftliches Tätigwerden ist.
Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken ausführen, Herr Präsident. Ich möchte in diesem Zusammenhang die Initiative der KfW im Bereich der Einführung
des Microbanking in Südosteuropa ausdrücklich loben.
Diese Erfahrungen sollten auch für andere Bereiche eine
Richtschnur bieten. Es ist nämlich erstaunlicherweise
festgestellt worden, dass von kleinen Banken nicht nur
Kredite in Anspruch genommen werden, sondern dass
auch beträchtliche Einzahlungen erfolgen. Viele haben
ihr Geld unter der Matratze im Sparstrumpf aufbewahrt
und bringen es nun zur Bank, wodurch sie kreditwürdig
werden.
Wir müssen stärker an den harten Faktoren arbeiten
und dementsprechend die notwendigen Voraussetzungen
zur Verbesserung der Infrastruktur schaffen. Ein Drittel
der gesamten Menschheit hat keinen Zugang zu Elektrizität. Das sollte uns zu denken geben.
Herr Kollege Heinrich, Sie müssen jetzt zum Ende
kommen. Sie haben Ihre Redezeit schon fast verdoppelt.
({0})
Herr Präsident, dann war nicht mehr viel übrig.
Ich möchte nur noch etwas dazu anmerken, wie wir
unser eigenes Handeln kritisch betrachten können, um
zu neuen Schlussfolgerungen zu kommen. Wir sollten
das, was erfolgreich war, fortsetzen, aber in Bereichen,
in denen wir nicht erfolgreich waren, schnellstens umsteuern.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Weil es in der Diskussion angesprochen wurde
- auch der Kollege Heinrich ist darauf eingegangen -,
möchte ich auf von uns in Gang gesetzte Änderungen
hinweisen, die auch entsprechende Auswirkungen mit
sich gebracht haben, zum Beispiel in den Bemühungen
um mehr Effizienz. Es ist zwar richtig, dass zusätzliche
Finanzmittel notwendig sind, aber diese vorhandenen
Mittel müssen auch effizient genutzt werden.
Eine der von uns erreichten Effizienzsteigerungen hat
sich daraus ergeben, dass wir frühzeitig die völlig unterschiedlichen Praktiken bei der Berichterstattung für die
Entwicklungsländer wie auch bei anderen Themen - DeHeidemarie Wieczorek-Zeul
legationen, unterschiedliche Verfahrensweisen - kritisiert haben, für die übrigens die deutsche Entwicklungszusammenarbeit zu Zeiten der früheren Bundesregierung
mitverantwortlich war. Wir haben dafür gesorgt, dass es
einen internationalen Plan gibt, der gemeinschaftliche
Kriterien für das Verhalten der Geberländer festlegt, sodass sich die Entwicklungsländer mit ihrer Entwicklung
und mit wirtschaftlichen Chancen befassen können und
sich nicht mit Entwicklungsbürokratie auseinander setzen müssen. Mein Ministerium hat ebenfalls einen entsprechenden Aktionsplan vorgelegt, weil wir genau
diese hier angesprochenen Punkte ausräumen wollen.
Ich möchte, wenn ich darf, noch auf einen anderen
Punkt zurückkommen - Stichwort Bolivien -, der in
der vorangegangenen Diskussion angesprochen worden
ist. Bolivien ist von den Auswirkungen der weltwirtschaftlichen Entwicklung besonders betroffen. Es
stimmt, dass diesmal im bolivianischen Haushalt Mittel
zur Entschuldung eingestellt worden sind. Das heißt aber
nicht, dass sie zweckentfremdet worden sind. Sie sind
vielmehr zur Armutsbekämpfung verwendet worden;
denn der für die Armutsbekämpfung relevante Teil des
bolivianischen Haushalts ist von 10,6 auf 12,9 Prozent
gestiegen.
Die bolivianische Regierung - das kritisieren auch
wir; aber wir haben keine Möglichkeit, darauf Einfluss
zu nehmen - hat in der Tat ihre Zusage, die entsprechenden Mittel den Gemeinden zur Verfügung zu stellen,
nicht eingehalten. Aber mit Verlaub, auch die ärmsten,
hoch verschuldeten Entwicklungsländer sind weder Protektorate noch können und wollen wir sie so behandeln.
Wir können einem Land nicht vorschreiben, wie es konkret die Mittel zur Armutsbekämpfung in seiner Gesellschaft verwendet. Aber dass die Länder die bereitgestellten Mittel zur Armutsbekämpfung verwenden müssen,
schreiben wir vor und darauf achten wir sehr genau. Das
wollte ich nur klarstellen, weil damit die Frage nach der
Entschuldungsinitiative verbunden ist.
Danke sehr.
({0})
Kollege Heinrich, wollen Sie kurz erwidern? - Das ist
der Fall. Bitte sehr.
Herr Präsident! Frau Ministerin, ich freue mich sehr
darüber, dass Sie das, was ich angemahnt habe - es geht
um die Frage, wie wir die zur Verfügung stehenden Mittel effektiver einsetzen können -, aufnehmen wollen.
({0})
- Sie behaupten, dass Sie es gemacht hätten.
Mein Resümee ist, dass hier bisher eine viel zu kurze
Strecke zurückgelegt worden ist, dass noch allzu viele
Mittel nicht effizient eingesetzt werden und dass hier
- wenn es nicht stimmen würde, hätte ich es vorhin nicht
angesprochen - sehr viel mehr getan werden muss.
({1})
Wenn Sie davon überzeugt gewesen wären, dass Sie auf
dem richtigen Weg sind, dann wäre es Ihnen unbenommen gewesen, in Ihrer 20-minütigen Regierungserklärung auf den wichtigen Faktor des effizienten Einsatzes
der Gelder entsprechend hinzuweisen.
Ich bedanke mich.
({2})
Das Wort hat nunmehr Kollege Dr. Hermann Scheer,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Entwicklungshilfe - das ist von der Bundesministerin gerade vorgetragen worden und darauf ist auch schon in
den letzten Jahren wiederholt hingewiesen worden - soll
verstärkt auf die energetische Frage, insbesondere auf
die Erneuerbaren Energien, ausgerichtet werden. Dieser
Schwerpunktwechsel verdient eine nähere Betrachtung;
denn ich halte diesen Wechsel für eine der entwicklungspolitischen Schlüsselfragen. Ich finde, dass es ein jahrzehntelanges Versäumnis der bisherigen Entwicklungspolitik ist, dieses Problem nicht erkannt zu haben.
({0})
Man muss dieses Versäumnis gar nicht parteipolitisch
bewerten; denn es handelt sich um ein internationales
Versäumnis, das bis zu den Verhandlungen über die
Agenda 21 in Rio de Janeiro reichte, ohne dass es damals aufgefallen wäre. Daran kann man sehen, dass es
diesbezüglich an Bewusstsein mangelte.
Es ist jetzt ziemlich genau 30 Jahre her, als, durch den
Jom-Kippur-Krieg ausgelöst, die erste große Weltölkrise
begann. Sie dauerte mit einer kurzen Unterbrechung
neun Jahre. Wir haben damals zwar viel über die weltwirtschaftlichen, aber sehr wenig über die Folgen für die
Dritte Welt diskutiert. 1973, also bevor diese Krise begann, betrug die Gesamtverschuldung der Dritten
Welt ungefähr 200 Milliarden Dollar. Neun Jahre später,
also als diese Krise zu Ende war, betrug die Gesamtverschuldung der Dritten Welt das Sechsfache: 1,2 Billionen Dollar. Diese Versechsfachung geht selbstverständlich in allererster Linie auf die Ölkrise zurück.
Die Länder der Dritten Welt, die im Wesentlichen dieselben Energiequellen wie wir haben - sie nutzen auch
Biomasse; allerdings sorgen sie größtenteils nicht für Erneuerung; das hat ebenfalls verheerende Wirkung -,
müssen auf den Weltmärkten, sofern sie nicht selbst Produzent sind, also eigene Quellen haben, dieselben Preise
wie wir zahlen. Da das Pro-Kopf-Einkommen in diesen
Ländern aber nur ein Zehntel oder noch weniger des ProKopf-Einkommens bei uns ausmacht, zahlen diese Länder für Energie gemessen an ihrer Kaufkraft das Zehnfache.
Dies wirkt wie eine Daumenschraube. Die falsche
Ausrichtung der Energiepolitik - das hängt mit der
Quellenlage zusammen; ich sage das völlig unabhängig
davon, dass diese Politik gravierende Umweltprobleme
hervorruft, die wir alle kennen - hat dazu geführt, dass
die Verschuldung auch nach 1982, als die Ölkrise beendet war, trotz aller Entschuldungsinitiativen im Grunde
genommen nicht mehr gesenkt werden konnte, sondern
dass höchstens die Geschwindigkeit des Wachstums
durch entsprechende Entschuldungsinitiativen verlangsamt werden konnte.
1973 mussten die afrikanischen Staaten ohne eigene
Ölquellen noch ungefähr 5 bis 10 Prozent ihrer Exporteinnahmen für den Import von Erdöl ausgeben; heutzutage müssen sie fast alle 100 Prozent und mehr dafür
ausgeben. Das heißt, sie sind, solange Erdöl ihre Energiebasis ist, ökonomisch chancenlos. Einer der Mythen
in der internationalen Energiedebatte ist, dass die Umstellung der Länder der Dritten Welt auf die Nutzung erneuerbarer Energien - auch bei uns ist diese Umstellung
nötig - eine ökonomische Last darstelle. Diese Umstellung ist die einzige elementare wirtschaftliche Chance
dieser Länder, ihre wirtschaftliche Entwicklung entscheidend voranzubringen.
({1})
Hinzu kommt ein weiterer Faktor. Ein grundlegender
Fehler der Entwicklungspolitik in den letzten Jahrzehnten war die Auffassung - ich denke dabei insbesondere
an die großen kontinentalen Entwicklungsbanken und an
die Weltbank, die diesen Fehler zwar erkannt, daraus
aber noch längst nicht die richtigen Schlussfolgerungen
gezogen hat -, man könne unser Energiesystem in die
Länder der Dritten Welt transferieren.
Unser Energiesystem hat sich im Laufe eines Jahrhunderts allmählich von einem System dezentraler Versorgung hin zu einem System zentraler Versorgung entwickelt. Wir wissen inzwischen, dass das eine
Fehlentwicklung war. Man hat in den letzten 30 bis
40 Jahren in den Ländern der Dritten Welt - deren Struktur war zuvor total dezentralisiert; bis heute leben dort
noch immer 60 bis 90 Prozent der Bevölkerung in ländlichen Räumen - eine zentralisierte Energieversorgungsstruktur eingeführt, unter anderem durch entsprechende
Investitionen und Vergabe von Krediten. Die unmittelbare Folge war das Einsetzen der Landflucht, weil man
nur in den Städten Strom bekam. Das Leben in den Städten wurde immer überlasteter. Damit einher ging die
Slumbildung, die wir alle kennen, und die zunehmende
Verarmung der Menschen in den ländlichen Räumen, wo
sehr viele bis heute noch nicht einmal Energie für kleine
Maschinen haben, weil sie das gar nicht bezahlen können oder weil die Infrastruktur dazu nicht ausreicht.
Selbst wenn die Infrastruktur - sie ist am kostspieligsten - in den ländlichen Räumen besser würde - ich
denke an den Ausbau großer Leitungsnetze usw. -, dann
nützte das nichts mehr, weil die herkömmlichen Energieversorgungsquellen bis dahin wahrscheinlich schon
längst erschöpft sind. Das heißt, wir haben hier den elementarsten entwicklungspolitischen Änderungsbedarf
weltweit.
Die Weltbank gibt bis heute nicht mehr als 10 Prozent
ihrer Energiekredite für alternative Energien; es müssten längst 100 Prozent sein. Die Entwicklungsbanken in
Afrika und Asien haben das noch nicht einmal intellektuell, konzeptionell erkannt, was bei der Weltbank mittlerweile der Fall ist.
In der Konferenz von Rio wurde seitens der OPECLänder, der Vereinigten Staaten von Amerika und einiger anderer Länder erfolgreich versucht, diesen Zusammenhang systematisch aus allen Dokumenten herauszuhalten. Es wurde über Wichtiges, aber nicht über diese
Schlüsselfrage diskutiert. Es ist eine Schlüsselfrage, weil
ohne Energie nichts, aber auch überhaupt nichts möglich
ist, weil sie am Anfang jedweder Entwicklung und jedweder wirtschaftlichen Aktivität steht.
({2})
Wenn man das noch weiter verfolgt, so kann man
feststellen, dass der Einfluss der OPEC-Länder auf
große Teile der Gruppe der 77, die immer noch besteht,
jedenfalls bei internationalen Konferenzen, bis kurz vor
Johannesburg sogar noch so weit reichte, dass erneut der
Versuch unternommen wurde, das Thema herauszuhalten, was aber schließlich nicht gelang, weil unsere Regierung und der UN-Generalsekretär dagegen votierten
und diese Thematik erfolgreich in das Zentrum der Konferenz von Johannesburg gehoben haben.
Wir stehen hier vor der Situation, dass ähnlich wie
vor einigen Jahrzehnten - damals gab es die grüne Revolution, um den Hunger in den Dritte-Welt-Ländern zu
überwinden; sie hat teilweise Erfolg gehabt, teilweise
auch nicht, wegen einer falsch verstandenen Landwirtschaftspolitik - eine große und konzentrierte Anstrengung erfolgen muss, nämlich für eine Initiative hin zur
Veränderung und zur Umorientierung der Energieversorgungsstrukturen auf die heimischen Energien der
Länder, also die Erneuerbaren Energien. Dort steht der
entwicklungspolitische Aspekt, der wirtschaftliche Entwicklungsaspekt, noch sehr viel mehr im Vordergrund
als der Umweltaspekt, der bei uns die Schlüsselfrage
darstellt.
Herr Kollege Scheer, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich bin beim letzten Satz. - Deswegen hat alles, was
von der Regierung in dieser Richtung gemacht wird, was
von ihr zum Schwerpunktwechsel auf diesem Gebiet
versucht wird - bei eigenen Maßnahmen und darüber hinaus; das geht bis hin zu der vorgesehenen Gründung einer internationalen Agentur für Erneuerbaren Energien -, eine Türöffnerfunktion für das, was an neuer entwicklungspolitischer Philosophie in der eben angegebenen Richtung notwendig ist.
Danke schön.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch, fraktionslos.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute
ist der 8. Mai, der Tag der Befreiung vom Hitler-Faschismus. Sie, Frau Ministerin, sind eingangs Ihrer Rede
mit folgendem Satz auf diesen Tag eingegangen: Die
Vereinigten Staaten von Amerika haben mit anderen zusammen unser Land vom Hitler-Faschismus befreit. Ich bin über die partielle Betrachtung der Realität sehr
verwundert. Wir befinden uns hier im Reichstag in Berlin. Berlin wurde von der Roten Armee befreit. Wer es
aus dem Geschichtsbuch nicht weiß, kann es zumindest
an den Inschriften in diesem Gebäude ablesen.
({0})
Die Völker der Sowjetunion haben in diesem Krieg einen Blutzoll von 20 Millionen Toten bezahlt und Sie,
Frau Ministerin, gehen mit einem sehr eingeschränkten
Blickwinkel an diesen Tag heran.
({1})
Wir von der PDS im Bundestag erneuern unseren
Vorschlag, den 8. Mai zum offiziellen Gedenktag, zum
Tag der Befreiung, zu erheben.
({2})
Frau Bundesministerin, Sie sind sicherlich bemüht,
alles zu tun, um die Armut in den Entwicklungsländern
zu bekämpfen. Sie haben viele Projekte auf den Weg gebracht und partiell können diese Projekte sicherlich helfen. Aber die Wurzeln des Problems Armut können sie
nicht beseitigen. 1,2 Milliarden Menschen in der Dritten
Welt sind von extremer Armut betroffen. Die Einkommensdifferenz, die zwischen den reichsten und den
ärmsten Ländern besteht, betrug im Jahr 1960 das
37fache; heute beträgt sie das 74fache.
Die drei reichsten Personen der Welt besitzen ein Vermögen, das ebenso hoch ist wie zusammengenommen
das Bruttoinlandsprodukt der 48 ärmsten Länder. Im Jahr
2001 waren es 826 Millionen Menschen, die Hunger litten. Die Zahl der erwachsenen Analphabeten betrug
854 Millionen. 300 Millionen Kinder bleiben der Schule
fern. 2 Milliarden Menschen brauchen lebenswichtige
Medikamente zu niedrigen Preisen, haben sie aber nicht.
Jährlich sterben mindestens 11 Millionen Kinder unter
fünf Jahren infolge vermeidbarer Ursachen. 500 000
Menschen erblinden aufgrund von Mangel an Vitamin A.
Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, ehemaliger
stellvertretender Chef der Weltbank, benennt die wirklichen Gründe für die zunehmende Armut in den Entwicklungsländern. Eine Aufgabe der Weltbank ist die Bekämpfung der Armut. Mit der stärkeren Verkopplung
von Weltbank und IWF, dem Internationalen Währungsfonds, in den 80er-Jahren trat die Bekämpfung der
Armut in den Hintergrund. Der IWF verbindet mit der
Gewährung von Krediten politische und ökonomische
Forderungen, die die Souveränität der Länder drastisch
einschränken.
Nun kann man sagen: Wer das Geld gibt, kann auch
sagen, was damit passiert. Doch die letzten Jahrzehnte
haben gezeigt, dass der IWF mit seiner Politik nicht zur
Krisenbewältigung beigetragen hat. Ganz im Gegenteil.
Er verschärft vielmehr die Krisen und hinterlässt Chaos
und Armut. Die Asienkrise etwa hat in den vergangenen
Jahren den Anteil der Bevölkerung, der in Armut lebt,
beispielsweise in Ländern wie Indonesien, dramatisch
ansteigen lassen. Gerade die Länder, die den Mut hatten,
sich nicht an die Vorgaben des IWF zu halten, sind
schneller aus der Wirtschaftskrise herausgekommen als
die Länder, die den Vorschlägen des IWF folgten. Wir
brauchen also ein Konkursrecht für Entwicklungsländer.
Jetzt ist der Internationale Währungsfonds Konkursrichter und Gläubiger zugleich. Die Kreditrückzahlung
ist für den IWF oft wichtiger als die Sicherung der wirtschaftlichen Basis des jeweiligen Landes. Seine Auflagen führen in der Regel zum Sozialabbau und auch zum
Konkurs von bis dato gesunden Unternehmen. Die Forderung nach Liberalisierung der Märkte ohne Regeln
und Rechtsordnungen führt immer wieder in schwere
Krisen. Russland ist nur ein schlimmes Beispiel. Mithilfe forscher Berater aus den USA und auch aus der
Bundesrepublik wurde es praktisch in die Dritte Welt katapultiert. Die Liberalisierung der russischen Märkte
ohne klare Rechtsnormen hat zu einer gigantischen Vernichtung gesellschaftlichen Vermögens, zu Korruption
und Armut geführt.
Ich will mich hier gar nicht über das magere Budget
der Entwicklungsministerin auslassen. Ich will mich
auch nicht darüber auslassen, dass die 0,8 Prozent des
BIP, zu denen man sich selbst verpflichtet hatte, nicht
aufgebracht werden. Ich denke, das zentrale Problem besteht darin, dass die Armutsbekämpfung nicht auf der
Agenda des Kanzlers und des Außenministers steht. Die
Bundesrepublik hätte nämlich die Macht, in der Weltbank und im IWF etwas zu ändern.
({3})
Doch davon ist nichts zu hören.
Es wäre auch dringend notwendig, in der EU über die
Abschaffung von Handelsrestriktionen zu sprechen.
Warum führt zum Beispiel der Bundeskanzler nicht mit
seinem französischen Amtskollegen eine Allianz gegen
die Armut an? Ich finde, man sollte den Entwicklungsländern eine würdige Chance geben, indem ihnen die
Möglichkeit eröffnet wird, ihre Produkte auf dem europäischen Markt zu fairen Preisen zu verkaufen.
Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich
darauf verweisen, dass der brutalste Produzent von Armut der Krieg ist. Die Kriege der Ersten Welt gegen die
Dritte Welt werden jetzt schon als Entwicklungshilfe deklariert. Es wird gebombt und dann wird aufgebaut. Das
ist besonders perfide. Hier kann ich Frau WieczorekZeul nur beipflichten, die sich über diese Art der Entwicklungshilfe zu Recht empört hat. Sie wurde von
ängstlichen Kollegen zurückgepfiffen, denn diese hoffen
offenbar immer noch, Bush würde deutsche Unternehmen am Wiederaufbau des Irak beteiligen. Doch so,
meine Damen und Herren, kann Entwicklungshilfe nicht
funktionieren.
Vielen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Schmidt,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen
Sie sich vor, es käme kein Wasser aus Ihrem Wasserhahn
und die nächste Wasserstelle wäre 10 Kilometer weit
weg. Das ist wohl für jeden von uns unvorstellbar, und
erst recht aus der Perspektive einer Frau. Als Mann haben Sie nach traditioneller Arbeitsteilung in vielen Gesellschaften eine Frau, die das allernötigste Wasser beschafft. Als Frau dagegen stehen Sie in der Pflicht, Tag
für Tag vorsorgend für die Familie die dürftige, dennoch
schwere Menge heranzutragen.
Laut Weltgesundheitsorganisation liegt der Mindestbedarf eines Menschen an Wasser bei 20 Litern pro Tag.
Viele Menschen müssen jedoch mit 2 Litern verschmutztem Wasser auskommen. Wir dagegen verbrauchen siebenmal so viel - 140 Liter pro Kopf und Tag.
Das heißt, an jenen Verhältnissen gemessen hätten wir
seit Ende Februar unseren statistischen Jahresmittelwert
bereits verbraucht.
Ein Bewusstsein für diese ungerechte Verteilung führt
nicht zwingend zu Konflikten und Krisen; aber eine latente Gefahr ist dieser Gerechtigkeitsfrage immanent.
Während im Irak die ersten Bomben fielen, trafen auf
dem dritten Weltwasserforum in Kioto mehr als
10 000 Teilnehmer aus 165 Ländern zusammen, um über
Maßnahmen zur Lösung der globalen Wasserprobleme
zu diskutieren. Auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg hat sich die Weltgemeinschaft
ein ehrgeiziges Ziel gesetzt, nämlich den Anteil der
Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser und
zu sanitären Einrichtungen bis 2015 zu halbieren.
Die Weltkommission für Dämme verdient es, dass ihrer verantwortungsvollen Arbeit Beispiele folgen.
Unsere Regierung gehört bei alledem zu den treibenden Kräften. Sie hat den Wassersektor seit Jahren konsequent zu einem Schwerpunkt ausgebaut. Wir sind auf
diesem Gebiet mit rund 350 Millionen Euro jährlich der
größte bilaterale Geber in Europa. Vor allem in Afrika
brauchen die Armen sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen.
Lassen Sie uns im Internationalen Jahr des Süßwassers gemeinsam mit Kofi Annan die Rettungsleine
für das Überleben der Menschen im 21. Jahrhundert auswerfen. Wir wollen und müssen dafür zusätzliche finanzielle Ressourcen erschließen. Ohne privates Engagement können wir die weltweit notwendigen Investitionen
im Wasserbereich nicht finanzieren.
Eine Privatisierung des Wassersektors auf Kosten der
Armen und Schwachen dagegen wird es mit uns nicht
geben.
({0})
Wasser ist ein öffentliches Gut. Regierungen müssen das
Recht auf Wasser gewährleisten. Im Aufbau der dafür
notwendigen Institutionen unterstützen wir unsere Partnerländer.
Wenn es nicht gelingt, den Zugang zu den und die
Nutzung der knappen Wasserressourcen gerecht zu regeln, werden sich die Wasserkrisen von heute zu bedrohlichen Konflikten von morgen verschärfen. Das Gebot
der Stunde lautet, eine neue Friedenspolitik zu verwirklichen, deren Ziel die globale Zukunftssicherung für uns
und die kommenden Generationen ist. Man spricht hier
auch von Nachhaltigkeit.
Damit sind die angeblich weichen Themen der Entwicklungspolitik längst harte Themen der Außen- und
Sicherheitspolitik geworden. Sicherheitsfragen auf das
Militärische zu verengen ist fatal. Entwicklungspolitik
ist mehr als nur ein Nischenthema oder Reparaturbetrieb.
({1})
Meine Damen und Herren von der Opposition, nehmen Sie Entwicklungspolitik endlich als selbstständigen
Bestandteil einer umfassenden Friedenspolitik, einer
globalen Strukturpolitik zur Kenntnis. Wir verfolgen seit
1998 konsequent eine Politik der Krisenprävention und
friedlichen Konfliktbeilegung. Das heißt, strukturelle
Ursachen von Gewalt und Konflikten abbauen, gewaltfreie Konfliktbearbeitung fördern, regionale Kooperationen unterstützen, und das heißt auch, nach gewaltsamen
Auseinandersetzungen partizipatorische Strukturen etablieren.
Ich will Ihnen, meine Damen und Herren, nicht ohne
Stolz einige unserer Initiativen nennen: Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat seit
1999 Sitz und Stimme im Bundessicherheitsrat. Seit dem
Jahr 2000 legt die Bundesregierung jährlich einen Rüstungsexportbericht vor. Unsere Rüstungsexportpolitik
folgt verbindlichen restriktiven Grundsätzen. Mit dem
auf drei Jahre angelegten Projekt der GTZ zur Kleinwaffenkontrolle nimmt Deutschland weltweit eine Vorreiterrolle ein.
({2})
Wir haben das Instrument des Zivilen Friedensdienstes
ins Leben gerufen und werden es in den kommenden
Jahren weiter ausbauen. Wissenschaftliche und institutionelle Friedensforschung wie durch die Gruppe FrieDagmar Schmidt ({3})
densentwicklung hat bei uns ihren begründeten Rückhalt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, weder eine unilaterale Weltordnung noch Präventivkriege lösen die Probleme dieser Welt. Wenn wir die Zukunft unserer Kinder
sichern wollen, müssen wir in globaler Verantwortung
die Armut bekämpfen sowie das multilaterale Krisenmanagement und partizipatorische Dialogfähigkeiten stärken. Das tut unsere Regierung. Wie schön wäre es, wenn
sich Journalisten gerade für diese verantwortungsvolle
Aufgabe einbetten ließen.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Hartwig Fischer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Entwicklungen der vergangenen Monate in
Afghanistan und im Irak haben die Krisenherde und die
Brennpunkte in anderen Teilen der Welt in den Hintergrund gedrängt. Beispielhaft möchte ich hier das Gebiet
der Großen Seen und der Demokratischen Republik
Kongo nennen. Hier fand und findet tagtäglich eine der
schlimmsten menschlichen Tragödien statt, die seit 1998
bis heute weit mehr als 3 Millionen Tote fordert - die
meisten Toten in einem Krieg auf dieser Welt seit dem
Zweiten Weltkrieg. Einige indigene Volksgruppen wie
die Pygmäen stehen unter Umständen sogar vor der Ausrottung.
Wo ist hier die Stimme der Bundesregierung im
Sicherheitsrat? Nach dem Tod von fast 1 Million Menschen 1994 im Ruanda-Konflikt, dem die UNO weitgehend tatenlos zugesehen hat, erleben wir jetzt, dass im
Kongo nach dem Pretoria-I- und dem Pretoria-II-Abkommen und trotz mehrerer UN-Resolutionen kaum
eine Verbesserung der Lage eintritt.
Die freiwillige Entwaffnung und Demobilisierung der
bewaffneten in- und ausländischen Kämpfer im Ostkongo durch die Peace-Keeping-Mission MONUC findet nur schleppend statt. Die Bundesregierung schaut tatenlos zu, wie immer noch bis zu 30 000 Menschen
jeden Monat durch Kriegshandlungen, durch Massaker
und durch sich infolge des Krieges dramatisch verschlechternde Lebensbedingungen zu Tode kommen.
Das Sterben in Afrika, das Sterben im Gebiet der Großen
Seen und im Kongo findet weitestgehend ohne öffentliche Kenntnisnahme, ohne Medien statt, anders als im
Irak. Übrigens: Vor dem Krieg im Irak fand das Sterben
unter Saddam auch weitgehend ohne öffentliche Kenntnisnahme statt.
Allein in den ersten Aprilwochen 2003 sind bei Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen der Volksgruppen der Hema und Lendu mehrere hundert Menschen bei einem Gemetzel in Drodro im Distrikt Ituri
ums Leben gekommen. Die Neue Zürcher Zeitung
vom 6. Mai dieses Jahres schreibt hierzu:
Im Morgengrauen des 3. April hatten Milizionäre
der Lendu-Ethnie den Ort Drodro und vierzehn umliegende Weiler in einer gut koordinierten Aktion
angegriffen. In einer rund dreistündigen Blutorgie
ermordeten sie Hunderte von Zivilisten, viele von
ihnen mit Macheten. Die Opfer gehörten der Volksgruppe der Hema an....
Beim Massaker von Drodro wurden nach einer von
Anwohnern zusammengestellten Namensliste
966 Personen abgeschlachtet. Zwei Tage nach dem
Blutbad traf eine Untersuchungskommission der
Monuc ein und inspizierte unter anderem mehr als
20 frische Massengräber. Später wurden die ersten
Schätzungen auf 300 bis 400 Todesopfer korrigiert,
doch in Wirklichkeit kann niemand genau angeben,
wie viele Hema ermordet worden waren....
Mit dem Helikopter nach Drodro gelangt sind auch
eine Untersuchungskommission der Monuc und
zwei forensische Experten aus Argentinien....
Auf Anweisung der Argentinier machen sich Dorfbewohner daran, das Grab mit Hacken und Schaufeln zu öffnen. Als sie in etwa einem Meter Tiefe
auf verrottende Bananenblätter stossen, übernehmen die Experten das Zepter und legen sorgfältig
einen Teil der Grube frei.... Unter den Bananenblättern und einer dunkel gefärbten Decke kommt als
Erstes ein Arm ans Licht. Mit Plastichandschuhen
hebt einer der Argentinier vorsichtig den Kopf der
Leiche in die Höhe. Es ist eine Frau. In ihrem Nacken klafft ein tiefer Schnitt. Machete, lautet der
einzige Kommentar des Fachmanns. Das makabre
Schauspiel beobachtet auch ein junger Mann - die
Augen voller Tränen... Meine Frau und unsere drei
Kinder liegen hier, sagt er mit erstickter Stimme.
Immer wieder wird von den Verantwortlichen vor Ort
gefordert, Truppen nach Drodro zu schicken, um die
Hema vor den Lendu zu schützen. Bei Abzug der
ugandischen Truppen besteht Todesgefahr. Doch die
MONUC hat weder das Mandat noch die Truppen dazu.
Herr Erler, Sie haben vorhin die Handlungsfähigkeit
der Weltgemeinschaft beschworen. Als Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ist es auch Aufgabe der Bundesregierung, sich dafür einzusetzen, dass
der Zustand der Recht- und Straflosigkeit im Osten des
Kongo wirksam bekämpft wird.
({0})
Besonders in der bereits erwähnten Region Ituri sind
schwerste Menschenrechtsverletzungen wie Massenhinrichtungen, systematische Vergewaltigungen, Kannibalismus, Vertreibungen und Plünderungen an der Tagesordnung. Überlebende Pygmäen berichten, sie seien von
der Rebellenbewegung zum Verspeisen von Angehörigen gezwungen worden. So erklärte der Pygmäe
Amuzati Nzoli, Warlord-Milizen hätten sein Dorf über3508
Hartwig Fischer ({1})
fallen und er habe mit ansehen müssen, wie sein sechsjähriger Neffe von Angreifern verspeist wurde. Kämpfer
rissen dem Kind mit Macheten das Herz aus dem Körper
und aßen es, nachdem sie es über dem Feuer geröstet
hatten. Die Pressesprecherin der UN-Mission im Kongo
bestätigte ebenso wie der Bischof aus Beni-Butembo die
Kannibalismusvorwürfe.
Die Bevölkerung leidet massiv unter den Auswirkungen dieser Kämpfe, die deren ohnehin schon katastrophale Situation weiter verschlechtert. 16 Millionen Kongolesen hungern bzw. leiden an Unter- oder
Mangelernährung. 80 Prozent der Bevölkerung haben
keinen Zugang zu sauberem Wasser. 70 Prozent haben
keinen Zugang zu qualifizierter Gesundheitsversorgung.
Die Aidsrate steigt infolge systematischer Vergewaltigungen und Prostitution. Kinder werden von den Kriegsparteien gewaltsam als Soldaten rekrutiert.
Meine Damen und Herren, das Mandat von MONUC
muss ausgeweitet werden und die Mission muss personell massiv verstärkt werden, damit die UNO nicht wie
in den vergangenen Wochen bei schwersten Menschenrechtsverletzungen und Übergriffen tatenlos zusieht.
({2})
Zwar ziehen sich derzeit ugandische Truppenteile aus
dem Osten der Demokratischen Republik Kongo zurück;
aber durch das entstandene Machtvakuum entsteht die
Gefahr von neuen gewalttätigen Auseinandersetzungen
zwischen konkurrierenden Ethnien. Allein in der letzten
Woche haben deshalb wieder 20 000 Angehörige der
Hema aus Angst vor neuen Übergriffen der mit ihnen befeindeten Lendu die Grenze nach Uganda überquert.
Die Bundesregierung muss sich mit aller Kraft dafür
einsetzen, dass sichergestellt wird, dass das bestehende
Machtvakuum nicht dazu genutzt wird, neue Konfliktherde zu schüren und alte mordend fortzusetzen. Dazu
muss MONUC mit weit reichenden Befugnissen ausgestattet werden.
Ruanda hat zwar seine Truppen auf Druck abgezogen; aber die Entwaffnung der Hutu-Milizen, die eine
Bedrohung für Ruanda darstellen, steht immer noch aus.
Die Regierung in Kinshasa ist zu dieser Entwaffnung
nicht in der Lage. Sie braucht die Unterstützung der
UNO. Die UN müssen weiterhin sicherstellen, dass an
dem Friedensprozess, der noch kommen soll, alle Volksgruppen beteiligt werden. Ohne das Engagement der
nicht staatlichen Zusammenarbeit, zum Beispiel das
vonseiten der deutschen Kirchen, wären in vielen Regionen die Gesundheitsversorgung und das Bildungssystem
längst völlig zusammengebrochen.
An dieser Stelle möchte ich daher im Namen meiner
Fraktion den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
der NGOs und der Kirchen, die im Kongo tätig sind,
unseren großen Dank und unseren großen Respekt für
ihre hervorragende Arbeit aussprechen, die oft nur unter
Gefahr für Leib und Leben erfolgen kann.
({3})
Um insbesondere im Ostkongo tätig sein zu können,
brauchen die NGOs aber Sicherheit, die nur durch die
UN hergestellt werden kann. Nur so wird es für die Zukunft möglich sein, dass die reichhaltigen Rohstoffvorkommen dazu beitragen, die Armut der Bevölkerung zu
lindern und gleichzeitig die Voraussetzungen für eine
positive wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen. Dies
alles ist auch Voraussetzung für den Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Es ist daher auch Aufgabe
der Bundesregierung, Druck auf die UNO auszuüben.
Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun, die
menschliche Tragödie und das unermessliche Leid der
Menschen im Kongo endlich zu beenden. Wir wollen
mit unserem Antrag zur Tragödie im Kongo die Öffentlichkeit sensibilisieren. Wir wollen die Medien aktivieren. Wir wollen, dass die Bundesregierung ihre Möglichkeiten ausschöpft.
({4})
Es soll niemand in Zukunft zu dem Morden und Sterben im Kongo sagen können: Wir haben nichts gesehen,
wir haben nichts gehört, wir haben nichts gewusst und
deshalb nichts getan.
({5})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin
Uschi Eid.
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Kollege Fischer!
Bezüglich der Demokratischen Republik Kongo hat sich
diese Regierung überhaupt nichts vorzuwerfen, das
möchte ich klarstellen.
({0})
Einige Regierungsmitglieder beobachten sehr genau seit
Jahren das, was in dieser Region passiert.
Ich will Ihnen jetzt konkret auf das antworten, was
Sie von uns eingefordert haben. Die Bundesregierung
unterstützt, insbesondere im Rahmen der Europäischen
Union durch den Sonderbeauftragten Ajello und als
nicht ständiges Mitglied des VN-Sicherheitsrates die Bemühungen um einen umfassenden und dauerhaften Frieden in der Demokratischen Republik Kongo und in der
gesamten Region.
Das Auswärtige Amt hat die Mission von Sir Quett
Masire, dem ehemaligen Staatspräsidenten von Botswana, finanziell in großem Maße unterstützt, weil er der
Mediator war, der versuchte, die verfeindeten Gruppen
zusammenzubringen.
Wir unterstützen mit großem Engagement im VN-Sicherheitsrat die Umsetzung der Resolution des Sicherheitsrates zur Region der Großen Seen. Wir unterstützen
eine Anpassung des Mandats für MONUC, um unter anderem die Präsenz von MONUC im Ostkongo zu stärken.
Wir haben in den letzten Jahren 20 Millionen Euro im
Rahmen eines Weltbankprogramms für die Entwaffnung
und die Reintegration von Exkombattanten ausgegeben.
Während wir auf der einen Seite das Regime von
Mobuto isoliert haben, haben wir mit den Menschen vor
Ort - und das bereits unter der CDU/CSU-FDP-Regierung - in Vereinbarung mit der GTZ und der KfW kleine
lokale Programme unterstützt, um die Menschen von der
kommunalen Basis her zu stärken, damit ihr Überleben
gesichert ist.
Wir lassen uns von der CDU in dieser Sache nichts
vorwerfen. Wir haben den Friedensprozess in den letzten
Jahren massiv unterstützt und werden das auch weiterhin
tun. Wir werden an der Seite der Kongolesen, aber auch
der gesamten Region wie auf der Seite der Südafrikaner
stehen, die diesen Prozess hoffentlich bald zu einem
friedlichen Ende führen können.
({1})
Ich weise die Kritik, die Sie hier geäußert haben, wirklich mit aller Schärfe, auch im Namen der Ministerin,
zurück.
({2})
Herr Kollege Fischer, Sie können antworten.
Frau Abgeordnete Eid, ich habe keinen Zweifel an der
Arbeit der NGOs, die Sie gerade angesprochen haben.
Ich habe aber festgestellt, dass die Maßnahmen, die von
der UNO im Pretoria-I-Abkommen vom 30. Juli 2002,
im Pretoria-II-Abkommen vom 17. Dezember 2002 und
im Sun-City-Abkommen vom 1. April 2003, das man sicherlich noch nicht beurteilen kann, weil es erst seit kurzem in Kraft ist, beschlossen wurden, in Bezug auf das
Morden der Hema und Lendu im Ostkongo nichts genützt haben. Deshalb habe ich Sie aufgefordert, Ihre
Kraft im Sicherheitsrat dafür einzusetzen, dass der Auftrag für MONUC geändert wird. Dazu gehört, dass
MONUC auch militärisch eingreifen darf.
Die Erfüllung dieser Aufgabe erwarte ich von Ihnen
im Sicherheitsrat, unter Umständen sollten Sie dafür
auch die neue Achse zu Frankreich und Russland einschalten.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Sascha Raabe, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Der Irakkrieg ist zu Ende, der
11. September 2001 jährt sich bald bereits zum zweiten
Mal und so langsam kehrt wieder Ruhe ein, zumindest
auf den Bildschirmen in unseren Wohnzimmern. Doch
dieser scheinbare Frieden ist trügerisch: Das für uns lautlose Sterben von täglich 24 000 Menschen infolge von
Hunger und Armut geht weiter, Tag für Tag, Stunde für
Stunde, ohne Sendepause.
Schon allein deshalb müssen wir aus humanitären
Gründen all unsere Kraft darauf verwenden, den täglichen Massentod durch Hunger und Armut zu überwinden. Nur dann werden wir dem Terrorismus dauerhaft
den Nährboden entziehen können. Herr Kollege Vaatz,
es ist schon bedenklich, dass Sie aus dem Irakkrieg die
Lehre gezogen haben - so haben Sie es süffisant ausgeführt -, dass sich alle Befürchtungen und Sorgen nicht
bestätigt hätten. So viele Opfer habe es gar nicht gegeben; einen falschen Krieg schnell zu gewinnen, das sei
quasi die Lösung. Wenn Sie das wirklich meinen, haben
Sie nicht verstanden, dass es nicht darum geht, die Menschen zu bekämpfen. Vielmehr können wir nur dann,
wenn wir die Armut bekämpfen und dann auch überwinden, für eine dauerhaft friedliche und gerechte Welt sorgen.
({0})
Allein mit den klassischen Mitteln der Entwicklungspolitik wie der bilateralen Projektförderung wird die Armutsbekämpfung nicht erfolgreich sein. Wir müssen
Entwicklungspolitik in Zeiten der Globalisierung neu
definieren. Heidemarie Wieczorek-Zeul hat dies erkannt
und betont seit 1998 immer wieder die Bedeutung von
Entwicklungspolitik als globaler Strukturpolitik. Ein beeindruckendes Beispiel ist unter anderem die von der
Bundesregierung maßgeblich forcierte Entschuldungskampagne.
Trotz dieser großen Anstrengungen sind wir von einer
gerechten Weltwirtschaftsordnung noch weit entfernt.
Natürlich ist für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung und Armutsbekämpfung auch Good Governance in den Entwicklungsländern notwendig, wie wir
es zu Recht von unseren Partnerländern einfordern. Aber
leisten wir als Industrieländer auch wirklich unseren eigenen Beitrag für eine Good Global Governance?
Das Ziel, den Anteil der Entwicklungshilfe in allen
Staaten auf 0,7 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsproduktes zu steigern, ist zweifellos richtig. Genauso richtig
ist es jedoch, die Entwicklungsländer fair am Welthandel zu beteiligen, damit sie langfristig selbstständig, also
ohne fremde Hilfe ihre Lebensgrundlage erwirtschaften
können.
({1})
Momentan gehen den Entwicklungsländern durch die
Importzölle der Industrieländer doppelt so viele Einnahmen verloren, wie sie durch öffentliche Entwicklungszusammenarbeit erhalten. Die OECD-Staaten geben pro
Tag etwa 1 Milliarde Dollar für Agrarsubventionen aus.
Das ist das Sechsfache dessen, was sie an öffentlicher
Entwicklungshilfe aufbringen. Diese Subventionen drücken die Preise auf dem Weltagrarmarkt erheblich nach
unten. Im ländlichen Raum, wo drei Viertel der Hungernden und Armen der Welt leben, zerstören diese
künstlichen Niedrigpreise die Märkte für Kleinbauern.
Deshalb nehmen die Agrarverhandlungen im Rahmen
der aktuellen Welthandelsrunde für die Armutsbekämpfung eine Schlüsselstellung ein.
Wir haben - darauf ist vom Kollegen Hoppe schon
hingewiesen worden - gemeinsam mit unserem Koalitionspartner einen entsprechenden Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht, der auch von unserer Ministerin sowie unseren Kolleginnen und Kollegen im
Landwirtschaftsausschuss nachdrücklich unterstützt
wird.
Das ist der Unterschied zu Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union. Sie propagieren in
Sonntagsreden oft den Subventionsabbau, aber in Wirklichkeit geben sich bei Ihnen die Lobbyisten der Agrarindustrie die Klinke in die Hand. Sie müssen einmal so
ehrlich sein, sich das einzugestehen, und daran etwas ändern.
({2})
Neben dem Agrarbereich sind auch die so genannten
GATS-Verhandlungen über die Liberalisierung von
Dienstleistungen ein wichtiger Aspekt in der WTORunde. Liberalisierungen im Sinne eines gesunden
Wettbewerbs zur Schaffung effizienter Infrastrukturen
durch private Unternehmen können durchaus Verbesserungen auch für die armen Bevölkerungsschichten in
Entwicklungsländern bringen, insbesondere wenn man
sich die oft nicht vorhandene oder ineffiziente und korrupte staatliche Infrastruktur anschaut. Allerdings können Privatisierungen zum Beispiel bei der Trinkwasserversorgung auch dazu führen, dass zwar die Ober- und
Mittelschicht von einem verbesserten Angebot profitiert,
aber die Ärmsten sich das Wasser nicht mehr leisten
können. Auch die Kollegin Schmidt hat auf diese Problematik hingewiesen.
Deswegen müssen wir sorgfältig prüfen, in welchen
Sektoren und unter welchen Bedingungen Liberalisierungen wirklich etwas zur Armutsbekämpfung beitragen. Dazu sind wissenschaftliche Folgeabschätzungen
notwendig. Das gilt übrigens für die Auswirkungen auf
Entwicklungsländer genauso wie für die Konsequenzen
von Liberalisierung bei uns. Auch die Enquete-Kommission Globalisierung der Weltwirtschaft hat solche Folgeabschätzungen dringend empfohlen. Der Deutsche
Bundestag hat aus diesem Grund vor wenigen Wochen
einen Parlamentsvorbehalt gegenüber dem EU-Angebotskatalog innerhalb der GATS-Verhandlungen eingebracht. Genauso sollten wir den Forderungskatalog der
EU an die Entwicklungsländer nochmals überdenken,
bevor wir Entscheidungen treffen.
({3})
Es ist auch klar: Wenn uns als deutsche Parlamentarier mit all unseren wissenschaftlichen Hilfsdiensten die
Beurteilung der komplizierten WTO-Verhandlungen
schon schwer fällt, so ist dies für Entscheidungsträger
der Entwicklungsländer noch viel schwieriger. Deshalb
ist es richtig, dass die Bundesregierung die Kapazitäten
der Entwicklungsländer weiter stärkt, damit diese ihre
Chancen im Verhandlungsprozess nutzen können.
({4})
Es gibt viele Gründe, sich der Armutsbekämpfung
und der fairen Ausgestaltung der Globalisierung zu widmen. Wir haben hier schon viel über humanitäre und sicherheitspolitische Erwägungen geredet. Für Deutschland als Exportland sind Kaufkraft und Wohlstand in den
Entwicklungsländern wichtig, um zu einem weiteren
Wirtschaftswachstum bei uns beizutragen.
So unterschiedlich uns die Auswirkungen der weltweiten Armut betreffen, so vielfältig müssen die Lösungsansätze sein. Deshalb werden wir Heidemarie
Wieczorek-Zeuls Prinzip einer kohärenten Politik, wonach alle Ressorts in ihren Entscheidungen die Folgen
für die Entwicklungsländer berücksichtigen müssen,
weiterhin zur Leitlinie unserer Entwicklungspolitik machen.
({5})
Herr Dr. Ruck, noch ein Satz zu Ihrer Kritik, die Sie
vorhin geäußert haben. Sie haben uns vorgeworfen, dass
sich bei uns so viele unterschiedliche Ressorts mit Entwicklungspolitik beschäftigen würden. Das ist ein Kompliment für uns und ein Zeichen dafür, dass Sie die Herausforderungen der Globalisierung in ihrer Komplexität
noch nicht verstanden haben.
({6})
Die WTO-Runde im September in Cancun wird ein
wichtiger Prüfstand werden. Noch haben wir die
Chance, dass es tatsächlich eine Entwicklungsrunde
wird. Ich appelliere deshalb an uns alle: Lasst uns in
Cancun mit dem wertvollsten öffentlichen Gut handeln!
Lasst uns mit Gerechtigkeit handeln! Dann werden wir
Erfolg haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Herr Kollege Raabe, ich gratuliere Ihnen recht herzlich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause und
wünsche Ihnen persönlich und politisch alles Gute.
({0})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Entschließungsanträgen der
Fraktion der CDU/CSU. Sie hat beantragt, den Ent-
schließungsantrag auf Drucksache 15/921 zur federfüh-
renden Beratung an den Ausschuss für Menschenrechte
und humanitäre Hilfe und zur Mitberatung an den Aus-
wärtigen Ausschuss sowie an den Ausschuss für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu über-
weisen. Diese Federführung ist jedoch strittig. Die
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
wünschen die Federführung beim Ausschuss für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion der CDU/CSU abstimmen, wonach die Fe-
derführung beim Ausschuss für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe liegen soll. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen der Koalition und der FDP abgelehnt.
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, wo-
nach die Federführung beim Ausschuss für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung liegen soll? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überwei-
sungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalition und
der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenom-
men.
Der Entschließungsantrag ist damit federführend an
den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung und zur Mitberatung an den Auswärtigen
Ausschuss sowie an den Ausschuss für Menschenrechte
und humanitäre Hilfe überwiesen.
Die Entschließungsanträge auf den Drucksachen
15/922 und 15/923 sollen zur federführenden Beratung
an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung sowie zur Mitberatung an den Aus-
wärtigen Ausschuss, an den Ausschuss für Umwelt, Na-
turschutz und Reaktorsicherheit und an den Ausschuss
für Menschenrechte und humanitäre Hilfe überwiesen
werden. Darüber hinaus soll der Entschließungsantrag
auf Drucksache 15/923 zusätzlich an den Haushaltsaus-
schuss, an den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit und
an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung überwiesen werden. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
4 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen,
Hartmut Koschyk, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte
der Opfer im Strafprozess ({1})
- Drucksache 15/814 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur
Änderung des Strafgesetzbuches und anderer
Gesetze - Widerruf der Straf- und Strafrestaussetzung - ({3})
- Drucksache 15/310 ({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({5})
- Drucksache 15/954 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Jerzy Montag
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van
Essen, Rainer Funke, Rainer Brüderle, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Opferrechte stärken und verbessern
- Drucksache 15/936 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Röttgen, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Mit dem Gesetzentwurf, den die CDU/CSUFraktion heute vorlegt, zielen wir auf eine grundlegende
Neubestimmung der Rolle des Verletzten im Strafprozess. Uns geht es darum, dass die Stellung der Opferzeugen, der Zeugen also, die Opfer einer Straftat geworden
sind, vom Beweismittel, das als Objekt behandelt wird,
zu einem eigenständigen Verfahrensbeteiligten, der eigene Rechte hat, aber auch schutzbedürftig ist, aufgewertet wird. Wir wollen also die Aufwertung des Opferzeugen vom Beweismittel zum Verfahrensbeteiligten.
Opferschutz ist nicht nur auf der Ebene der Rhetorik,
sondern auch auf der Ebene des politischen Handelns ein
Kernelement christlich-demokratischer Rechtspolitik.
Praktisch alle Meilensteine im Opferschutz, die es in
den letzten 20 bis 25 Jahren - man kann sogar sagen: in
der deutschen Rechtsgeschichte nach 1945 - gegeben
hat, sind das Ergebnis christdemokratischer und liberaler
Rechtspolitik in den 80er- und 90er-Jahren. Wir haben
Opferschutz praktiziert.
({0})
Es hat mit dem Opferschutzgesetz von 1986 begonnen, durch das insbesondere der Zeugenbeistand eingeführt wurde. Wir sind im Jahre 1994 mit der Einführung
der Regelungen zum Täter-Opfer-Ausgleich fortgefahren und haben 1998 mit dem Zeugenschutzgesetz, durch
das insbesondere die Videovernehmung zum Schutz
kindlicher Zeugen, die Opfer von Gewaltverbrechen,
zum Beispiel von Sexualverbrechen, geworden waren, in
den Strafprozess eingeführt wurde, weitergemacht.
Die Opfersituation hört ja nicht plötzlich auf. Viele
Opfer sind auch nach Abschluss der Tat noch Opfer, da
die psychischen Belastungen fortdauern. Darum handelt
es sich beim Strafprozess immer auch ein wenig um eine
Wiederholung und Verlängerung der Opfersituation,
weshalb die Opfer den Schutz der Rechtsordnung benötigen. Darauf zielen wir mit unserem Gesetzentwurf ab.
({1})
Seitdem Rot-Grün regiert, ist auf dem Gebiet des Opferschutzes praktisch nichts mehr passiert.
({2})
Im Jahre 1999 haben Sie eine kleine Regelung zum Täter-Opfer-Ausgleich eingeführt. Ansonsten herrscht
Fehlanzeige; es ist nichts passiert.
({3})
- Genau so ist es.
Auch in dieser Legislaturperiode haben wir erneut
Initiativen ergriffen. Wir haben uns dagegen gewehrt,
dass bei Rot-Grün nur die Opfer rechtsextremistischer
Gewaltverbrechen eine Entschädigung des Staates erhalten können. Wir sind der Auffassung: Das ist ungerecht.
Man kann die Opfer extremistischer Gewalt nicht unterschiedlich behandeln. Bei uns sollen die Opfer aller extremistischer Gewalttaten eine Entschädigung erhalten.
({4})
Es ist zutiefst ungerecht, nach der politischen Motivation
der Täter zu unterscheiden. Sie haben sich dem verweigert und dies ignoriert.
Wir haben einen Antrag zum Opferentschädigungsgesetz vorgelegt. Im Anschluss daran haben Sie wieder etwas abgeschrieben. Das ist Ihr Markenzeichen in dieser
Legislaturperiode. Sie betreiben eine reaktive Rechtspolitik. Wenn wir einen Gesetzentwurf zum Sexualstrafrecht vorlegen, legen Sie zwei Wochen später eine
schlechte Kopie vor.
({5})
Wenn wir einen Antrag zum Opferentschädigungsgesetz
stellen, dann schreiben Sie auch etwas auf.
({6})
Wir haben in unserer Fraktion in dieser Woche einen Gesetzentwurf zum Opferentschädigungsgesetz beschlossen. Ich bin gespannt, ob Ihren Worten auch Taten folgen
werden, so wie das bei uns der Fall ist.
({7})
Nun komme ich zum Entwurf des 2. Opferschutzgesetzes, den wir heute vorlegen. Er geht zurück auf Überlegungen des Deutschen Juristentages im Jahre 1998.
Die Überlegungen sind also schon einige Jahre alt. Sie
sind im Jahre 2000 in eine Bundesratsinitiative eingeflossen. Über diese Initiative des damals noch sozialdemokratisch geführten Hamburger Senats - Justizsenatorin war Frau Peschel-Gutzeit - wurde im Bundesrat ein
Jahr lang intensiv diskutiert.
({8})
Es hat zahlreiche Änderungen gegeben. Zum Schluss
wurde der gemeinsame Entwurf des Bundesrates mit
großer Mehrheit verabschiedet. Über diesen haben wir
hier im Bundestag debattiert.
Es gab große Ankündigungen von Ihnen. Sie sagten: Wir
machen das, wir führen eine große Reform durch. Seitdem Sie regieren, hat es nichts außer großen Worten und
Rhetorik gegeben. Auf dem Gebiet des Opferschutzes
handeln Sie nicht. Sie tun nichts.
({9})
Ich habe in der heutigen Ausgabe der Süddeutschen
Zeitung das Interview mit Frau Zypries, der Bundesjustizministerin, gelesen. Sie kann heute nicht anwesend
sein und hat sich dafür entschuldigt; sie muss an einem
Treffen des Justizministerrats teilnehmen. Die Überschrift dieses Interviews lautet: Wir wollen die Rechte
der Opfer stärken. Heribert Prantl fragt sie, warum sie
dem Vorschlag der CDU/CSU nicht einfach zustimme.
({10})
Ihre Antwort lautet - ich zitiere -:
Ich würde es begrüßen, wenn sich die Union unseren weiter gehenden Ansätzen nicht verschließt.
Es ist absolut dreist, nichts zu tun und dann unsere Zusammenarbeit einzufordern.
Wo sind denn Ihre weiter gehenden Vorschläge?
({11})
Es liegt nichts auf dem Tisch, kein Gesetzentwurf, noch
nicht einmal ein Antrag. Sie legen nichts vor und fordern
uns auf, uns dem Nichts anzuschließen, während wir einen eigenen Gesetzentwurf vorweisen können. Dieser
Stil der Arroganz und Ignoranz ist nicht in Ordnung. So
kann man in der Rechtspolitik nicht mit anderen umgehen.
({12})
Frau Zypries übernimmt alle unsere Vorstellungen
und außer heißer Luft kommt von ihr nur ein eigener
Vorschlag: Zusätzlich zu dem Gesetzentwurf der CDU/
CSU sollen die Opfer von Straftaten etwa über Haftentlassungen informiert werden. Das ist angeblich einer der
Gründe, warum sie unserem Gesetzentwurf nicht zuDr. Norbert Röttgen
stimmen kann. Herr Staatssekretär, vielleicht können Sie
die Bundesjustizministerin über die geltende Rechtspraxis in gut regierten Bundesländern unterrichten. Ich kann
Ihnen beispielsweise aus dem Bundesland Bayern schildern, dass diese Forderung durch eine Verwaltungsvorschrift präzise umgesetzt wird. Die Justizvollzugsanstalten sind angewiesen, die Opfer über die entsprechende
Haftentlassung zu informieren. Das, was die Bundesjustizministerin fordert, ist in manchen Bundesländern
schon geltende Praxis. Sie kennt sich noch nicht einmal
in dieser Materie aus. Dieser Fehler sollte einer Bundesjustizministerin nicht unterlaufen.
Ich will bei dieser Gelegenheit noch einmal auf das
Interview eingehen. Frau Zypries verteidigt ihren Vorschlag der Anzeigepflicht bei Kindesmissbrauch mit
dem Hinweis, auch dies sei Opferschutz. Es geht um den
Vorschlag, die Anzeigepflicht strafbewehrt zu machen,
wenn Nachbarn eine entsprechende Vermutung haben.
Diejenigen, die von Berufs wegen etwas wissen können
- Sozialtherapeuten, Familientherapeuten, Anwälte und
andere Berufsgeheimnisträger - sind alle von der Strafbarkeit ausgenommen. Aber Frau Zypries will Nachbarn, die einen Verdacht haben und nicht Anzeige erstatten, bestrafen. Diese Anzeigepflicht soll mit den Mitteln
des Strafrechts durchgesetzt werden.
Dieser Vorschlag wurde von allen abgelehnt.
({13})
In der Sachverständigenanhörung haben insbesondere
die von Ihnen benannten Sachverständigen, egal ob sie
aus der Rechtspraxis oder der Rechtswissenschaft kamen, diesen Vorschlag vehement abgelehnt.
({14})
Dieser Vorschlag wird von den Opferverbänden, vom
Kinderschutzbund und den Frauenverbänden abgelehnt.
Keiner will das Instrument des Strafrechts einsetzen, um
Nachbarn zu verunsichern, die vielleicht einen Verdacht
haben. Sie alle fürchten die Folgen. Wenn an der Vermutung, die Sie strafrechtlich kriminalisieren wollen, nichts
dran ist, kann mit einer solchen Anzeige großes Unheil angerichtet werden. Wenn die Vermutung aber der Wahrheit
entspricht und es aufgrund der Verpflichtung sehr früh zu
einer Anzeige kommt, die Beweislage für eine Verurteilung jedoch nicht ausreicht, kann diese Anzeigepflicht,
die die Opfer unvorbereitet trifft, weil sie auf die Zeugenvernehmung nicht vorbereitet sind, für missbrauchte Kinder und Frauen die Hölle bedeuten. Darum erweisen Sie
den Opfern mit dieser Idee einen Bärendienst.
Frau Zypries hat sich total verrannt. Es wäre gut gewesen - Minister haben bekanntlich noch andere Pflichten -, wenn sie an der Sachverständigenanhörung zu diesem Teil teilgenommen hätte. In dem Fall hätte sie
erfahren, dass diese Idee von allen abgelehnt wird. Ich
warne Sie im Interesse der Opfer davor, das Strafrecht an
dieser Stelle mit der Operation Gesichtswahrung der
Bundesjustizministerin zu belasten, die sich in diese Idee
verrannt hat. Nehmen Sie von diesem Vorschlag, der
falsch ist, einfach Abstand. So geht es nicht.
({15})
Es kann nicht sein, dass es in der Rechtspolitik zu einer Kombination aus eigener Inaktivität auf der einen
Seite und dem Missbrauch Ihrer Mehrheit auf der anderen Seite kommt, mit der Sie unsere Vorschläge blockieren und boykottieren. Das würde wirklich zu einer Katastrophe, zu einem Stillstand in der Rechtspolitik führen.
Ihnen selber fällt nichts ein, aber unsere Vorschläge boykottieren Sie, nur weil sie von uns kommen.
Worauf zielt unser Gesetzentwurf ab? Wir wollen die
Rechte des Opfers auf drei Ebenen stärken. Erstens wollen wir den Persönlichkeitsschutz von Zeugen gesetzlich
verankern. Zweitens wollen wir eine aktive Teilnahme
des Opfers am Verfahren durch Wahrnehmung eigener
Rechte ermöglichen. Drittens wollen wir die Durchsetzung materieller Ansprüche, den Ausgleich materieller
Schäden schon im Strafverfahren ermöglichen. Um diese
drei Ziel zu realisieren, haben wir diesen Gesetzentwurf
vorgelegt.
Ich nenne beispielhaft einige Maßnahmen, in denen
sich der Persönlichkeitsschutz von Opfern im Strafverfahren niederschlägt. Es hat mich überrascht und im
Grunde auch entsetzt, dass es folgende Regelung noch
nicht gibt: Wir wollen, dass eine vergewaltigte Frau, eine
Frau, die Opfer eines Sexualverbrechens geworden ist,
das Recht haben soll, dass körperliche Untersuchungen
an ihr von einer Frau, von einer Ärztin vorgenommen
werden, nicht von einem Mann. Das ist nicht geltendes
Recht. Wenn man sich vorstellt, dass eine durch männliche sexuelle Gewalt traumatisierte Frau nicht das Recht
hat, die körperliche Untersuchung durch eine Frau zu
verlangen, kann man nur sagen: Ihre Untätigkeit ist
skandalös.
({16})
Wir waren auf diesem Gebiet aktiv, aber Sie machen seit
fünf Jahren nichts, sondern halten nur Reden. Meine Damen und Herren, handeln Sie endlich!
({17})
- Sie regieren seit fünf Jahren. Sie wären sehr gut, wenn
Sie nur die Hälfte dessen getan hätten, was wir gemacht
haben.
({18})
Wir wollen die Anwendung der Videotechnik ausweiten. Sie soll bei bestimmten Verbrechen, etwa bei Sexualverbrechen, nicht nur bei kindlichen und jugendlichen, sondern bei allen Opfern angewandt werden. Dem
kann man sich nicht verschließen.
Wir wollen das so genannte Mainzer Modell in die
Strafprozessordnung aufnehmen, also die auf Videotechnik gestützte Übertragung der Vernehmung in einen anderen Raum, um für kindliche Zeugen eine Vertrauensatmosphäre zu schaffen, die sie überhaupt erst in die Lage
versetzt, auszusagen, die ihre Aussagefähigkeit herstellt.
Dies ist unser zweiter Vorschlag.
Wir wollen ein Verbot der Herausgabe von Bildund Tonaufzeichnungen gegen den Willen der Opfer.
Solche Aufzeichnungen von Opfern, die möglicherweise
sehr kurz nach der Tat entstehen, zeigen das Opfer in seiner Verletztheit und dürfen darum nicht herausgegeben
werden.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.
Weitere Redner unserer Fraktion werden Einzelheiten
dazu darstellen.
Wir wollen Verfahrensrechte der Opfer begründen.
Wir wollen die schnelle Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen schon im Strafverfahren realisieren.
Dazu haben wir konkrete Vorschläge gemacht.
Ich komme zum Schluss und sage am Ende nur noch
einen Satz. Ich bin sicher, dass die von uns gemachten
Vorschläge, die im Bundesrat auch von sozialdemokratischer Seite Zustimmung gefunden haben, in der Sache
auch bei Ihnen fast durchgängig Zustimmung finden
werden. Darum ist meine letzte Bitte: Missbrauchen Sie
Ihre Mehrheit, die Sie im Bundestag leider haben, nicht
zur Blockade von guten Vorschlägen zum Opferschutz,
nur weil sie von unserer Fraktion kommen. Entscheiden
Sie sich endlich für eine ideenreiche,
({0})
aber insbesondere für eine konstruktive Rechtspolitik.
Nehmen Sie unsere Vorschläge auf. Damit tun wir den
Opfern in diesem Land einen guten Dienst. Sie warten
schon zu lange darauf, dass gehandelt wird.
Herzlichen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Stünker,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Röttgen, wir haben im Deutschen Bundestag nicht leider die Mehrheit, sondern berechtigterweise,
({0})
um insbesondere zu einer sachorientierten Rechtspolitik
zurückzukommen,
({1})
um von der Fülle der so genannten Justizentlastungsgesetze wegzukommen, mit denen Sie in den 80er- und
90er-Jahren die Justiz in Deutschland überzogen haben,
({2})
unter denen die Praxis geächzt hat und weshalb die Praxis am Gesetzgeber verzweifelt ist.
Wir haben 1998 in der Tat angefangen, wieder eine
sachorientierte Rechtspolitik zu betreiben. Herr Kollege
Dr. Röttgen, alles das, was Sie eben vorgetragen haben,
zeigt mir, dass es angelernt war. Entschuldigen Sie,
wenn ich sage: Es war wirklich aufgeblasen. Herr Kollege, mit dem, was Sie erzählt haben, sind Sie der Bedeutung des Strafprozesses im Bereich der ordentlichen
Gerichtsbarkeit nicht einmal im Ansatz gerecht geworden.
({3})
Ich kann nur hoffen, dass möglichst viele in der Praxis
das gehört haben, was Sie erzählt haben. Denn die Qualität der Rechtspolitik ist in Ihren Worten heute Mittag um
12 Uhr hier im Deutschen Bundestag sehr deutlich geworden.
Strafverfahren sollen künftig zügiger abgeschlossen
werden können. Sie sollen zugleich die Bedürfnisse der
Kriminalitätsopfer deutlicher als bisher berücksichtigen.
Ziel ist es, die Verfahren ohne Einbußen an Rechtsstaatlichkeit bei der Wahrheitsfindung auf die jeweils entscheidenden Fragen zu konzentrieren.
Den Interessen der Opfer soll durch eine verbesserte
Information über den Ablauf des Strafverfahrens entsprochen werden. Vermehrte Verwertungsmöglichkeiten
von früheren Beweiserhebungen werden den Opfern
oftmals quälende Mehrfachvernehmungen ersparen.
Schnellere Verfahrensbeendigung und damit früherer
Rechtsfrieden lassen es zu, dass Opfer von Straftaten das
erlebte - oft traumatisierende - Geschehen wirklich verarbeiten können.
Durch stärkere Nutzung von Gesprächen der Verfahrensbeteiligten bereits in einem frühen Stadium kann
häufiger als bisher ein Täter-Opfer-Ausgleich dem Opfer
die Möglichkeit geben, den Täter mit den materiellen
und immateriellen Folgen der Tat zu konfrontieren.
({4})
Durch Begrenzung des Prozessstoffes im Zwischenverfahren kann die Ladung von entbehrlichen Zeugen
unterbleiben. Dies erspart insbesondere den Opfern von
Straftaten die psychische Belastung, die häufig bereits
durch die Ladung ausgelöst wird, und gewährleistet dadurch effizienten Opferschutz.
Die Opferinteressen werden auch durch die Beteiligung der zugelassenen Nebenklage in einem frühen Stadium des Verfahrens gewahrt.
Die Einführung eines strafgerichtlichen Wiedergutmachungsvergleichs wird eine endgültige einvernehmliche Einigung über den Schadensausgleich noch in der
Hauptverhandlung ermöglichen.
Diese Maßnahmen befördern insgesamt das berechtigte Interesse des Opfers, Wiedergutmachung und Genugtuung zu erfahren. Ergänzend werden die weiteren
Möglichkeiten zur Verbesserung der Geltendmachung
zivilrechtlicher Ansprüche im nahen zeitlichen Zusammenhang mit dem Ermittlungs- und Strafverfahren zu einem besseren Nachtatschutz der Opfer von Straftaten
führen.
({5})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was ich Ihnen
eben in komprimierten Worten vorgetragen habe, ist der
Punkt 1 des Eckpunktepapiers, das die Koalitionsfraktionen im Sommer des Jahres 2001 hier vorgelegt haben,
({6})
Darüber ist auf dem Deutschen Juristentag diskutiert
worden ist und darüber wird seitdem in der Fachpraxis
sehr detailliert diskutiert - eine Entwicklung, die offensichtlich an Ihnen vorbeigegangen ist.
Wenn Sie sich die Eckpunkte, die ich Ihnen eben vorgetragen habe, ansehen, dann werden Sie feststellen,
dass die drei Zielrichtungen Ihres Gesetzentwurfs, die
Sie, Herr Kollege Röttgen, vorgetragen haben, darin enthalten sind. Wir widersprechen uns da also auch nicht im
Ansatz.
({7})
Deshalb darf ich zu Ihrem Gesetzentwurf vom
8. April dieses Jahres sagen: Willkommen im Klub! Wir
freuen uns, dass Sie zukünftig mit dabei sind. Auch Sie
haben jetzt endlich die Notwendigkeit der verstärkten
Implementierung des Opferschutzes im Strafprozess erkannt. Nachdem Sie jahrelang immer nur mit Verschärfungen im Bereich des Strafrechtes aufgetreten sind, begreifen Sie jetzt langsam auch, dass der Opferschutz in
der Strafprozessordnung eine stärkere Bedeutung bekommen muss.
({8})
Ich darf hinzufügen, dass der Entwurf, den Sie vorgelegt und so vehement erläutert haben, nicht einmal von
Ihnen stammt. Sie selber haben es zwischen den Zeilen
zugegeben. Vielmehr hat Hamburg vor einiger Zeit einen
entsprechenden Antrag in den Bundesrat eingebracht. Er
ist dann als Gesetzentwurf des Bundesrates verabschiedet und dem Bundestag auf Drucksache 14/4661 zugeleitet worden. Jetzt haben Sie ihn abgeschrieben und als
eigenen Entwurf eingebracht. Ein Urheberrecht geltend
machen zu wollen wäre in der Tat sehr vermessen, Herr
Röttgen. Daher war Ihr Auftritt wirklich unsäglich.
({9})
Alles, was Sie vorgetragen haben, ist in der Debatte
nichts Neues. Darüber findet die rechtspolitische Diskussion seit zwei Jahren statt.
({10})
- Hören Sie einen Augenblick geduldig zu! Ich komme
jetzt zu Ihrer Kritik.
({11})
Sie als Opposition fragen zu Recht - das würde auch ich
an Ihrer Stelle so machen -: Warum habt ihr euer Eckpunktepapier in diesen zwei Jahren nicht umgesetzt?
Warum ist noch nichts im Bundesgesetzblatt? Wo ist
euer Gesetzentwurf?
({12})
Wer ein bisschen vom Strafprozess versteht und wer
hören will, für den ist es relativ einfach.
({13})
Die Strafprozessordnung, die historisch betrachtet in ihrem Kerngehalt als Magna Charta des Beschuldigten
konzipiert ist, stellt ein zusammenhängendes, verzweigtes Normengeflecht dar, in dem bei der Verfolgung des
staatlichen Strafanspruches im Vor-, Zwischen- und
Hauptverfahren alles sehr kooperativ und zusammenführend geregelt ist. Sie müssen bei jeder einzelnen Neuregelung, die Sie vornehmen wollen, die Gesamtkonzeption beachten und dürfen sie nicht aus dem Auge lassen.
Alles hängt mit allem zusammen und daher hat sich unser Eckpunktepapier nicht in dem einen Punkt erschöpft,
sondern wir haben zwölf Punkte vorgelegt, wie wir uns
ein modernes, reformiertes Strafprozessrecht für die
Zukunft vorstellen.
Dazu gehört nicht nur der Opferschutz, obwohl er bei
uns der Eckpunkt eins gewesen ist, sondern dazu gehören auch die Stärkung der Rechte der Verteidigung, die
Stärkung der Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren, die Förderung konsensualer Elemente im Ermittlungsverfahren, die Einführung eines Anhörungstermins
im Zwischenverfahren, die Eingangsstellungnahme der
Verteidigung bereits in der Hauptverhandlung, die verstärkte Verwertbarkeit von im Ermittlungsverfahren erhobenen Beweisen, eine transparentere Hauptverhandlung mit Normierung von Verständigungselementen, der
vermehrte Einsatz technischer Mittel, die Optimierung
der Rechtsmittel von Berufung und Revision und eine
Reihe von Einzelvorschlägen aus der Praxis, die hier
noch hinzukommen.
In der Tat: Unser Eckpunktepapier war und ist sehr
anspruchsvoll. Das entspricht aber auch der skizzierten
Aufgabenstellung; denn eine Strafprozessordnung können Sie nicht stückweise ändern, sonst passt nachher
nichts mehr zusammen. Das ist genau der Punkt.
