Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Vorweg einige Mitteilungen: In den Beirat bei der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post
müssen nachträglich noch zwei stellvertretende Mitglieder der Fraktion der SPD gewählt werden. Als Stellvertreter des Kollegen Ulrich Kelber wird der Kollege
Manfred Helmut Zöllmer und als Stellvertreter des
Kollegen Hubertus Heil der Kollege Dr. Hans-Ulrich
Krüger vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die genannten Kollegen als stellvertretende Mitglieder in den
Beirat der Regulierungsbehörde gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Deutlich erhöhter Finanzbedarf der Bundesanstalt für Arbeit durch die unverändert hohe Arbeitslosigkeit und Äußerungen des Vorstandsvorsitzenden Gerster zur Notwendigkeit eines Bundeszuschusses ({0})
2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({1})
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Barbara Wittig,
Dr. Dieter Wiefelspütz, Wilhelm Schmidt ({2}),
Franz Müntefering und der Fraktion der SPD, den Abgeordneten Hartmut Büttner ({3}), Dr. Angela
Merkel, Michael Glos und der Fraktion der CDU/CSU,
den Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Volker Beck
({4}), Katrin Dagmar Göring-Eckardt, Krista Sager und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie
den Abgeordneten Gisela Piltz, Dr. Max Stadler,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes ({5})
- Drucksache 15/806 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes - Drucksache 15/810 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({7})
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 32 zu Petitionen
- Drucksache 15/829 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 33 zu Petitionen
- Drucksache 15/830 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 34 zu Petitionen
- Drucksache 15/831 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 35 zu Petitionen
- Drucksache 15/832 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung zur Berufung des früheren
Bundeswirtschaftsministers Werner Müller zum Vorstandsvorsitzenden des RAG-Konzerns
5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Scheer,
Doris Barnett, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt,
Hans-Josef Fell, Undine Kurth ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Internationale Konferenz für Erneuerbare Energien
- Drucksache 15/807 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Scheer,
Doris Barnett, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt,
Volker Beck ({13}), Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Initiative zur Gründung einer Internationalen Agentur zur
Förderung der Erneuerbaren Energien ({14}) - Drucksache 15/811 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H. Carstensen
({15}), Albert Deß, Helmut Heiderich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Hürden für die
Biotechnik abbauen - Drucksache 15/803 8 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes zur Änderung
des Gemeindefinanzreformgesetzes - Drucksache 15/510 ({16})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
({17})
- Drucksache 15/835 -
Redetext
Abgeordnete Horst Schild
Manfred Kolbe
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({0}) gemäß
§ 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/836 Berichterstattung:
Abgeordnete Dietrich Austermann
Carsten Schneider
Dr. Günter Rexrodt
9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen,
Rainer Funke, Otto Fricke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP: Opferschutz bei Terrorakten im Ausland
verbessern - Drucksache 15/34 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Stünker,
Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Jerzy
Montag, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN: Opferentschädigung verbessern - Drucksache 15/808 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bosbach,
Dr. Norbert Röttgen, Siegfried Kauder ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Opferentschädigung für deutsche Staatsangehörige, die bei vorübergehendem Aufenthalt im Ausland Opfer eines
Gewaltverbrechens werden - Drucksache 15/802 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Darüber hinaus wurde vereinbart, den Tagesordnungspunkt 17 - Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln bereits heute nach Tagesordnungspunkt 10 - Rüstungsexportbericht - zu beraten. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 2002 und Stellungnahme
der Bundesregierung
- Drucksache 15/788 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesministerin Edelgard Bulmahn das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Der vorliegende Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 2002 hat
zwei zentrale Botschaften: Erstens. Wirtschaftliches
Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze in Deutschland
werden davon abhängen, in welchem Umfang die Unternehmen die großen Chancen von neuen Technologien
nutzen und sie im internationalen Innovationswettbewerb tatsächlich einbringen.
Zweitens. Die Bundesregierung hat die entscheidenden Weichen dafür in den vergangenen Jahren richtig gestellt.
({0})
Es kommt jetzt in der Politik und in der Wirtschaft gleichermaßen darauf an, konsequent Kurs zu halten, um
weiter voranzukommen. Das Gutachten hat dazu eine
Fülle von Daten, Fakten und Analysen zusammengetragen. Ich will zunächst nur einige Punkte herausgreifen.
Erstens. Deutschland ist in der ersten Hälfte der
90er-Jahre bei seinen Ausgaben für Forschung und
Entwicklung zurückgefallen. Das war die Zeit, meine
sehr geehrten Herren und Damen von der Opposition,
also von CDU/CSU und FDP, in der Sie Investitionen
versprochen, aber in der Realität über Jahre hinweg gekürzt, gestrichen und verschoben haben.
({1})
Es war die Zeit, in der Sie viel über Zukunft geredet,
aber mit Ihrer Politik in Deutschland ein innovationsfeindliches Klima geschaffen und damit die Zukunft unseres Landes aufs Spiel gesetzt haben.
Mit dieser Politik ist seit 1998 glücklicherweise endlich Schluss.
({2})
Diese Bundesregierung hat das Ruder herumgerissen.
Wir haben die Mittel für Bildung und Forschung seit
1998 um mehr als 25 Prozent erhöht und wir haben
gleichzeitig die notwendigen Reformen angepackt. Mit
dieser klaren Politik pro Bildung und Forschung haben
wir auch in der Wirtschaft Kräfte freigesetzt und dem
Strukturwandel hin zur Wissensgesellschaft und zur
Wissenswirtschaft neuen Schwung verschafft.
({3})
Bereits im Jahr 2001 war der Anteil am Bruttoinlandsprodukt, den Staat und Wirtschaft für Forschung und
Entwicklung aufwenden, auf 2,5 Prozent gestiegen. Drei
Jahre zuvor lag der Anteil noch bei 2,2 Prozent.
In einem sehr schwierigen wirtschaftlichen Umfeld
haben Bund und Unternehmen auch im vergangenen
Jahr die Ausgaben für Forschung und Entwicklung weiter ausgebaut. Es ist uns also unbeirrt von konjunkturellen Zyklen gelungen, ein weit verbreitetes Bewusstsein
für die Bedeutung von Zukunftsinvestitionen zu schaffen. Das ist mir ganz besonders wichtig, weil das Bewusstsein für die Bedeutung von Investitionen in Bildung und Forschung für die kommenden Jahre
entscheidend ist.
Das Fundament der technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands wird in den Schulen und Hochschulen gelegt. Bildung und Forschung - das will ich
hier noch einmal deutlich unterstreichen - dürfen nicht
gegeneinander ausgespielt werden, so wie Sie das teilweise immer wieder tun.
({4})
Denn Investitionen in Bildung und Forschung sind sozusagen die Basis unseres Forschungssystems. Das gilt für
unser Programm „Zukunft Bildung“, mit dem wir unter
anderem 4 Milliarden Euro für die Schaffung von Ganztagsschulen zur Verfügung stellen. Das gilt auch für das
neue BAföG, mit dem wir einen Run auf unsere Hochschulen ausgelöst haben und mit dem wir es auch geschafft haben, dass der Anteil der Studienanfänger deutlich gestiegen ist, nämlich von 28,5 Prozent auf jetzt
35,6 Prozent. Damit liegen wir endlich in der Nähe jener
40 Prozent, die alle vergleichbaren Industrienationen im
Durchschnitt vorweisen können und die auch unser Ziel
sein müssen.
Bildung und Forschung gehören also zusammen. Das
gilt im Übrigen auch für die berufliche Bildung. Deshalb
war es so wichtig, dass es uns gerade in den technologieorientierten Berufen in den letzten Jahren gelungen ist,
eine deutlich größere Zahl von Ausbildungsplätzen zu
schaffen. Ich betone ausdrücklich, dass das auch für dieses Jahr und die kommenden Jahre gelten muss.
({5})
Ich sage noch einmal klipp und klar: Deutschland
steht im internationalen Wettbewerb um die besten
Köpfe, um Akademiker genauso wie um hoch qualifizierte Fachkräfte.
({6})
Wenn wir nicht wollen, dass der Mangel an naturwissenschaftlich-technischem Nachwuchs schon in wenigen Jahren zu einem zentralen Innovationshemmnis
wird, dann müssen wir heute mit aller Kraft gegensteuern. Wir tun das mit Erfolg, wie zum Beispiel gerade
auch die deutlich gestiegenen Zahlen der Studienanfänger in den naturwissenschaftlichen und auch in den ingenieurwissenschaftlichen Studienfächern zeigen.
({7})
Deutschland ist heute wieder der zweitgrößte Technologieexporteur der Welt. Hatte Mitte der 90er-Jahre nur
jede vierte Firma ein neues Produkt im Angebot, das auf
neuen Forschungsergebnissen beruhte, drängt heute
schon ein Drittel der Unternehmen mit einer Neuentwicklung auf den Markt. Deutschland verfügt inzwischen über die höchste Dichte innovativer Unternehmen
in Europa. Ein Exportvolumen von 275 Milliarden Euro
- das waren im Jahre 2002 rund 14 Prozent des Bruttoinlandprodukts - und knapp 3 der insgesamt 6 Millionen
Arbeitsplätze des verarbeitenden Gewerbes gehen auf
das Konto der forschungsintensiven Technologiegüter.
Die Tendenz ist weiter steigend.
Dabei ist im Übrigen viel zu wenig bekannt: Die
Technologieexporte aus den neuen Ländern stiegen seit
1996 durchschnittlich um 30 Prozent pro Jahr. Die technologische Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft
- das zeigen diese Zahlen - ist gut. Das ist für uns allerdings kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Wir
wollen im weltweiten Innovationswettlauf nicht nur
Schritt halten können; wir wollen vielmehr den Takt der
Entwicklung mitbestimmen. Das ist unser Ziel.
({8})
Deshalb werden wir das Tempo des strukturellen Wandels in den kommenden Jahren weiter beschleunigen. Zu
einer Wirtschaft, die auf Wissen und Innovationen setzt,
gibt es in Deutschland keine Alternative.