({14})
Ich darf Ihnen daher heute sagen - nun mache ich Ihnen ein Angebot und dann können wir vielleicht wieder
zur sachlichen Arbeit zusammenkommen -: Wir haben
mit der Umsetzung dieses Eckpunktepapiers in einen
Referentenentwurf im Jahr 2001 begonnen und wir
werden Ihnen noch im Herbst dieses Jahres eine umfassende Novellierung der Strafprozessordnung, wie ich sie
eben skizziert habe, vorlegen.
({15})
- Sie hören nicht zu, darum begreifen Sie nichts. Wenn
Sie mir zuhören würden, könnten Sie mir vielleicht folgen und würden begreifen, was ich Ihnen zu erklären
versuche. Sie als Zivilrechtler scheinen nicht begreifen
zu können, wenn ich Ihnen sage, dass man die Vorschriften nicht stückweise ändern kann, sondern ein Gesamtkonzept haben muss.
({16})
Wir werden Ihnen also im Herbst dieses Jahres hierzu
einen Entwurf vorlegen. Was wir nicht wollen, das sind
Teillösungen im Fünften Buch der Strafprozessordnung,
wie sie jetzt von Ihnen vorgelegt worden sind.
({17})
Teillösungen geben den Menschen im Ergebnis Steine
statt Brot. Das ist blinder Aktionismus, Rechtspolitik,
die nicht durchdacht ist und nur tagespolitisch opportun
erscheint, Herr Kollege Röttgen. Das ist Ihre Rechtspolitik seit 1998 gewesen. Mit diesem Entwurf setzen Sie
diese Politik fort.
({18})
Ich bin sicher, dass wir, wenn wir diesen Weg gemeinsam gehen - in der Sache sind wir ziemlich nahe
beieinander -, sehr zeitnah in dieser Legislaturperiode
eine moderne Strafprozessordnung mit der besonderen
Betonung des Opferschutzes im Bundesgesetzblatt stehen haben werden und ein modernes Strafverfahrensrecht haben werden, das den Sicherheitsbedürfnissen der
Allgemeinheit, den Anforderungen der Praxis, den
Rechten der Beschuldigten und den Rechten und Ansprüchen der Opfer jeweils gleichermaßen gerecht wird;
ich betone: gleichermaßen gerecht wird.
Ich fordere Sie auf: Lassen Sie uns diese große Aufgabe gemeinsam lösen. Sie ist es wert, dass sie gemeinsam gelöst wird. Sie ist es aber nicht wert, opportunistisch zur Tagespolitik gemacht zu werden, weil Ihnen
nichts anderes mehr einfällt, um die Bundesjustizministerin treiben zu können. Denn Ihre Ausführungen zum
sexuellen Missbrauch von Kindern und zu den Anzeigepflichten, die normiert werden sollen, zeigen nur eines,
({19})
was bedenklich und bedauerlich ist: Sie instrumentalisieren Rechtspolitik zur Tagespolitik, Herr Kollege
Röttgen, und damit springen Sie viel zu kurz. Damit
werden Sie im Ergebnis den Menschen in diesem Lande
und dem allgemeinen Wohl nichts Gutes tun.
Schönen Dank.
({20})
Der nächste Redner ist der Kollege Jörg van Essen,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bedauere es außerordentlich, dass der Kollege
Stünker in dieser Debatte nicht den Ton gefunden hat,
den das Thema meiner Meinung nach verdient hat.
({0})
Mit kleinlichen Vorwürfen kommen wir und vor allen
Dingen die Opfer von Verbrechen nicht weiter.
Ich denke, unsere Verpflichtung bzw. unser gemeinsames Anliegen in der heutigen Debatte zum Thema Opferschutz - ich freue mich sehr über diese Debatte, die
wir erstmals in der Kernzeit des Bundestages, also an
prominenter Stelle, führen - sollte darin bestehen, Verbesserungen zu erzielen, eine Bestandsaufnahme vorzunehmen und herauszufinden, an welcher Stelle Ergänzungen notwendig sind. Darin sehe ich auch den Sinn
meiner Bemühungen als Redner der FDP in dieser Debatte am heutigen Vormittag.
Ich möchte meine Rede in drei Teile aufteilen. Der
erste Teil soll sich mit Maßnahmen befassen, die keine
gesetzlichen Änderungen erfordern, die aber nach meiner Auffassung den Opferschutz ein großes Stück voranbringen könnten.
In Baden-Württemberg ist auf Vorschlag einer Kommission eine Einrichtung geschaffen worden, die sich als
außerordentlich hilfreich erwiesen hat. Dort werden Referendare - junge Juristen, die sich in der Ausbildung
befinden - darum gebeten, Zeugen, insbesondere Opferzeugen, vor der Gerichtsverhandlung zu betreuen, sie auf
die Verhandlung vorzubereiten und ihnen diese zu erklären. Das hat einen doppelten Vorteil: Auf der einen Seite
fühlen sich die Zeugen ernst genommen und auf der anderen Seite lernen junge Juristen, welche Folgen Verbrechen für die Opfer haben. Das prägt sie in ihrem weiteren Werdegang. Wir Juristen - ich bin von Beruf
Oberstaatsanwalt - sind nämlich in der Regel zu sehr auf
die Täter fixiert. Der Richter muss die Schuld feststellen;
wir Staatsanwälte müssen die Täter anklagen und der
Verteidiger wird dafür bezahlt, dass er ihre Rechte wahrnimmt. Insofern übersehen wir sehr häufig die Opfer.
Ich begrüße es, dass das Modell in Baden-Württemberg ermöglicht, dass junge Juristen auch die Opferperspektive kennen lernen.
({1})
Ich werbe dafür, dieses Modell bundesweit umzusetzen.
Ich glaube, dass wir damit einen großen Schritt vorankommen würden.
Auch ein weiterer Schritt zugunsten der Opfer erfordert kein gesetzgeberisches Handeln. Ein Blick in die
Zeitungen zeigt, dass Journalisten in aller Regel sehr intensiv über das Vorleben von Tätern berichten. Das kann
auch durchaus interessant sein, beispielsweise weil darin
einer der Gründe für die Tat liegen kann. Ich wünsche
mir aber auch, dass genauso intensiv über die Folgen einer Tat für das Opfer berichtet wird. Denn dadurch wird
auch deutlich, dass eine Tat in aller Regel nicht damit
endet, dass beispielsweise eine Geldbörse gestohlen oder
jemand zusammengeschlagen worden ist, sondern dass
die Wirkungen sehr viel länger anhalten. Die Taten haben häufig erhebliche Auswirkungen auf die Opfer. Ich
denke, dass eine intensivere Berichterstattung über die
Folgen einer Tat für die Opfer dazu beitragen würde,
dass die Opfer in der Gesellschaft ernster genommen
werden.
Der zweite Teil meiner Ausführungen soll sich mit
Maßnahmen befassen, die wir im Bundestag beschlossen
haben und mit deren Umsetzung ich nicht zufrieden bin.
Der Kollege Röttgen hat mit Recht darauf hingewiesen,
dass in der Wahlperiode 1994 bis 1998 mit der Einführung des Opferanwalts - um nur dieses Beispiel zu nennen - erhebliche Fortschritte im Opferschutz erzielt worden sind. Ich danke an dieser Stelle dem ehemaligen
Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig, der inzwischen aus dem Bundestag ausgeschieden ist. Er hat wesentlich dazu beigetragen, diese Verbesserungen zu erreichen.
Wir haben es ermöglicht, dass zum Beispiel Vernehmungen aus einem Nebenraum übertragen werden
können, was insbesondere vergewaltigten Frauen hilft.
Ich habe es als Staatsanwalt häufig miterlebt, wie
schwierig es für vergewaltigte Frauen ist, in großer
räumlicher Nähe zum Täter zu sitzen, wenn sie als Zeugin vernommen werden. Deshalb haben wir diese Möglichkeit geschaffen. Ich ärgere mich darüber, dass in der
Praxis davon so wenig Gebrauch gemacht wird. Ein Signal in der heutigen Debatte muss sicherlich darin bestehen, die Erwartung des Bundestags zu bekräftigen, dass
von solchen bereits geschaffenen Möglichkeiten stärker
Gebrauch gemacht wird.
({2})
Das Gleiche gilt im Übrigen für die Einführung von
Aufzeichnungen in die Hauptverhandlung. Auch das
führt dazu, dass Belastungen insbesondere für kindliche
Opfer erheblich reduziert werden können. Ich erwarte
von meinen Kollegen in der Justiz, dass sie in diesem
Bereich mehr Feingefühl aufbringen und viel stärker als
bisher davon Gebrauch machen. In vielen Justizverwaltungen sind nämlich die entsprechenden Einrichtungen
dafür schon bereitgestellt worden. Ich weiß das aus meinem eigenen Bundesland.
Im letzten Teil meiner Ausführungen möchte ich mich
damit befassen, was wir als FDP vorschlagen. Das erste
Thema muss die Entschädigung von Terroropfern sein.
Ich habe für meine Fraktion unmittelbar nach dem Anschlag in Djerba im Bundestag eine Regelung beantragt,
die es ermöglicht, dass deutsche Terroropfer im Ausland
genauso behandelt werden wie Opfer im Inland. Das ist
damals von der Koalition leider abgelehnt worden. Wir
haben diesen Antrag nach dem Anschlag in Bali wieder
aufgegriffen und unmittelbar nach der Bundestagswahl
wieder in den Deutschen Bundestag eingebracht. Erst jetzt
bewegt sich die Koalition ganz vorsichtig. Ich freue mich,
dass die beiden Oppositionsfraktionen in dieser Frage einer Meinung sind. Wir brauchen eine gesetzliche Regelung, die die Opfer von Terror im Ausland nicht schlechter stellt. Ich hoffe, dass eine solche Regelung nicht zu
spät kommt. Wir alle haben im Moment die Situation in
Algerien vor Augen. Ich denke an unsere Landsleute, die
dort verschleppt worden sind. Das macht die Größe der
Aufgabe deutlich, für entsprechende gesetzliche Regelungen zu sorgen, und zeigt auch, welch große Verantwortung wir in dieser Frage haben.
Ein anderer Bereich, der für uns außerordentlich
wichtig ist, ist das Adhäsionsverfahren, das schon vom
Kollegen Röttgen angesprochen worden ist. Ich weiß,
dass viele meiner Kollegen in der Justiz das nicht mögen. Ich möchte denjenigen, die keine Juristen sind, das
Verfahren erklären. Im Strafverfahren wird über die
Schuld des Täters entschieden und dann eine Strafe festgesetzt. In aller Regel sind durch die Straftat auch Schäden verursacht worden. Im Augenblick muss aber in
Deutschland über Schadensersatzansprüche in einem
weiteren Verfahren, in einem Zivilverfahren entschieden
werden mit dem Ergebnis, dass das Opfer noch ein zweites Mal angehört werden muss und dass ihm dadurch das
ganze Geschehen wieder präsent wird. Deshalb müssen
wir dafür sorgen, dass in Deutschland das zur Selbstverständlichkeit wird, was in vielen anderen Ländern, beispielsweise in Frankreich, bereits eine lange Tradition
hat, dass nämlich im Strafverfahren gleichzeitig über
Schadensersatzansprüche entschieden wird. Ich hoffe,
dass wir in diesem Punkt ein Stück vorankommen.
({3})
Ein weiterer Punkt, der mir persönlich außerordentlich wichtig ist, ist die Stärkung der Opferrechte im
Jugendstrafverfahren. Da das Jugendverfahren pädagogisch ausgerichtet ist, ist es für mich überhaupt nicht
einsichtig, warum eine Beteiligung des Opfers pädagogisch nachteilig sein soll. Ich halte es für richtig, dass
das Opfer Mitgestaltungsmöglichkeiten hat, weil dem
betreffenden Jugendlichen auf diese Weise klar wird,
welche Wirkung seine Tat gehabt hat. Wir sollten deshalb in dieser Frage offener als in der Vergangenheit sein
und diese Möglichkeit zusätzlich eröffnen.
Der letzte Punkt ist mir auch deshalb wichtig, weil ich
als Oberstaatsanwalt in der Praxis entsprechende Erfahrungen gemacht habe. Wer mitbekommen hat, welche
Wirkung beispielsweise die Tötung eines Kindes auf die
betroffene Familie hat, der weiß, dass es in solchen Fällen beispielsweise die dringende Notwendigkeit einer
psychologischen Betreuung gibt. Eine solche Betreuung hat der Staat bisher nicht finanziert. Wir wollen,
dass in Zukunft auch die Kosten einer psychologischen
Betreuung erstattet werden. Ich glaube, dass das ein richtiger und notwendiger Schritt ist.
Ich freue mich - damit schließe ich -, dass der Opferschutz wieder ein Thema ist. Der Kollege Stünker hat
vorhin gesagt, die Strafprozessordnung sei die Magna
Charta des Beschuldigten. Ich hoffe, dass sie auch die
Magna Charta der Opfer wird.
Herzlichen Dank.
({4})
Der nächste Redner ist der Kollege Jerzy Montag,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute den von der CDU/CSU eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte der Opfer
im Strafprozess. Dieser Titel klingt gut.
({0})
Es erscheint schwer vorstellbar, dass irgendjemand in
diesem Hohen Hause aus Prinzip gegen eine Stärkung
der Rechte der Opfer im Strafverfahren ist.
({1})
Opferschutz kann sich aber nicht auf das Strafverfahren
beschränken, sondern muss viel früher anfangen.
Wir haben in unserer bisherigen Regierungszeit unser
Augenmerk darauf gerichtet, Menschen zu helfen, gar
nicht erst Opfer von Straftaten zu werden, sich gegen
Straftaten selbst und mithilfe des Staates zur Wehr zu
setzen und mit zivilen Mitteln des Rechts einzugreifen.
Aus einer ganzen Reihe von Maßnahmen will ich an dieser Stelle folgende erwähnen: Das Gewaltschutzgesetz
hilft Frauen gegen häusliche Gewalt. Das Kinderrechteverbesserungsgesetz hilft Kindern. Wir setzen die Aktionspläne der Bundesregierung zur Bekämpfung von
Gewalt gegen Frauen und zum Schutz von Kindern und
Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung um.
Das von uns gegründete Deutsche Forum für Kriminalprävention leistet wichtige Beiträge zur Entwicklung
langfristiger Präventionsstrategien.
Der Opferschutz im Strafverfahren und vor allem
seine Stärkung ist zweifelsohne auch ein wichtiges
Thema. Er ist durch das Opferschutzgesetz von 1986
und das Zeugenschutzgesetz von 1998 - Sie haben
diese bereits erwähnt, Herr Röttgen - in der Strafprozessordnung verankert. Das bedeutet aber nicht, dass wir
uns über weitere notwendige Verbesserungen keine Gedanken machen.
({2})
Aber Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
müssen sich an diesen beiden Gesetzen, die in Ihrer Regierungszeit beschlossen wurden, und an Ihren früheren
Aussagen zum Opferschutz im Strafprozess messen lassen.
In der Einleitung des Gesetzentwurfs, über den wir
heute beraten, steht - das haben auch Sie angeführt, Herr
Röttgen -, er sei eine grundlegende Neubestimmung
der Rolle des Verletzten im Strafprozess. 1997 aber, bei
der letzten Regelung des Opferschutzes, haben Sie Folgendes geschrieben:
Den besonderen Bedürfnissen schutzwürdiger Zeugen bei Vernehmungen im Strafverfahren kann auf
der Grundlage des geltenden Rechts in weitem Umfang Rechnung getragen werden.
({3})
Was wollen Sie denn jetzt? Halten Sie eine grundlegende
Neubestimmung für notwendig oder kann im Wesentlichen alles beim Alten bleiben? Das waren doch 1997
Ihre Überlegungen.
({4})
Diesen Widerspruch können wir auflösen, indem wir
uns zwei Fragen widmen. Die erste ist: Woher kommt
Ihr Gesetzentwurf? Er kommt eigentlich gar nicht von
Ihnen.
({5})
- Nein! Im Bundestagsprotokoll vom 21. Juni 2001 ist
eine Rede der damaligen hamburgischen Justizsenatorin
Peschel-Gutzeit zu lesen. Legen Sie bitte Ihren Gesetzentwurf als Blaupause auf das Original dieser Rede!
Herr Röttgen, Sie haben alles Wort für Wort abgekupfert!
({6})
In der allgemeinen Begründung steht kein einziger eigenständiger Satz von Ihnen; alles ist wortwörtlich abgeschrieben!
({7})
Es gibt noch eine Erklärung für Ihren Sinneswandel.
Es könnte sein, dass Sie glauben, Sie hätten in Ihrer Regierungszeit doch viel zu wenig für Opfer getan, weswegen Sie jetzt aus der Opposition heraus nachlegen wollen. Wenn ich mir dieses Gesetz anschaue, stelle ich aber
fest: Sie haben etwas völlig anderes im Sinn. Unter dem
Vorwand des Opferschutzes wollen Sie Verteidigerund Verteidigungsrechte so beschneiden, dass die fragile Balance der Rechte im Strafprozess - Herr Stünker
hat das angesprochen - völlig zerstört wird.
({8})
Ich will Ihnen dafür Belege liefern, die in Ihrem Gesetzentwurf stehen.
Erstens. Durch die Änderung des § 58 a StPO wollen
Sie das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers in Aktenteile aushebeln, die als Ton- und Bildaufnahmen von
Zeugenaussagen vorliegen. Was haben Sie 1997 zu diesem Vorschlag selbst gesagt? Sie haben gesagt, dass Sie
darauf verzichten,
weil dies die Rechte und Befugnisse des Verteidigers unzumutbar beeinträchtigt.
({9})
Der Verteidiger des Beschuldigten ist in der Regel
auf Kopien der Videobänder angewiesen.
Das sind Ihre Worte, meine Damen und Herren von der
Opposition.
({10})
- Da habe ich Sie zitiert.
Zweiter Punkt. Mit der Änderung des § 247 a StPO
wollen Sie das so genannte Mainzer Modell der Beweisaufnahme als Regel in die Strafprozessordnung
einführen, und zwar nicht in der Form, wie das jetzt der
Fall ist und wie ich das auch begrüße. In geeigneten Sonderfällen ist das Gericht vollständig mit allen Verfahrensbeteiligten im Gerichtssaal und der Zeuge oder die
Zeugin wird aus einem anderen Saal heraus vernommen.
Nach Ihrem Vorschlag jedoch soll der Vorsitzende allein
mit dem Zeugen irgendwo sitzen. Die Verfahrensbeteiligten werden zu Statisten. Sie sind nicht mehr aktiv Beteiligte an einem Prozess, sondern sie erleben eine Liveshow über Video. Das ist eine Perversion des
Strafprozesses.
({11})
Deswegen haben Sie, Herr Röttgen, das 1997 mit folgenden Worten abgelehnt - Zitat -: Eine solche Regelung
würde schwierigste strafprozessuale Fragen aufwerfen.
({12})
Das tut sie tatsächlich. Ich könnte das im Einzelnen aufführen. Dazu fehlt aber die Zeit.
Drittens. Mit der Änderung des § 405 StPO wollen Sie
die Strafgerichte zwingen - Sie wollen sie zwingen! -, in
allen Fällen des versuchten Mordes, des versuchten Totschlags, der Vergewaltigung und - hören Sie zu! - in allen Fällen der Körperverletzung, also im absoluten Massengeschäft des Amtsgerichts, die Adhäsion
durchzuführen, und zwar auch dann, wenn das Gericht
nach sorgfältiger Prüfung in dem konkreten Strafprozess
eine Adhäsion für ungeeignet hält. Ich wünsche Ihnen
viel Spaß bei dem Gespräch mit den Rechtspraktikern
über diesen Vorschlag!
({13})
Viertens. Mit der Änderung des § 241 a StPO wollen
Sie dem Staatsanwalt und dem Verteidiger bezogen auf
den Zeugen jegliches Fragerecht - jegliches Fragerecht! abschneiden, und zwar in allen Fällen des sexuellen
Missbrauchs Erwachsener, in allen Fällen der Vergewaltigung, des Menschenhandels, der Aussetzung, der Misshandlung und - hören Sie zu! - in allen Fällen der Körperverletzung. In all diesen Fällen soll unabhängig von
der Fallgestaltung nur noch der Vorsitzende Fragen an
den Zeugen stellen dürfen. Es ist nicht übertrieben, dies
als eine Amputation eines zentralen Rechts der Verteidigung in solchen Prozessen zu bezeichnen.
({14})
Bezeichnend, Herr Röttgen, ist, dass Sie nur noch im
Fall des § 181 a StGB dem Staatsanwalt und dem Verteidiger ein eigenes Fragerecht zugestehen wollen. In dem
Fall handelt es sich bei den Opfern ja nur um Prostituierte, in Ihren Augen wohl keine schutzwürdigen Opfer.
Zuhälter aber sollen bei Ihnen ein höheres Maß an Verteidigung als andere Angeklagte bekommen.
({15})
Herr Röttgen, Opferschutz wird von uns so gemacht
werden, wie der Kollege Stünker es skizziert hat. Diesen
Gesetzentwurf werden wir mit Ihnen sicherlich nicht
weiterverfolgen.
Danke schön.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Michaela Noll, CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Täglich hören oder lesen wir von Pädophilie, Kinderpornographie und Sexualstraftaten. Wir reagieren erschüttert, vor allem wenn Frauen und Kinder die Opfer sind.
Unser Mitleid gehört allein den Opfern oder Hinterbliebenen. Ihnen, Herr Stünker, empfehle ich, einmal mit
Opfern zu reden. Dann müssten Sie wissen, dass endlich
gehandelt werden muss.
({0})
- Jetzt habe ich das Rederecht.
Mit dem hier zu debattierenden Gesetzentwurf werden die Rechte der Opfer im Strafprozess gestärkt. Warum eine Stärkung der Rechte der Opfer? Weil Mitleid
für die Opfer nur so lange vorhält, bis der Täter oder die
Täterin vor Gericht steht. Dann fordert unsere humane
Gesellschaft, dem Täter Gerechtigkeit widerfahren zu
lassen. Ist der Täter gefasst, rückt er ins Blickfeld der
Öffentlichkeit. Die Ausrichtung aller Interessen ist auf
den Täter gerichtet: seine Persönlichkeit, seine Verantwortlichkeit, seine rechtliche Stellung. Die schreckliche
Kindheit, die Schulprobleme, die soziale Inkompetenz
werden berücksichtigt, die Schuldfähigkeit wird geprüft,
Therapievorschläge werden unterbreitet. Dies hat zu einer starken Täterorientierung geführt. Da muss man
sich natürlich die Frage stellen: Welche Rolle spielt das
Opfer? Ich meine: eine zu geringe. Zwar hat sich die Position des Opfers im Strafprozess verbessert, dennoch
gibt es bislang keinen umfassenden Schutz von Opferzeugen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn wir
verlangen, dass sich die Bevölkerung im Interesse einer
Bekämpfung der Kriminalität aktiver als bisher einsetzt,
dann müssen die Tatopfer auch die Gewissheit haben,
dass sie im Strafverfahren keine Nachteile und keine entwürdigende Behandlung erfahren. Nicht nur der Täter
hat einen Anspruch auf ein faires Verfahren. Das gilt
im besonderen Maße auch für die Opfer. Davon sind wir
weit entfernt. Viele Opfer fühlen sich im Verfahren erneut als Opfer.
({1})
Fakt ist: 91 Prozent aller Straftaten werden von Bürgern angezeigt und nicht von den Ermittlungsbehörden
entdeckt. Von diesen 91 Prozent sind wiederum
71 Prozent Straftaten, die von den Opfern angezeigt werden. Was heißt das? Die Strafrechtspflege ist nur dann
funktionstüchtig, wenn die Opfer anzeige- und aussagebereit sind. Wenn wir diese Bereitschaft fördern wollen,
dann muss das erste Opferschutzgesetz in vielfacher
Hinsicht neu geregelt werden.
({2})
Wenn Sie von der Regierungskoalition den Opferschutz
ernst nehmen, dann müssen Sie in der weiteren Diskussion - ich nenne nur das Stichwort nachträgliche Sicherungsverwahrung - Farbe bekennen und klar Ja oder
Nein sagen. Jein geht da nicht.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, kein Gesetz ändert
von sich aus die Situation von Opferzeugen. Ziel dieses Gesetzentwurfes ist es unter anderem, die Situation
der kindlichen Zeugen in der Hauptverhandlung durch
Einführung des Mainzer Modells zu verbessern. Zur Erinnerung und damit das Publikum diesem Vortrag auch
folgen kann: Bereits Mitte der 90er-Jahre wurde in dem
so genannten Wormser Missbrauchsprozess Videotechnologie zum Schutz der kindlichen Zeugen eingesetzt.
Zur Vernehmung begab sich der Richter in einen Extraraum, sie wurde aber per Video in den Sitzungssaal übertragen. Dieses Verfahren wurde dann als Mainzer Modell bekannt.
Der Gesetzgeber hat das Mainzer Modell in Ermittlungsverfahren in § 168 e StPO bereits zugelassen. Opferschutz für Kinder muss heißen: Orientierung am
Wohl des Kindes. Die Ausweitung des Mainzer Modells auch auf die Hauptverhandlung bedeutet praktisch
eine stärkere Berücksichtigung des Kindeswohls. Sehr
geehrter Herr van Essen, nach Ihrem für mich sehr erfreulichen Redebeitrag weiß ich genau, dass Ihnen das
Wohl des Kindes sehr am Herzen liegt.
Kinder, die als Zeugen geladen werden, wissen oft gar
nicht, was mit ihnen geschieht. Oftmals hat es sie schon
große Mühe gekostet, sich überhaupt zu offenbaren. Es
muss von daher alles getan werden, um das Kind vor
weiteren, es besonders belastenden Situationen zu schützen.
({4})
Nicht vergessen werden darf, dass im Bereich des
sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen rund 94 Prozent der Täter aus der Familie und ihrer
Umgebung kommen. Gerade für Kinder ist es daher notwendig, eine vertrauensvolle Vernehmungsatmosphäre
zu schaffen. Helfen wir kindlichen Zeugen und Opfern
von Sexualstraftaten, indem wir die Befragung menschenwürdig, fürsorglich und rücksichtsvoll durchführen! Bei kindgerechter Vernehmung ist gewährleistet,
dass das Kind vor einem weiteren seelischen Trauma bewahrt wird. Alle sprechen immer wieder vom Kindeswohl. Sprechen wir nicht nur davon, sondern handeln
wir auch danach, damit das Kindeswohl im Strafverfahren nicht ein Lippenbekenntnis bleibt.
Es ist auch Pflicht, körperliche Untersuchungen nach
§ 81 d StPO als Frau zu dulden. Die Frau, die Opfer einer Gewaltstraftat geworden ist, ist fast immer Opfer eines männlichen Täters und fast immer traumatisiert.
Menschen, die oft Kontakt zu Opfern von Sexualstraftaten haben, wissen, was diese ertragen müssen. Es sind
nicht allein der Missbrauch, die Vergewaltigung oder die
Folter. Oft empfinden die Opfer durch die erneute Konfrontation mit dem Tathergang den Strafprozess als
Qual. Deshalb bedürfen sie der besonderen Fürsorge und
Rücksichtnahme. Dazu gehört auch das Recht, auf ihr
Verlangen hin von einer Frau oder Ärztin untersucht zu
werden
({5})
und eine Vertrauensperson hinzuziehen zu können. Dieser Rechtsanspruch ist vielen unbekannt.
Die Einführung einer Belehrungspflicht in § 81 d
Abs. 1 hilft der Frau, ihr Unterlegenheitsgefühl abzubauen, und zeigt eine besondere Sensibilität für ihre Situation.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unterstützen Sie
bitte den Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion im Interesse eines bestmöglichen Opferschutzes im Strafprozess. Der Opferschutz sollte uns allen am Herzen liegen.
Lassen Sie die Opfer nicht erneut zu Opfern werden!
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär bei
der Bundesministerin der Justiz, Alfred Hartenbach.
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Opfer von Straftaten,
besonders Frauen und Kinder, bedürfen aller nur möglichen Aufmerksamkeit und Unterstützung auch von staatlicher Seite. Wir alle haben noch die Bilder schlimmer
Verbrechen aus jüngster Zeit vor Augen. Es kann nicht
oft genug betont werden, dass wir alles tun müssen, damit es gar nicht erst zu solchen Straftaten kommt. Wenn
wir uns darin einig sind, haben wir eigentlich schon gewonnen.
Die eine Seite der Medaille ist: Der Gesetzgeber muss
im Strafgesetzbuch Strafandrohungen vorsehen, die auf
potenzielle Täter abschreckend wirken und eine konsequente Strafverfolgung ermöglichen. Dort, wo die Erhöhung von Strafandrohungen sinnvoll ist und wo schärfere Sanktionen tatsächlich zu einem besseren Schutz
vor Straftaten führen, werden wir das Recht ändern. Deshalb entwickeln wir gerade die Strafvorschriften gegen
sexuellen Missbrauch von Kindern, Jugendlichen, behinderten und widerstandsunfähigen Menschen fort und
schließen dabei empfindliche Strafbarkeitslücken.
({0})
Dazu gehört auch die Anzeigepflicht von Kindesmissbrauch. Bei diesem Punkt, verehrter Herr Kollege
Dr. Röttgen, haben Sie sich heute wieder einmal als ein
Bratenwender der Rechtspolitik erwiesen.
({1})
Sie wenden den Braten Rechtspolitik und das Sachthema
Opferschutz so lange hin und her, bis der Braten verbrannt ist. Für Sie aber bleibt ein trübes, erkleckliches
Sößlein übrig, mit dem Sie Ihre populistischen Belange
befriedigen.
({2})
Wenn Sie exakt zitiert hätten, wüssten Sie, dass nicht
eine bloße Vermutung, wie Sie gesagt haben, die Anzeigepflicht auslöst, sondern die sichere Kenntnis, dass
strafbare Handlungen gegenüber Kindern vorgenommen
werden. Nur dann besteht die Anzeigepflicht - wenn zum
Wohle des Kindes keine anderen Möglichkeiten bestehen, den sexuellen Missbrauch zu verhindern. - Ich weiß
nicht, was Ihr Grinsen soll, Herr Röttgen. Das Thema ist
ernst genug.
({3})
Was ist denn die Anzeigepflicht? Die Anzeige erfolgt
entweder bei der Polizei oder bei einer Behörde; das
kann auch das Jugendamt sein. Straffrei bleiben alle die,
die ernstlich und auf jede erdenkliche Art und Weise etwas unternommen haben, um den sexuellen Missbrauch
zu verhindern. Ich denke, es muss deutlich gemacht werden, dass die Weggucker bestraft werden und wir zum
Wohle des Kindes Hingucker brauchen.
({4})
Die zweite Seite der Medaille: Rechtspolitik erschöpft sich nicht in der Gesetzgebung. Wir haben eine
ganze Menge getan.
({5})
Wir haben das Bündnis für Demokratie und Toleranz
geschaffen, welches ein breites Netzwerk bietet, in dem
gerade junge Menschen dafür sensibilisiert werden, gegen Gewalt vorzugehen. Ich habe in diesem Frühjahr
mehrere Schulen, mehrere Initiativen ausgezeichnet und
dabei festgestellt, dass das genau der richtige Weg ist. Es
ist uns zum Beispiel gelungen, im Deutschen Forum für
Kriminalprävention Bund, Länder, Kommunen, Religionsgemeinschaften, Verbände und auch die Wirtschaft
an einen Tisch zu bringen. Die Tätigkeit dieses Gremiums ist eine echte Erfolgsgeschichte. Als Vorsitzende des Kuratoriums wird sich Frau Bundesministerin
Zypries für die Fortschreibung dieser Erfolgsgeschichte
einsetzen. Der Präventionstag kürzlich in Hannover ({6})
- übrigens geprägt vom DFK und unter der Schirmherrschaft Ihres Kanzlerkandidaten für 2010, von Herrn
Wulff, - war eine eindrucksvolle Veranstaltung.
Terroropfer, Herr van Essen, finden natürlich unsere
besondere Aufmerksamkeit. Ich denke, es muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass wir im Haushalt
9 Millionen Euro für die Entschädigung solcher Terroropfer eingesetzt haben, wie zum Beispiel der Opfer des
Terroranschlags von Djerba. Wir haben sofort reagiert,
wie auch nach dem Terroranschlag auf Bali.
({7})
Ich bitte Sie, sich folgende Frage zu stellen: Muss dieser Staat für alles Gesetze schaffen,
({8})
damit überall und zu jeder Zeit die Sicherheit garantiert
wird? Es gibt auch andere Methoden wie zum Beispiel
die Fondslösung, die wir in diesem Fall bevorzugen. Ich
bin gerne bereit, mit Ihnen dieses Thema etwas exakter
zu besprechen.
Unser Recht werden wir dort reformieren, wo es im
Interesse der Opfer, der Prävention, der Resozialisierung
und des fairen Verfahrens geboten ist. Hier geht es vor
allem auch um die Hilfe für Schwächere, wie sie schon
die sozialdemokratische Rechtspolitik der letzten Legislaturperiode geprägt hat. Die Stärkung des Täter-OpferAusgleichs im Strafverfahren und die Einführung der
vorbehaltenen Sicherungsverwahrung sind Beispiel dafür.
Seit März 2001 gelten auf der Grundlage eines Rahmenbeschlusses in allen Mitgliedstaaten der EU einheitliche Mindeststandards für die Rechte des Verletzten
im Strafverfahren. Daran werden wir anknüpfen, auch
unter Beachtung der Tatsache - diese wollen wir nicht
leugnen -, dass unser Opferrecht in Europa vorbildlich
ist. Die anderen europäischen Staaten sollten in diesem
Bereich bitte nachziehen.
Auch in praktischen Bereichen ist vieles verbessert
worden. Ich möchte hier nur zwei vom Bundesministerium der Justiz herausgegebene Informationswerke nennen, an denen übrigens die Länder in dankenswerter
Weise mitgearbeitet haben, nämlich die Handreichung
zum Schutz kindlicher Opferzeugen und die Opferfibel. Auch das ist Opferschutz, Herr Dr. von Röttgen.
({9})
- Wer eine Tankstelle, ein Dorf und ein Schloss hat, den
kann man schon mal adeln.
Weitere Verbesserungen der Rechte des Verletzten im
Strafverfahren sind notwendig. Ich kann daher der Zielrichtung Ihres Gesetzentwurfs in Grundzügen zustimmen. Der Gesetzentwurf entspricht ja aufs Komma dem
Entwurf des Bundesrates aus der vergangenen Legislaturperiode, initiiert von der ehemaligen Hamburger
SPD-Justizsenatorin Peschel-Gutzeit. Wenn Sie Ihre Reden von damals - vor allen Dingen die Reden von Herrn
Kollege Geis - ernst nehmen würden, dann dürften Sie
diesen Gesetzentwurf eigentlich gar nicht einbringen.
Außerdem zeigt Ihr Entwurf, dass Sie nicht mehr auf der
Höhe der rechtspolitischen Diskussion sind.
({10})
Seit dem Wirken von Frau Peschel-Gutzeit sind drei
Jahre ins Land gegangen. Die Fragestellungen sind in
dieser Zeit aber ganz andere geworden. Mit diesen neuen
Fragestellungen müssen Sie sich befassen.
({11})
- Ich komme noch darauf zu sprechen. Nur ruhig Blut!
Ich will auch nicht verhehlen, dass Ihr Entwurf an
manchen Stellen einfach zu kurz greift. Ich nenne Ihnen
zwei Beispiele: Sie wollen die Information des Verletzten verbessern, begnügen sich aber damit, dass in der
Zeugenladung auf Vorschriften und Betreuungsmöglichkeiten hingewiesen werden soll. Was fehlt, ist ein umfassender Informationsanspruch des Verletzten über
die Umstände, die für ihn wichtig sind, wie zum Beispiel
die Frage nach dem Fortgang und vor allem nach dem
Ausgang des Verfahrens. Auch Ihre vorgelegten Vorschläge zum Adhäsionsverfahren werden kaum etwas
daran ändern. Ihre Umsetzung würde leider nur dazu
führen, dass diese Verfahrensart ein Schattendasein
führt. Ich sage - Herr van Essen, Entschuldigung, ich
war auch einmal Staatsanwalt und Richter -: Hier muss
teilweise auch ein Umdenken in den Köpfen stattfinden.
({12})
Andere Punkte, die Sie vorbringen, sind auch nicht
unproblematisch. Herr Kollege Montag hat schon auf
das Mainzer Modell hingewiesen, das Sie selbst abgelehnt haben und gegen das Sie im Rahmen der Diskussion über den Vorschlag von Frau Peschel-Gutzeit geredet haben. Auch darüber müssen wir noch einmal
nachdenken.
Wir werden in Kürze einen Entwurf in den Bundestag
einbringen,
({13})
der umfassend und systematisch in sich geschlossene
Regelungen zu den Rechten von Verletzten und Zeugen
im Strafverfahren enthalten wird. Wir werden dabei auf
sorgfältige Vorarbeiten zurückgreifen können - Herr
Stünker hat das Eckpunktepapier schon erwähnt -, die
unter anderem durch eine Sachverständigenanhörung
zum Adhäsionsverfahren und ein Gutachten der Großen
Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes
zur Nebenklage geleistet worden sind.
Ich will einige Kernpunkte nennen, über die wir
noch sehr eingehend diskutieren werden: Wir stärken die
Verfahrensrechte der Verletzten, also der Personen, die
durch eine Straftat zu Schaden gekommen sind, indem
wir den Anwendungsbereich für den Opferanwalt und
die Beistandsrechte bei Vernehmungen erweitern sowie
die Beiordnung von Dolmetschern vorsehen. Wir erweitern die Informationsrechte der Verletzten. Sie sollen
Terminmitteilungen und Informationen zum Verfahren
erhalten, damit sie wissen: Was passiert in dieser Sache,
in der ich durch eine Straftat zu Schaden gekommen bin?
Dies tun wir, Herr Röttgen, nicht nur mithilfe einer Verwaltungsanordnung wie in Bayern, sondern auf einer gesetzlichen Grundlage.
Wir führen zudem eine umfassende Hinweispflicht
ein, damit der Verletzte erfährt, welche Rechte er hat.
Die Schadenswiedergutmachung verbessern wir durch
den Ausbau und die Weiterentwicklung des Adhäsionsverfahrens, damit Schadensersatzansprüche der Verletzten gleich im Strafverfahren mit erledigt werden können.
Wir erweitern und konzentrieren die Nebenklage auf Delikte, die Menschen besonders tief in ihrer Persönlichkeit
verletzen. Dazu zählen unter anderem Opfer von Prostitution oder Zuhälterei. Gerade sie brauchen das Recht
zur Nebenklage, um aktiv am Strafverfahren teilnehmen
zu können.
Lassen Sie mich nun in den letzten 75 Sekunden meiner Redezeit etwas zum Entwurf des Bundesrates zum
Widerruf der Strafaussetzung und der Strafrestaussetzung sagen. In diesem Entwurf geht es um Fälle, in
denen ein Gericht im Rahmen einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung oder einer Strafrestaussetzung eine
Bewährung ausgesprochen hat und dabei nicht wusste,
dass der Betroffene zwischenzeitlich schon wieder eine
neue Straftat begangen hat. Hiergegen etwas zu tun ist
sicherlich ein berechtigtes Anliegen. Allerdings waren
solche Fälle in der Praxis schon immer eine Seltenheit.
Seit Herbst 1998 haben wir zudem das Zentrale
Staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister, an das mittlerweile lediglich drei kleinere Bundesländer noch nicht
angeschlossen sind. Es dürfte jetzt nur noch in wenigen
Einzelfällen zu Bewährungsentscheidungen auf unzureichender Tatsachengrundlage kommen. Die Staatsanwaltschaften können heute nahezu bundesweit auf Informationen über fast sämtliche laufenden Strafverfahren
zurückgreifen. Damit erfahren sie auch von Straftaten,
die noch nicht rechtskräftig abgeurteilt sind, aber bereits
zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen geführt haben.
Auch wenn sich das Problem damit sehr relativiert,
müssen wir bedenken, dass eine solche Regelung, wie
sie vorgeschlagen worden ist, immerhin die Rechtskraft
einer früheren Bewährungsentscheidung durchbricht.
Wir werden also auch da sehr sorgfältig prüfen, wie wir
hier vorgehen können.
Wir wollen all diese Dinge nicht punktuell wie die
Fliegenpilze im Wald, sondern in einem großen, umfangreichen Reformprojekt der Strafprozessordnung regeln. Dazu lade ich Sie, Herr Kollege van Essen, sehr
herzlich ein; die Rest-FDP, die anwesend ist, natürlich
auch. Sie, Herr Kollege Dr. Röttgen, natürlich auch Sie,
Frau Noll - Sie haben dankenswerterweise sehr vernünftig und gut über das Thema der Opfer gesprochen -, und
ihre Fraktion sowie meine Kolleginnen und Kollegen der
Koalition wissen uns Arm in Arm in einem Boot.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
seit gut einem halben Jahr im Deutschen Bundestag und
seit mehr als zehn Jahren aktiv in der Opferarbeit tätig.
Lassen Sie mich deswegen die Diskussion, so wie ich sie
heute miterlebt habe, einmal aus der Sicht eines Opfer
schützenden Mitarbeiters Revue passieren! Es wird über
Urheberrechte diskutiert. Das habe ich in einer Diskussion über Opferschutzrechte noch nie erlebt. Eines kann
ich Ihnen allen mit nach Hause geben: Keiner der hier
Anwesenden hat ein Urheberrecht auf Opferschutzgedanken. Urheberrechte haben Zehntausende von ehrenamtlich Tätigen in Deutschland, die tagtäglich mit Opfern zu Gerichten gehen, sie nach traumatisierenden
Erlebnissen betreuen und aus dieser täglichen Arbeit
wissen, was Schutz für Opfer bedeutet und wo Lücken
bestehen.
({0})
Ich kann es nicht mehr hören. Sie wollen den großen
Wurf mit einer umfassenden Reformgesetzgebung erreichen. Beim Opferschutz hat noch nie der große Wurf
funktioniert. Schauen Sie sich § 406 ff. StPO an! Er
reicht vom Buchstaben a bis zum Buchstaben h, was dokumentiert,
({1})
dass man immer wieder etwas hineingeflickt hat.
Der große Wurf gelingt nicht.
({2})
- Sie fragen, warum nicht?, Herr Ströbele? Sie von
Rot-Grün kritisieren die Stellen in unserem Entwurf, die
Sie nicht mittragen wollen. Mir wäre es viel lieber, wenn
wir uns an einen Tisch setzten und Sie mitteilten, wo Sie
mitmachen wollen.
({3})
Es gibt einen Aspekt, den Sie gar nicht anzusprechen
wagen: Warum ist der Prozess über einen jugendlichen
Straftäter nicht öffentlich - alle sind ausgeschlossen und der Prozess über ein jugendliches Tatopfer öffentlich? Sollten wir darüber nicht einmal diskutieren?
({4})
- Herr Stünker, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir
zuhörten. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber davon haben Sie zu wenig Ahnung. Der Prozess ist öffentlich, nur
während der Vernehmung des Zeugen ist die Öffentlichkeit ausgeschlossen.
({5})
Wir lassen die Opfer seit vielen Jahren in wichtigen
Aspekten im Regen stehen. Das darf nicht sein.
({6})
Das Adhäsionsverfahren, das ein Schattendasein genießt, obwohl es für die Opfer existenziell wichtig ist,
weil sie auf anderem Wege nicht zu ihrem Schadenersatz
kommen, muss wieder belebt werden.
({7})
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen, dass Sie auf eine
Expertenanhörung zum Adhäsionsverfahren hingewiesen haben. Sie fand vor etwa drei Jahren statt. Ich war
dazu eingeladen und habe bis heute noch nichts über die
Ergebnisse dieser Expertenbefragung gehört. Ich kann
Ihnen eines sagen: Schauen Sie einmal in die Schublade
Ihrer Ministerin! Ganz unten liegt mein komplett ausgearbeiteter Gesetzentwurf. Sie bräuchten ihn nur aus der
Schublade zu nehmen. Das ist aber nicht mehr nötig,
weil er in unserem Antrag enthalten ist.
Siegfried Kauder ({8})
Ist es gerecht, dass das Opfer eines versuchten Tötungsdelikts den Opferanwalt auf Staatskosten bekommt,
die Hinterbliebenen eines getöteten Tatopfers aber nicht?
Hier mache ich niemandem in der Politik einen Vorwurf,
({9})
man hat wohl nicht daran gedacht. Muss man jetzt aber
ein großes Reformwerk abwarten, um diese Lücke zu
schließen? Lassen Sie uns Eckpunkte beschließen: das
Adhäsionsverfahren und der Hinterbliebenenanwalt
auf Staatskosten.
Ich möchte Ihnen an einem Beispiel plakativ vor Augen führen - auch das haben wir in unseren Antrag aufgenommen -, wie der Stand des Opferschutzes in
Deutschland ist: Eine sexuell missbrauchte Frau muss
sich auf Tatspuren untersuchen lassen. Die Untersuchung führt eine Frau oder ein Arzt durch. Sie findet
durch einen Arzt statt, wenn das Schamgefühl der Frau
verletzt ist. Was Schamgefühl ist, ist nach objektiven
Kriterien zu bestimmen, so ist die derzeitige Gesetzeslage.
Ich bin der Meinung, es kommt auf das subjektive
Gefühl der Frau an. Unter dem Eindruck der Tat, die ein
Mann begangen hat, muss sie durchaus sagen dürfen, ich
will in dieser Situation nicht von einem Mann untersucht
werden.
({10})
Das lässt die derzeitige Gesetzeslage schlicht und ergreifend nicht zu. Überlegen Sie einmal, was das für den Opferanwalt bedeutet: Wenn eine misshandelte Frau nicht
von einem Mann untersucht werden will, kann der Richter die zwangsweise Untersuchung dieser Frau durch einen Mann anordnen.
({11})
Der Opferanwalt kann Beschwerde einlegen, die keine
aufschiebende Wirkung hat. Bis darüber entschieden
wurde, ist das Opfer längst untersucht.
({12})
Die Frage ist genau richtig.
({13})
Ich lade Sie ein, die Praxis zu erleben. Das, was Sie hier
tun, ist nichts anderes, als über Dinge zu theoretisieren,
von denen Sie - das sage ich hier so offen, wie ich es
meine - viel zu wenig Ahnung haben,
({14})
weil Sie sich um die Praxis nicht kümmern.
({15})
Der Opferschutz ist eine Baustelle mit vielen Facetten. In einem Punkt gebe ich dem Kollegen Montag
Recht:
({16})
Opferschutz ist immer auch ein Aspekt, den man unter
dem Gesichtspunkt einzuschränkender Verteidigungsrechte von Tätern, die ja noch Beschuldigte sind, für die
die Unschuldsvermutung spricht, sehen muss.
({17})
Deswegen ist das immer eine Gratwanderung.
({18})
Die Beispiele, die ich Ihnen vor Augen geführt habe,
schränken die Verteidigungsrechte nicht ein.
({19})
Eine Maßnahme jedoch, die wir vorsehen, schränkt die
Verteidigungsrechte ein. Wir wollen nämlich nicht, dass
Videos von Vernehmungen der Tatopfer dem Verteidiger ausgehändigt werden; aber nicht etwa, weil wir den
Verteidigern misstrauen. Seit der BGH-Entscheidung in
BGHSt 29, Seite 99 f., wissen wir Anwälte, dass wir die
Unterlagen, die wir in Kopien und Mehrfertigungen vom
Gericht bekommen, dem Mandanten aufgrund des Mandatsverhältnisses aushändigen müssen.
({20})
Der Mandant hat seit dieser BGH-Entscheidung darauf
einen Anspruch. Wir wollen nicht, dass der Verteidiger
in die Bredouille kommt, Unterlagen an den Mandanten
herausgeben zu müssen, die die Persönlichkeitsrechte
des Opfers betreffen.
({21})
Deswegen wollen wir die Änderung dieser gesetzlichen
Vorschriften.
Ich bin mir sicher, dass in der Sache kein großer Dissens besteht.
({22})
Siegfried Kauder ({23})
Ich bin mir aber sicher, dass wir noch lange nicht alles
gemacht haben, was wir im Opferschutz tun könnten. Ich
wäre Ihnen allen herzlich dankbar, wenn Sie mein Angebot
annehmen - das meine ich auch für mich persönlich - und
wir uns an einen Tisch setzen würden, um zu überlegen,
wie wir den Opferschutz so gestalten können, dass wir nicht
in zwei Jahren schon wieder eine Diskussion darüber führen müssen. Es muss Schluss sein damit, dass Opfer ihren Rechten immer hinterherrennen müssen. Lassen Sie
uns als deutsches Parlament in diesem Punkt einmal den
Vorreiter spielen!
Vielen Dank.
({24})
Nächster Redner ist der Kollege Christian Ströbele,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kauder, lassen Sie uns von Kollege zu
Kollege, vielleicht auch von Anwaltskollege zu Anwaltskollege reden. Einiges von dem, was Sie gesagt haben, ist richtig, anderes ist einfach nicht richtig. Ich will
versuchen, das in den dreieinhalb Minuten Redezeit, die
mir zur Verfügung stehen, zu sortieren.
Richtig ist - das stand auch in dem Entwurf aus Hamburg -, dass sich in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten
die Bedürfnisse - so schreiben Sie; ich würde lieber sagen: die Interessen - der Opfer mehr in das Blickfeld
und das Bewusstsein der Bevölkerung und damit auch
des Gesetzgebers gerückt worden sind. Das ist richtig
und da muss man weitermachen.
Ich fange mit einer Selbstkritik an: Ich habe seit Ende
der 60er-Jahre in vielen Strafprozessen verteidigt, auch
in Strafprozessen, in denen es um Vergewaltigung ging,
in denen ich also einen der Vergewaltigung Beschuldigten verteidigt habe. In den Jahren und Jahrzehnten danach habe ich in der Anwaltschaft in Berlin, aber auch in
anderen Städten eine sehr heftige und sehr emotionale
Diskussion darüber erlebt, ob unsere Praxis in den 70erJahren richtig war oder ob wir nicht die Opfer erneut zu
Opfern gemacht haben. Das hat dazu geführt, dass viele
Kollegen - ich habe das auch eine Zeit lang praktiziert gesagt haben: Wir können es nicht mehr verantworten,
solche Beschuldigten zu verteidigen. Das war eine sehr
ans Eingemachte gehende Diskussion unter der Anwaltschaft. Heute sieht man das etwas geläuterter, fordert
aber natürlich - nicht etwa, weil man die Opferinteressen wieder hintanstellt -, dass jeder Richter, Staatsanwalt und auch jeder Verteidiger die Opferinteressen im
Strafprozess berücksichtigt.
Was für die Praktiker gilt, gilt natürlich auch für den
Gesetzgeber. Dazu sage ich Ihnen: Der Entwurf in der
jetzt vorliegenden Fassung ist unzureichend und ordnet
sich nicht genügend in die geltende Strafprozessordnung
mit dem notwendigen Schutz auch der Interessen des
Beschuldigten ein.
({0})
Ihre Behauptung, dass es heute Richter gibt, die entsprechende Anordnungen gegen den Willen des betroffenen Opfers treffen, also beispielsweise bei einer Frau anordnen, dass sie sich von einem männlichen Arzt
untersuchen lassen muss, ist einfach nicht richtig. Ich
weiß nicht, wo Sie praktiziert haben, aber in Berlin wird
selbstverständlich schon heute darauf Rücksicht genommen. Herr Kollege Röttgen, Sie haben ein anderes Beispiel genannt, wo das in der Praxis schon richtig gemacht wird. Ich sagen Ihnen: Das hier ist einer der ersten
Bereiche gewesen, in denen so etwas möglich war.
Genauso wenig ist das richtig, was Sie, Herr Kollege
Kauder, gesagt haben. Ich selber habe in spektakulären
Strafprozessen Nebenkläger vertreten, und zwar auf
Staatskosten. Hierzu gehört beispielsweise das Strafverfahren zum Anschlag in Mölln - dabei sind eine Reihe
von türkischen Bürgerinnen und Bürgern zu Tode gekommen -, bei dem ich die Nebenkläger gegen die damals Verdächtigen und inzwischen verurteilten Täter
vertreten habe. Es gibt also schon heute die Möglichkeit,
dass Anwälte auf Staatskosten die Nebenkläger vertreten. Dies tun sie hoffentlich auch wirksam und nehmen
auch bei langen Prozessen an jedem Verhandlungstag
teil. Das, was Sie gesagt haben, ist einfach nicht richtig.
({1})
Wir müssen dieses Gesetz an die heutige Zeit anpassen, es vervollständigen und vor allen Dingen dafür sorgen, dass eine ausgewogene Balance hergestellt wird,
({2})
eine ausgewogene Balance zwischen den berechtigten
Interessen der Opfer, die berücksichtigt werden müssen
- da sind wir in vielen Einzelheiten konform -, und den
berechtigten Interessen der Angeklagten, die nicht hintangestellt werden dürfen, sondern auch ausreichend berücksichtigt werden müssen.
Daran fehlt es Ihrem Gesetzentwurf, so wie er vorliegt, in vielen Punkten. Natürlich ist es richtig, dass Opfer möglichst früh die Möglichkeit erhalten sollen, sich
der Hilfe eines Anwalts oder einer Anwältin zu bedienen, und dass diese staatlich finanziert wird. Aber dann
müssen wir auch dafür sorgen, dass im gleichen Stadium
des Verfahrens, das ja unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit organisiert ist - ich sage nur fair trial -,
auch die Beschuldigten einen Anwalt oder eine Anwältin
bekommen, wenn sie wollen. Wir müssen dafür sorgen,
dass die Balance gewahrt bleibt - das ist in Ihrem Gesetzesvorhaben überhaupt nicht berücksichtigt -, und dass
wir wichtige rechtsstaatliche Errungenschaften unserer
Strafprozessordnung nicht aufs Spiel setzen.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Raab,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Vollzug der Freiheitsstrafe soll in erster Linie dazu dienen, die Allgemeinheit zu schützen. Außerdem soll er natürlich dem Straftäter zu der Einsicht verhelfen, dass man für begangenes Unrecht auch
einzustehen hat. Der Wortlaut des Gesetzes heißt:
Der Vollzug soll den Willen und die Fähigkeit des
Gefangenen wecken und stärken, künftig ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu führen.
Dies ist leider nicht immer so, eher sogar viel zu selten.
Uns geht es heute insbesondere um die Fälle, in denen
bereits verurteilte Straftäter erneut straffällig werden, ihnen in Unkenntnis dieses Umstandes gewährte Strafaussetzungen zur Bewährung aber nicht widerrufen werden
können. Das ist ein Missstand, den wir so auf keinen Fall
akzeptieren und stehen lassen können.
({0})
Die Prämisse der Unionsfraktion ist ganz klar, die Bevölkerung zu schützen. Das ist auch unsere Aufgabe als
Legislative. Es ist an uns, die Voraussetzungen zu schaffen, dass sich unsere Bürger sicher fühlen und die Gewissheit haben können, vor einschlägig bekannten Straftätern geschützt zu werden.
Die hessische Initiative im Bundesrat, die dem vorliegenden Gesetzentwurf zugrunde liegt, hat zum Ziel,
Lücken beim Widerruf der Straf- und Strafrestaussetzung zur Bewährung zu schließen. Eine solche Regelungslücke besteht im Moment leider noch immer, nämlich dann, wenn ein Verurteilter ab dem Verkündungszeitpunkt des letzten tatrichterlichen Urteils bis zu der
Entscheidung über die Strafrestaussetzung weitere Straftaten begangen hat, oder aber in Fällen der nachträglichen Gesamtstrafenbildung, wenn der Verurteilte innerhalb der Bewährungszeit einer einbezogenen Sache
wieder straffällig wird.
Auch durch optimale Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden mit den Gerichten oder durch die verbesserte Datenvernetzung der Behörden lässt sich nicht
immer verhindern, dass bestimmte Straftaten den Gerichten bei der Entscheidung über eine Aussetzung des
Strafrestes noch gar nicht bekannt sind. So kann es passieren, dass das Gericht in Unkenntnis dieser weiteren
Straftat die Aussetzung der Restvollstreckung ausspricht
und der Straftäter auf freien Fuß kommt, obwohl dies so
nicht gewollt sein kann.
Nach der noch immer gültigen Rechtslage bleibt ein
Gericht an seine Entscheidung der Strafaussetzung jedoch gebunden. Das ist ein grober Missstand in einem
Rechtsstaat, der so nicht hingenommen werden kann.
Vielmehr muss auch hier die Möglichkeit bestehen,
die Aussetzung gegebenenfalls zu widerrufen.
Der Herr Staatssekretär hat vorhin zu Recht die
Rechtskraftdurchbrechung angesprochen. Sie ist in meinen Augen dringend erforderlich und geboten. Schließlich hat der Täter durch seine erneute Straffälligkeit die
Möglichkeit einer Strafaussetzung selber verwirkt.
({1})
Der Bundesrat hat den Gesetzentwurf bereits im
Jahre 1997 in den Deutschen Bundestag eingebracht.
Dort ist er allerdings dem Grundsatz der Diskontinuität
zum Opfer gefallen. Wir, die Mitglieder der CDU/CSUBundestagsfraktion, unterstützen diesen Antrag ausdrücklich. Ihre Weigerung, sich uns anzuschließen, passt
allerdings in das Bild der Untätigkeit und Trägheit der
rot-grünen Koalition in der Rechtspolitik.
({2})
Wir dagegen wollen nicht noch länger zögern und abwarten, bis ein neues, schon lange angekündigtes Paket
von Änderungen geschnürt ist, sondern wir wollen sofort
tätig werden.
Die Bundesregierung ist zwar der Meinung, der intensive Datenaustausch - der Staatssekretär hat es angesprochen - zwischen den Justizbehörden würde mittlerweile
dazu führen, dass solche Fehlurteile und Fehleinschätzungen bezüglich des Strafmaßes nur noch ganz selten vorkommen.
({3})
Unserer Meinung nach reicht aber schon ein Fall aus, bei
dem es zu einem solchen Fehlurteil kommt, um entweder Menschen ins Unglück zu stürzen oder um ein Leben
zu zerstören. Jeder Fall ist ein Fall zu viel.
({4})
In erster Linie wollen wir unsere redlichen Bürger schützen und gerade nicht die Straftäter. Deshalb muss hier
gehandelt werden. Den Richtern muss diese von uns geforderte Möglichkeit des Widerrufs unbedingt zugestanden werden.
Um das etwas plastischer zu machen, möchte ich als
Beispiel den Entführungsfall Fiszman anführen. Im
Jahre 1991 haben zwei Männer - Vater und Sohn - zwei
Kleinkinder entführt, die später wieder freigelassen wurden. Im Jahre 1996 haben dieselben Täter Jakub Fiszman
entführt; es wurde ein Lösegeld gefordert. Letztlich
wurde das Opfer getötet. Die beiden Angeklagten wurden
verurteilt. Das Tragische an diesem Fall ist, dass der
Hauptangeklagte zur Zeit der ersten Entführung eigentlich im Gefängnis hätte sitzen müssen. Ab 1981 hat er
eine elfjährige Freiheitsstrafe verbüßt. Die Reststrafe
wurde 1986 zur Bewährung ausgesetzt. Zu dieser Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung hätte es nicht kommen dürfen; denn Rainer K. hatte zu diesem Zeitpunkt als
Freigänger bereits mehrere Straftaten begangen, ohne
dass die Strafvollstreckungskammer davon Kenntnis
hatte. Erst zwei Jahre später hat sie davon erfahren.
Sie sehen, es gibt viele tragische hätte, wäre,
wenn. Sie sagen immer, dass das seltene Fälle sind;
das mag schon sein. Es sind aber ein paar seltene Fälle
zu viel. Darum unterstützen wir den Gesetzentwurf und
lassen uns auch nicht davon abbringen.
({5})
Lassen Sie mich noch einige Sätze zur Sanktionspraxis in Deutschland allgemein sagen.
({6})
Sie ist von sehr vielen Aussetzungen zur Bewährung gekennzeichnet. Auch die Union sieht eine Aussetzung zur
Bewährung prinzipiell als sinnvoll und richtig an
({7})
- ja, Sie werden es kaum glauben -, um eine zügige
Wiedereingliederung von Straftätern in die Gesellschaft
voranzutreiben und dem Straftäter einen Anreiz zu einer
straffreien Lebensführung zu geben.
Wird die Bewährung aber in Unkenntnis von weiteren
begangenen Straftaten ausgesprochen, dann muss sie
auch widerrufen werden können; Herr Stünker, das werden Sie nicht bestreiten wollen.
({8})
Andernfalls würde der Rechtsstaat an Glaubwürdigkeit
verlieren.
({9})
Es ist mir eine besondere Freude, hier wieder mal einen bayerischen Politiker, nämlich den bayerischen Innenminister Günther Beckstein, zitieren zu können. Er
hat gesagt:
Die Interessenabwägung muss hier lauten: Was hat
Vorrang - der Schutz unschuldiger Opfer oder das
Wohlergehen der Straftäter?
Unsere Priorität ist völlig klar: Es geht um den Schutz
der Bürger. Das sollte auch Ihre Priorität sein.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Erika Simm,
SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich erlaube mir etwas, was ich eigentlich
sonst nie tue. Ich möchte eine persönliche Bemerkung
über den Verlauf der Debatte und darüber, wie ich sie
wahrgenommen habe, machen.
Ich sitze seit einigen Jahren im Rechtsausschuss. Ich
war immer gerne Mitglied dieses Ausschusses. Es hat
mir gefallen, dass wir trotz inhaltlich unterschiedlicher
Positionen vor der Fach- und Sachkenntnis und vor dem
beruflichen Hintergrund der Kollegen der jeweils anderen Seite immer Respekt hatten. Wir haben uns nie - Herr
van Essen ist mein Zeuge - die fachliche Kompetenz abgesprochen. Wir wussten voneinander, welche beruflichen Karrieren wir durchlaufen hatten, ehe wir Mitglieder des Deutschen Bundestages wurden. Ich bitte die
Kollegen, die heute hier gesprochen haben und neu im
Rechtsausschuss sind, sich einmal zu überlegen, ob es
nicht ein guter Stil wäre, an diese Tradition des Umgangs, den wir bisher gepflegt haben, anzuknüpfen.
({0})
Herrn Stünker zu unterstellen, er habe nie Kontakt mit
Opfern gehabt, ist vollkommen neben der Sache und
wertet auch sein Berufsleben ab.
({1})
Wenn ich es richtig weiß, war er neun Jahre Jugendrichter, zehn Jahre Vorsitzender einer großen Wirtschaftsstrafkammer und drei Jahre Vorsitzender einer Schwurkammer.
Das Mitglied des Deutschen Bundestages Erika Simm
war neun Jahre Jugendrichterin und hat im Strafrecht bis
zum Landgericht alles durchlaufen, was man in Bayern
im Bereich des Strafrechts üblicherweise durchläuft:
Staatsanwältin, Ermittlungsrichterin, Steuerstrafrichterin.
({2})
Ich bin Mitglied in einer Reihe von Einrichtungen wie
Notruf und Frauenhaus und habe als Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes permanent Kontakt zu
Vereinen und Organisationen, die Träger solcher Einrichtungen sind.
({3})
Meine herzliche Bitte ist, dass wir einander nicht die
sachliche Kompetenz absprechen.
({4})
Ich habe mir bisher nie erlaubt, einer jungen Kollegin - ich
darf an die gestrige Diskussion im Rechtsausschuss erinnern - ihr jugendliches Alter und die zwangsläufig bestehende relative berufliche Unerfahrenheit im Vergleich zu
meiner langjährigen Erfahrung in der allgemeinen bayerischen Justiz vorzuwerfen.
({5})
Die Unterstellungen beinhaltende Darstellung, wie
Gerichte mit Opfern umgehen, ist ein Stück weit Diffamierung der Staatsanwälte und Richter.
({6})
Wer solche Dinge, wie sie heute geäußert worden sind,
sagt, hat nicht mitvollzogen, dass sich gerade im Bereich
der Justiz und vor allem bei Sexualstraftaten Gott sei
Dank ein Umdenken durchgesetzt hat und wir heute mit
Opfern, aber auch Tätern im Hinblick auf die Härte der
verhängten Strafen anders umgehen.
Dies wollte ich als Einleitung sagen; denn das Thema,
zu dem ich spreche, lässt sich in relativ wenigen Sätzen
abhandeln. Es geht um den Gesetzentwurf - die Kollegin
Raab hat ihn schon vorgestellt - zum Widerruf der Strafund Strafrestaussetzung. Es ist unbestritten, dass es hier
eine Lücke im Gesetz gibt. Aber ich darf daran erinnern,
dass diese Lücke schon seit 1986 existiert. 1995 fand
eine Umfrage unter den Landesjustizverwaltungen zu
diesem Problem statt. Sie hat ergeben, dass dieses Problem kein massenhaftes, aber auch kein völlig zu vernachlässigendes ist.
Der erste Gesetzentwurf dazu kam 1997 von der rotgrünen hessischen Landesregierung. Ich darf dazu anmerken: Zu dieser Zeit hat Rot-Grün im Bundestag noch
nicht die Mehrheit gehabt;
({7})
CDU/CSU und FDP besaßen damals die Regierungsmehrheit. Dieser Gesetzentwurf ist seinerzeit der Diskontinuität anheim gefallen. Es ist für mich nicht mehr
recht nachvollziehbar, warum.
Der gleiche Vorgang hat sich in der darauf folgenden
Legislaturperiode wiederholt. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand aus der CDU/CSU-Fraktion
moniert hätte, dass dieser Gesetzentwurf zwar 1999 eingebracht, aber nie im Rechtsausschuss behandelt worden
ist. Wir haben ihn jetzt wieder auf dem Tisch. Ich denke,
wir haben Grund, uns mit einer gewissen Zerknirschung
mit dem Gesetzentwurf auseinander zu setzen und ihn
angemessen zu behandeln.
Folgendes ist ebenfalls Faktum: Seit 1995 und seit
1997 hat sich etwas verändert. Seit 1998 gibt es das Zentrale Staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister, auf
das die Staatsanwaltschaften und Gerichte praktisch
bundesweit Zugriff haben und bei dem sie abfragen können, welche Verfahren gegen einen Beschuldigten bzw.
Verurteilten noch anhängig sind.
Ich gehe davon aus - ich denke, das kann ich mit
Recht tun, auch vor dem Hintergrund meiner beruflichen
Praxis, auf die ich mich hier ausdrücklich berufe -,
({8})
dass damit das Problem ein erhebliches Stück weit entschärft ist. Ich weiß nämlich noch, wie es vorher war:
Damals gab es ein Namensregister bei der Staatsanwaltschaft. Wessen Name nicht oder noch nicht darin stand
oder versehentlich herausgeflogen war, war eben als
Straftäter nicht existent. Damals tauchte permanent die
Frage auf, welche weiteren Strafverfahren gegen den Jugendlichen anhängig sind. In dieser Hinsicht hat sich etwas geändert.
Vor dem Hintergrund dessen, dass sich an diesem
Problem einiges entschärft hat, halte ich es für sachgerecht und für vertretbar, zu sagen: Wir benutzen das
nächste geeignete das Strafgesetzbuch ändernde Gesetz
als Omnibus, um diese Sache endlich einmal aus der
Welt zu schaffen, bei der wir offensichtlich alle miteinander etwas versäumt haben.
({9})
- Herr Kauder, Sie wissen doch selber, welche Detailänderungen wir in den letzten Jahren im Strafgesetzbuch
ständig vorgenommen haben. Als ich 1999 bereits zu
diesem Thema reden durfte, gab mir Herr Ströbele
Recht, dass man mit dem Einordnen der Seiten mit Änderungen zum Strafgesetzbuch in die Loseblattsammlung des Schönfelders nicht mehr nachkommt.
({10})
Verstehen Sie: Bei nächster passender Gelegenheit erledigen wir diese Geschichte; das verspreche ich Ihnen.
Sie hat aber bei weitem nicht mehr die frühere Brisanz;
sie hatte nie eine große Brisanz; es war jedoch ein Problem. Ich werde jedenfalls daran denken. Ich wäre Ihnen
dankbar, wenn Sie mich gegebenenfalls daran erinnerten, damit wir es nicht wieder alle miteinander vergessen, wie wir das jetzt zwei Wahlperioden lang getan haben.
Ich bedanke mich.
({11})
Danke schön. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf Drucksache 15/814 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf des Bundesrates zur Änderung des Strafgesetzbu-
ches und anderer Gesetze - Widerruf der Straf- und
Strafrestaussetzung. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf
Drucksache 15/954, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt wor-
den. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/936 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? - Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c und
18 e bis 18 g sowie Zusatzpunkt 3 a bis 3 e auf:
18 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Neustrukturierung der Förderbanken des Bundes
({0})
- Drucksachen 15/902, 15/949 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung
von Kleinunternehmern und zur Verbesserung der
Unternehmensfinanzierung ({2})
- Drucksache 15/900 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend
und gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zum diagnoseorientierten
Fallpauschalensystem für Krankenhäuser - Fallpauschalenänderungsgesetz ({4})
- Drucksache 15/897 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({5})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Durchführung der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet des ökologischen Landbaus ({6})
- Drucksache 15/775 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({7})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetz-
buch
- Drucksache 15/898 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Erfahrungen mit dem in § 47 a des Arzneimittelgesetzes vorgesehenen Sondervertriebsweg
- Drucksache 14/6766 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({8})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({9})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Zusatzabkommen vom 27. August
2002 zum Abkommen vom 14. November
1985 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und Kanada über Soziale Si-
cherheit
- Drucksache 15/881 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 12. September 2002
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Slowakischen Republik über Sozi-
ale Sicherheit
- Drucksache 15/883 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Internationalen Vertrag vom 3. November 2001 über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft
- Drucksache 15/882 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({10})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Registrierung von Betrieben zur Haltung
von Legehennen ({11})
- Drucksache 15/905 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Götz-Peter Lohmann, Dagmar Freitag, Helga
Kühn-Mengel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Winfried Hermann, Petra Selg, Birgitt
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Durch Bewegung und Sport Gesundheit
und Prävention fördern
- Drucksache 15/931 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({12})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Zu dem Entwurf
eines Förderbankenneustrukturierungsgesetzes liegt inzwischen auf Drucksache 15/949 die Gegenäußerung
der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates vor, die wie der Gesetzentwurf überwiesen werden
soll. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen jeweils keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 19 a auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 31. Juli
2001 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreiches Thailand über den Seeverkehr
- Drucksache 15/716 ({13})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({14})
- Drucksache 15/951 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich ({15})
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom 31. Juli 2001 mit der Regierung des Königreiches Thailand über den Seeverkehr.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 15/951, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das tun
alle. Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 19 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({16}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates zur Änderung der
Richtlinie 2001/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten
KOM ({17}) 1 endg.; Ratsdok. 5369/03
- Drucksachen 15/611 Nr. 2.12, 15/912 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Margrit Wetzel
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die
Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen
worden.
Wir kommen nun zu Zusatzpunkt 4:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Änderung des Zeitraumes für den Bericht der
Bundesregierung über den Stand der Auszahlungen und die Zusammenarbeit der Stiftung
Erinnerung, Verantwortung und Zukunft
mit den Partnerorganisationen und den Bericht der Bundesregierung über den Stand der
Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen
im Zusammenhang mit der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft
- Drucksache 15/938 Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 15/938? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
einstimmig angenommen worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Berichte über höchste April-Arbeitslosigkeit
seit der Wiedervereinigung, Praxistauglichkeit
des Hartz-Konzeptes und Ausbaupläne des
Vorstandes der Bundesanstalt für Arbeit
({18})
- Sobald hier Ruhe eingekehrt ist, werde ich die Aussprache eröffnen. - Ich erteile dem Abgeordneten
Johannes Singhammer das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich kann verstehen, dass eine ganze Reihe von Abgeordneten der Regierungsfraktionen bei diesem Thema die
Flucht ergreift.
({0})
Aber mit Flucht werden Sie dem Thema Arbeitslosigkeit
nicht gerecht werden.
({1})
Noch nie seit den Wirren des Zweiten Weltkrieges
war die Arbeitslosigkeit in einem April so hoch wie im
April 2003. Nach fünf Jahren rot-grüner Bundesregierung wird die Zahl der Arbeitslosen immer größer und
die der sicheren Arbeitsplätze immer kleiner. Alle von
Rot-Grün verabreichten und angepriesenen Heilmittel
haben sich als wirkungslos erwiesen: das JUMP-Programm - ein Flop, das Job-AQTIV-Programm - eine
Luftblase, das als Breitbandtherapeutikum angepriesene
Hartz-Konzept - ohne erkennbare Wirkung,
({2})
die Ich-AG - mehr und mehr eine unfaire Konkurrenz
für ausbildende Handwerksbetriebe, das Mainzer Modell
- ein Fiasko, der Jobfloater - ein Ausfall. Insgesamt ist
dies eine bestürzende Kette grandioser Misserfolge.