({9})
Die Bundesregierung ist sich ihrer daraus erwachsenen Verantwortung voll bewusst. Wir halten deshalb an
dem Ziel fest, das die Regierungschefs der EU in einer
bisher einmaligen Willenserklärung formuliert haben:
Bis 2010 sollen mindestens 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts in Forschung und Entwicklung investiert werden. Bereits in den kommenden Jahren werden wir deshalb auch bei der institutionellen Förderung wieder ein
Zeichen setzen und die Etats der großen Forschungsorganisationen um 3 Prozent erhöhen.
({10})
Vor einer Nagelprobe stehen wir jetzt allerdings in der
Wirtschaft. Die Fehler der Vergangenheit darf die Wirtschaft nicht wiederholen. Erfolge auf den Innovationsmärkten werden in Unternehmen nur dann dauerhaft
erwirtschaftet, wenn sie auch in konjunkturellen
Schwächephasen konsequent in Forschung und Entwicklung investieren.
({11})
Untersuchungen des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung zeigen: Unternehmen, die mit Produkten als Erste auf dem Markt sind, aber auch Branchen,
die wie zum Beispiel die deutsche Automobilindustrie
in überdurchschnittlichem Maße in Forschung und Entwicklung investieren, weisen überproportionale Arbeitsplatzgewinne auf. Zwischen 1997 und 2001 sind circa
92 000 zusätzliche Arbeitsplätze in F-und-E-intensiven
Branchen in Deutschland entstanden. Die Wirkung, die
diese Entwicklung auch auf die Zulieferindustrie hat, ist
ungleich größer. Das heißt, unsere wirtschaftliche Entwicklung hängt ganz entscheidend von diesen Unternehmen und Branchen ab. Deshalb sind günstige Rahmenbedingungen für Forschungsinvestitionen so notwendig.
Der Bericht unterstreicht ausdrücklich - das finde ich
sehr erfreulich -, dass wir hier in den letzten Jahren
durch eine gezielte Neuausrichtung der Forschungspolitik gute Erfolge erreicht haben und dass wir in die richtige Richtung gegangen sind.
({12})
Wir haben seit 1998 die Projektförderung in Unternehmen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen um
über 44 Prozent - das sind rund 750 Millionen Euro gesteigert. Projektförderung bedeutet mehr Wettbewerb.
Deshalb war es so fatal, dass Sie in der ersten Hälfte der
90er-Jahre die Projektförderung völlig nach unten gefahren haben.
({13})
Projektförderung bedeutet mehr Wettbewerb sowie eine
verbesserte Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft. Damit bildet sie die Plattform für einen besseren und leistungsfähigeren Technologietransfer zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Genau das ist es,
was wir in unserem Land existenziell brauchen. Hinzu
kommt die wichtige Initialwirkung für grundlegende
Technologieentwicklungen in der Wirtschaft. Auf jeden
staatlich finanzierten Forschungseuro legen die geförderten Unternehmen mindestens einen weiteren Euro
drauf. Auch dieser Zusammenhang spielt ganz offensichtlich eine große Rolle. Das ist effiziente Förderpolitik. Es ist wichtig, auch privates Forschungskapital zu
mobilisieren. Deshalb werden wir unsere Forschungsförderpolitik fortsetzen und weiter ausbauen.
({14})
Die wesentlichen Impulse für wirtschaftliches Wachstum und neue Arbeitsplätze gehen von einer begrenzten
Zahl von Technologien aus. Wir konzentrieren deshalb die
Forschungsförderung genau dort, wo die größte Hebelwirkung auf Wachstum und Beschäftigung zu erwarten ist.
Wir stärken deshalb mit einer hohen Priorität die Informations- und Kommunikationstechnologien; denn sie sind
die Wachstumsmotoren für viele andere Branchen.
({15})
Zwischen 20 und 25 Prozent des jährlichen Wirtschaftswachstums in Deutschland beruhen auf dem zunehmenden
Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnologien. Nachdem in den 90er-Jahren vor allem andere Länder, die stärker investiert haben, von diesen neuen Technologien profitierten, hat Deutschland auch hier wieder
Anschluss gefunden. Wir fördern den Ausbau bestehender
Märkte in der Mikrosystemtechnik, in den optischen Technologien und in der Materialforschung, weil wir diese
Technologien für viele andere Branchen benötigen. Auch
hier haben wir deutliche Weltmarkterfolge erzielt.
Wir erschließen außerdem neue Wachstumsfelder
durch die gezielte Förderung der Bio- und Nanotechnologie. Gerade in der Biotechnologie haben wir nach einem verschlafenen Start in den letzten Jahren im internationalen Vergleich viel aufgeholt. Die Zahlen sprechen
eine klare Sprache: Nirgendwo in Europa sind in den
letzten Jahren mehr neue Biotechnologieunternehmen
gegründet worden als in Deutschland. Deutschland liegt
inzwischen auch bei der Gesamtzahl der Unternehmen
an der Spitze. Im Übrigen ist hier ein erheblicher Arbeitsplatzzuwachs von 35 Prozent zu verzeichnen. Das
zeigt, dass die Forschungspolitik richtig fokussiert war.
({16})
Ich möchte kurz noch einen weiteren Punkt anreißen.
Mir ist es besonders wichtig, dass wir gerade die kleinen
und mittleren Unternehmen motivieren konnten, wieder
stärker in Forschung und Entwicklung zu investieren.
Die Zahl der kleinen und mittleren Unternehmen, die an
der Forschungsförderungspolitik meines Ministeriums
partizipieren, die also Forschungsförderungsmittel in
Anspruch nehmen, ist alleine in meiner Amtszeit um
über 60 Prozent gestiegen.
({17})
Das war notwendig und ist richtig. Deshalb werden wir
diesen Kurs fortsetzen.
({18})
Einen besonderen Akzent legen wir auf die so genannten Spin-offs. Allein diese technologieorientierten
Unternehmensgründungen schaffen rund 13 000 neue
Arbeitsplätze pro Jahr.
Kurz gesagt, meine sehr geehrten Damen und Herren:
Der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit
zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind und gute Voraussetzungen für Erfolg im internationalen Wettbewerb
geschaffen haben. Deshalb werden wir diese Politik auch
fortsetzen.
Vielen Dank.
({19})
Ich erteile Kollegin Katherina Reiche, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die technologische Leistungsfähigkeit Deutschlands hat weltweit einen guten Ruf; sie ist eine elementare Säule unseres Wirtschaftssystems. Deshalb ist der
Bericht, den wir heute diskutieren, auch das Schicksalsbuch unseres Wohlstandes. Daher lohnt es sich, die Entwicklungslinien genauer zu analysieren und daraus politische Schlüsse zu ziehen.
Ausgehend von einem hohen Stand an Innovationskraft gibt es ernste Warnsignale, die deutlich machen,
dass der Forschungsort Deutschland von seiner Substanz
lebt. Eine Entwicklung, die bereits Mitte der 90er-Jahre
einsetzte, hat sich seit 1998 unter rot-grüner Verantwortung dramatisch verschlechtert. Da hilft auch kein
Schönreden der Ministerin.
({0})
Dies zeigt beispielsweise die Bilanz der technologischen
Dienstleistungen: Wir kaufen in Deutschland mehr
Know-how ein, als wir exportieren.
({1})
Die entscheidende Vergleichsgröße dafür ist die Negativbilanz der technologischen Dienstleistungen; das
sind Patente, Lizenzen, Forschung und Entwicklung,
EDV- und Ingenieurdienstleistungen.
Laut Berechnungen der Deutschen Bundesbank belief
sich der Negativsaldo bei diesen technologischen
Dienstleistungen 1998 auf 2,5 Milliarden Euro, im Jahr
1999 schon auf 4 Milliarden Euro, 2000 dann auf
5 Milliarden Euro und 2001 schließlich auf 7,5 Milliarden Euro. Parallel dazu gab es einen rapiden Abbau bei
der Beschäftigung in F-und-E-intensiven Industriezweigen. Besonders besorgniserregend ist hier das Nachlassen von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der
Mittelständler. Dazu hält der Bericht lediglich lapidar
fest, Klein- und Mittelbetriebe hätten sich aus F und E
zurückgezogen.
Ein internationaler Vergleich der Liga ist immer wichtig, damit man sich nicht selbst täuscht, so der Bericht.
Deutschland will und muss im Technologiebereich in der
Weltspitze mitspielen; sonst werden wir die Probleme
bei uns in Deutschland nicht lösen und die vor uns stehenden Herausforderungen nicht bewältigen können.
({2})
Die Messlatte im internationalen Vergleich darf auch
nicht nach unten gelegt werden. Unsere Konkurrenten
sind die USA und Großbritannien und nicht etwa die
Slowakei oder die baltischen Staaten.
({3})
Im Vergleich mit den G-7-Ländern sowie mit der
Schweiz, Schweden, Finnland, Niederlande und Korea
fällt Deutschland laut Bericht bei investiven Anstrengungen zurück; auch in der Spitze - so der Bericht sieht es nicht gut aus. Besonders im Bereich der Spitzentechnologien verlieren wir Weltmarktanteile. Wir fallen
als Bildungs- und Technologiestandort im internationalen Vergleich zurück.
Besonders bedenklich ist Folgendes - ich zitiere aus
dem Bericht -:
Es gibt nicht ein einziges Aggregat, bei dem man
sagen könnte: Deutschland hat seine Position signifikant verbessern können.
({4})
Die Innovationstätigkeit unserer Technologieunternehmen und die Gründungsneigung lassen nach; der
Gründungsboom ist vorüber. Auch die Zahl der Gründungen in forschungsintensiven Wirtschaftszweigen ist
seit 2000 rückläufig.
Weiter ist im Bericht nachzulesen:
Während in Deutschland zwischen 2000 und 2002
ein Plus von 6 Prozent ({5}) herausgekommen ist, gibt es in Schweden
jedoch knapp 30 Prozent, in den USA 25 Prozent
und selbst im rezessionsgeplagten Japan 15 Prozent.