({3})
Statt die Menschen von der Seuche Arbeitslosigkeit zu
befreien, weitet sich die Beschäftigungslosigkeit in epidemischer Form zum Flächenbrand aus.
({4})
Die Menschen haben jegliches Vertrauen in die Ankündigungen von Rot-Grün verloren. Die Gewerkschaften stellen mittlerweile die Machtfrage und drohen mit
Generalstreik. Zur Bekämpfung der Seuche Arbeitslosigkeit braucht Deutschland deshalb zuallererst ein Vertrauenswachstum und dann eine Strategie für wirtschaftliches Wachstum.
({5})
Der Chef der Bundesanstalt für Arbeit hat offenkundig den Überblick über das Ausmaß der Beschäftigungslosigkeit und die Finanzen verloren. Wie anders wäre es
zu erklären, dass im November vergangenen Jahres, also
jetzt bereits vor sechs Monaten, der Bundesrechnungshof festgestellt hat, dass annähernd 1 Million Arbeitslose
zu Unrecht in der Statistik aufgeführt sind und ein größerer Anteil davon zu Unrecht Geldleistungen erhält. Der
Schaden ist gewaltig: bei den Arbeitsämtern, aber auch
beim Finanzminister und bei den Kommunen.
Nach dem Bericht des Bundesrechnungshofs erhalten
367 000 Arbeitslose zu Unrecht Leistungen. Nun kann
sich jeder ausrechnen - dazu bedarf es keiner besonderen Mathematikkenntnissse -, wie viel das ist, wenn man
von einer durchschnittlichen Leistung für einen Arbeitslosen von derzeit 1 211 Euro pro Monat ausgeht. Wenn
man das für zwölf Monate hochrechnet, dann kommt
man auf eine Summe, die sich bei 5 Milliarden Euro bewegt.
Hinzu kommen nach dem Bericht des Bundesrechnungshofs die Anwartschaften für die so genannten
Nichtleistungsempfänger. Diesen wird die Altersvorsorge in der Regel in Form von Pauschalbeiträgen von
der Bundesanstalt für Arbeit überwiesen. Das sind nach
Angaben des Bundesrechnungshofs ebenfalls mehrere
Hunderttausend.
Angesichts dieser Zahlen ist mir einiges unbegreiflich. Es ist mir unbegreiflich, dass Herr Gerster diese
Steilvorlage des Bundesrechnungshofs nicht schon
längst genutzt hat, um Milliarden fehlgeleiteter Ausgaben einzusparen.
({6})
Es ist mir ebenso unbegreiflich, dass der Wirtschaftsminister nicht eingreift und lieber zusieht, wie ständig
neue Forderungen von der Bundesanstalt für Arbeit an
die Bundesregierung kommen, um den Etat entgegen allen Bekundungen aufzufüllen. Es ist ein noch schlimmeres Zeichen von Desorganisation, wenn die Verantwortung für diesen Skandal zwischen der Bundesanstalt und
dem Bundeswirtschaftsministerium hin und her geschoben wird und in einem kleinen Bermudadreieck verschwindet.
({7})
- In einem großen Bermudadreieck, richtig.
Ich sage Ihnen, Herr Staatssekretär Andres, der Sie
stellvertretend für die Bundesregierung hier sind:
({8})
Die Bundesregierung hat keine Legitimation, von den
Arbeitslosen harte Opfer zu verlangen, wenn sie es nicht
vorher schafft, die Milliardenverschwendung, die der
Bundesrechnungshof aufgedeckt hat, abzuschaffen.
({9})
Herr Kollege Singhammer, Sie haben nur fünf Minuten.
Ich komme zum Ende. ({0})
Der erste Schritt zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit
ist, dass die geltenden Gesetze eingehalten werden.
Wenn Sie das nicht schaffen, dann treten Sie ab!
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brandner.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ständig Aktuelle Stunden zum selben Thema zu beantragen, meine Damen und Herren
von der Opposition, zeugt nicht gerade von einem hohen
politischen Profil.
({0})
Ich habe den Eindruck, Sie beantragen die Aktuellen
Stunden, um Übungen zum Auswendiglernen im Parlament durchzuführen, nicht aber um neue Impulse zu setzen. Ich werde darauf zurückkommen.
({1})
Völlig klar ist doch, dass die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit tatsächlich das wichtigste Ziel in der Gesellschaft
und in der Politik ist.
({2})
Sie wollen sich im Bundestag mit Umbaumaßnahmen
der Bundesanstalt für Arbeit und immer wieder denselben Dingen beschäftigen. Ihnen fällt offenbar nicht viel
ein. Wie konzeptionslos und leer Ihre Auftritte sind,
zeigt eine Aussage Ihres obersten Arbeitnehmervertreters, Hermann-Josef Ahrens. Ich zitiere aus der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung vom 6. Mai 2003:
Auch das Unionskonzept schafft keine neuen Arbeitsplätze.
({3})
Ich frage mich, ob es wohltuend oder beschämend ist,
ein solches Eingeständnis öffentlich zu formulieren. Für
Sie ist es jedenfalls beschämend, wenn Sie Aktuelle
Stunden zu Themen wie Arbeitslosigkeit beantragen.
Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, die Arbeitslosigkeit abzubauen, anstatt uns regelmäßig Ihre Sprechblasen anhören zu müssen.
({4})
Meine Damen und Herren, die Lage ist schlecht, aber
nicht hoffnungslos. 4,5 Millionen Arbeitslose ist eine
hohe Zahl, die uns nicht zufrieden stellen kann.
({5})
Wir wollen nichts beschönigen. Allerdings ist die Lage
auch nicht so schlecht, wie Sie sie regelmäßig darstellen.
({6})
1998 gab es zwar etwas weniger Arbeitslose, aber
eine höhere Arbeitslosenquote. Es gibt immer noch beträchtlich mehr Arbeitsplätze als zu Kohls Zeiten: Circa
1 Million mehr Arbeitsplätze waren es 2002
({7})
und immerhin noch 800 000 Arbeitsplätze mehr werden
es 2003 sein. Auch das Erwerbspotenzial steigt laut
IAB-Studie in diesem Jahr noch um durchschnittlich
115 000.
In einer solchen Situation nur schwarz zu malen und
keine Konzepte zu haben, wie Herr Ahrens es öffentlich
zugibt, ist beschämend. Beschämend ist auch, dass Sie in
einer solchen Zeit Aktuelle Stunden beantragen und Zeit
verplempern, statt innovativ darauf hinzuwirken, dass
den Menschen in diesem Lande geholfen wird.
({8})
Mit der Agenda 2010 haben wir die notwendigen
Schritte eingeleitet. Dazu gehören ein aktiver Sozialstaat, das Konzept Fördern und Fordern als generelles
Prinzip, die Durchführung von Strukturreformen, die effiziente Sozialsysteme organisieren, wie auch geringe
Einschnitte, die aufgrund der Demographie notwendig
sind.
Wir stellen uns der Verantwortung. Wir setzen alles
daran, die Wachstums- und Vertrauenskrise zu überwinden. Sie aber setzen scheinbar alles daran, die Vertrauenskrise erst herzustellen. Damit helfen Sie keinem Arbeitslosen in diesem Land. Das sollten Sie sich bewusst
machen.
({9})
Fest steht: Mit den Maßnahmen, die wir einleiten, leiten wir auch psychologische Wirkungen ein. Diese werden auch Wachstumskräfte entfalten. Die Wirtschaft unterstützt jedenfalls unseren Kurs.
({10})
Insofern will ich betonen, dass wir für eine nachhaltige
Strategie eintreten, die auch notwendig ist, zum Beispiel
bei der Rückführung der Staatsverschuldung, die Sie uns
auf dem bisher höchsten Niveau hinterlassen haben. Allein die Arbeitslosigkeit verursacht Kosten in Höhe von
80 Milliarden Euro pro Jahr bzw. 18 300 Euro je Arbeitslosen.
Deshalb muss es uns gelingen, aus Arbeitslosen wieder Steuer- und Beitragszahler zu machen. Mit den Maßnahmen, die wir dafür vorbereitet haben, mit einem Infrastrukturprogramm für die Kommunen und der
Schaffung von Ausbildungsplätzen, zum Beispiel durch
einen Pakt für Ausbildung, sind wir auf dem richtigen
Weg.
Wir sollten die Arbeitgeber gemeinsam in die Pflicht
nehmen und uns den Diffamierungen von Interessengruppen widersetzen, wie kürzlich durch den Präsidenten des Zentralverbands des Deutschen Handwerks,
Philipp, der in, wie ich meine, diffamierender Weise den
Wegfall des Meisterzwangs - er bedeutet quasi die Modernisierung des Handwerks - nutzt, um deutlich zu machen, dass diese Maßnahme mit einem Schlag 60 000
Ausbildungsplätze kosten würde. Das ist Panikmache.
Helfen Sie mit, dass solchen Panikmachern das Handwerk gelegt wird! Damit leisten Sie in dieser Gesellschaft gute Dienste.
({11})
Lassen Sie mich noch eines anmerken. Das HartzKonzept beginnt zu greifen. Viele Maßnahmen dieses
Konzepts werden in den nächsten Monaten in Kraft treten. Die Quickvermittlung tritt am 1. Juli, die PersonalService-Agenturen treten derzeit in Kraft. Sie haben
zwar in der Welt immer wieder herumposaunt, die Personal-Service-Agenturen seien staatliche Vermittlungseinrichtungen; aber wir haben in allen Bereichen private
Personal-Service-Agenturen akquirieren können. Die
neuen Regelungen zu den Minijobs sind vor kurzem in
Kraft getreten. Einen enormen Schub verzeichnen wir
bei den Existenzgründern. Allein im April haben
8 763 Frauen und Männer mithilfe des Arbeitsamtes eine
Ich-AG gegründet. Die Gesamtzahl von Ich-AGs hat
sich inzwischen auf 16 000 erhöht, also mehr als verdoppelt.
Herr Kollege, auch Sie muss ich an die Zeit erinnern.
Weiterhin läuft das bewährte Instrument des Überbrückungsgeldes gut. Allein im April gab es 14 000 Neugründungen. Insgesamt waren es 50 000.
Helfen Sie, statt Polemik in diesem Hause zu verbreiten, mit, dass durch Existenzgründungen und Reformen
am Arbeitsmarkt die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpft
wird! Dann tun Sie ein gutes Werk für die Menschen in
diesem Land.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bisher habe ich gedacht, die rot-grüne Regierung macht schlechte Politik.
({0})
Das wäre schon schlimm genug für das Land. Nach Ihrer
Rede, Herr Kollege Brandner, merke ich, dass die Regierung an Realitätsverlust leidet. Das ist noch viel schlimmer. Das ist nämlich eine Katastrophe für dieses Land.
({1})
Herr Gerster hat gestern die Arbeitsmarktzahlen präsentiert. Im April dieses Jahres waren demnach
4,5 Millionen Menschen arbeitslos - und das in einem
Monat, in dem sich sonst die konjunkturelle Belebung
aufgrund des beginnenden Frühjahrs sehr positiv auf den
Arbeitsmarkt auswirkt! Das sind fast 500 000 mehr als
im gleichen Monat des Vorjahres, die höchste Arbeitslosenzahl, die jemals in einem April gemessen worden ist.
Auch saisonbereinigt ist die Arbeitslosenzahl weiter gestiegen - diesmal um 44 000 -, wie bereits seit Jahren
Monat für Monat. Trotzdem tun Sie so, als ob wir keine
Probleme hätten, und die Regierung tut so, als ob die
Opposition das Problem und nicht ihre furchtbare Politik
wäre.
({2})
Wir müssen den Menschen in diesem Land Chancen
geben, damit sie mitmachen können. Wir brauchen also
endlich Strukturreformen. Das bedeutet, dass das bisschen, was der Kanzler am 14. März angekündigt hat,
nicht wieder von Ihnen weichgespült werden darf. Wer
gesehen hat, wie die Ergebnisse der Hartz-Kommission
im Gesetzgebungsverfahren umgesetzt worden sind - aus
der angekündigten 1 : 1-Umsetzung ist eine 2 : 1-Umsetzung zugunsten von Engelen-Kefer und Konsorten geworden -, der kann sich vorstellen, dass dann von der
Agenda 2010 noch zwei Zehntel übrig bleiben. Das bringt
die Arbeitsmarktpolitik in diesem Land nicht voran.
({3})
Wir brauchen Strukturreformen, und zwar solche, die
dazu führen, dass Arbeitsplätze geschaffen werden, damit die Menschen die Chance bekommen, ihren Lebensunterhalt zumindest teilweise durch eigener Hände Arbeit zu verdienen. Wir müssen deshalb am Steuerrecht
ansetzen. Die Menschen und die Betriebe müssen mehr
von dem behalten können, was sie verdienen. Nur dann
können sie mehr konsumieren und investieren. Im Moment sitzen selbst diejenigen, die Geld haben, auf ihrem
Geld; denn angesichts Ihrer Politik weiß niemand mehr,
ob er Vertrauen in die Zukunft haben kann. Das muss als
Allererstes geändert werden.
({4})
Wir brauchen Strukturreformen in den sozialen Sicherungssystemen. Das, was der Bundeskanzler angekündigt
hat - und was Ihre Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertreter massiv zu boykottieren versuchen -, ist nur ein
Trippelschritt in die richtige Richtung. Auch wenn das im
Wesentlichen keine neuen Arbeitsplätze schaffen wird,
entwickelt es vielleicht eine positive psychologische Wirkung, sodass die Menschen wieder Vertrauen in die Zukunft haben und dass dann wieder Arbeitsplätze geschaffen werden. Deshalb ist es so wichtig, dass sich Ihr
Kanzler Ihnen gegenüber durchsetzt. Wenn er das nicht
schafft, dann ist er die längste Zeit Kanzler gewesen.
({5})
Wir brauchen auch Reformen im Arbeitsrecht. Es
kann doch nicht sein, dass gut gemeinte Vorschriften das
Kartell der Arbeitsplatzbesitzenden zulasten der Arbeitsuchenden weiter absichern. Es muss doch möglich sein,
dass Vorschriften, die nach unser aller Erkenntnis dazu
führen, dass die Menschen nicht mehr in den Arbeitsprozess zurückkehren, revidiert und reformiert werden, damit diejenigen, die außerhalb des Arbeitsmarktes sind,
wieder eine Chance haben, mitzumachen. Das sollte eine
soziale Aufgabe sein. Ich möchte wirklich wissen, wo
die SPD ihre sozialdemokratische Seele gelassen hat!
({6})
Wir brauchen außerdem Reformen in der Bundesanstalt für Arbeit. Es reicht nicht, wenn Herr Gerster sagt,
dass diejenigen, die, obwohl sie Geld bekommen oder
Ansprüche erwerben, nicht verfügbar sind, aus der Statistik herausgenommen werden könnten. Nein, wer nicht
verfügbar ist, der ist bei den Arbeitsämtern als Leistungsempfänger fehl am Platz. Wenn die Regierung
meint, dass 25-jährige Männer oder 25-jährige Frauen
Kindergeld bekommen sollen, dann soll sie es im Bundeskindergeldgesetz und nicht über die Bundesanstalt
für Arbeit regeln. Das wäre ein sauberer Weg.
({7})
Wir müssen also dafür sorgen, dass diejenigen, die Leistungen beziehen, tatsächlich in der Lage und bereit sind,
einen Arbeitsplatz anzunehmen.
Wir brauchen des Weiteren eine Reform der Bundesanstalt für Arbeit selbst. Bisher ist nur der Kopf ausgewechselt worden. Viel mehr ist nicht geschehen. Aber
wie soll Herr Gerster denn erfolgreich sein, wenn er - er
ist teilweise mit guten Ideen vorstellig geworden - von
den eigenen Genossen in der Regierung und von dem
Apparat in Nürnberg blockiert wird? Das bedeutet, dass
wir das ganze System verändern müssen. Die Bundesanstalt für Arbeit muss eine neue Struktur bekommen. Sie
muss in eine Versicherungsagentur und in eine Arbeitsmarktagentur aufgeteilt werden. Die Versicherungsagentur - das kann durchaus eine selbstverwaltete Körperschaft sein - sorgt für die Gewährleistung des
Lebensunterhalts. Die Arbeitsmarktagentur wird für eine
Redemokratisierung der Arbeitsmarktpolitik sorgen, sodass wir in den Haushaltsberatungen über den effizienten Einsatz der Mittel entscheiden können. Das wäre der
richtige Weg.
({8})
Um Arbeitsplätze schaffen und vorhandene Arbeitsplätze schnell vermitteln zu können, brauchen wir Jobcenter, und zwar nicht solche, wie Sie sie im Rahmen der
Hartz-Kommission konzipiert haben, sondern solche, die
die gesamte Vermittlungskompetenz in Deutschland zurate ziehen. Das heißt, wir müssen auch diejenigen einbeziehen, die als Träger der Sozialhilfe hervorragende
Arbeit bei der Vermittlung von besonders schwierigen
Fällen geleistet haben. Gerade vor dem Hintergrund der
Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe
müssen die Landkreise und die Gemeinden einbezogen
werden; denn sonst werden die Jobcenter allein bei der
Bundesanstalt für Arbeit angesiedelt und Kostenentscheidungen zulasten der Träger der Sozialhilfe getroffen. Das wollen wir verhindern.
All das haben Sie, Herr Brandner, nicht erwähnt. Sie
haben stattdessen die Opposition ersatzweise für Ihre
schlechte Politik beschimpft. So holen Sie keinen Arbeitslosen von der Straße.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Fritz Kuhn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Niebel, es war schon eine starke Leistung, dass Sie
es fertiggebracht haben, der SPD innerhalb von nur fünf
Minuten vorzuwerfen, sie sei sowohl zu viel als auch zu
wenig sozialdemokratisch.
({0})
Daran zeigt sich, dass Sie das, was Sie sagen, nicht ernst
meinen. Sie müssen sich meines Erachtens für einen dieser beiden Vorwürfe entscheiden.
Zur Sache: Es ist doch völlig klar, dass die Zahlen
richtig schlecht sind. Die Arbeitslosigkeit ist enorm
hoch.
({1})
Für uns ist entscheidend, ob wir die Talsohle mittlerweile erreicht haben und ob wir aus dieser Situation gemeinsam herauskommen oder nicht. Die Zahlen kann
man aber nicht beschönigen; auch ich will das nicht tun.
Die Union spricht jetzt davon, dass es sich um die
schlimmsten Zahlen nach dem Krieg handelt. Schauen
Sie sich einmal die Rahmenbedingungen an! 1997 gab es
4,34 Millionen Arbeitslose,
({2})
bei einem Wachstum des Bruttosozialprodukts von
2,1 Prozent. 1998 gab es 4,42 Millionen Arbeitslose bei
einem Wachstum von 3,1 Prozent.
({3})
Das heißt, in Ihrer Regierungszeit war die Arbeitslosigkeit sehr hoch - sie lag sehr nahe bei dem heutigen Wert -,
allerdings unter völlig anderen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.
({4})
Darauf hinzuweisen relativiert zwar Ihre Argumente,
nützt uns aber praktisch überhaupt nichts.
Ich möchte nun auf das zu sprechen kommen, was
jetzt geschehen muss. In der heutigen Lage hilft nur ein
umfassendes Paket von Maßnahmen, deren einziges Ziel
die Ermöglichung von Investitionen in neue Arbeitsplätze ist. Für meine Fraktion ist ganz klar: Die Eckpunkte der Agenda 2010 müssen umgesetzt werden, vor
allem mit dem Ziel, die - zu hohen - Lohnnebenkosten
zu senken.
({5})
Das ist entscheidend. Wenn die Lohnnebenkosten nicht
sinken, dann wird es in der Bundesrepublik keinen Impuls zur Schaffung neuer Arbeitsplätze geben. Da der
Bundesrat den meisten Gesetzentwürfen, mit denen die
Agenda 2010 umgesetzt werden soll, zustimmen muss,
wird es sehr darauf ankommen, dass die Union für die
damit verbundenen Initiativen hier mit eintritt.
Außerdem wird die Steuerreform in Kraft treten, und
zwar, wie beschlossen, zum 1. Januar 2004. Die Wirtschaft geht davon aus, dass die Steuersätze ab diesem
Zeitpunkt sinken. Davon wird vor allem der Mittelstand
profitieren.
({6})
Zum 1. Januar 2005 wird dann die nächste Stufe der
Steuerreform in Kraft treten. Sie, Herr Schauerte, haben
keine finanzierbare Alternative vorgeschlagen.
({7})
Im Gegenteil, Ihre Parteikollegen haben die Sanierung
der öffentlichen Haushalte, also auch der Haushalte der
Gemeinden, durch ihr Verhalten im Bundesrat blockiert.
Auch das behindert uns jetzt im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.
({8})
Ich möchte etwas zu den Vorschlägen der Hartz-Kommission sagen. Herr Laumann und andere Experten der
Union sollten wirklich wissen, welche von der HartzKommission vorgeschlagenen Punkte schon greifen
können und welche nicht. Mancher Vorschlag ist gesetzlich noch gar nicht umgesetzt. Herr Laumann hat gestern
über die Pressestelle der CDU erklären lassen, die Vorschläge der Hartz-Kommission seien von Anfang an ein
Flop gewesen. Das war nichts als Propaganda.
Die Förderung der Minijobs ist schon sehr gut angelaufen.
({9})
- Sie haben den entsprechenden Vorlagen doch zugestimmt. Auch Sie wollten es doch. Unsere Positionen liegen nicht weit auseinander.
({10})
- Jetzt beruhigen Sie sich doch einmal! Die Mittagspause ist schon vorbei; seien Sie nicht so nervös.
Vieles von dem, was bisher Schwarzarbeit war, wird
jetzt legal über Minijobs geleistet. Unsere Erwartungen
in die Leiharbeit dagegen sind noch nicht erfüllt worden.
Warum? Die Personal-Service-Agenturen werden gerade
aufgebaut und alle, die etwas davon verstehen, wissen,
dass das Instrument Leiharbeit erst greifen kann, wenn
das Beschäftigungsvolumen wieder zunimmt.
({11})
Entscheidend wird sein, ob Unternehmer, wenn die Konjunktur wieder anzieht, das zusätzliche betriebliche Beschäftigungsvolumen wieder über Überstunden abdecken werden - das ist der traditionelle Weg - oder ob sie
die Angebote der Personal-Service-Agenturen in Anspruch nehmen und die Arbeit gerecht aufteilen werden.
Erst wenn die Entwicklung so weit vorangeschritten ist
und die Jobcenter eingerichtet sind, können Sie über die
Vorschläge der Hartz-Kommission richten.
Meines Erachtens ist es eine unverantwortliche Oppositionspolitik, ein Instrument, das noch nicht voll etabliert ist, das noch nicht greifen kann, schon schlecht zu
reden. Damit machen Sie sich für die Verschlechterung
der Stimmung mit verantwortlich. Ich verstehe, dass eine
Opposition sagen muss, was schief läuft, aber wenn die
Opposition in der Stunde der Verantwortung aus eigenem Kalkül die Stimmung zusätzlich schlecht redet,
({12})
dann versündigt sie sich an den Arbeitslosen. Das sollte
sie meines Erachtens nicht tun.
({13})
Dann komme ich noch zu einem Punkt, der die Finanzpolitik betrifft.
Nur noch einen ganz kurzen Satz. - Natürlich müssen
wir die Bedingungen für Investitionen so verbessern,
dass Innovationen verstärkt werden, vor allem indem wir
tatsächlich in Bildung und Forschung investieren. Die
Haushalte müssen aber die Spielräume dazu hergeben.
Deswegen sind alle, die sich bei Subventionskürzungen
verweigern, wie Sie es tun, mit verantwortlich. Sie haben schließlich keinen Vorschlag zum Abbau der Subventionen in der Bundesrepublik Deutschland eingebracht,
({0})
zu dem Sie dann auch wirklich stehen,
({1})
zu dem Sie dann auch mit Ihrer Ländermehrheit stehen.
({2})
Nur wenn Subventionen abgebaut werden, können wir
zusätzlich investieren. Auf Schuldenbasis können wir im
Hinblick auf die Generationengerechtigkeit, die für uns
wichtig ist, nicht investieren.
Punkt!
({0})
Fazit: alle zusammen! Dann wird es gehen. - Ich bin
schon am Ende, Frau Präsidentin.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim
Fuchtel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute
sagt der Kollege Kuhn hier: Es ist doch völlig klar, dass
die Lage schlecht ist. - Vor nicht einmal zwei Monaten
haben dieselben Leute von der Koalition hier dafür gesorgt, dass der Nullzuschuss bei der Bundesanstalt für
Arbeit mit Mehrheit durchgesetzt wurde.
({0})
Das ist die wirkliche Lage.
({1})
Allen Warnungen zum Trotz ist das von Ihnen so gemacht worden. Sie haben vorgegaukelt, dass es mit Ihren
Wunschträumen weitergehen würde.
Das ist vorbei. Jetzt gestehen Sie selbst zu, dass ein
zusätzlicher Bedarf von 7,5 Milliarden Euro besteht.
Merken Sie eigentlich nicht, dass Sie von der Realität
immer schneller eingeholt werden? Herr Brandner, was
Sie hier gesagt haben, ist ein Skandal ersten Ranges.
Noch nie hat es in Deutschland so viele junge Arbeitslose gegeben wie unter Rot-Grün, nämlich 522 000. Und
da sagen Sie: Die Lage ist doch eigentlich gar nicht so
schlecht. - Ich kann mir nur wünschen, dass möglichst
viele Leute am Fernseher mitbekommen, was die SPD in
dieser Situation an Arroganz an den Tag legt.
({2})
Die Wahrheit ist, dass nunmehr zusätzliche Ausgaben
in Höhe von 12 Milliarden Euro prognostiziert werden.
Selbst dann, wenn einige Ihrer Maßnahmen wirken, stehen immer noch 10 Milliarden Euro neue Schulden an,
die nicht verkraftet werden können.
({3})
- Sie sagen es zu Recht, Herr Kollege Niebel: ohne das,
was sonst noch gefordert wird.
Unter der Führung der Rot-Grünen steuert dieses
Land auf eine Arbeitsmarkt- und Haushaltskatastrophe
zu. Das muss verhindert werden.
({4})
Das gilt ganz besonders auch vor dem Hintergrund, dass
es in Europa Länder gibt, die gezeigt haben, dass man es
auch anders machen kann. Herr Kuhn, Sie haben auf das
Jahr 1997 - Wachstum: 3,1 Prozent - rekurriert. Hätten
Sie in der Opposition damals über den Bundesrat nicht
alles blockiert, was im Bundestag bereits beschlossen
worden war - das ging von der Steuerreform bis hin zu
den Reformen der Sozialsysteme -, dann hätte dieses
Land die Kurve gekriegt und wir stünden so gut da wie
andere Länder in Europa. Auch das haben Sie zu verantworten.
({5})
Aus der Sicht des Haushaltspolitikers ist es in der jetzigen Situation in besonderem Maße schädlich, dass wir
weitere konsumtive Ausgaben tätigen und diese über
Schulden finanzieren müssen. Wir bräuchten investive
Ausgaben, damit ein wirtschaftlicher Prozess in Gang
gesetzt werden kann. Was sich hier abspielt, ist Gift für
die Wirtschaft. Das haben Sie zu verantworten - niemand anders! Wir sehen, wie wenig Abgeordnete Ihrer
Fraktion jetzt hier sind. Wenn Sie für die Leute im Lande
eintreten wollen und hier gerade mal ein Dutzend Abgeordnete auftauchen, dann müssten Sie sich eigentlich
schämen.
({6})
Ich möchte jetzt noch etwas Konkretes zu dem sagen,
was wir bei den Beratungen in der Praxis erleben. Herr
Gerster, Vorstandsvorsitzender der Bundesanstalt für Arbeit, war fünfmal persönlich zu Terminen in den Haushalts- und den Rechnungsprüfungsausschuss bestellt.
Viermal ist dieser Mann nicht erschienen.
({7})
Das ist doch keine Zusammenarbeit mit dem Parlament!
Der Vorsitzende des Rechnungsprüfungsausschusses,
der SPD-Abgeordnete Rübenkönig, hat ihm erst vor kurzem geschrieben:
Die Mitglieder des Rechnungsprüfungsausschusses
haben mit großer Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass Sie ... nicht teilnehmen werden und
Ihre Absage nicht einmal persönlich mitgeteilt haben.
Nachdem fraktionsübergreifend der Wunsch geäußert worden war, Sie als Vorstandsvorsitzenden der
Bundesanstalt für Arbeit persönlich zu dieser Sitzung einzuladen, möchte ich hiermit mein Bedauern darüber äußern, dass Sie als ehemaliger ParlaHans-Joachim Fuchtel
mentarier offenbar keinen großen Wert auf eine
konstruktive Zusammenarbeit mit dem Parlament
legen.
Meine Damen und Herren, das ist die Wahrheit. Da zeigt
sich doch, wie marode das alles mittlerweile ist und dass
Sie die Lage nur noch abwickeln.
({8})
Bezüglich des Haushalts - dazu wollte ich eigentlich
reden - haben Sie die neue Formulierung geprägt: Das
ist nicht wirklich so gewollt. - Jede Aussage muss erst
daraufhin untersucht werden, ob sie überhaupt belastbar
ist. Das, was Sie im Bundeshaushalt für die Bundesanstalt veranschlagt haben, können Sie so wirklich nicht
gewollt haben, denn es ist nicht belastbar.
({9})
Insofern kann ich Ihnen nur zurufen: Gehen Sie auf
die Opposition zu,
({10})
versuchen Sie zusammen mit der Opposition, wirklich
einen Beitrag zur Konsolidierung des Haushalts der
Bundesanstalt für Arbeit zu leisten, und hören Sie, Herr
Kollege Brandner, mit solchen Mätzchen der Oberflächlichkeit, wie Sie sie vorhin geboten haben, auf!
Vielen Dank.
({11})
Jetzt hat der Abgeordnete Hans-Werner Bertl das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Im Angesicht der bedrückenden Situation von
fast 4,5 Millionen Menschen ohne Arbeit brauchen wir
hier keine ideenlosen Inszenierungen. Nötig sind Konzepte, Maßnahmen und Antworten,
({0})
die nachhaltig wirken und auch Unternehmensführungen
in den Stand versetzen, die Marktfähigkeit von intelligenten Produkten und Dienstleistungen aus unserem
Land vor allen Dingen mit qualifizierten Mitarbeitern
real und tatsächlich zu erhalten oder wiederherzustellen.
Das ist die einzige Chance, den Menschen in unserem
Land Arbeit und soziale Sicherheit zu verschaffen.
({1})
Wie sieht die Realität in diesem Land aus, leider auch
bei der Opposition? Jedwede Interessenvertretung in unserem Land beteiligt sich scheinbar hoch motiviert und
von Einsichtsnotwendigkeit getrieben an der Präsentation ihrer Vorschläge, die unter vielfältigen Überschriften laufen: Bürokratieabbau, Subventionsabbau, Deregulierung oder Bewahrung alles Alten. Letztendlich
verkommt das Ganze zu Ritualen, mit denen nur noch eigene Interessen und Besitzstände für das Hier und Jetzt
zementiert werden. Der Finger der massiven Aufforderung, alles zu verändern, zeigt dabei immer auf die anderen. Anscheinend heißt die Philosophie bei uns - dieses
Fazit ziehe ich -: Es muss dringend alles anders werden,
aber bei uns darf sich nichts ändern. Doch wir alle wissen: Wenn wir das europäische Sozialstaatsmodell erhalten wollen und die Lebensrisiken von Menschen absichern wollen, müssen wir das für alle trag- und ertragbar
gestalten.
Wir haben einen Berg fehlerhafter früherer Entscheidungen abzuarbeiten.
({2})
Ich sage aber auch: Das Jammern hilft heute gar nichts.
Entscheidend ist: Mit den bereits verabschiedeten bzw.
anstehenden Maßnahmen zur Neugestaltung der Arbeitsmarktpolitik bzw. der Sozialpolitik gehen wir zugegebenermaßen einen schweren und vielleicht auch für manchen zu schweren Weg - eben weil vieles anders werden
muss.
({3})
Zu viel von dem, an das wir uns gewöhnt haben, war übrigens geprägt von der Philosophie, es jetzt uns möglichst einfach zu machen; die Belastungen aber für diejenigen, die nach uns dran sind, sind dabei häufig aus dem
Blickfeld geraten.
Von der Opposition habe ich bis heute keine Antworten auf die drängenden Fragen erhalten.
({4})
Machen Sie dabei mit, dass sich Menschen in Deutschland einfacher selbstständig machen können? Machen
Sie mit, dass man sich in kaum gesehenen Nischen unserer Wirtschaft in eine geregelte Wertschöpfungskette begeben kann?
({5})
Machen Sie mit, die notwendige Qualifizierung gerade
der vielen Langzeitarbeitslosen so zu gestalten, dass sie,
die Betroffenen, eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben und nicht vorrangig die Interessen der am Markt
agierenden Träger? Machen Sie mit, über 70 Prozent der
Unternehmen in Deutschland zu motivieren, sich der
Verantwortung für die Generation der jetzigen Schulabgänger zu stellen? Und wenn diese das nicht tun: Machen Sie dabei mit, Konsequenzen zu ziehen?
({6})
Statt den Bundestag als Plattform für ideologische Auseinandersetzungen zu sehen, ist das Mitmachen gefragt,
um ganz real dafür zu sorgen, dass junge Menschen nach
ihrer Schullaufbahn eine Perspektive geboten bekommen.
Mir fallen noch viele Fragen ein, die ich Ihnen als Opposition stellen könnte, auf die wir bis heute keine Antwort bekommen haben.
({7})
- Ja, man müsste eine Fragestunde für Fragen an die Opposition einführen, dann hätten wir es manchmal etwas
leichter.
({8})
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Die Flucht in die alten Antworten hilft nicht weiter. Wir werden Antworten
geben müssen und Wege gehen müssen, die vielleicht
unbequem sind.
({9})
Auch Sie als Opposition werden sich vor diesen Antworten nicht drücken können.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Abgeordnete Vera Lengsfeld.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Seit Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung
ist die Schere zwischen den alten und den neuen Ländern
weiter aufgegangen und die Arbeitslosigkeit erreicht mit
108 000 Arbeitslosen mehr als vor einem Jahr neue Rekordhöhen. Das als Wunderwaffe angepriesene HartzKonzept entpuppt sich besonders in den neuen Ländern
als Rohrkrepierer.
Nehmen wir doch einmal, Herr Kollege Brandner, die
von Ihnen gelobten Personal-Service-Agenturen, von
denen ja erst wenige gegründet sind. Ich sage Ihnen:
Diese PSA sind Staatswirtschaft à la DDR.
({0})
Sie werden nicht funktionieren, denn sie bringen die
Menschen in staatliche Abhängigkeit statt in Arbeit.
({1})
Ein Vorhaben von Herrn Hartz war, mithilfe einer Kapitalmarktanleihe der Kreditanstalt für Wiederaufbau
150 Milliarden Euro zur Förderung des Mittelstandes
und zum Ausbau der Infrastruktur in Ostdeutschland zu
beschaffen. So sollten 1 Million neue Arbeitsplätze entstehen.
({2})
Um Investitionen in das Jobfloater genannte Wertpapier,
das besser Jobflopper genannt werden sollte, attraktiv
zu machen, sollen Anleger steuerliche Vorteile erhalten.
Das Konzept war von Anfang an verfehlt. Die Neueinstellungen werden subventioniert. Trotz dieses zweifelhaften Ansatzes wurden in den neuen Ländern nicht einmal 500 Neueinstellungen erreicht. Inwieweit es sich
hierbei um reine Mitnahmeeffekte handelt, kann nur vermutet werden. Die Kunstjobs aus dem Hartz-Paket hätten am Markt ohne Staatssubvention keine Überlebenschance; mit Staatssubvention machen sie dem Mittelstand ungebührlich Konkurrenz.
({3})
Es war klar, dass sich mit den vorgeschlagenen Förderprogrammen die hartnäckigen Strukturprobleme am
Arbeitsmarkt im Osten nicht lösen lassen würden. Unsere Wirtschaft ist überwiegend mittelständisch strukturiert und hat wenig Eigenkapital. Gerade die Klein- und
Mittelbetriebe leiden unter der hohen Bürokratiebelastung sowohl auf der Kosten- als auch auf der Personalseite. Während der Mittelstand den vollen Kapital- und
Eigentümerrisiken ausgesetzt ist, bürgt der Staat für die
finanziellen Risiken seiner Unternehmen. So wird der
Wettbewerb zulasten des Mittelstandes verzerrt.
Der permanente Ruf nach dem Staat zur Korrektur
unbefriedigender Marktergebnisse ist das falsche wirtschaftspolitische Signal und verringert die Fähigkeit, unternehmerische Antworten im Markt selbst zu finden.
({4})
Der Staat muss endlich Rahmenbedingungen setzen, die
die Kräfte der Selbstregulierung in der Wirtschaft stärken. Interventionistische Eingriffe müssen auf ganz wenige Ausnahmen beschränkt bleiben.
({5})
- Dazu hatte ich seinerzeit noch gar keine Gelegenheit.
({6})
- Jetzt können Sie einmal zuhören, Herr Kollege, jetzt
kommen nämlich meine Vorschläge.
({7})
Angesichts der katastrophalen Situation am Arbeitsmarkt ist Mut gefragt, der Mut, unpopuläre Maßnahmen
endlich einzuleiten.
({8})
- Hören Sie doch zu, ich sage es Ihnen ja jetzt!
({9})
Wir brauchen in den neuen Ländern mehr Freiräume,
um den Rückstand bei Wachstum, Beschäftigung und
Produktivität aufzuholen.
({10})
Wichtige Schritte auf diesem Weg sind Bürokratieabbau,
Senkung der Lohnnebenkosten, Deregulierung des Arbeits-, Bau- und Planungsrechts und vor allem die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Das Problem in den
neuen Ländern ist der unflexible Arbeitsmarkt. Internationale Vergleiche zeigen deutlich, dass mit einer geringeren Regulierungsdichte auf dem Arbeitsmarkt höhere
Beschäftigung möglich ist. Barrieren für Neueinstellungen bei Betrieben müssen fallen.
Die Bundesländer benötigen mehr Spielräume. In vielen Bereichen ist die Zeit bundeseinheitlicher Regelungen überholt. Ersten Initiativen der mitteldeutschen Länder über den Bundesrat, die Lage in Deutschland zu
verändern, werden weitere folgen.
Wir brauchen in den neuen Ländern - mehr als
anderswo - eine grundlegende Reform des Arbeitsmarktes. Nötig sind: Reform der Tarifpolitik, flexiblere Formen der Entlohnung, Änderung in der betrieblichen Mitbestimmung, flexiblere Reformen der Arbeitszeitgestaltung,
grundlegende Reform des Umschulungs- und Weiterbildungsbereiches für Arbeitslose und konsequente Durchforstung von Verordnungen und Vorschriften, die den
Arbeitsmarkt belasten.
Wir müssen auch die ABM überdenken. Wenn Herr
Gerster, der bislang eher als Raumausstatter der Nation
aufgefallen ist,
({11})
vorschlägt, die Zahl der Teilnehmer an Beschäftigungsprogrammen wieder zu erhöhen, ist das genau der falsche Weg. Wir kommen an einem Umdenken nicht vorbei. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen waren und sind
leider selten die erhoffte Brücke in die reguläre Beschäftigung. Ganz im Gegenteil: Sie sind eher eine Fortsetzung des Sozialismus mit Westgeld. Der Sozialismus
- das sage ich Ihnen - wird auch mit Westgeld nicht
funktionieren.
({12})
Es gibt ernst zu nehmende Anzeichen dafür, dass sich
die Beschäftigungschancen verschlechtern und Teilnehmer an Maßnahmen ihre Suchbemühungen reduziert haben.
({13})
- Ja, sicher. Ich kritisiere das ganz allgemein. Aber gerade habe ich mich darauf bezogen, dass Sie dabei sind,
die Mittel dafür wieder zu erhöhen, statt sie abzubauen.
({14})
Zudem sind arbeitsmarktpolitische Aktivitäten teuer.
Diese Mittel wären für Investitionen besser eingesetzt.
Weil Arbeitsmarktpolitik nicht flächendeckend durchgeführt werden kann, ist sie außerdem ungerecht. Die
ABM kaschieren viel. Der Druck wird kurzzeitig gemildert; die Probleme werden aber nicht gelöst. Dabei ist
Problemlösung doch das, was wir von der Regierung
wirklich erwarten können.
({15})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anja Hajduk.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist wahrlich dramatisch. Die uns gestern vorgestellten Zahlen markieren
einen traurigen Höchststand. Aber ich glaube, statt im
Parlament einen Streit über diese Fakten zu entfachen,
sollten wir alle diese Fakten unseren Debatten zugrunde
legen. Das heißt aber auch - das sage ich jetzt in Richtung Opposition -: Der Streit sollte sich nicht in dem
Vorwurf erschöpfen So haben sich die Zahlen entwickelt, so dramatisch ist die Lage!, Hauptstreitpunkt
sollte vielmehr sein, mit welchen Instrumenten wir die
Lage verändern können.
({0})
Wir sollten über alternative Instrumente diskutieren und
streiten, anstatt nur den Vorwurf zu wiederholen: Es ist
ein Höchststand erreicht. - Denn zu allen Zeiten lassen
sich Höchststände errechnen.
({1})
Diesen Anspruch habe ich an die Opposition, aber auch
an uns selbst. Wir sind gut beraten, wenn wir der dramatischen Lage Rechnung tragen und sie der betroffenen
Öffentlichkeit deutlich machen.
({2})
- Ich komme jetzt zu den Vorschlägen.
Es ist keineswegs so, als gebe es keine Vorschläge.
Ganz im Gegenteil: Die Agenda 2010, die jetzt zur Diskussion steht, und die Entscheidungen, die wir im Rahmen der Umsetzung des Hartz-Konzeptes getroffen haben, sind ohne Alternative. Die dramatischen Zahlen
bestärken uns darin, mit den Reformen weiterzugehen.
({3})
- Wir machen das. Ich gucke zu Ihnen, weil Sie vorhin
gesagt haben, all diese Bausteine würden nicht wirken.
Zu dieser Aussage lassen sich leider auch einige Redner
der Union immer wieder hinreißen. Das ist aber falsch.
({4})
Das wissen auch Sie; denn Sie haben einige Vorschläge
ganz bewusst mitgetragen. Bei den Minijobs haben Sie
sogar einige Vorschläge formuliert, bevor wir es getan
haben.
({5})
Ist es denn schlimm, wenn wir Ihnen heute Recht geben?
Lassen Sie uns doch ehrlich sagen, welche Instrumente
es zur Lösung der Probleme gibt!
({6})
Dabei sollten Sie dann bitte aber auch mitmachen.
({7})
Es gibt Unterschiede; über diese sollten wir streiten.
Aber Sie verteufeln aus der Opposition heraus immer alles. Davor möchte ich Sie warnen. Denn ich sagte: Die
Lage ist dramatisch. Die Erwartung der Bürger richtet
sich an alle Politiker in der Opposition und in der Regierung. Natürlich sind wir in der Regierung besonders verantwortlich; das will ich nicht leugnen.
({8})
Ich will Sie auf noch etwas hinweisen: Obwohl wir
bestimmte Schritte gehen, zum Beispiel die Agenda
2010 und auch die Hartz-Reformen - auch Sie wissen,
dass das teilweise noch nicht wirken konnte, weil die
Gesetze erst in Kraft treten müssen; wir hoffen, dass sie
wirken werden -, steht eines fest: Es gibt in der Arbeitsmarktpolitik keine Wunder. Wir sollten der Öffentlichkeit ehrlich sagen: Eine Besserung wird erst nach dem
nächsten Wahltag erfolgen. Diese Ehrlichkeit sollten wir
haben. Denn Reformen in solch einem Gebiet sind nicht
falsch, wenn sie nicht kurzfristig wirken. Vielmehr sollten wir alle ehrlich genug sein, zu sagen: Wir werden in
Deutschland in der Arbeitsmarktpolitik über mehrere
Jahre ein Problem haben. Wir sind gut beraten, da keine
falschen Erwartungen zu wecken.
Trotzdem brauchen wir Reformen. Dass es keine arbeitsmarktpolitischen Wunder gibt, das wissen Sie selbst
aus der langen Zeit Ihrer Kohl-Regierung. Herr Kuhn hat
zu Recht darauf hingewiesen, dass auch Sie bei günstigeren Wachstumsbedingungen eine schlechte Bilanz hatten.
Deswegen sage ich: Es gibt keine arbeitsmarktpolitischen Wunder. Aber Reformschritte sind notwendig; wir
brauchen sie. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie
auffordern, konkrete Alternativen zu benennen.
({9})
Dann können wir zusammen etwas machen.
Denn wir brauchen für sehr viele Reformen Kooperation. Wir brauchen eine Kooperation zwischen der Bundes- und der Länderebene. Deswegen werden Sie erleben, dass wir Ihre Vorschläge konstruktiv aufnehmen.
Denn es nützt gar nichts, wenn wir uns gegenseitig für
schwierige Situationen verantwortlich machen. In dem
Moment, in dem wir einen Vorschlag zu einer Veränderung machen, erwarte ich von Ihnen, dass Sie bei dieser
Veränderung zum Teil mitmachen oder Alternativen einbringen, die wir dann konkret bewerten können.
({10})
Eines ist für mich ausschlaggebend und klar: Wir
müssen den Faktor Arbeit entlasten. Ein größeres Problem als die steuerliche Belastung ist die Belastung
durch die Lohnnebenkosten. Wir befinden uns in einem
Teufelskreis steigender Arbeitskosten, was Arbeitslosigkeit bewirkt, unterdurchschnittliches Wachstum generiert und zu großen Finanzproblemen führt. Um aus diesem problematischen Kreislauf herauszukommen,
müssen wir die Lohnnebenkosten senken.
({11})
Wir kommen um schwere Einschnitte nicht herum.
Vor dem Hintergrund, dass wir eine alternde Gesellschaft sind - auch das ist ein wichtiges Thema -, brauchen wir
({12})
wesentlich mehr Investitionen und Innovationen. Wir
brauchen neue Freiräume in einem beengten Haushalt,
um zukünftig mit weniger Arbeitsplätzen die volkswirtschaftliche Basis zu erwirtschaften, die wir für eine alternde Gesellschaft brauchen.
Dazu gehört extrem viel Kooperation im politischen
Feld. Ich freue mich, dass Sie mir in einigen Punkten
meiner Rede sehr viel Zustimmung haben zukommen
lassen. Damit wäre vielleicht ein Grundstein für die
nächsten Monate gelegt.
({13})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt
guten Grund, sich über die dramatischen Arbeitslosenzahlen zu erregen. Doch ich verstehe nicht, warum das
gerade die Damen und Herren von der CDU/CSU tun.
Sie haben noch kein Rezept gegen die Arbeitslosigkeit
vorgetragen. Was Sie als Alternative zur Agenda 2010
vorgelegt haben, ist nicht besser, sondern nur grausamer.
Ein Beispiel: Die Regierung will das Arbeitslosengeld auf das Niveau der Sozialhilfe kürzen.
({0})
- Genau, die Arbeitslosenhilfe. Gut, dass Sie genau zuhören, Herr Kollege Niebel. Das finde ich Klasse.
({1})
Dies ist eine alte Forderung der CDU/CSU. Das reicht
Ihnen aber jetzt nicht mehr. Sie fordern die Absenkung
der Sozialhilfe um 30 Prozent, wenn ein Sozialhilfeempfänger eine bestimmte Arbeit ablehnt.
({2})
Dafür erhalten Sie in bayerischen Bierzelten sicherlich
viel Beifall.
({3})
Aber Sie befinden sich, so glaube ich, in vielen Fällen
neben der Realität. Schauen wir uns einmal das Heimatland von Frau Merkel, Mecklenburg-Vorpommern, an.
Dort kommen auf einen Arbeitsplatz 22 Erwerbslose.
({4})
100 000 Menschen bekommen eine Arbeitslosenhilfe
von durchschnittlich 469 Euro und 44 000 Menschen bekommen eine Sozialhilfe von durchschnittlich 279 Euro.
({5})
Frau Merkel will von den 279 Euro noch 30 Prozent abziehen.
({6})
Dann bleiben noch 195 Euro zum Leben. So viel bezahlt
Frau Merkel für ein ordentliches Abendessen in einem
Berliner Luxusrestaurant.
Ich frage Sie: Wie soll davon ein Mensch in Würde
leben? Es kommt aber noch schlimmer: Der Chef der
Bundesanstalt für Arbeit, Herr Gerster, legt Quoten für
Sperrzeiten fest, wie die Wirtschaftswoche berichtet.
Das heißt, jeder nichtige Grund wird jetzt genutzt, um
den Arbeitslosen das Arbeitslosengeld zu sperren. Das
Ergebnis sind nicht weniger Arbeitslose, sondern Arbeitslose, die weniger Geld bekommen.
Dabei gibt es eine Menge Alternativen: Erstens. Wir
müssen Steuergerechtigkeit herstellen. Es müssen diejenigen besteuert werden, die genug Geld haben. Ich kann
es auch gern wiederholen: Ein Baustein ist die Wiedereinführung der Vermögensteuer, die von der rot-grünen
Koalition bereits in der Koalitionsvereinbarung von
1998 festgeschrieben wurde. Sie verzichten auf 10 Milliarden Euro pro Jahr für die öffentlichen Haushalte.
Zweitens. Die sozialen Sicherungssysteme müssen
auf eine breitere Basis gestellt werden. Weil viele nicht
einzahlen, steht weniger Geld für die Allgemeinheit zur
Verfügung.
Drittens. Wir wissen doch alle, dass nicht mehr Arbeit
entstehen wird und die Arbeit, die jetzt geleistet wird,
aufgrund der Erhöhung der Produktivität in immer kürzerer Zeit erledigt werden kann. Ein wichtiger Schritt
wäre folglich eine drastische Arbeitszeitverkürzung.
Diese sollte als Prinzip durchgesetzt werden. Ein alter
Vorschlag - ich erwähne ihn hier erneut -, der den Kommunen sofort helfen würde, ist, ein kommunales Investitionsprogramm aufzulegen, damit die Infrastruktur ausgebaut und gesichert werden kann.
Druck auf Arbeitslose und Kürzung der Mittel - das
ist sehr fantasielos. Ich glaube, es gibt viele gute Vorschläge. Wenn man genügend Fantasie aufbringt, ist es
möglich, diese Vorschläge in die Realität umzusetzen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Fuchs.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Frau Hajduk, ich muss Ihnen einen gewissen
Realitätsverlust vorwerfen. Sie reden davon, die Lohnnebenkosten zu senken,
({0})
während heute in den Zeitungen steht, dass Sie sie steiger. Die Beiträge zur Rentenversicherung werden im
nächsten Jahr um 0,3 Prozent steigen, die Beiträge zu
den Krankenversicherungen um 0,7 Prozent.
({1})
Sie ziehen den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
mit diesen Maßnahmen das Geld aus der Tasche. Machen Sie den Bürgern nichts vor.
({2})
Herr Brandner, ich muss mich an Sie wenden. Wissen
Sie, warum wir Aktuelle Stunden brauchen? Wir brauchen sie, weil Sie keine Gesetze vorlegen, über die wir
diskutieren können. Jetzt beginnen Sie Diskussionen, die
sich bis zum 1. Juni hinschleppen. Am 1. Juni werden
wir sehen, was von der Agenda 2010 übrig bleibt. Herr
Niebel hat völlig zu Recht gesagt, es werden zwei Zehntel sein. Dann werden wir erleben, welche Bestandteile
der Agenda 2010 als Gesetzentwürfe eingebracht werden. Wie lange wird das dauern? Es wird sicher nicht
mehr vor der Sommerpause passieren; nein, wir werden
die Gesetzentwürfe irgendwann im September im Parlament beraten. Ab 1. Januar sollen sie wirken. Zu diesem
Zeitpunkt wird es wahrscheinlich 5 Millionen Arbeitslose geben.
({3})
So sieht das Nichtstun Ihrer Koalition aus. Ich finde das
äußerst bedauerlich und es ärgert mich gewaltig.
({4})
- Wenn Sie zuhören würden, würden Sie es endlich verstehen. Das ist auch notwendig.
Herr Kuhn, Sie haben hier von Arbeitsmarktmaßnahmen, so beispielsweise von den PSA, gesprochen. Was
ist denn dabei herausgekommen? Ich habe in meinem
Wahlkreis nachgefragt. Es gibt zurzeit keine einzige
PSA. Wahrscheinlich wird es welche nach der Sommerpause geben. In Rheinland-Pfalz rechnet man mit 49
PSA nach der Sommerpause.
In Ihrem Papier steht, es sollen in drei Jahren 750 000
Arbeitsplätze geschaffen werden. Jetzt gehen Sie von
50 000 Arbeitsplätzen aus und selbst diese Zahl werden
Sie nicht erreichen. Es gibt 15 900 Bewilligungen für
Ich-AGs.
({5})
Die Umsetzung des Hartz-Konzeptes hat bisher nichts
bewirkt.
({6})
Wir haben eine durchschnittliche Arbeitslosigkeit von
4,6 Millionen in diesem Jahr. Das sind rund 500 000
mehr als in Ihren Prognosen. Das zeigt uns, wie dramatisch die Probleme der Arbeitslosenversicherung sind.
({7})
Sie haben Zuschüsse bei Neueinstellungen älterer Arbeitnehmer beschlossen. Die Bundesanstalt hat bisher
363 solcher Fälle registriert. Bei 1,146 Millionen Arbeitslosen über 50 Jahre machen diese 363 Fälle gerade
einmal 0,03 Prozent aus. Aber mit Promille kennt sich
Herr Brandner besser aus, also: 0,3 Promille.
Dazu kann ich Ihnen nur eines sagen: Warum gehen
Sie nicht auf die hohe Zahl der Pleiten ein? In Deutschland wird es in diesem Jahr 42 000 Pleiten geben. Das
sind pro Tag 115 Unternehmen und mindestens
1 000 Stellen, die in Deutschland durch Pleiten wegfallen.
({8})
Das ist die Realität. Darüber zu spaßen und zu sagen:
Die 4,5 Millionen Arbeitslose sind kein großes Problem, es wird schon besser; die Hoffnung bleibt uns ja
noch, kann nicht richtig sein.
Ich nenne noch einen Punkt: Sie versuchen jetzt, im
Osten ein Jobprogramm für 100 000 Arbeitslose aufzulegen, um sie mittels der alten Auffanggesellschaften in
Scheinbeschäftigung zu halten.
({9})
Das wird zu nichts anderem führen, als dass eine weitere
Milliarde Euro, die durch Steuern bezahlt wird, weg sein
wird. Genau das brauchen wir nicht.
({10})
Zum Osten fällt mir noch ein zweiter Punkt ein, der
mich besonders bestürzt. Herr Brandner, ich hätte gerne
Ihre Hilfe als IG-Metall-Mitglied. Es kann nicht sein,
dass man in einer Situation, in der die Arbeitslosigkeit in
Kommunen 20 Prozent und mehr beträgt - die Kollegin
Lengsfeld hat das vorhin beschrieben -, anfängt zu streiken, um eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich zu erreichen. Damit wird der einzige noch verbliebene Standortvorteil der Regionen im Osten
vernichtet, deren Wettbewerbsfähigkeit jetzt noch besser
ist als die mancher Regionen im Westen und vor allen
Dingen besser als die der EU-Beitrittsländer.
({11})
Lassen Sie nicht zu, dass das kaputtgemacht wird.
Hier erwarte ich Ihre Hilfe, Herr Brandner. Es wäre notwendig, dass Sie die IG Metall dabei auf den Boden der
Realität zurückführen und hier nicht noch zusätzlich Arbeitsplätze kaputtgestreikt werden.
Die Probleme auf dem Arbeitsmarkt sind gewaltig,
aber Sie finden nur Lösungen - hier bin ich besonders
von den Grünen enttäuscht, Frau Hajduk - für die Wähler von heute, aber nicht für die Kinder von morgen.
({12})
Das ist eine Politik nach dem Motto Kinder haften für
ihre Eltern. So sollte es nicht weitergehen. Machen Sie
damit endlich Schluss und bringen Sie den Arbeitsmarkt
in Ordnung.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Gerd Andres.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Themenpalette dieser von der CDU/CSUFraktion beantragten Aktuellen Stunde ist breit. OffenParl. Staatssekretär Gerd Andres
sichtlich ist es zwischenzeitlich auch der Opposition bewusst geworden, dass für die zum Ritual jeder Sitzungswoche gewordene Aktuelle Stunde die aktuelle
Arbeitsmarktlage als Thema nicht mehr ausreicht. Also
schaut man die Presse durch und packt noch ein paar
Dinge drauf oder man inszeniert sie sogar.
Ein wunderbares Beispiel dafür war der Abgeordnete
Singhofer.
({0})
- Entschuldigung. Er ist ein Hammer, der Hofer ist ein
anderer.
({1})
Auf den komme ich noch zu sprechen. Jetzt komme ich
zu dem Kollegen Singhammer.
Herr Singhammer, Sie sind das klassische Beispiel für
Desinformation und Doppelbödigkeit. Das sage ich Ihnen hier.
({2})
Sie haben die Statistikdebatte über das Handelsblatt
angefacht. Darin werden Sie sogar zitiert. Auch in Ihrem
Redebeitrag hier haben Sie mit Einsparungen in Höhe
von 7 Milliarden Euro gerechnet.
Ich lese Ihnen einmal einen kurzen Absatz aus einem
Brief des Präsidenten des Bundesrechnungshofes vor. Er
lautet:
Der Bundesrechnungshof erhebt nicht, wie im
Handelsblatt dargestellt, den Vorwurf, dass so genannte Scheinarbeitslose sich in größerem Umfang
aus der Arbeitslosenkasse bedienen. Auch die im
Handelsblatt genannte Zahl
- von Ihnen hier wiederholt und vorgerechnet von 7 Milliarden Euro an möglichen jährlichen Einsparungen ist abwegig, weil es sich bei den untersuchten Gruppen von arbeitslos Gemeldeten überwiegend nicht um Bezieher von Leistungen der
Bundesanstalt für Arbeit handelt.
Guten Tag, Herr Singhammer. Ich kann nur sagen:
Was Sie hier machen, ist so was von doppelbödig.
({3})
Ich nenne noch einen zweiten Punkt, die Statistikdebatte.
Bitte nehmen Sie mir ab, dass ich davon persönlich tief
betroffen bin. Wir sind uns doch einig - wenn wir untereinander darüber reden -, dass in der Arbeitslosenstatistik
Fälle enthalten sind, die nicht in diese Statistik hineingehören. Diese wurden - das will ich als kurze Anmerkung
sagen - in Ihrer Regierungszeit dort hineingebastelt. Sozialrechtsinduzierte Arbeitslosigkeit gehört aus der Statistik
heraus. Wieso sind dort zum Beispiel Empfänger von
Kindergeld enthalten? Ich könnte noch andere Beispiele
nennen.
Ich erinnere Sie an eine Debatte - auch das war eine
Aktuelle Stunde -, die vor genau einem Jahr stattgefunden hat. In ihr wurde von Ihnen der Vorwurf erhoben, die
Bundesregierung plane eine Statistikbereinigung, um die
Arbeitslosenstatistik zu fälschen und die Arbeitslosenzahlen künstlich nach unten zu drücken.
({4})
Das ist eine Doppelbödigkeit von Ihnen.
({5})
Wenn Sie der Meinung sind, wir müssten hier etwas ändern, legen Sie doch einen Entwurf dazu auf den Tisch.
Dann werden wir auch darüber reden. Aber ich sage Ihnen: Wir brauchen Ihren Entwurf eigentlich nicht, weil
wir mit der Umsetzung von Hartz III genau das machen
werden.
Damit bin ich beim nächsten Thema, auf das ich zu
sprechen kommen möchte. Hier finde ich die gleiche
Doppelbödigkeit vor, die mich - entschuldigen Sie, Frau
Lengsfeld - anwidert. Sie haben en passant die Formulierung verwendet, wonach Herr Gerster der Raumausstatter der Nation ist.
({6})
- Lachen Sie nur freundlich. Ich hätte Ihnen empfohlen,
sich vorher zu informieren, bevor Sie diese Bemerkung
nebenbei fallen lassen und die Union dies zum Anlass einer Aktuellen Stunde nimmt.
({7})
Ich will Ihnen sagen, worum es konkret geht, damit
alle wissen, worüber wir reden. Es geht zum einen um
den Aufbau von zwei modernen Konferenzsälen mit der
dafür notwendigen Infrastruktur. Dafür sind 2,3 Millionen
Euro bei der Bundesanstalt für Arbeit eingeplant. Diese
Maßnahme entspricht vor allem dem Wunsch von Pressevertretern, endlich zumutbare Arbeitsbedingungen zu
erhalten. Die Bundesanstalt braucht diese Konferenztechnik dringend. Zum anderen erhalten die drei Vorstandsmitglieder Arbeitsräume auf einer Ebene. Dafür
sind 295 000 Euro vorgesehen.
Wenn in einem solchen Zusammenhang angesichts
der hohen Arbeitslosigkeit der Vorwurf laut wird - das
unterstützen Sie auch noch -, diese Vorhaben hätten etwas von goldenen Wasserhähnen an sich, dann ist das
schlicht hinterhältig. Wir alle wollen doch, dass die Bundesanstalt für Arbeit zu einem modernen Dienstleister
am Arbeitsmarkt ausgebaut wird und
({8})
dass die Strukturen umgebaut werden. Wir konnten es
überall lesen: Die Bundesanstalt ist ein grauer Betonbau
aus den 70er-Jahren - er ist mittlerweile 30 Jahre alt -,
der an einen stalinistischen Bau aus den Vorstädten von
Wladiwostok erinnert. Wenn der Vorstand Bemühungen
unternimmt, sich vernünftige Arbeitsbedingungen zu
schaffen, dann halte ich das für richtig.
({9})
Dass es dort keine goldenen Wasserhähne geben wird,
darauf werden sowohl der Rechnungsprüfungsausschuss
als auch der Haushaltsausschuss achten. Also auch hier:
Fehlanzeige.
({10})
Ich komme nun zum Thema der hohen Arbeitslosenzahlen im April.
({11})
- Nein, nein, Herr Kollege, diese Aktuelle Stunde war
von Ihnen beantragt. Deswegen bekommen Sie nun auch
Antworten auf alle Fragen, die Sie haben.
Gegenüber dem Vormonat ist die Zahl der Arbeitslosen um 113 000 Personen zurückgegangen. Saisonbereinigt ist sie angestiegen. Es stimmt: Wir haben mit
4,495 Millionen Arbeitslosen eine bedrückend hohe
Zahl an Arbeitslosen und es sind die höchsten Aprilzahlen mindestens seit der deutschen Einheit. Ich brauche
keine von Ihnen beantragte Aktuelle Stunde, um dies
einzugestehen und hier zu erklären.
Diese Zahl macht deutlich, unter welch unglaublichem Reformdruck wir stehen,
({12})
welchen unglaublichen Reformdruck wir der Gesellschaft zumuten müssen und - das erkläre ich für die
Bundesregierung - auch zumuten werden.
({13})
Wir befinden uns nämlich in dem Teufelskreis von sich
langfristig deutlich abschwächenden Wachstumsraten,
einer sich daraus erhöhenden oder verfestigenden Arbeitslosigkeit und daraus sich ergebenden hohen sozialen Kosten. Alles zusammen ist Ursache dafür, dass die
Wachstumskräfte nicht freigesetzt werden können.
Um das zu erkennen, brauchen wir keine Aktuelle
Stunde. Das hat die Bundesregierung im Übrigen auch
nicht überrascht;
({14})
denn wir haben - bleiben Sie ganz ruhig - bei unserer
jüngsten Revision der gesamtwirtschaftlichen Eckwerte
eine solche Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigt.
({15})
- Beim Haushalt ist es etwas anders gewesen, falls Sie
das noch nicht verstanden haben, Herr Kollege. Die Eckdaten hierzu stammten vom Oktober. Als wir diese beraten haben, war nicht absehbar, wie die internationale
Entwicklung und andere Bedingungen aussehen würden.
({16})
- Ich bin dafür, dass wir sachlich und fachlich vernünftig
reden. - Von der nachlassenden wirtschaftlichen Dynamik waren alle Länder in Europa gleichermaßen betroffen. Das können Sie sich anschauen.
Die Ursachen für diese Entwicklung sind vor allem in
den außergewöhnlichen Konstellationen der Weltwirtschaft zu sehen.
({17})
Ich könnte jetzt viele Bedingungen dafür aufzählen. Es
gibt auch bestimmte Einschätzungen durch die Institute
bezüglich der Perspektiven für dieses Jahr. Ich will damit gar nicht ablenken. Ich sage Ihnen: Wir brauchen
eine entsprechende Entwicklung der Weltwirtschaft
dringend. Wir haben aber nur relativ geringe Einflussmöglichkeiten darauf; auch das muss man wissen. Umgekehrt brauchen wir auch die Reformen im Inneren, um
eine andere Dynamik und Entwicklung in diesem Lande
zu entfalten.
Deswegen spreche ich auch das dritte Problem an.
Wir haben Hartz I und II umgesetzt und wir werden
Hartz III und IV umsetzen; darauf können Sie sich verlassen.
({18})
Damit wird die Reform der Bundesanstalt weiter vorangetrieben. Wir führen ein neues Leistungsrecht für die
Arbeitslosenversicherung ein und fassen die Instrumente
des Arbeitsmarkts zusammen. Hartz IV, die Zusammenfassung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe, werden wir ebenfalls umsetzen. Dazu werden wir am kommenden Freitag in der Kommission auch mit Vertretern
der Länder und der Opposition diskutieren. Ich kann Ihnen versprechen: Wir werden uns zu all diesen Projekten
in diesem Saal und auf anderer Ebene wiedersehen.
({19})
Ich habe mir einmal genauer angeschaut, was die
Union will. Sie hat einen großen Einigungsgipfel durchgeführt. Ich halte das für eine tolle Veranstaltung der
zwei Parteien.
({20})
Bei dem Einigungsgipfel kam etwas heraus, von dem
Herr Merz sagt - das wurde öffentlich zitiert -, dass er
nicht viel davon hält; auch das werden wir sehen.
Ich habe mir auch angeschaut, was Sie bei der Arbeitslosenversicherung vorschlagen. Sie sagen, dass das
Arbeitslosengeld bis zu zwölf Monate lang gezahlt werden soll. In Bezug auf die unter 55-Jährigen gibt es also
wahrscheinlich überhaupt keinen Streit mehr.
({21})
Ferner geht es um die Berechnung der Beitragsjahre.
Den Vorschlag von 45 Jahren finde ich toll. Darauf kommen wir im Verfahren zurück. Ich finde, das wirkt anders
als bei der Rentenversicherung. Sie machen Vorschläge,
bei denen man weder richtig Maus noch Falle ist und die
weder Fisch noch Fleisch sind. Wir werden darüber reden. Genau bei diesen Fragen werden wir uns erneut begegnen.
({22})
Wir werden auch durch Strukturreformen auf einem
verkrusteten Arbeitsmarkt dafür sorgen müssen, dass
Strukturprobleme gelöst werden. Wir haben die große
Aufgabe, die Arbeit, die in diesem Lande vorhanden ist,
so zu organisieren, dass sie von den in diesem Lande lebenden Menschen legal geleistet werden kann.
({23})
Sie können sich darauf verlassen: Wir werden die
Agenda 2010 genauso wie alle Teile der Hartz-Reformen, die wir schon angekündigt haben, umsetzen.
({24})
Deswegen sage ich Ihnen: Es macht immer viel Spaß, alles mies zu machen. Diese Veranstaltungen sind dazu da,
um alles mies zu machen.
({25})
Es kommt darauf an, mitzumachen. Das bedeutet,
dass auch Sie sich Ihrer Verantwortung für dieses Land
bewusst werden und auf eine Strategie setzen müssen.
({26})
Herr Singhammer, Sie setzen darauf, dass diese Regierung zerrieben wird und abtritt. Ich kann Ihnen vorhersagen: Sie können noch lange warten. Wir werden diese
Reformen durchführen. Sie werden sich an vielen dieser
Reformen sehr handfest beteiligen.
Schönen Dank.
({27})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang
Meckelburg.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Staatssekretär Andres, wie sehr müssen Sie
eigentlich mit dem Rücken zur Wand stehen, dass Sie
hier so reagieren und reden wie gerade?
({0})
Diese Art des Redens kenne ich aus dem letzten Jahr,
als es um Ihre Zahlen sehr schlecht bestellt war. Ich
frage Sie: Muss das wirklich so niveauvoll sein, dass
Sie hier zynisch über Kollegen herziehen? Das muss
wirklich nicht sein. Bleiben Sie an diesen Stellen bitte
sachlich.
({1})
Mein verehrter Herr Staatssekretär, Sie haben gerade
behauptet, die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt habe
Sie nicht überrascht. Ich frage Sie ernsthaft: Warum
wurde die Agenda 2010 erstellt und warum wurde eine
große Rede gehalten? Warum haben Sie das den Leuten
nicht vor der Wahl gesagt, wenn Sie das alles doch nicht
überrascht hat? Das ist die Frage, die die Menschen im
Land umtreibt.
({2})
Wenn Sie sich an uns wenden und Strukturmaßnahmen fordern, dann kann ich dazu nur sagen: Die Türen
bei uns sind weit offen. Sie und die auf der linken Seite
sitzenden Fraktionen waren es, die sich jahrelang geweigert haben, zur Kenntnis zu nehmen, dass Strukturen geändert werden müssen. Das ist Ihr Problem.
({3})
Ich möchte an dieser Stelle auf die Zahlen nicht weiter eingehen. Es macht wirklich keinen Spaß mehr, über
die Zahlen zu reden. Die Aktuellen Stunden zum Thema
Arbeitslosigkeit sind nötig, weil der Druck von Woche
zu Woche größer wird. Ich hoffe, Sie spüren ihn. Vor
zwei Jahren haben wir uns darüber ausgetauscht, ob die
Arbeitslosenzahlen unter Kohl oder unter Ihrer Regierungszeit schlechter waren. Diese Zahlen interessieren
heute keinen mehr. Die Arbeitslosigkeit ist inzwischen
so hoch und das Vertrauen in Ihre Regierung so gering,
dass die Leute den Wunsch haben, dass sich endlich etwas ändert. Aber Sie bringen es nicht fertig. Das ist das
Problem.
({4})
Wenn ich das Revue passieren lasse, was wir in den
letzten viereinhalb Jahren erlebt haben, dann stelle ich
verschiedene Phasen fest: In einer Phase wurde über die
Probleme möglichst lange geredet, es wurden viele Vorschläge eingebracht und damit die Menschen verunsichert. In einer anderen Phase wurde zwar gehandelt, aber
es waren Hauruck-Aktionen, in der Gesetze in zwei Wochen - das ist im letzten Jahr mehrfach passiert - verabschiedet wurden. Die Vermittlung von Arbeitslosen
durch private Anbieter wurde in zwei Wochen eingeführt: ein hektischer Durchgang. Die Einsetzung der
Hartz-Kommission hat nur zwei Wochen gedauert: ein
hektischer Durchgang. Die Umsetzung von Hartz I und
Hartz II nach der Wahl im Parlament hat ebenfalls nur
zwei Wochen in Anspruch genommen: ein hektischer
Durchgang. Wenn man sich einmal anschaut, ob diese
Maßnahmen überhaupt wirken, dann ist dies ein berechtigtes Anliegen des Parlaments und als Kontrolle der Regierung notwendig, Herr Staatssekretär.
({5})
Die mangelnde Glaubwürdigkeit dieser Regierung
versetzt alle miteinander in Starre. Keiner tut mehr richtig etwas. Herr Staatssekretär, wenn Sie die Entwicklung
auf dem Arbeitsmarkt schon vorher kannten, dann frage
ich mich, warum hier und heute keine konkrete Gesetzgebung zur Agenda 2010 vorgelegt wird.
({6})
Wir könnten in der nächsten Sitzungswoche mit dem,
was Sie vorhaben, beginnen, wenn Sie die Gesetzesvorlagen auf den Tische legten. Aber was erleben wir stattdessen? Vier Regionalkonferenzen, Abwarten bis zum
Juni, bis der Parteitag der SPD stattgefunden hat. Danach bleibt bis zur Sommerpause nur noch wenig Zeit.
Wir alle miteinander wissen: Was dort vorgeschlagen
wird, wirkt erst mittel- und langfristig. Wir verlieren Tag
für Tag die Zeit, die notwendig ist, um die Reformen
endlich anzupakken.
({7})
Herr Staatssekretär, ich freue mich schon darauf, dass
wir uns bald wiedersehen werden; denn viele der Vorschläge, die jetzt als Agenda 2010 - das ist aber nicht
weitreichend genug - vorgetragen werden, betreffen
Maßnahmen, über die wir vier Jahre lang diskutiert haben.
({8})
Auch ein Abgeordneter hat abends die Gelegenheit
fernzusehen. Gestern Abend habe ich daher den geschätzten Kollegen Müntefering im Fernsehen gesehen.
Er wurde mit einer im Bild festgehaltenen Aussage von
1993 konfrontiert, die zeigte, wie sich die SPD gegen
Änderungen struktureller Art bei der Sozialhilfe, dem
Arbeitslosengeld und anderen Dingen während unserer
Regierungszeit wehrte.
({9})
Das war natürlich eine Krux. Auf Nachfragen hat Herr
Müntefering so getan, als hätten wir nichts angepackt.
Nein, wir haben einiges auf den Weg gebracht.
({10})
Sie aber haben zu Beginn Ihrer Regierungszeit vor viereinhalb Jahren vieles zurückgenommen. Inzwischen haben Sie mit unserer Hilfe wieder eine Rolle rückwärts
gemacht. Herr Kuhn, wissen Sie, warum die Minijobs
inzwischen so gut angenommen werden? Weil sie nämlich eine Befreiung von den Regulierungen darstellen,
mit denen Sie den Arbeitsmarkt vier Jahre lang stranguliert haben. Wir haben über den Vermittlungsausschuss
geholfen, dass die Sache mit den Minijobs so gut läuft.
({11})
Meine Bitte zum Schluss an die Bundesregierung und
an die Fraktionen von Rot-Grün: Fangen Sie endlich mit
den Reformen an! Verzichten Sie auf den Parteitag! Hören Sie mit den Regionalkonferenzen auf! Legen Sie die
Gesetzentwürfe auf den Tisch! Jeder Tag, der ungenutzt
verstreicht, ist ein verlorener Tag für Deutschland. Tun
Sie endlich etwas!
({12})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Karin Roth.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Herr Meckelburg, angesichts Ihrer Aussagen bin ich ein wenig ratlos.
({0})
Einerseits werfen Sie uns vor, dass wir nichts auf den
Weg bringen und nur diskutieren.
({1})
Andererseits sagen Sie im gleichen Atemzug, dass es Ihnen bei den Hartz-Konzepten zu schnell geht. Sie müssen sich schon entscheiden. Ein kräftiges Sowohl-alsauch ist richtig falsch. Es ist gar keine Frage: Wir alle
hier im Parlament wissen, dass wir in einer äußerst
schwierigen Lage sind.
({2})
Die Frage, worin die Ursachen für die hohe Arbeitslosigkeit liegen, muss beantwortet werden, damit wir die
Karin Roth ({3})
richtigen Maßnahmen treffen. Das bedeutet, dass wir
nicht nur die Innenpolitik beachten, sondern auch auf
das sehen, was außenwirtschaftlich geschieht. Da ist es
doch unstrittig - es sei denn, Sie lesen nicht die Gutachten des DIW und anderer zur Weltwirtschaft und zur europäischen Wirtschaft -, dass alle europäischen Länder,
insbesondere die in der Eurozone, die gleichen Schwierigkeiten in Bezug auf die Wachstumsrate haben. Das hat
sehr viele Gründe; ich will einige nennen.
Einer dieser Gründe ist, wie wir wissen, dass das
Wachstum insbesondere durch den Krieg und die daraus
resultierenden psychologischen und ökonomischen Folgen gehemmt worden ist. Das bestreitet kein Mensch,
kein Wirtschaftswissenschaftler und hoffentlich auch Sie
nicht.
So tragen beispielsweise die Börsenverluste dazu bei,
dass die Menschen in unserem Land weniger Geld haben. Dies nicht zu thematisieren wäre ebenfalls falsch.
({4})
Es geht hier also nicht um einen Punkt der Politik für
mehr Arbeitsplätze, sondern darum, dass wir ein Gesamtpaket von Reformen auf den Weg bringen müssen.
Das heißt, wir müssen zunächst und vor allen Dingen
versuchen, auf der einen Seite die Wachstumsentwicklung voranzubringen und auf der anderen Seite die Arbeitsmarktreformen fortzusetzen. Das ist gar keine
Frage.
({5})
Zu Recht hat mein Kollege Kuhn darauf hingewiesen,
dass Sie auch einmal in die Statistik der vergangenen
Zeit sehen sollten. Da werden Sie auch sehen, Herr
Meckelburg,
({6})
dass beispielsweise unter der Regierung Kohl bei einem
Wachstum von über 3 Prozent 4,28 Millionen Menschen
arbeitslos waren.
({7})
Im letzten Jahr betrug das Wachstum 0,2 Prozent und im
Jahresdurchschnitt waren 4,06 Millionen Menschen arbeitslos.
({8})
Das heißt nicht, dass wir nichts tun müssten, aber es deutet darauf hin, dass wir uns Gedanken darüber machen
müssen, wie wir das Wachstum in Gang bringen können,
um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. In dieser Hinsicht
haben wir einen richtigen Weg beschritten.
({9})
Wir haben gesagt, wir brauchen mehr Geld für Innovationen und Investitionen. Einer der Gründe, warum
wir dafür eintreten, die Gemeindefinanzierungsreform
nach vorn zu bringen, ist, dass wir wissen, dass insbesondere dadurch schnell Arbeitsplätze entstehen. Auch
diesbezüglich hoffe ich auf einen Konsens in diesem
Hause. Aber das Problem ist - Herr Singhammer, jetzt
komme ich auf Sie zu sprechen -, dass man sich dann
mit der CDU/CSU einigen muss. Allerdings weiß sie
nicht so ganz genau, was sie im Bereich der Gemeindefinanzierungsreform eigentlich will. Will sie die Gewerbesteuer oder will sie sie eigentlich nicht?
({10})
Das bedeutet, dass wir bei einem Reformprojekt sehr
viel Zeit verlieren, das insbesondere den Kommunen
helfen würde, vor Ort über Investitionen Arbeit zu schaffen, und zwar nicht kreditfinanziert, sondern indem die
Kassen der Gemeinden stärker gefüllt werden, wie wir
es alle wollen.
({11})
Es ist natürlich auch keine Frage, dass im Bereich der
Innovationen das Thema Technologieentwicklung eine
große Rolle spielt. Auf diesem Gebiet müssen wir auch
mehr tun; darüber gibt es Konsens, hoffentlich auch im
Parlament. Aber darüber hinaus geht es um die Frage,
welche Maßnahmen wir am Arbeitsmarkt einleiten.
Wir haben zu Recht gesagt: Wir setzen jetzt Hartz III
und IV um. Es ist zutreffend, dass über den richtigen
Weg gestritten wird, aber ich halte es auch für notwendig, dass wir hier vor allen Dingen diejenigen zur Verantwortung ziehen, die etwas versprochen haben. Das
gilt insbesondere für die Wirtschaft im Zusammenhang
mit den Ausbildungsplätzen. Natürlich sind Reformen
notwendig - wir leiten sie ein -; aber die Wirtschaft hat
im Rahmen des Bündnisses für Arbeit versprochen, genügend Ausbildungsplätze zu schaffen. Jetzt ist die Wirtschaft an der Reihe, genau diese Ausbildungsplätze einzurichten, damit die Jugendlichen eine Zukunftschance
haben. Was ist das Wort der Wirtschaft wert, wenn sie
dies im Bündnis für Arbeit verspricht, es aber im
Jahr 2003 nicht realisiert?
({12})
Es ist also notwendig, dass die Wirtschaft die 70 000 Ausbildungsplätze, die zurzeit noch fehlen, in den nächsten
Monaten schafft, damit davon ein Signal ausgeht.
({13})
Die Wirtschaft trägt die Verantwortung dafür, dass es in
unserem Land qualifizierte Arbeitskräfte gibt.
Lassen Sie mich noch etwas zur Frage sagen, was von
der Union kommt.
({14})
Karin Roth ({15})
Interessant ist, was alles bei der CDU/CSU diskutiert
und überlegt wird. Ich greife nur einen Punkt heraus, die
kurzfristige Kürzung des Arbeitslosengeldes um
25 Prozent.
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit. Sie können nur noch einen Schlusssatz sagen.
Auch dies gehört zu den Maßnahmen, mit denen vorgegeben wird, es werde sich etwas ändern. Interessant ist
aber, dass Herr Merz, der heute nicht da ist,
({0})
diesen Punkt schon wieder zurückgenommen hat. Man
darf darauf gespannt sein, ob von der Union mehr Rhetorik oder mehr Vorschläge kommen. Wir zählen auf Ihre
Vorschläge, werden aber fortdauernd prüfen, ob Sie Ihre
Vorschläge am Ende im Bundesrat mit uns gemeinsam
umsetzen.
({1})
Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Schauerte.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Frau Roth, ein bisschen Logik ist in dieser Debatte schon vonnöten; danach werde ich mich mit
dieser Art der Argumentation nicht mehr weiter befassen.
({0})
Sie haben gerade gesagt, in der Schlussphase der Regierung von Helmut Kohl hätten wir ein Wachstum von
mehr als 3 Prozent und zugleich eine hohe Arbeitslosigkeit gehabt. Das ist wahr. Das Wachstum zog an und wir
waren guten Mutes, damit die Arbeitslosigkeit wirksam
bekämpfen zu können.
({1})
Aufgrund dessen, was Sie in den letzten fünf Jahren geleistet haben, haben wir heute Nullwachstum und wachsende Arbeitslosigkeit, während sie vor 1998 abnahm.
Was soll also Ihre Aussage? In Ihrer Argumentation sollten Sie wenigstens logisch sein.
Die Lage in Deutschland ist unglaublich ernst. Unsere
gemeinsame Sorge muss es sein, ob die bisher vorgelegten Konzepte überhaupt dem Ernst der Lage gerecht
werden können. Wir sind die Industrienation, in der die
jungen Leute am spätesten in den Beruf gehen, in der die
älteren Mitarbeiter am frühesten in die Rente gehen und
in der es die kürzeste Tages-, Wochen- und Jahresarbeitszeit gibt.
({2})
Auf dieses Problem haben Sie bisher keine wirklichen
Antworten gegeben. Die einzige Antwort, Herr
Brandner, die die IG Metall für den Teil unseres Vaterlandes gibt, in dem die Arbeitslosigkeit am höchsten ist,
besagt, auch dort endlich die Arbeitszeit auf 35 Stunden
zu verkürzen. Ich prophezeie Ihnen eines: Wir werden
über kurz oder lang darüber nachdenken müssen, ob wir
nicht gemeinsam die Arbeitszeit verlängern, um unsere
Probleme verkleinern zu können. Durch die fortgesetzte
Verkürzung der Arbeitszeit ist ein wesentlicher Teil unserer Probleme entstanden, weil die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft im internationalen
Vergleich kaputtgegangen ist. Darüber werden wir also
noch reden müssen.
Ich hätte von der Bundesregierung gern etwas dazu
gehört, ob sie die Entwicklung hin zur 35-Stunden-Woche in den neuen Ländern begrüßt und als einen Beitrag
zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ansieht oder nicht.
Wenn es richtig wäre, dass die Verkürzung der Arbeitszeit zum Abbau der Arbeitslosigkeit beiträgt, Herr
Andres, dann kämen Sie nicht darum herum, die Arbeitszeit in Deutschland generell zu verkürzen. Davor
scheuen Sie zurück, weil Sie wissen, dass es falsch ist.
So falsch es aber für ganz Deutschland wäre, so falsch
ist es auch für die neuen Länder, was dort jetzt geschieht.
Dagegen müsste die Bundesregierung etwas unternehmen.
({3})
Das Dilemma der SPD ist folgendes: Mit dem wenigen, was sie auf den Weg bringt, hat sie bereits existenzielle Probleme, es überhaupt bei sich durchzusetzen.
({4})
Wie eine widerspenstige Selbsterfahrungsgruppe geht
die SPD im Moment vor. Obwohl die Probleme täglich
schneller als unsere Lösungsansätze wachsen, richtet die
SPD Selbsterfahrungsgruppen ein, um die Widerspenstigen in dieser Partei zähmen zu können. Wissen Sie aber,
welches Problem Sie am Ende haben werden? Sie werden das wenige unter Aufbietung aller Disziplinierungskräfte durchsetzen und Ihre unvernünftigen Mitglieder
zur Räson bringen. Dann werden Sie feststellen, dass die
Probleme weiter wachsen, weil Sie nicht weit genug gegangen sind. Dann aber sind Sie fertig; denn zweimal
oder dreimal können Sie eine solche existenzielle Disziplinierung Ihren Mitgliedern und Ihren Gewerkschaften
und Herrn Brandner nicht zumuten.
({5})
Das ist Ihr Problem, zugleich aber unsere Sorge.
({6})
- Ich verstehe nicht, wie jemand von der SPD sagen
kann, unsere beiden Parteien hätten ein Problem, sich zu
verständigen. Wir haben uns mühelos im leichten DurchHartmut Schauerte
gang auf eine einvernehmliche Linie geeinigt. Sie, die
Sie in der Verantwortung für Entscheidungen stehen, haben sich bis heute nicht geeinigt, haben bis heute keine
Mehrheit und wissen nicht, wohin die Reise geht.
({7})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch etwas über die Rolle der Opposition sagen. Im Moment ist
der Marienmonat Mai. Sie müssten eigentlich den ganzen Tag
({8})
Kerzen für die Mutter Gottes anstecken, und zwar aus
Dankbarkeit, dass Sie eine Opposition haben, die Ihren
Kurs im Grundsatz will. So etwas hatten wir in Deutschland noch nie. Wir sagen: Im Grundsatz gehen die
Schritte in die richtige Richtung. Wir streiten uns äußerstenfalls über die Menge und sind der Meinung, dass das,
was ihr tut, nicht genug ist. Solch eine Opposition hätte
ich mir für die CDU vor Jahren gewünscht.
({9})
Wir bleiben konsequent auf Kurs. Wir legen bei jedem Reformpaket mehr vor, als Sie zu machen bereit
sind.
({10})
Jetzt wird eins nach dem anderen abgearbeitet. Wir
sind im Arbeitsmarkt weiter. Warum bewegen Sie sich
nicht? Ein Thema sind die Bündnisse für Arbeit. Warum
sollen Betriebe miteinander nicht vernünftige Regelungen in bestimmten Korridoren finden können, um Arbeitsplätze zu sichern?
({11})
Das lehnen Sie konsequent ab. Wenn Sie sich bei solchen Kleinigkeiten nicht bewegen, dann reichen Ihre Rezepturen nicht aus und Sie werden vor der nächsten Reformhürde stehen und sie reißen. Wir kommen in
Deutschland nicht weiter, unseren Arbeitslosen wird
nicht geholfen und unseren Jugendlichen wird keine Perspektive gegeben. Sie stehen in der Verantwortung. Tun
Sie etwas! Sie haben eine höchst vernünftige Opposition. Die hat es in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland in dieser Klarheit noch nicht gegeben.
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Walter Hoffmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der letzte Redner hat einige Vorteile. Ein Vorteil
besteht darin, dass man auf die eine oder andere Sache
eingehen kann und niemand anders Gelegenheit hat,
noch einmal darauf zu antworten.
Das Thema ist - das wissen wir alle - fürchterlich
ernst. Ich finde es wenig konstruktiv - ich sage das noch
sehr nett -, wenn einzelne Kollegen unter uns mit Begriffen bezeichnet werden, die weder in der Sache weiterhelfen noch ein stilvoller Beitrag in der Diskussion
sind.
({0})
- Ich habe gedacht, Sie würden schweigen. - Wenn man
zum Beispiel sagt, der Kollege Brandner kenne sich mit
Promille besser aus
({1})
- nein, das war Herr Fuchs -, oder wenn man die politischen Gegner als Konsorten bezeichnet, dann ist das
ein schlechter und übler Stil.
({2})
Ich habe mir das notiert. Wir sollten nicht in diesen
Stil verfallen. Dazu ist das Thema insgesamt zu ernst.
Die Menschen draußen schauen schon sorgfältig, welche
konkreten Forderungen man stellt und in welcher Form
und in welchem Stil man sich mit dem Thema auseinander setzt.
({3})
Zweite Anmerkung: Es ist das Stichwort Pappkameraden gefallen. Herr Niebel, es führt nicht weiter, ständig irgendwelche Pappkameraden aufzubauen, um anschließend darauf zu klopfen. Ich habe sorgfältig notiert,
welche Vorschläge Sie machen. Sie fordern eine Reform
der Bundesanstalt für Arbeit, Sie fordern Jobcenter, die
in Kooperation mit Sozialämtern tätig werden sollen. Sie
wissen doch ganz genau, dass in der dritten und vierten
Stufe des Hartz-Konzepts exakt dies vorgesehen ist.
({4})
Es gibt schriftliche Erklärungen und Erläuterungen, in
denen das alles bekannt gemacht worden ist. Nun bauen
Sie einen Popanz auf und tun so, als ob das etwas Neues
wäre. Auch das ist kein konstruktiver Beitrag.
({5})
Frau Lengsfeld, ich komme aus einem westlichen
Bundesland. Aber eine Äußerung von Ihnen hat mich
seltsam berührt.
({6})
Man kann Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bewerten,
wie man will. Jeder hier im Raum hat eine kritische
Grundeinstellung zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
Nach meinen Informationen nimmt die Zahl der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den westlichen Ländern sowieso, aber auch in den östlichen Bundesländern tenden3550
Walter Hoffmann ({7})
ziell ab. Aber die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als
eine mit Westgeld subventionierte Form des Sozialismus
zu bezeichnen empfinde ich gegenüber vielen betroffenen Menschen, die keine andere Chance haben, als in
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen tätig zu werden,
schlicht und ergreifend ein Stück weit arrogant.
({8})
Herr Fuchtel und auch meine Vorgängerin haben eine
Gruppe angesprochen, die uns in der Tat große Sorgen
bereitet und von der wir meinen, dass wir sie stärker in
unsere Aktivitäten einbeziehen müssen. Es ist richtig,
dass es die sehr hohe Zahl von mehr als 500 000 jungen
Arbeitslosen gibt. Eine ähnlich schwierige Situation
stellt sich zurzeit auf dem Lehrstellenmarkt dar.
Ich denke, dass wir - weil die Agenda 2010 erst im
zweiten Halbjahr im Gesetzgebungsverfahren diskutiert
bzw. beschlossen wird - unsere Aktivitäten besonders auf
diese Personengruppen konzentrieren müssen.
Weil wir heute viel Kritik austauschen, möchte ich
aber auch einen Bereich erwähnen, in dem es uns gerade
in den vergangenen Tagen zum Teil gemeinsam gelungen ist, positive Akzente zu setzen. Ihnen allen ist die
Diskussion über behinderte und benachteiligte Jugendliche bekannt. Im Januar und Februar war die Situation in
diesem Land extrem schwierig, weil viele junge Menschen sich an die Bundesanstalt für Arbeit wandten, weil
sie einen Job oder eine berufsvorbereitende Maßnahme
suchten oder in einer Werkstätte unterkommen wollten.
Die Bundesanstalt konnte diesen jungen Menschen aber
keine Zusage geben.
Es gab daraufhin im ganzen Land Proteste, Demonstrationen und heftige Auseinandersetzungen. Behinderte
gingen auf die Straße und erkämpften ihr Recht auch ein
Stück weit. Ich denke, es ist für uns alle ein Erfolg, dass
kurz vor Ostern zunächst die Bundesanstalt für Arbeit,
aber dann auch der Bundeskanzler und der Wirtschaftsminister klar und eindeutig festgestellt haben, dass die
betroffenen Behinderten - sowohl die Benachteiligten
als auch die Behinderten - im zweiten Halbjahr ein akzeptables Angebot erhalten werden. Das Förderniveau
soll, wie es heißt, mindestens auf dem Niveau des Vorjahres verbleiben.
Alle Sparmaßnahmen, die aufgrund bestimmter Voraussetzungen drohten, sind zurückgenommen worden.
Die zentrale Bewirtschaftung der Mittel ist aufgehoben
worden, sodass im Ergebnis jeder einen Ausbildungsbzw. einen Arbeitsplatz bekommt oder an einer konkreten berufsvorbereitenden Maßnahme teilnehmen kann.
Das ist ein kleiner, aber entscheidender und wichtiger
Beitrag zu einer verbesserten Arbeitsmarktsituation besonders für junge Menschen im zweiten Halbjahr. Ich
denke, darüber können wir alle froh sein. Wenn es uns
gelingt, in Verbindung mit der Realisierung der Rahmenbedingungen, die uns allen bekannt sind, auch in anderen
Bereichen die Kooperation zu verbessern und einen Ausbildungskonsens zu erreichen, dann gehen wir, denke
ich, auch positiveren Zeiten entgegen.
Vielen Dank.
({9})
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 sowie die
Zusatzpunkte 6 und 7 auf:
5. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Der europäischen Verfassung Gestalt geben Demokratie stärken, Handlungsfähigkeit erhöhen, Verfahren vereinfachen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Claudia
Winterstein, Jürgen Türk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Das neue Gesicht Europas - Kernelemente einer europäischen Verfassung
- Drucksachen 15/548, 15/577, 15/950 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Roth ({1})
Anna Lührmann
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Hintze, Peter Altmaier, Dr. Gerd Müller, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Ein Verfassungsvertrag für eine bürgernahe,
demokratische und handlungsfähige Europäische Union
- Drucksache 15/918 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner
Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Bahr ({3}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Initiativen des Brüsseler Vierergipfels zur Europäischen Sicherheits- und VerteidigungsUnion ({4}) über den Europäischen Verfassungskonvent vorantreiben
- Drucksache 15/942 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
Herr Staatsminister Bury.
Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Die Bundestagsdebatte zur europäischen Verfassung kommt genau zum richtigen Zeitpunkt: Am
24. April hat das Präsidium seine Vorschläge für die zentralen institutionellen Artikel der künftigen europäischen
Verfassung vorgestellt. In wenigen Tagen - am 15. und
16. Mai - wird der Konvent darüber beraten. Die Bundesregierung hält den vom Präsidium vorgestellten Entwurf insgesamt für eine gute Grundlage für die weiteren
Arbeiten, auch wenn wir im Einzelnen durchaus Verbesserungsbedarf sehen.
Europa ist eine Erfolgsgeschichte: In 50 Jahren hat
sich die Wirtschaftsgemeinschaft der sechs schrittweise
zur politischen Union der 25 entwickelt. Jetzt müssen
wir dafür sorgen, dass die Union nicht an ihrem eigenen
Erfolg scheitert, sondern auch mit 25 und mehr ihre
Handlungsfähigkeit bewahrt.
Ein wichtiger Indikator für das Zusammenwachsen
der Union ist, dass sich der Konvent schon sehr früh darauf geeinigt hat, die Grundrechte-Charta als rechtsverbindlichen Teil in die Verfassung zu integrieren. Damit gibt sich die Union eine Werteordnung, die die
Würde des Menschen als unantastbare Grundlage festschreibt und die neben dem Bekenntnis zu liberalen Freiheitsrechten auch soziale Rechte und Gleichheitsrechte
enthält.
({6})
Diese gemeinsamen europäischen Grundwerte werden
es uns erleichtern, auch in Zeiten der Globalisierung das
europäische Sozialmodell zu verteidigen und uns weltweit für nachhaltige Entwicklung in ihrer wirtschaftlichen, sozialen und umweltpolitischen Dimension einzusetzen.
Die Irakkrise und die Ereignisse der letzten Wochen
haben gezeigt: Wir brauchen mehr Europa. Wir müssen
Strukturen, in denen wir als Europäer unseren politischen Willen gemeinsam bilden können, und Mechanismen entwickeln, mit denen wir den europäischen Werten
und Überzeugungen Geltung verschaffen, und zwar sowohl in Europa als auch darüber hinaus. Deshalb setzen
wir uns für das Amt eines europäischen Außenministers ein, der der Außenpolitik der Union Gesicht und
Stimme geben und der für eine gemeinsame europäische
Außenpolitik Sorge tragen soll. Schon allein die Tatsache, dieses neue Amt im Verfassungsentwurf verankert
zu haben - wir hoffen auf einen Konsens im Konvent -,
ist ein großer Erfolg der Konventsmethode und der Konventsarbeit.
Durch mehr Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit und die Verpflichtung zur Abstimmung außenpolitischer Positionen sollen die Grundlagen für einheitliches
außenpolitisches Handeln geschaffen werden. Dazu gehört auch eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Der Bundeskanzler hat deutlich gemacht,
dass die Antwort auf die Irakkrise nicht weniger Amerika, sondern mehr Europa lautet.
({7})
Wir müssen unsere eigenen Fähigkeiten verbessern, um
im Sinne wirklicher Partnerschaft den europäischen
Pfeiler des transatlantischen Bündnisses zu stärken. Mit
dem Vorschlag des Vierergipfels knüpfen wir an frühere
Initiativen Frankreichs, Deutschlands, aber auch Großbritanniens an. Wir wollen das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit in der europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik nutzen, damit eine Avantgarde
die Integration auch in diesem Bereich vorantreibt, und
zwar nicht als Closedshop, also nicht in einem exklusiven, sondern in einem offenen Prozess, an dem sich alle
heutigen und zukünftigen Mitgliedstaaten der EU beteiligen können. Ich bin sicher - das bestätigen zahlreiche
Gespräche, nicht zuletzt diejenigen, die vor wenigen Tagen beim informellen Außenministertreffen geführt worden sind -, dass sich viele beteiligen werden, dass die
Attraktivität dieses Modells hoch ist.
Um die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union
dauerhaft zu gewährleisten, muss das institutionelle
Dreieck - Parlament, Rat und Kommission - insgesamt
gestärkt und sein Gleichgewicht erhalten werden. Wir
begrüßen deshalb den Vorschlag des Präsidiums, das
Mitentscheidungsverfahren, in dem Rat und Parlament
gleichberechtigte Gesetzgeber der Europäischen Union
sind, zum Regelfall europäischer Gesetzgebung zu machen. Nicht zuletzt im Bereich Justiz und Inneres haben
wir im Konvent bereits erstaunliche Fortschritte erzielt.
Besonders wichtig ist uns die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament.
({8})
Das würde die Kommission stärken und ihre demokratische Legitimation verbessern. Wichtig ist aber auch:
Wenn sich die Europawahlen sichtbar auf die personelle
Besetzung dieser zentralen europäischen Institution auswirken, dann wird dies das europapolitische Interesse
der Bürgerinnen und Bürger stärken. Wahl und Übernahme politischer Verantwortung werden so untrennbar
miteinander verknüpft. Deshalb sollte der Europäische
Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa
Rat auch nicht alleine, wie im Präsidiumsentwurf vorgesehen, den Kandidaten vorschlagen. Wir haben angeregt,
dass eine von Europäischem Parlament und Europäischem Rat paritätisch besetzte Findungskommission im
Lichte der Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen
Parlament eine Kandidatin bzw. einen Kandidaten benennt, dass das Parlament sie oder ihn mit der Mehrheit
seiner Mitglieder wählt und dass der Europäische Rat
mit qualifizierter Mehrheit bestätigt.
Als Hüterin der Verträge und Vertreterin des europäischen Gesamtinteresses ist die Kommission in einem erweiterten Europa wichtiger denn je.
Ihre Stärkung ist daher ein wesentliches Ziel unserer Arbeit im Konvent. Wir begrüßen, dass der Präsidiumsvorschlag die Begrenzung der Zahl der Kommissare auf
15 vorsieht,
({9})
unterstützt von Frau Leutheusser-Schnarrenberger,
({10})
aber auch von delegierten Mitgliedern, um die Funktionsfähigkeit der Kommission als Kollegium zu erhalten. Auch die Beneluxstaaten haben diesem Vorschlag in
der Zwischenzeit zugestimmt. Wichtig ist uns auch das
ausschließliche Initiativrecht der Kommission, abgesehen von wenigen Ausnahmen im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit und in der Außenpolitik.
Als Vertretung der Staaten auf europäischer Ebene
wird der Ministerrat weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Er muss durch die Ausweitung der Entscheidung mit
qualifizierter Mehrheit jedoch effektiver arbeiten.
Mit der Vereinfachung der Instrumente und der Annäherung an innerstaatliche Gesetzgebungsverfahren erhöhen wir die Transparenz europäischen Handelns und damit die Bürgernähe der Europäischen Union. Die
Gesetzgebungsarbeit soll in Zukunft ein Legislativrat
leisten, der, wie die zweite Kammer in föderalen Staaten,
öffentlich tagt.
({11})
Ein dauerhafter Vorsitzender des Europäischen Rates - Sie wissen, dass das für einige unserer Partner für
eine Einigung entscheidend ist - soll schließlich die
Kontinuität der europäischen Politik verbessern. Für uns
ist dabei eine klare Abgrenzung zu den Aufgaben der
Kommission und zu denen ihres Präsidenten erforderlich, um die erwähnte Balance im institutionellen Dreieck zu wahren.
In wenigen Wochen soll der Konvent den Staats- und
Regierungschefs einen Verfassungsentwurf vorlegen.
Ich bin der Meinung, dass wir den vorgesehenen Zeitplan unbedingt einhalten sollten. Nur so kann der Einigungsdruck aufrechterhalten werden und nur so können
wir das Momentum der Konventsarbeit nutzen. Wir haben bereits beachtliche Fortschritte erzielt. Ich bin überzeugt: Wir können in dieser Zeit und unter diesem Einigungsdruck echte Fortschritte erzielen.
Auch die anschließende Regierungskonferenz sollte
kurz sein und sich nicht wieder in Detaildiskussionen
verlieren. Wir - ich sage das in dieser Debatte als Regierungsvertreter - haben unsere Erfahrungen mit Regierungskonferenzen. Ich glaube, dass uns der Konvent einen entscheidenden Schritt weiterbringt. Aus diesem
Grunde haben wir die Konventsmethode als Regelverfahren für künftige Verfassungsänderungen vorgeschlagen.
({12})
Selbst wenn wir eine hervorragende Arbeit abliefern
- ich hoffe, dass wir das tun werden -, wird der fortschreitende Integrationsprozess auch in der Zukunft Verfassungsänderungen notwendig machen. Wir sollten
dann auf dieses sich gerade bewährende Verfahren zurückgreifen.
Deutschland und Frankreich haben mit gemeinsamen
Initiativen immer wieder Brücken zwischen eher intergouvernemental und eher integrationistisch ausgerichteten und argumentierenden Mitgliedern dieses Konvents
gebaut. Viele kleinere Mitgliedstaaten sehen uns in der
entscheidenden Rolle, Brücken zwischen Großen und
Kleinen zu bauen. Wir sind uns dieser Verantwortung
bewusst und wir nehmen sie gern wahr.
Alle Beteiligten, liebe Kolleginnen und Kollegen,
werden für den Konsens über ihren Schatten springen
müssen - in die Sonne eines vereinten Europas, eines
Europas der Freiheit, der Sicherheit und der Solidarität.
Vielen Dank.
({13})
Ich möchte im Namen von uns allen auf der Tribüne
Professor Meyer, unseren früheren Kollegen, begrüßen.
Er hat die Ehre und die große Aufgabe, uns in dieser
Frage im Verfassungskonvent zu vertreten.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Peter Hintze.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Mitten in die Schlussphase der Konventsberatungen hinein hat die Bundesregierung als Teilnehmer
am so genannten Pralinengipfel in Brüssel ein schweres
Risiko in Kauf genommen: Europa in der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik zu spalten. Ich möchte
deswegen zu Beginn unserer Debatte sagen: Statt ein geschlossenes Treffen der USA-Kritiker zum Thema europäische Verteidigung durchzuführen, wäre es besser
gewesen, ein offenes Treffen aller NATO-Freunde in der
EU zu organisieren.
({0})
Für uns in der CDU/CSU ist klar: Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik muss in gutem Einverständnis mit der NATO stattfinden und für alle offen
sein, die mitwirken wollen.
({1})
Deshalb wollen wir in der europäischen Verfassung die
rechtlichen Voraussetzungen für die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik verbessern.
Dazu gehört erstens die Aufnahme einer Beistandsklausel, die dem Art. V des WEU-Vertrages entspricht.
Ob bei terroristischer oder militärischer Bedrohung: Europa muss bei der Gefährdung seiner Sicherheit zusammenstehen.
Zweitens. Der Weg zu einer europäischen Armee
wird über die Methode der verstärkten Zusammenarbeit
zu erschließen sein, die auch für die Verteidigungspolitik
in der neuen Verfassung ermöglicht werden muss.
Drittens. In den Fragen der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik brauchen wir eine Einigungsklausel, die alle Mitgliedstaaten verpflichtet, in Fragen der
Außenpolitik der Europäischen Union eine Einigungschance zu geben, bevor nationale Festlegungen erfolgen. Hätten wir in der Irakkrise eine solche Einigungsklausel gehabt, wäre uns vielleicht die deutsche
Vorfestlegung auf dem Marktplatz von Goslar erspart
geblieben.
({2})
Neben einem verbesserten Regelwerk brauchen wir
auch handlungsfähigere Institutionen. So braucht Europa
einen europäischen Außenminister, eine Stimme, die
Europa vertritt, die für Europa spricht und die für Europa
handeln kann. Schon der Hohe Beauftragte, Javier
Solana, hat trotz aller Beschränkungen seines Amtes bewiesen, was man in der Außenpolitik für Europa und die
Völkergemeinschaft tun kann. Daran kann man anknüpfen.
Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel will wissen,
dass sich Bundesminister Fischer Hoffnungen auf dieses
europäische Spitzenamt macht. Ich hätte ihn gern gefragt, ob er diesen Wunsch hat und nach den EU-Sternen
greift.
({3})
Ob dabei die Dokumentation des dänischen Fernsehens
über die Differenz von öffentlichen und persönlichen
Aussagen von Minister Fischer zum Türkeibeitritt hilfreich ist, wird sich zeigen.
({4})
Vom zukünftigen europäischen Außenminister erwarte ich jedenfalls zwei Fähigkeiten: zum einen integrativ nach innen zu wirken und zum anderen gute und
faire Beziehungen zu Europas wichtigstem Bündnispartner in der Welt, den USA, zu pflegen. Wenn er mit solchen Fähigkeiten ausgestattet ist, wird Außenpolitik,
denke ich, für Europa gut.
({5})
Jeder mag beurteilen, ob das von dem vom Spiegel ins
Gespräch gebrachten Kandidaten abgedeckt wird.
In der Europapolitik gibt es eine Diskussion darüber,
ob die Einigung auf die Inhalte oder ob die Form der
Entscheidungsfindung von größerer Bedeutung ist. Ich
will zum Verhältnis von Form und Inhalt die These aufstellen, dass faire und transparente Entscheidungsverfahren die Erzielung richtiger Ergebnisse begünstigen.
Deshalb kommt in der europäischen Verfassung der Ausgestaltung der EU-Institutionen und ihrer Ausbalancierung untereinander allerhöchste Bedeutung zu. Insgesamt brauchen wir eine Parlamentarisierung der
Europäischen Union.
({6})
Die Kammer der Bürger, das Europäische Parlament,
muss gestärkt werden. Die Kammer der Nationen, der
Rat, muss als Gesetzgeber öffentlich und in fester Zusammensetzung tagen.
Viele Menschen beschwert beim Thema Europa, dass
sie sich ohne Einfluss fühlen. Deswegen sollen nach unserem Willen die Bürger in Europa über die Wahl des
Europäischen Parlaments entscheidenden Einfluss auf
den Gang der Dinge bekommen. Deshalb muss das Europäische Parlament in Zukunft das Recht bekommen,
den Kommissionspräsidenten mit Mehrheit zu wählen.
Der jüngste Vorschlag vom deutschen Regierungsvertreter im Konvent, Minister Fischer, birgt dagegen die
Gefahr einer veritablen Verfassungskrise in sich. Laut
diesem Vorschlag soll nämlich nach der Wahl des Präsidenten der EU-Kommission durch das Europäische Parlament der vom Parlament Gewählte nur dann ins Amt
kommen, wenn ihn der Europäische Rat mit qualifizierter Mehrheit ernennt.
({7})
Wir wollen demgegenüber, dass allein die parlamentarische Mehrheit im Europäischen Parlament über den
Chef der europäischen Exekutive bestimmt. Für den
Wahlvorschlag muss das Ergebnis der Europawahl - nichts
anderes - ausschlaggebend sein. Nur so bekommen die
Bürger Einfluss auf den Gang der Dinge in Europa.
({8})
Wie bei uns der Bundespräsident so sollte in Europa
der Europäische Rat lediglich eine Notarfunktion bei
seinem Wahlvorschlag an das Europäische Parlament
wahrnehmen. Dazu bedarf es keiner neuen Findungskommission. Ich denke, die Vorschläge des deutschen
Regierungsvertreters im Konvent müssen noch einmal
gründlich bedacht und besprochen werden.
({9})
- Das Allerbeste wäre - ich greife den Zwischenruf des
Kollegen Hoyer auf -: ohne längere Debatte vom Tisch.
Nun zur Arbeit des Europäischen Rates: Die Schaffung des Amtes eines hauptamtlichen Ratspräsidenten
mit eigenem Verwaltungsunterbau würde zu beachtlichen Reibungsverlusten führen und dieser stünde in
Dauerkonkurrenz zum Kommissionspräsidenten. Deshalb brauchen wir für den Europäischen Rat eine
schlanke Vorsitzlösung. Etwas mehr Kontinuität ist in
Ordnung, ein Super-Ratspräsident wäre zum Nachteil
Europas. Das würde mehr kosten, mehr Intransparenz
hervorrufen und wenig effizient sein. Deswegen sollten
auch diese Überlegungen möglichst rasch wieder vom
Tisch.
({10})
Mit der Verfassung wollen wir Europa bürgernäher,
effizienter und demokratischer gestalten. Hierfür haben
wir den bestmöglichen Weg gewählt. Die Europäische
Union versteht sich ja nicht nur als Union der Staaten,
sondern auch als Union der Bürgerinnen und Bürger.
Deshalb war es gut, dass wir die Erarbeitung der Verfassung nicht in die Hände von hinter verschlossenen Türen
tagenden Regierungen gelegt haben, sondern zu einer
Angelegenheit der Parlamentarier und des Konvents gemacht haben, in dem die Vertreter der Parlamente und
Regierungen und auch die der Beitrittsländer ihre Gedanken und Überlegungen mit einbringen und diskutieren können. Nie war Europa parlamentarischer und nie
wieder darf es ein Zurück in den vorparlamentarischen
Zustand in Europa geben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({11})
Unser Dank gilt unseren Vertretern im Konvent. Der
auf der Besuchertribüne wurde schon besonders begrüßt;
es kam schon Neid bei den Kollegen auf, die noch dem
Deutschen Bundestag angehören, weil sie nicht einzeln
von der Präsidentin begrüßt wurden. Ich möchte außerdem Erwin Teufel, Peter Altmaier, Elmar Brok und
Joachim Wuermeling nennen, die im Konvent eine hervorragende Arbeit für unsere Parteienfamilie leisten.
({12})
Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft.
Zugleich bestimmen ihre Regeln unser Zusammenleben
in immer größerem Maße. Deshalb gehört für mich die
bereits erarbeitete Grundrechte-Charta zwingend an
den Anfang unserer europäischen Verfassung, und zwar
in vollem Wortlaut.
({13})
Damit verbunden ist auch die Aussage - es handelt sich
nicht nur um die rechtliche Frage, ob sie im Protokoll die
gleiche Wirkung entfalten könne -, dass wir uns mit den
Grundrechten zu den fundamentalen Menschen- und
Bürgerrechten als den Errungenschaften unserer christlich geprägten abendländischen Zivilisation bekennen.
Sie sind Leitidee und der Maßstab europäischen Handelns. Deswegen gehört die Charta an den Anfang unserer europäischen Verfassung.
({14})
Für mich gehört auch ein klares Bekenntnis zu unserer
Verantwortung vor Gott und den Menschen an den Anfang der europäischen Verfassung. Die Präambel unseres
Grundgesetzes bietet hierfür ein exzellentes Vorbild.
({15})
Für uns muss der Grundsatz der Subsidiarität, das
heißt die Wahrung der Eigenverantwortung von Bürgern,
Kommunen, Regionen und Mitgliedstaaten, wo immer
hierdurch bessere Ergebnisse garantiert werden, gesichert werden. Die Kompetenzen Europas dürfen nicht
aus allgemeinen Zielvorgaben abgeleitet werden, sondern müssen sich auf konkrete Einzelermächtigungen
gründen. Nach unserem Verständnis gehört dazu auch,
dass die Überprüfung der Einhaltung des Grundsatzes
der Subsidiarität durch die zuständigen Institutionen der
Mitgliedstaaten kritisch begleitet werden kann. Wir fordern deshalb, dass regionale Gesetzgebungskörperschaften, wie bei uns die Bundesländer, aber auch Bundesrat
und Bundestag, Verstöße gegen die Subsidiaritätsgrundsätze vor dem EuGH in eigener Verantwortung rügen
können. Wo die Verwaltung auf niedrigen, bürgernahen
Ebenen besser handelt, muss sie weiter zuständig bleiben. Diese Ebenen müssen auch ihr Recht vor dem Europäischen Gerichtshof einfordern können, wenn sie einen
Verstoß gegen diese Grundsätze feststellen.
Meine Damen und Herren, wenn wir von der Parlamentarisierung der Europäischen Union sprechen, müssen
wir auch darüber nachdenken, wie wir uns als Deutscher
Bundestag im Prozess der europäischen Rechtsetzung
einbringen. Bei der Ratifizierung der europäischen Verfassung durch den Deutschen Bundestag werden wir
auch über eine wirksamere Beteiligung des deutschen
Parlaments bei der Kontrolle der deutschen Vertreter im
Ministerrat zu reden haben.
({16})
Das ist nicht nur ein allgemeiner Grundsatz, der in
diesem Hause vom Kollegen Müller schon oft und zu
Recht erhoben wurde. In diesen Tagen wird wieder deutlich, wie aktuell das ist. Es kann nicht sein, dass wir in
zentralen Fragen eine große innenpolitische Auseinandersetzung führen - denken wir an die Themen Asylrecht und Zuwanderung - und dass dann der deutsche
Innenminister in der Lage ist, Bundestag und Bundesrat
über Europa auszuhebeln, ohne dass wir Gelegenheit haben, uns parlamentarisch zu äußern oder die Regierung
festzulegen.
({17})
Deswegen wollen wir Art. 23 des Grundgesetzes vor
der Ratifizierung der europäischen Verfassung so ändern, dass der Bundestag bei zentralen europäischen
Entscheidungen und Gesetzgebungsvorhaben besser als
bisher beteiligt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erarbeitung einer europäischen Verfassung durch den Konvent ist ein
epochales Ereignis in der Geschichte der Europäischen
Union. Zum ersten Mal geben sich die Staaten Europas
eine Verfassung, die auf gemeinsamen Werten menschlichen Zusammenlebens beruht und den Geist von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit atmet. Wir haben die
große Chance, für die Europäische Union eine eigene
Identität zu schaffen, die weit über den gemeinsamen
Markt hinausreicht. Das Ziel muss eine starke Europäische Union sein, mit der wir die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit und
der Zukunft annehmen können.
Ich danke Ihnen.
({18})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Anna Lührmann,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das war ja ein ganz schöner Schock, den uns
Konventspräsident Giscard dEstaing kurz nach Ostern versetzt hat, schenkte er uns allen doch ziemlich
faule Ostereier. Der Vorschlag, mit dem er in die Präsidiumssitzung gegangen war, ließ den Integrationsfreunden
in Europa das Herz in die Hose rutschen. Da war es wieder, das alte Europa, das alte Europa der Intransparenz,
des Demokratiedefizits und der Dominanz der großen
Staaten.
Ich habe mich gefragt: Hat da vielleicht jemand die
Konventsdebatten der letzten 14 Monate verschlafen?
Der Konvent ist schließlich angetreten, um genau dieses
alte Europa zu beenden. Das Ziel ist ein neues Europa,
ein Europa der Demokratie, ein Europa der Bürgernähe,
ein Europa, das für jede Bürgerin und für jeden Bürger
verständlich ist und das die Probleme des 21. Jahrhunderts effektiv löst.
({0})
Wir müssen uns alle beim Präsidium des Konvents
bedanken, dass die Vorschläge des Konventspräsidenten
nicht eins zu eins übernommen worden sind. Die Artikelentwürfe, die dem Konvent jetzt vorgelegt worden
sind, sind weit besser als Giscard dEstaings ursprüngliche Ideen.
Leider blieben aber auch einige seiner Vorschläge
erhalten. Besonders die vom Präsidium vorgeschlagene Machtverteilung zwischen Europäischem Rat
und Europäischem Parlament muss verändert werden. Im Verhältnis dieser beiden Gremien zueinander
entscheidet sich nämlich die Machtfrage in Europa: Wer
hat das Sagen in Europa oder soll es haben: die Diplomaten der Regierungen oder die gewählten Repräsentanten der Bürgerinnen und Bürger? Ich würde mir wünschen, dass die Bürgerinnen und Bürger mehr Einfluss
bekommen, als es im Entwurf des Präsidiums vorgesehen ist.
Das Präsidium schlägt nämlich eine Stärkung des Europäischen Rates vor. So würden die Staats- und Regierungsvertreter ihren Einfluss weiter ausbauen. Der Europäische Rat ist bislang als Impulsgeber der EU definiert.
Er soll sozusagen die allgemeinen politischen Zielsetzungen festlegen. Aber natürlich wissen wir alle hier,
dass diese harmlos klingenden Worte in Art. 4 des EUVertrages in der Praxis ganz andere Auswirkungen haben. Der Europäische Rat hat sich zu einer Art Superrevisionsinstanz für alle Räte entwickelt. Wenn ein Fachrat
in einer wichtigen Frage nicht mehr weiterweiß, dann
müssen die Chefs im Europäischen Rat ran. Formell hat
der Europäische Rat zwar keine Gesetzgebungsbefugnis,
aber da die Fachräte die Entscheidung hinterher einfach
nachvollziehen, ist das doch eher eine unheilvolle Ausweitung seiner Rechte.
In Package Deals werden dann - wie auf dem Basar inhaltliche Zugeständnisse gegen Posten und nationale
Sonderregelungen getauscht. Das alles geschieht wie zuletzt in Nizza in Nächten der langen Messer unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Heraus kommen skurrile Ergebnisse, die den Bürgerinnen und Bürgern überhaupt
nicht zu vermitteln sind.
Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Beim letzten Europäischen Rat in Brüssel kümmerten sich die Chefs um die
Zinsbesteuerung, weil vorher der Ecofin-Rat zu keiner
Einigung gekommen war. Das drohende Veto eines Mitgliedstaates konnte erst in letzter Minute durch ein völlig
sachfremdes Zugeständnis bei der Milchquote erkauft
werden. So sieht im Moment die traurige Realität des
Europäischen Rates aus.
Deshalb frage ich mich, warum der Präsident des Europäischen Verfassungskonvents, Giscard d'Estaing, dieses Gremium auch noch stärken möchte.
({1})
Denn die Vorschläge des Präsidiums sehen dauerhaft einen Präsidenten des Europäischen Rates vor, bei dem es
sich um einen ehemaligen Staats- oder Regierungschef
handeln soll, der sein Amt Vollzeit ausüben soll. Außerdem wünscht Giscard dEstaing neben diesem einen Präsidenten auch noch drei Präsidiumsmitglieder. Dann hätten wir vier Politiker, die für das alte Europa der
Intransparenz und der mangelnden Demokratie arbeiten.
Wir alle hier haben sehr viel Erfahrung im Umgang
mit Politikern gesammelt. Wir wissen alle, dass es ein
guter Politiker wirklich versteht, so viel Einfluss wie
möglich an sich zu reißen. Wer gerät also am meisten in
Gefahr, Aufgaben und Ansehen zu verlieren? Das ist der
Kommissionspräsident. Aber unserer Meinung nach
sollte er es sein, der neben dem europäischen Außenminister die EU nach außen vertritt. Schließlich soll der
Kommissionspräsident - Staatsminister Bury hat dies
schon erwähnt - in Zukunft derjenige in Europa sein, der
die höchste demokratische Legitimation hat.
Er soll nämlich vom Europäischen Parlament gewählt
werden. So würden sich die Ergebnisse der Europawahl
ganz konkret in der Bildung einer europäischen Regierung niederschlagen. Ich begrüße es daher ausdrücklich,
dass der Modus zur Wahl des Kommissionspräsidenten verbessert werden soll, auch nach Vorstellung des
Präsidiums. Allerdings machen mir auch hier einige Details Sorgen. Ich finde es problematisch, dass der Europäische Rat den Präsidenten der Kommission vorschlagen soll.
Viel wichtiger wäre es, dass das Europäische Parlament in allen Bereichen weiter gestärkt wird. Deshalb
ist die Ausweitung des Mitentscheidungsrechtes des Parlaments ein sehr guter Vorschlag. Allerdings ist es meiner Meinung nach heikel, dass viele bisherige Kompetenzen des Parlaments in den jetzigen Artikelentwürfen
nicht mehr zu finden sind. Beispielsweise fehlt in Art. 15
das Misstrauensvotum oder das Fragerecht des Parlaments. So dünn darf der Artikel über das Europäische
Parlament nicht bleiben, wenn wir wirklich mit dem Ziel
ernst machen wollen, ein Europa der Bürgerinnen und
Bürger und der Staaten zu schaffen.
({2})
Natürlich soll das Europäische Parlament auch über das
politische Leben in Europa debattieren. Ich denke, dafür
brauchen wir keinen unnötigen Kongress der Völker.
Im gesamten Bereich der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik finde ich die Vorschläge des Präsidiums erstaunlich gut. Sie stellen einen
sehr großen Schritt nach vorne dar. Die geplante Benennung eines EU-Außenministers ist ein wirklicher Meilenstein in der Außenpolitik. In diesem Punkt stimmen
wir alle überein. Das Gleiche gilt auch für das Ziel, die
verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der Außenpolitik
zu nutzen und die Beistandsverpflichtung aus dem
WEU-Vertrag in den EU-Rahmen zu überführen. Dies
ist eine Forderung, die ich ebenfalls unterstütze.
Ich finde es gut, dass jetzt die Grundlagen für eine
gemeinsame Verteidigungspolitik geschaffen werden.
Denn im Ernst: Alle EU-Staaten - wir erleben das auch
in Deutschland - haben Haushaltsprobleme. Wozu brauchen wir angesichts der Sicherheitslage in Europa noch
15 bzw. in Zukunft 25 verschiedene Armeen? Das will
mir nicht in den Kopf. Auch wenn wir - das wird aus der
Arbeit des Konvents deutlich - vom Aufbau einer gemeinsamen Armee noch weit entfernt sind, so zeigt doch
die Entwicklung im Konvent, dass diejenigen falsch liegen, Herr Hintze, die immer wieder behauptet haben
oder immer noch behaupten, dass die unterschiedlichen
Meinungen der EU-Staaten in der Irakfrage zu einer dauerhaften Spaltung der EU in der Außenpolitik führen
werden.
({3})
Im Gegenteil: Europa lernt aus den Fehlern der Vergangenheit und stärkt jetzt die gemeinsame Handlungsfähigkeit.
({4})
Drei Verbesserungsvorschläge für diesen Bereich
möchte ich anmerken: Erstens sollten auch Entscheidungen in der Außenpolitik mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden.
Zweitens sollte das Europäische Parlament an diesem
Politikbereich stärker beteiligt werden.
Drittens ist es ganz wichtig, dass der europäische Außenminister von einem diplomatischen Dienst unterstützt wird, damit er auch wirklich effizient arbeiten
kann.
Wirklich gut finde ich übrigens die Pläne für ein europäisches Freiwilligenkorps. Ich weiß nicht, ob Ihnen
dieser Vorschlag bei der Lektüre der aktuellen Artikel
des Konvents aufgefallen ist. Hier wird vorgeschlagen,
dass Jugendliche aus verschiedenen EU-Ländern gemeinsam im Bereich der humanitären Hilfe arbeiten und
so hautnah die europäische Solidarität und Identität erleben können.
Es gibt viele weitere gute Vorschläge des Präsidiums:
Die Strukturen von Ministerrat und Kommission sollen
zum Beispiel effizienter werden. Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen im Rat sollen ausgeweitet und die
Erfordernisse dafür sollen vereinfacht werden. Dies, so
denke ich, ist ein sehr großer Integrationsfortschritt, zu
dem die Konferenz von Nizza noch nicht bereit war.
Allen Unkenrufen zum Trotz zeigt sich jetzt, dass die
Konventsmethode erfolgreich ist. Der Konvent hat
schon jetzt den Anfang vom Ende des alten Europa eingeläutet. Transparenz und Offenheit sind nämlich erfolgreicher als Verhandlungen hinter verschlossenen Türen.
Insgesamt stimmt mich die aktuelle Diskussion im
Konvent sehr optimistisch. Doch die Verfassung ist noch
lange nicht fertig. Noch ist nicht hundertprozentig sicher, ob wir auch wirklich eine Verfassung für das neue
Europa bekommen. Der Konvent muss jetzt darauf achten, dass seine Änderungsvorschläge vom Präsidium
übernommen werden. Die Zeit drängt. Deshalb sollte so
bald wie möglich ein konsolidierter Verfassungsentwurf
vorgelegt werden, der die Änderungswünsche der Mehrheit des Konvents aufnimmt.
Lassen Sie mich zum Ende meiner Rede zu einem
Punkt kommen, der das Ende eines jeden Verfassungsprozesses darstellt: Die Annahme der Verfassung steht
noch vor uns. Die europäische Verfassung wird der EU
eine neue Qualität geben: eine Europäische Union der
Bürgerinnen und Bürger und der Staaten. Ich finde es
deshalb notwendig, dass wir auch bei der Annahme der
Verfassung neue Wege gehen. Die Ratifizierung durch
Bundestag und Bundesrat ist zwar für internationale Verträge vollkommen in Ordnung. Aber eine Verfassung
sollte von den Bürgerinnen und Bürgern angenommen
werden. So würde sie eine größere Legitimation erhalten.
Nun sieht das Grundgesetz für diesen Fall bekanntlicherweise keinen Volksentscheid vor. Aber das Grundgesetz kann man in dieser Frage ändern, wie es viele Abgeordnete in diesem Hause fordern. Lassen Sie uns jetzt
die Grundlage dafür schaffen, dass die Bürgerinnen und
Bürger über ihre europäische Verfassung abstimmen
können! In einem Großteil der EU-Mitgliedstaaten werden die Bürger gefragt. Lassen Sie uns den Menschen
hierzulande das gleiche Recht geben! Lassen Sie uns
mutig sein und am Tag der Europawahlen im kommenden Jahr über die europäische Verfassung ein Referendum abhalten! Denn dann hätten wir es: das Europa der
Bürgerinnen und Bürger und der Staaten.
({5})
Vielen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin LeutheusserSchnarrenberger, FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der europäische Verfassungskonvent tritt in seine entscheidende Phase ein. Am 20. Juni,
also in wenigen Wochen, soll der Entwurf einer europäischen Verfassung vorliegen, die die Grundlage für das
Europa der 25, 27 oder auch 28 sein soll. Es geht also
um eine ganz grundlegende Weichenstellung und Neuorientierung der Europäischen Union zu einem demokratischen, bürgernahen, einer gemeinsamen Wertebasis,
nämlich der Grundrechte-Charta, verpflichteten Staatengebilde besonderer Art - Juristen sagen: sui generis -,
das handlungsfähig und nachvollziehbar seine Entscheidungen für jetzt 380 Millionen Bürger und als Europa
der 25 für 450 Millionen Bürger treffen muss. Es geht
also nicht um etwas mehr oder weniger Technik bei der
Abstimmung im Rat, um etwas mehr oder weniger qualifizierte Mehrheiten oder um etwas mehr oder weniger
Kompetenzen. Es geht darum, ob Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und eine klare Zuordnung
der Aufgaben auf europäischer und nationalstaatlicher
Ebene in der künftigen europäischen Verfassung verankert werden.
Die Grundrechte-Charta ist nicht so selbstverständlich, wie wir heute über sie reden.
({0})
Wenn man sich bei der Erarbeitung dieser Charta in weiten Teilen an der Europäischen Menschenrechtskonvention, aber auch an vielen Artikeln in unserem Grundgesetz orientiert und das auch festschreibt, zeigt das, dass
der Wille da ist, sich auf ein gemeinsames Wertefundament zu verständigen. Deshalb ist es ganz selbstverständlich, dass die Grundrechte-Charta nicht in einem
Protokoll versteckt werden darf, sondern mit ihrem Geist
die Verfassung prägen muss und deshalb natürlich an
den Anfang gehört.
({1})
Damit ist der Standort in der Verfassung eben nicht nur
Technik, sondern bringt auch eine ganz klare Werteentscheidung zum Ausdruck.
Die Arbeiten im Konvent, die wir von Anfang an unterstützt haben, folgen der Parlamentslogik und nicht
mehr der Regierungslogik, wie wir sie von den Regierungskonferenzen her kennen. Deshalb sind wir froh,
dass sich diese Methode auch mit dem, was bisher an
Entwürfen vorgelegt wurde - bei aller Notwendigkeit
gewisser Änderungen -, so erfolgreich gezeigt hat. Deshalb wollen wir natürlich, dass diese Konventsmethode
nach erfolgreichem Abschluss der Arbeiten an einer europäischen Verfassung weiter bestehen bleibt und dass
nach dieser Methode auch künftige grundlegende Weiterentwicklungen erarbeitet werden.
Aber jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, läuft uns
als nationales Parlament die Zeit davon. Es liegen erst
die Texte für den ersten Teil der europäischen Verfassung vom Präsidium und vom Konventsplenum vor. Der
zweite Teil ist überhaupt noch nicht konzipiert, mit Ausnahme des Teils über die Fragen der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes. Es wird für uns fast unmöglich
werden, hier im Plenum einen gemeinsamen fundierten
und soliden Standpunkt - dieser wäre aus unserer Sicht
wünschenswert - zur gesamten europäischen Verfassung
zu beziehen. Eine Bewertung der jetzigen Teile - auch
eine Bewertung der Kompetenzen der Europäischen
Union - kann aufgrund der Verzahnung mit all dem, was
noch kommt, nicht abschließend sein; wir müssen alles
im Zusammenhang sehen.
Die FDP-Fraktion hat sehr frühzeitig in ihrem Antrag
Das neue Gesicht Europas - Kernelemente einer europäischen Verfassung klar gesagt, wohin der Weg in der
Europäischen Union gehen soll. Wir freuen uns sehr,
dass weite Teile der jetzigen Beratungen im Konvent in
die Richtung gehen, die wir in unserem Antrag sehr
deutlich gekennzeichnet haben. Es gibt unstreitige Forderungen, die alle hier im Hause vertreten.
Von meinen Vorrednern wurde zum Beispiel die
Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament erwähnt. Auch das ist nicht nur eine
kleine Änderung! Wir müssen uns einmal vorstellen,
was es bedeutet, wenn man sich darauf verständigt: Europa hat ein Gesicht und die Bürgerinnen und Bürger,
die das Parlament wählen, treffen damit die Entscheidung darüber, wer denn an der Spitze der Kommission
stehen soll. Damit werden wir die Bürgerinnen und Bürger mehr begeistern können. Wir personalisieren damit
die Europawahl.
Aber bitte lassen Sie - gerade Herr Fischer und auch
Sie, Herr Bury - die Finger davon, eine Findungskommission aus gleichberechtigten Teilen des Europäischen
Parlamentes und des Europäischen Rates für ein Vorschlagsrecht einzurichten. Eine Kungelrunde, in der europäischen Verfassung verankert, kann doch nicht unsere
Vorstellung sein.
({2})
Wir wollen klare Texte in der Verfassung, aber doch
nicht Gremien, in denen - wahrscheinlich mit vielen anderen personellen Besatzungen - ausgehandelt wird, was
im Moment vielleicht am besten passt. Das Parlament
schafft das allein; denn durch das Ergebnis der Europawahl sind die Mehrheitsentscheidungen getroffen worden.
Dass das Parlament gestärkt werden muss, gehört für
uns mit an die erste Stelle, neben allen anderen wichtigen Aspekten wie Kompetenzen, Subsidiaritätsgrundsatz und der Arbeitsweise im Rat. Deshalb sind das
Haushaltsrecht des Parlaments auf der Ausgabenseite
und natürlich die volle Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren für uns selbstverständlich.
({3})
Ich sage klar: Wir sind die Einzigen, die das fordern,
was eigentlich erst ein Parlament ausmacht, nämlich das
Initiativrecht.
({4})
Davor scheut man zurück. Wir haben das in unserem
Antrag ausdrücklich gefordert.
({5})
In dem Kapitel über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird ein Initiativrecht der Mitgliedstaaten mit einem Quorum, wie es bisher schon der
Fall ist, aufgeführt, aber kein Initiativrecht des Parlaments. Das darf auf keinen Fall so bleiben. Ich bitte da
um Unterstützung unseres Vertreters im Konvent. Herr
Meyer, Sie haben ausdrücklich darum gebeten, von diesem Podium aus Aufträge zu bekommen, die Sie dann
im Konvent vertreten. Hier ist der zweite Auftrag.
({6})
Wir unterstützen die Kommission darin, kleiner zu
werden. Die Begrenzung auf 15 Kommissare haben wir
schon immer gefordert. Teilweise wurden wir etwas mitleidig nach dem Motto "Das ist doch illusorisch angeschaut. Jetzt steht es im Entwurf des Präsidiums des
Konvents. Wir unterstützen das. Uns geht es aber nicht
allein um die Zahl, sondern um das andere Denken, um
die andere Struktur der Kommission.
({7})
Das ist für uns das Entscheidende. Entscheidend ist nicht
der nationalstaatlich entsandte Kommissar, der in erster
Linie die Interessen seines Mitgliedstaates vertritt. Entscheidend sind qualifizierte Fachleute - hoffentlich mit
Erfahrung auf europäischer Ebene - die ihre Forderungen im Interesse der Europäischen Union formulieren.
Zum Ratspräsidenten ist viel gesagt worden. Unser
Antrag ist klar und eindeutig. Wir wollen keinen aufgewerteten Ratspräsidenten, der den Kommissionspräsidenten hinsichtlich seiner Aufgaben und seiner Funktion
schwächen würde. Denn dort in der Kommission liegt
die Integrationskraft und dort soll sie bleiben. Daher sind
Änderungsanträge dringend notwendig, die deutlich machen: Ein fester Vorsitz für die Dauer von zwei Jahren ist
richtig, nicht jedoch, dem Ratspräsidenten mehr Kompetenzen zuzuweisen.
Wir brauchen natürlich auch den Außenminister in
Europa. Wir brauchen mehr Europa in der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik.
({8})
Das haben wir als liberale Fraktion schon immer gesagt.
Darüber hat es bislang keine Verwerfungen gegeben, wie
wir sie in den letzten Wochen in der Europäischen Union
erleben mussten. Man kann nur hoffen, dass die Konsultationsmechanismen, wie sie derzeit im Entwurf vorgesehen sind, dazu führen, dass es endlich wieder um den
gemeinsamen Dialog und nicht um das Gegeneinander
geht, dass wir solche Vierergipfel und isolierte Aktionen
nicht mehr haben werden, sondern dass im Konvent darüber debattiert wird, was wir für eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und besonders für eine Sicherheits- und Verteidigungspolitik wollen. Das gehört
in den Konvent. Wir wollen mit unserem Antrag, den
wir eingereicht haben, den europäischen Pfeiler in der
NATO stärken.
Zum Schluss: Wir haben uns überhaupt noch nicht
mit der Wirtschaftsverfassung befasst. Wir wollen, dass
auch Wettbewerb und Marktwirtschaft als Kernelemente
in der europäischen Verfassung stehen,
({9})
und wir wollen am Ende die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Ich freue mich, dass einige in diesem
Haus gesagt haben: Eine Volksabstimmung über diese
Verfassung ist wichtig. Wir müssen das Grundgesetz ändern. Eine rein konsultative Beteiligung reicht nicht aus;
damit würde man dem Bürger etwas vormachen.
Ich fordere Sie auf, der Initiative, die die FDP ergreifen wird, im Plenum zuzustimmen. Dann werden wir es
schaffen, die Bürgerinnen und Bürger viel intensiver in
diesen Prozess einzubeziehen.
Vielen Dank.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, fraktionslos.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ende Juni wird der Konvent den Entwurf einer EU-Verfassung vorlegen. Er betrifft alle EU-Staaten und natürlich alle Bürgerinnen und Bürger der EU. Insofern ist es
höchste Zeit, dass sich der Bundestag damit befasst und
auch eigene Ansprüche deutlich formuliert. Es liegt an
uns, die EU-Verfassung so in die Öffentlichkeit zu bringen, dass sie wahr- und angenommen werden kann.
Damit komme ich zu einem Punkt, der im Antrag der
Regierungskoalition eher versteckt steht. Ich zitiere:
Der Deutsche Bundestag bittet den Konvent zu prüfen, wie die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar im
Wege eines Bürgerentscheids über die Annahme
der europäischen Verfassung entscheiden können.
Ich finde, der Bundestag sollte klarer dafür plädieren,
dass die EU-Verfassung in Volksentscheiden angenommen wird. Das wäre der Größe angemessen und obendrein demokratischer. Ganz nebenbei würden wir im
Bundestag auch noch die Hausaufgabe machen, die wir
uns schon in der letzten Legislaturperiode vorgenommen
hatten, nämlich Volksentscheide und direkte Bürgerbeteiligung auf Bundesebene endlich auch in der Bundesrepublik in Form eines Gesetzes Wirklichkeit werden zu
lassen.
Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen beginnt mit einem Bekenntnis zur EU. So weit, so gut. Allerdings sollten Sie sich in Ihrer Euphorie etwas bremsen; denn Sie lobpreisen in Ihrem Antrag als
Erfolgsstory, dass alle Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union in Frieden, Freiheit, Sicherheit und
Wohlstand leben können. Ich muss Sie doch wohl nicht
an die fast 5 Millionen Arbeitslosen in der Bundesrepublik oder an die weit über 20 Millionen Arbeitslosen in
der EU erinnern. Auch gerade deshalb wiederhole ich
die Auffassung der PDS, dass die EU jetzt und in der Zukunft vor allem eine starke soziale Komponente in der
Verfassung braucht, die sich auch im wirklichen Leben
niederschlägt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war spätestens
seit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA
gegen den Irak zu erwarten, dass die angestrebte
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik von besonderer Relevanz ist. Der Ruf nach einer gemeinsamen
euro-päischen Stimme ist daher sehr verständlich. Die
Frage ist nur, was das Gemeinsame und das Einigende in
der Außen- und Sicherheitspolitik ausmacht. Ich kann
für die PDS nur wiederholen und muss warnen: Es darf
nicht nur um die Frage gehen, der Militärmacht USA Paroli zu bieten oder ihr zu folgen. Es muss darum gehen,
sich mit zivilen Ansprüchen von einer falschen US-Politik zu emanzipieren.
Die Chance der EU liegt darin, dass sie wichtige
Grundsätze der zukünftigen Verfassung ernst nimmt.
Dazu gehören das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit, das
Engagement für Vollbeschäftigung sowie die Erhaltung
des Friedens nach innen wie nach außen. Wir werden
uns von dieser Vision allerdings noch weiter entfernen,
wenn Sie in der Koalition beispielsweise an der
Agenda 2010 des Kanzlers festhalten. Sie ist unsozial
und gemessen an der künftigen Verfassung im Übrigen
auch antieuropäisch.
Nächster Redner ist der Kollege Michael Roth, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren!
Viele Kolleginnen und Kollegen haben - es sind heute
leider nur wenige anwesend - die Europawoche genutzt,
um Flagge für das großartige Projekt des vereinten Europas zu zeigen. Deswegen steht es auch dem Deutschen
Bundestag gut an, in dieser Woche Flagge zu zeigen und
denjenigen Unterstützung zuteil werden zu lassen, die
sich der mühsamen Aufgabe, die Zukunft Europas aktiv
zu gestalten, stellen. Das ist nicht einfach. Deswegen
möchte ich von hier aus ein herzliches Dankeschön an
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten richten, die
diese Kärrnerarbeit leisten. Aber nicht nur an sie. Ich
möchte neben Jürgen Meyer und Martin Bury auch den
Außenminister, den ich nicht zur Sozialdemokratie
zähle,
({0})
und Klaus Hänsch nennen. Klaus Hänsch gehört dem
Präsidium an. Das Präsidium hat erfolgreiche Arbeit geleistet - sie war sehr schwierig - und hat das, was vom
Konventspräsidenten vorgeschlagen wurde, demokratischer werden lassen.
Es steht uns auch deswegen gut an, weil der Konvent
originär ein parlamentarisches Gremium ist. Dieses Gremium konnte durch unsere Aktivitäten und unser Engagement überhaupt erst eingesetzt werden. Dieser Konvent braucht parlamentarische Begleitung und
Unterstützung; denn er ringt mit der zentralen Herausforderung, die uns tagtäglich auch im Bundestag beschäftigt: Wie können wir die Globalisierung politisch
gestalten, und zwar in einer Zeit, in der nationalstaatliches Handeln zunehmend an seine Grenzen stößt?
Eigentlich müssten hier nicht nur die Europaexperten
sitzen, sondern auch die anderen, weil es um die Wirtschaft, den Verbraucherschutz, die Umweltpolitik und
viele andere Themenbereiche geht. Wir müssen es irgendwann einmal schaffen, diese Vernetztheit des europäischen Handelns auch in unserem Parlament deutlicher werden zu lassen.
Der Konvent hat zwei schwierige Aufgaben zu bewältigen, um die Globalisierung aktiv zu gestalten: Er
muss mehr Demokratie wagen und den europäischen Institutionen sowie Europa insgesamt mehr Handlungsfähigkeit zuteil werden lassen.
Die Vorschläge zu den institutionellen Reformen liegen jetzt endlich auf dem Tisch. Wenn ich mit Kolleginnen und Kollegen darüber rede, sagen sie, dass sie das
alles nicht interessiert, und sie fragen mich, was das
überhaupt soll. Bei aller verständlichen Skepsis sage ich:
Michael Roth ({1})
Es geht hier um die Machtfrage in Europa. Wer hat was,
wann, wie und an welchen Stellen zu entscheiden?
Wir müssen mehr Demokratie wagen, damit das insgesamt ein Erfolg wird. Wir brauchen einen vitalen Parlamentarismus, wir brauchen starke, einflussreiche und
selbstbewusste Parlamente auf der europäischen Ebene
und wir brauchen nationale Parlamente, die sich dieser
europäischen Aufgabe besser als bislang stellen.
({2})
Die Europäische Union ist nicht nur eine Union der
Staaten - so wie das eben schon zum Ausdruck gebracht
wurde -, sondern sie ist auch eine Union der Bürgerinnen und Bürger. Offensichtlich herrscht darüber kein
Konsens; denn sonst hätte der Präsident des Konvents,
der ja nicht irgendeiner extremistischen Minderheit in
Europa angehört, diese gefährlichen Vorschläge nicht
unterbreitet. Es ist ein zum Teil gefährliches Selbstverständnis, das hier zum Tragen kommt und zum Ausdruck
gebracht wird; denn die Europäische Union ist nicht allein die Domäne der Staaten und ihrer Regierungen. Was
für ein demokratisches Selbstverständnis wäre das?
Was heißt, mehr Demokratie für Europa wagen? Hier
sind wir glücklicherweise einer Meinung. Das heißt zunächst einmal: Das Europäische Parlament muss ein
starkes Parlament als Kammer der Bürgerinnen und Bürger sein.
({3})
Wir brauchen dabei selbstbewusste und vom Vertrauen
der Bürgerinnen und Bürger getragene Europaabgeordnete. Wir wissen doch, wie schwierig das ist. Das erfahren wir aus unseren Gesprächen mit den Kolleginnen
und Kollegen aus dem Europäischen Parlament. Deswegen ist es wichtig, dass wir Wahlkreise einrichten, um ihnen die Chance zu geben, näher bei den Bürgerinnen und
Bürgern zu sein. Dadurch können sie - wie jeder Bundestagsabgeordnete auch - ein überschaubares Gebiet
bearbeiten, sodass sie sich heimisch und von den Menschen, die sie oder ihn gewählt haben, getragen fühlen
können.