Frau Bulmahn, das ist für uns ein Armutszeugnis.
({6})
Leider hat die Bundesregierung die eindeutigen
Kennzahlen in Bezug auf die technologische Leistungsfähigkeit Deutschlands zunehmend außer Acht gelassen.
Erschwerend kommt hinzu: Es fehlt eine Strategie, um
unsere technologische Leistungsfähigkeit zurückzugewinnen; es fehlt ein Konzept. Deshalb gilt es jetzt das
Ruder herumzureißen, eine Aufbruchstimmung zu erzeugen und einen Paradigmenwechsel in zwei wesentlichen Bereichen herbeizuführen: einmal in der Wirtschafts- und Finanzpolitik durch steuerliche Anreize,
durch eine Abgabenentlastung des Mittelstandes, durch
eine Senkung der Staatsquote und durch einen Bürokratieabbau und zum anderen im Bereich Bildung und Forschung durch eine Aufstockung der Investitionen auf
mindestens 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Frau
Bulmahn, wir haben es erst dann wieder geschafft, wenn
deutsche Nobelpreisträger nicht mehr in Amerika leben, forschen und dort ihre Preise bekommen,
({7})
sondern ihren Lebens- und Arbeitsschwerpunkt in
Deutschland haben.
({8})
Die hohe Bürokratiedichte, eine Flut zusätzlicher Vorschriften, ungünstige steuerliche Rahmenbedingungen,
schleppende Zulassungs- und Genehmigungsverfahren,
ein überregulierter Arbeitsmarkt, eine schwächelnde
Konjunktur, eine unsichere Rechtslage und Fachkräftemangel, all das ist Ursache dafür, dass die Umsetzung
von neuen Ideen in Deutschland derzeit schleppend verläuft.
({9})
Ein Haupthemmnis für Innovation und Expansion ist
die Kapitalknappheit. Im „Deutschen Biotechnologie
Report 2002“ von Ernst & Young ist nachzulesen, dass
der Boom in der Biotechbranche im Jahr 2001 nur durch
die Risikokapitalfinanzierung vor allem in der Startup-Phase und in der Expansionsphase möglich war.
Die Situation auf dem Risikokapitalmarkt sieht in
Deutschland derzeit jedoch schlecht aus. Der Anteil am
europäischen Risikokapitalmarkt ist von 18 Prozent auf
13 Prozent gefallen, während der Anteil Großbritanniens
auf 34 Prozent stieg. Wir drohen also in Europa und in
der Welt den Anschluss zu verlieren. Es gibt in Deutschland keinen Mangel an Arbeit, sondern einen Mangel an
Arbeitgebern.
({10})
Wir laufen Gefahr, im Biotechnologiebereich potenziell
lebensfähige Unternehmen zu verlieren ebenso wie eine
ganze Generation von Forschern, geistiges Eigentum
und damit auch den Anschluss.
Öffentlich finanzierte Forschung muss stärker an Innovationen orientiert werden. Dies geschieht am effektivsten, wenn ein substanzieller Anteil - das hat Frau
Bulmahn ausgeführt - im Wettbewerb vergeben wird.
Ganz besonders wichtig ist es deshalb, auch die Ressortforschung in den Wettbewerb einzubeziehen.
({11})
Es ist ein Unding, dass die 52 Ressortforschungseinrichtungen des Bundes mit 12 000 Wissenschaftlern und
9 000 Mitarbeitern bisher nicht einer systematischen
Evaluierung unterzogen wurden.
({12})
Sowohl die Evaluation der Leibniz-Institute als auch die
Programmförderung der Helmholtz-Zentren zeigt dies.
Damit Forschungseinrichtungen im Wettbewerb um
innovative Forschungsprojekte eigenverantwortlich und
flexibel agieren können, müssen sie ihre Profile selbst gestalten, eine autonomere Personal- und Gehaltspolitik betreiben sowie über den Mitteleinsatz und Investitionen
selbstständig entscheiden können. So müssten an die
Stelle des starren BAT-Gefüges flexible, frei aushandelbare Arbeitsverträge im Rahmen eines Wissenschaftstarifvertrages treten. Das würde auch den Personalaustausch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft erleichtern.
({13})
Es kommt außerdem darauf an, die Forschung aus den
Klauen der Bürokratie zu befreien. Auch Bürokratieabbau sorgt für mehr Freiheit der Forschung. Ich erinnere
nur an das De-facto-Moratorium im Bereich Biotechnologie oder an die noch nicht erfolgte Umsetzung der Biopatentrichtlinie hier in Deutschland.
({14})
Wir müssen uns auch fragen, ob wir immer am Bedarf
ausgerichtet ausbilden. Ich nenne in diesem Zusammenhang zum Beispiel die optischen Technologien und die
Nanotechnologien. Für beide Schlüsseltechnologien
werden zweistellige Wachstumsraten prognostiziert;
dennoch fehlen in diesen Hightechbereichen durchschnittlich 10 000 Fachkräfte.
Ich glaube, wir brauchen eine neue Technologiebegeisterung. Dafür müssen wir bei Lehrern, Eltern, Schülern und Studenten für die Bedeutung von Mathematik,
Natur- und Ingenieurwissenschaft verstärkt werben, weil
diese Bereiche für die Entwicklung unserer Gesellschaft
existenziell sind.
({15})
Frau Bulmahn, es ist eben nicht damit getan, dass wir
höhere Studienanfängerzahlen haben. Entscheidend ist
vor allem, was „hinten herauskommt“, also wie viele
Absolventen es schließlich gibt. Da besteht Nachholbedarf.
({16})
In diesem Bereich kann der Bund gemeinsam mit der
Wirtschaft und gemeinsam mit den Ländern Anstöße geben.
Ein Letztes. 1998 - ich weiß nicht, wer sich noch daran erinnert - hat der Exfinanzminister Lafontaine sein
Ressort zulasten seines Kollegen im Bereich Wirtschaft
ausgebaut. Das BMBF musste in diesem Zuge zwei wesentliche Bereiche, nämlich den Bereich Energieforschung und den Bereich Technologieförderung, an das
Wirtschaftsministerium abgeben. Den erhofften Erfolg
brachte das nicht. Es gibt eine mangelnde Koordinierung und eine ausgeprägte Schieflage in der Finanzausstattung. Frau Bulmahn, Sie sollten sich ernsthaft bemühen, diese Kompetenz jetzt zurückzuholen und Ihr
Ministerium zu stärken, damit aus dem jetzigen Bildungsministerium auch wieder ein Technologieministerium wird.
Deutschland besitzt nach wie vor ein immenses, von
der rot-grünen Bundesregierung aber nicht genutztes
Innovationspotenzial. Mit dem von mir beschriebenen
Paradigmenwechsel in der Wirtschafts- und Technologiepolitik könnte Deutschland wieder dahin kommen,
wohin es gehört, nämlich als Lokomotive an die Spitze
in Europa.
({17})
Von Rot-Grün ist diese Initialzündung nur schwerlich zu
erwarten. Deshalb fordern wir Sie auf, unsere Vorschläge umzusetzen.
Vielen Dank.
({18})
Ich erteile dem Kollegen Fritz Kuhn, Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man den Bericht genau liest, dann stellt
man fest, dass er, was den Technologiestandort Deutschland angeht, viel Licht, aber auch Schatten formuliert.
({0})
Nachdem ich Ihre Rede gehört habe, Frau Reiche, muss
ich sagen: Sie müssen den Bericht mit einer Spezialbrille
gelesen haben. Sie haben alles Positive einfach ausgelassen und nur kritische Fragen formuliert.
({1})
Ich will Ihnen einmal drei Beispiele dafür nennen,
was sich seit 1998 positiv verändert hat, und dann
will ich dieses 98er-Thema auch wieder verlassen.
Die F-und-E-Ausgaben des Bundes, die bei Ihnen 1997
und 1998 bei 8,2 Milliarden Euro lagen, haben wir im
Jahr 2002 auf 9,1 Milliarden Euro angehoben. Es gab
jetzt einige Einsparungen; aber in den nächsten Jahren
werden wir die F-und-E-Ausgaben des Bundes wieder
anheben. Anders als bei Ihnen also Wachstum in dem
Bereich!
({2})
Die Zahl der Inlandspatente ist gestiegen. Auch die
Zahl der Studienanfänger liegt um 8 Prozent höher als
1998, übrigens mit starken Zugewinnen bei den Anfängern in der Informatik. Wir haben also in allen Punkten,
die Sie uns jetzt vorgehalten haben, deutliche Verbesserungen gegenüber dem erzielt, was CDU und CSU angerichtet haben.
({3})
Frau Reiche, wenn Sie hier so fröhlich argumentieren,
man solle in Deutschland jetzt endlich die im Rahmen
der Lissabon-Strategie vereinbarten 3 Prozent des Bruttosozialprodukts für F-und-E-Ausgaben erreichen, dann
muss ich Ihnen Folgendes sagen: Sie verweigern sich
systematisch dem Subventionsabbau in entscheidenden
Bereichen,
({4})
fordern dann aber voller Vergnügen mehr für Forschung
und Technik. Das geht wirklich nicht. Daraus wird kein
Schuh. Sie müssen konsequent für Subventionsabbau eintreten und dürfen nicht im Vermittlungsausschuss des Bundesrats Ihre Zustimmung verweigern. Dann wäre Ihr Redebeitrag ehrlich. So ist er aber einfach politisch unseriös.
({5})
Ich stimme beiden, die schon geredet haben, in einem
Punkt zu: Die positive technologische Entwicklung in
Deutschland ist für die Fähigkeit unserer Wirtschaft, Arbeitsplätze zu schaffen, das A und O. Wir sind an der
Spitze bei dem Doppeltrend, dass auf der einen Seite die
Leute länger leben und auf der anderen Seite die Geburtenrate sinkt. Das kann man an unserem Standort nur
ausgleichen, wenn Technologie, Produktivitätswachstum
und Innovationen vermehrt werden. Wenn wir das nicht
schaffen, wird Deutschland seinen Wohlstand nicht halten können.