Wir müssen auch dem Prinzip One man, one vote
eine stärkere Durchschlagskraft verleihen; das ist ein
ganz wichtiger Punkt.
({4})
Herr Kollege Müller, wir wissen, dass eines dabei natürlich sehr deutlich sein muss: Bei den ganz kleinen Mitgliedstaaten wird es eine gewisse Mindestrepräsentanz
geben müssen.
({5})
Zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat,
der als Kammer der Staaten durch die Regierungen repräsentiert wird, muss bei der Gesetzgebung natürlich
Gleichberechtigung herrschen. Der entscheidende Punkt
ist, dass das Europäische Parlament den Chef der Exekutive wählen muss. Wir brauchen ein Gesicht für Europa.
Ich verstehe die Kritik der Regierungen nicht, die im Zusammenhang mit dem Präsidiumsvorschlag einen Weg
aufgezeigt haben, wie der Kommissionspräsident vom
Parlament zwar gewählt werden, man aber doch irgendwie noch mitmischen kann. Wir brauchen hier eine klare
Kante; es muss eine klare Regelung geben. Der Kommissionspräsident muss von der politischen Mehrheit im
Europäischen Parlament abhängig sein. Er muss von ihr
gewählt, getragen und unterstützt werden.
Ich glaube, das muss noch deutlicher werden; denn
wenn wir es wirklich schafften, den europäischen Wahlprozess zu europäisieren, dann gäbe es auch europäische
Spitzenkandidaten. Ich bin mir sicher: Wenn die Kolleginnen und Kollegen der konservativen Seite einen europäischen Spitzenkandidaten aufzustellen haben, dann
werden sowohl Ministerpräsident Juncker als auch Ministerpräsident Aznar daran beteiligt sein, ihn zu benennen und ihm das Vertrauen zu schenken. Deswegen kann
ich es nicht nachvollziehen, warum man dem Europäischen Parlament nicht das Vertrauen entgegenbringt, welches es braucht, um stark, einflussreich und mächtig sein
zu können. Vielleicht schaffen wir es dann endlich, nicht
länger nur über europäische politische Familien, sondern
auch über kraftvolle europäische Parteien zu reden, die
das tun, was auf europäischer Ebene notwendig ist.
({6})
Natürlich ist es wichtig, dass wir auch über uns selbst
und über die Rolle der nationalen Parlamente sprechen. Ich kann die Skepsis mancher Kolleginnen und
Kollegen durchaus verstehen. Ich habe das bei der Erarbeitung unseres Antrages gemerkt. Es gibt Vorbehalte.
Diese erwachsen aus der Frage: Was wird aus uns, wenn
mehr und mehr Kompetenzen auf die europäische Ebene
verlagert werden? Wir müssen uns aber vor allem als
Partner des Europäischen Parlaments begreifen und eine
Arbeitsteilung zwischen den Parlamenten vornehmen.
Das bedeutet, dass wir innerstaatlich stärker am europäischen Handeln mitwirken und auch dann mitentscheiden, wenn es den Regierungen gelegentlich nicht gefällt.
({7})
Herr Kollege Hintze, Sie haben vorhin an einigen
Punkten Kritik geübt. Wir müssen die Möglichkeiten, die
in Art. 23 des Grundgesetzes zugrunde gelegt werden,
offensiv nutzen. Ich glaube, dass es hier noch Spielraum
gibt - das sage ich im Hinblick auf alle Fraktionen -, der
ungenutzt brachliegt. Diesen sollten wir nutzen. Aber
wenn der Verfassungsentwurf vorliegt, müssen wir uns
wie nach dem Vertrag von Maastricht überlegen, welche
Konsequenzen wir daraus für unser parlamentarisches
Handeln auf der nationalen Ebene ziehen. Es darf keine
Problemverlagerung auf die europäische Ebene geben,
indem wir irgendeine Institution schaffen, über die die
nationalen Parlamentarier in Brüssel entscheiden. Es darf
keinen Kongress der Völker Europas und auch keine
weitere Kammer für die nationalen Parlamente geben.
Wir haben hier genug zu tun, um Europapolitik aktiv mitzugestalten. Das nämlich ist unsere Aufgabe.
({8})
Michael Roth ({9})
Die Europäische Union und die europäische Demokratie
brauchen europataugliche nationale Parlamente, die die
Europapolitik ihrer Regierungen effizient und durchschlagsfähig kontrollieren.
Mehr Demokratie bedeutet aber auch eine Weiterentwicklung des Ministerrates zu einer starken Kammer, die
öffentlich tagt und mit Mehrheit entscheidet. Wir wollen
kein Einstimmigkeitsprinzip mehr. Daher unterstützen
wir auch unseren Konventsdelegierten. Mehr Demokratie bedingt auch einen von der Mehrheit des Parlaments
getragenen und nicht allein vom Wohlwollen der Regierungen abhängigen Kommissionspräsidenten.
Aber mehr Demokratie verlangt auch eine engere Anbindung der Parlamente an die Außen-, Sicherheits- und
Verteidigungspolitik. Ich bin stolz auf das, was wir im
Deutschen Bundestag vor allem in der Verteidigungspolitik leisten; denn wir haben eine Parlamentsarmee. Weil
wir uns als Seismographen der Gesellschaft verstehen
und nah an den Bürgerinnen und Bürgern sind, kommen
verteidigungspolitische Entscheidungen verantwortungsbewusst zustande. Ich glaube, dass dieses parlamentarische Verständnis von Verteidigungspolitik gut
für unser Land ist. Es wäre auch gut für Europa, wenn
wir das Europäische Parlament noch stärker an diesen
grundlegenden Fragen der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik beteiligten.
Weniger Demokratie bedeutete es aber, wenn wir einen mächtigen Ratspräsidenten hätten, der sich allein
den Regierungen verpflichtet fühlt. Weniger Demokratie
bedeutete es auch, wenn wir stur am Einstimmigkeitsprinzip festhielten, wenn es uns nationalstaatlich genehm ist.
Der Koalitionsantrag, der schon einige Male angesprochen wurde - von der Kollegin Pau hätte ich mir gewünscht, sie hätte ihn etwas aufmerksamer gelesen -,
soll Richtschnur und Stütze für unsere Konventsdelegierten sein. Er macht deutlich: Die SPD war, ist und
bleibt eine Europapartei, die nicht nur theoretisiert, sondern sich tagtäglich abmüht, Europa menschlicher, solidarischer, gerechter und friedlicher werden zu lassen.
Das ist unsere große Aufgabe.
({10})
Das Referendum ist angesprochen worden. Sie brauchen gar nichts mehr zu entwickeln oder vorzuschlagen,
Frau Leutheusser-Schnarrenberger. Diese Koalition hat
einen Vorschlag für mehr plebiszitäre Elemente im deutschen Grundgesetz vorgelegt. Dieser Vorstoß ist aber jedes Mal vor allem an der CDU/CSU gescheitert. Deswegen schlage ich Ihnen vor: Wir debattieren über mehr
plebiszitäre Elemente in der Bundesrepublik. Ich bin
dann gespannt, wie sich die CDU/CSU verhalten wird;
denn sie hat diesen Vorschlag auf nationalstaatlicher
Ebene ständig abgelehnt. Aus diesem Grunde kann ich
nicht verstehen, warum Herr Stoiber für die europäische
Ebene jetzt etwas fordert, was er nationalstaatlich massiv abwehrt und dem er sich verweigert. Diese Frage
müssen Sie uns beantworten.
Genauso müssen Sie uns einmal sagen, was die CSU
- bei aller Wertschätzung einzelner Kollegen - eigentlich will. Sie gefällt sich nämlich in fatalistischen Lamentos. Immer wieder hören wir im Ausschuss: Das alles können wir nicht machen. Wenn von unseren
Delegierten im Europaausschuss berichtet wird, dann
kommt von der CSU: Wir dürfen gar nicht richtig mitarbeiten. Ich stelle Ihnen nun die Frage: Was wollen Sie
denn eigentlich? Wo bleiben denn Ihre konstruktiven Alternativvorschläge zu dem, was wir in unserem Antrag
fordern? Zeigen Sie einmal Flagge und machen Sie deutlich, wo Ihre Alternativen liegen!
({11})
Die Machtfrage in Europa ist gestellt. Aus meiner
Sicht kann diese Machtfrage nur demokratisch oder gar
nicht beantwortet werden. Für die letzte Etappe wünsche
ich allen viel Kraft und Ausdauer, aber auch die Bereitschaft zum Kompromiss. Deswegen habe ich auch Verständnis dafür, wenn sich der Außenminister mit einem
Vorschlag zur Wahl des Kommissionspräsidenten, der
uns vielleicht nicht unbedingt schmeckt, in den Konvent
begibt und versucht, eine Kompromisslinie aufzuzeigen.
Bei aller Kritik, die wir in dieser Frage vielleicht teilen,
brauchen wir auch die Bereitschaft zum Kompromiss;
anderenfalls kann das ganze Projekt nicht gelingen. Deswegen unseren Delegierten, unseren Schaffern vor Ort in
Brüssel: Glück auf für die letzte Etappe!
Danke schön.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Altmaier,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Dieser Konvent war die richtige Antwort auf die großen Reformherausforderungen
der Europäischen Union.
({0})
Er war nicht deshalb die richtige Antwort, weil die Delegierten so besonders gut sind. Das sind sie vielleicht
auch, jedenfalls einige. Er war auch nicht deshalb die
richtige Antwort, weil er in Brüssel und nicht an einem
anderen Ort tagt. Vielmehr war er die richtige Antwort,
weil er unter den Augen und unter der Kontrolle der Öffentlichkeit und nicht hinter verschlossenen Türen tagt.
Es ist im Laufe der letzten anderthalb Jahre immer wieder gelungen, die Aufnahme von Vorschlägen, die gefährlich und problematisch waren, dadurch zu verhindern, dass der Druck der öffentlichen Meinung
mobilisiert worden ist. Dies zeigt, dass es in einer demokratischen Gesellschaft keine Alternative zu einer öffentlichen politischen Debatte gibt.
({1})
Dieser Konvent kann, wenn er den selbst gesteckten
Erwartungen gerecht wird, ein wirklich historisches Ergebnis erreichen, mit dem Europa, die europäische Integration auf eine neue qualitative Stufe gestellt wird. Er
wird aber - auch das müssen wir den Menschen draußen
sagen - Europa nicht neu erfinden, nicht alles verändern
und nicht alles in Frage stellen. Vielmehr soll er auf den
Errungenschaften aufbauen, die seit 50 Jahren erreicht
worden sind, sie verbessern und so ausgestalten, dass sie
den Herausforderungen der heutigen Zeit gerecht werden.
Das sind keine Schlagworte. Wenn wir über Bürgernähe und Demokratie reden, dann bedeutet dies in der
heutigen Zeit zuvörderst, dass die Bürger die Möglichkeit haben müssen, mitzuentscheiden. Die Europäische
Union ist kein Staat und wird durch diesen Konvent auch
kein Staat, aber sie hat in vielen Bereichen Zuständigkeiten wie ein Staat. Daher muss sie auch wie ein Staat organisiert sein. Das heißt, die Bürger müssen die Möglichkeit haben, ihre Regierung zu wählen und
abzuwählen. Deshalb ist die in diesem Konvent aufgeworfene Frage, ob das Europäische Parlament den Präsidenten der Europäischen Kommission wählt, keine technische Frage, sondern die entscheidende Frage nach
Demokratie und Bürgernähe.
({2})
In diesem Zusammenhang richte ich an die Adresse
des Vertreters der Bundesregierung die Bitte, noch einmal über Folgendes nachzudenken: Wenn wir mehr Demokratie und Bürgernähe erreichen wollen, dann passt
der Vorschlag des Bundesaußenministers nicht dazu,
dass nach der Wahl des Kommissionspräsidenten
durch das Europäische Parlament - derjenige, der nach
einer Europawahl im Europäischen Parlament die Mehrheit hat, wird gewählt - der Europäische Rat mit qualifizierter Mehrheit dann noch einmal darüber entscheidet,
ob er diese Person auch tatsächlich ernennt.
({3})
Das wäre so ähnlich, als müsste der vom Bundestag gewählte Bundeskanzler anschließend mit absoluter Mehrheit vom Bundesrat bestätigt werden.
({4})
Das ist noch nicht einmal parlamentarische Monarchie;
das ist vorparlamentarische Monarchie.
Ich bitte Sie ganz herzlich: Denken Sie noch einmal
darüber nach und ziehen Sie diesen Antrag zurück! Die
gesamte Debatte über Ratspräsidentschaft und über institutionelle Arrangements - die die Bürger nur begrenzt
interessieren, aber im Konvent so schrecklich wichtig
sind - hat natürlich auch zum Gegenstand, wie man Europa so organisieren kann, dass es zu einem gerechten
Interessenausgleich zwischen Großen und Kleinen in
Europa kommt.
Aus der Konventsarbeit der letzten Tage und Wochen
muss man dazu sagen, dass das Misstrauen vor allen
Dingen der kleinen Mitgliedstaaten in Bezug auf eine
Bevormundung durch die großen wegen des Direktoriums gewachsen ist. Das hat nicht in erster Linie etwas
damit zu tun, dass das Konventspräsidium Vorschläge
gemacht hat, die an der einen oder anderen Stelle verbesserungsbedürftig sind, sondern damit, dass durch die Debatten der letzten Monate auch im Zusammenhang mit
dem Thema Irak das Grundvertrauen in Europa beschädigt worden ist. Leider Gottes ist die Bundesrepublik
Deutschland zum ersten Mal als gerechter Makler zwischen Groß und Klein ausgefallen. Ich bitte Sie, Herr
Staatsminister Bury, helfen Sie mit, dies wieder zu reparieren. Davon hängt der Erfolg des Konvents in entscheidender Weise ab.
({5})
Meine Damen und Herren, so wichtig es ist, über
Groß und Klein, über den Ausgleich zwischen Arm und
Reich, zwischen Nord und Süd sowie zwischen Alt und
Neu zu diskutieren, so sehr müssen wir darauf achten,
dass dies nicht die einzigen Fragen sind, die die politische Debatte in Europa bestimmen. Wir müssen in Zukunft nicht über Groß und Klein diskutieren, sondern
darüber, ob eine Entscheidung richtig oder falsch ist und
ob durch sie die Probleme gelöst werden. Dafür brauchen wir die Reform der politischen Institutionen.
Wir müssen den Europäischen Rat und Europa insgesamt effizienter machen. Was nützt es den Bürgern,
wenn Europa für die Lösung seiner Probleme in immer
weiteren Bereichen zuständig ist, es aber zehn, 15, 17
oder 18 Jahre dauert, bis eine notwendige gesetzliche
Maßnahme verabschiedet wird, und dann, wenn nach
15-jährigen Beratungen die europäischen Regierungschefs hinter verschlossenen Türen einen Kompromiss
gefunden haben, die Beamten eine Woche lang darüber
rätseln, was eigentlich beschlossen worden ist? Solche
Entscheidungsverfahren können wir uns nicht mehr leisten.
Aus diesem Grunde ist es so wichtig, dass wir das
Prinzip der Mehrheitsentscheidung auf alles ausdehnen, was auf der europäischen Ebene zu entscheiden ist.
Wir können es uns nicht länger leisten, durch einstimmige Entscheidungen und Vetorechte für jedes einzelne
Land die Europäische Union erpressbar zu machen und
die Blockademöglichkeiten zu vergrößern. Deshalb
muss dort, wo Europa zuständig ist, in Zukunft mit
Mehrheit entschieden werden. Dies setzt die Bereitschaft
voraus, sich auch einmal überstimmen zu lassen; denn es
ist besser, dass es zu einer Entscheidung kommt, als dass
alles jahrelang blockiert wird. Wenn wir Europa effizient
und fit machen, starke Institutionen haben und mit
Mehrheit entscheiden, dann müssen wir aber auch dafür
sorgen, dass klar ist, welche Ebene in Europa wofür zuständig ist, damit nicht über diese Mehrheitsentscheidungen immer mehr Zuständigkeiten schleichend auf die
europäische Ebene abwandern.
Deshalb ist es auch der Mühe wert, einmal darüber zu
diskutieren, ob man bei einer Vergemeinschaftung des
Asylrechts nicht sagen muss, wir wollen beispielsweise
die Einwanderung weiterhin national regeln, weil die
Mitgliedstaaten viel dichter an der Frage sind, wie viele
Personen in den Arbeitsmarkt zuwandern können. Diese
Debatte muss in den letzten Wochen im Konvent geführt
werden.
({6})
Im Hinblick auf den europäischen Stabilitätspakt
wollen wir erreichen, dass in Zukunft im Ministerrat
nicht hinter verschlossenen Türen gekungelt wird,
({7})
ob ein Land einen blauen Brief bekommt oder nicht.
Vielmehr muss die Kommission nach einem objektiven
Verfahren die Mitgliedstaaten zur Einhaltung ihrer Verpflichtungen anhalten.
({8})
In diesem Falle brauchen wir aber nicht noch eine zusätzliche Zuständigkeit der Europäischen Union für die
Koordinierung der Wirtschaftspolitiken insgesamt. Das
heißt, das Prinzip Weniger, aber besser sollte für uns
die Leitschnur bei der Neuordnung der Kompetenzen
sein.
Natürlich müssen wir die Verfahren zur Erhebung der
Mehrwertsteuer und anderer indirekter Steuern so regeln, dass sie europaweit kompatibel sind. Aber brauchen wir wirklich eine eigene Steuer für die Europäische
Union oder zahlen die Bürger nicht schon Steuern genug, sodass eigentlich Steuersenkungen, nicht aber weitere Steuererhöhungen erforderlich wären?
Meine Damen und Herren, wir brauchen ein System der
Kompetenzausübung, das auch dazu führt, dass der Europäische Gerichtshof aus der Kritik kommt. Der Europäische Gerichtshof ist aus exzellenten Juristen - Richtern
und Generalanwälten - zusammengesetzt, die eine hervorragende Arbeit leisten und das europäische Recht so
auslegen, dass es Wortlaut und Sinn der Europäischen
Verträge entspricht. In der Vergangenheit wurden sie immer nur zugunsten der Integration ausgelegt. Wenn wir
aber erreichen wollen, dass Mitgliedstaaten und Europäische Union über einen Kernbereich an Aufgaben verfügen, dann muss in Zukunft in bestimmten Bereichen auch
zugunsten der Mitgliedstaaten entschieden werden können. Wenn wir die Kompetenzordnung so regeln, dann
wird der EuGH auch dafür sorgen, dass die Kompetenzen der Mitgliedstaaten geachtet werden, genauso wie
er es jetzt bei den Kompetenzen der Europäischen Union
tut.
Wir brauchen in Europa in der Tat endlich eine
Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die
diesen Namen verdient. Es gibt im Zeitalter der Globalisierung mit Ausnahme der Vereinigten Staaten von
Amerika heute keine großen Länder mehr. Das haben
nur noch nicht alle Länder bemerkt. Meine Befürchtung
ist, dass es auch im deutschen Bundeskanzleramt nicht
überall bemerkt worden ist. Sonst hätte man nicht im
August letzten Jahres vom deutschen Weg in der Außenpolitik geredet. Das hat dazu geführt, dass in Europa
Misstrauen entstanden ist. Das hat dazu geführt, dass die
Verhandlungen im Konvent im Bereich der Außen- und
Sicherheitspolitik schwierig geworden sind.
Wir müssen klar machen: Wenn Europa etwas zu sagen haben und eine Rolle spielen soll, dann darf es in
Zukunft weder für Deutschland noch für irgendein anderes Land einen nationalen Sonderweg geben, dann kann
es nur gemeinsame europäische Entscheidungen geben.
Meine Damen und Herren, wenn Europa funktionieren soll, mit Kompetenzen wie ein Staat, mit Institutionen, die stark und unabhängig sind, dann braucht es auch
eine gemeinsame Identität. Denn nur wenn sich die
Bürgerinnen und Bürger zu diesem Europa bekennen,
wenn sie das Gefühl haben, in diesem Europa zu Hause
zu sein, werden sie es auch auf lange Sicht unterstützen.
Deshalb müssen wir zwei Dinge deutlich machen.
Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern erstens deutlich machen: Dieses Europa wächst zusammen und es
wird nach dieser großen Reform besser als zuvor in der
Lage sein, ihre Probleme in dem Bereich zu lösen, für
den Europa zuständig ist. Wir müssen ihnen aber auch
die Angst nehmen, dass die europäische Integration irgendwann dazu führt, dass der Nationalstaat überflüssig
wird und dass die eigene nationale Identität verloren
geht. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir zum
ersten Mal in der europäischen Verfassung eine Vorschrift haben werden - Art. 9 Abs. 6 -, die ausdrücklich
besagt, dass bei der Anwendung der Kompetenzen der
Europäischen Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten einschließlich der föderalen Gliederung
und der kommunalen Selbstverwaltung zu achten ist.
({9})
Das ist ein wichtiger Fortschritt, weil er Ängste wegnimmt und dazu führt, dass die Akzeptanz von Europa
verbreitert wird.
Dazu gehört auch, dass wir unsere Grundwerte klarmachen und deutlich machen, woher wir kommen und
auf welchen Traditionen wir aufbauen. Peter Hintze hat
gesagt: Wir wollen einen Bezug zu Gott. Ich unterstreiche das nachdrücklich. Alle Redner haben gesagt, sie
wollten, dass die Europäische Grundrechte-Charta
rechtsverbindlich wird, damit sie unser europäisches
Erbe zum Ausdruck bringt. Dazu gehören Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung von Mann und
Frau und vieles andere mehr. Wenn wir es schaffen, dies
in verständlicher Form in die europäische Verfassung zu
schreiben, dann ist sie weniger technisch und leichter
verständlich.
Ich komme zum letzten Punkt. Lieber Michael Roth,
ich freue mich sehr, dass Sie gesagt haben: Wir stehen zu
unseren Vorschlägen für ein europäisches Referendum
und für mehr direkte Bürgerbeteiligung. Wenn ich aber
sehe, wie panisch Herr Müntefering und Herr Scholz reagiert haben, als zwölf Kolleginnen und Kollegen von
Ihnen
({10})
von dem Institut der Mitgliederbefragung Gebrauch gemacht haben, das in Ihrer eigenen Parteisatzung vorhan3564
den ist, dann sollten Sie auch über diesen Vorschlag
noch einmal nachdenken.
({11})
Wir sollten alles tun, damit wir den Zeitplan einhalten, damit der Konvent in die Lage kommt, wie vorgesehen im Juni einen vernünftigen, einen weiterführenden
Vorschlag zu unterbreiten. Wir sollten ihn dann in der
Regierungskonferenz zügig verabschieden. Dann wird
uns dieser neue Verfassungsvertrag in die Lage versetzen, dass wir uns endlich um das kümmern, was die Bürger von uns erwarten, nämlich die Lösung ihrer drängenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme.
In diesem Sinne Glückauf!
({12})
Der nächste Redner ist der Kollege Rainder
Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Altmaier, wenn es jemanden gibt, der
keinen Anlass hat, mit Häme über Elemente der direkten Demokratie zu sprechen, dann glaube ich, dass das
Ihre Fraktion ist.
({0})
Wir haben Ihre Fraktion seit Jahren in diesem Hause erlebt, wenn es darum ging, die Bürgerinnen und Bürger
außerhalb von Wahlen direkt an Entscheidungsprozessen
zu beteiligen, wofür wir uns immer eingesetzt und auch
entsprechende Gesetzentwürfe vorgelegt haben. So richtig auch vieles in Ihrer Rede meiner Meinung nach ist,
Kollege Altmaier, bitte ich doch an dieser Stelle darum,
parteipolitische Polemik außen vor zu lassen.
Wir befinden uns in einer Situation - das hat die Debatte in diesem Hause gezeigt, die auf einem sehr hohen
Niveau verläuft; es gibt viele Forderungen, die von diesem Hohen Haus gemeinsam nach Europa getragen werden -, in der wir auch ein großes Interesse daran haben
müssten, die Menschen in diesem Lande mitzunehmen.
Denn diese Debatte wird - das zeigt die geringe Zahl der
Abgeordneten, die das Hohe Haus hier repräsentieren diesem Thema und seiner historischen Bedeutung nicht
gerecht.
Angesichts der Debatte in der Öffentlichkeit bzw. in
den Medien dieser Republik kann nicht davon die Rede
sein, dass es uns bisher gelungen ist, die Menschen in
diesem Lande an diesen historischen Entscheidungen
zu beteiligen, die Europa über Generationen hinweg prägen und die Grundlage für ein immer demokratischeres,
friedliches, solidarisches, aber auch nachhaltiges Europa
schaffen werden. In diesem Bereich gibt es Versäumnisse.
Ich bitte Sie alle, zumindest eines mitzutragen, nämlich dass wir uns dafür einsetzen, dass diese europäische
Verfassung in einer Sprache formuliert wird, die die
Menschen in diesem Lande verstehen können.
({1})
Denn die technischen Formulierungen im Verfassungsentwurf verstehen nur Lobbyisten und Insider wie wir.
Ich möchte noch versuchen, etwas richtig zu stellen,
was sowohl von dem Kollegen Altmaier als auch von
dem Kollegen Hintze dargestellt worden ist. Die Initiativen, die die deutsche Bundesregierung zusammen mit
Frankreich, Belgien und Luxemburg unternommen hat,
sind in dieser Darstellung aus meiner Sicht in der historischen Bewertung in ein völlig falsches Licht gerückt
worden. Sie berauben sich auch der Chance, das umzusetzen, was Sie immer gewollt haben. Sie haben nämlich
in Ihrem Antrag zum Élysée-Vertrag mit Recht genau das
gefordert, Kollege Hintze, was die Bundesregierung jetzt
initiiert hat, nämlich mit der Achse Paris-Berlin als Motor eine europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion voranzutreiben, und zwar nicht im Sinne eines
Kerneuropas, das andere Länder ausschließt, sondern im
Sinne eines Modells, mit dem jemand vorangeht und
feststellt, dass es sich - vor allem nach den Ereignissen
der letzten Zeit - um eine zentrale Frage europäischer
Politik für die Zukunft handelt, europäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik gemeinsam zu definieren und
dafür Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
({2})
Darin sollten wir uns einig sein und das sollten wir auch
gemeinsam unterstützen.
Bei dem Vierergipfel hat es sich keineswegs um ein
Treffen von Spaltern gehandelt. Vielmehr sind die Impulse, mit denen wir Europa voranbringen wollen, auf
Integration angelegt. Die Geschichte der Europäischen
Union zeigt, dass es immer das Prinzip großer Veränderungen in Europa war, dass sich einige auf den Weg gemacht und Initiativen entwickelt haben. Oftmals mussten andere Staaten erst von diesen Vorschlägen
überzeugt werden.
Der EU-Vertrag ist voll von Initiativen einzelner Staaten. Schengen zum Beispiel geht auf eine Initiative von
Deutschland und Frankreich zurück. Die Initiative zur
Beschäftigungspolitik wurde von Schweden angestoßen.
Die gesamte Umweltpolitik wurde im Grunde von einer
deutsch-dänischen Achse in Europa vorangebracht. Die
Unionsbürgerschaft ist von Spanien und Portugal entwickelt und in die EU hineingetragen worden.
Europa lebt von solchen Initiativen. Wir sollten uns
im positiven Sinne darauf beziehen, statt im Nachklapp
zu Debatten, die hier geführt worden sind und in denen
sich der eine oder die andere vielleicht unwohl gefühlt
hat, zu mäkeln. Wir sollten in dem Wissen, dass wir die
Thematik, die von den Teilnehmern des Vierergipfels andiskutiert worden ist, in der Europäischen Union geRainder Steenblock
meinsam voranbringen wollen, nach vorne gerichtet diskutieren. Das sollte unser Interesse bestimmen.
({3})
Zum Schluss möchte ich noch auf einen Wert hinweisen, der gerade für die Fraktion der Grünen neben dem
Wettbewerb und den Zielen der ökonomischen Entwicklung, die Sie, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, für die
FDP angesprochen haben, wichtig ist. Europa wird aus
unserer Sicht nur dann eine Zukunft haben, wenn es ein
Europa der Nachhaltigkeit ist, wenn es also zukünftigen
Generationen Lebensperspektiven bietet und ein Europa
ist, in dem die Ökonomie nicht zulasten der Schwachen,
der Natur, die sich nicht wehren kann, und der zukünftigen Generationen, die sich nicht wehren können, entwickelt wird. Ein Europa der Nachhaltigkeit ist ein Europa,
das mit seinen Ressourcen vernünftig umgeht, das zum
Beispiel vom Erdöl wegkommt und eine eigene Energieversorgung auf der Grundlage regenerativer Energien
schafft, ein Europa, das die Bildungspolitik und die Forschungspolitik als Ressourcen seiner zukünftigen Möglichkeiten erkennt, die exportiert werden können, ein Europa, das nicht danach strebt, andere zu unterdrücken,
und das nicht auf Konkurrenz aufgebaut ist, sondern das
im Kern solidarisch ist und dessen Länder füreinander
einstehen. Diese Form der Nachhaltigkeit in Europa ist
für uns ein Wert, für den wir besonders kämpfen.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerd Müller,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach
dem Binnenmarkt, dem Euro und der Osterweiterung ist
das Projekt eines europäischen Verfassungsvertrages ein
weiterer großer Reformschritt. Ich finde die Debatte
prima, die wir Parlamentarier geführt haben. Sie ist offen. Es gibt eine Schnittmenge an Vorschlägen, die über
alle Fraktionsgrenzen hinweg als interessant betrachtet
werden. Wir sind Deutsche, die ihre Positionen zu dem
europäischen Verfassungsvertrag formulieren. Das intellektuelle Niveau der Debatte ist vielleicht auch deshalb
so gut, weil die Bundesregierung daran fast gar nicht
teilnimmt. Einerseits bedauere ich das. Herr Bury, ich
meine nicht Sie persönlich. Auf der anderen Seite ist es
schon erschreckend, dass bei der Diskussion über ein
solches Projekt mit weit reichender Bedeutung wie das
eines europäischen Verfassungsvertrages weit und breit
kein Bundeskanzler und kein Bundesaußenminister zu
sehen sind. Die gesamte Bundesregierung glänzt durch
Abwesenheit. Das ist natürlich auch ein Affront gegen
dieses Parlament.
({0})
Es ist zwar schön, wenn wir Abgeordnete uns einig sind
bzw. gemeinsame Linien entwickeln. Aber entscheidend
ist natürlich, welche Vorschläge der Bundesaußenminister in den Konvent einbringt. Ich hätte gern mit ihm hier
vor der deutschen Öffentlichkeit über sein Konzept diskutiert. Er fährt stattdessen in Begleitung von zehn Fernsehkameras zu den Konventsitzungen in Brüssel, gibt
anschließend Zwei-Minuten-Statements ab und verschwindet wieder. Das ist nicht dem Ernst und der Zukunftsbezogenheit dieses Projektes angemessen.
({1})
Lassen Sie mich im Angesicht unserer leibhaftigen Konventsvertreter, Herrn Altmaier und Herrn Professor
Meyer, die sich in hervorragender Weise auch um den
Kontakt zum Parlament bemühen, einige Anmerkungen
aus der Sicht meiner Partei über den derzeitigen Diskussionsstand machen. Der Verfassungskonvent - Herr
Altmaier hat schon darauf hingewiesen - ist keine revolutionäre Nationalversammlung im Sinne der von 1789
oder des Konvents von Herrenchiemsee. Wir versuchen
vielmehr, Schritt für Schritt auf die Osterweiterung, auf
ein Europa der 25 oder der 35, die passenden Antworten
der Zusammenarbeit zu geben. Dabei wäre es zunächst
einmal notwendig, eine Diskussion über die Finalität
der Europäischen Union zu führen. Das bundesstaatliche Modell war die Antwort auf ein Europa der zwölf
oder 15 Mitgliedstaaten. Nunmehr ist die politische Entscheidung gefallen, nächstes Jahr die Europäische Union
auf 25 zu erweitern. Im Prinzip ist auch die Vorentscheidung gefallen, im nächsten Schritt die Europäische
Union - unter anderem mit der Aufnahme der Türkei,
Rumäniens und Bulgariens, möglicherweise auch von
Balkanstaaten - auf 35 zu erweitern. An dieser Stelle
verabschiedet sich die Europäische Union natürlich vom
bundesstaatlichen Modell; denn ein solches Modell
kann zwar mit zwölf Mitgliedern erfolgreich sein, nicht
aber mit 35.
Wir müssen diese Debatte miteinander ernsthaft führen.
Die Prinzipien Erweiterung - sofern man dies will - und
Vertiefung sind natürlich ein Stück weit widersprüchlich. Wir müssen eine Diskussion über das Thema Nation
und Europa führen. Wir müssen klären, welchen Stellenwert die Nation zukünftig im Verhältnis zur europäischen
und zur regionalen Ebene hat. Herr Altmaier ist darauf
eingegangen: Europa ist kein Staat; es wird auch in Zukunft auf Nationalstaaten aufbauen. Umgekehrt sind wir
uns alle einig: Der Nationalstaat braucht auch Europa,
weil kein Staat die zentralen Herausforderungen allein regeln kann. Was die Regelungsdichte angeht, sollte Europa
das Große besser machen und sich aus dem Kleinen weitgehend zurückziehen.
CDU und CSU haben ein Gesamtkonzept vorgelegt.
Von der Bundesregierung, Herr Bury, liegt so etwas leider nicht vor. Es gibt zwar Änderungsanträge; aber wir
wissen nicht, wohin Sie insgesamt wollen. Angesichts
der Endphase der Arbeit des Konvents möchte ich, Herr
Meyer und Herr Altmaier - Sie sind unsere Vertreter im
Konvent -, einige Schwerpunkte kurz ansprechen.
Erstens. Wir brauchen im Verfassungsvertrag eine
nachvollziehbare Kompetenzordnung, eine klare
Kompetenzabgrenzung - was macht Brüssel, was macht
Berlin, was machen die Landesregierungen in Düsseldorf oder in München? -, die für den Parlamentarier und
für den Bürger nachvollziehbar ist, und keine Ausweitung der Kompetenzen, so wie es sich jetzt abzeichnet.
Von 1998 bis 2001 hat die Europäische Union allein im
Umweltrecht 1 500 Rechtsakte erlassen!
Zweitens. Die Zuständigkeiten liegen grundsätzlich
bei den Mitgliedstaaten. Neue Zuständigkeiten der EU
müssen daher ausdrücklich mittels konkreter und klarer
Einzelermächtigungen begründet werden. Herr Professor Meyer, die zuletzt vorgeschlagenen Zielbestimmungen - Vollbeschäftigung, Daseinsvorsorge, Gesundheitsschutz usw. - sind zu weit gefasst, da sie weit über die
Handlungsbefugnisse der EU hinausgehen.
Drittens. Die Europäische Union sollte nicht das
Recht zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik besitzen - das ist jetzt vorgesehen -; denn eine Koordinierung
der Wirtschaftspolitik, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer
auf der Besuchertribüne und außerhalb des Plenarsaals,
würde bedeuten, dass Brüssel in Zukunft die Generalermächtigung für die Bereiche der Arbeitsmarkt-, Steuerund Sozialpolitik hat. Wenn wir dies wollen, dann können wir sofort den Beschluss fassen, diese Bundesregierung abzuschaffen - das wäre das eine ({2})
und - das wäre das andere - den Bundestag aufzulösen.
Wie Sie sehen, bleibt der Beifall an dieser Stelle aus.
Auch unsere Bürgerinnen und Bürger wollen nicht, dass
es die Bundesregierung und den Bundestag nicht mehr
gibt.
Viertens. Die Mitgliedstaaten müssen - das ist ein
zentraler Punkt, über den sich alle Fraktionen dieses
Hauses einig sind; im Europäischen Verfassungskonvent
gibt es aber auch Vertreter, die eine entgegengesetzte
Auffassung vertreten und das auch durch Änderungsanträge zum Ausdruck bringen - Herren der Verträge bleiben. Es ist daran festzuhalten, dass die Begründung oder
die Änderung von Kompetenzgrundlagen, die in Teil I
und Teil II des Verfassungsvertrages festgehalten sind,
der Ratifikation durch die Parlamente der Mitgliedstaaten bedarf.
({3})
In diesem Punkt gibt es keinen Verhandlungsspielraum,
auch nicht für Herrn Brok und andere Delegierte im
Konvent.
Fünftens - Herr Altmaier hat dies angesprochen -:
der Wertebezug des Verfassungsvertrages. Die Europäische Union soll mehr als nur eine Freihandelszone sein.
Die Gefahr, dass sie das wird, besteht natürlich, wenn sie
um die Türkei, um den Kosovo und vielleicht auf 35
Mitgliedstaaten erweitert wird. Europa ist eine Wertegemeinschaft und deshalb kämpfen wir für einen Wertebezug, auch für einen Gottesbezug in der Verfassung.
({4})
Die Finanzierung der Europäischen Union muss
weiterhin auf Beiträgen der Mitgliedstaaten beruhen.
Die Schaffung einer Rechtsgrundlage für eine EU-Steuer
ist abzulehnen. Wenn ich eine Hochrechnung auf Grundlage der neuen Vorschläge von Barnier anstelle, dann ist
davon auszugehen, dass in zwei bis drei Jahren eine
Mehrwertsteuererhöhung oder höhere Einnahmen aus
der Tabaksteuer für die Finanzierung benötigt werden.
Dies wollen wir nicht.
({5})
Der Bereich der Zuwanderung muss in nationaler
Verantwortung bleiben. Damit komme ich zu einem zentralen Punkt. Parallel zu dieser Sitzung tagen in Brüssel
die Innen- und Justizminister. Die Innen- und Justizminister entscheiden über ein neues Zuwanderungsrecht.
Dazu gibt es Vorlagen. Nach den EU-Vorgaben sollen
Asylbewerber mehr Leistungen erhalten und Flüchtlinge
nach zwölf Monaten den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten. Das Europäische Parlament hat
diese Vorschläge gebilligt und sich am 12. Februar
mehrheitlich für eine weitgehende Öffnung des Arbeitsmarkts für Drittstaatler ausgesprochen.
Ich spreche dieses aktuelle Beispiel an, weil die theoretische Forderung nach Mehrheitsentscheidungen natürlich Konsequenzen hat. Wenn wir die Mehrheitsentscheidung im Rat und die Mitentscheidung im
Europäischen Parlament einführen, ist dieser Beschluss,
nämlich die weitgehende Öffnung des Arbeitsmarkts für
Drittstaatler, beispielsweise im Bereich der Zuwanderung, europäisches Gesetz, ohne dass sich der Deutsche
Bundestag ein einziges Mal damit beschäftigt hat. Dies
kann nicht die Zukunft der europäischen Gesetzgebung
sein.
({6})
Deshalb gilt es natürlich, bei der Frage Wo Mehrheitsentscheidungen und wo Einstimmigkeit? noch einmal genau hinzuschauen. Leider liegt der entsprechende
Teil II des Vertragsentwurfs noch nicht vor, Herr Bury.
Das kann man dann auch nicht innerhalb von drei Tagen
leisten.
Der Kollege Peter Hintze hat eine neue inhaltliche
Forderung der CDU/CSU eingeführt. Ich würde mich
freuen, wenn die Kolleginnen und Kollegen aus den
Fraktionen der SPD, der Grünen und der FDP dieses
Thema anhand der Thematik Befassung der Innen- und
Justizminister mit der Zuwanderungsfrage einmal
durchdenken würden.
Wir schlagen eine Ergänzung des Art. 23 des
Grundgesetzes vor. Wir wollen, dass im Deutschen
Bundestag in Zukunft bei der Sekundärrechtsetzung im
Zusammenhang mit grundlegenden Entscheidungen des
Ministerrats - die Zuwanderungsentscheidung heute
Nachmittag ist eine solche - wie folgt verfahren wird:
Am Tag vor einer solchen grundlegenden Entscheidung
oder in der Woche davor sollte der Innenminister, Herr
Schily, in den Deutschen Bundestag kommen, seine Position darlegen, sich bei uns der Diskussion stellen, ein
Votum mit nach Brüssel nehmen und so abstimmen, wie
es der Deutsche Bundestag ihm mit auf den Weg gegeben hat.
({7})
Das muss die Zukunft sein. Wenn wir so verfahren,
dann finden wir auch wieder Resonanz und Interesse
beim Bürger und bei den Parlamentariern. Das Entscheidende ist: Wir bekommen wieder die Rückkopplung
zum Bürger, zum Volk. Wir dürfen Europa nicht einfach
nur obendrüber stülpen. Wir müssen die Themen beim
Bürger verankern. Das nationale Parlament ist der
Strang, an dem der Bürger die Gesetzgebung nach wie
vor festmacht. Wir müssen die Kontrolle gegenüber
dem Ministerrat durch diese Grundgesetzänderung effektiv ergänzen. Der Bundesrat hat sich dieses Recht
längst geholt.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Jawohl.
Das ist ein Punkt, bei dem sich heute zu meiner großen Freude ein Stück Konsens abgezeichnet hat, bei dem
wir aufeinander zugehen können. Wenn das nicht so geschieht, verabschieden wir den Verfassungsvertrag, geben weitgehende weitere Rechte nach Brüssel, an den
Ministerrat und an das Europäische Parlament, ab, und
in Zukunft wird kein Bürger mehr Interesse an dem haben und Notiz von dem nehmen, was im Deutschen Bundestag passiert. Das wollen wir alle nicht.
Herzlichen Dank.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dietmar Nietan, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen,
lassen Sie mich am Schluss dieser Debatte, die wirklich
eine Debatte ist, die Vorbildcharakter für das Parlament
hat, weil sie sehr sachlich ist und weil sie die wirklich
wichtigen Punkte herausarbeitet, noch einmal auf einen
Punkt zurückkommen, der in den Beratungen des Konvents jetzt eine große Rolle spielen wird, nämlich die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und den
Weg hin zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion.
Wir haben dankenswerterweise den Antrag der Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion. Sie fordern,
dass die Initiativen des Brüsseler Vierergipfels nicht
nur in die Debatte um den europäischen Verfassungskonvent eingebracht werden, sondern ihn auch, wie es im
Titel heißt, in diese Richtung vorantreiben.
Ich glaube, dass auch angesichts des heutigen historischen Datums des 8. Mai, des Jahrestages der Befreiung
unseres Landes von Nationalsozialismus und Diktatur,
das Thema Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
und die Frage, wie wir uns den Herausforderungen der
Zeit und des internationalen Terrorismus stellen und die
Sicherheitspartnerschaft in der NATO gestalten, heute zu
behandeln sind, denn all diese Dinge spielen für Europa
in Zukunft eine noch stärkere Rolle. Aber nicht nur das,
sie müssen auch in der jetzt zu erarbeitenden europäischen Verfassung so strukturiert ausgearbeitet werden,
dass diese Verfassung in Europa den Weg für eine Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungsunion bereitet.
Lassen Sie mich auch das noch vorweg sagen: Ich
kann zwar verstehen, wenn vonseiten der Opposition
- der Kollege Hintze hat es ja getan - noch einmal eine
kritische Rückschau auf die Dinge, die im Vorfeld des
Vierergipfels geschehen sind, gehalten wird. Das Entscheidende ist aber, jetzt nach vorne zu schauen. Wir als
Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben uns die
Frage zu stellen, was wir einbringen müssen und einbringen können, damit schon bei den Beratungen des
Konvents zur europäischen Verfassung eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wirklich konkrete
Gestalt annimmt. Ich finde es in diesem Zusammenhang
schon interessant, dass der ehemalige Bundesaußenminister Genscher erklärt hat, dass die Vorschläge des
Brüsseler Gipfels nicht nur auf der Linie der EU-Beschlüsse seit 1999 liegen, sondern auch einen richtigen
und vernünftigen Beitrag für den Konvent darstellen.
({0})
- Richtig, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, deshalb
gehört das in den Konvent hinein. Insofern lassen Sie
mich auch noch einige Dinge zur Diskussion im Konvent sagen.
Zunächst möchte ich unterstreichen - das erscheint
mir für uns ganz wichtig -, dass sich die Initiative des
Vierergipfels in vielen Dingen mit dem, was das Präsidium des Konvents vorgeschlagen hat, deckt. Diese Initiative unterstützt also die Dinge, die jetzt vom Präsidium eingebracht worden sind. Ich halte es auch, trotz
aller Diskussionen im Zusammenhang mit diesem Vierergipfel, für sehr wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass die daran beteiligten Regierungen, also auch
die Bundesregierung, ausdrücklich gesagt haben, dass
ihre Initiativen zur Schaffung einer europäischen Verteidigungs- und Sicherheitsunion eine Stärkung des europäischen Pfeilers im transatlantischen Bündnis zum
Inhalt haben. Dieser Punkt ist sehr wichtig; wir sollten
ihn nicht zerreden, sondern da auch die Beteiligten beim
Wort nehmen.
({1})
Die von uns gewünschte Stärkung kann aber nur erzielt werden, wenn wir alle Mitgliedstaaten - da rede ich
jetzt nicht von den derzeit 15, sondern von den zukünftig
25 Mitgliedstaaten - auf diesen Weg mitnehmen und ihnen die Chance zur Beteiligung geben. Es ist auch ausdrücklich im Vorfeld und auch nach dem Vierergipfel
gesagt worden, dass es sich bei der Initiative nicht um einen Closed Shop handelt, sondern sie in die Richtung
gehen soll, im Konvent Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen, alle Mitgliedstaaten auf den Weg hin zu einer
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mitzunehmen.
Es lohnt sich deswegen auch noch einmal ein genauer
Blick in den Entwurf für den Konvent, den das Präsidium vorgelegt hat. Ich bitte dabei die Kollegen
Altmaier und Professor Jürgen Meyer, noch einmal auf
einen Punkt in den Beratungen des Konvents ganz besonders zu achten: Im Verfassungsentwurf finden wir
unterschiedliche Möglichkeiten der Zusammenarbeit:
einmal die strukturierte Zusammenarbeit in Fragen von
Sicherheit und Verteidigung sowie die engere Zusammenarbeit. So weit, so gut. Man muss aber insbesondere
darauf achten, dass es bezüglich der strukturierten Zusammenarbeit heißt, dass hohe Ansprüche an die militärischen Fähigkeiten der EU-Mitgliedstaaten gestellt werden sollen, die daran teilhaben wollen. An der Stelle
müssen wir darauf aufpassen, dass wir nicht im Verfassungsentwurf durch die Unterscheidung in strukturierte
und vertiefte Zusammenarbeit ein Konstrukt schaffen,
das das Ziel, alle auf den Weg hin zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mitzunehmen, erschwert. Es ist meine Bitte an die Konventsmitglieder,
an dieser Stelle noch einmal genau aufzupassen.
({2})
Ich glaube, dass in diesem Punkt auch die Erklärung
der vier Staaten vom Brüsseler Gipfel weiter geht. Dort
heißt es ausdrücklich, dass es allen Staaten, die es wünschen, ermöglicht werden soll, im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit tiefere und weitgehendere militärische Verpflichtungen einzugehen. Dieser Geist von
Brüssel, alle einzuladen und ihnen entsprechend ihren
Fähigkeiten die Chance zu geben, mitzuwirken,
({3})
sollte auch die Leitlinie für die Beratungen im Konvent
sein.
({4})
Wenn wir alle mitnehmen wollen, dann ist es wichtig,
dass wir bereit sind, voranzugehen, als Bundesrepublik
Deutschland das Signal zu setzen, dass wir auch in diesem Feld der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, der gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik bereit sind, nationale Souveränität abzugeben.
Deswegen will ich an dieser Stelle die Vorschläge des
Kollegen Professor Meyer ausdrücklich unterstützen,
der im Konvent gesagt hat, dass wir für die GASP eine
qualifizierte Mehrheit brauchen, dass wir wegmüssen
von den einstimmigen Entscheidungen und dass es - so
schlägt Professor Meyer vor, auch um Ängste zu beseitigen - auch bei der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik am Ende das Ziel sein muss, zu erhöhten
qualifizierten Mehrheiten zu kommen. Ich glaube, das ist
der richtige Weg. Wir sollten diese Initiative als deutsche
Regierung und als deutsche Parlamentarier unterstützen.
({5})
Wenn alle auf dem Weg mitgenommen werden sollen,
muss auch auf nationale Eigenheiten eingegangen werden können. Gerade vor dem Deutschen Bundestag betone ich, dass der Parlamentsvorbehalt für mich essenzieller Bestandteil der deutschen Kultur ist, wenn es um
militärische Entscheidungen geht, und dass dieser Parlamentsvorbehalt deshalb nicht stiekum über eine europäische Verfassung oder über europäische Entscheidungen
ausgehöhlt werden darf, zumindest so lange nicht, wie es
keine Parlamentarisierung der europäischen Verteidigungspolitik hin zum Europäischen Parlament gibt.
Wenn es einen Parlamentsvorbehalt für das Europäische
Parlament gäbe, könnten wir uns darüber sicherlich auch
im nationalen Entscheidungsrahmen unterhalten, aber
solange das nicht der Fall ist, muss es hier in diesem
Hause den Parlamentsvorbehalt bei militärischen Entscheidungen geben.
({6})
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal sagen: Die
große Chance, in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik durch den jetzt zu verabschiedenden
Verfassungsentwurf zu guten Regelungen zu kommen,
ist da und wir sollten sie gemeinsam nutzen. Sie ist auch
eine Herausforderung; denn ich glaube, nur wenn wir es
schaffen, durch eine gute europäische Verfassung eine
Grundlage zu schaffen, die uns zwingt, uns alle miteinander zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zusammenzuraufen, haben wir die Möglichkeit,
durch eine solche Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik an Gewicht zu gewinnen, und zwar - das betone
ich an dieser Stelle - nicht gegen die USA, nicht gegen
die transatlantische Zusammenarbeit. Im Gegenteil, wer
für die transatlantische Zusammenarbeit ist, braucht ein
starkes Europa. Nur dann kann sie funktionieren.
In diesem Sinne hoffe ich, dass der Konvent zu guten
Ergebnissen kommt.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union auf Drucksache 15/950. Der Ausschuss empfiehlt
unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des
Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Die Grünen auf Drucksache 15/548 mit dem Titel Der
europäischen Verfassung Gestalt geben - Demokratie
stärken, Handlungsfähigkeit erhöhen, Verfahren vereinfachen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 15/577 mit dem Titel Das
neue Gesicht Europas - Kernelemente einer europäischen Verfassung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/
CSU angenommen.
Zusatzpunkte 6 und 7: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/918 und 15/942
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 sowie Zusatzpunkt 8 auf:
6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Leo
Dautzenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Förderung des Finanzplatzes Deutschland
- Drucksache 15/748 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Finanzplatz Deutschland weiter fördern
- Drucksache 15/930 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt
zwei Faktoren, die den Finanzmarkt von anderen Märkten abheben: Erstens ist hier der internationale Konkurrenzdruck besonders hoch. Zweitens hat der Finanzmarkt eine hohe volkswirtschaftliche Bedeutung. Ein gut
funktionierender Finanzmarkt mit einem modernen
rechtlichen Rahmen ist eine notwendige Voraussetzung
für eine gut funktionierende Volkswirtschaft.
Aus diesen Gründen muss die Politik die Finanzmarktentwicklung aktiv begleiten und gestalten. Traditionell
herrscht hierüber in diesem Hohen Hause Einigkeit und
dementsprechend ein kooperativer Geist. Von daher stimmen wir einigen Vorschlägen aus dem Eckpunktepapier
von Bundesminister Eichel zum Finanzmarktförderplan
2006 zu. Gleiches gilt - zumindest auf dem Papier auch für den von den Regierungsfraktionen vorgelegten
Antrag. Aber wie alles, was uns Rot-Grün zur Überwindung des wirtschaftlichen Stillstands in Deutschland präsentiert, ist der Plan Eichels kein Teil eines schlüssigen
Gesamtkonzepts. Es werden einzelne Punkte formuliert,
ohne dass absehbar wäre, welches Ziel Rot-Grün erreichen möchte.
Das Thema Finanzplatz ist sehr komplex. Deshalb ist
in diesem Bereich ein umfassender politischer Ansatz
notwendig. Einen solchen Ansatz bietet unser Antrag
Förderung des Finanzplatzes Deutschland auf Drucksache 15/748, der nicht ohne Grund 50 Punkte umfasst.
Erlauben Sie mir die Bemerkung, dass wir es angesichts der Vielschichtigkeit des Themas für sehr unglücklich halten, dass die Zahl der zur geplanten Anhörung geladenen Sachverständigen auf zwölf begrenzt
wurde. Meine Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion und
ich sind einhellig der Auffassung, dass diese mit den
Stimmen der übrigen Fraktionen beschlossene Einschränkung bei diesem Thema unangemessen ist.
({0})
Wir hätten sehr gerne noch mehr hochkarätigen Sachverstand gehört oder man hätte sich von Anfang an auf ein
internes Fachgespräch beschränken sollen.
Doch zurück zu unserem Antrag. Er verbindet eine
klare Konzeption mit konkreten Detaillösungen. Nur
wer beides, übergeordnetes Ziel und untergeordnete
Schritte zur Erreichung des Zieles, zusammen betrachtet,
kann eine gute Finanzmarktpolitik betreiben. Unsere
Konzeption ist klar: bewährte Strukturen des Finanzplatzes Deutschland behutsam weiterentwickeln und
klare Rahmenbedingungen schaffen, damit die Marktteilnehmer ihre Aufgaben weiterhin optimal erfüllen
können. Die Schaffung optimaler Finanzierungsbedingungen für die gesamte deutsche Volkswirtschaft und
insbesondere auch für den Mittelstand ist dabei unser
Leitmotiv.
({1})
Wir bleiben jedoch nicht bei der Definition des Zieles
stehen. Vielmehr zeigen wir detailliert auf, welche
Schritte notwendig sind, um seitens der Finanzmarktpolitik zu mehr Wachstum und Beschäftigung beizutragen.
Neben den grundsätzlichen Punkten - hier geht es etwa
um die Zukunft der Dreigliedrigkeit des deutschen Bankensystems sowie um die Umsetzung der EU-Finanzmarktpolitik - legen wir in fünf Schwerpunktbereichen
konkrete Vorschläge vor. Diese fünf Bereiche sind: erstens der rechtliche Rahmen, zweitens das Thema Altersvorsorge, drittens die Frage der Bilanzierungsregelungen, viertens das Thema Aufsicht sowie fünftens
steuerrechtliche Rahmenbedingungen.
Im Folgenden möchte ich kurz einige ausgewählte
Einzelpunkte nennen. Im Bereich des rechtlichen Rahmens plädieren wir unter anderem für eine Fortentwicklung des Übernahmerechts. Wir fordern zudem einen
sinnvollen Ausgleich zwischen den Interessen von Anlegern, Emittenten und Marktintermediären. Es gilt hier,
übertriebenen Anlegerschutz zu vermeiden. Besonders
wichtig, auch mit tagesaktuellem Bezug, scheint uns zudem die rechtliche Förderung von Verbriefungsmärkten,
den so genannten Asset Backed Securities, zu sein. Des
Weiteren sprechen wir uns konkret für eine Verstärkung
und Fortentwicklung der Corporate Governance aus. Wir
sind - übrigens im Einklang mit den rot-grünen
Vorschlägen - der Ansicht, dass sich die bisherige Struktur der öffentlich-rechtlichen Börsenorganisation bewährt hat.
Im Bereich der Rechnungslegung und Bilanzierung
sollten die von der EU ermöglichten Wahlrechte bei der
Einführung des Standards IAS weitgehend ausgeschöpft
werden. IAS sollte nicht für die Steuerbemessung relevant sein. Wie bereits kurz erwähnt, plädieren wir mit
der Bundesregierung und den Fraktionen von Rot-Grün
für die Schaffung einer privatrechtlichen EnforcementInstitution.
Ebenfalls ein hohes Maß an interfraktioneller Übereinstimmung besteht im Bereich der Kapitalmarktund Bankenaufsicht. Dies ist insbesondere beim
Thema Basel II der Fall, bei dem wir im Finanzausschuss immer wieder an einem Strang gezogen, zur Verblüffung einiger also dieselbe Richtung eingeschlagen
haben. Allerdings gehen wir bei der Aufsicht über das
hinaus, was die Regierung und die rot-grünen Fraktionen
vorschlagen. So fordern wir etwa eine klare Regelung
für graue Kapitalmärkte sowie die Ansiedlung europäischer Bankaufsichtsgremien auch in Deutschland. Wir
setzen uns für eine erhöhte Rechtssicherheit für ausländische Finanzdienstleister ein.
Last, but not least möchte ich auf die Notwendigkeit
zu sprechen kommen, den Finanzplatz Deutschland auch
im Bereich der Steuergesetzgebung zu unterstützen.
Auch hier unterbreiten wir konkrete Vorschläge: Verzicht auf Kontrollmitteilungen,
({2})
Einführung einer Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge,
Beseitigung der steuerlichen Benachteiligung von Auslandsfonds.
Zur steuerpolitischen Flankierung des Finanzplatzes
haben sich nun auch die Fraktionen von Rot-Grün in ihrem Antrag geäußert. Man sollte sich einmal auf der
Zunge zergehen lassen, was Rot-Grün im vorliegenden
Antrag fordert - ich zitiere -:
Steuerliche Regelungen, die den Standort Deutschland fördern, stärken auch den Finanzplatz
Deutschland.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, zu dieser Erkenntnis könnte man Ihnen eigentlich nur gratulieren. Es
scheint fast so, als ob Sie seit dem unsäglichen Entwurf
zum Steuervergünstigungsabbaugesetz dazugelernt hätten. Dieser Eindruck drängt sich noch mehr auf, wenn
man weiterliest - ich zitiere wiederum -:
Die Bundesregierung wird aufgefordert, bei der
Ausgestaltung steuerlicher Maßnahmen stärker deren Auswirkungen auf die Finanzierungsbedingungen der Unternehmen und den Finanzplatz
Deutschland zu berücksichtigen
Wer hat in den letzten fünf Jahren die steuerpolitischen Beschlüsse der Regierung flankiert und als Regierungsfraktion unterstützt? Jetzt aber fordert man die eigene Regierung auf, etwas zu unternehmen, was man
vorher selber in eine andere Richtung entwickelt hat.
({3})
Ich darf in Erinnerung bringen: Noch vor einigen Wochen wollten Sie in einem Gesetzentwurf Verlustvorträge
beschränken, Abschreibungsmöglichkeiten verschlechtern und die Verlustverrechnung bei Unternehmensübernahmen verbieten. Dies alles waren Maßnahmen, die die
Finanzierungsbedingungen nachhaltig verschlechtert hätten und die wir verhindert haben.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, es wäre zu
schön, um wahr zu sein, wenn Sie endlich begreifen
würden, auf was es im Bereich der Finanzierungsbedingungen für Unternehmen ankommt, um endlich
durch anständige Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland zu sorgen.
({4})
Ich glaube aber nicht daran, dass Sie diesen Erkenntnisprozess schon vollzogen haben.
Sie haben im Schnellverfahren einen Antrag in Ihrer
Fraktion durchgedrückt - er liegt jetzt vor -, den wahrscheinlich insbesondere die SPD-Linke noch gar nicht
richtig gelesen hat. Wissen Sie, was passiert, wenn die
Damen und Herren, die momentan im sozialpolitischen
Bereich jeden Mut zur Veränderung vermissen lassen,
begreifen, was im vorliegenden SPD-Antrag im steuerpolitischen Teil gefordert wird?
({5})
Dann beginnt Ihre steuerpolitische Kakophonie von
vorne, die wir nun seit Jahren erdulden müssen.
Begreifen Sie denn nicht, wie schädlich dieses ewige
Hin und Her für das Vertrauen von Investoren, Unternehmen und Konsumenten ist?
({6})
Die mangelnde Verlässlichkeit von Rot-Grün ist gerade
in der Steuerpolitik ein massives Hindernis dafür, die
wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands voranzutreiben. Deshalb: Unterlassen Sie Ankündigungen, die Sie
ohnehin nicht einhalten können, ja wahrscheinlich in Ihrer Gesamtheit noch nicht einmal einhalten wollen!
Die in Ihrem Antrag genannten Vorschläge zur steuerpolitischen Flankierung des Finanzplatzes Deutschland
sind in Anbetracht dessen, was Sie in den letzten fünf
Jahren hier abgeliefert haben, völlig unglaubwürdig.
({7})
Unser Antrag hingegen passt auch steuerpolitisch in das
Gesamtkonzept der Union. Die Punkte, die ich hierzu
genannt habe - keine Kontrollmitteilungen, grundsätzliche Zustimmung zu einer Abgeltungsteuer auf alle Kapitalerträge im Rahmen eines in sich stimmigen Gesamtkonzeptes -, machen dies deutlich.
Was bleibt als Fazit? Der Antrag zum Finanzplatz
Deutschland vollzieht im Bereich Finanzmarktpolitik
das nach, was für die Union in der Wirtschafts- und Finanzpolitik das Leitmotiv ist: gute Rahmenbedingungen
schaffen, sodass die privaten Marktakteure mehr Wachstum und Beschäftigung generieren können. Wir sind
gerne bereit, in den Bereichen, in denen wir das Gleiche
wollen, zusammenzuarbeiten. Ich erwähne hierzu noch
einmal: Basel II, bessere Vertretung deutscher Interessen
auf EU- bzw. auf internationaler Ebene und die Förderung des ABS-Markts. Aber hören Sie auf, vorschnelle
Anträge einzubringen, deren zentrale Forderungen in Ihren eigenen Fraktionen so nicht durchsetzbar sind!
Vielen Dank.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Nina Hauer, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Herr
Dautzenberg, Sie haben die Ziele des CDU/CSU-Antrags geschildert und unsere Instrumente genannt, mit
denen diese Ziele - die wir auch haben - erreicht werden
sollen. Sie machen immer wieder Anwürfe auf unsere
Steuerpolitik, jetzt auch auf das, was in unserem Antrag
zur Steuerpolitik enthalten ist. Sie müssen sich einmal
die Vorstellungen zur Steuerpolitik, die in Ihrem Antrag
enthalten sind, anschauen: Da fordern Sie weiterhin eine
massive Absenkung der Steuersätze in Deutschland.
({0})
Bei dieser Haushaltslage, Herr Dautzenberg, ist das grob
fahrlässig. Fragen Sie einmal die Ministerpräsidenten
der von Ihnen regierten Länder, ob sie eine weitere Senkung der Steuersätze verkraften! Herr Dautzenberg, ausgerechnet in Hessen, sozusagen in der Heimat des Finanzplatzes in Deutschland, wird der Haushalt
verfassungswidrig, wenn man die Steuerpolitik betreiben
würde, die Sie hier vorschlagen.
({1})
Das kann kein ernsthafter Umgang und keine ernsthafte
Stärkung des Finanzplatzes in Deutschland sein.
({2})
Sie wissen genau: Das, was der Finanzplatz an Steuerpolitik brauchte, haben wir mit viel Kraft und auch
mit viel Erfolg begonnen. Wir haben die Steuersätze
breit gesenkt: bei den Beziehern kleiner und mittlerer
Einkommen, aber natürlich auch bei den Unternehmen.
Wir haben den niedrigsten Körperschaftsteuersatz aller
Zeiten. Wir haben viel Kraft aufgewendet, um den
Standort Deutschland auch in dieser Hinsicht wieder
wettbewerbsfähig zu machen,
({3})
und zwar so, dass es für die öffentlichen Haushalte verkraftbar bleibt. Ich denke, dass die Zeichen, die wir für
den Investitionsstandort Deutschland, aber auch für den
Finanzplatz Deutschland gesetzt haben, deutlich waren.
Wenn Sie sich die Auslandsinvestitionen anschauen,
dann sehen Sie, dass wir mit unserem Weg großen Erfolg gehabt haben.
({4})
Sie sprechen immer wieder die Abgaben an. Da sind
wir wahrscheinlich sogar einer Meinung - nicht über die
Ursachen, aber über die Ziele. Auch wir wollen die Belastungen, die mit dem Faktor Arbeit einhergehen - wir
haben diese Belastungen in Rekordhöhe von Ihnen geerbt - reduzieren. Das nützt unserem Standort und das
nützt letztendlich denen, die an diesem Standort Arbeit
suchen und Unternehmen gründen.
({5})
Wir haben in den letzten Jahren einiges für die Stärkung des Finanzmarktes getan, an das ich hier noch einmal erinnern will. Wir haben mit dem Übernahmegesetz rechtlich verbindliche Regelungen für die
Übernahme börsennotierter Unternehmen geschaffen.
Gerade die Umstrukturierungen in der internationalen
Wirtschaft zeigen, dass wir diese Regelungen zum richtigen Zeitpunkt geschaffen haben und dass sie gut anwendbar sind. Mit der geänderten Struktur haben wir der
Bundesbank die Chance gegeben, als Vertretung der
deutschen Volkswirtschaft innerhalb der Europäischen
Union unseren Interessen Gewicht zu verleihen. Wir haben mit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht eine moderne Aufsichtsbehörde gegründet, die
dazu beitragen wird, dass die vielen Produkte und die
sektorübergreifenden Innovationen, die am Finanzmarkt
zu finden sind, jetzt auch mit einer gemeinsamen Aufsicht kontrolliert werden können. Das war vorher nicht
der Fall. Das gehört im europäischen Rahmen mittlerweile dazu; unsere BaFin ist auch in dieser Hinsicht vorbildlich.
({6})
Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland
Finanzagentur GmbH haben wir das Schuldenmanagement des Bundes ausgelagert, um sicherzustellen, dass
wir für den Bundeshaushalt nicht unnötig Gelder verlieren, dass wir auf Entwicklungen am Markt leichter und
ohne großen Aufwand reagieren und auch dazu beitragen können, dass das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit
am Finanzmarkt auch von staatlicher Seite erhalten
bleibt.
Mit dem Vierten Finanzmarktförderungsgesetz haben wir den Handlungsspielraum für die Börsen erweitert. Das ist die wichtigste Plattform des Finanzmarktes
für den Handel. Für den Anlegerschutz im Aktiengeschäft haben wir das Bild des Verbrauchers überhaupt
erst ins Gesetz aufgenommen, für bessere Aufsicht gesorgt und dazu beigetragen, dass auch da Schadensersatzforderungen geltend gemacht werden können. Das,
was bei jedem anderen Kauf möglich ist, muss auch am
Finanzmarkt möglich sein. Abgesehen davon haben wir
hier höhere Transparenzanforderungen gestellt.
Nun ist der Finanzmarkt aber keine starre Angelegenheit, die sich über viele Jahre nicht verändert; im Gegenteil. Im Moment gibt es viele Veränderungen. Es gibt
neue Finanzprodukte, es gibt neue innovative Ideen im
Ausland, aber natürlich auch an unserem Finanzplatz.
Allein durch die Regelungen für die Altersvorsorge im
Rahmen der Rentenreform eröffnen sich neue Innovationsmöglichkeiten, die in den nächsten Jahren ein immer größeres Gewicht bekommen werden. Wir sind uns
wahrscheinlich alle darüber einig, dass die Altersvorsorge in den nächsten Jahren eine immer größere Rolle
spielen wird und der Kapitalmarkt dafür natürlich große
Chancen bietet. Es gibt dort sicher viele Möglichkeiten,
die wir heute vielleicht noch gar nicht sehen. Es ist deshalb notwendig, den Innovationen auch in diesem Bereich den Weg zu ebnen.
Das Investmentgeschäft wird in den nächsten Jahren
eine größere Rolle spielen. Die Unternehmensumstrukturierungen verlangen das.
Durch die veränderten Vorschriften, die wir im Rahmen von Basel II diskutieren, gibt es auf dem Markt
auch noch ganz andere Veränderungen, zum Beispiel die
Ratingagenturen. Wir tun gut daran, schon jetzt zu prüfen, wie wir denen die Türen nach Deutschland öffnen
und dafür sorgen können, dass sie ihre Arbeit hier unter
bestimmten Bedingungen machen können. Das ist ein
Markt, in dem wir noch nicht gut vertreten sind. Das gehört aber zu einem Finanzplatz. Wir tun unseren kleinen
Unternehmen, die sich diese Dienstleistung nicht auf
dem internationalen Markt kaufen können, Gutes, wenn
wir diese Agenturen auch in Deutschland zur Verfügung
haben.
({7})
Zur Verbriefung von Bankforderungen: Dieser
Tage steht in allen Medien der Finanzwelt, dass diesbezüglich die erste Gesellschaft gegründet werden soll.
Wir haben mit unserem Kleinunternehmerförderungsgesetz bereits einen Anstoß gegeben, die Verbriefung von
Kreditforderungen zu erleichtern.
({8})
Wir haben in diesem Bereich insbesondere für die kleinen Unternehmen noch einiges zu erledigen.
Letztendlich zeigen die verschiedenen Entwicklungen, dass der Finanzmarkt jedes Interesse hier im Deutschen Bundestag verdient, weil er ein Motor für Beschäftigung, für wirtschaftliches Wachstum und für neue
innovative Produkte, die wir anbieten können, ist und in
Zukunft noch verstärkt sein wird. Das bedeutet natürlich
auch, dass in diesem Bereich auf die Qualifizierung der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geachtet werden muss, dass wir am Ball bleiben müssen, um in diesem Bereich das beste Ausbildungsangebot zu haben.
Wir müssen natürlich auch alle Entwicklungen um den
Finanzplatz Deutschland herum beobachten und erforschen.
Es wird ein neues Feld für Beratungen geben, und
zwar nicht nur für den Bereich der Altersvorsorge, sondern für alle Bereiche, die mit dem Kapitalmarkt zu tun
haben. Die Menschen interessieren sich dafür, legen
trotz der schlechten Situation am Aktienmarkt viel Geld
in Aktien oder Fonds an. Diese brauchen Beratung. Ich
denke, dass sich allein in diesem Sektor beschäftigungspolitisch einiges tun wird.
Nicht zuletzt wird es bis 2005 einen einheitlichen
europäischen Finanzmarkt geben. Die europäische
Wertpapierdienstleistungsrichtlinie wird derzeit überarbeitet. Gerade weil das bei den kleinen und unabhängigen Finanzdienstleistern immer wieder Thema ist, will
ich noch einmal deutlich machen: Ziel unserer Fraktion
bei diesen Verhandlungen ist es, unnötige Belastungen in
diesem Bereich zu vermeiden, dafür zu sorgen, dass
nicht mehr Bürokratie aufgehäuft wird und die Wettbewerbsfähigkeit gerade der kleinen und unabhängigen Finanzdienstleister erhalten bleibt, und zwar am deutschen
Finanzmarkt, aber auch international.
Wir reagieren auf die Veränderungen am Finanzmarkt. Wir sind weiterhin der Meinung - dazu nehmen
wir auch in unserem Antrag Stellung -, dass wir eine
zentrale Aufsicht über die Börsen brauchen und dass
eine Zusammenführung stattfinden muss. Auch wenn einige Länder das vielleicht nicht so sehen, ist dies dringend notwendig. Die deutsche Börse ist das Asset unseres Finanzmarktes. Dafür brauchen wir eine zentrale
Aufsicht.
Wir stellen mit dem Finanzmarktförderplan die
notwendigen Weichen. Ein Investmentgesetz muss kommen. Sie, Herr Dautzenberg haben das angesprochen.
Wir sind einer Meinung: Wir wollen die Wettbewerbsnachteile in diesem Bereich beseitigen, die Genehmigungsverfahren straffen, die gesamte rechtliche Grundlage flexibler machen und letztendlich die steuerlichen
Regelungen überarbeiten, damit ausländische und inländische Fonds in gleicher Weise behandelt werden.
Wir gehen auch einen mutigen Schritt bei der Zulassung von Hedgefonds. Wir sind der Meinung, dass es
mittlerweile möglich ist, in diesem Bereich die Anlegersicherheit durch Information und Transparenz zu gewährleisten. Einen rechtlichen Schutz mag es für denjenigen, der das Risiko eingehen will, in Hedgefonds zu
investieren, nicht geben. Wir müssen die Anleger aber
über die Risiken informieren. Das tun wir, indem wir
eine Informationspflicht einführen wollen. Diese gibt es
in anderen Ländern bereits, in denen auf die Möglichkeit
eines Totalverlustes hingewiesen werden muss. Ich
glaube, dass unter diesen Bedingungen auch der deutsche Finanzmarkt reif dafür ist, dass Hedgefonds zugelassen werden können.