({6})
Deswegen ist es des Schweißes der Edlen wert, sich
wirklich mit der Frage zu befassen, wie man in Deutschland zu mehr technologischen Innovationen kommt.
({7})
Besondere Sorgen macht uns von den Grünen zum
Beispiel, wie schlecht die Diffusion von I-und-K-Technik in vielen Bereichen der Wirtschaft ist. Beim Handwerk, bei den Dienstleistungen, bei den produktionsnahen Dienstleistungen und bei den Finanzdienstleistungen
haben wir im EU-Bereich in den letzten Jahren so gut
wie kein Produktivitätswachstum, während im Vergleich
dazu in den USA ein Wachstum von 4 bis 5 Prozent vorhanden ist. Das wirft uns in diesen Bereichen zurück. In
den nächsten Jahren müssen wir uns mehr auf diesen
Punkt konzentrieren.
Ich möchte ein paar Punkte nennen, die uns in der
Frage, wie wir zu mehr Innovationen in Deutschland
kommen können, wichtig sind:
Erstens. Wir brauchen massive Reformen in der Bildungspolitik, schon in der Grundschule und in den Kindergärten angefangen. Ich finde, dass das, was die KMK
als Konsequenzen von PISA zustande bringt, zu langsam
geht.
({8})
Dass die schwarz-regierten Länder aus der Bund-Länder-Kommission aussteigen, ist in diesem Zusammenhang kein Vorteil, sondern nichts anderes als ein Nachteil.
({9})
Wir brauchen ein Bildungssystem, das Neugier, Kreativität, Teamfähigkeit und Methodenwissen zum Zentrum
der pädagogischen Auseinandersetzung und Arbeit
macht;
({10})
denn das sind die Schlüsselqualifikationen, die man für
Innovationen braucht.
Beispiel Lehrerfortbildung: In den USA müssen Lehrer in fünf Jahren 50 Stunden Fortbildung nachweisen;
in Deutschland ist es eher ein Hobby für diejenigen, die
ohnehin schon ambitioniert sind. Dies muss man in den
Ländern ändern. Ich sage deutlich: Wenn die Länder dies
nicht schaffen, dann muss der Bund nachhelfen, dass sie
die Veränderungen, die wir für die Förderung von Innovationen und die wirtschaftliche Entwicklung brauchen,
vornehmen.
({11})
Zweitens: Schritt für Schritt mehr Investitionen in
Forschung und Entwicklung in Deutschland. Die
3 Prozent, die die Ministerin genannt hat, sind eine richtige Zielgröße. Wir werden uns auf den Weg machen,
dies auch zu finanzieren, und zwar nicht mittels höherer
Verschuldung, wie Sie es propagieren, sondern systematisch über Subventionsabbau. Das ist nämlich der einzige
richtige Weg.
Dritter Punkt. Wir brauchen mehr Fachkräfte und
Menschen, die über hoch spezialisiertes Wissen verfügen. In den nächsten fünf bis sechs Jahren gehen in
Deutschland viele in Pension bzw. in den Ruhestand, die
über dieses Wissen verfügen. Da sage ich ganz klar an
Ihre Adresse, Frau Reiche: Wer wie Sie in der Zuwanderungspolitik eine totale Verweigerungshaltung an den
Tag legt, der gefährdet in gewisser Weise den Innovationsstandort Deutschland. Sie machen hier reaktionäre
Politik zulasten der Arbeitsplätze und unserer eigenen
Interessen.
({12})
Es gibt Schwierigkeiten - das haben Sie angesprochen - bei der Finanzierung von Innovationen, und
zwar nicht in der Phase der Existenzgründungen, sondern in den darauf folgenden Phasen, wenn mehr Geld
benötigt wird. Deswegen möchte ich vorschlagen, dass
wir uns rasch über das hinaus, was die Mittelstandsbank
in diesem Bereich tut, um die steuerlichen Rahmenbedingungen für innovative Betriebe kümmern. Die generelle Steuerpflicht für wesentliche Beteiligungen ist in
der Phase ein Hindernis.
({13})
Der Verlust des Verlustvortrages bei sich schnell ändernden Eigentümerstrukturen ist hier ein Hindernis. Auch
die Steuerpflicht für Lizenz- und Patentgebühren stellt
hier ein Hindernis dar. Ich rate allen in diesem Parlament, zu schauen, was Frankreich und England tun.
({14})
In der nächsten Zeit müssen wir neue Vorschläge machen, wie Innovationen steuerlich begünstigt werden
können.
({15})
- Hören Sie doch einfach in Ruhe zu. Vor allem Sie,
Herr Niebel, können das eine oder andere lernen.
Der nächste wichtige Punkt, den ich ansprechen
möchte, ist, dass wir Subventionen abbauen müssen.
Das Festhalten an alten Subventionen ist der Feind von
neuen Innovationen. An dieser Feststellung kommt man
nicht vorbei. Wer sich am Alten festklammert, der blockiert allein über die finanzielle Schiene die Entwicklung des Neuen.
({16})
Deshalb sagen wir: Förderung von Innovationen und
Abbau von Subventionen müssen in einem Zuge geschehen.
({17})
Ich komme zum Schluss und möchte dabei noch auf
eines hinweisen: Wenn man einmal in die Wirtschaftsgeschichte schaut und untersucht, welche Gesellschaften
mehr Innovationen hervorbringen, dann stellt man Folgendes fest: Es sind in der Regel Gesellschaften, die
über klare gemeinsame Ziele verfügen, auf diese bezogen ihre Techniken entwickeln und nicht einfach pauschal alle Techniken fördern, die ihnen möglich erscheinen. Ich sage Ihnen: Die Propagierung von Strategien
der nachhaltigen Entwicklung und von Strategien, die
zum Beispiel weg vom Öl in allen Technologiebereichen, insbesondere bei den Antriebskonzepten für das
Auto, führen, wird sich auch auf das Innovationsgeschehen an Hochschulen, Forschungsstätten und in den Entwicklungsabteilungen der Betriebe auswirken. Mein
Vorwurf an die Opposition lautet: Sie sind bezüglich solcher Ziele blind, deswegen haben Sie keinen klaren Innovationsbegriff.
({18})
Ich glaube, dass die Regierung auf einem guten Weg
ist, vor allem wenn sie mehr für nachhaltige Entwicklung
tut. Dafür stehen die Grünen. Wir werden uns auch weiter
dafür einsetzen, Frau Reiche.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat nun Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Kuhn, ich betrachte mit großem Interesse Ihre Äußerungen zum Thema Subventionen. Als Nordrhein-Westfälin
wäre ich Ihnen natürlich sehr dankbar, wenn Sie das einmal im Detail mit Frau Höhn bereden würden. Das wäre
sehr hilfreich für ein Land wie NRW, das weit unter dem
Durchschnitt liegt.
({0})
Liebe Kollegen, der Bericht zur technologischen
Leistungsfähigkeit ist für die Forschung und Entwicklung in Deutschland ungefähr das, was die Hannover
Messe für die Industrie ist: ein Spiegel der Fähigkeit einer
Volkswirtschaft zu Innovationen und ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Da haben Sie, Frau Bulmahn, natürlich die Bereiche aufgezählt - das nehme ich Ihnen nicht übel -, in
denen Fortschritte erzielt wurden. Aber der Tenor des
Berichtes insgesamt entspricht dem natürlich nicht, sondern er enthält eher das klare und deutliche Signal:
Deutschland fällt eher zurück, als dass es auf der Aufsteigerliste steht.
({1})
Der im Schnitt gute Bildungsstand der Bevölkerung
ist ein Plus; das sagt auch der Bericht. Aber wir alle, die
wir hier sitzen, wissen doch, dass unsere Bildungsanstrengungen im internationalen Bereich alles andere als
gut dastehen.
({2})
Wir sind international nicht in der Lage, mitzuhalten.
Die anhaltend schwache binnenwirtschaftliche Dynamik
wird auch weiterhin zu einem Zurückfahren der F-und-EBudgets der Unternehmen führen. Frau Bulmahn, bei
40 000 Unternehmenspleiten im Jahre 2002 ist dies auch
nicht verwunderlich. So sagt der Bericht eindeutig, dass
jetzt die Nagelprobe Ihrer Politik bevorsteht. Ich zitiere:
... Zukunftsinvestitionen in Forschung - und dies
gilt parallel auch für die Bildung - sind das Letzte,
was dem konjunkturellen Rotstift der Haushaltskonsolidierung zum Opfer fallen darf ...
Da müssen Sie sich fragen lassen, Frau Bulmahn, ob
eine Nullrunde bei den großen Forschungsorganisationen mit Ausnahme der DFG, ob ein Zurückfahren des
Haushaltes des BMBF dem wirklich entspricht.
({3})
Wenn Sie das Ganztagsschulprogramm, das eigentlich
ein Familienprogramm ist und deswegen gar nicht in Ihren Haushalt gehört und auch nicht drinsteht, nicht immer hineinrechnen würden, dann hätten Sie sogar einen
sinkenden Haushalt.
Bei der Technologieförderung sieht es noch düsterer
aus. Wenn Sie die Ausgaben für Technologieförderung
in Ihrem Ministerium und im BMWA zusammenfassen,
dann liegen Sie 2003 um 3,1 Milliarden Euro niedriger
als 1998, nach der schrecklichen 16-jährigen Zeit von
CDU/CSU und FDP.
({4})
Nach wie vor liegt die F-und-E-Intensität Deutschlands deutlich hinter der Schwedens, Finnlands, Japans,
der USA und Koreas. Kollegin Reiche hat das eben deutlich gemacht. Bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt liegen wir bei 2,5 Prozent. Sie haben das Ziel für 2010 mit
3 Prozent angegeben. Ich sage Ihnen für die FDP ganz
deutlich: Natürlich teilen wir dieses Ziel. Aber wir müssen einen höheren Gang einlegen, wenn wir die Steigerungsraten Schwedens mit 30 Prozent zwischen 2000
und 2002, der USA mit 25 Prozent und Japans mit
15 Prozent einholen wollen. Der Bericht macht ganz
deutlich: Um dieses Dreiprozentziel zu erreichen, werden in Deutschland mehrere Hunderttausend hoch qualifizierte Menschen an F-und-E-Personal gebraucht, die
wir zurzeit aber nicht haben, Frau Bulmahn. Wir sind
auch nicht auf dem Weg, sie zu bekommen.
({5})
Das sind die Dimensionen, die wir erreichen müssten.
Dazu sind aufgrund der verfehlten Politik der Bundesregierung gegenwärtig weder die Wirtschaft noch der Staat
in der Lage. Wenn es 40 000 Betriebe weniger gibt,
wenn auch gut ausgebildete Ingenieure und IT-Spezialisten arbeitslos sind - wir alle wissen das doch aus unserem engsten Umfeld -, wo sollen dann Forschung und
Entwicklung herkommen? Die Innovationsintensität der
Wirtschaft hat nachgelassen. Sie ist auf den Stand von
1995 zurückgefallen, Frau Bulmahn. Das ist kein positives Signal, das ist verheerend.
({6})
Schaffen Sie endlich wieder vernünftige Rahmenbedingungen für die Wirtschaft und die Wissenschaft, damit
Forschung Dynamik freisetzen kann!
Frau Reiche führte schon den Bericht der Bundesbank
zu technologischen Dienstleistungen in der Zahlungsbilanz an. Auch er weist einen negativen Saldo aus. Dieses ist - das halte ich gerade für uns Forschungspolitiker
für sehr interessant - bei den Ingenieurdienstleistungen
besonders dramatisch, bei denen sich das Zahlungsbilanzdefizit in Ihrer Regierungszeit verdoppelt hat, Frau
Bulmahn.
({7})
Das heißt, wir zahlen immer mehr für Patente, Lizenzen
und Ingenieurleistungen an das Ausland, als wir dadurch
von anderen einnehmen. Auch das ist ein Zeichen für
eine Schwächung der technologischen Leistungsfähigkeit.
({8})
Für junge F-und-E-Unternehmen ist die Kapitalknappheit ein großes Problem. Im Bericht wird dazu
ausgeführt:
Der Markt für die Frühphasenfinanzierung von
jungen Technologieunternehmen ist im Jahr 2002
geradezu eingebrochen ({9}). Die Finanzierung
entwickelt sich ... zum Strukturwandelhemmnis.
Da sind wir bei den Kernpunkten, Frau Bulmahn: Es
gibt in Deutschland nicht nur ein Defizit bei den staatlichen Aufwendungen für F und E, sondern es gibt eben
auch strukturelle Defizite. Wir haben noch immer kein
eigenes Tarifrecht für die Wissenschaft. Wir unterstützen
Sie, Frau Bulmahn, wenn es darum geht, dies zu ändern.
Aber fragen Sie bitte einmal Herrn Schily - er ist bezeichnenderweise heute nicht anwesend -, was er zu diesem hoch brisanten Thema sagt.
({10})
Sie versprechen landauf, landab Veränderungen; aber es
bewegt sich nichts. Wir haben immer noch keine Autonomie der Hochschulen bei Personal-, Finanz- und
Grundstücksmanagement. Wir haben ein Steuersystem,
das nicht ausreichend auf KMUs der F-und-E-Branche
ausgerichtet ist.
In diesem Zusammenhang möchte ich - das ist ganz
aktuell - kurz auf die geplante Änderung der Körperschaftsteuer hinweisen, auf die Sie sich offensichtlich
mit den Kollegen der CDU/CSU geeinigt haben. Wenn
die so genannte Mehrmütterorganschaft eingeschränkt
wird, wären besonders Joint-Venture-Unternehmen im
Forschungs- und Entwicklungsbereich betroffen.
({11})
Das verunsichert die Unternehmen. Wie sollen sie in einer solchen Situation investieren?
Auch die wuchernde Bürokratie ist eine erhebliche
Bremse für Forschung und Entwicklung. Fragen Sie die
Kollegin Homburger, die Ihnen einmal in der Woche erzählt, was diese Belastung für die deutschen Unternehmen bedeutet.
({12})
Anstatt in Forschung und Entwicklung zu investieren,
befassen sich die Unternehmen damit, irgendwelche Fragebögen für Statistiken auszufüllen. Da gibt es einen
großen Änderungsbedarf.
({13})
Einige Worte zur Biotechnologie. Es ist ja schön, zu
hören, dass die Bundesregierung endlich die von uns seit
Jahren geforderte Biotechnologiestrategie vorlegen will.
Für die Forscher ist vor allem wichtig, dass endlich die
Widersprüche in der Regierungspolitik beseitigt werden.
Deswegen ist es so interessant, was uns Kollege Kuhn
eben gesagt hat.
({14})
Es wäre sehr schön, wenn Frau Künast auch einmal das
täte, was uns mit schönen Worten versprochen wird.
({15})
Selbstverständlich können wir es uns nicht leisten, dass
das eine Ministerium die grüne Gentechnik unterstützt
und das andere Ministerium sie verhindern will. Das ist
doch die Realität in diesem Lande.
Die Biopatentrichtlinie wurde eben schon angeführt;
sie ist immer noch nicht umgesetzt.
({16})
Zum Thema Patente. In den nordischen Ländern,
aber auch in Korea, Holland und Kanada gibt es zweistellige Wachstumsraten pro Jahr bei der Patentanmeldung. Deutschland dagegen weist gegenüber 2000 nur
eine Steigerungsrate von 6 Prozent auf. In wichtigen
Schlüsselbereichen wie I und K, Pharmazie und Elektrotechnik können wir international nicht mithalten.
({17})
Der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit
muss alle Alarmglocken läuten lassen. Er ist ein wichtiges und sehr hilfreiches Dokument, dessen Aussagen wir
von der FDP sehr ernst nehmen. Bisher kann ich in der
Regierungspolitik insgesamt keine konsistente Linie für
Forschung und Entwicklung erkennen. Es geht nicht an,
dass die Anstrengungen der Forschungsministerin, die
wir an vielen Stellen unterstützen, immer wieder durch
Kabinettskollegen konterkariert werden.
Aber auch ihre eigenen guten Ansätze der ersten Jahre
wurden durch den Haushalt 2003 und durch Ihre Wortbrüche bei der Forschungsförderung verspielt. Forschungspolitik besteht aus Verlässlichkeit - das wissen
gerade wir - und nicht aus Vergesslichkeit, liebe Frau
Bulmahn.
({18})
Wenn Sie so weitermachen, prognostiziere ich Ihnen für
den Bericht 2003 einen dramatischen Absturz in vielen
Bereichen.
({19})
Das ist genau das, was dieses Land nicht vertragen kann.
Priorität für Bildung und Forschung - auch angesichts
knapper Haushaltsmittel - haben Sie versprochen, Frau
Bulmahn. Daran werden wir Sie auch weiterhin äußerst
kritisch messen.
({20})
Ich erteile das Wort Kollegen Franz Müntefering,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir befinden uns in Deutschland in einer Phase
wichtiger Grundsatzentscheidungen über die zukünftige
Politik für dieses Land. Der Bundeskanzler hat am
14. März von dieser Stelle aus deutlich gemacht, dass
wir in der Koalition entschlossen sind, Deutschland wirtschaftlich und sozial an die Spitze in Europa zu führen,
und dass wir bereit sind, die nötigen Maßnahmen einzuleiten.
Ein wichtiger Punkt dabei wird sein - auch das war
Gegenstand seiner Regierungserklärung -, dass wir den
Bereich von Bildung und Forschung in den Mittelpunkt
unserer Anstrengungen stellen. Deshalb hat der Bundeskanzler zugesagt, die Etatansätze der Max-Planck-Gesellschaft und anderer Forschungseinrichtungen im
nächsten Jahr um 3 Prozent zu erhöhen.
({0})
Das ist eine ganz wichtige Botschaft der Regierungserklärung vom 14. März.
({1})
Wer auch morgen und übermorgen Wohlstand haben
will, der muss heute
({2})
in Forschung und Technologie investieren. Das tun wir.
Wer morgen ernten will, muss heute
({3})
säen. Wir sind dabei, dies zu tun.
({4})
Wir wissen, dass eine große Anstrengung nötig ist.
Dies gilt für beide Seiten des Hauses. Ich finde, dass die
Art und Weise, in der hier manches schwarz-weiß gemalt
wird, an der Realität vorbei geht. Die schlichte Wahrheit
ist, dass Sie von der FDP und der CDU/CSU die nötigen
Entwicklungen in den 90er-Jahren verschlafen haben,
({5})
dass Sie zusammen mit Herrn Kohl im Ohrensessel gesessen haben und dass wir heute alle miteinander das
auszubaden haben, was Sie damals liegen gelassen haben.
({6})
Aber der Blick zurück nützt ja nichts. Jetzt müssen wir
nach vorne schauen. Deshalb ist es gut, dass Frau Ministerin Bulmahn vortragen konnte, was wir zwischen 1998
und 2003, also in den letzten viereinhalb Jahren, erreicht
haben. Auf die Steigerung in Höhe von rund 25 Prozent
im Bereich Bildung und Forschung sind wir stolz. Dies
ist eine der wichtigsten Leistungen dieser Koalition in ihrer Regierungszeit.
({7})
Wir haben aufgeholt. Wir haben das Saatgut nicht mehr
verfüttert.
({8})
In den nächsten Jahren wird daraus Gutes entstehen. Das
wissen wir.
({9})
Wir wissen aber auch, dass Selbstzufriedenheit nicht
angebracht ist und dass in den nächsten Jahren viel zu
tun sein wird. Hier aber schwarz-weiß zu malen ginge an
der Lebenswirklichkeit vorbei. Wir wissen, dass auch
andere Länder sich engagieren. Wir wissen, dass Technologie im großen Stil gekauft werden muss, weil wir sie
nicht mehr selbst haben. Wir wissen, dass unser Weltmarktanteil im Hochtechnologiebereich niedriger geworden ist. Wir wissen, dass wir unser Geld mit guten
und reifen Produkten verdienen, dass aber zu wenige
neue Spitzentechnologien darunter sind. Wir wissen,
dass bei uns viele Patentanmeldungen vorliegen, dass
aber zu wenige neuartige Entwicklungen darunter sind.