({9})
Wir wollen alle rechtlichen Regelungen durchforsten,
wie die Möglichkeiten einer Verbesserung des Rahmens
für die Emission von Asset Backed Securities sind und
wie in diesem Bereich ein Handel ermöglicht werden
kann. Für die Banken, aber auch für die Unternehmen ist
das ein zentrales Thema.
Wir haben auf die Tagesordnung natürlich auch die
Stärkung des Anlegervertrauens gesetzt. Diesen Punkt
vermisse ich in Ihrem Antrag leider völlig. Es ist nicht
so, dass viele Regularien und Gesetze den Anleger
schützen. Die Anleger in Deutschland haben heute viel
mehr Erfahrungen mit dem Finanzmarkt, als das noch
vor zwei oder drei Jahren der Fall war.
({10})
Aber wir müssen gewährleisten, dass es Transparenz
gibt, damit die Anleger nachvollziehen können, welches
Risiko bei einem bestimmten Produkt besteht, welche
Chancen es gibt, wie es finanziert wird, wer es anbietet
und wie es funktioniert. Sie müssen die Möglichkeit haben, auf diese Informationen zuzugreifen. Deswegen legen wir Wert darauf, den Anlegerschutz weiter zu stärken. Zu diesem Zweck werden wir die Regelungen dafür
klarer machen und öffentlich dafür werben. Ein starker
Finanzmarkt bedeutet nicht nur das Vorhandensein starrer Regulierungen und die Bevormundung des Anlegers
- das sieht man auch im internationalen Vergleich -,
sondern das Vorhandensein von Transparenz und klaren
Haftungsregelungen.
Ich finde, es war an der Zeit, zu fragen, wieso Vorstände und Aufsichtsräte für den Unfug, den sie verzapfen, nicht mit ihrem eigenen Vermögen haften. Dieser
Gedanke ist in unserem 10-Punkte-Programm enthalten.
Wenn etwas schief geht, weil Manager ihren Job nicht
richtig machen, sind die Beschäftigten, um deren Arbeitsplätze es geht, wie auch die Anleger, um deren Aktien es geht, betroffen. Aber diejenigen, die dafür verantwortlich sind, sind nie betroffen. Deswegen glauben wir,
dass die Prüfung einer Organhaftung, die diejenigen, die
die Verantwortung tragen, einbezieht, dringend notwendig ist.
({11})
Ich glaube, wir tun unserem Finanzmarkt einen Gefallen, wenn wir zu mehr Transparenz und zu mehr Sicherheit für den Anleger kommen. Dann wird er wettbewerbsfähig sein und für diejenigen, die hier investieren
wollen - ob aus dem Ausland oder dem Inland -, attraktiv bleiben.
Vielen Dank.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms, FDP-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die FDP hatte bereits im Januar
einen Antrag zu diesem Thema eingebracht. Die anderen
Fraktionen sind dem nun gefolgt. Das sage ich völlig
ohne kritischen Unterton, weil man bei Durchsicht dieser Anträge zu dem Ergebnis kommen kann, dass gemeinsam, über die Fraktionsgrenzen hinweg eine vernünftige Initiative gestaltet werden könnte.
({0})
Sicher gibt es Bereiche, bei denen wir uns nicht treffen
werden; gerade in der Steuerpolitik dürfte das schwierig
werden. Aber angesichts der finanzmarktspezifischen
Anregungen in den verschiedenen Anträgen glaube ich,
dass es möglich sein sollte, eine gemeinsame Initiative
zu starten. Diese wäre für die Stabilität, für das Ansehen
und für das Vertrauen des deutschen Kapital- und Finanzmarktes dringend notwendig. Es wäre sehr hilfreich,
wenn uns das gelingen würde.
({1})
In meiner sehr kurzen Redezeit will ich nur einige allgemeine Bemerkungen machen und nicht auf Einzelheiten eingehen.
Erste Bemerkung: Es geht darum, dass die Rahmenbedingungen für den Finanzmarkt in Deutschland ökonomisch so gestaltet werden, dass wir mit den zentralen
Finanzplätzen auf dem Kontinent, aber auch - global gesehen - in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und
Japan wettbewerbsfähig sind.
({2})
Das heißt, wir dürfen uns nicht daran orientieren, was
wir gerne hätten, sondern daran, was der Wettbewerb
uns vorgibt. Wir sind nicht in der Lage, das zu bestimmen.
Wir müssen dafür Sorge tragen - das liegt schließlich
in unserer Verantwortung -, dass der Kapitalmarkt in
Deutschland wieder so funktionsfähig wird, dass insbesondere die mittelständische Wirtschaft, die heute aus
mehrerlei Gründen größte Probleme hat, ihre Investitionen zu finanzieren, wieder die Chance erhält, über einen
funktionsfähigen Kapitalmarkt an Fremd- und Eigenkapital heranzukommen.
({3})
Wenn uns das nicht in kürzester Frist gelingt, wird die
Zahl der Insolvenzen weiter dramatisch zunehmen. Das
kann die deutsche Volkswirtschaft wirklich nicht mehr
verkraften.
Zweite Bemerkung: Man muss erkennen, welche Bedeutung der Kapitalmarkt für diese ökonomischen Zusammenhänge hat und dass die Rahmenbedingungen so
gestaltet werden müssen, dass das Vertrauen wiederhergestellt werden kann. Ich weiß, dass wir uns in wesentlichen Punkten der Steuerpolitik nicht treffen werden; das
muss aber nicht Kern dieser Diskussion sein.
Ich muss aber zugeben, dass die Bundesregierung
lernfähig ist. Die Diskussion über die Abgeltungsteuer
zeigt, dass hier eine gewisse Bereitschaft besteht, einen
vernünftigen Weg zu beschreiten. Ich hoffe, dass auch
die Mehrheiten in den dazugehörigen Fraktionen das so
sehen werden. Wir wollen abwarten, bis die Bundesregierung ihre Entwürfe vorlegt.
({4})
Es geht aber nicht nur um die steuerlichen Rahmenbedingungen, sondern auch um die Börsen- und Finanzmarktaufsicht sowie um die staatsanwaltschaftliche
Überprüfung von möglicherweise auftretenden wirtschaftskriminellen Machenschaften. Das alles ist notwendig, um bei den Investoren, dem großen Publikum
weltweit, Vertrauen zu schaffen, damit sie das Gefühl
haben, dass es eine sichere Sache ist, in der Bundesrepublik Deutschland Geld anzulegen, und dass sie nicht Gefahr laufen, hier über den Tisch gezogen oder betrogen
zu werden. Hier bedarf es also einer strikten Kontrolle,
die nicht schlechter, sondern eher besser als in den Vereinigten Staaten sein muss, wenn ich an die Dinge denke,
die in den letzten Jahren dort vorgekommen sind.
({5})
Frau Staatssekretärin, ich glaube, wir haben alle Chancen, das Umfeld so zu gestalten, dass wir einen solchen
Vertrauenshorizont in Deutschland aufbauen können.
Die Börsenaufsicht ist heute noch Ländersache. In
diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen, dass
es dringend erforderlich ist, dass Bund und Länder zusammenkommen, um eine gemeinsame Aufsicht zu organisieren. Der ehemalige Wirtschaftsminister in Hessen,
der jetzt leider nicht mehr im Amt ist, Dieter Posch - er ist
Mitglied meiner Partei -, hatte bereits vor der Landtagswahl angekündigt, dass er bereit wäre - er führte die
zentrale Aufsicht durch, da Frankfurt der zentrale Börsenplatz ist -, seine Rechte in ein solches gemeinsames
Objekt einzubringen, damit es zu einer gemeinsamen
Börsenaufsicht für die Bundesrepublik Deutschland
kommen kann. Das internationale Publikum kann die
bisher gegebene Aufsplitterung nämlich überhaupt nicht
verstehen. Wir müssen hier zentraler denken; denn der
deutsche Finanzmarkt wird als ein einheitlicher Finanzmarkt angesehen. Man sieht nicht die einzelnen Börsen
in Düsseldorf, Stuttgart und wo auch immer. Das muss
einheitlich geregelt werden.
Schließlich möchte ich noch auf einen Punkt hinweisen. Von besonderer Bedeutung für den Finanzplatz
Deutschland ist natürlich die Gestaltung unserer Altersvorsorge. Der Schritt der rot-grünen Regierung in die
private Altersvorsorge war aber richtig. Das haben wir
als FDP immer so gesehen und unterstützt. Die Umsetzung war aber eine Katastrophe. Die vielen einschränkenden Bedingungen und bürokratischen Auflagen haben dazu geführt, dass dieses Instrument keinen,
jedenfalls nicht den notwendigen, Erfolg am Markt erzielt hat. Wenn es gelänge, diese unnötigen Einschränkungen und bürokratischen Regelungen abzuschaffen eigentlich brauchen wir bei der privaten Altersvorsorge
nur eine Bedingung, nämlich dass sie der Altersvorsorge
dient und nur ab einem gewissen Alter ausgezahlt wird;
alles andere ist unnötig -, würde dadurch ein riesiges Finanzvolumen freigesetzt. Dies soll der deutschen Volkswirtschaft in ihrem Investitionsprozess und den deutschen privaten Haushalten bei ihren Investitionen, etwa
beim Hausbau, dienen. Dies würde auch die Refinanzierung der deutschen Investitionen deutlich verbessern
und verbilligen und eine große Unterstützung für den Finanzplatz Deutschland bedeuten.
Ich meine, wir sollten gemeinsam daran arbeiten, dass
wir in diesem Bereich vorankommen. Ich hoffe, die Anhörung bringt vernünftige Ergebnisse. Ich halte den
Streit, der hierzu geführt worden ist, für unnötig. Ich
wünsche mir, dass wir zu einer gemeinsamen Initiative
kommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Hubert Ulrich, Bündnis 90/Die Grünen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr
Solms, Sie haben in meinen Augen gerade ein gutes Beispiel dafür abgeliefert, wie man auch fraktionsübergreifend über ein ganz zentrales Anliegen, nämlich den Finanzplatz Deutschland, einmal positiv reden kann. Wir
leiden in ganz starkem Maße darunter, dass wir in diesem Parlament vieles überflüssigerweise schlecht reden.
Das trifft natürlich ganz besonders für die Opposition zu.
Herr Dautzenberg, Sie haben dies heute nur ansatzweise
und nicht in der Form gemacht, wie es Ihre Fraktion normalerweise tut.
({0})
Wir sollten die Diskussion über den Finanzplatz
Deutschland exemplarisch dazu nutzen, vorwärts gerichtet zu argumentieren, damit wir alle zusammen die Wirtschaft dieses Landes voranbringen.
({1})
Die Diskussion um den Finanzplatz Deutschland bietet
dazu eine gute Gelegenheit. Beispiel: Viertes Finanzmarktförderungsgesetz. Dieses Gesetz hat die rotgrüne Regierung auf den Weg gebracht und wurde, soweit ich das richtig verstanden habe, von Ihnen nicht
groß torpediert. Aber dieses Vierte Finanzmarktförderungsgesetz ist - das müssen Sie der rot-grünen Regierung neidlos zugestehen - ein großer Wurf für den Finanzplatz Deutschland.
({2})
Stichwort BaFin: Mit der BaFin ist es gelungen, eine
zentrale Finanzdienstleistungsaufsicht zu schaffen, die
wirklich die gesamten, früher problematischen Schnittstellen kontrolliert und überwacht. Sie führt das zusammen, was früher in vielen kleinteiligen Lösungen betrachtet wurde. Die Rahmenbedingungen, die durch das
Vierte Finanzmarktförderungsgesetz geschaffen wurden,
sind klar. Sie sind flexibel und vor allen Dingen hoch effizient. Insgesamt kann man hier eine sehr positive Bilanz ziehen.
Es wurden jedoch noch andere Dinge auf den Weg gebracht: Stichwort Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz. Hier ist der rechtliche Rahmen für Übernahmen
von börsennotierten Unternehmen geschaffen worden.
Das Bundesbankgesetz wurde angepasst und eine ganze
Reihe von weiteren Dingen wurde in die Wege geleitet.
Der Finanzmarkt ist dynamisch. Immer gibt es internationale Veränderungen, an die unsere Verordnungen angepasst werden müssen. Dies geschieht auch: Stichwort
Finanzmarktförderplan. Die Hedgefonds wurden bereits mehrfach angesprochen. Auch solche Instrumente
müssen wir an unserem Finanzplatz zulassen und etablieren und dafür den entsprechenden Rahmen schaffen.
Aber gerade als Grüner will ich eines ganz besonders
hervorheben: Wir müssen bei dem Stichwort Aktie anders argumentieren. Insbesondere vor dem Hintergrund
des Niedergangs der Aktie weltweit, aber auch an den
deutschen Börsen müssen wir deutlich machen, welchen
Stellenwert die Aktie in unserem Wirtschafts- und Finanzsystem hat und haben muss. Wir müssen uns darüber klar werden, dass wir in diesem Lande beim Thema
Aktie immer noch einen gewissen Nachholbedarf haben.
Ich habe es schon einmal gesagt, will jedoch erneut
daran erinnern: 1914, vor dem Ersten Weltkrieg, gab es
in Deutschland mehr börsennotierte Unternehmen als in
den Vereinigten Staaten. Das war ein großer Erfolg.
Durch die beiden Weltkriege ist vieles kaputtgegangen.
Es gibt in Deutschland - auch diese Zahl sollte nachdenklich stimmen - mittlerweile mehr als 12 Millionen
Aktionäre. Das heißt, die meisten Aktionäre in Deutschland sind Kleinaktionäre. Auch dieser Entwicklung müssen wir Rechnung tragen. Hierbei wende ich mich insbesondere an die eigenen Reihen: die Grünen und auch die
SPD. Wir sollten höllisch aufpassen, weitere Diskussionen über die Besteuerung der Aktienmärkte zu führen.
Sie sind schädlich für den Finanzplatz und auch für sehr
viele Kleinaktionäre in diesem Lande.
({3})
Ein weiteres Problem kommt hinzu: Die deutschen
Unternehmen sind klassisch kreditfinanziert. Angelsächsische Unternehmen sind klassisch aktienfinanziert. Darin liegt ein großes Defizit. Die Eigenkapitalschwäche
deutscher Unternehmen hängt ganz klar mit diesem
Umstand zusammen. Sie ist natürlich auch mit einem
weiteren Problem in unserem Steuersystem verknüpft:
Die Bildung von Eigenkapital in Unternehmen wird
schlichtweg nicht gefördert; es wird eben nur die Aufnahme von Fremdkapital gefördert. Aber auch da müssen sich alle Parteien, wie sie hier sitzen, an die Nase
fassen. Auch das ist eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte.
Allerdings hat die rot-grüne Regierung dieses Problem in dem vorliegenden Papier aufgegriffen und gesagt, davon müssen wir zumindest mittelfristig weg,
dazu müssen wir uns andere Steuergesetze geben, das ist
ganz elementar für unsere Unternehmen.
({4})
- Da haben Sie Recht.
Ein weiterer für uns als Grüne ganz zentraler Punkt ist
die private Altersvorsorge. Die Riester-Rente ist zweifelsohne ein Schritt in die richtige Richtung; auch die
Einbeziehung von selbstgenutztem Wohnraum in die private Altersvorsorge ist wichtig. Ein weiteres, sehr wichtiges Element ist ein individuelles Altersvorsorgekonto.
Wir als Grüne haben dazu entsprechende Vorschläge gemacht. Gerade bei der privaten Altersvorsorge spielt natürlich auch der Aktienmarkt eine zentrale Rolle.
Ein weiterer Punkt wurde ebenfalls angesprochen - wir
haben ihn in unseren Vorschlägen hervorgehoben -: eine
zentrale Staatsanwaltschaft, um Delikte im Finanzbereich entsprechend verfolgen zu können. Man muss sich
zum Beispiel klar machen: 90 Prozent der Ermittlungen
in Bezug auf Delikte, die von der BaFin an deutsche
Staatsanwaltschaften gegeben wurden, wurden eingestellt. Das hängt zum Teil schlichtweg mit einer Überforderung bestimmter Staatsanwaltschaften zusammen, die
auf diesem Gebiet einfach keine Erfahrung haben.
Die Staatsanwaltschaften in Frankfurt und in München kennen sich mit solchen Delikten aus und gehen
angemessen damit um.
({5})
Deshalb sage ich für die Grünen: Wir sollten eine zentrale
Staatsanwaltschaft schaffen und sie in Frankfurt etablieren. Vielleicht hat dann auch Herr Koch ein gewisses Interesse daran, die Börsenaufsicht zugunsten einer zentralen Börsenaufsicht abzugeben, wenn er dafür die
zentrale Staatsanwaltschaft erhält. Man sollte in der Politik ja immer versuchen, solche Anreize zu setzen.
Außerdem haben wir in unserem Papier die Organisation der Börsen angesprochen. An dieser Stelle sollte
man auch Folgendes erwähnen: Die öffentlich-rechtliche
Organisation der deutschen Börse hat sich bewährt und
bedeutet für diesen Standort einen echten Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Standorten. Sie ist hochflexibel, hat eine hohe Rechtsverbindlichkeit und integriert
vor allen Dingen die Marktteilnehmer. Das bedeutet eine
hohe Schnelligkeit bei den entsprechenden Entscheidungen und deren Umsetzung. Ein Beispiel hierfür ist die
Neusegmentierung, Stichwort Neuer Markt. Das Verschwinden des Neuen Marktes, der wirklich nicht sehr
erfolgreich war, hängt genau mit diesen Möglichkeiten
einer schnellen Reaktion zusammen.
Die zentrale Börsenaufsicht, wenn sie denn kommt
- wie ich die Vertreter der Opposition verstanden habe,
gibt es dort ähnliche Initiativen; also hoffe ich, dass auch
bei den Ländern eine entsprechende Mehrheit zu finden
sein wird -, hätte natürlich den enormen Vorteil, dass
dann, wenn in Brüssel entsprechende Verhandlungen
stattfinden, Deutschland mit einer Stimme sprechen
würde. Heute sind dort 16 Länder mit zahlreichen Vertretern beteiligt, wodurch es zu enormen Abstimmungsproblemen kommt. Gerade bei der zentralen Börsenaufsicht muss gelten: ein Recht, eine Aufsicht, eine
Auslegung des Rechts.
Wie ich eingangs bereits sagte, halte ich es für ganz
wichtig, dass wir hinsichtlich dieser Dinge den Standort
positiv reden. Das gilt beim Finanzplatz, aber natürlich
auch bei den Steuergesetzen insgesamt. Die aktuelle Diskussion um die Agenda 2010 macht häufig auf negative
Art und Weise klar, wie verrückt wir uns in unserer Rolle
als Regierung bzw. als Opposition verhalten. Obwohl die
CDU/CSU am letzten Wochenende ein Papier vorgestellt hat, das von der Agenda 2010, von den rot-grünen
Vorhaben, gar nicht weit entfernt ist, wird immer noch so
getan, als gäbe es elementare Widersprüche zu überbrücken, anstatt genau an dieser Stelle die Chance zu ergreifen und zu sagen: Hier machen wir etwas Gemeinsames;
wir sehen da ein gemeinsames großes Problem in diesem
Land, das wir gemeinsam anpacken und dessen Lösung
wir gemeinsam umsetzen. Dafür stehen Sie nun einmal
mit in der Verantwortung, nicht nur wegen der 16 Regierungsjahre, in denen Sie die Grundsteine für vieles gelegt haben, was wir heute wegräumen müssen, sondern
auch und gerade, weil Sie über den Bundesrat in diesem
Lande mitregieren. Daher sind Sie auch aufgefordert,
diesbezüglich entsprechende Schritte zu unternehmen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Stefan Müller von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Ulrich, Sie haben natürlich Recht: Wir sollten uns
nicht damit beschäftigen, den Finanzplatz schlecht zu reden. Gleichwohl muss es erlaubt sein, auch einmal zu
analysieren, wo die Probleme des Finanzmarktes und Finanzplatzes Deutschland überhaupt liegen. Die Situation
des Finanzplatzes Deutschland ist insbesondere durch
die dramatische Schwäche der internationalen Finanzmärkte geprägt, die mittlerweile seit dem Jahre
2000 anhält. Dazu kommt eine anhaltende Wachstumsschwäche der deutschen Volkswirtschaft.
({0})
Unsere Wirtschaft ist in den letzten Jahren nur sehr
schwach gewachsen; damit erzähle ich Ihnen allen nichts
Neues. Im letzten Jahr hatten wir eine Wachstumsrate
von 0,5 Prozent und die Prognosen für dieses Jahr sind
weiß Gott nicht besser. Diese anhaltende Schwächeperiode hat zu einem drastischen Anstieg der Unternehmenspleiten in unserem Lande geführt. Im letzten Jahr
stieg die Zahl der Insolvenzen auf über 40 000 an. Von
der steigenden Zahl der Unternehmensinsolvenzen und
den daraus resultierenden höheren Kreditausfällen sowie
der Entwertung an den Aktienmärkten sind die deutschen Banken sehr stark in Mitleidenschaft gezogen
worden.
Diese Entwicklungen schaden natürlich dem Finanzplatz und insbesondere den deutschen Finanzdienstleistern. Vor allem die deutschen Banken haben seit einiger
Zeit Ertragsprobleme, weil die Margen im zinsunabhängigen Geschäft sinken, während sich die Verwaltungskosten nicht verändert haben. Ich betone aber, dass es
keine Liquiditäts- oder Bonitätskrise in der deutschen Finanzwirtschaft gibt. Dies hat kürzlich auch der Internationale Währungsfonds festgestellt, indem er bemerkt hat,
dass die Stabilität des deutschen Finanzsystems nicht gefährdet sei.
Für die Ertragsprobleme der Banken ist eine Reihe
interner wie externer Faktoren ursächlich. Es ist Aufgabe der Politik, klare und verlässliche Rahmenbedingungen zu setzen. Unser gemeinsames Ziel - darüber
sind wir uns in diesem Hause sicherlich einig - muss
sein, die Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes im Allgemeinen und der Finanzdienstleister im Besonderen zu
stärken.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben deshalb
einen 50 Punkte umfassenden Antrag in diesem Hause
eingebracht. Unser Ziel und unsere Vision sind es, dass
der Finanzplatz insgesamt stärker, innovativer und transparenter gemacht wird, damit er seine Aufgaben auch in
Zukunft erfüllen kann. Wir brauchen einen wettbewerbsfähigen Finanzplatz, um eine ausreichende Versorgung
der Unternehmen mit Eigen- und Fremdkapital zu gewährleisten. Der zentralen Funktion, die Wirtschaft mit
Kapital zu versorgen, kann der Finanzmarkt im Augenblick nicht in ausreichendem Maße nachkommen.
Stefan Müller ({2})
Dies hat zweierlei Ursachen: Die Beschaffung von Eigenkapital über die Börse ist aufgrund der anhaltenden
Wachstums- und Börsenschwäche immer schwieriger
geworden. Der Markt für Aktienneuemissionen ist in
den letzten zwei, drei Jahren fast vollständig zum Erliegen gekommen, weil sich private und institutionelle Anleger fast vollständig aus diesem Markt zurückgezogen
haben. Ich habe mir einmal die Zahlen angeschaut: Im
Jahre 2000 hatten wir noch 152 Emissionen zu verzeichnen, im Jahr 2001 gab es noch ganze 21 und im vergangenen Jahr gerade noch sechs Neuemissionen an der
deutschen Börse.
Darüber hinaus ist die Beschaffung von Fremdkapital
über die Banken immer schwieriger geworden; auch dieser Tatsache müssen wir einfach ins Auge sehen. Die
Kreditvergabepolitik der Banken hat sich in den letzten
Jahren verändert. Sie ist differenzierter und in ihrer Tendenz sicherlich auch restriktiver geworden. Das hängt
auch mit der Zunahme von ratinggestützten Kreditprüfungen sowie mit einer Differenzierung von guten und
schlechten Bonitäten zusammen.
All dies macht sich bei den mittelständischen Unternehmern bemerkbar. Gerade die kleinen und mittleren
Betriebe haben fast keine andere Möglichkeit, als sich
über Fremdkapital, über Banken zu finanzieren, weil aus
Kostengründen andere Finanzierungsformen in aller Regel ausscheiden.
Wenngleich wir davon ausgehen, dass sich die vorherrschende Fremdfinanzierungskultur in Deutschland
kurzfristig zumindest nicht verändern wird, werden sich
auch künftig mittelständische Betriebe stärker anderen
Finanzierungsalternativen zuwenden, beispielsweise der
Finanzierung über Anleihen oder Verbriefungen.
Wir begrüßen - das möchte ich ausdrücklich in diesem Zusammenhang sagen - selbstverständlich auch die
Bemühungen der deutschen Kreditwirtschaft, mit der
Kreditanstalt für Wiederaufbau eine gemeinsame
Zweckgesellschaft zu gründen, um Kreditforderungen
verbriefen zu können. Wir begrüßen es insbesondere
dann, wenn dadurch gewährleistet ist, dass es den Banken künftig wieder leichter möglich ist, vor allem der
mittelständischen Wirtschaft wieder Kredite auszugeben.
({3})
Ich möchte einen weiteren Aspekt ansprechen. Natürlich wird die Finanzierung über Beteiligungskapital in
Zukunft noch mehr an Bedeutung gewinnen. Auch dieser Markt ist in den letzten Jahren fast vollständig zum
Erliegen gekommen, nicht zuletzt auch im Hinblick auf
schwierige steuerrechtliche Gegebenheiten.
Bei den Beteiligungsgesellschaften herrscht zurzeit
eine große Verunsicherung vor allem in steuerlicher Hinsicht. Vor diesem Hintergrund haben wir in unserem Antrag die Bundesregierung aufgefordert, die steuerlichen
Rahmenbedingungen so zu verbessern, dass weder die
Fonds noch die Investoren im internationalen Vergleich
benachteiligt werden.
({4})
Wir brauchen auch einen starken Finanzplatz, damit
Anlegern gute und attraktive Anlagemöglichkeiten geboten werden. Gerade vor dem Hintergrund der demographischen Struktur in unserem Land, die die sozialen
Sicherungssysteme vor große Probleme stellt, ist eine
private Vorsorge unumgänglich. Auch da sind wir uns in
diesem Hause einig. Insbesondere im Hinblick auf den
Aufbau von privatem Kapital zur Altersvorsorge gilt es
vor allem, Verbesserungen herbeizuführen und die Rahmenbedingungen insbesondere für die kapitalgedeckte
Altersvorsorge zu verbessern.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Ihre Ansätze in der Rentenreform mit der Riester-Rente mögen
vielleicht ein gut gemeinter Anfang gewesen sein. Frau
Hauer, Sie haben vorhin dazu etwas gesagt.
({5})
Der große Wurf, Herr Tauss, ist Ihnen damit weiß Gott
nicht gelungen. Heute war in der Welt zu lesen, die
Riester-Rente werde zum Ladenhüter.
({6})
Das Interesse an der Altersvorsorge sei zwar insgesamt gestiegen, aber die Bereitschaft, einen Riester-Vertrag abzuschließen, gehe zurück, heißt es bei der Allianz,
weil das Förderverfahren und insbesondere die Zulagenanträge viel zu kompliziert seien. Das schreckt ab. Mit
der Riester-Rente ist eine unübersehbare bürokratische
Steigerung einhergegangen. Die Überreglementierung
hat dazu geführt, dass die Altersvorsorgeprodukte, die
angeboten werden, nicht wirklich attraktiv für die Anleger sind.
({7})
Darüber hinaus muss die betriebliche Altersvorsorge
als dritte Säule gestärkt werden. Wir fordern die Bundesregierung auf, auch hier Vorschläge für eine Stärkung
der betrieblichen Altersvorsorge vorzulegen.
Neben all diesen Fragen, die insbesondere das Finanzmarktrecht betreffen, müssen wir uns sehr wohl damit befassen, wie wir die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen insgesamt verändern können, weil auch die
besten Vorschläge und Änderungen im Kapitalmarktrecht nichts helfen werden, wenn die Rahmenbedingungen nicht passen.
Deutschland leidet nach wie vor unter einer Wachstumsschwäche und strukturellen Problemen am Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen. Hinzu
tritt eine überhöhte Steuer- und Abgabenlast.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
von den Grünen, Sie müssen sich sehr wohl den Vorwurf
gefallen lassen,
({8})
dass Sie es in den letzten Jahren Ihrer Regierungsverantwortung nicht geschafft haben, diese Probleme in den
Griff zu bekommen.
({9})
Stefan Müller ({10})
Sie haben vielmehr durch Ihre falschen Konzepte diese
Probleme noch verschärft.
({11})
Ihr ständiges Hin und Her bei allen wichtigen Fragen
hat - dieser Tatsache müssen Sie ins Auge sehen - zu einer mangelnden Verlässlichkeit politischer Entscheidungen geführt und den Arbeitnehmern und Unternehmern
in diesem Land die dringend notwendige Planungssicherheit genommen. Das alles belastet die deutsche
Volkswirtschaft im besonderen Maße und schwächt damit die Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes und der
deutschen Finanzdienstleister.
({12})
Wir fordern die Bundesregierung und die sie stützenden Fraktionen daher auf, endlich die nachhaltigen
Strukturreformen durchzuführen. Die CDU/CSU hat
an diesem Wochenende ein Programm beschlossen. Im
Gegensatz zu Ihnen sind wir imstande, solche Beschlüsse schnell zu fassen. Sie brauchen dafür Sonderparteitage, Regionalkonferenzen und Mitgliederbegehren. Ich bin sehr gespannt, was dabei herauskommen
wird. Wir freuen uns darauf.
Zu den dringend notwendigen Reformen gehören insbesondere die Schaffung eines einfachen und transparenten Steuerrechts, ein flexibler Arbeitsmarkt und Strukturreformen in den Sozialsystemen in Verbindung mit
mehr Eigenverantwortung und Vorsorge. Nur dadurch
werden die Investitionstätigkeit der Unternehmen und
der Konsum der privaten Haushalte in diesem Lande tatsächlich gefördert. Beides sind Elemente, die dem Finanzplatz unmittelbar helfen werden.
({13})
Zu den Rahmenbedingungen gehört auch der Abbau
bürokratischer Hemmnisse. Darüber werden wir sicherlich reden müssen; denn die Finanzwirtschaft ist davon betroffen. Es gibt wohl keinen anderen Wirtschaftszweig in Deutschland, der so stark reguliert ist. Keine
andere Branche wird durch Auferlegung von Kontrollund Meldepflichten in dieser Weise zu staatlichen Aufgaben herangezogen. Ohne einen Streit vom Zaun brechen zu wollen, müssen wir das meines Erachtens nüchtern analysieren. Der bürokratische Aufwand geht
zulasten der Kunden, die letztlich die Kosten tragen
müssen.
({14})
Wir verkennen auch nicht - das haben wir in unserem
Antrag deutlich gemacht -, dass ein Großteil der Kapitalmarktgesetzgebung von der EU entschieden wird.
Hier gilt es, Benachteiligungen der deutschen Wirtschaft
zu verhindern.
Der Finanzplatz Deutschland muss sich in Brüssel
klar und vernehmbar positionieren, damit rechtzeitig auf
die Entscheidungsprozesse Einfluss genommen werden
kann. Frau Staatssekretärin, wir haben mit Wohlwollen
vernommen, dass Sie in der Ständigen Vertretung der
Bundesrepublik in Brüssel den Bereich der Finanzdienstleistungen personell aufgestockt haben. Ich denke,
es war ein wichtiger und richtiger Schritt, die Mannschaft in Brüssel zu verstärken.
({15})
Eine auf die Stärkung des Finanzplatzes ausgerichtete
Politik erfordert vor allem eine positive Grundeinstellung gegenüber der Finanzwirtschaft. Insofern gebe
ich Ihnen Recht, Herr Ulrich. Nach Auffassung vieler
Akteure ist allerdings - beispielsweise im Gegensatz zu
Großbritannien - diese positive Grundeinstellung am Finanzplatz selber nicht vorhanden. Daran wie auch an
dem Verständnis für die gesamtwirtschaftliche Bedeutung des Finanzsektors als solchen werden wir sicherlich
noch arbeiten müssen. Wir müssen die Finanzdienstleistungsbranche als einen Beitrag zur gesamten Wertschöpfung betrachten.
Es bleibt festzuhalten - damit komme ich zum
Schluss -: Ein guter und leistungsfähiger Finanzplatz
bietet der Wirtschaft günstige Finanzierungsmöglichkeiten, den Investoren attraktive Anlagemöglichkeiten und
den Finanzdienstleistern angemessene Erträge. Ein leistungsfähiger Finanzplatz sichert Wohlstand und Beschäftigung für ganz Deutschland. Wir alle sind aufgefordert, unseren Teil dazu zu leisten.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Lothar Binding von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
verehrte Damen und Herren! Allen drei Anträgen - ich
schließe den von der FDP vorgelegten Antrag mit ein - ist
es ein gemeinsames Anliegen, den Finanzplatz Deutschland durch die Schaffung verlässlicher politischer und
rechtlicher Rahmenbedingungen zu stärken. Die Anträge
stehen damit in einer sehr guten Tradition des parteiübergreifenden Konsenses, der die Finanzmarktförderung und die Kapitalmarktgesetzgebung in Deutschland
auch in der Vergangenheit geprägt hat. Dennoch sind
Unterschiede festzustellen, und zwar im Umfang, im
Grad der Detaillierung und in der Wortwahl.
FDP, CDU und CSU bestechen, gestützt auf tagesaktuelle Betrachtungen, durch die bekannte Krisen- und
Untergangsrhetorik und vergessen dabei zu untersuchen,
wie Deutschland heute für die Zukunft aufgestellt ist. Eigentlich ist es unsere Aufgabe, über Wahltage hinaus zu
denken. Aus der Sicht von 1998 leben wir heute in der
Zukunft. Wir stellen fest: Damals war Deutschland
schlecht aufgestellt.
Unser Antrag verweist auf die bisherigen Erfolge und
die guten Voraussetzungen für die weitere Entwicklung,
übrigens auf einer fast immer gemeinsam beschlossenen
Basis. Ich erinnere an die erfolgreiche Finanzmarktfördergesetzgebung der Bundesregierung, die BundesLothar Binding ({0})
bankreform, die Gründung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, die Deutsche Finanzagentur und
an das Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz. Nur
das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz ist schließlich
im Vermittlungsausschuss gelandet. - Es wird deutlich,
dass wir über eine sehr breite, kooperative und parteiübergreifende Basis verfügen. - Last, but not least erinnere ich an die Initiative zur Entwicklung des Corporate
Governance Kodexes, die in Deutschland eine wichtige
Bedeutung erlangt hat.
All diese gesetzgeberischen Initiativen sind in die
Mitwirkung der Bundesregierung an der Schaffung eines
integrierten europäischen Marktes für Finanzdienstleistungen bis zum Jahr 2005 eingebettet, also mit dem EUAktionsplan für Finanzdienstleistungen der Europäischen Kommission koordiniert. Das Finanzministerium
teilt mit, dass schon über drei Viertel der ursprünglich
42 Maßnahmen des Aktionsplanes umgesetzt seien.
({1})
Ein Erfolg dieser Finanzmarktförderungspolitik zeigt
sich konkret zum Beispiel darin, dass sich die Zahl der
Aktionäre und der Fondsanteilsinhaber im vergangenen
halben Jahr gesteigert hat. Hier besteht ein echter Zusammenhang mit den positiv-regulatorischen Maßnahmen der Bundesregierung.
Dabei muss uns allen allerdings klar sein, dass die
schönsten Gesetze, die feinsten Regelungen und passgenaue Rahmenbedingungen dauerhaft nur dann weiterhelfen, wenn auch die Akteure Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit
und Verhältnismäßigkeit walten lassen sowie Kompetenz aufweisen. Ich erinnere an Insidergeschäfte und an
Bilanzfälschungen, um den Blick in diese Richtung zu
lenken. Kompetenz ist dabei nicht unbedingt am Jahresgehalt zu erkennen - Verhältnismäßigkeit schon gar nicht -,
sondern an der Zukunftsfähigkeit der Entscheidungen.
({2})
Deshalb bestimmen Unternehmer, Manager bzw. Vorstandsvorsitzende, Mitglieder von Aufsichtsräten sowie
auch Finanzberater und Börsenjournalisten entscheidend, wie sich der Finanzplatz Deutschland entwickelt.
Die bisherige Arbeitsteilung - wenn es nicht gut läuft,
wird mit dem Finger auf die Politik gezeigt; wenn es
nicht schlecht läuft, dann steigen die Gehälter der Topmanager - sollten wir nicht mitmachen.
({3})
Es ist sicherlich kein Zufall, dass in allen drei Anträgen die Schaffung einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft zur Verfolgung von Finanz- und Kapitalmarktdelikten angesprochen wird; denn die Strafverfolgung im
Kapitalmarktbereich krankt in Deutschland an der sehr
hohen Zahl von Verfahrenseinstellungen. Dies ist die
Folge der oft geringen Expertise und des hohen Aufwandes, der bei diesen Delikten betrieben werden muss. Hier
wollen wir auf eine Zusammenarbeit mit den Ländern
hinwirken, um den Anlegerschutz durch eine Stärkung
der Verfolgungsbehörden zu verbessern. Ich denke, auch
darüber besteht parteiübergreifend Konsens. Daran sollten wir weiter arbeiten.
({4})
Der FDP-Antrag ist in seiner Reduktion auf den Finanzplatz Frankfurt im Verhältnis zu den abstrakt definierten
Zielen widersprüchlich. In der Formulierung Die Bedeutung des Finanzplatzes für die Finanzierung der Volkswirtschaft
- und das reduziert auf Frankfurt - wird dieser
Widerspruch besonders deutlich. Zwar stimmt es, dass
Frankfurt als Bankenplatz und Sitz des größten deutschen Börsenbetreibers am Finanzplatz Deutschland
eine herausragende Stellung einnimmt. Doch gibt es in
Deutschland auch andere Finanzzentren, etwa München
und Köln/Bonn in der Versicherungsbranche, sowie
starke Regionalbörsen in Stuttgart, Düsseldorf, München
und Berlin/Bremen.
Vielleicht geht dieser Irrtum der FDP auf die Annahme des Kollegen Solms zurück, der in der gestrigen
Finanzausschusssitzung sagte, die Regionalbörsen seien
Mitglieder der Deutsche Börse AG in Frankfurt. Tatsächlich waren die Regionalbörsen früher mit einem Anteil von etwa 10 Prozent am Kapital der Deutsche
Börse AG beteiligt. Dieser Anteil wurde aber abgebaut.
Heute befinden sich mehr als 80 Prozent der Anteile an
der Deutsche Börse AG interessanterweise in der Hand
ausländischer institutioneller Investoren. Die Regionalbörsen in Deutschland treten also als Konkurrenten auf
und sollten deshalb unseres Erachtens nicht unter den
Tisch fallen.
Der CDU/CSU-Antrag enthält, wie schon erwähnt,
eine Reihe vernünftiger Ansätze, die sich auch im Programm der Regierung bzw. in unserem Antrag wiederfinden. Jedoch - auf die Zahl von 50 Unterpunkten
wurde schon mehrfach hingewiesen - fällt die extreme
Kleinteiligkeit des Antrags auf, die sich als positives Signal für den Finanzplatz Deutschland nicht unmittelbar
eignet. Bei vielen Punkten im CDU/CSU-Antrag kann
man erahnen, welche Lobbygruppe an dem Brainstorming beteiligt war.
({5})
Wenn man zum Beispiel unter Punkt II. 10 - da geht es
um das Übernahmerecht - nachschaut, dann wird rasch
deutlich, wer an der Formulierung beteiligt gewesen sein
könnte. Dahinter steckt natürlich Sachverstand, möglicherweise aber auch ein ganz konkretes individuelles
Interesse. Wir aber sollten für alle Menschen Politik machen und diese Form eher hintanstellen.
({6})
Viele der aufgeführten Aspekte, nämlich die guten,
werden im Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
- elegant, wie ich meine; so viel Eigenlob muss sein durch den Hinweis auf das Zehnpunkteprogramm der
Bundesregierung zur Stärkung der Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes sowie auf den Finanzmarkt3580
Lothar Binding ({7})
förderplan 2006 des Bundesfinanzministeriums integriert.
Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
enthält in hinreichendem Schärfegrad vernünftige Aspekte aus den beiden anderen vorliegenden Resolutionen. Dort, wo FDP und CDU/CSU den Finanzplatz
Deutschland am Rand des Abgrunds wähnen, verweist
unser Antrag auf die bisherigen Erfolge bei der Finanzplatzförderung - in, wie ich denke, angemessener
Form. Gleichwohl weisen wir auf die notwendige Weiterentwicklung hin; denn Fortschritte bei der Entwicklung des Finanzmarkts haben herausragende Bedeutung
für den Erfolg der deutschen Volkswirtschaft.
Verlässliche politische und rechtliche Rahmenbedingungen sind eben eine der Voraussetzungen für das
Funktionieren des Finanzmarkts als Motor für Wachstum und Beschäftigung. Ohne die Finanzierungsfunktion
des Kapitalmarkts - mit Fremdkapitalaufnahme durch
Kredite oder Anleihen bzw. mit Eigenkapital durch die
Begebung von Aktien - werden keine Investitionen getätigt und die volkswirtschaftliche Entwicklung wird gehemmt. Diesen Weg sollten wir weiter beschreiten.
Über die Diskriminierung von Eigenkapital gegenüber Fremdkapital haben wir schon einiges gehört. In
diesem Zusammenhang muss zumindest die Problematik
der Dauerschuldzinsen noch einmal betrachtet werden.
Dabei bieten das Zehnpunkteprogramm der Bundesregierung zur Stärkung der Unternehmensintegrität und des
Anlegerschutzes sowie der Finanzmarktförderplan 2006
des BMF eine hervorragende Grundlage. Ich möchte einige wichtige Maßnahmen aus diesem Arbeitspensum
nennen.
Erstens: Entwicklung eines international konkurrenzfähigen Verbriefungsmarktes, Asset Backed Securities Initiative der KfW mit den großen Geschäftsbanken und
den Genossenschaftsbanken. Durch die Verminderung
der Risikopositionen der Kreditinstitute aus Kreditforderungen und -risiken wird Eigenkapitalentlastung herbeigeführt. Dies führt zu einem großen Freiraum für neue
Kredite. Die Finanzierungsmöglichkeiten werden dadurch auch für kleinere und mittlere Unternehmen essenziell verbessert. Die steuerliche Entlastung der Zweckgesellschaften, auf die solche Kredite oder Kreditrisiken
übertragen werden sollen, gleicht den Nachteil des Finanzplatzes Deutschland aus. Zweckgesellschaften müssen nicht länger aus gewerbesteuerlichen Gründen ins
Ausland ausweichen. Dies ist ein riesengroßer Fortschritt.
({8})
Zweitens. Das Investmentgesetz 2003 wird Wettbewerbsnachteile, die die deutsche Fondsindustrie in den
vergangenen Jahren wiederholt beklagt hat, beseitigen.
Vorteile von Standorten wie Irland oder Luxemburg werden damit ausgeglichen. Im Rahmen der anstehenden
Umsetzung bestimmter EG-Richtlinien wird das Umfeld
für die Auflegung und Verwaltung von Investmentfonds
in Deutschland einer kritischen Überprüfung unterzogen. Ziel sind dabei die Entschlackung des Gesetzes und
die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten der Fondsgesellschaften.
Drittens: Schaffung eines Enforcement-Mechanismus zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit konkreter
Unternehmensabschlüsse. Es ist im Grunde erschreckend, dass wir so etwas brauchen; aber die vorhin genannten Stichworte zeigen, dass dies ein wichtiges Ziel
ist, um das Anlegervertrauen zurückzugewinnen.
({9})
Viertens: Stärkung der Verantwortlichkeit der Gesellschaftsorgane Vorstand und Aufsichtsrat durch die
Schaffung einer persönlichen Haftung für falsche Kapitalmarktinformationen; Verbesserung der Organaußenhaftung; Ausdehnung der bisherigen Haftung, die allein
die Gesellschaft trifft.
Fünftens: Weiterentwicklung des Corporate Governance Codex. Ziel ist die Etablierung einer verantwortlichen und vernünftigen Unternehmensführung und -leitung.
Sechstens: Verbesserung der Aufsicht über den
grauen Kapitalmarkt durch Einführung einer Prospektpflicht für öffentlich angebotene Kapitalbeteiligungen,
zum Beispiel stille Beteiligungen oder Kommanditbeteiligungen.
Zusammenfassend möchte ich an die lange Tradition
der Gemeinsamkeiten in diesen Fragen erinnern. So
wurde, wie bereits erwähnt, lediglich das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz schließlich im Vermittlungsausschuss verhandelt. Hintergrund dafür waren aber weniger parteiliche Differenzen als vielmehr Konflikte
zwischen dem Bund und den Ländern.
An diese Tradition sollten wir hinsichtlich der Gesetzgebung zur Finanzmarktförderung zum Wohle des Finanzplatzes Deutschland anknüpfen und den Antrag der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen unterstützen.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/748 und 15/930 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Jörg Tauss, Ulla Burchardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD,
der Abgeordneten Grietje Bettin, Hans-Josef Fell,
Volker Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Ulrike Flach,
Christoph Hartmann ({1}), Cornelia Pieper,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Für eine erfolgreiche Fortsetzung der gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und Ländern
im Rahmen der Bund-Länder-Kommission für
Bildungsplanung und Forschungsförderung
({2})
- Drucksache 15/935 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Debatte eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann
ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Ernst Dieter Rossmann von der SPD-Fraktion
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gemeinschaftsaufgaben sollen nach unserer
Verfassung erfolgreich dazu beitragen, dass von Bund
und Ländern etwas für die Gesamtheit gefördert wird
und dass die Lebensverhältnisse aller verbessert werden.
Wir haben in diesem Hause Konsens darin, glaube ich,
dass alles das, was Bildung, Forschung und Wissenschaft fördert, in dem Sinn Gemeinschaftsaufgabe von
Bund und Ländern ist.
({0})
Dieser Konsens ist gewachsen. Er ist fest verankert,
weil wir wissen, dass Bildung und Forschung Lebenschancen für den Einzelnen, Entwicklungschancen für die
Gesellschaft, für den Wohlstand, für die Wirtschaft und
für Nachhaltigkeit bedeuten, dass das Zusammenwirken
vieler Beteiligter von Bund und Ländern im Bereich von
Bildung, Wissenschaft und Forschung, die Vernetzung,
wichtig ist. Das brauchen wir erst recht im Bildungsbereich, auch wegen der Mobilität innerhalb von Deutschland und innerhalb von Europa. Schließlich geht es auch
immer um langfristige Fragen. Langfristige Fragen lassen sich am besten in Zusammenarbeit behandeln.
({1})
Deshalb haben frühere Generationen von Regierungen und Parlamentariern diese Gemeinschaftsaufgaben
1969 im Grundgesetz verankert. Die Aufgaben sind von
den Ländern umgesetzt worden. Wir möchten von unserer Seite aus hier ausdrücklich festhalten: Im Bund-Länder-Abkommen für Bildungsplanung sind sie sowohl in
der Absicht als auch in der Praxis erfolgreich umgesetzt
worden. Dies können wir seit 30 Jahren so feststellen.
({2})
Es ist erfolgreich gewesen - in Bezug auf den gewaltigen Aufwuchs, den wir in Bildung und Forschung in
Deutschland erlebt haben, und in Bezug auf die Modernisierung der Institutionen - und es hat durchaus auch
der Stabilisierung gedient, etwa dann, wenn Finanzminister oder andere Interessen Angriffe auf den Bereich
von Bildung und Forschung gestartet haben. Wir wollen
ausdrücklich anerkennen, dass Kooperation von Bund
und Ländern auch stabilisieren kann, wenn es bestimmte
Interessen gibt, die diesen Zukunftsbereich zurückstufen
wollen.
Es ließe sich jetzt aus der umfangreichen Geschichte
referieren, was in der strategischen Bildungsplanung, in
der Vernetzung vieler Einrichtungen - vom Kindergarten
bis zur Hochschule - gemacht worden ist und was in der
Forschungsförderung aufgebaut worden ist. Ich erinnere
nur daran, dass im Zuge der deutschen Einheit der Aufwuchs von Forschungseinrichtungen in den neuen Bundesländern unter anderem über die Bund-Länder-Kooperation erfolgreich mit organisiert worden ist. Es gibt
Wissenschafts- und Hochschulprogramme, schließlich
auch Modellversuche - immerhin 300 seit 1970 -, die,
gut gebündelt, dazu beigetragen haben, dass es im Bildungsbereich immer wieder Erneuerung, Innovation, gegeben hat. - So weit, so gut.
Umso erstaunter, wenn nicht erschrockener waren wir
Bildungspolitiker, als wir im März dieses Jahres eine Erklärung aus dem zuständigen bayerischen Staatsministerium vorfanden, deren erster Satz lautete:
Die Bildungsminister der CDU/CSU-regierten Länder haben sich darauf verständigt, aus der Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung auszusteigen.
So damals Herr Zehetmair.
Diese Kampfansage, vor dem Hintergrund auch anderer Äußerungen des Ministers - ich will nur beispielhaft
aus dem erfolgreichen Diskussionsprozess des Forums
Bildung zitieren: Jeder mit unnützen Zuständigkeitsdebatten vergeudete Tag ist ein verlorener Tag für unsere
Kinder. -,
({3})
hat beim Bundeselternrat, Frau Hendriks, bei der GEW
oder bei Herrn Eckinger, VBE - das ist vielleicht neutraler -, Reaktionen hervorgerufen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Man darf keine Krähwinkelpolitik
betreiben. Wir brauchen den kooperativen Föderalismus.
Die BLK ist eine wichtige Gelenkstelle, um im Föderalismus Bildung und Forschung kooperativ nach vorn zu
bringen.
Wir waren uns sicher, auch nach Erfahrungen, die schon
1980 in diesem Parlament gemacht worden waren, dass
auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dies so sehen
würde. Da lagen wir falsch. Wir mussten feststellen, dass
erstmals in 30 Jahren erfolgreicher BLK-Geschichte
auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Auffassung
ihrer Bildungsminister teilt. Das finden wir sehr bedauerlich. Deshalb möchten wir - bewusst SPD, Grüne und
FDP gemeinsam - aus diesem Parlament heraus mit diesem Antrag ein klares Bekenntnis zur gemeinsamen Verantwortung von Bund und Ländern für die Bildungspoli3582
tik, die Bildungsförderung sowie die Forschungspolitik
und auch die Forschungsförderung abgeben.
({4})
Wir möchten mit diesem Antrag, von dem eine sehr
aufmerksame und liebevolle Kollegin - sie ist leider
nicht hier - gesagt hat, dass es doch eigentlich ein ziemlich harmloser Antrag sei, durchaus nachdrücklich auf
einen Punkt aufmerksam machen, indem wir in ihm
sowohl den Bund wie auch die Länder nachdrücklich
auffordern und an sie appellieren, Kooperation nicht aufzukündigen. Das Wort Aufkündigung enthält die Wertung, dass es sich hierbei immer um einen einseitigen
Vorgang handelt. Es darf eine Aufkündigung, eine einseitige Veränderung, weder von Länderseite noch von
Bundesseite geben. Vielleicht wird unser Antrag auf beiden Seiten als politisches Wollen in all seinen Konsequenzen verstanden.
({5})
In der Konsequenz heißt das nicht, dass es keine Veränderungen geben könnte. Natürlich hat es Veränderungen gegeben und natürlich wird es auch weiter Veränderungen geben müssen. Aber es ist doch etwas anderes,
ob diese in Form einer Aufkündigung, einer Kampfansage, eines einseitigen Ausstiegs oder auf der Basis einer
im Konsens getroffenen Vereinbarung geschehen. Dieser
letzte Punkt ist uns wichtig: Wir brauchen im ganzen
Veränderungsprozess Konsens. Darauf sollten wir uns in
dieser Sache verständigen.
({6})
Schließlich brauchen wir schnelle und klare Entscheidungen. Denn es liefe etwas verkehrt, wenn zukünftig
Attentismus einträte, weil man nicht mehr weiß, wie
man Bund-Länder-Zusammenarbeit organisieren soll.
Das können wir uns im Bildungs- und Forschungsbereich nicht leisten.
Weiterhin haben wir in dem Antrag dargelegt, dass
wir uns vor allen Dingen eine Konzentration dieser sehr
erfolgreichen Bund-Länder-Zusammenarbeit auf strategische Bildungsplanung wünschen. Ich bin sicher, dass
andere Kollegen das noch entsprechend unterstützen
werden.
Ich darf mit einem Appell schließen, den Bundespräsident Rau auf dem Abschlusskongress des Forums Bildung, eines der letzten großen, nachhaltig wirkenden
Vorhaben der Bund-Länder-Kommission im PISA-Prozess, gesagt hat. Er hat daran erinnert:
Die Zusammenarbeit all derer, die im Bildungsgeschehen zusammenwirken müssen, ist möglich.
Man muss sie wollen.
Wir dürfen an die Adresse der CDU/CSU sagen: Wir
wollen diese Kooperation, wir brauchen sie, wir brauchen aber auch Sie als CDU/CSU, damit diese Kooperation auch in Zukunft gelingt. Wir wollen keine Einseitigkeiten, sondern wollen Perspektiven aufzeigen. Wir
haben deshalb die Hoffnung, dass dann, wenn dieser Antrag aus den Ausschüssen, an die er heute überwiesen
werden soll, zurückkommt, auch mit Ihrer Zustimmung
hier im Parlament beschlossen wird.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katherina Reiche von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte steht im Zusammenhang mit
der grundlegenden Neuordnung der Gemeinschaftsaufgaben zwischen Bund und Ländern. Es geht um Kompetenzabgrenzungen, die Klärung von Zuständigkeiten und
auch um mehr Wettbewerb. Die Zukunft der gemeinsamen Bildungsplanung im Rahmen der Bund-LänderKommission ist ein Teil dieser übergeordneten Föderalismusdiskussion.
An der Entscheidungsfindung scheint sich übrigens
der Bundeskanzler, Frau Bulmahn, nicht sonderlich beteiligen zu wollen, denn es war Frau Zypries, die in der
FAZ vom 16. April eine Umgestaltung der Finanzierung von Forschung und Hochschulen in Deutschland
vorschlug, über den Kopf der zuständigen Ministerin
hinweg.
({0})
Das BMBF scheint auch aus dem Lenkungsausschuss der
Chefs der Staatskanzleien fern gehalten zu werden, wo
der Komplex der Föderalismusreform bearbeitet wird.
Ich glaube, deutlicher kann der Bundeskanzler die Bedeutungslosigkeit der Bundesbildungsministerin wirklich nicht signalisieren.
({1})
Die Aufregung, die jetzt bei Rot-Grün und auch bei
der FDP herrscht, hat ihre Ursache in einem Beschluss
der Ministerpräsidenten aller 16 Länder. Schauen wir
uns in aller Ruhe einmal die Tatsachen an: Es gab am
27. März dieses Jahres eine Ministerpräsidentenkonferenz in Hamburg, die Folgendes beschlossen hat:
Die Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung soll
abgeschafft werden, wobei eine Koordinierung unter den Ländern sicherzustellen ist.
Die Forschungsförderung ist auch in Zukunft als
Mischfinanzierung fortzuführen.
({2})
Dabei handelt es sich nun keineswegs um einen Alleingang der Ministerpräsidenten von der Union, sondern
alle Ministerpräsidenten haben das beschlossen, übrigens auch mit Zustimmung der in den Ländern mitregierenden FDP.
Zum Beispiel unterschrieb der stellvertretende Parteivorsitzende der FDP Döring den baden-württembergischen
Koalitionsvertrag. Dieser enthält den Passus:
Wir werden allem entgegentreten, was den Bewegungsspielraum der Länder in diesem Zusammenhang
- im Zusammenhang mit der Kernkompetenz Kulturpolitik weiter einengt. Dazu gehören eine Deregulierung
bei der geplanten Novellierung des Hochschulrahmengesetzes, der Verzicht der Bund-Länder-Kommission auf den Bereich Bildungsplanung
({3})
sowie eine weitere Stärkung des Selbstauswahlrechts der Hochschulen.
({4})
Es beschleicht einen die Vermutung, Rot-Grün und
die FDP vergössen nun in ihrem gemeinsamen Antrag,
der sich für die Fortsetzung der gemeinsamen Bildungsplanung ausspricht, Krokodilstränen. Vergessen werden
darf nämlich auch nicht eine nicht ganz unwesentliche
Vorgeschichte. Ich erinnere an den Beschluss der BundLänder-Kommission vom Juni des vergangenen Jahres,
der Budgetzuwächse in Höhe von bis zu 3,5 Prozent für
alle Wissenschaftsorganisationen im Haushalt 2003 beinhaltete. Der Bund hat diesen einmütig gefassten Beschluss einseitig und ohne Absprache mit den Ländern
über Nacht aufgekündigt. Das ist ein noch nie dagewesener Wortbruch.
({5})
Ich glaube, die Länder sind es leid, dass die Bundesministerin den Gedanken der gemeinsamen Bildungsplanung immer wieder dazu benutzt, sich in die Kulturhoheit der Länder einzumischen. Das Kerngeschäft ihrer
Aufgaben, die Forschungspolitik, hat Frau Bulmahn vernachlässigt. Sie flüchtet sich nun in die Bildungspolitik,
für die sie laut Grundgesetz gar keine Kompetenzen hat.
({6})
Es ist allein der Initiative der unionsgeführten Länder
in der Kultusministerkonferenz zu verdanken, dass es zu
einer Einigung über die Einführung gemeinsamer Bildungsstandards gekommen ist. Die KMK ist hier viel
weiter als der Bund. Die Vorschläge von Frau Bulmahn
zur Einrichtung einer nationalen Agentur zur Entwicklung und Evaluierung von Bildungsstandards bedeuten
eine weitere unerwünschte Einmischung in die Hoheit
der Länder.
Auch der Vorschlag von Frau Bulmahn, eine achtbzw. neunjährige Regelschule einzuführen und somit
quasi das gegliederte Schulsystem abzuschaffen, ist anmaßend, rein ideologisch und verfolgt offensichtlich das
Ziel einer Einheitsschule.
({7})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt politisch das Vorgehen der Ministerpräsidenten. Zum einen
ist aus der gemeinsamen Bildungsplanung seit Jahren
keine weiterführende Initiative entstanden und zum anderen existiert mit der KMK ein Gremium, das den Koordinierungsbedarf der Länder durchaus abdeckt.
({8})
Darüber hinaus könnten durch Ad-hoc-Arbeitsgruppen bildungs- und berufsbildungspolitische Fragen abgedeckt werden. Gegebenenfalls könnte auch das Bundesinstitut für Berufsbildung den Berufsbildungsteil ganz
übernehmen. Insgesamt wäre ein Ausstieg aus der gemeinsamen Bildungsplanung auch ein Beitrag zu mehr
Transparenz und Effizienz im Bildungswesen.
Frau Kollegin Reiche, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Nein, ich würde gern fortfahren.
Keine Zwischenfrage!
Gleichzeitig begrüßen wir auch das Festhalten der
Länder an der gemeinsamen Forschungsförderung von
Bund und Ländern. Der Zwang für Bund und Länder,
sich abzustimmen, wirkt quasi wie ein Puffer gegen extreme Schwankungen in der Forschungspolitik.
({0})
Nun beabsichtigt die Bundesregierung, im Zusammenhang mit einer Föderalismusreform die Forschungslandkarte in Deutschland neu zu ordnen. Der Kanzler
will sich - so zumindest die FAZ vom 2. Mai - forschungspolitisch ein Riesenreich schaffen. Die Forschungsorganisationen der Fraunhofer-Gesellschaft
und der Helmholtz-Gemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft
sollen mit einem Forschungsvolumen von über
5 Milliarden Euro in die alleinige Zuständigkeit des
Bundes überführt werden.
({1})
Die vom Bund vertretene Position bedeutet die Aufkündigung der gemeinsamen Finanzierung. Politisch läuft
die Position des Bundes auf eine Gleichschaltung der
Spitzenforschung hinaus.
({2})
In unseren Augen gefährdet sie damit die Unabhängigkeit der Forschungseinrichtungen.
({3})
Die Stärke des Wissenschaftsstandortes Deutschlands liegt gerade in seiner föderalen Struktur unter einer
politikfreien wissenschaftlichen Begleitung durch Topgremien wie zum Beispiel die Gutachter der DFG. Dieses Pfund darf nicht verspielt werden. DFG und MPG
sind die Flaggschiffe der deutschen Forschungslandschaft mit einem international hervorragenden Renommee. Jetzt erfahren sie aus der Presse, dass der Bund die
Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung faktisch
aufkündigen will. Ich frage mich: Was ist das für ein
Stil?
({4})
Wenn durch die Entscheidung der Bundesregierung
der Fortbestand dieser Einrichtungen in die Grauzone
gestellt würde, würde dies das Ansehen beider Einrichtungen auch in der internationalen Wahrnehmung beschädigen.
Nun zu den Leibniz-Instituten. Die Einrichtungen der
Leibniz-Gemeinschaft sollen nach den Plänen der Bundesregierung in der alleinigen Zuständigkeit der Länder
verbleiben. Dies ist wohl der Gipfel der Scheinheiligkeit.
({5})
Diese Einrichtungen werden vom Bund und von den
Ländern zu jeweils 50 Prozent finanziert. Strukturell und
organisatorisch sind die Institute der Leibniz-Gemeinschaft die ländernächsten und liegen mit ihren Schwerpunkten vor allem in den neuen Ländern. Was passiert
nun, wenn sich der Bund daraus verabschiedet? Insbesondere die neuen Länder wären gar nicht in der Lage,
alle Institute zu 100 Prozent zu übernehmen. Die Entscheidung des Bundes würde eine wenn nicht flächendeckende Schließung, so doch vermutlich große Anzahl
von Schließungen von Leibniz-Instituten in den neuen
Ländern zur Folge haben.
Frau Bulmahn betont immer wieder, dass sie keine
bildungspolitische Kleinstaaterei will. Was sie jedoch
mit der Wilhelm-Leibniz-Gemeinschaft vorhat, ist forschungspolitische Kleinstaaterei; denn jedes Land soll
sich um seine eigenen Leibniz-Institute kümmern. Gerade in der Forschung brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Vernetzung.
({6})
Wir wissen nicht, ob die Überlegungen des Bundes
nur als Schachzug zu bewerten sind, die Länder durch
die Drohung mit dem Ende der gemeinsamen Forschungsförderung dazu zu bewegen, den Bund weiterhin
in der Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung mitbestimmen zu lassen. Gleichwohl sollten sie ernst genommen werden. Die rot-grüne Bundesregierung zeigt nämlich mit diesen Vorschlägen ihr wahres Gesicht:
({7})
die Vernachlässigung der Forschung in den neuen Ländern und eine Monopolisierung der deutschen Forschungslandschaft in der Hand des Bundes.
Die Forscher - das kann ich hier sagen - sind hochgradig verunsichert.
({8})
Einige Berufungsverfahren sind unterbrochen, da sich
die Wissenschaftler momentan nicht auf diese Ungewissheit einlassen wollen. Wir werden das nicht mitmachen. Ich hoffe, dass es die Länder bei ihrem Gespräch
mit dem Bundeskanzler am 26. Juni zu verhindern wissen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Grietje Bettin vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach diesem destruktiven Beitrag vorweg eine gute
Nachricht:
({0})
Es kommt glücklicherweise Bewegung in die Bildungslandschaft. Der Jahresbericht der Bund-Länder-Kommission zeigt uns, liebe Kollegin Reiche, wie erfolgreich
konstruktive Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg sein kann.
({1})
Nicht nur auf PISA hat die BLK sachgerecht reagiert.
Sie hat Empfehlungen für die Sprachförderung erarbeitet, die schon jetzt in den meisten Bundesländern - zum
Beispiel in Schleswig-Holstein und Niedersachsen - umgesetzt werden. Sie hat das Ansehen des Studiums in
Deutschland mit dem äußerst erfolgreichen Marketing
für unsere Unis im Ausland entscheidend verbessert und
sie hat auch in den Jahren Ihrer Regierungzeit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, einige Schritte für
die Modernisierung des Bildungssystems getan.
({2})
Ich denke dabei zum Beispiel an die drei Hochschulsonderprogramme oder an den Aufbau des Hochschulwesens in den neuen Ländern.
({3})
Deswegen ist es für mich überhaupt nicht nachvollziehbar, wenn nicht nur die unionsgeführten Länder,
sondern sogar Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Unionsfraktion in diesem Hause, aus der gemeinsamen
Bildungsplanung aussteigen wollen. Sie berauben sich
damit doch Ihrer eigenen Gestaltungskompetenz. Dies
mit der PISA-Studie zu begründen ist ziemlich fadenGrietje Bettin
scheinig. Die bayerischen Schulen mögen bundesweit
und oberflächlich betrachtet vielleicht relativ gut dastehen. International gesehen spielen sie jedoch allenfalls in
der zweiten Liga.
({4})
Das Bildungsniveau dort wird sicher nicht leiden, nur
weil wir in der BLK darüber sprechen. Außerdem erkaufen Sie sich diesen insgesamt mäßigen Erfolg damit,
dass zum Beispiel Bayern auf Kosten der anderen Bundesländer viel zu wenige Abiturientinnen und Abiturienten ausbildet, und wenn, dann sind das erwiesenermaßen
meist Kinder reicher Eltern. Für diese will die CSU jetzt
auch noch in Elitestudiengänge investieren, wie heute im
Tagesspiegel zu lesen war. Glauben Sie, das ist das
richtige Signal zu dieser Zeit? - Ich glaube es nicht.
({5})
Grünes Ziel ist es - das sollte auch Ihres sein -, die
faktische soziale Auslese in der Schule zu beenden und
allen begabten jungen Menschen einen hohen Bildungsabschluss zu ermöglichen. Nahezu alle Bildungsexpertinnen und -experten fordern für dieses Ziel eine längere
gemeinsame Schulzeit. Darin liegt wohl auch der wahre
Grund für den angekündigten Ausstieg der Union: Das
gegliederte Schulsystem ist der Union noch immer so
heilig, dass sie lieber die gemeinsame Bildungsplanung
auf dessen Altar schlachten möchte.
Bund und Länder müssen nach PISA und IGLU große
bildungspolitische Aufgaben bewältigen. Es geht um
nichts Geringeres als um die Zukunftschancen unserer
Kinder. Bildungsstandards sollen die Qualität der Bildung überall in Deutschland sicherstellen. Sie müssen
gemeinsam entwickelt werden, weil sie nicht nur schulische Bildung, sondern eben auch Kindergärten und Weiterbildung betreffen. Darüber hinaus stehen uns auch
massive Reformen im Bereich der beruflichen Bildung
ins Haus, die wir ohne BLK und ohne gemeinsame Kooperation von Bund und Ländern gar nicht anpacken
könnten.
Die Forschungsfinanzierung wäre ohne die BLK
höchst ineffizient. Wir alle wollen die Forschung in
Deutschland stärken und international wettbewerbsfähig
erhalten. Wir können uns aus meiner Sicht ein planloses
Nebeneinander in der Forschung absolut nicht leisten.
({6})
Lassen Sie uns also zuerst über die gemeinsamen
Ziele sprechen, die wir in der Bildungspolitik - vom
Kindergarten bis zur Weiterbildung - erreichen wollen!
Sie werden feststellen, dass wir vielfach gar nicht so
weit auseinander liegen. Lassen Sie uns anschließend
über die Strukturen diskutieren, die wir brauchen, um
diese Ziele zu erreichen! Für eine solche Diskussion ist
die BLK das ideale Forum.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, an dem
gemeinsamen Antrag der Koalition und der FDP sehen
Sie, dass Sie mit Ihrem Ausstieg aus der gemeinsamen
Bildungsplanung absolut allein dastehen.
({8})
Deshalb: Kehren Sie zum bewährten Konsens in diesem
Hause zurück! Setzen Sie sich mit uns für die gemeinsame Bildungsplanung vor allem im Interesse der jungen
Menschen in unserem Land ein!
Danke schön.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Ulrike Flach von der FDPFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand in diesem Hause - auch Sie nicht, Frau
Reiche - wird ernsthaft behaupten, wir bräuchten in der
Bildungsplanung keine Koordination und keine Kooperation zwischen Bund und Ländern.
({0})
Der einheitliche Bildungsraum Europa, die Herausforderungen im internationalen Wettbewerb der Bildungsmärkte und die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns
nach der PISA-Studie machen dies mehr als deutlich.
Wer zu diesem Zeitpunkt, liebe Kollegen von der
CDU/CSU, die Position der Länder - das sage ich mit
sehr großem Ernst - eins zu eins, also kritiklos, und damit auch ihren sehr emotionsgeladenen Ärger nach dem
Motto: Nimmst du unser Schippchen weg, dann geben
wir dir das andere wieder und hauen wir noch einmal
drauf übernimmt und damit zu einem Beschluss
kommt, der rational kaum zu begründen ist, steigt mit einem Paukenschlag aus der gemeinsamen Bildungsplanung aus und zerstört das kleine Pflänzchen gemeinsamen bildungspolitischen Handelns, das wir mühsam
gepflegt haben.
({1})
Wenn PISA ein Signal gab, dann ist es nicht das, dass
jeder für sich allein für mehr Qualität des Bildungswesens in unserem Lande kämpfen soll, sondern das Signal,
dass alle gemeinsam das tun sollten. Wenn Sie die Menschen in unserem Lande fragen, so stellen Sie fest, dass
sie genau das bestätigen: Wir sollen zusammenarbeiten
und nicht gegeneinander arbeiten.
({2})
Dazu brauchen wir die BLK als das einzige über Jahrzehnte hinweg funktionierende Scharnier zwischen
Bund und Ländern.
Anders übrigens als die Kultusministerkonferenz - da
bin ich ganz anderer Meinung als Sie -, die zwar oft in
den Medien ist, aber wenig bewegt, ist die Bund-LänderKommission in der Öffentlichkeit eher unbekannt, dafür
aber sehr erfolgreich.
({3})
Die zahlreichen Vorhaben - Kollege Rossmann hat es
eben schon aufgeführt - von Wissenschaftsprogrammen
und Marketing bis hin zu beruflicher Bildung und der
gemeinsamen Bildungsplanung, auch im Bereich der
Frauenförderung, haben in den letzten Jahrzehnten bewiesen, dass es sich hier um eine Institution handelt, die
es wert ist, dass um sie gekämpft wird, Frau Reiche.
({4})
Sicher war nicht alles erfolgreich. Es gibt übrigens individuelle Modellversuche in den Ländern. Das Land
Baden-Württemberg ist so ein Fall.
({5})
Es hat sich an vielen Modellversuchen, die die BLK auf
den Weg gebracht hat, nicht beteiligt, stattdessen eigene
Modellversuche durchgeführt. Dass viele Modellversuche der BLK nicht erfolgreich waren, soll doch aber
nicht heißen, dass wir deswegen die gesamte Struktur
zerschlagen müssen. Natürlich muss sich die BLK ständig weiterentwickeln. Wir sind die Letzten, die dagegen
sind, dass diese Institution effizienter arbeitet. Natürlich
benötigt sie Reformen; da sind wir mit Ihnen einer Meinung. Trotzdem hieße das, was Sie jetzt propagieren, bewährte Strukturen zu zerschlagen, ohne etwas Neues zu
haben, was wir den Menschen draußen im Lande anbieten können.
({6})
Damit schaffen Sie Verunsicherung und blockieren dringend erforderliche Verbesserungen für unsere Schulen
und Hochschulen; Herr Schlegel hat uns das letzte Woche sehr deutlich gemacht.
Wir kommen jetzt zum Beispiel bei der vorschulischen Bildung, für die das Herz übrigens aller Kollegen
schlägt, nicht weiter. Die BLK sitzt fest, weil durch diese
unselige Diskussion wichtige Entscheidungen blockiert
worden sind.
({7})
Was wollen Sie stattdessen? Bereits im Ausschuss
habe ich angesichts Ihres Vorschlages irritiert geschaut.
Sie wollen doch wohl nicht wirklich vorschlagen, dass
wir die Bund-Länder-Kommission durch die Kultusministerkonferenz - diese Landschildkröte der Bildungslandschaft - ersetzen?
({8})
An dieser Stelle will ich genauso klar sagen, dass für
mich zur Bund-Länder-Kommission auch die andere
Seite der Medaille gehört: Wer gemeinsame Bildungspolitik für Deutschland will, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, der kann sich
bei der gemeinsamen Forschungsförderung nicht wegducken.