({10})
Vor allen Dingen wissen wir, dass die Entwicklung
der letzten Jahre in Deutschland nicht reicht, damit wir
wieder an die Spitze kommen. Deshalb muss in diesem
Bereich ein neuer Schwerpunkt gesetzt werden. Dazu
sind wir entschlossen. Die Frage ist nur: Welche Konsequenzen zieht man aus den Erkenntnissen, die man hat,
aus den Entwicklungen der 90er-Jahre und aus der Realität, in der wir uns heute befinden?
Zu den positiven Entwicklungen gehört allerdings,
dass die kleinen und mittleren Unternehmen sehr viel
stärker als zuvor in die Fördermaßnahmen der Bundesregierung und der öffentlichen Hände überhaupt einbezogen sind. Über 66 Prozent aller an Fördermaßnahmen
beteiligten Unternehmen sind heute kleine und mittlere
Unternehmen mit weniger als 500 Beschäftigten. Dies
entspricht einer absoluten Zahl von 1 700 Unternehmen
und einer Steigerung von 45 Prozent gegenüber 1998.
Das ist eine stolze Zahl, die ausdrückt, dass kleine und
mittlere Unternehmen heute viel stärker beteiligt sind.
({11})
Deshalb hat auch der Wirtschaftsminister Recht, wenn
er mit seiner Mittelstandsoffensive dafür sorgt, dass dieser Teil der Innovationsförderung, auch auf kleine und
mittlere Unternehmen bezogen, neue und zusätzliche Impulse bekommt. Es geht aber nicht nur um neue Arbeitsplätze. Es geht auch darum, ob wir als Gesellschaft Fortschritt wollen und ob wir uns auch in Zukunft bemühen,
das Leben mit den Möglichkeiten technologischer Entwicklungen menschlicher und erträglicher zu machen.
Deshalb hat dieses Thema auch mit der Hoffnung auf
Fortschritt in dieser Gesellschaft zu tun. Es geht um die
Frage, ob wir ökonomische, ökologische und gesellschaftspolitische Fortschritte organisieren können. Was
die Koalition aus SPD und Grünen in den letzten vier
Jahren im Bereich der Erneuerbaren Energien geleistet
hat, ist gut. Es wird sich auszahlen. Es ist vernünftig bezüglich der Arbeitsplätze und der Ökologie. In der letzten Legislaturperiode haben wir 16 Gesetze beschlossen,
die in diese Richtung gingen. Aber 14 Mal haben Sie dagegen gestimmt. Deshalb haben Sie so wenig Grund,
sich über das zu erregen, was an dieser Stelle zu tun ist.
({12})
Die Frage des heutigen und des zukünftigen Umgangs mit Energie hat nicht nur größten Einfluss auf
unsere Gesellschaft, sondern auch auf die Entwicklung
der gesamten Menschheit. Deshalb fördern wir auch
weiterhin die Entwicklungen im Bereich der Brennstoffzelle. Dies ist eine große Chance für Fortschritt auf dem
Energiemarkt; damit können wir ihn revolutionieren.
Wir wollen die Möglichkeiten einer solchen neuen Technologie nutzen und sie unterstützen.
Es war diese Koalition, die das Satellitennavigationssystem Galileo in Europa mit entwickelt hat. Es bietet
eine große Chance für die Mobilität in unserem Land
und in den anderen Ländern der Welt.
({13})
Das sind Dinge, die in die Zukunft weisen und das Leben menschlicher machen, weil sie den Fortschritt in unsere Gesellschaft bringen.
Wir wissen, dass technologische Leistungsfähigkeit
Bedingungen hat und deshalb die Frage nach der Bildung und Qualifizierung zentral ist. Es ist daher wichtig, dass wir uns an dieser Stelle darüber unterhalten,
was zu tun ist. Es ist soeben schon über die Frage, ob es
in Deutschland Ingenieure in ausreichender Zahl gibt,
gesprochen worden. Die zuständigen Verbände sagen
uns, dass 70 000 bis 80 000 Ingenieure in Deutschland
fehlen. Das hängt damit zusammen, dass wir den Menschen bisher nicht rechtzeitig gesagt haben, wo ihre Berufs- und Lebenschancen sind, es hängt aber auch damit
zusammen, dass die Unternehmen nicht rechtzeitig dafür
sorgen, dass die nötigen Ausbildungen erfolgen. Die Unternehmen dürfen eben nicht nur in der Welt herumreisen und sich die neuesten Maschinen kaufen, sondern sie
müssen auch rechtzeitig dafür sorgen, dass die Menschen in unserem Land qualifiziert werden, damit die anstehenden Aufgaben geleistet werden können.
({14})
Bezüglich der Frage der Leistungsfähigkeit haben
sich die Bundesregierung und die Koalition vorgenommen, in dieser Legislaturperiode 8,5 Milliarden Euro für
die Ganztagsbetreuung der Kinder in Kindergärten
und Schulhorten auszugeben. Nun können Sie sagen:
Damit fangen Sie aber früh an. - Genau diesen Punkt
aber müssen wir sehen. Wir brauchen neue Personalentwicklungskonzeptionen in unserem Land; das ist die
Schlüsselfrage dabei, ob uns Innovationen und technologische Entwicklungen gelingen. Das Problem der Bildung und Qualifizierung in Deutschland werden wir nur
lösen können, wenn wir vorn anfangen, nämlich bei den
Kindern, den Schulen. Die Koalition wird einen zentralen Beitrag für die technologische Entwicklung und damit für die Zukunft Deutschlands leisten.
({15})
Wir haben uns in den letzten Wochen und Monaten
die Köpfe über die Alterssicherung und die Zukunft des
Sozialstaats heißgeredet. Unabhängig davon, ob wir 65,
67 oder 69 Prozent als Rentenniveau ins Gesetz schreiben, bleibt die entscheidende Frage, ob Deutschland im
Jahre 2020 oder 2040 immer noch ein Wohlstandsland
wie heute ist.
Der Wohlstand in Deutschland hängt davon ab, ob die
innovative technologische Zukunftsfähigkeit dieses Landes gegeben ist. Dafür müssen wir bereit sein, einen Teil
dessen, was wir heute erwirtschaften, nicht zu verfüttern,
sondern es in die Köpfe und Herzen der Kinder und jungen Menschen zu investieren. Das, was wir heute in Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Forschung und
Technologie investieren, ist entscheidend auch für die
Alterssicherung und die Zukunft des Sozialstaats. Diesen
Zusammenhang sehen wir.
({16})
Bildung und Forschung sind eine der tragenden Säulen
in der Agenda 2010. Wir wissen, dass wir über viele andere Dinge sprechen müssen, aber eben auch über Bildung
und Forschung. Auch sie gehören zur Nachhaltigkeit.
Wenn Sie Nachhaltigkeit in Wahlkämpfen ansprechen
- das wissen Sie auch alle -, erhalten Sie drei kurze Klatscher, mehr Aufmerksamkeit nicht. Diese unsere Politik
richtet sich nicht nach Legislaturperioden. Sie wird sich in
zehn oder 20 Jahren auszahlen. Das haben wir im Blick
und dafür setzen sich Frau Bulmahn und diese Koalition
ein. Das werden wir auch in Zukunft machen. Unabhängig
davon, wie Sie daran herumkritteln: Wir sind mit der Betonung von Bildung und Forschung auf dem richtigen
Pfad und werden das in konkrete Politik umsetzen.
({17})
Es gibt in Europa eine Zahl, die uns alle bewegt und
über die wir jeden Tag sprechen: 3 Prozent. Diese Zahl
bezieht sich auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Es
gibt in Europa aber noch eine andere Zahl, die mit
3 Prozent zu tun hat: Bis zum Jahre 2010 wollen wir
mindestens 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung in ganz Europa ausgeben.
Diese 3 Prozent sind genauso wichtig wie die 3 Prozent
des Stabilitäts- und Wachstumspakts und wir werden sie
beide realisieren.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({18})
Ich erteile dem Kollegen Martin Mayer, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der
Rede von Frau Bulmahn hat man sich gefragt: Wo ist
denn eigentlich die Vision? Junge Menschen, die ihr zugehört haben, haben wohl gemerkt: Es gab eine Vergangenheitsbewältigung, aber keinen Blick in die Zukunft,
der Menschen begeistern könnte.
({0})
Dr. Martin Mayer ({1})
Herr Müntefering, Sie haben hier in schönen Worten
- Sie sind ja Meister in Worten und Sprüchen - dargestellt, was Sie alles machen wollen. Das Drama aber ist,
dass diesen Worten keine Taten folgen.
({2})
Dazu könnte man als Beispiele die Max-Planck-Gesellschaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft nennen, denen Sie eine Erhöhung der Zuwendungen versprochen haben. Dieser Haushalt aber zeugt von
Kürzungen und Stagnation.
({3})
Wir diskutieren heute über einen Bericht über Innovationen, der von Wissenschaftlern im Auftrag der Bundesregierung erstellt worden ist. In dem wichtigsten Teil
dieses Berichts, den Aussagen zu den Perspektiven der
Innovationspolitik, findet sich ein eigenartiger Satz. Ich
zitiere:
Die Hinweise zu den Perspektiven für die Bildungs-,
Forschungs- und Innovationspolitik können nicht
umfassend sein, denn der Untersuchungsauftrag
war begrenzt.
In welcher Weise war er denn begrenzt? Wurden bestimmte Themen zum Tabu erklärt? Es fällt jedenfalls
auf, dass im Kapitel „Chemische Industrie“, die als
Branche beispielhaft aufgeführt ist, kein einziges Wort
über die grüne Gentechnik zu finden ist. Dabei könnte
gerade die grüne Gentechnik Deutschland dazu verhelfen, im Bereich der Pharmazie - Deutschland war ja einmal die Apotheke der Welt - wieder an die Weltspitze zu
gelangen. Das zu verkünden wäre visionär.