({9})
Ich bin froh, Herr Dr. Rossmann, dass Sie eben so deutlich gemacht haben, dass Sie offensichtlich bereit sind,
als Fraktionen dafür zu kämpfen;
({10})
denn das, was Frau Ministerin Zypries in einer Zeitung
angekündigt hat - da teile ich absolut die Meinung von
Frau Reiche -, können wir uns auf diesem hoch sensiblen Gebiet nicht leisten. Die Forschungsinstitutionen
sind geradezu eruptionsartig verunsichert gewesen. Wir
brauchen keine Schnellschüsse, sondern wir brauchen
eine inhaltlich und fachlich wohl vorbereitete Diskussion zu diesem Thema, dem schwierigsten Thema, das
wir überhaupt in den nächsten Monaten vor uns haben.
Wer Wissenschaft optimieren und Verantwortung
transparenter machen will, der geht eben nicht über die
Medien an das Thema heran. Ich kann uns allen raten,
bei dieser Diskussion etwas zurückhaltender zu sein. Wir
haben in den letzten Jahren so viel auf den Weg gebracht
- wir mit Bio-Regio, Sie mit Inno-Regio. All dies ist in
Gefahr, wenn wir jetzt, die Forschungsförderung so
gröblich misshandeln, wie das offensichtlich im Augenblick geplant ist.
({11})
Deswegen habe ich zum Abschluss noch eine Bitte an
Sie. Diese Diskussion ist die schwierigste, die wir in den
nächsten Jahren vor uns haben. Sie ist auch die schwierigste, die ich als Parlamentarierin erlebt habe; denn sie
geht über den Zuständigkeitsbereich unseres Ausschusses weit hinaus, sie betrifft ebenso viele andere Ausschüsse. Wir müssen also kooperieren und müssen in
diesem Fall zusammenhalten. Ich freue mich, dass es das
Angebot der Regierungsfraktionen gibt. Ich würde mich
sehr freuen, Frau Reiche, wenn auch die CDU/CSU mit
uns an einem Strang ziehen würde. Ich glaube, das wäre
gut für dieses Land.
({12})
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Christoph Matschie.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, den
föderalen Staatsaufbau im Sinne einer neuen Verantwortungsteilung zwischen Bund und Ländern grundlegend
zu überprüfen.
({0})
Dieser Prozess der Überprüfung hat in den Ländern und
auch beim Bund stattgefunden. Ich denke, es versteht
sich von selbst, dass bei dieser Überprüfung auch unterschiedliche Vorstellungen zutage getreten sind. Die Länder erwarten ein Mehr an Kompetenzen und Finanzmitteln. Der Bund tritt für eine Stärkung seiner eigenen
Möglichkeiten ein. Dass aber die Union ausgerechnet im
Feld der Bildungsplanung versucht, einen neuen Weg zu
gehen und einen Alleingang zu machen, war nicht unbedingt zu erwarten.
({1})
Ich glaube, man muss in dieser Debatte noch einmal
darauf hinweisen: Der Föderalismus ist ein zweckmäßiges System, aber im jetzigen System knirscht es auch; es
gibt Reibungsverluste. Deshalb müssen wir die Aufgabenverteilung neu diskutieren. Das erklärte Ziel der
Bundesregierung ist dabei, national, aber auch international, etwa auf der Ebene der Europäischen Union, wieder mehr politische Handlungsfähigkeit zu gewinnen.
Das setzt klare Verantwortlichkeiten, aber auch transparente und effiziente Verfahren voraus. Diese Reformen
sollen Schwachstellen beseitigen, aber - das sage ich
hier klipp und klar - sie sollen nicht bewährte und notwendige Mittel und Instrumente der Zusammenarbeit
zwischen Bund und Ländern zur Disposition stellen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach
[FDP]
Deshalb glaube ich, ein Ausstieg aus der gemeinsamen
Bildungsplanung wäre keine Verbesserung. Vielmehr
würde er Bund und Länder eines wichtigen Instruments
berauben, das wir in Anbetracht der Reformbedürftigkeit
unseres Bildungssystems heute vielleicht noch dringender brauchen als in der Vergangenheit.
({2})
Deshalb kann die Bundesregierung den Wunsch, aus der
gemeinsamen Bildungsplanung auszusteigen, nur mit
Bedauern und Unverständnis zur Kenntnis nehmen. Wir
fordern in diesen Verhandlungen im Gegenteil, dass
diese gemeinsame Bildungsplanung zu einem verpflichtenden Verfassungsauftrag ausgestaltet wird.
Warum tun wir das? Auf die Erfolge der gemeinsamen Bildungsplanung ist hier schon hingewiesen worden. Lassen Sie es mich noch einmal sagen, Frau Kollegin Reiche, wenn Sie meinen, diese Aufgabe könnten
auch die Länder allein erfüllen: Ein erfolgreiches Bildungssystem ist immer mehr als die Summe seiner Teile.
Wir haben nicht nur die einzelnen Teile in den Bundesländern, sondern wir haben auch den Prozess des lebenslangen Lernens zu betrachten, der im Kindergarten beginnt und über Schule, Berufsbildung und Universität
bis in die Erwachsenenbildung reicht. Um einen solchen
Prozess erfolgreich gestalten zu können, müssen diese
Bereiche miteinander verknüpft werden. Dabei brauchen
wir die gemeinsame Bildungsplanung von Bund und
Ländern.
({3})
Die Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt aber auch,
dass die Vernetzung mit anderen Politikbereichen,
insbesondere mit den Bereichen Familie, Arbeit, Wirtschaft und Finanzen, nur über eine gemeinsame Bildungsplanung möglich ist. Auch deshalb brauchen wir
sie weiterhin.
Ich erinnere an die in diesem Hause geführte Diskussion über die zunehmende Mobilität, die den Menschen
in diesem Land abverlangt werden muss. Auch sie macht
ein stärker koordiniertes, bundeseinheitliches Vorgehen
im Bildungssystem, harmonisierte Regelungen und vergleichbare Standards in ganz Deutschland erforderlich.
Wir können mit Fug und Recht sagen: Die gemeinsame Bildungsplanung hat einer weiteren Zersplitterung
des Bildungssystems entgegengewirkt. Auch dafür brauchen wir sie in der Zukunft.
({4})
Einzelne Programme - ich weise auf das Hochschulsonderprogramm und das internationale Marketing für
den Bildungsstandort Deutschland hin - sind nur dank
einer gemeinsamen Anstrengung von Bund und Ländern
möglich gewesen. Würde die gemeinsame Bildungsplanung aufgegeben, könnten diese Programme leider nicht
fortgesetzt werden.
Deshalb bitte ich die Kolleginnen und Kollegen von
der Union: Überdenken Sie Ihre Position zur gemeinsamen Bildungsplanung noch einmal! Die Bundesregierung wird sich für die Beibehaltung dieses Instruments
einsetzen, weil sie es für notwendig hält. Unterstützen
auch Sie - andere Kolleginnen und Kollegen in diesem
Haus haben das schon deutlich gemacht - die gemeinsame Bildungsplanung. Überdenken Sie Ihre Position
noch einmal und stimmen Sie für den vorgelegten Antrag.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Rachel von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
führen eine intensive Debatte über die Reform des Föderalismus in Deutschland und über die Neuregelung der
Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Ländern.
Mit dem heutigen Antrag versuchen SPD, Grüne und
FDP letztlich bereits Fakten zu schaffen, indem sie den
Erhalt der Bildungsplanung der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung festschreiben wollen. Alles soll so bleiben, wie es in den
letzten Jahrzehnten war. Die Dinge sind aber nicht mehr
so, wie sie waren. Für ein fruchtbares Zusammenwirken
von Bund und Ländern in einem Gremium wie der BLK
ist es erforderlich, dass alle Beteiligten von der Sinnhaftigkeit ihres Tuns sowie von der Notwendigkeit und Effizienz der Institution überzeugt sind. Genau dies ist aber
nicht mehr der Fall.
Die Bundesländer haben in der KMK die notwendigen Konsequenzen nach PISA selbst gezogen. Ich nenne
die nationalen Bildungsstandards und die einheitlichen
Abschlussprüfungen in den verschiedenen Schulformen. Die Ministerpräsidenten der SPD-geführten und
der unionsgeführten Länder haben am 27. März entschieden, die Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung
abzuschaffen und sie zur reinen Ländersache zu machen.
Damit hat sich die Ausgangslage in Deutschland verändert.
({0})
Wir Christdemokraten haben Verständnis dafür, dass
sich die Länder aus der Bildungsplanung im Schulbereich zurückziehen wollen; denn die Schulpolitik gehört nun wirklich in den ausschließlichen Kompetenzbereich der Bundesländer. Die ständigen Versuche von
Bildungsministerin Bulmahn, in die Schulpolitik der
Bundesländer, für die sie überhaupt keine Kompetenz
hat, hineinzuregieren, sind überflüssig und schädlich.
Für dieses Verhalten hat Frau Bulmahn von den Bundesländern die Quittung erhalten.
({1})
Angesichts der Meinungsbildung aller Bundesländer
mutet das Föderalismuskonzept von Gerhard Schröder
geradezu kurios an. Wenn die Bundesregierung fordert,
die gemeinsame Bildungsplanung zu einem verpflichtenden Verfassungsauftrag umzugestalten, so zeigt dies,
dass Schröder lange nicht mehr mit den Ministerpräsidenten der sozialdemokratisch geführten Länder gesprochen hat.
({2})
Der heute vorliegende Antrag zur Bildungsplanung
der BLK ist letztlich ein Trick; denn er versucht ausschließlich, den Sektor der Bildungsplanung zu thematisieren und alle anderen Fragen des Zusammenwirkens
bei Bildung und Forschung - auch das ist Gegenstand
der Föderalismusdebatte - auszuklammern. Aber das
werden wir nicht durchgehen lassen. So ist es bezeichnend und geradezu entblößend, dass der Antrag von SPD
und Grünen zwar die Fortsetzung der Bildungsplanung,
nicht aber die Fortsetzung der Forschungsförderung in
der BLK gefordert hat.
({3})
In Wirklichkeit will diese Bundesregierung nämlich aus
der gemeinsamen Forschungsförderung der Bund-Länder-Kommission aussteigen und das zweite Standbein
der BLK absägen. So viel zur Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit dieses Antrages.
({4})
Kein Wort verlieren SPD und Grüne in ihrem Antrag
zu dem Willen der Bundesregierung, die Rahmengesetzgebung nach Art. 75 des Grundgesetzes aufzuheben.
Auch die Ministerpräsidenten der Bundesländer haben
dies gefordert. Wo bleibt der Mut der sozialdemokratischen und grünen Bundestagsabgeordneten, sich zu diesem Thema zu bekennen?
({5})
Ich habe dazu in dieser Debatte nichts gehört. Wir
Christdemokraten können uns zum Beispiel nicht für die
vollständige Abschaffung des Hochschulrahmengesetzes
aussprechen.
({6})
Natürlich muss das HRG entschlackt und entbürokratisiert werden. Auch dies hat Ministerin Bulmahn bisher
nicht geschafft; das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Die
Grundsätze des Hochschulwesens sollten auch in Zukunft durch das HRG bundeseinheitlich geregelt werden.
({7})
Weiterhin fordert die Bundesregierung, dass die jetzige Gemeinschaftsaufgabe Ausbau und Neubau von
Hochschulen den Ländern übertragen wird. Auch die
Ministerpräsidenten wollen dies. Was meint eigentlich
die SPD-Bundestagsfraktion dazu?
({8})
Auch dazu hören wir nichts. Wir meinen, dieser Punkt
sollte noch einmal gründlich bedacht werden.
({9})
Wer garantiert eigentlich, dass der Bund den Ländern
auf Dauer den hohen Millionenbeitrag für den Hochschulbau zur Verfügung stellt?
({10})
In der Vergangenheit war es von Vorteil, dass der Ausbau der Hochschulen auch zwischen den Bundesländern
abgestimmt wurde,
({11})
damit Dubletten im inhaltlichen Profil vermieden wurden und nicht nur nach regionalpolitischen Gesichtspunkten entschieden wurde.
({12})
Geschickt versuchen SPD und Grüne mit ihrem Antrag, die öffentliche Aufmerksamkeit nur auf den Aspekt
der Bildungsplanung zu lenken.
({13})
In Wirklichkeit befasst sich die BLK in gleichem Maße
mit der gemeinsamen Forschungsförderung von Bund
und Ländern. Dies wird bei Ihnen nicht angesprochen,
obwohl die Bundesregierung gerade die Entflechtung
der Forschungsförderung nach Art. 91 b des Grundgesetzes fordert. Sie will nämlich die Forschungsorganisationen Helmholtz-Gemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft, Fraunhofer-Gesellschaft und Deutsche
Forschungsgemeinschaft in die alleinige Zuständigkeit
des Bundes und die Institute der so genannten blauen
Liste in die alleinige Zuständigkeit der Länder überführen. So lautet das vergiftete Angebot der Bundesregierung. Wenn aber nur der Bund oder nur die Länder für
die Forschungsorganisation zuständig sind, gibt es auch
keinen Gegenstand für eine gemeinsame Forschungsförderung von Bund und Ländern mehr. Das, was Ihre Bundesregierung vorhat, bedeutet das Aus für die BLK in
der Forschungsförderung.
({14})
Das ist die Wahrheit, die Sie hier heute unter den Teppich kehren wollen.
({15})
Wir Christdemokraten halten Ihre Politik der Zerschlagung der gemeinsamen Forschungsförderung von
Bund und Ländern wissenschaftspolitisch für verfehlt,
finanziell für die betroffenen Forschungsorganisationen
für gefährlich und von der Sache her für kurzsichtig.
Noch nicht einmal die Betroffenen wurden gefragt,
Herr Staatssekretär. Die Betroffenen haben aber sehr
wohl eine Meinung dazu. Für die Leibniz-Gemeinschaft
hat sich die gemeinsame Forschungsförderung von Bund
und Ländern bewährt und ist sinnvoll. Hans-Olaf Henkel
spricht von Ihren Plänen als unlogisch, die Entflechtung
führe zu einer Kleinstaaterei in der Forschung.
Tatsächlich ist der Ansatz der Bundesregierung verfehlt. Eine Neustrukturierung der Forschungslandschaft
kann man diskutieren, aber sie darf nicht allein von finanziellen und administrativen Überlegungen abhängig
gemacht werden. Sie muss vielmehr von inhaltlichen
Gesichtspunkten ausgehen. Das ist aber bei Ihnen nicht
der Fall. Die Forschungsinstitutionen dürfen nicht zu einem Verschiebebahnhof für Finanzströme zwischen
Bund und Ländern werden.
({16})
Die gemeinsame Forschungsförderung von Bund und
Ländern hat einen guten Grund. Sie verhindert bei wissenschaftlichen Aufgaben von überregionaler Bedeutung
eine Zersplitterung der Ressourcen. Statt 16 Forschungspolitiken der Länder und einer des Bundes gibt es eben
nur eine gebündelte Forschungspolitik in Deutschland.
Auch nach Ansicht der Deutschen Forschungsgemeinschaft - DFG - hat sich diese gemeinsame Forschungsförderung bestens bewährt.
Als schon bösartig muss man die Absicht der Bundesregierung bezeichnen, gerade die Leibniz-Gemeinschaft künftig nicht mehr mitzufinanzieren, sondern dies
ausschließlich den ostdeutschen Ländern zu überlassen,
die dazu nicht in der Lage sind. Damit wird gerade die
für den Osten Deutschlands so wichtige Forschungslandschaft beschädigt. Dies werden wir Christdemokraten
auf keinen Fall mitmachen. Die Herausnahme der
Leibniz-Gemeinschaft ist bösartige Willkür.
({17})
Wäre nur noch der Bund für die meisten Forschungsorganisationen zuständig, stiegen die Risiken des einseitigen Handelns der Bundesregierung. Damit haben die
Forschungsorganisationen in diesem Jahr schon
schlechte Erfahrungen gemacht. Die von dieser Bundesregierung und den 16 Bundesländern bereits zugesagten
Budgetzuwächse hat die Bundesregierung einseitig gekündigt und fallen gelassen. Eine solche Willkür hat es
vorher noch nie gegeben.
Die korrigierende und abfedernde Wirkung der Zusammenarbeit mit den Bundesländern hat immerhin
noch der DFG geholfen. Wäre nur der Bund zuständig,
würde jede Haushaltsentscheidung des Bundes voll und
unbarmherzig auf alle Forschungseinrichtungen durchschlagen. Angesichts der Verlässlichkeit dieser rot-grünen Bundesregierung und ihrer Wortbrüche ist dies eher
eine abschreckende Perspektive.
({18})
Die Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung in
der Bund-Länder-Kommission hat auf jeden Fall zu einer sachorientierten Beratung der Forschungsschwerpunkte geführt und auch eine gewisse Politikferne garantiert. Wenn diese Bundesregierung alleine für die
außeruniversitäre Forschung zuständig ist, wird die Wissenschaft zum Spielball der Bundesregierung. Das wollen wir nicht.
({19})
Es ist nicht erkennbar, wo das Problem liegt, für das
Sie durch die Entflechtung der Forschungsförderung die
Lösung suchen. Im Gegenteil: Die Bundesregierung zerschlägt wissenschaftlich wertvolles Porzellan. Für uns
Christdemokraten hat die Forschungsfreiheit einen hohen Rang.
({20})
Deshalb unterstützen wir das Leitbild einer von der Wissenschaft selbst verwalteten und inhaltlich selbst gesteuerten Forschungsförderung. Dazu hat die Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung von Bund und
Ländern mit der BLK den notwendigen und sachgemäßen Rahmen geboten. Sie hat sich bewährt und sollte
deshalb erhalten bleiben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({21})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Berg von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Rachel, ich war
etwas überrascht. Ich glaube, Sie haben unseren Antrag
nicht gelesen. Es ging hier um Bildungsplanung und
nicht um Forschungsförderung.
({0})
Wir sind gerne bereit, uns auch über die Forschungsförderung noch einmal in aller Ausführlichkeit zu unterhalten. Sie werden dann vielleicht überrascht sein, welche
Position wir dabei einnehmen.
({1})
Heute möchte ich aber auf den von uns gestellten Antrag und auf das Thema Bildungsplanung eingehen. Ich
komme jetzt also zum eigentlichen Thema. Schaffen
Sie die Kulturhoheit der Länder ab! Wir brauchen einheitliche Strukturen innerhalb Deutschlands. Diese Forderung stellten die Wirtschaftsjunioren aus meinem
Wahlkreis auf einer Neujahrsveranstaltung im Januar
dieses Jahres. So äußert sich auch Dominique Döttling,
Bundesvorsitzende der Wirtschaftsjunioren Deutschland.
Wie wir gerade gehört haben, äußern sich die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion ganz anders. Diese wollen den Ansatz einer gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und Ländern vollständig
aufgeben. Ganz abgesehen davon, dass Sie sich als Bundesbildungspolitiker damit quasi selbst die Kompetenz
absprechen, bahnen Sie so einer Politik den Weg, die in
die Sackgasse führt.
({2})
In einer Welt, die immer globaler wird und die jedem
und jeder Einzelnen abverlangt, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, können wir uns eine bildungspolitische Kleinstaaterei einfach nicht leisten.
({3})
Wir brauchen den breiten Horizont und den Überblick,
um die bildungspolitischen Herausforderungen der
nächsten Jahrzehnte für die gesamte Bundesrepublik zu
meistern und den Bildungsstandort Deutschland im globalen Wettbewerb wieder an die Spitze zu führen.
Allerdings führt auch die Forderung der Wirtschaftsjunioren nach einer vollständigen Abschaffung der Kulturhoheit der Länder in die Irre.
({4})
Unsere Fraktion, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, steht ausdrücklich zu dem Modell des kooperativen Föderalismus.
({5})
Ich möchte hinzufügen: Ein wenig Wettbewerb unter
den Ländern kann nicht schaden. Die langfristige Zusammenarbeit der Länder mit dem Bund ist dabei möglich und von uns gewollt, denn viele Herausforderungen
können nicht in Ad-hoc-Arbeitsgruppen, wie sie
Katherina Reiche einmal gefordert hat, bewältigt werden.
({6})
Schauen wir uns die Herausforderungen an, denen
sich Deutschland in Zukunft stellen muss. Die tief greifenden soziokulturellen und ökonomischen Umwälzungen unserer Gesellschaft, die Internationalisierung von
Wirtschaft und Arbeitsmärkten fordern von einem rohstoffarmen Land wie der Bundesrepublik vor allem eines: Investitionen in Köpfe, Bildung und Wissen. Das
nutzt dem einzelnen Menschen, aber auch der Gesellschaft insgesamt. Nur so können wir international bestehen und unseren Wohlstand für uns und unsere Kinder
erhalten.
Die Ergebnisse der oft zitierten PISA-Studie haben
gezeigt, dass die Bundesrepublik insgesamt noch deutlich nachlegen muss.
({7})
Leider nutzen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU-Fraktion, die PISA-Studie nur als argumentativen Steinbruch, um in selbstgefälliger Rechthaberei die Bildungspolitik der SPD-regierten Länder
und der Bundesregierung zu kritisieren. Wenn es aber
um Konsequenzen und Lösungen geht, dann kneifen Sie,
Herr Rachel. Das wird unter anderem an Ihrer Verweigerungs- und Verzögerungstaktik bei der Einführung von
nationalen Bildungsstandards deutlich, die Niveau
und Gleichwertigkeit im Bildungsbereich sichern helfen.
Das ist eine verantwortungslose Politik auf Kosten von
Eltern und Kindern.
({8})
In einer Zeit, in der an Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und deren Familien immer größere Anforderungen an Mobilität gestellt werden - Christoph
Matschie hat das eben schon unterstrichen -, ist es nur
folgerichtig und unumgänglich, dass deren Kinder in
ganz Deutschland vergleichbare Bedingungen im Bildungswesen vorfinden.
({9})
Ich selber bin im Übrigen ein gebranntes Kind. Meinen
eigenen Kindern wurde bei einigen Umzügen von einem
in ein anderes Bundesland durchaus einiges zugemutet.
Ich möchte Ihr Augenmerk aber noch speziell auf den
Hochschulbereich lenken. Alle Anstrengungen, die in
der Vergangenheit gemeinsam von Bund und Ländern
unternommen wurden, hatten das Ziel, die Hochschullandschaft in der gesamten Bundesrepublik weiterzuentwickeln und dafür zu sorgen, dass es in bestimmten Regionen nicht zu weißen Flecken kam. Das war besonders
für die neuen Länder wichtig, für die wir enorme Kraftanstrengungen unternommen haben.
({10})
Frau Reiche, ich wundere mich, warum Sie dazu
nichts gesagt haben. Gerade im Hochschulbereich ist
Europäisierung und Internationalisierung unübersehbar
und unverzichtbar. Mit dem Bologna-Prozess werden
zum Beispiel an den Hochschulen europaweit vergleichbare Studiengänge und Abschlüsse geschaffen. Unsere
Hochschulen werden im Wettbewerb mit den übrigen
europäischen Universitäten aber nur dann bestehen können, wenn aus einer gesamtstaatlichen Perspektive ihre
Schwächen und Stärken beurteilt und sodann die Schwächen behoben und die Stärken ausgebaut werden. Wenn
aber Absprachen und Vereinbarungen zwischen den
Ländern Europas und darüber hinaus übereinstimmend
als richtig und wichtig bewertet werden: Warum dann,
bitte schön, nicht auch im nationalen Bereich?
({11})
Ich nenne jetzt einige Beispiele, die diese These untermauern. Gemeinsame Bildungsplanung ist dort besonders sinnvoll, wo es um die Finanzierung von hochschulpolitischen Vorhaben geht, die die Kräfte eines
einzelnen Bundeslandes überfordern, oder wo es um die
Notwendigkeit geht, kostspielige Parallelprojekte in
mehreren Bundesländern zu vermeiden, oder wenn es
darum geht, die Herausforderung zu meistern, die Zahl
der Hochschulabsolventen in der Bundesrepublik zu
steigern, weil wir diese in Zukunft auf dem deutschen
Arbeitsmarkt dringend benötigen. Der Präsident der
Hochschulrektorenkonferenz Klaus Landfried nennt daher zu Recht ihre Verabschiedung aus der gesamtstaatlichen Bildungsplanung Kraftmeierei auf Kosten des
Wissenschaftsstandorts Deutschland.
({12})
Abschließend kann ich daher nur sagen: Ich hoffe,
dass Sie meine Argumente und die eben vorgetragenen
Argumente meiner Fraktion, der FDP und von den Grünen und die anderer renommierter Vertreter aus dem
Wissenschafts-, Wirtschafts- und Bildungsbereich überzeugt haben und Sie wie in der Frage der Ganztagsschulen letztlich doch noch einlenken. Das wäre ein kleiner
Schritt für Sie, aber ein großer Schritt für unser Land.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/935 an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sperrzeiten für Außengastronomie verbraucherfreundlicher gestalten
- Drucksache 15/674 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten Redezeit erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Ernst Burgbacher von der FDP das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zum Glück liegen jetzt einige sonnige Tage hinter uns; ich hoffe, viele solcher Tage liegen noch vor uns.
Da wird dieses Thema natürlich wieder aktueller. Es ist
auch gut, wenn man den aktuellen Bezug zum Thema
wirklich selbst empfindet. Es zieht die Menschen ins
Freie - das wissen wir -, aber in vielen Ländern heißt es
nach wie vor: Um 22 Uhr ist Schluss mit lustig. Das
kann nicht sein. Deshalb haben wir heute einen Antrag
zur Änderung dieser Regelung vorgelegt.
({0})
Wir halten immer noch daran fest, dass Freiluftgaststätten in der Regel um 22 Uhr schließen müssen. Das
Konsumentenverhalten hat sich aber in den vergangenen
Jahren längst verändert, indem Besuche in Gaststätten in
die späteren Abendstunden verlegt wurden. Wir haben
längere Ladenöffnungszeiten. Obwohl wir seit langem
die Sommerzeit haben, hat sich an diesen Regelungen jedoch nichts geändert. Das kann doch nicht sein.
Die Erfahrungen aus südeuropäischen Ländern besagen, dass die Menschen dies genießen. Wenn sie zu uns
kommen, ist es auf einmal wieder vorbei.
({1})
Meine Damen und Herren, wir sind über Fraktionsgrenzen hinweg dabei, den Tourismusstandort
Deutschland attraktiver zu machen. Dazu gehört es
eben auch, eine ausgeprägte Biergarten- und Außengastronomiekultur zu haben.
({2})
Ich sage Ihnen ganz ernsthaft: Die Lage in der Gastronomie - diejenigen, die sich damit beschäftigen, wissen es ist im Augenblick katastrophal. Die Gastronomen sind im
Augenblick froh über jeden Strohhalm, den wir bieten.
Es ist durchaus ein Thema für die Gastronomie, ob die
Gäste bei diesem Wetter um 22 Uhr hineingehen müssen
oder ob es noch ein, zwei Stunden gibt, in denen man
Umsatz machen kann.
({3})
- Wenn Sie hier lächeln, dann verkennen Sie wirklich
die Lage; sie ist ernst. Wir als Politiker haben alles dafür
zu tun, dass sich diese Lage ändert und bessere Voraussetzungen geschaffen werden.
({4})
Deshalb haben wir diesen Antrag vorgelegt.
({5})
Weil ich mir denken kann, welche Kritik nachher geäußert werden wird, will ich gleich einiges zum Vorgehen sagen. Es ist richtig, dass die Länder dies regeln. Allerdings haben die Erfahrungen gezeigt, dass die Länder
mit ihren Regelungen ganz schnell an Grenzen stoßen,
weil dann immissionsschutzrechtliche Vorschriften ins
Feld geführt werden und es Gerichtsverfahren gibt. Deshalb müssen wir als Bund die entsprechenden Voraussetzungen schaffen, bevor die Länder wirklich tätig werden
können. Nichts anderes bezwecken wir mit unserem
Antrag. Wir wollen - dazu fordern wir auf - einen unbürokratischen, verbraucherfreundlichen und praxistauglichen Vorschlag zur Änderung des Bundesimmissionsschutzrechtes vorlegen. Wir haben das auch auf anderen
Gebieten getan - in der TA Sportstätten wurde etwas
Identisches geregelt - und wollen jetzt nur, dass parallel
dazu für die Außengastronomie etwas Entsprechendes
festgelegt wird.
({6})
Damit erhielten wir Lärmschutzwerte, die an die Realität
angepasst sind, denn menschliches Lachen ist eben etwas anderes als Sägen, Hämmern oder Bohren. In dieser
Hinsicht sollten Sie sich wirklich ein Stück weit öffnen.
({7})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde es schon
toll: Sie lachen über Probleme, obwohl Sie ganz genau
wissen, wie viele Betroffene nur darauf warten, dass dieses Parlament dies endlich seriös behandelt und auch die
notwendigen Änderungen beschließt.
({8})
Sie sollten auch einmal die Sorgen der Leute draußen
ernst nehmen und nicht nur theoretisch darüber reden,
was wir für den Tourismusstandort tun sollten. Es sind
keine schönen Reden, sondern konkretes Handeln gefragt. Heute haben Sie hier dazu die Möglichkeit.
({9})
Meine Damen und Herren, natürlich gibt es bei diesem Thema auch noch eine zweite Komponente, den
Schutz betroffener Anwohner. Weil dieses Argument
sicherlich gleich kommen wird, sage ich dazu noch etwas. Dies ist eine Frage der Toleranz. Es gibt viele gute
Beispiele dafür, wie es mit gegenseitiger Toleranz, nicht
aber mit scharfen gesetzlichen Vorschriften funktioniert.
Gastronomen reden mit ihren Gästen; so etwas wird eher
akzeptiert, als wenn man von vornherein eine Regelung
darüber stülpt. Man muss vernünftig damit umgehen und
herausfinden, was möglich und was nicht möglich ist.
Uns geht es hier überhaupt nicht darum, mehr Bürokratie zu schaffen. Im Gegenteil, wir wollen die bundespolitischen Voraussetzungen dafür schaffen, dass Länder
und Gemeinden diese Frage so regeln können, wie sie es
für richtig halten, aber eben auch im Sinne der Bedürfnisse der Gäste und vieler geplagter Gastronomen. Sie,
meine Damen und Herren, können heute beweisen, ob
Sie das ernst nehmen oder wieder mit oberflächlichen
Argumenten darüber hinweggehen.
Ich bitte Sie, dem Antrag zuzustimmen, auch wenn er
von der Opposition kommt. Viele Menschen werden Ihnen dankbar sein.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Ditmar Staffelt.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Gastronomie und natürlich auch die Außengastronomie sind ein Teil des modernen Lebens in unserem Lande, insbesondere des urbanen Lebens. Straßencafés und Biergärten prägen und beleben das
Erscheinungsbild der Innenstädte. Das alles bleibt völlig
unbenommen. Gerade jetzt zu Beginn des Sommers
steht außer Frage, dass sich Biergärten außerordentlicher
Beliebtheit erfreuen. Ich vermute, dass viele Menschen
auch das südliche Flair nachempfinden, das sie im Urlaub nicht nur am Tage, sondern auch am Abend und in
der Nacht genießen. Das ist schön und harmonisch und
wir lieben es alle.
Aber es führt auch kein Weg daran vorbei, dass dies
mit Geräuschen verbunden ist. Des einen Freud ist am
Ende des anderen Leid. Ich kann dies gut beurteilen,
weil in einer so dicht besiedelten Stadt wie meiner Heimatstadt Berlin viele Konflikte dieser Art leider auch vor
ordentlichen Gerichten ausgetragen wurden. Der Schlaf
suchende, entnervte Anwohner - so drücke ich es einmal
aus -, der nicht die gewünschte Ruhe findet, wenn draußen bis in die Nachtstunden hinein vielstimmig geschwätzt und gelacht wird, darf in der Gesamtbetrachtung natürlich auch nicht außer Acht gelassen werden.
Die Bundesregierung hat also diese gegenläufigen Interessen zu beachten: auf der einen Seite die Gastwirte
und Besucher solcher Außengaststätten und auf der anderen Seite die benachbarten Anwohner. Für den Gesetz- und Verordnungsgeber gilt es, stets einen möglichst
sachgerechten und fairen Interessenausgleich zu finden.
({0})
Diejenigen, die dafür zuständig sind, bemühen sich, eine
faire Kompromisslinie zu ziehen. Ihr Antrag tut dies allerdings nicht.
({1})
Bereits vor einem knappen Jahr haben wir dieses
Thema im Lichte einer großartigen Biergartenfete gleich
gegenüber in der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft miteinander debattiert. Ich sehe keine neuen Argumente, die eine erneute Befassung rechtfertigen könnten.
({2})
Der FDP-Antrag spricht sich im Ergebnis wieder für
eine flächendeckende Festlegung der Sperrzeit für die
Außengastronomie auf 24 Uhr aus.
({3})
Das würde in der Praxis Folgendes bedeuten: Angenommen, die Gastronomie schließt um Mitternacht. Dann beginnt der Aufbruch der Gäste und es wird halb eins oder
eins. Das bedeutet am Ende, dass in ganz erheblichem
Umfang die Nachtruhe, die ein hohes gesundheitliches
Gut ist, in Mitleidenschaft gezogen werden kann.
Wir wiederholen deshalb, dass wir im FDP-Antrag
keinen vernünftigen und sachgerechten fairen Kompromis sehen, weil er die Anwohnerinteressen vernachlässigt.
Die geltende Sperrzeitenregelung - ich will es noch
einmal sagen - ist Länderrecht.
({4})
Die Länderbestimmungen sehen eine Delegation an
die Kommunen vor. Die Kommunen sind dadurch in der
Lage, unter Berücksichtigung der jeweiligen lokalen
Verhältnisse sachgerechte Lösungen zu treffen. Der
FDP-Antrag hingegen fordert den Bundesgesetzgeber zu
einer bundeseinheitlichen Regelung
({5})
durch imissionsschutzrechtliche Änderungen auf.
Geht es bei der Sperrzeitenregelung wirklich darum,
gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder
die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse zu schaffen? Das wäre eigentlich die Voraussetzung dafür, wenn wir die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung durch den
Bund geltend machen wollten. Ich habe da meine Zweifel. Der Bereich der Sperrzeiten zeichnet sich gerade
durch eine besondere Abhängigkeit von regionalen Gegebenheiten aus.
({6})
In Berlin wird sicherlich manches anders entschieden als
in einem Flächenstaat.
({7})
Ich glaube, dass der FDP-Antrag auch vor dem Hintergrund der Verfassungslage jedenfalls mit Vorsicht zu
genießen ist. In den Ländern ist bereits seit einiger Zeit
eine Liberalisierung der Sperrzeiten zu verzeichnen. In
Hamburg und Brandenburg wurde die Sperrzeit für die
Außengastronomie allgemein auf 23 Uhr festgelegt.
Hier setzt auch der Bundeswirtschaftsminister an. Wir
appellieren, wie übrigens schon Herr Müller in der Vergangenheit, an die Landesregierungen und die Kommunen: Machen Sie nach bestem Wissen und Gewissen und
immer orientiert am Einzelfall Regelungen möglich, die
genau die Spielräume schaffen, damit sich die Menschen
im Sinne eines fairen Interessenausgleichs in ihrer Freizeit vernünftig im Biergarten bewegen können, aber im
Zweifel auch die Gelegenheit haben, ruhig zu schlafen,
wenn 22 Uhr oder 23 Uhr erreicht sind. Ich finde, das
muss man im Sinne der Subsidiarität, für die Sie auch
plädieren, bei Ländern und Kommunen belassen und
nicht den Bund in einer Weise mit einer Regelung belasten, die unangemessen ist.
({8})
Wir reden von Entbürokratisierung und davon, dass
wir in vernünftiger Weise die Aufgaben in unserem
Lande auf Bund, Länder und Kommunen verteilen.
Wenn die Öffnungszeiten von Biergärten zur Bundesan3594
gelegenheit werden, dann weiß ich nicht, was wir uns
demnächst noch alles an die Lampe hängen und hier im
Bundestag debattieren.
({9})
Vielleicht werden wir dann eines Tages ein gutes Kommunalparlament sein, das sich mit diesen Fragen und
den entsprechenden Beschwerden der Bürgerinnen und
Bürger zu befassen hat.
Ich hoffe auf großzügige und liberale Regelungen in
den Kommunen und Ländern. Wir aber sollten uns mit
solchen Detailfragen hier nicht befassen.
Danke.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Hinsken von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
- Im Museum.
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zwei Reden haben zu diesem heutigen Thema bereits stattgefunden, eine pragmatische Rede des Kollegen Burgbacher, der sehr wohl sieht, welche Bedürfnisse
die Mitbürger haben, und vor allen Dingen eine abwehrende Rede von Herrn Dr. Staffelt, um zu verhindern,
dass sich etwas tut und sich die Situation der Außengastronomie, insbesondere des Hotel- und Gaststättengewerbes, verbessert.
({0})
Sommerzeit ist Biergartenzeit. Ich gehe davon aus,
dass viele - unabhängig davon, auf welcher Seite sie sitzen - gern einen Biergarten besuchen, um sich einen
schönen Abend zu machen.
({1})
Die Zeit der langen Tage und kurzen Nächte ist angebrochen. Vielerorts lebt die Biergartenkultur auf, und zwar
oft in einer sehr gepflegten Atmosphäre. Ich meine, bei
dieser Gelegenheit darauf verweisen zu müssen, dass
sich gut ein Drittel - das sind 80 000 bis 90 000 - der
240 000 bis 250 000 gastronomischen Betriebe in der
Bundesrepublik Deutschland auch der Außengastronomie verschrieben haben, sei es in Form eines Biergartens, sei es in Form eines Straßencafés oder eines Hoteloder Restaurantgartens. Manche stellen im Sommer
Stühle und Tische auf die Straße, um dadurch ihr Einkommen zu verbessern.
Ich halte das für richtig und gut, weil wir schließlich
immer wieder der Kreativität das Wort reden. Wenn
schon jemand seine Einkommensbasis verbreitern
möchte, dann sollte ihm diese Möglichkeit auch eingeräumt werden.
Wir leisten zurzeit eine gewisse Nacharbeit; denn die
Regierungskoalition hat bereits in der 14. Legislaturperiode
versäumt, die notwendigen Regelungen zu verabschieden, die weitblickende Kollegen wie der Abgeordnete
Burgbacher, den ich an dieser Stelle nochmals ausdrücklich erwähnen möchte, bereits auf den Weg bringen
wollten.
Interessant ist auch, wie derzeit die Werbung gestaltet
wird. Ich habe vor wenigen Tagen einen Werbeprospekt
in die Hände bekommen, in dem es so schön heißt:
Mensch, bleib hier!
({2})
Was ist in dieser Werbung zu sehen? Es sind Menschen
abgebildet, die so finster dreinschauen wie Sie
({3})
und die dicht gedrängt in einem Flugzeug sitzen. Demgegenüber wird mit schönen Gartenmöbeln geworben.
Ich glaube, das ist der richtige Ansatz, der auch vernünftig ist. Mit dem Werbeslogan Mensch, bleib hier!
wird sicherlich vielen Mitbürgern aus der Seele gesprochen.
Einer Umfrage zufolge hat ein Drittel der Bundesbürger vor, auf den Urlaub im Ausland zu verzichten. Die
Gründe dafür sind vielfältig: Sie haben Angst vor Terroranschlägen. Auch die Lungenkrankheit SARS wirkt abschreckend. Hinzu kommt die angespannte Wirtschaftslage, die dafür verantwortlich zeichnet, dass sich
mancher einen Urlaub in fernen Ländern nicht mehr erlauben kann. Auch die 4,5 Millionen Arbeitslosen, die
zu verzeichnen sind, sind kein Pappenstiel. Wer arbeitslos ist, hat andere Sorgen, als sich Gedanken über den
Urlaub zu machen. Der daraus resultierende Urlaub auf
Balkonien bringt weitere Folgeerscheinungen mit sich.
({4})
- Ja, Herr Ströbele. Wir sind eben eine Fraktion, die
auch etwas für den kleinen Mann übrig hat und bemüht
ist, vernünftige Rahmenbedingungen dafür zu schaffen,
dass er ein schönes Leben führen kann, auch wenn er
aufgrund der verfehlten Wirtschaftspolitik der jetzigen
Bundesregierung nicht das notwendige Geld in der Tasche hat, um im Urlaub ins Ausland zu fliegen.
({5})
In dieser Situation bekommt beispielsweise das abendliche Treffen mit Freunden in Biergärten oder Straßencafés einen noch höheren Stellenwert.
Wir müssen deshalb - dieser Aufgabe sollten wir alle
nachkommen - den Bürgern in ihrem Wohnumfeld so
viel Urlaubsstimmung wie möglich bieten. Dazu gehört
meiner Meinung nach auch ein Biergarten oder ein Straßencafé, das nicht um 22 Uhr fluchtartig geräumt werden muss, sondern in dem man die Möglichkeit hat, den
Abend nett ausklingen zu lassen. Denn - das hat der
Kollege Burgbacher bereits ausgeführt - die Lebensgewohnheiten der Bürger haben sich gewandelt.
({6})
Sei es wegen der Arbeitszeit, sei es wegen der Ladenöffnungszeiten, die Menschen starten im Allgemeinen immer später in die Abendfreizeit. Dieser Trend ist nicht
nur bei Jugendlichen festzustellen, sondern geht querbeet durch alle Altersschichten. Wer kann daher Verständnis dafür aufbringen, wenn die Biergärten bereits
um 20 Uhr geschlossen werden sollen? Hier wird doch
der gesellschaftspolitische Aspekt völlig außer Acht gelassen. Biergärten sind für mich Kommunikationsoasen.
({7})
Sie müssen gefördert werden, weil die Kommunikation
insgesamt gefördert werden muss. Wenn es im Ausland
- darauf beziehen Sie sich ja oft - flexible Regelungen
gibt, dann frage ich: Warum sind wir in der Bundesrepublik Deutschland dazu nicht in der Lage?
Herr Staatssekretär Dr. Staffelt, Sie haben doch hinausposaunt, dass Sie sich für eine Entbürokratisierung
einsetzen würden. Beginnen Sie doch damit! Reden Sie
nicht nur darüber, sondern setzen Sie endlich politische
Akzente! Schaffen Sie Gesetze, die den heutigen Herausforderungen gerecht werden!
({8})
Eines steht doch unbestritten fest: Durch längere Öffnungszeiten kann auch der Inlandstourismus gefördert
werden. Das ist dringend erforderlich; denn die Übernachtungszahlen - im vergangenen Jahr war ein Minus
von 3 Prozent zu verzeichnen - sind rückläufig. Die Umsätze im Gastgewerbe brechen weg. Verehrte Frau Kollegin Irber, das Jahr 2002 war seit mehreren Jahrzehnten
das schlechteste Jahr für das Gastgewerbe.
({9})
Die Umsätze sind allein im letzten Jahr um 4,7 Prozent
gesunken. In den ersten drei Monaten dieses Jahres
- verehrter Herr Kollege Schmidt, Sie sind ja einer der
führenden Leute der sozialdemokratischen Fraktion ({10})
gab es ein weiteres Minus von sage und schreibe
9,4 Prozent. Die gastronomischen Betriebe - das bekommen Sie zu hören, wenn Sie mit dem einen oder anderen
Unternehmer sprechen - stehen momentan mit dem Rücken zur Wand. Sie wissen nicht mehr, wie sie über die
Runden kommen sollen.
Wir haben jetzt die Möglichkeit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, nämlich auf der einen Seite den
Besuchern außengastronomischer Einrichtungen Freude
zu bereiten und auf der anderen Seite den Gastwirten
mehr Umsatz zu bescheren. Deshalb meinen wir, dass
dem behördlichen Zapfenstreich ein Ende gesetzt werden muss. Im derzeit gültigen Bundes-Immissionsschutzgesetz werden leider Kommunikationsgeräusche
und Arbeitslärm auf eine Stufe gestellt. Ich wiederhole
die Frage des Kollegen Burgbacher: Ist es denn richtig,
wenn Reden und Lachen mit Bohren, Hämmern und Sägen gleichgesetzt werden? Wir meinen, dass das geändert werden muss. Es kann doch nicht sein, dass bei
Rechtsstreitigkeiten über Kommunikationsgeräusche die
TA Lärm herangezogen wird, die zwar bei der Bewertung von Industrielärm ihren Zweck erfüllt, die aber für
die Bewertung von Kommunikationsgeräuschen gänzlich ungeeignet ist. Hier sind neue Richtwerte, aber auch
neue Messmethoden notwendig, um eine Regelung herbeizuführen, die sowohl dem Lärmschutz der Anwohner
als auch dem Erholungsbedürfnis der übrigen Bevölkerung Rechnung trägt. Bei gutem Willen ist das durchaus
möglich. Hier sind die verschiedenen Bereiche gefordert.
Natürlich nehme ich es jemandem ab, der in unmittelbarer Nähe einer außengastronomischen Einrichtung
wohnt, wenn er behauptet, dass ihm Negatives widerfährt. Aber wir können doch nicht wegdiskutieren, dass
es sich in Deutschland nicht an jedem Tag lohnt, einen
Biergarten zu öffnen, weil es nicht genügend Sonnenschein gibt. Wie viele Tage gibt es denn bei uns, die sich
allein aufgrund des Wetters für einen Biergartenbesuch
anbieten? Man kann maximal von 30 bis 40 Abenden
ausgehen, die für einen solchen Besuch infrage kommen.
Deshalb meine ich, dass es unser aller Aufgabe ist, nicht
nur, wie ich bereits vorhin erwähnt habe, über Entbürokratisierung zu reden, sondern ihr auch Leben einzuhauchen. Die derzeit gültige Regelung entspricht in keiner
Weise den heute üblichen Lebensgewohnheiten. Sie ist
ein Hemmschuh für das Gaststättengewerbe und kontraproduktiv für den gesamten Inlandstourismus. Kurz gesagt: Sie muss dringend geändert werden.
Deshalb sage ich den Kolleginnen und Kollegen von
der FDP-Fraktion, dass wir ihren Antrag gerne unterstützen, wohl wissend, was wir tun. Auch wir fordern eine
Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes dahin
gehend, dass eine Verlängerung der Öffnungszeiten auf
23 Uhr - ideal wäre 24 Uhr - erlaubt ist.
Geben Sie sich einen Ruck! Sie haben noch einige
Wochen die Möglichkeit, unsere Ratschläge zu befolgen.
Schaffen Sie die Voraussetzungen dafür, dass in Bezug
auf ein so kleines Gebiet endlich ein Zeichen gesetzt
wird, damit die Bürger sehen: Man ist handlungsfähig,
streitet sich nicht wegen der Verlängerung der Öffnungszeiten um eine Stunde und schlägt sich nicht gegenseitig
die Köpfe ein!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brunhilde Irber von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich die traurige Pflicht erfüllen, zu
Beginn meiner Rede den Angehörigen der deutschen
Touristen, die heute in Ungarn bei einem schweren Verkehrsunglück zu Tode gekommen sind, mein herzlichstes Beileid auszusprechen. Denjenigen, die verletzt sind,
möchte ich beste Genesung wünschen.
({0})
Im Grunde genommen ist es müßig, dass wir diese
Debatte führen. Man könnte sagen: Alles neu macht der
Mai. Diese alte Weisheit trifft auf den Antrag der FDP
- zu diesem Ergebnis kommt man auch nach genauerem
Studium der Vorlage - nicht zu; denn wie der Beginn der
Sommerzeit oder der Biergartenzeit bringt die FDP alle
Jahre wieder einen Antrag mit diesem Inhalt ein. Sperrzeiten in der Außengastronomie haben uns in der vergangenen Legislaturperiode schon mehrfach beschäftigt.
Ich hätte es mir heute ganz einfach machen können: Ich
hätte hier meine Rede vom 29. Juni 2001 vortragen können.
({1})
- Herr Kollege Hinsken, Sie haben den Beginn meiner
damaligen Rede übernommen. Das können Sie im Protokoll nachlesen.
({2})
- Herr Kollege Hinsken, ich werde im Folgenden darauf
noch zu sprechen kommen. Zuerst möchte ich mich aber
mit den Ausführungen des Herrn Kollegen Burgbacher
beschäftigen.
({3})
Herr Kollege Burgbacher - Sie haben offensichtlich
schon etwas dazugelernt -, Sie fordern die Bundesregierung jetzt nicht mehr auf, § 18 des Gaststättengesetzes
zu ändern; denn wie wir alle wissen, beginnt die allgemeine Sperrzeit bereits jetzt - je nach Bundesland unterschiedlich - zwischen 1 Uhr und 5 Uhr. Herr Kollege
Hinsken, Bayern ist das einzige Land, das auf diesem
Gebiet noch nicht mitgezogen hat. Das sollten Sie einmal Ihrem Ministerpräsidenten stecken.
({4})
Herr Burgbacher, in Ihrem jetzigen Antrag zielen Sie
ausschließlich auf die Definition der Nachtzeit im immissionsschutzrechtlichen Sinne ab. Diese Zeit soll gemäß Ihrem Antrag in den Sommermonaten erst um
23 Uhr oder idealerweise gar erst um 24 Uhr beginnen.
Ich stimme Ihnen, wie bereits vor zwei Jahren, zu:
Bei einem großen Teil insbesondere der jüngeren Leute
haben sich die Lebensgewohnheiten zum Teil verändert. Viele werden in den Sommermonaten regelrecht zu
Nachteulen. Das ist zwar schön, darf aber nicht zulasten
der Mitmenschen gehen. Wir haben Ihnen schon vor
zwei Jahren erwidert, dass wir in unserem - bereits am
13. Februar 2001 als Antrag eingebrachten - Tourismusförderprogramm die Deregulierung des Gaststättenrechts
anregen.
Der damalige Wirtschaftsminister Müller hat darauf
sehr schnell reagiert und in einem Schreiben seine Kollegen in den Ländern aufgefordert, die Möglichkeiten der
weiter gehenden Sperrzeiten zu nutzen. Alle Bundesländer bis auf Bayern haben meines Wissens die Kommunen betraut, in den kommunalen Satzungen entsprechende Regelungen festzulegen. Vor Ort weiß man am
besten, was für die einzelnen Bezirke gut ist. Aus diesem
Grunde sollte vor Ort entschieden werden, wo eine Verkürzung der Sperrzeiten für Außengastronomien sinnvoll ist und wo nicht.
({5})
Ihr Antrag geht aber nicht in diese Richtung; schließlich
wollen Sie eine bundeseinheitliche Immissionsschutzregelung. Herr Kollege, auch deshalb geht dieser Antrag
ins Leere.
Die in Ihrem Antrag als Beispiel angeführten Tourismusstädte können von der vorhandenen Regelung Gebrauch machen.
({6})
Die Kommunen wissen am besten, wie sie es regeln sollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie
fordern in Ihrer Kleinen Anfrage vom 8. April dieses
Jahres den Abbau von Bürokratie in der Tourismusbranche. In dem uns jetzt vorliegenden Antrag fordern Sie
die Bundesregierung auf, wieder ein neues Regelwerk zu
schaffen.
({7})
Wie passt denn das zusammen?
({8})
Das ist widersprüchlich.
Ich möchte zitieren, was Sie fordern. Nach Ihrem
Antrag soll der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordern, einen unbürokratischen, verbraucherBrunhilde Irber
freundlichen und praxistauglichen Vorschlag zur Änderung des Bundesimmissionschutzrechts vorzulegen.
Soll das etwa eine TA Menschlicher Kommunikationslärm sein? Ist es das, was Sie wollen? Soll das nur für die
Außengastronomie gelten, wie in Ihrem Antrag ausgeführt?
({9})
- Wie soll es bei anderen Betrieben gehen? Andere Betriebe werden dann auch eine andere Regelung verlangen.
({10})
Wenn wir als Gesetzgeber Ihrem Antrag folgen und eine
neue gesetzliche Regelung beschließen würden, würde
das allen Bundesländern übergestülpt werden. Ich glaube
nicht, dass das Ihr Ernst sein kann.
({11})
Wir alle setzen uns dafür ein, dass die nächtliche Ruhestörung durch laute Produktionsbetriebe, durch Straßenverkehrslärm oder Fluglärm weitestgehend minimiert wird. Kollege Friedrich setzt sich auch immer für
den Lärmschutz ein.
({12})
Wir alle wollen die gesundheitliche Beeinträchtigung
durch gestörte Nachtruhe verringern. Die Rechtsprechung ist meines Erachtens fast immer aufseiten der Kläger, wenn es sich um nächtliche Ruhestörung handelt.
Frau Kollegin, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr!
Ja, das mache ich gern.
({0})
So genannte menschliche Kommunikationsgeräusche
können auch Lärm sein. Aus diesem Grunde meine ich,
dass wir hier Interessen gegeneinander abwägen müssen,
die Interessen derer, die ihre Freizeit genießen wollen,
und derer, die morgens früh aus den Federn müssen.
Frau Kollegin, es reicht nicht ganz aus, auf die Uhr zu
schauen. Man muss dann auch entsprechend reagieren.
({0})
Danke, Frau Präsidentin.
Ich glaube nicht, dass Ihr Antrag die richtige Lösung
für das Problem ist. Lassen wir die Kirche im Dorf
({0})
und überlassen wir die Regelung der Außengastronomie
den Ländern und den Kommunen! Die wissen am besten, wie sie es regeln sollen.
Danke schön.
({1})
Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin
Undine Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Gäste!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn wir sicherlich wieder nicht einer Meinung sein werden, möchte ich
zuvörderst dem verbliebenen Rest hier im Raum doch
dazu gratulieren, dass er so tapfer und diszipliniert aushält, anstatt bei diesem Wetter innerhalb der möglichen
Öffnungszeiten in einem Biergarten zu sitzen. Also, ein
Kompliment an uns selbst. Demzufolge nehmen wir die
Debatte durchaus ernst.
({0})
Herr Hinsken hat eben eine Zeitung sozusagen im
Bild zitiert. Ich zitiere jetzt eine Zeitung im Wort. Die
Frankfurter Allgemeine am Sonntag überschrieb einen
kleinen Beitrag über die Debatte, die wir heute über Ihren Antrag führen, etwas flapsig mit Liberale wollen
länger saufen,
({1})
was zunächst einmal nicht ehrenrührig ist. Man kann es
aber auch netter und freundlicher ausdrücken, etwa
wenn man die Klassiker bemüht: Euch ist bekannt, was
wir bedürfen; wir wollen stark Getränke schlürfen und das, wenn es geht, bei Tag und Nacht. Auch das ist
nicht abzulehnen.
({2})
Dieses Thema ist aber durchaus ernst zu nehmen. Wir
befassen uns auch ernsthaft damit. Es ist aber eben nicht
neu.
({3})
Undine Kurth ({4})
Dieses Hohe Haus befasst sich weiß Gott nicht zum ersten Mal mit diesem Thema. Wir tun es auf Antrag der Liberalen mit schöner Regelmäßigkeit.
({5})
- Einmal zustimmen hieße ja, dass man den Antrag
zustimmungswürdig findet. Ich werde Ihnen gleich sagen, warum wir ihn nicht für richtig halten. - Angesichts
dieses Antrags könnte man die Klassiker noch einmal zitieren: Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten.
Wenn man sich den Antrag anschaut, merkt man, dass
er nicht besonders viel Arbeit gemacht hat. 2001 forderten Sie kundenfreundlicher gestaltete Öffnungszeiten.
Heute sollen sie verbraucherfreundlich gestaltet werden.
Es wäre schon ein Riesenfortschritt gewesen, wenn sie
auch verbraucherinnenfreundlicher gestaltet werden
sollten.
({6})
- Dann würden Sie es übernehmen, gut. Fortschritt!
Uns Grünen wird man sicherlich nicht absprechen
können, dass wir den lebensfreudigen Dingen dieser
Welt zugeneigt sind. Auch wir wissen, dass sich Lebensgewohnheiten verändert haben. Das wissen wir von uns
selbst, von unseren Freunden und von unseren Familien.
Wir bestreiten überhaupt nicht, dass es gerade für touristisch stark nachgefragte Orte sehr attraktiv ist, wenn man
abends lange, länger als bis 22 Uhr und länger als bis
zum Eintritt der Dunkelheit, draußen sitzen kann. Es ist
natürlich auch ein lohnendes Geschäft für die Glücklichen, die eine solche Lokalität besitzen, wenn sie denn
auch noch gut besucht ist.
Ich lehne auch keinen Antrag aus Prinzip ab, nur weil
er von der Opposition kommt. Das fände ich unsinnig.
Was aber Ihrem Antrag fehlt und an ihm zu Recht sehr
nachdenklich stimmt, ist das völlige Ausblenden der Ruhebedürfnisse der Anwohner. Die Einseitigkeit Ihres
Antrags haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen,
auch 2003 noch nicht überwunden. Es gibt zwar viele
Menschen, die länger arbeiten und nach ihrer Arbeit
Ausgleich und Erholung suchen, aber es laufen nicht alle
schnurstracks in den nächsten Biergarten. Es gibt auch
die Bewegung in die andere Richtung. Viele Menschen
sehnen sich nach mehr Ruhe.
({7})
Für uns bleibt es daher unabdingbar: Das Spaßbedürfnis der Bevölkerung einerseits und das Ruhebedürfnis
der Anwohner andererseits müssen gleichrangig betrachtet und vernünftig gegeneinander abgewogen werden.
Was wir brauchen und wollen, sind verbraucherfreundlich und anwohnerfreundlich gestaltete Sperrzeiten.
({8})
- Wenn wir sie nicht haben, liegt das nicht am Bundestag. - Wir wollen also optimale Lösungen für alle Beteiligten.
({9})
- Da könnten, wie ich finde, eigentlich alle applaudieren.
Regelungen nach dem Motto Für ein paar warme
Tage im Jahr wird es schon irgendwie gehen greifen
nicht bzw. greifen zu kurz. Eine der erfreulichen Seiten
der Klimaveränderung, die ja ansonsten weiß Gott unerfreulich ist, ist ja, dass es mehr als 30 bis 40 Abende im
Jahr gibt, an denen man auch in unseren Breiten gut
draußen sitzen kann. Zu sagen, das seien so wenige
Tage, die spielten nicht wirklich eine Rolle, griffe zu
kurz.
({10})
- Richtig. Davon redet auch gar keiner. Der Winter beweist aber, dass man nicht alle Gaststätten schließen
muss, sondern Bier eventuell sogar in geschlossenen
Räumen trinken kann.
Die Zunahme der Beschwerden über ruhestörenden
Lärm müssen uns doch alarmieren. Rücksichtslosigkeit
gibt es auch im ansonsten so freundlichen Biergarten.
Deswegen setzen wir auf bewährtes Konfliktmanagement. Wir begrüßen es ausdrücklich, wenn sich Anwohner, Biergarten- und Gaststättenbesitzer in Konfliktfällen
untereinander absprechen bzw. selbst einigen. Dass man
sich in der Mehrzahl der Fälle einvernehmlich einigen
kann, zeigt, dass gerade im Sinne einer von Ihnen immer
wieder geforderten Deregulierung nicht zwingend neue
Verordnungen notwendig sind, um da zu einer Lösung
zu kommen.
({11})
In den so genannten Clearingstellen, in denen sich Störer, Gestörte und Vertreter der zuständigen Behörden an
einen Tisch setzen, werden ja schließlich 80 bis
90 Prozent aller strittigen Fälle gelöst. Uns scheint, dass
das durchaus kein gescheiterter, sondern ein gescheiter
Weg ist.
Auch wenn Ihr Vorschlag von Emissionsgrenzwerten für Kommunikationslärm - das ist schon ein sehr
schönes und schillerndes Wort - einen gewissen Charme
besitzt, bleibt doch die Frage, ob man diesen wirklich
definieren kann. Gerade in Biergärten können die Lärmemissionen doch sehr unterschiedlich sein. Der normale
Abend unterscheidet sich vermutlich deutlich von dem,
an dem der sangesfreudige Kegelklub da ist oder ein
Weltcup zu feiern ist. Man kann diese Werte vermutlich
wirklich nicht verbindlich festlegen.
Uns scheint die Regelung, in Fällen der Nichteinigung den Rechtsfrieden durch eine Würdigung der jeweiligen örtlichen Gegebenheiten zu erzielen, die
gangbarste und auch die fairste Methode zu sein. Die
derzeitige Handhabung der Sperrzeitenregelung ist - das
wissen Sie doch auch, liebe Kolleginnen und Kollegen gar nicht so kunden- und verbraucherunfreundlich.
Frau Kollegin, darf ich Sie ebenfalls an die Zeit erinnern?
Ich höre natürlich auf Sie.
({0})
Das ist nett von Ihnen.
Ich sage Ihnen noch einmal, Herr Hinsken: Gerade in
Bayern gibt es doch relativ strenge Regelungen und
trotzdem ist Bayern der Inbegriff der Biergartenkultur.
Demzufolge glaube ich, dass wir auf neue Regelungen
verzichten und vor Ort entscheiden lassen sollten, wo
man die Situation kennt. Ich hoffe, dass wir uns darauf
einigen können.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/674 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vertrag vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat
der Juden in Deutschland - Körperschaft des
öffentlichen Rechts - Drucksache 15/879 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
27. Januar 2003 haben Bundeskanzler Gerhard Schröder
und der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, gemeinsam mit der Vizepräsidentin
und dem Vizepräsidenten einen Vertrag über die beiderseitigen Beziehungen unterzeichnet. Der Vertrag wurde
am 58. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und
Vernichtungslagers Auschwitz im Bewusstsein der besonderen historischen Verantwortung zur Förderung des
Wiederaufbaus jüdischen Lebens in Deutschland und zur
Verfestigung der freundschaftlichen Beziehungen zur jüdischen Gemeinschaft geschlossen.
Die heutige erste Lesung im Deutschen Bundestag
findet wiederum an einem sehr denkwürdigen Tag statt.
Wir begehen heute, am 8. Mai 2003, den 58. Jahrestag
des Endes des Zweiten Weltkrieges und damit der Befreiung von der Nazidiktatur. Der Krieg hinterließ eine
Welt der Verwüstung; Millionen Menschen verloren ihr
Leben. Das schlimmste der Verbrechen dieser Zeit war
der organisierte Massenmord an Millionen Juden. Ihre
Europa bereichernde Kultur wurde zerstört.
Als die ersten Juden 1945 nach Deutschland zurückkehrten, hätten sie es nicht zu hoffen gewagt, dass es in
Deutschland jemals wieder ein aktives jüdisches Gemeindeleben geben würde. Im Jahr 1950, zurzeit der
Gründung des Zentralrats der Juden, lebten nicht mehr
als 25 000 Juden in Deutschland. Bis 1989 betrug ihre
Zahl nicht mehr als 30 000. Heute haben die 83 jüdischen Gemeinden wieder rund 100 000 Mitglieder. Dieser Anstieg auf das Dreifache durch den Zuzug aus den
Staaten der früheren Sowjetunion hat dazu geführt, dass
Deutschland nach Frankreich und Großbritannien die
drittgrößte Gemeinschaft von Juden in Europa und
- man beachte - die weltweit am schnellsten wachsende
Gemeinschaft hat.
Die Bundesregierung begrüßt diese Entwicklung. Sie
hat großen Respekt davor, dass sich Juden nach den Verbrechen des Nationalsozialismus erneut in Deutschland
angesiedelt und eine jüdische Gemeinschaft aufgebaut
haben.
({0})
Dies hat auch dazu beigetragen, das internationale Vertrauen in die Bundesrepublik Deutschland nach dem
Zweiten Weltkrieg zu stärken.
Dieses Hohe Haus hat in Würdigung dieser Tatsachen
und angesichts eines neuen beunruhigenden Antisemitismus im letzten Jahr eine Entschließung unter der Überschrift Antisemitismus ächten - Zusammenhalt in
Deutschland stärken gefasst.
Im November letzten Jahres trat der Zentralrat der Juden in Deutschland an die Bundesregierung mit dem
Wunsch nach einem Vertrag auf Bundesebene heran,
wie ihn die jüdischen Landesverbände in den meisten
Ländern längst haben. Er verwies insbesondere auf die
angewachsenen Aufgaben angesichts der zugewanderten
Juden. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat sich
in seinem langjährigen Bestehen große Verdienste um
die demokratische Kultur in der Bundesrepublik
Deutschland erworben.
({1})
Er hat den Aufbau der Demokratie in Deutschland nach
dem Zweiten Weltkrieg aktiv mitgestaltet und mit konstruktiver Kritik begleitet. Die Bundesregierung schätzt,
wie es auch in der genannten Entschließung des Bundestages zum Ausdruck kommt, den jüdischen Beitrag zum
kulturellen, geistigen und politischen Leben in Deutschland.
Mit den Zuwanderern des letzten Jahrzehnts hat die
jüdische Gemeinschaft die Möglichkeit, sich zu verjüngen und die Gemeinden neu aufzubauen. Sie muss diese
Chance in diesen Jahren aber auch aktiv nutzen. Der
Zentralrat der Juden hilft als Dachorganisation der meisten jüdischen Gemeinden in Deutschland der wachsenden Zahl jüdischer Einwanderer, sich hier einzugewöhnen und sich zu orientieren.
Angesichts der Verdreifachung der Zahl der Mitglieder, die der Zentralrat zu betreuen hat, ist ohne weiteres
nachvollziehbar, dass seine Aufgaben stark angewachsen sind. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung die in Jahrzehnten gewachsenen guten Beziehungen zum Zentralrat der Juden in Deutschland erstmalig
auf eine vertragliche Grundlage gestellt. Mit dem Vertrag soll ein substanzieller Beitrag dazu geleistet werden,
dass die jüdische Dachorganisation ihren Aufgaben auch
in Zukunft nachkommen und damit die jüdische Gemeinschaft in Deutschland stärken kann.
In der Präambel wird der Vertragsschluss auch mit der
besonderen historischen Verantwortung begründet.
Der Vertrag schreibt eine kontinuierliche und partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und dem Zentralrat der Juden in Deutschland fest.
Der Zentralrat hat sich bereits bisher als verlässlicher
Partner der Bundesregierung in vielen gesellschaftspolitischen Fragen erwiesen.
Der Zentralrat wird zur Erhaltung und Pflege des
deutsch-jüdischen Kulturerbes, zum Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft, für seine integrationspolitischen
und sozialen Aufgaben sowie für die gestiegenen Kosten
seines Büros eine Staatsleistung in Höhe von
3 Millionen Euro jährlich erhalten. Die Bundesregierung
geht dabei davon aus, dass insbesondere die integrations- und sozialpolitischen Leistungen allen jüdischen
Bürgerinnen und Bürgern, gleich welcher jüdischen
Richtung, zugute kommen. Der Zentralrat hat im Vertrag
zum Ausdruck gebracht, dass er für alle jüdischen Richtungen offen ist.
Die Bundesregierung erklärt in dem Vertrag ihre Absicht, auch weiterhin die Hochschule für Jüdische Studien und das Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland zu unterstützen. Beide
Einrichtungen werden vom Zentralrat der Juden in
Deutschland getragen. Unberührt von diesem Vertrag
bleiben andere Leistungen an die jüdische Gemeinschaft, so zum Beispiel die staatliche Unterstützung aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem Bund und den
Ländern aus dem Jahre 1957 über die Pflege verwaister
jüdischer Friedhöfe.
Das Gesetz zum Vertrag dient dazu, die vertraglichen
Vereinbarungen zügig umzusetzen und insbesondere die
Voraussetzungen für die Gewährung der dort festgeschriebenen Staatsleistungen zu schaffen.
Ich bitte um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Bosbach,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Epoche der Juden in Deutschland ist zum Glück
doch nicht, wie Leo Baeck 1945 konstatiert hatte, ein
für allemal vorbei. Inzwischen haben die jüdischen
Gemeinden in Deutschland wieder etwa 100 000 Mitglieder, nicht zuletzt - wie gerade erwähnt - durch die
Zuwanderung von Juden aus Russland nach Deutschland
im Zeitraum nach der Wiedervereinigung.
Jüdisches Leben in Deutschland hat sich wieder etabliert. Es gibt jüdische Schulen und Kindergärten. Man
hat Altersheime gebaut und Synagogen errichtet. Dennoch bleibt die jüdische Gemeinschaft in Deutschland
von der Vergangenheit gezeichnet. 1933 lebten allein in
Berlin 170 000 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Heute sind es nur etwa 12 000.
Wir freuen uns darüber, dass in den vergangenen
Jahrzehnten wieder viele jüdische Gemeinden in
Deutschland entstanden sind und ein reges Gemeindeleben pflegen. Darin sehen wir ein Zeichen der Hoffnung
und einen Ausdruck des Vertrauens in die Bundesrepublik Deutschland und in unsere gefestigte Demokratie.
Das Entstehen und Wachsen jüdischer Gemeinden ist
eine Bereicherung für unser Land. Damit wird an eine
jahrhundertelange Tradition des Zusammenlebens in Toleranz und gegenseitigem Vertrauen und Respekt angeknüpft. Mit Freude stellen wir fest, dass Mitbürger jüdischen Glaubens in Deutschland ihre Heimat auf Dauer
sehen und dass andere, die zu uns gekommen sind, bei
uns eine neue Heimat finden.
({0})
Wer weiß, wie stark, wie nachhaltig jüdische Mitbürger die Entwicklung in Wissenschaft und Wirtschaft,
Politik und Kultur, Medizin oder Jurisprudenz beeinflusst und gefördert haben, wird alles tun, damit diese
Kultur ihren Reichtum wieder entfalten kann. Die außerWolfgang Bosbach
ordentliche Entwicklung der Philosophie, der Wissenschaften insgesamt, der Wirtschaft und der Kultur wäre
in Deutschland ohne die Beiträge der jüdischen Bürger
unseres Landes nicht möglich gewesen.
({1})
Beispielhaft möchte ich die Namen Martin Buber,
Heinrich Heine, Kurt Tucholsky, Theodor Lessing oder
Walther Rathenau nennen.
Ist es nun etwas ganz Besonders oder ist es etwas
ganz Selbstverständliches, sozusagen ein Zeichen von
Normalität, dass wir heute die Ratifizierung eines
Staatsvertrages mit dem Zentralrat der Juden debattieren? Mit den großen christlichen Kirchen hat der Staat
seit langem sein Verhältnis durch Staatskirchenverträge
oder durch Konkordate auf eine dauerhafte Grundlage
gestellt. Insoweit ist es ein Stück Normalität.
Aber wir halten immer noch inne und wir hüten uns
zu Recht, vorschnell von Normalität zu sprechen, wenn
es um jüdisches Leben in Deutschland geht. Sicher: Die
Entwicklung der jüdischen Gemeinden ist, was die Mitgliederzahlen und das rege Gemeindeleben angeht,
höchst erfreulich. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund
ist der Staatsvertrag ein Zeichen der Ermutigung. Dennoch spürt man überall, wo heute jüdisches Leben in
Deutschland wieder erblüht, dass die Schrecken der
Nazibarbarei nur etwas mehr als ein halbes Jahrhundert
zurückliegen und wir sie nicht vergessen und nicht verdrängen dürfen.
({2})
Wie gerne würden wir alle, die Sprecherinnen und Sprecher aller Fraktionen, unbefangen über jüdisches Leben
in Deutschland reden: über die Emanzipation und die
Anerkennung des jüdischen Beitrages zur Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft unseres Landes. Doch wir alle
wissen, dass dies angesichts der Schrecken der Naziverbrechen - Staatssekretär Körper hat zutreffend darauf
hingewiesen - leider nicht ohne weiteres geht.
Aber wir dürfen uns von dieser dunklen Vergangenheit nicht die gemeinsame Zukunft rauben lassen. Wer
ärgert sich nicht, wenn er durch das neue Berlin geht und
die vielen jüdischen Einrichtungen zuerst an den schützend davor stehenden Polizisten und gepanzerten Fahrzeugen erkennt! Natürlich wissen wir, dass es leider notwendig ist, diese Schutzmaßnahmen zu ergreifen, und
es Aufgabe der Polizei ist, dort Präsenz zu zeigen, um
Unheil zu verhindern.
Dennoch ist und bleibt es ein Skandal - damit dürfen
wir uns nicht abfinden -, dass sich diese Gesellschaft
von einigen wenigen Politkriminellen aufzwingen lassen
muss, dass selbst das ganz alltägliche Leben in unseren
jüdischen Gemeinden nur unter Polizeischutz möglich
ist.
({3})
Es ist ein fortwährender Skandal, dass selbst jüdische
Kindergärten von der Polizei geschützt werden müssen.
Genauso unerträglich ist und bleibt es, dass führende Repräsentanten des jüdischen Lebens in Deutschland wie
beispielsweise Paul Spiegel oder Michel Friedman nur
unter Polizeischutz leben können. Wenn das nicht mehr
notwendig ist, dann sind wir in Deutschland auf dem
richtigen Weg.
({4})
Dass der Vertrag am Tag des Gedenkens an die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur geschlossen
wurde, ist Mahnung und Verpflichtung zugleich. In diesem Sinne ist der Staatsvertrag auch Ausdruck dafür,
dass der Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus in jeder Form zu den Grundbedingungen des
Zusammenlebens der Menschen in unserem Land gehören muss. Der Staatsvertrag ist nicht wie bei den Debatten über unseren Antrag Jüdisches Leben in Deutschland in der vergangenen Wahlperiode Anlass, die
Solidarität und den Schutz darzustellen. Er ist vielmehr
Anlass, die positiven Entwicklungen nicht zuletzt seit
der Wiedervereinigung in den Vordergrund zu stellen.
Mit diesem Staatsvertrag wird ein neues Kapitel des
jüdischen Lebens in Deutschland aufgeschlagen. Er ist
ein Zeichen der Ermutigung, auf rechtsverbindlicher
Grundlage den Weg der Versöhnung und der gemeinsamen Teilhabe an der Entwicklung unseres Landes weiterzugehen. Er ist zugleich ein Beleg für das wachsende
Vertrauen der Juden in unsere freiheitliche und rechtsstaatliche Demokratie.
Die nach Maßgabe dieses Vertrages gewährte Förderung ist keine staatliche Subvention im klassischen
Sinne für den Zentralrat der Juden, keine Subventionierung der jüdischen Gemeinden. Sie ist eine Investition in
eine bessere Integration derjenigen, die zu uns kommen,
in die vielfachen sozialen Aufgaben und Verpflichtungen
der jüdischen Gemeinden und nicht zuletzt in die Pflege
und Erhaltung des deutsch-jüdischen Kulturerbes. Diese
Investitionen liegen nicht allein im Interesse des Zentralrates der Juden in Deutschland oder der jüdischen Gemeinden, sondern in unserem gesamtstaatlichen Interesse.
Wir appellieren zugleich an die Bundesregierung
- ich bin dankbar, dass dies im ersten Redebeitrag angesprochen wurde -, über die Einigung mit dem Zentralrat
nicht die anderen jüdischen Gruppen in Deutschland zu
übersehen oder zu vernachlässigen. Mit der erfreulichen
Entwicklung der Gemeinden wird auch ein Teil der Vielfalt des jüdischen Lebens, die es schon einmal bei uns
gab und die es in anderen Ländern, zum Beispiel in den
USA und in Israel, gibt, ganz selbstverständlich auch in
Deutschland wieder einkehren.
Unzweifelhaft ist aber, dass gerade der Zentralrat bei
der Integration der Neuankömmlinge eine nicht nur
wichtige, sondern auch entscheidende Rolle spielt. Insoweit können dieser Staatsvertrag und dessen Umsetzung
einen wichtigen Beitrag für eine gelingende Integration
leisten. Wir wollen in Deutschland die Kultur der Verständigung und des Verstehens weiter ausbauen, indem
wir das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Glaubens ganz selbstverständlich gestalten. Wir
wollen eine Kultur, in der jüdische Mitbürgerinnen und
Mitbürger nie mehr infrage stellen müssen, ob es richtig
ist, in Deutschland zu leben. Es muss selbstverständlich
sein, dass sie hier leben können und auch auf Dauer hier
leben wollen,
({5})
weil ein Miteinander im gegenseitigen Respekt und Vertrauen zueinander selbstverständlich ist und weil
Deutschland ihre Heimat ist.
Danke für Ihr Zuhören.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, unterzeichneten
der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland,
Paul Spiegel, und Bundeskanzler Gerhard Schröder den
Staatsvertrag zwischen der Bundesregierung und dem
Zentralrat der Juden.
Mein Dank gilt an erster Stelle Herrn Spiegel und den
Mitgliedern des Zentralrates der Juden, die diese Vertragsunterzeichnung ermöglicht haben. Die Erinnerung
an die Schrecken nationalsozialistischer Gewaltherrschaft bleibt präsent. In einer Zeit, die nach wie vor weit
entfernt ist von Normalität, ist der deutschen Demokratie
das Vertrauen ausgesprochen worden. Kontinuierliche
und partnerschaftliche Zusammenarbeit wurde im
Staatsvertrag vereinbart.
Der 27. Januar ist nicht nur ein historischer Tag. Ich
denke, die Unterzeichnung des Staatsvertrages war und
ist ein historisches Ereignis.
({0})
Die Bundesregierung verpflichtet sich zur Erhaltung
und Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes und zum
Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft. Es wurde bereits gesagt: Mittlerweile leben wieder 100 000 Juden in
Deutschland. Die deutsch-jüdische Gemeinde ist die
drittgrößte in Europa. Mit diesem Staatsvertrag bekundet
Deutschland das Interesse an weiter wachsenden jüdischen Gemeinden.
Mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages hat die
rot-grüne Bundesregierung erneut ein Zeichen für mehr
Toleranz und gegen Antisemitismus und Rassismus in
unserer Gesellschaft gesetzt.
({1})
Mein Dank gilt an dieser Stelle auch Bundeskanzler
Schröder und Innenminister Schily.
Nicht nur gewürdigt, sondern verlässlich finanziell
unterstützt werden die zahlreichen integrativen und sozialen Aufgaben, die die jüdischen Gemeinden seit vielen
Jahren in Deutschland wahrnehmen und die, auch mit
den Mitteln des Staatsvertrages, weiterhin der engagierten ehrenamtlichen Unterstützung bedürfen. Ich
möchte hier insbesondere die Integration der neuen Mitglieder der Gemeinden aus den osteuropäischen Staaten
erwähnen. Wir alle wissen aus den Städten und Gemeinden, wie schwierig es ist, den Weg der sozialen Integration und auch der Integration in den Arbeitsmarkt zu
schaffen, wenn man mit einer fremden Sprache nach
Deutschland kommt. Ohne die Arbeit der jüdischen Gemeinden würden wir diese Integration in Deutschland
nicht bewältigen können.
Der Staatsvertrag hat ein Zeichen des gegenseitigen
Vertrauens gesetzt. Ich verbinde mit diesem Vertrag auch
Hoffnungen. Es bleibt für mich unerträglich - auch Herr
Bosbach hat dies angesprochen -, dass jüdische Einrichtungen in Deutschland polizeilich geschützt werden
müssen. Es ist für mich ein unerträgliches Bild, wenn jüdische Kindergärten mit Sicherheitszäunen umgeben
sind und wenn wir die spielenden Kinder auf den Spielplätzen mit Videokameras überwachen müssen. Diese
Bilder, die Realität in Deutschland sind, zeigen, dass wir
weit entfernt sind von Normalität.
({2})
Auch heute, 58 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, kann die Frage, ob Juden in
Deutschland sicher sind, nicht mit einem Ja beantwortet
werden. Dies macht mich traurig und wütend und ist
Aufforderung an uns alle, für eine tolerante demokratische Kultur in unserer Gesellschaft zu kämpfen.
Wir alle wissen: Mit Bekenntnissen allein verändern
wir die Einstellungen in unserer Gesellschaft nicht. Es
gilt jetzt, die Botschaft des Vertrages weiter zu vermitteln. Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass dies
ein Punkt ist, bei dem auch an den Reden deutlich wird:
Wir sind hier im Hause einer Meinung.
Danke schön.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Joachim Otto,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Es hat schon lange keinen Gesetzentwurf der Bundesregierung mehr gegeben, dem wir Liberalen mit so
großer Freude zustimmen konnten wie diesem.
Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass dieser
Staatsvertrag einen ganz wichtigen Baustein der weiteren Integration jüdischen Lebens in Deutschland bildet.
Hans-Joachim Otto ({0})
Er ist ein Vertrauensbeweis der in Deutschland lebenden
Juden in die Stabilität unserer Gesellschaft und unserer
Demokratie. Wir sollten diesen Schritt nicht gering
schätzen, sondern dem Zentralrat der Juden für diesen
Schritt unseren Dank aussprechen, weil wir damit eine
große Integrationsleistung auf den Weg bringen können.
({1})
Im Hinblick auf manche Kritik möchte ich darauf hinweisen, dass es nicht nur um die Förderung jüdischen
Lebens in Deutschland geht. Dieser Staatsvertrag bedeutet eine Förderung kulturellen Lebens in Deutschland
insgesamt. Seien wir offen und ehrlich: Deutschland hat
den Aderlass jüdischer Künstler und Intellektueller während der Nazidiktatur bis zum heutigen Tag nicht voll
bewältigt. Ich setze die Hoffnung darauf - ich bin sehr
zuversichtlich -, dass dieser entscheidende Beitrag jüdischen kulturellen Lebens in Deutschland und für
Deutschland durch diesen Staatsvertrag zusätzlich belebt
wird. Davon profitieren wir alle, gleichgültig welchen
Glaubens wir sind.
({2})
Angesichts dieser Integrationsleistung möchte ich zunächst einmal den amtierenden Mitgliedern des Zentralrates der Juden in Deutschland danken.
Ich möchte meine Rede aber nicht abschließen, ohne
daran zu erinnern, dass der jetzt so erfolgreich und mit
Unterstützung aller Fraktionen beschrittene Weg durch
den unvergessenen Ignatz Bubis eingeschlagen und sehr
maßgeblich beeinflusst wurde. Er war einer der Ersten,
der, als Vorsitzender des Zentralrates der Juden, das
Hinein nach Deutschland, das Vertrauen und die Heimatfindung der Juden in Deutschland maßgeblich gefördert
hat.
({3})
Ich danke den amtierenden Mitgliedern des Zentralrates der Juden und möchte an dieser Stelle noch einmal an
Ignatz Bubis erinnern.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Sebastian Edathy, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Diese Debatte hat sehr deutlich unterstrichen,
dass die Demokratie in Deutschland ein starkes Fundament hat, weil es bei allem Streit einen Konsens in zentralen Grundfragen gibt. Es gibt unter anderem einen
Konsens darüber, dass die Förderung des Wiederaufbaus
jüdischen Lebens in Deutschland nach dem Ende der
NS-Zeit ein gemeinsames Anliegen aller gesellschaftlichen Kräfte unseres Landes sein muss.
({0})
Wenn wir heute feststellen können, dass 100 000 Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens in Deutschland
eine Heimat haben, dann freut uns das nicht nur, sondern
dann muss uns das mit Dankbarkeit dafür erfüllen, dass
diese Menschen in eine deutsche Demokratie so viel
Vertrauen setzen, dass sie sich hier wieder heimisch fühlen können.
Man sagt bisweilen, die jüdischen Bürgerinnen und
Bürger gehörten zu unserer Gesellschaft dazu. Viele,
die das so formulieren, sagen das in guter Absicht und
mit respektabler Gesinnung. Herr Kollege Bosbach hat
darauf hingewiesen, dass zu Beginn der 30er-Jahre des
20. Jahrhunderts in Deutschland 500 000 Deutsche jüdischen Glaubens lebten. Heute sind es ein Fünftel,
nämlich 100 000 Menschen. In der Weimarer Republik
gehörten neun Reichstagsabgeordnete der jüdischen
Glaubensgemeinschaft an. Der 15. Deutsche Bundestag
hat kein einziges Mitglied jüdischen Glaubens.
({1})
- Dann will ich mich gerne korrigieren.
Bis zur Zeit des Nationalsozialismus war es - bei allen Brüchen in der deutschen Geschichte - so, dass jüdische Deutsche gesellschaftlich eben nicht nur dazugehörten, sondern ein Element der deutschen Gesellschaft
waren. Sie waren ein Teil, ohne den das Ganze nicht
denkbar war. Deshalb war die Judenverfolgung in der
Zeit des Nationalsozialismus nicht zuletzt ein Akt deutscher Selbstzerstörung. Gerade aus diesem Grund ist es
eine ureigene Aufgabe unseres Landes, dafür Sorge zu
tragen, dass jüdische Kultur und jüdisches Leben in
Deutschland gute Bedingungen für ihre weitere Entwicklung finden können.
({2})
Erstmals gibt es mit dem von Bundeskanzler Gerhard
Schröder und dem Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland unterzeichneten Staatsvertrag eine
rechtlich verbindliche Grundlage für die Zusammenarbeit. Mit erheblich mehr Mitteln als bisher werden die
Arbeit des Zentralrates für Erhalt und Pflege des
deutsch-jüdischen Kulturerbes gefördert und der Aufbau
der jüdischen Gemeinden unterstützt. Außerdem wird
die integrationspolitische und soziale Arbeit des Zentralrates, vor allem was die Aufnahme und die Begleitung
von Neubürgern jüdischen Glaubens insbesondere aus
Osteuropa betrifft, finanziell besser abgesichert als bisher. Weil die Arbeit, die die jüdische Gemeinschaft erbringt, eine gemeinsame Aufgabe für unsere gesamte
Gesellschaft ist, ist dieser Staatsvertrag richtig, vernünftig und gut.
Aber die Wahrnehmung dieser Mitverantwortung für
die weitere Entwicklung jüdischen Lebens in Deutschland ist, wenn der Staatsvertrag vom Deutschen
Bundestag - wie ich glaube, einmütig - bestätigt werden
wird, noch längst nicht erledigt. Im November letzten
Jahres wurde eine repräsentative Studie des Instituts
Infratest vorgelegt. Es ist in Deutschland unter anderem
gefragt worden, was die Befragten empfinden würden,
wenn sie wüssten, dass der Nachbar Jude ist. 17 Prozent
der Befragten sagten: Juden möchte ich als Nachbarn lieber nicht haben. Ferner wurde in dieser Umfrage gefragt,
ob Juden in Deutschland zu viel Einfluss hätten.
20 Prozent sagten, ja, sie hätten zu viel Einfluss. Gar
27 Prozent vertraten die Auffassung, ihr Einfluss auf die
öffentliche Meinung in Deutschland sei zu hoch.
Es gibt aber auch ein ermutigendes Ergebnis dieser
Untersuchung. Auf die Frage, ob Antisemitismus in
Deutschland ein Problem sei, sagten 60 Prozent der Befragten, ja, sie würden darin ein Problem sehen. Diese
Menschen haben Recht. Es gibt ein solches Problem.
Wir werden uns diesem Problem in Deutschland zu stellen haben, in diesem Jahr wie auch in den kommenden
Jahren und Jahrzehnten.
Es bleibt eine gemeinsame Aufgabe für alle demokratischen Kräfte, die Mehrheit für dieses Nein zum Antisemitismus zu vergrößern, jedem Ansatz von Antisemitismus entgegenzutreten und ihm die Basis zu entziehen.
Dazu gehört, dass wir an allen Orten und jederzeit folgenden Grundsatz unterstreichen und für ihn einstehen
müssen: Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens
gehören nicht nur zu unserer Gesellschaft dazu, sondern
sie sind Teil unserer Gesellschaft.
({3})
Und diejenigen, die deutsche Juden zu diffamieren oder
an den Rand zu drängen versuchen, grenzen nicht die Juden in Deutschland aus, sondern sich selbst.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend sagen: Ich freue mich, dass wir im Bundestag mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf eine Initiative zu beraten haben, die gut und richtig ist und die, wie wir heute
gemerkt haben, die Unterstützung aller Fraktionen finden wird. Ich bin zugleich stolz darauf, dass es eine
SPD-geführte Regierung ist, die 58 Jahre nach Ende des
Nationalsozialismus diese wichtige Initiative auf den
Weg gebracht hat.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/879 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({0}), Dirk Fischer
({1}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Vorrang für die Ostseesicherheit
- Drucksache 15/465 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Für die Aussprache war eine halbe Stunde vorgese-
hen. Die Reden der Kolleginnen und Kollegen
Dr. Christine Lucyga, Dr. Maria Flachsbarth, Rainder
Steenblock, Hans-Michael Goldmann und der Parlamen-
tarischen Staatssekretärin Angelika Mertens sind zu Pro-
tokoll gegeben worden.1)
Deswegen kommen wir gleich zur Abstimmung. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/465 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung
({3})
- Drucksache 15/908 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Auch hierfür war eine Redezeit von einer halben
Stunde vorgesehen. Die Parlamentarische Staatssekretä-
rin Christel Riemann-Hanewinckel, die Kollegen
Andreas Weigel, Thomas Dörflinger und Winfried
Nachtwei und die Kollegin Ina Lenke haben ihre Reden
allerdings zu Protokoll gegeben.2)
Damit kommen wir zur Abstimmung. Interfraktionell
wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/908 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({5}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dirk Fischer ({6}),
Eduard Oswald, Georg Brunnhuber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Transrapid-Projekt Berlin-Hamburg unverzüglich wieder aufnehmen
- Drucksachen 15/300, 15/489 Berichterstattung:
Abgeordneter Reinhard Weis ({7})
1) Anlage 2
2) Anlage 3
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hans-Günter Bruckmann, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir
durchaus vorstellen können, dass die beiden größten
Städte der Bundesrepublik mit dem Transrapid verbunden werden. Wir alle wissen aber, dass dies in den nächsten Jahrzehnten nicht der Fall sein wird; denn am
5. Februar des Jahres 2000 ist die Entscheidung zur Einstellung der Planung gefallen, weil der vorgesehene Betreiber, die Deutsche Bahn AG, aus dem Projekt ausgestiegen ist.
Daraufhin hat die Bundesregierung richtig gehandelt
und die Mittel für den Ausbau der vorhandenen Schienenstrecke beschlossen.
({0})
Tatsache ist, dass der Ausbau der Schienenstrecke Berlin-Hamburg für eine Höchstgeschwindigkeit von
230 Kilometer in der Stunde planmäßig vorangeht.
({1})
Nur eines bringt den Ablauf ein klein wenig durcheinander: Das ist das Adlerpärchen, das im Bereich der Bahnstrecke brütet; Sie haben es sicherlich der Presse entnommen. Das hat die Wirkung, dass sich dieses Projekt um
drei Monate verzögern wird. Ich gehe davon aus, dass
nicht nur wir, sondern auch Sie sehr natur- und umweltfreundlich sind, sodass wir alle dies gerne akzeptieren.
({2})
- Wie ich gerade höre, haben Sie dafür natürlich Verständnis. - Die Strecke wird deshalb erst Mitte 2005 in
Betrieb genommen werden. In zwei Jahren wird man
also in knapp 90 Minuten von Hamburg nach Berlin fahren können.
Lieber Kollege Fischer, vor diesem Hintergrund ist es
natürlich abwegig, eine Wiederaufnahme der Planungen
für eine Transrapidstrecke mit dieser Relation zu fordern. Die meisten von uns sind nach wie vor dafür, die
Transrapidtechnologie in unserem Land anzuwenden.
Seit zig Jahren passiert in dieser Frage das eine oder andere. Dabei sind wir uns in diesem Hause im Wesentlichen eigentlich einig. Ich zitiere die Kollegin Renate
Blank. Sie hat im Januar dieses Jahres gesagt:
Der Transrapid ist ein Projekt mit Signalwirkung für
unser Land. Diese Technologie steht für die Innovations- und Erneuerungsfähigkeit unseres Landes und
ist zugleich ein gewaltiges Konjunkturprogramm.
Danach empfahl sie Rot-Grün:
Rot-Grün sollte danach handeln und nicht nur die
Parteischiene fahren.
Kollegin Renate, das kann man nur unterschreiben.
Der Witz an dieser Aussage meiner Kollegin liegt natürlich darin, dass nicht alle in der Opposition zu den
gleichen Ergebnissen gekommen sind. Wir von der Regierungskoalition stehen sowohl der Anwendung der
Transrapidtechnologie in NRW als auch in Bayern eindeutig offen gegenüber.
({3})
Für beide Länderprojekte werden die Mittel als Zuschüsse zur Verfügung gestellt, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Ich würde mich freuen, wenn beide
Projekte als Public-Private-Partnership-Projekte umgesetzt werden würden; denn dann käme eine in Deutschland erfundene Zukunftstechnologie, für die der Erfinder
Hermann Kemper schon 1934 das Reichspatent erhielt,
auch bei uns zum Einsatz. Es wäre schön, wenn die Opposition an dieser Stelle die Worte der Kollegin Blank
ernst nehmen würde und die übliche Parteitaktik zurückstellen könnte.
({4})
Beide Projekte sollen gleichermaßen fair behandelt
werden, und zwar nicht nur in diesem Parlament, sondern auch in der konkreten Auseinandersetzung vor Ort.
Hier sehe ich jedoch noch erhebliche Defizite. Viele der
Argumente, die beispielsweise gegen das Metrorapidprojekt in NRW vorgebracht werden, sind schlicht
falsch oder gehen an der Sache vorbei. Ein Argument,
das gerne verbreitet wird, lautet: Der Transrapid ist wegen seiner hohen Geschwindigkeit für kurze Strecken
gar nicht gedacht und geeignet. Dazu ist zu sagen, dass
diese Technologie aufgrund der speziellen Antriebstechnik und damit in der Erreichung der jeweils gewünschten
Endgeschwindigkeit immerhin jedem konventionellen
Schienenfahrzeug überlegen ist.
({5})
Diese Fähigkeit und auch das bessere Steigvermögen
sind ein Grund dafür, weshalb die Transrapidtechnologie
auf der Neubaustrecke Frankfurt-Köln erste Wahl gewesen wäre. Sie hätte nicht eine Vielzahl von teuren Tunneln und Brücken benötigt. Die Tatsache, dass ein Fahrzeug hervorragend für hohe Geschwindigkeiten geeignet
ist, muss aber nicht ausschließen, dass es auch für kürzere Distanzen einsetzbar ist. Der Transrapid ist beides.
Als Metrorapid erreicht er aufgrund seiner hohen Beschleunigung und kurzen Bremswege eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 130 km/h, und zwar im öffentlichen Personennahverkehr. Damit liegt er nur
unwesentlich unter der eines Intercityexpress, der auf
der Strecke von Essen nach Berlin als Nahverkehrsmittel
im Schnitt rund 150 Kilometer pro Stunde erreicht. Das
Gerede von der Bimmelbahn ist daher purer Unsinn.
({6})
Ein weiteres Pseudoargument lautet: Der Metrorapid
passt nicht in die Verkehrslandschaft; denn die Vernetzung mit dem restlichen öffentlichen Personennahverkehr wird nicht funktionieren. Auch dieses Argument
wird durch stetige Wiederholung nicht richtiger. Der
Metrorapid unterscheidet sich lediglich durch seine Antriebstechnik und seine eigene Trasse. Manche würden
sich wünschen, so etwas auch haben zu können. Der entscheidende Punkt ist: Wir geben zur Förderung dieser
Technologie Bundesmittel aus. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne meinen Kollegen Weis zitieren:
Von Beginn an war klar, dass eine Magnetbahnstrecke in Deutschland kein reines Verkehrsprojekt ist.
Vielmehr ging und geht es auch heute noch um die
Technologiepolitik.
Ich kann nur sagen: Reinhard Weis, du hast absolut
Recht behalten.
Für die Rhein-Ruhr-Region zum Beispiel ist der Metrorapid nicht nur ein bloßes Nahverkehrsprojekt - ich
greife das auf, was schon unsere Kollegin Blank gesagt
hat -, sondern für uns ist es ein wesentliches Projekt, mit
dem wir die Identität des Ruhrgebietes und des Landes
Nordrhein-Westfalen mit einem Symbolcharakter stärken wollen. Man darf vom Strukturwandel nicht immer
nur reden, sondern man muss ihn, wenn man die Chance
dazu hat, auch umsetzen. Nur so kommt man weg von
dem Bild von Kohle und Stahl zu einer Dienstleistungsund Wissensgesellschaft und zur Anwendung von Hochtechnologie.
Mit den in den Debatten teilweise vorgetragenen
Geisteshaltungen wäre es nie dazu gekommen, die RadSchiene-Technik vor mehr als 150 Jahren einzusetzen.
Wenn jemand den Metrorapid oder Transrapid nicht betreiben will, weil er glaubt, sie passten nicht zu seinen
bisherigen Systemen, dann sage ich dazu in aller Öffentlichkeit: Es wird sich herausstellen, ob im Rahmen der
Netzöffnung und des Wettbewerbs nicht andere aufgeschlossenere Betreiber Interesse an diesen Projekten haben könnten. Ich bin mir sicher: Es werden sich eine
Reihe von Betreibern dafür finden.
Der Metrorapid ist wie der Transrapid nicht irgendein
beliebiges Verkehrsprojekt, sondern eigentlich ein Quantensprung in der Verkehrstechnologie. In China hat man
nach einer Vorlaufzeit von acht Jahren 24 Monate gebraucht, um das Projekt in Schanghai zu realisieren.
24 Monate sind eine gut genutzte Zeit.
Die Chancen für diese Technologie in den USA und
anderen Ländern der Welt werden dann besser, wenn wir
eigene, unterschiedliche Referenzen in Form von Anwendungen auch in Deutschland vorweisen können. Die
Projekte in Bayern und NRW werden dabei die Wirtschaft unterstützen, diese Technologie zu exportieren.
Deshalb freue ich mich darüber, dass sich in diesem Hohen Hause interfraktionell diejenigen im Gesprächskreis
Transrapid zusammengefunden haben, die diese Technologie nicht totreden wollen, sondern sie parlamentarisch
unterstützen; denn in einem Punkt bin ich mir ganz sicher: Deutsche Innovationen müssen auch in Deutschland ihre Chance bekommen. Nur so können wir uns in
den Reihen der Hochtechnologieländer beweisen. Das
ist der richtige Weg.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Fischer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Bruckmann, der Ausbau der Strecke Hamburg-Berlin geht zügig voran? 230 Kilometer pro
Stunde auf einer Ausbaustrecke durch geschlossene Ortschaften? Bisher werden Ausbaustrecken in Deutschland
mit maximal 200 Kilometer pro Stunde befahren. Als
früher schon einmal der Antrag an das EBA herangetragen wurde, sagten dessen Vertreter, man könne sich
überhaupt nicht vorstellen, dass dies genehmigt werden
würde.
Im Übrigen: Bleiben Sie bescheiden. Im Stern vom
3. Februar 2000 wird eine Formulierung von Bahnchef
Mehdorn in einem Interview wiedergegeben:
({0})
Dann brauchen wir das gar nicht, sondern wir fahren in anderthalb Jahren, also Mitte 2001, in
90 Minuten zwischen Hamburg und Berlin.
Deswegen kann ich nur sagen: Lassen Sie sich nicht auf
solche Sachen ein. Sie verlieren Ihre Glaubwürdigkeit
und können noch nicht einmal etwas dafür.
({1})
Das ist also ganz traurig für Sie.
Es ist abenteuerlich, wie verantwortungslos die rotgrüne Bundesregierung mit dem Transrapid im Fernverkehr zwischen Hamburg und Berlin umgegangen ist.
Trotz aller Liebesschwüre von Bundeskanzler Schröder,
der Transrapid sei eine vorzügliche Lösung der Mobilitätsprobleme - so in der Neujahrsansprache 2003 -,
trotz des Transrapidfans Stolpe, der sich als solcher im
NDR-Inforadio Anfang des Jahres geoutet hat und im
Focus vom 30. Dezember 2002 mit den Worten zitiert
wird, Hamburg-Berlin sei seine Traumstrecke, passiert
in Wahrheit gar nichts. Ihre Haltung zu dieser Zukunftstechnologie hat sich in all den Jahren, seitdem eine
CDU/CSU-FDP-geführte Bundesregierung am 2. März
1994 die Bauentscheidung für Hamburg-Berlin getroffen hat, nicht geändert.
({2})
Dirk Fischer ({3})
Nur sind Sie nicht mehr so ehrlich wie damals, als beispielsweise die Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, Heide Simonis, am 15. Februar 1997 in der Sächsischen Zeitung sagte,
({4})
der Transrapid führe verkehrspolitisch ins Abseits, finanziell in den Sumpf und industriepolitisch nicht zum
Ziel. Heute wird zwar anders gesprochen, aber es wird
unverändert genauso gedacht.
({5})
Rühmliche Ausnahme bleibt nur der ehemalige Hamburger SPD-Bürgermeister Henning Voscherau, der bereits am 9. Juli 2001 im Hamburger Abendblatt resigniert feststellte: Ich
musste nachträglich zusehen, wie das fast fertig
durchgeplante Projekt kurzsichtig vernichtet wurde
ohne gleichzeitige Kompensation durch die dann
selbstverständlich notwendige ICE-Neubaustrecke.
Sie kommt jetzt allerdings auch nicht.
Die DB AG und die rot-grüne Bundesregierung haben
die Transrapidpläne für Hamburg-Berlin am 5. Februar
2000 böswillig zerstört und dadurch Infrastrukturentscheidungen, die der Deutsche Bundestag getroffen hat,
in Wahrheit später zunichte gemacht. Die DB AG wäre
eigentlich für die Realisierung der Strecke zwischen den
beiden größten deutschen Städten nicht unersetzlich gewesen. Bahnchef Mehdorn hätte unter keinen Umständen erlaubt werden dürfen, die Bindungswirkung des
Magnetschwebebahnbedarfsgesetzes zu konterkarieren;
denn er hat - zitiert nach der Wirtschaftswoche - am
26. Juli 2001 wörtlich gesagt:
Den Leuten, die das Transrapidsystem zum Fernverkehrssystem in Deutschland erklären wollen, ist
leider der Größenwahn unter die Hirnschale gefahren.
So ist Mehdorns Einstellung zu dieser Technologie.
({6})
Auch den Fahrweg hätte jedes andere Industrieunternehmen bauen können, vielleicht sogar ohne die Verzögerungen und dramatischen Mehrkosten, an die wir uns
- ich erinnere an den Lehrter Bahnhof, die Neubaustrecke Frankfurt-Köln und die Neubaustrecke Nürnberg-Ingolstadt-München - mittlerweile schon viel zu
sehr gewöhnt haben.
Die beabsichtigte Übertragung der Betriebsführung auf die DB AG hätte zwar Parallelverkehre vermieden, den Fernverkehr so auf den Transrapid gebündelt und eine unternehmensinterne Verknüpfung
- Vermarktung, Fahrplan, Fahrpreise, Gepäck - ermöglicht. Allerdings wollte die DB AG niemals wirklich
eine Alternative zum traditionellen Rad-Schiene-System
zulassen. Mehdorn sagte am 26. Januar 2000 vor dem
Verkehrsausschuss wörtlich: Ich will diese Technologie
in meinem System nicht haben. Dann ist er für die Anwendung dieser Technologie eigentlich auch nicht der
richtige Partner.
({7})
Meine Damen und Herren, Rot-Grün hat den Transrapid gegenüber der herkömmlichen Rad-Schiene-Technik niemals fair und ordnungspolitisch gleich behandelt.
Folgende Äußerung der damaligen SPD-Abgeordneten
und heutigen Parlamentarischen Staatssekretärin
Mertens
({8})
ist für Ihre total unaufrichtige Politik in dieser Sache bezeichnend:
({9})
Das milliardenschwere Prestigeobjekt Transrapid
hatte einen gravierenden Schönheitsfehler: Es basierte nicht auf seriösen Wirtschaftlichkeitsberechnungen, sondern auf dem Prinzip Wunsch und Wolken.
Dies sagte sie am 18. Februar 2000 im Deutschen Bundestag.
({10})
Sie wissen, Herr Schmidt, dass beim Rad-Schiene-System die Infrastruktur aus dem Haushalt bezahlt wird. Die
Refinanzierung des Fahrwegs oder gar steuerliche
Abschreibungen werden nicht in die Wirtschaftlichkeitsberechnungen einbezogen. Beim Transrapid Hamburg-Berlin sollten die Kosten für den Fahrweg vom Betreiber durch das Nutzungsentgelt auch noch peu à peu
zurückverdient werden. Natürlich hat dies für die Ertragserwartung eines Betreibers äußerst negative Konsequenzen. Dass er dann lieber einen Schienenweg geschenkt
nimmt, als dass er die Kosten für einen Transrapidfahrweg
zurückverdienen muss, ist aus seiner egoistischen unternehmerischen Position heraus verständlich. Das Verhalten
des Staates jedoch ist ordnungspolitisch absolut skandalös, benachteiligend, unfair und unverständlich. Deswegen darf dieses Verhalten nicht fortgeführt werden.
({11})
Zudem werden die hohen Kostenüberschreitungen
beim ICE-Streckenbau wie selbstverständlich akzeptiert.
Ist es dann fair, beim Transrapid eine Abrechnung zum
Schätzkostenpreis von 6,1 Milliarden DM ohne Inflationsausgleich zu verlangen?
Jetzt betreiben Sie Nahverkehrskonzepte. Aber der
Transrapid ist doch von Schmidt und Leber nicht in erster Linie als ein Vorortszug konzipiert worden. Als solcher lässt er sich auch einsetzen; aber das ist nicht sein
Dirk Fischer ({12})
primäres Anwendungsziel gewesen. Nur auf einer Langstrecke - die Strecke Hamburg-Berlin beträgt 292 Kilometer - kann er das Geschwindigkeitspotenzial der Magnetschwebetechnik voll ausnutzen. Nur hier ist der
Transrapid eine echte Alternative zum Flugzeug, zum
ICE und zum Auto.
Hamburg und Berlin sind dynamisch wachsende Ballungszentren, zwischen denen die Sinnhaftigkeit und Effizienz einer Transrapidverbindung am überzeugendsten
nachgewiesen werden kann. Das Transrapidprojekt zwischen Hamburg und Berlin ist technisch und wirtschaftlich nach wie vor machbar, es ist durchgeplant und bewertet. Die Verbindung brächte eine enorme
Entwicklungsdynamik in den norddeutschen Raum und
in die Region Berlin-Brandenburg.
({13})
Deswegen, meine Damen und Herren, fordert die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion nachdrücklich die Wiederaufnahme dieses Projektes. Geben Sie endlich die
richtige Antwort auf die globalen Herausforderungen
des Massenverkehrs im 21. Jahrhundert!
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Albert Schmidt,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Debatte um den Transrapid Hamburg-Berlin ist eine mumifizierte Debatte.
({0})
Sie haben heute nicht einen einzigen Satz gesagt, von
dem ich Ihnen nicht schon vorher hätte sagen können,
dass er kommt. Ich kenne die Sätze inzwischen auswendig. Ich sehe gar nicht ein, warum so viele so hoch bezahlte Leute, wie sie hier sitzen, den Rest des Abends
verschwenden sollen, bloß weil sich der Kollege Fischer
nicht von seiner transrapidalen Fixierung lösen kann.
({1})
Ich verzichte daher auf den Rest meiner Redezeit,
denn ich könnte auch nichts Neues dazu sagen. Alles ist
hundertmal gesagt worden und es ist richtig entschieden
worden. In diesem Sinne wünsche ich einen schönen
Abend.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Horst Friedrich,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrter Herr Kollege Weis, Sie werden kaum erleben, dass ich mich hierher stelle und nicht weiß, was
ich sagen soll. Ich mache es mir nicht ganz so einfach
wie der Kollege Schmidt, der sagt, alles sei schon gesagt
und deshalb solle man zum Tagesgeschäft übergehen. Zu
diesem Thema ist leider noch nicht alles gesagt und es
ist tatsächlich so, dass in weiten Bereichen mit falschen
Zahlen und Argumenten immer wieder Gegenteiliges
behauptet wird.
Ich erinnere an die Anhörung zum Transrapid, die
wir vor der Planung der Strecke Hamburg-Berlin gehabt
haben. Uns wurden von Rot-Grün - damals in der Opposition - Berechnungen von der Deutschen Bahn und anderen vorgestellt, die lauteten: Für 1 Milliarde DM sei
auf der Strecke von Hamburg nach Berlin eine ICE-Qualität zu schaffen, mit der die Fahrtzeit zwischen diesen
beiden Zentren 90 Minuten betrage. Deswegen sei der
Transrapid überflüssig.
Die Realität sieht so aus: Bis jetzt sind 1,935 Milliarden Euro in die ICE-Strecke Hamburg-Berlin geflossen, mit der Konsequenz, dass der Zug nach wie vor
160 Stundenkilometer fährt. Laut aktueller Prognose
müssen weitere 700 Millionen Euro investiert werden,
um tatsächlich irgendwann 230 Stundenkilometer zu
fahren. Wenn man das zusammenzählt, ist man bei ungefähr 2,7 Milliarden Euro, also umgerechnet etwa
5,4 Milliarden DM. Ich erinnere daran, dass es angeblich
für 1 Milliarde DM zusätzlich funktionieren sollte. Das
ist ungefähr die Größenordnung, um die die Bahn bei all
ihren Fernstrecken gegenüber den Planzahlen im Negativen abweicht. Insofern wäre es zumindest reeller gewesen, diese Situation auch bezogen auf den Transrapid anständig zu erörtern.
({0})
Fakt ist allerdings auch, dass die Planung nach Fertigstellung von 19 der insgesamt 20 Planfeststellungsabschnitte gestoppt worden ist, dass das Magnetschwebebahngesetz aufgehoben wurde und alle Vorbedingungen
weg sind. Ob nun tatsächlich im Jahre 2004 oder 2005
nach Fertigstellung der ICE-Strecke zusätzlich eine
Transrapidstrecke verwirklicht werden kann, ist auch
von unserer Seite mit einem Fragezeichen zu versehen.
Umgekehrt - das ist das eigentlich Entscheidende -:
Mit jeder weiteren Strecke, die über die beiden jetzt auf
Wunsch der Regierungskoalition hinaus zu diskutierenden Strecken des Metrorapid und der Strecke vom Flughafen zum Hauptbahnhof München hinaus geht, gebe
ich dieser famosen Mehrheit die Möglichkeit, sich vor
der eigentlichen Entscheidung zu drücken, die Technik
tatsächlich umzusetzen. Nicht weil wir gegen die Transrapidstrecke Hamburg-Berlin sind, sondern weil ich den
Zeitpunkt für diesen Antrag für taktisch falsch halte,
werden wir uns bei der Abstimmung enthalten.
Danke sehr.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Norbert Königshofen, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, die Ablehnung unseres Antrags ist ein schwerwiegender Fehler.
({0})
- Doch, ein schwerwiegender Fehler, Herr Schmidt. Das
ist ein schwerer Schlag gegen die Exportchancen deutscher Technik.
({1})
Die Argumente, die Sie vorgebracht haben, sind
- wenn man genau hinschaut - nur Ausreden. Wenn Sie
unserem Antrag zustimmen würden, würde die Strecke
Berlin-Hamburg die Strecke sein, auf der man die Vorzüge dieser deutschen Technik vorführen könnte:
Schnelligkeit und Umweltfreundlichkeit. Deswegen bin
ich von Ihrer Einlassung sehr enttäuscht.
Stattdessen halten Sie an dem verkehrspolitisch unsinnigen Metrorapid-Projekt im Ruhrgebiet fest. Dass
Sie auf Ihre Redezeit verzichten, Herr Schmidt, bedauere
ich deswegen besonders, weil ich gerne gehört hätte, wie
Sie sich dazu einlassen.
({2})
- Natürlich ist das Gegenstand der Debatte.
({3})
Sie können die Strecke Hamburg-Berlin nur im Zusammenhang mit den anderen Strecken sehen. Denn nur weil
Herr Mehdorn die Strecke Hamburg-Berlin auf Ihren
Wunsch hin kaputtgemacht hat, sind Sie zu den Alternativstrecken übergegangen, die von vornherein schlechter
geeignet waren als die ursprünglich geplante Strecke.
Das ist die Wahrheit. Jetzt hoffen Sie darauf, dass das
Vorhaben im Laufe der Zeit scheitert und Sie sich nicht
dazu äußern müssen. Deswegen hätte ich es begrüßt,
wenn Sie sich heute dazu geäußert hätten, Herr Schmidt.
Der Bund soll das Metrorapid-Projekt im Ruhrgebiet
mit insgesamt 2,3 Milliarden Euro fördern.
({4})
Davon sollen zunächst 1,75 Milliarden Euro fließen.
Herr Stolpe hat weitere 0,25 Milliarden Euro zugesagt.
({5})
Hinzu kommen weitere 338 Millionen Euro nach dem
Bundesschienenwegeausbaugesetz. Das macht zusammen mehr als 2,3 Milliarden Euro.
Der Metrorapid wird aber seine Fahrgäste zu
75 Prozent dem bestehenden Rad-Schiene-System wegnehmen. Dabei handelt es sich nicht um Vernetzung, lieber Herr Kollege Bruckmann; vielmehr ist das, was in
diesem Zusammenhang betrieben wird, Kannibalismus.
Das heißt, der Metrorapid wird die anderen Strecken
aussaugen.
({6})
- Herr Ströbele, Sie haben bei anderen Punkten genug
Zeit, sich zu äußern. Hören Sie jetzt einmal den Experten
zu!
({7})
Fernreisende aus dem Ruhrgebiet werden künftig gezwungen, in Dortmund oder Düsseldorf umzusteigen.
({8})
Der Metrorapid, den Sie statt auf der Strecke Hamburg-Berlin im Ruhrgebiet fahren lassen wollen, wird
alle 13 Kilometer halten. Wie Sie damit der Welt die
Vorzüge dieses modernen Systems zeigen wollen, bleibt
Ihr Geheimnis.
Der Bundesrechnungshof hat - das wird gerne verschwiegen; deswegen meiden Sie auch diese Debatte schon festgestellt, dass dieses Projekt nicht realisierungswürdig ist. Denn der Kosten-Nutzen-Quotient liegt
weit unter 1.
Bei einigen von Ihnen setzt zurzeit eine gewisse
Nachdenklichkeit ein. Ich habe mit Interesse festgestellt,
dass der Haushaltsausschuss nur 20 Millionen der
80 Millionen Euro, die Nordrhein-Westfalen gefordert
hat, freigegeben hat; 60 Millionen Euro sind eingefroren
worden.
Nordrhein-Westfalen selbst verfügt nicht über die benötigten Mittel; es muss sich diesen Betrag leihen. Die
Situation, in der sich Nordrhein-Westfalen befindet, ist
uns ein bisschen aus Südamerika bekannt.
({9})
- Ich kann doch über mein Bundesland Nordrhein-Westfalen nicht gut reden, weil Sie dort bereits seit 1966 die
Regierung stellen. Das kann doch nicht gut gehen!
({10})
Die Grünen hoffen, dass auf der Basis der freigegebenen 20 Millionen Euro nachgewiesen wird, dass sich das
ganze Projekt nicht rechnet. Das Projekt wird nach Aussage von Experten einen jährlichen Zuschuss von
90 Millionen Euro erfordern. Deshalb wird auch aus der
Public Private Partnership nichts. Denn niemand wird in
das Projekt investieren, wenn er nichts davon hat.
Insofern haben Sie Recht, Frau Mertens: Was zurzeit
läuft, ist sozusagen Wunsch und Wolke. Deshalb darf ich
Sie auffordern: Stimmen Sie unserem Antrag zu!
({11})
Sie können damit dazu beitragen, dass die Strecke Hamburg-Berlin mit unserer deutschen Technik zur Musterstrecke für die Welt wird. Alles andere ist zum Scheitern
verurteilt.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen auf Drucksache 15/489 zu dem Antrag
der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel TransrapidProjekt Berlin-Hamburg unverzüglich wieder aufnehmen. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/300 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung
der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Detergenzien KOM ({1}) 485 endg.; Ratsdok. 12319/02
- Drucksachen 15/173 Nr. 2.79, 15/736 Berichterstattung:
Abgeordnete Heinz Schmitt ({2})
Marie-Luise Dött
Dr. Antje Vogel-Sperl
Birgit Homburger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen gewesen. Da
aber die Kollegen Heinz Schmitt ({3}), Marie-Luise
Dött, Eberhard Gienger, Dr. Antje Vogel-Sperl und
Birgit Homburger ihre Reden zu Protokoll gegeben ha-
ben, entfällt die Aussprache1).
1) Anlage 4
Wir kommen deshalb zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch
die Bundesregierung über einen Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates
über Detergenzien, Drucksache 15/736. Der Ausschuss
empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe!
- Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der FDP bei
Enthaltung der CDU/CSU angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Annette
Widmann-Mauz, Dr. Norbert Röttgen, Ilse
Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Versorgungsausgleich umgehend regeln Keine Schlechterstellung von Frauen bei der
Alterssicherung
- Drucksachen 15/354, 15/953 Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Irmingard Schewe-Gerigk
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach.
Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Frau Granold,
ich bitte um Nachsicht. Ich drängle mich nicht vor, sondern werde gedrängt.
Das Bundesministerium der Justiz hat bereits in der
ersten Beratung des Unionsantrags darauf hingewiesen:
Das Recht des Versorgungsausgleichs gehört zu den
schwierigsten Materien überhaupt. Dies scheint manche
geradezu herauszufordern, ungerechtfertigte Ängste in
der Öffentlichkeit zu schüren sowie die Bürgerinnen und
Bürger im Land zu verunsichern. Ich kann im Interesse
der betroffenen Ehegatten - um diese sollte es doch eigentlich gehen - nur appellieren, zu einer sachgerechten Diskussion zu finden.
Die Bundesregierung hat dazu ihren Beitrag geleistet.
Wir sind den Wünschen der gerichtlichen und der rechtsanwaltlichen Praxis gefolgt und haben die Barwert-Verordnung teilaktualisiert. Wenn der Bundesrat der Änderung dieser Verordnung am 23. Mai dieses Jahres
zustimmen wird - nach der gestrigen Entscheidung im
Rechtsausschuss des Bundesrates hoffe ich, dass er das
tun wird -, wird diese noch in diesem Monat der Praxis
zur Verfügung stehen, so wie es die Bundesministerin der
Justiz am 13. Februar dieses Jahres an dieser Stelle angekündigt hat. Damit sind wir aber noch nicht am Ende.
Wir müssen über den Versorgungsausgleich vor dem
Hintergrund der Alterssicherung der Frauen diskutieren. Auch die Verfasserinnen und Verfasser des Antrages
machen sich hierüber Gedanken. Das ist verdienstvoll;
denn die Bilanz ist in der Tat ernüchternd. Die durchschnittlichen Alterssicherungsleistungen, die Frauen
heute aufgrund eigener Ansprüche aus der gesetzlichen
Rentenversicherung beziehen, liegen deutlich unter denjenigen der Männer. In den alten Bundesländern erreichen sie gerade einmal ein gutes Drittel der Leistungen,
die Männer erhalten. Die Ursachen sind bekannt: die geringere Anzahl von Erwerbsjahren, Arbeit in Wirtschaftszweigen und Berufen mit unterdurchschnittlichen
Arbeitsentgelten, mehr Teilzeit, Erziehungsarbeit oder
Pflege von Familienangehörigen, als dies bei den männlichen Erwerbstätigen der Fall ist.
Immerhin gibt es einen positiven Trend: Der Anteil
von Frauen mit eigener Alterssicherung steigt deutlich
an. So wächst - ganz im Sinne der Zielsetzung der Bundesregierung - die Quote erwerbstätiger Frauen zumindest in den alten Bundesländern. In den neuen Bundesländern war sie schon immer höher. Je höher die
Qualifikation ist, umso geringer sind die Unterschiede
zwischen Männern und Frauen beim Einkommen.
Daneben greifen zunehmend Veränderungen im
Recht der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Einführung der kindbezogenen Höherbewertung von Beitragszeiten durch die Rentenreform 2001 war sicherlich ein
ganz wichtiger Schritt. Auch die staatliche Förderung
der ergänzenden kapitalgedeckten Alterssicherung enthält Familienkomponenten, die oftmals Frauen zugute
kommen. Vor allem aber verstärkt die Bundesregierung
die Bemühungen, Frauen bei und nach der Kindererziehung im Beruf zu halten, etwa durch die Verbesserung
der staatlichen Kinderbetreuung.
Aber wir alle wissen, dass der Weg weit ist. Bei allen
Bemühungen wird zwischen der Versorgungssituation
von Männern und der Versorgungssituation von Frauen,
die Kinder erziehen, auf absehbare Zeit eine Lücke bleiben. Im Normalfall werden diese Unterschiede innerhalb
der Ehe, also zwischen den Ehegatten, ausgeglichen. Damit können aber diejenigen Frauen nicht rechnen, deren
Ehe scheitert. Hier setzt der Versorgungsausgleich an.
Der Alterssicherungsbericht 2001 zeigt, dass geschiedene Frauen im Vergleich zu verheirateten Frauen über
deutlich mehr eigene Versorgungsanrechte verfügen.
Das ist in erheblichem Maße auf den Versorgungsausgleich zurückzuführen. Der Versorgungsausgleich ist damit ein wesentliches Instrument, um das Prinzip der
Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Fall der
Ehescheidung zu verwirklichen. Dieses Instrument gilt
es zu sichern.
Wer sich mit der Materie näher befasst - das haben
wir getan -, der wird feststellen, dass der Gesetzgeber
seit etwa 20 Jahren die immer gleichen Probleme vor
sich herschiebt. Die Teilaktualisierung der Barwert-Verordnung ist nur eine Zwischenlösung. Eine grundlegende Strukturreform des Versorgungsausgleichs ist
notwendig.
Erstens. Diese muss ein einfaches, klares und transparentes Recht schaffen. Die Zersplitterung der Vorschriften - einige stehen im BGB, andere in verschiedenen
Nebengesetzen - müssen wir bereinigen.
Zweitens. Die Strukturreform muss auch die materiellen und verfahrensrechtlichen Probleme des Versorgungsausgleichs zufriedenstellend lösen. Für den Versorgungsausgleich bei nicht voll dynamischen Anrechten
sollten wir die Realteilung so weit wie möglich einführen. Wir müssen auch prüfen, ob die Aufgaben bei
Durchführung des Versorgungsausgleichs zwischen den
Familiengerichten und den Versorgungsträgern neu aufgeteilt werden sollen.
Drittens. Die Strukturreform muss vor allem die weitere Entwicklung der Alterssicherungssysteme bewältigen. Sie muss also auch neue Altersvorsorgeformen wie
die Riester-Rente einbeziehen. Eine Kommission aus
namhaften Expertinnen und Experten, die im Bundesministerium der Justiz an der Lösung dieser Probleme des
Versorgungsausgleichs arbeitet, wird hierzu Vorschläge
vorlegen. Damit kann die Strukturreform des Versorgungsausgleichs noch in dieser Legislaturperiode auf
den Weg gebracht werden.
Wer den Versorgungsausgleich bewahren will, der
muss ihn fortentwickeln. Ich bin sehr gespannt, ob die
Verfasser des Entschließungsantrags, über den heute zu
entscheiden ist, den Mut dazu haben. Ich habe da meine
Zweifel. Man scheint sich zu sehr an alte, wohl bekannte
Denkweisen im Versorgungsausgleich zu klammern.
({0})
Aber ich lasse mich gerne positiv überraschen. Ich freue
mich auf die Zusammenarbeit, die immer wieder angemahnt wird und zu der wir gerne bereit sind.
Vielen Dank fürs Zuhören. Frau Präsidentin, vielen
Dank für Ihre Großzügigkeit.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Granold, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatssekretär, Sie haben dankenswerterweise die
schlechte Alterssicherung der Frauen aufgrund ihrer typischen Erwerbsbiografien beschrieben und damit die
Berechtigung unseres Antrags - Sie haben ihn inhaltlich
auch als konstruktiv bezeichnet - bestätigt.
Lassen Sie mich aber doch einige Ausführungen zu
unserem Antrag und zur Historie machen. Ich bedauere
ein wenig die Schärfe in Ihren Ausführungen.
({0})
Sie haben uns unterstellt, dass unsere Novellierungsvorschläge rückwärts gerichtet sind. Sie werden in der Beratung sehen, dass es anders ist.
Wir haben bereits vor knapp drei Monaten an dieser
Stelle über das Thema gesprochen, das zwar nur einen
Teil unserer Bevölkerung, nämlich die von Scheidung
Betroffenen, berührt, dies aber in einer Weise, die von
existenzieller Bedeutung ist. Es geht um den Versorgungsausgleich, das heißt, um die Klärung der Frage,
wie und in welchem Umfang von Ehegatten in der Ehezeit erworbene Anwartschaften auf Altersversorgung bei
der Scheidung ausgeglichen werden. Da es eine Vielzahl
recht unterschiedlicher Versorgungsrechte gibt - betriebliche Zusatzversorgungen mit festen Auszahlungsbeträgen oder dynamisiert, berufsständische Altersversorgungssysteme, Lebensversicherungen und andere -,
müssen diese verschiedenen Versorgungsrechte mit der
Versorgung nach dem Prinzip der gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbar gemacht werden. Das geschieht mithilfe der Barwert-Verordnung, über die wir
heute unter anderem sprechen.
Nun hat bekanntlich der Bundesgerichtshof in seinem
Beschluss vom September 2001 eine weitere Anwendung
der Barwert-Verordnung über den 31. Dezember 2002 hinaus wegen der veralteten Parameter ausgeschlossen. Bis
dahin hatte die Bundesregierung Zeit, mit Zustimmung
des Bundesrats die Barwert-Verordnung zumindest bezüglich der biometrischen Daten, also Sterbe- und Invaliditätswahrscheinlichkeit, zu aktualisieren. Die letzte
Anpassung stammte aus dem Jahre 1984. Seitdem ist unter anderem die Lebenserwartung deutlich gestiegen.
Dies wiederum bedeutet, dass ein Versorgungsrecht
mehr wert ist. Eine fortdauernde Bewertung nach der alten Barwert-Verordnung würde zu einer Schlechterbewertung der betroffenen Anrechte führen. Damit würden
die ausgleichsberechtigten Ehegatten - das sind in der
Regel die Frauen; ich bestätige hiermit Ihre Ausführungen, Herr Staatssekretär - weniger Geld bekommen, als
ihnen tatsächlich zusteht. Da es hier um Rentenansprüche geht, brauche ich über die Bedeutung der Sache
wohl keine weiteren Ausführungen mehr zu machen.
Leider hat es die Bundesregierung trotz ausreichender
Zeit versäumt, fristgerecht eine novellierte BarwertVerordnung vorzulegen. Die Folge ist, dass die Familienrichter in Deutschland, die ohnehin hoffnungslos überlastet sind, seit dem 1. Januar 2003 die Scheidungsverfahren entweder insgesamt aussetzen, den Versorgungsausgleich vom Scheidungsverfahren abtrennen oder
teure versicherungsmathematische Gutachten einholen,
um den Barwert im konkreten Fall zu ermitteln. Das ist
ein Skandal.
({1})
Aufgrund der bereits seitens der Rechtsprechung und
der Literatur erhobenen gewichtigen Einwände weiß die
Bundesregierung seit langem - und nicht erst seit der erwähnten BGH-Entscheidung vom September 2001 - von
der dringend notwendigen Überarbeitung der nicht voll
dynamischen Rechte. Sie selbst hatte dies bereits in einem Schreiben vom November 2000 festgestellt. Dieses
Schreiben wird in dem BGH-Beschluss zitiert. Trotzdem
hat es weit mehr als zwei Jahre gedauert, bis die Bundesregierung Ende März 2003 die neue Barwert-Verordnung beschlossen hat, nämlich am 26. März 2003.
Die Welt ist damit aber noch lange nicht wieder in
Ordnung; denn es handelt sich hierbei nur um eine
Teilaktualisierung. Die Daten bezüglich Sterbe- und Invaliditätswahrscheinlichkeit sind zwar angepasst, aber
alle übrigen auf den Barwert eines Rechtes Einfluss nehmenden Bestimmungsgrößen des geltenden Rechts,
nämlich Rechnungszins, Rentendynamik und geschlechtsdifferenzierende Barwertfaktoren, bleiben unverändert.
So hätte zum Beispiel die Aktualisierung des Rechnungszinses von derzeit 5,5 Prozent auf realistische 3,5
oder 4 Prozent gerade für so genannte rentennahe Eheleute oder solche, die bereits Rente beziehen, erhebliche
positive Auswirkungen. Es wird also nach wie vor ein
Versorgungsausgleich stattfinden, der in der Regel zulasten der Frauen geht.
({2})
- Hören Sie meinen Ausführungen doch zu! Da können
Sie noch etwas lernen.
({3})
Wenn der Bundesrat, der der vorgelegten BarwertVerordnung noch zustimmen muss, seine Zustimmung
erteilt - Herr Staatssekretär, Sie haben auf die Sitzung
vom 23. Mai 2003 verwiesen -, dann geschieht das vor
dem Hintergrund, dass zum einen eine sofortige Neuregelung dringend geboten ist, um das rechtliche Vakuum
zu füllen und den Versorgungsausgleich auf eine verlässliche Grundlage zu stellen, und dass zum anderen das
neue Recht sowieso nur bis zum 31. Mai 2006 gelten
soll. Der Rechtsausschuss des Bundesrates hat in der Tat
in seiner gestrigen Sitzung ein eindeutiges Votum für ein
In-Kraft-Treten abgegeben, aber nur, damit die Gerichte
endlich wieder handeln und arbeiten können.
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang aus der
Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins vom Februar 2003 zu zitieren, die sich inhaltlich nur unwesentlich von der Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer unterscheidet:
Der Deutsche Anwaltverein nimmt mit Erleichterung zur Kenntnis, dass in absehbarer Zeit wenigstens eine provisorische nachgebesserte BarwertVerordnung entsprechend den Vorgaben des Bundesgerichtshofs erstellt werden soll.
({4})
- Hören Sie bitte zu, werte Kollegin von der SPD.
Der DAV hätte eine in jeder Hinsicht modernisierte
Barwert-Verordnung vorgezogen. Im forensischen
Alltag macht sich aber auch das Fehlen der Barwert-Verordnung so katastrophal bemerkbar - es ist
nicht zu hoch gegriffen, wenn man sagt, dass in eiUte Granold
nem Drittel der anstehenden Scheidungen Abtrennungen erfolgen -, dass jede, auch eine noch unvollständige Lösung begrüßt werden muss.
({5})
Auch wenn es Ihnen von der SPD-Fraktion nicht passt
und Sie es nach wie vor notorisch bestreiten, bleibt es
dabei, dass von der Untätigkeit der Regierung viele
Richter und Scheidungswillige vor Ort massiv betroffen
sind.
({6})
- Insbesondere die Frauen. - Die Zahlen des Deutschen
Anwaltvereins sind realistisch. Ich kann sie aus meiner
eigenen - ({7})
- Frau Kollegin, hören Sie doch einfach einmal zu, ich
lasse Sie doch sonst auch ausreden.
({8})
- Dann halten Sie doch Ihren Mund.
({9})
Ich kann diese Zahlen aus meiner eigenen Tätigkeit als
Scheidungsanwältin nur bestätigen.
Exemplarisch für eine Vielzahl von Entscheidungen
ist der Beschluss des Familiengerichts Mainz vom
5. März 2003, also aus meinem Bezirk. Ich zitiere:
({10})
Da die anzuwendende Bartwert-Verordnung ihre
Gültigkeit zum 31.12.2002 endgültig verloren hat
und die Bundesregierung ihrer Verpflichtung zur
Neufassung noch nicht nachgekommen ist, muss
das Verfahren bis zum 30.06.2003 ausgesetzt werden.
({11})
So lautet exemplarisch die Entscheidung eines deutschen
Gerichtes.
Die Union hat mit ihrem Antrag vom Januar dieses
Jahres ein Problem aufgegriffen, an das die Bundesregierung schon in der letzten Legislaturperiode nicht heran wollte. Der Versorgungsausgleich ist zwar in der Tat
ein komplexes und schwieriges Thema, dennoch haben
die Gerichte und die Bürger ein Recht auf eine lückenlose und gerechte Rechtsetzung. Ebenso muss die Bundesregierung ihrer Pflicht als Verordnungsgeber nachkommen, allemal dann, wenn das höchste deutsche
Zivilgericht unter Fristsetzung dazu auffordert.
Positiv anzumerken ist in diesem Zusammenhang lediglich das Bemühen der neuen Bundesjustizministerin
vom Oktober letzten Jahres, die Thematik anzugehen
und einen Gesetzentwurf zur Ergänzung und Änderung
des Rechts des Versorgungsausgleichs vorzulegen. Dieser Gesetzentwurf wurde allerdings nach der verheerenden Kritik aus der gerichtlichen und anwaltlichen Praxis
wieder zurückgezogen. Heute sind wir nun so weit, dass
ein Baustein aus dem Versorgungsausgleich, nämlich die
Barwert-Verordnung, teilweise statt in toto novelliert
wurde. So sieht es aus. Deshalb ist auch der Antrag der
Union noch nicht erledigt. Lediglich unser Hilfsantrag
wurde umgesetzt. Der Rest steht noch aus.
({12})
Die Bundesregierung hat jetzt mehrfach das dringende Erfordernis einer grundlegenden Überarbeitung
des Versorgungsausgleichs festgestellt - die von Ihnen,
Herr Staatssekretär, eben beschriebene Strukturreform und Taten angekündigt.
({13})
Was hierbei zwingend zu beachten ist, können Sie unserem Antrag entnehmen. Solange dies nicht umgesetzt ist,
ist unser Antrag auch nicht erledigt.
Wir werden weiterhin wachsam die Bemühungen der
Bundesregierung begleiten, insbesondere auch deshalb,
weil eine Vielzahl von Verfassungsgerichtsaufträgen zur
Gesamtreform des Versorgungsausgleichs vorliegt. Herr
Staatssekretär, ich denke, Sie sollten sich an die Arbeit
machen.
Vielen Dank.
({14})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich zu Beginn der Debatte eines festhalten,
verehrte Frau Granold: Selten haben wir in diesem
Hause über einen Antrag debattiert, der so überflüssig ist
wie dieser;
({0})
denn das zentrale Anliegen Ihres Antrages ist durch den
Kabinettsbeschluss vom 26. März dieses Jahres bereits
umgesetzt. Ich erlaube mir, Ihnen den Ablauf hier noch
einmal darzustellen.
Der Bundesgerichtshof hatte den Gesetzgeber in seinem Urteil vom 5. September 2001 dazu aufgefordert,
die Barwert-Verordnung den geänderten tatsächlichen
Verhältnissen anzupassen. Die Bundesregierung ist dieser Aufforderung durch den erwähnten Kabinettsbe3614
schluss nachgekommen und hat die notwendige Teilaktualisierung der Barwert-Verordnung vorgenommen.
Eigentlich könnten wir an dieser Stelle aufhören und
die Debatte wäre beendet. Alles, was Sie in Ihrem Antrag fordern, ist bereits erledigt.
({1})
Erforderlich wurde diese Änderung, da die biometrischen Daten als Grundlage der Barwert-Verordnung
schlicht und ergreifend veraltet waren. Die jetzige Neuregelung berücksichtigt deshalb die durchschnittlich gestiegene Lebenserwartung.
Obwohl es erst drei Monate zurückliegt, dass wir in
diesem Hause über die Barwert-Verordnung debattiert
haben - ich hatte damals eigentlich den Eindruck gewonnen, dass die offensichtlichen Missverständnisse
aufseiten der Antragsteller und Antragstellerinnen ausgeräumt worden seien -, erkläre ich es gerne noch einmal:
Bei der Barwert-Verordnung handelt es sich um
eine Umrechnungstabelle zur vergleichbaren Berechnung von dynamischen und nicht dynamischen Rentenansprüchen, das heißt von Rentenansprüchen der gesetzlichen Rentenversicherung und der Beamtenversorgung
gegenüber Altersversorgungsansprüchen, die nicht der
Entwicklung der Arbeitseinkommen folgen, insbesondere Betriebsrenten oder Renten aus Versorgungswerken. Im Fall einer Scheidung müssen selbstverständlich
sämtliche Ansprüche der ehemaligen Ehepartner und
Ehepartnerinnen berücksichtigt werden.
Damit diese unterschiedlichen Formen der Altersversorgungsansprüche vergleichbar gegeneinander aufgerechnet werden können, wird die Barwert-Verordnung
als Umrechnungshilfe verwandt, zu deren Berechnung
auch die biometrischen Daten einbezogen werden. Wir
haben festgestellt, dass durch diese Umrechnung sehr
viel an Wert verloren geht. Auch deshalb ist es notwendig, hier eine Änderung herbeizuführen.
Wie bereits ausgeführt, berücksichtigt die aktualisierte Verordnung nun die durchschnittlich höhere Lebenserwartung. Dies führt in der Konsequenz zu einer
Erhöhung des errechneten Barwerts. In der überwiegenden Zahl der Fälle kommt das der besseren sozialen Absicherung von Frauen zugute. Damit ist ein weiteres Anliegen Ihres Antrages, nämlich einer eventuellen
Schlechterstellung, wie Sie es bezeichnen, von Frauen
bei der Berechnung ihrer Altersversorgungsansprüche
gegenüber dem ehemaligen Ehepartner vorzubeugen,
bereits erledigt.
({2})
Darüber hinaus arbeitet die Bundesregierung - wir
haben es gerade von Herrn Staatssekretär Hartenbach
gehört - an einer umfassenden Strukturreform des
Versorgungsausgleichs, mit der eine grundlegende
Neuordnung zum Ausgleich nicht volldynamischer Versorgungsrechte angestrebt wird. Auch darüber haben wir
bereits anlässlich der Debatte im Februar gesprochen.
Bis zum In-Kraft-Treten dieser Neuregelung wird die
jetzt aktualisierte Barwert-Verordnung als Übergangsrecht zur Anwendung kommen. Sie bietet eine praktikable Lösung für die Familiengerichte und die weiteren
Anwender und Anwenderinnen in der Praxis.
Meine Damen und Herren von der Opposition, meine
Ausführungen haben gezeigt, dass es nicht einen Punkt
in Ihrem Antrag gibt, den die Bundesregierung nicht bereits umgesetzt bzw. zu dem sie nicht Initiativen ergriffen hätte. Insofern hätte ich mir gewünscht, Sie hätten
diesen Antrag zurückgezogen. Ich finde, wir sollten unsere Arbeitszeit effektiver nutzen. Es gibt wirklich wichtige Dinge, die wir hier zu erledigen haben.
({3})
Aber abgesehen davon werte ich das nochmalige Einbringen Ihres Antrages als Interesse am Zustandekommen einer kurzfristig für alle Beteiligten praktikablen
und gerechten Lösung. So nehme ich an, dass die CDUgeführten Länder am 23. Mai im Bundesrat der Änderung der Barwert-Verordnung zustimmen werden. Vielleicht überzeugen Sie bis dahin Ihre Kollegen und Kolleginnen aus Baden-Württemberg, den angekündigten
Maßgabebeschluss nicht einzubringen; denn der würde
die Frist bis zum In-Kraft-Treten der Verordnung nur unnötig verzögern.
({4})
Ich bitte Sie, das umzusetzen. Das ist im Interesse Ihres Antrages und im Interesse der Frauen.
Vielen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Laurischk,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Schewe-Gerigk, ich bin nicht der Auffassung, dass diese
Debatte völlig überflüssig ist. In der Debatte Ende März
habe ich die Justizministerin aufgefordert, die von ihrer
Vorgängerin nicht mehr bearbeitete Reform des Versorgungsausgleichsrechts anzupacken und sozusagen eine
nicht aufgeräumte Schublade aufzuräumen.
({0})
Mittlerweile kann man die Situation so beschreiben, dass
zwar die Schublade näher gesichtet wurde, aber doch
noch einiges aufzuräumen bleibt.
Der BGH hat in seiner Entscheidung vom
5. September 2001 die Barwert-Verordnung als nicht
mehr vereinbar mit den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen und rechtspolitischen Rahmenbedingungen
erachtet. Er hat deshalb den Gesetzgeber aufgefordert,
bis Ende 2002 - man höre und staune: bis Ende 2002 eine Neuregelung vorzulegen. Dies ist nicht geschehen.
Immerhin war der BGH weitsichtig genug, in seiner
Entscheidung zu erklären, dass zur Wahrung der
Rechtseinheit und im Interesse der Rechtssicherheit
in
der Übergangszeit bis zum In-Kraft-Treten einer Neuregelung weiterhin die Barwert-Verordnung der Barwertermittlung - jedenfalls im Regelfall - zugrunde zu
legen ist. Die Familiengerichte können ein Scheidungsverfahren bis zur Neuregelung der Barwert-Verordnung
auch ruhen lassen oder das Scheidungsverfahren abtrennen und mit dem Versorgungsausgleich abwarten.
Mittlerweile hat die Bundesregierung eine neue Barwert-Verordnung beschlossen, die aber nur bis zum
31. Mai 2006 in Kraft sein soll. Es wird also eine reine
Übergangsregelung, was nicht zufrieden stellen kann.
Die Biografie von Frauen hat sich gegenüber den
70er-Jahren grundsätzlich verändert, als der Versorgungsausgleich mit der Familienrechtsreform eingeführt
wurde. Die Grunddaten der bisherigen Barwert-Verordnung sind damit über 60 Jahre alt. Die veränderte Lebenssituation von Frauen und auch von Männern muss
deshalb dringend seinen Niederschlag in der Gesetzgebung finden.
({1})
Ursprünglich sollte der Versorgungsausgleich den Lebensunterhalt von geschiedenen Frauen im Alter sicherstellen. Dies betraf zum überwiegenden Teil Frauen, die
entweder nur wenige Jahre oder gar nicht erwerbstätig
gewesen waren. Mittlerweile ist es für die meisten
Frauen selbstverständlich, berufstätig zu sein und dementsprechend eigene Rentenanwartschaften aufzubauen.
Das Versorgungsausgleichsverfahren verzögert ein
ansonsten unkompliziertes Scheidungsverfahren oftmals unzumutbar. Daran sind nicht die Gerichte schuld,
sondern eine mühsam arbeitende Rentenversicherungsbürokratie, die bei der Klärung von Rentenansprüchen
mit Auslandsbezug oder von zu Zeiten der DDR erworbenen Anwartschaften oft völlig zum Erliegen kommt.
Hier kann ein Scheidungsverfahren leicht zwei Jahre und
länger dauern. Ein unkomplizierter Verzicht auf den Versorgungsausgleich, der sich bei geringen Ausgleichsansprüchen anbietet, ist nicht ohne richterliche Genehmigung oder Gang zum Notar möglich - aus liberaler Sicht
eine überholte Bevormundung von scheidungswilligen
Frauen und Männern.
Letztendlich sind die versicherungsmathematischen
Grundlagen des Versorgungsausgleichs kaum noch
nachvollziehbar und für Laien schlichtweg unverständlich. Das Prinzip der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit bleibt also auf der Strecke. Deshalb fordere ich
für meine Fraktion nachdrücklich, das Versorgungsausgleichsrecht neu zu durchdenken, neu zu konzipieren
und zu entbürokratisieren.
Ihre Ausführungen, Herr Staatssekretär, lassen mich
zumindest hoffen.
({2})
Ich halte den Antrag nicht für überflüssig; denn das
Thema Neufassung des Versorgungsausgleichsrechts
ist schon einmal liegen geblieben. Das wollen wir in dieser Legislaturperiode nicht noch einmal erleben.
Danke schön.
({3})
Die Kollegin Christine Lambrecht, SPD-Fraktion, hat
ihre Rede zu Protokoll gegeben1).
({0})
Wir kommen deshalb zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 15/953 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
mit dem Titel Versorgungsausgleich umgehend regeln Keine Schlechterstellung von Frauen bei der Alterssicherung. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/354 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen?
- Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP
angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralf
Göbel, Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Ausschreibung des BOS-Digitalfunks im Jahr
2003 einleiten
- Drucksache 15/816 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
Es wäre nach einer interfraktionellen Vereinbarung
für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die
Kollegen Hans-Peter Kemper, Ralf Göbel, Grietje
Bettin, Ernst Burgbacher und der Parlamentarische
Staatssekretär Fritz Rudolf Körper haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben.2)
Deshalb kommen wir zur Abstimmung. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/816 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie Zusatz-
punkt 13 auf:
1) Anlage 5
2) Anlage 6
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Zukunftsorientierte Energieforschung - Fusionsforschung in Deutschland und Europa
vorantreiben
- Drucksache 15/685 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katherina Reiche, Dr. Peter Paziorek, Thomas
Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Unterstützung für eine Bewerbung des Standortes Greifswald/Lubmin für den ITER ({4})
- Drucksache 15/929 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wäre für
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten sollte. Die Kollegen Ulrich
Kasparick, Dr. Martin Mayer ({6}), Michael
Kretschmer, Hans-Josef Fell und die Kollegin Ulrike
Flach sowie der Parlamentarische Staatssekretär
Christoph Matschie haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.1)
Wir kommen deshalb zur Abstimmung. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/685 und 15/929 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 9. Mai 2003, 9 Uhr,
ein und wünsche allen Kolleginnen und Kollegen sowie
den Besuchern einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.