({4})
Die Bundesregierung aber macht hier Konzessionen an
die rot-grünen Ökofundamentalisten und behindert die
grüne Gentechnik mehr, als sie sie fördert.
Frau Bulmahn hat hier von einer Förderung der Biowissenschaften gesprochen. Hiervon ist die grüne Gentechnik aber ausgenommen. Das ist so, als ob jemand
den Motor aufheulen lässt, damit die Leute meinen, jetzt
startet er richtig, er aber in Wirklichkeit die Handbremse
angezogen hat. Ich finde, mit einer solchen Politik werden wir Deutschland nicht an die Spitze bringen.
({5})
Bei den Innovationen ist die Bundesregierung immer
dann auf dem Rückzug, wenn es brenzlig wird, und besonders eifrig, wenn die Schlachten geschlagen sind.
Das gilt aber nicht nur für die Innovationspolitik. Als
Beispiel nenne ich die rote Gentechnik. Dabei geht es
darum, bestimmte Medikamente gentechnisch herzustellen. Solange es hier noch gewisse Unsicherheiten gab,
haben die Grünen das mit aller Vehemenz bekämpft. Erst
jetzt, da niemand mehr behaupten kann, dass diese Art
der Herstellung irgendeinen Nachteil habe, und wo deutlich wird, dass die gentechnische Herstellung von Medikamenten umweltfreundlicher, energiesparender und für
die Menschen verträglicher ist, sind Sie dabei und
schreiben das auf Ihre Fahne.
Beispiel Transrapid. Eine SPD-geführte Bundesregierung hat mit der Entwicklung der Magnetschwebebahn begonnen. Ein SPD-Bundeskanzler fährt nach
China und lässt sich bejubeln. Als es aber darum ging,
die Strecke Hamburg-Berlin, die beste Strecke auf der
Welt für den Transrapid, zu bauen, sind Sie weggetreten,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
({6})
Es ist zu befürchten, dass sich dieses Trauerspiel beim
Metrorapid in Nordrhein-Westfalen wiederholt.
Ein weiteres Beispiel für die Innovationsfeindlichkeit
von Rot-Grün ist die Verteufelung von allem, was mit
Radioaktivität zu tun hat.
({7})
Wenn Sie den Weg weg vom Öl wirklich ernsthaft beschreiten wollen, dann müssen Sie nicht nur die Erneuerbaren Energien fördern - wir sind uns einig, dass dies
nötig ist -, sondern dann müssen Sie auch dafür sorgen,
dass Deutschland seine Spitzenstellung in der Kernfusionsforschung behält, und diesen Weg mit uns gemeinsam gehen.
({8})
Es ist doch bezeichnend, dass bei ITER, einem großen
internationalen Projekt der Kernfusionsforschung, das
uns befähigen soll, in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts auf diesem Wege Strom zu erzeugen, niemand
mehr an Deutschland denkt. Es traut sich niemand mehr,
Deutschland als Standort vorzuschlagen, weil Rot-Grün
diese Technik von vornherein verteufelt.
({9})
Ich finde, das ist ein Skandal.
({10})
Wir werden im gesamten Bereich der Kerntechnik
bald zum Entwicklungsland. Es wird in Deutschland
bald niemand mehr geben, der kerntechnische Anlagen
bauen, betreiben oder entsorgen kann.
({11})
Das müsste eigentlich allen zu denken geben.
Der Bericht der Wissenschaftler zeigt eine Reihe von
weiteren Mängeln auf - das Thema Bürokratieabbau
Dr. Martin Mayer ({12})
zum Beispiel ist schon angesprochen worden -, aber die
Stellungnahme der Bundesregierung ist sehr dürftig. Sie
besteht vielfach aus Worthülsen, so wie die Rede der Ministerin, beginnt allerdings mit einer richtigen Feststellung:
Die technologische Leistungsfähigkeit Deutschlands bestimmt über die Erfolge deutscher Unternehmen im internationalen Technologiewettbewerb. Sie ist die Grundlage für wirtschaftliches
Wachstum und zukunftsfähige Arbeitsplätze.
Dem kann ich nur zustimmen. Aber wenn man sich im
Umkehrschluss die Arbeitsplatzentwicklung in Deutschland mit dem dramatischen Anstieg der Arbeitslosenzahlen anschaut, kann man doch nur feststellen: Diese Bundesregierung hat in der Innovationspolitik versagt.
Deshalb sage ich: Die vordringlichste Innovation, die
wir in Deutschland brauchen, ist eine neue Bundesregierung.
({13})
Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Josef Fell,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland ist ebenso abhängig von seiner technologischen
Leistungsfähigkeit wie Saudi-Arabien vom Ölexport.
Aber im Vergleich zu Saudi-Arabien haben wir einen
Vorteil: Die technologische Leistungsfähigkeit ist keine
begrenzte Ressource
({0})
und Deutschland hat ein hohes Niveau. Allerdings stehen wir unter einem hohen Wettbewerbsdruck. Das
heißt, wir müssen das hohe nationale Niveau stetig ausbauen, um nicht überholt zu werden. Wir müssen das Innovationspotenzial dieser Gesellschaft weiter erschließen,
({1})
um den Teufelskreis aus Konjunkturschwäche, höherer
Arbeitslosigkeit, wachsenden Lohnnebenkosten und
wiederum Konjunkturschwäche zu durchstoßen. Wenn
wir die technologische Leistungsfähigkeit weiter erhöhen, können wir die Haushaltsmisere und die Arbeitslosigkeit erfolgreich bekämpfen. Neue Arbeitsplätze werden vor allem durch neue Produkte und durch die
Umsetzung von Innovationen geschaffen. Eine intelligente Vernetzung der Arbeit à la Hartz-Konzept ist wichtig, funktioniert aber nur dort, wo es auch etwas zum
Verteilen gibt.
Wir Grüne verkennen nicht die mahnenden Worte des
Technologieberichtes. Zum Beispiel zeigt der Bericht,
dass deutsche Hightech-Unternehmen Gefahr laufen, im
internationalen Wettbewerb zurückzufallen. Schlimmer
noch: Die Wirtschaft reagiert prozyklisch. 2003 ist eine
Kürzung der Firmenbudgets für Forschung und Entwicklung zu erwarten.
Ein weiteres Warnzeichen: Seit Beginn der 90er-Jahre
verschlechtert sich die Zahlungsbilanz bei technologischen Dienstleistungen drastisch. Frau Flach, wir nehmen das ernst.
({2})
Vor zwei Jahren sind die Technologiebörsen weltweit
eingebrochen. Dies ist keine nationale Schuld. Der Risikokapitalmarkt ist in diesem Zuge in Deutschland seitdem um 85 Prozent geschrumpft. Bildlich gesprochen:
Schwarz-Gelb hat das Loch in den Boden gehauen und
Rot-Grün ist es noch nicht gelungen, es vollständig zu
stopfen. Gegenseitige Schuldzuweisungen mögen vielleicht einige selbstzufriedene Gemüter bei Ihnen erfreuen, helfen aber dem Land nicht weiter.
({3})
Meine Damen und Herren von Union und FDP, wir
dürfen nicht in Skeptizismus und Resignation verfallen,
wie Sie das tun.
({4})
Der Bericht zeigt auch auf, dass Deutschland eine starke
Forschungslandschaft aufweist, öffentlich und privat.
Wir haben hier in Deutschland viele kluge Köpfe und
eine sehr gute Infrastruktur. Wenn es uns gelingt, brachliegende innovative Potenziale zu erschließen, muss uns
wirklich nicht bange sein.
Wir müssen auf drei Ebenen vorgehen. Erstens. Der
Staat muss aktiv handeln. Bund und Länder müssen
über eigene Haushaltsanstrengungen auf das EU-Ziel
hinarbeiten, 3 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt für
Forschung auszugeben. Um dieses Ziel zu erreichen,
müssen die Forschungsausgaben von Staat und Wirtschaft jährlich um 5 bis 6 Prozent steigen. Dies wird unter dem Gesichtspunkt der Haushaltskonsolidierung
nur gelingen, wenn im Haushalt neue Prioritäten gesetzt
werden,
({5})
nicht aber, wenn man Subventionsabbau verhindert, wie
Sie das immer wieder getan haben.
({6})
- Gestern erst.
({7})
Berechtigterweise ist deswegen im Bericht zu lesen - ich
zitiere -:
Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung
sind das Letzte, was dem konjunkturellen Rotstift
der Haushaltskonsolidierung zum Opfer fallen darf.
({8})
Auch bei der Forschungsförderung selbst müssen alte
Zöpfe abgeschnitten werden, um Platz für neue Triebe
zu schaffen.
({9})
Forschungsförderung aber ist nur das eine. Darüber hinaus muss der Staat vor allem über die neue Mittelstandsbank aktiv Innovationen fördern. Auch dies streben wir durch konkrete Maßnahmen an.
Zweitens. Die Rahmenbedingungen insgesamt müssen so zugeschnitten werden, dass Unternehmen und
Banken mehr Mittel für Technologieentwicklung bereitstellen. Unter anderem sind hierfür die steuerlichen
Rahmenbedingungen zu verändern.
({10})
Genau dies wird derzeit zum Beispiel in Frankreich oder
Großbritannien gemacht: Frankreich setzt mit seinem Innovationsplan vor allem auf steuerliche Anreize. Großbritannien lockt mit umfangreichen Steuererleichterungen und hohen Zuschüssen gezielt innovative
Unternehmen auf die Insel. Bürokratieabbau, ein freundliches Einwanderungsrecht, dem Sie sich immer entgegenstellen,
({11})
Abbau von Subventionen für überkommene Strukturen
sowie mehr Wettbewerb in leistungsgebundenen Märkten sind weitere Themen, die wir angehen müssen.
An dieser Stelle möchte ich, wie bereits Herr
Müntefering vor mir, mit dem Bereich der Erneuerbaren Energien einen Technologiebereich hervorheben,
der aufgrund guter gesetzlicher Rahmenbedingungen
auch in einer schwierigen Wirtschaftslage stark expandiert und in dem Deutschland, Frau Reiche, einen echten
Spitzenplatz in der Welt einnimmt.
({12})
Aber das sehen Sie offensichtlich nicht. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz hat zu umfangreichen Investitionen, technologischen Sprüngen, zahlreichen neuen Arbeitsplätzen und Umsatzwachstum geführt. Von dieser
Erfolgsgeschichte müssen wir auch für andere Technologiebereiche lernen, vor allem in der Frage des ökologischen Umbaus.
Frau Flach und Herr Mayer, wir müssen jene Zukunftstechnologien fördern und in sie investieren, welche die Bürger wollen. Dazu zählt aber nicht die grüne
Gentechnik. Genfood lehnen 80 Prozent der Bevölkerung ab. Was Sie fordern, sind Fehlinvestitionen in Wirtschaftsbereiche, die weiter rückläufig sind.
({13})
- Herr Mayer, in 50 Jahren kann der Energiebedarf vollständig über die Erneuerbaren Energien gedeckt werden.
Es muss endlich Schluss sein mit der unendlichen Geschichte der Kernfusion, die nur Luftschlösser produziert, aber keine Umstellung der Energieproduktion bewirkt.
({14})
Drittens. Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche
Aufbruchstimmung für die Entwicklung von Innovationen. Diese Aufbruchstimmung muss parteiübergreifend von breiten gesellschaftlichen Schichten getragen
werden.
({15})
Dabei besteht, wie ich denke, Grund zur Eile. Ich
schlage daher vor, eine Task Force einzurichten, die das
Ziel hat, die technologische Leistungsfähigkeit Deutschlands sicherzustellen und auszubauen. Diese Task Force,
die nicht mit Kommissionen zu verwechseln ist, soll
möglichst schnell ressortübergreifende Lösungsansätze
vorlegen. Sie muss bereit sein, unkonventionelle Wege
zu gehen und eng mit dem Parlament zusammenzuarbeiten.
Rot-Grün hat, anders als die alte Regierung, Forschung, Entwicklung und Bildung wieder in den Mittelpunkt gerückt. Auf diesem Weg werden wir weiter aktiv
voranschreiten.
({16})
Ich erteile das Wort Kollegen Helge Braun, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Eine Firma wie Siemens erwirtschaftet drei
Viertel ihres Umsatzes mit Produkten, die jünger als fünf
Jahre sind. Ich glaube, das macht beispielhaft deutlich,
wie entscheidend ständige Innovationen und Investitionen in Forschung und Entwicklung für unser Land und
unsere wirtschaftliche Zukunft sind.
({0})
Herr Fell, das Grundproblem zwischen uns scheint
mir zu sein, dass sich Ihre Definition von Investition und
Subvention offensichtlich an ideologischen Gesichtspunkten festmacht, während wir davon reden, was der
Wirtschaft und der Gesellschaft in Deutschland nützt.
({1})
Sie haben das Argument der Steigerung der Forschungs- und Entwicklungsausgaben um 25 Prozent
während Ihrer Regierungsphase so oft angesprochen,
dass ich nicht umhin kann, doch noch einmal zu betonen,
worum es hier wirklich geht: Es geht hier nicht um eine
historische Betrachtung der Ausgaben in Deutschland;
schließlich verändert sich die Welt rasant. Zudem sind
entsprechende Ausgaben in den USA - auch das ist angesprochen worden - in den letzten zwei Jahren um
30 Prozent gestiegen, während wir nur eine Steigerung
von 6 Prozent auf die Reihe bekommen haben. Wenn
man sagt, das alles habe mit der Haushaltslage und der
schwierigen wirtschaftlichen Zeit zu tun, muss man
gleichzeitig sehen, dass die Japaner in der gleichen Zeit
eine Steigerung von immerhin 15 Prozent erreicht haben
- und dieses Land befindet sich nun wirklich nicht in einer besseren wirtschaftlichen Lage als wir.
Das alles zeigt, dass Ihre Maßnahmen, Frau Bulmahn,
falsch waren, und das, was Sie in diesem Jahr getan haben, war in besonderem Maße falsch. Wir haben gestern
darüber diskutiert, wie sich die Haushaltslage in
Deutschland entwickelt. Es gibt ständig neue Warnzeichen. Mit welchem Recht können Sie heute eigentlich
behaupten, dass Sie die Haushaltsmittel in den kommenden Jahren aufstocken werden? Es gibt doch überhaupt
kein Licht am Horizont der schlechten Haushaltsentwicklung, die diese Bundesregierung zu verantworten
hat.
({2})
Sie reden von einer Hebelwirkung und sagen, dass Investitionen in Forschung und Entwicklung uns helfen,
wirtschaftliche Kraft zu entfalten. Wenn es tatsächlich so
ist, dass wir mit jedem Euro, den der Staat ausgibt, die
Investitionen der Industrie und der Wirtschaft befördern,
dann ist es doch erst recht notwendig, dass wir in konjunkturell schwieriger Zeit eine wirklich große Anstrengung unternehmen.
({3})
Der britische Physiker Michael Faraday hat es sehr
schön ausgedrückt, als er auf die Frage des englischen
Finanzministers, wozu seine Erfindung zu gebrauchen
sei, gesagt hat: „Sir, eines Tages werden Sie sie besteuern können.“
({4})
Gerade angesichts der schwachen Konjunktur wäre es
also richtiger gewesen, die Anstrengungen noch einmal
zu intensivieren. Im Bereich der forschenden und entwickelnden Unternehmen können wir drei konjunkturelle Probleme feststellen: Erstens. Die Aufzehrung der
Kapitaldecke der Unternehmen führt dazu, dass sie nicht
genügend Mittel haben, um im Hinblick auf neue Produkte in Forschung und Entwicklung zu investieren.
Zweitens. Die Risikokapitalgeber in Deutschland sind in
wirtschaftlich schwieriger Zeit weniger als sonst bereit,
jungen Unternehmen die Frühförderung zu geben, die
sie benötigen, um Existenzen im F-Und-E-Sektor zu begründen. Drittens. Die anspruchsvolle Nachfrage, die es
auf dem deutschen Markt immer gab, ist zusammengebrochen. Der Run in Deutschland auf die Billigprodukte
führt auch dazu, dass die Unternehmen weniger Perspektiven dafür sehen, in Deutschland anspruchsvolle Produkte zu entwickeln.
Der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit
Deutschlands 2002 stellt eindeutig fest, dass wir hier
keineswegs nur ein konjunkturelles Problem haben. Es
gibt auch zahlreiche strukturelle Probleme, die wir angehen müssen. So ist der Fachkräftemangel, den wir in
Deutschland zu verzeichnen haben, bereits mehrfach angesprochen worden. Deshalb ist es nicht an der Zeit, darüber zu reden, wie wir durch Zuwanderung neue Fachkräfte nach Deutschland bekommen, sondern es ist
wesentlich wichtiger, einmal zu überlegen, warum jährlich etwa 300 000 der besten Köpfe aus Deutschland
flüchten.
({5})
Vergleicht man die Bedeutung verschiedener technologieintensiver Branchen in Deutschland - auch das ist
schon angesprochen worden -, stellt man zahlreiche
strukturelle Defizite fest. Deutschland ist nach wie vor
gut in den traditionellen Bereichen der Automobilindustrie und des Maschinenbaus. Dies ist eine relativ solide
Grundlage für unsere Zukunft. Aber wenn wir spitze
sein und unser Wohlstandsniveau in Deutschland erhalten wollen, dann müssen wir uns darüber hinaus stärker
auf die Spitzentechnologien und die Wachstumsmärkte
der Zukunft konzentrieren. Dort sieht das Bild düsterer
aus.
Bei den F-Und-E-intensiven Waren besteht ein Exportüberschuss. Aber bei den F-Und-E-intensiven Dienstleistungen sieht es wesentlich schlechter aus. Während in
diesem Bereich noch 1997 Waren im Wert von umgerechnet 1 Milliarde Euro in andere europäische Staaten
exportiert wurden, müssen wir heute technologische
Dienstleistungen in Höhe von 1,7 Milliarden Euro im
engeren Bereich von F und E einkaufen. Das ist keine
gute Entwicklung, Frau Ministerin.
({6})
Die Branchenunterschiede zeigen sich auch bei den
wissenschaftlichen Publikationen. Das gute Abschneiden Deutschlands im Science Citation Index wird wiederum in klassischen Bereichen erwirtschaftet. Am besten sind unsere wissenschaftlichen Veröffentlichungen
im Bauwesen. Bei Zukunftsbereichen wie Kommunikation oder Datenverarbeitung nimmt Deutschland keinen
Spitzenplatz ein. Auch da haben wir einen großen Nachholbedarf. Die Freiheit der Wissenschaft und der Unternehmen müssen wir in Deutschland zurückgewinnen,
damit wir in Zukunft unseren Wohlstand halten und den
Technologiestandort Deutschland verbessern können.
Ich selber habe Forschung an der Universität Gießen
betrieben. Den Zettel mit einem Zitat, der dort an einer
Pinnwand hing, hätte ich gerne weggenommen. Ich
möchte, dass wir uns anstrengen, Deutschland wieder
zum Technologiestandort Nummer eins zu machen, daHelge Braun
mit dieses Zitat des Mathematikers und Philosophen
Bertrand Russell keine Berechtigung mehr hat:
Die Wissenschaftler bemühen sich, das Unmögliche
möglich zu machen. Die Politiker bemühen sich oft,
das Mögliche unmöglich zu machen.
Vielen Dank.
({7})
Dies war die erste Rede des Kollegen Helge Braun.
Unsere herzliche Gratulation!
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Swen Schulz,
SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Die technologische Leistungsfähigkeit Deutschlands ist zweifelsohne
nach wie vor hoch. Doch wir müssen erkennen, dass unsere Spitzenstellung kein Naturgesetz ist. Jahr für Jahr
müssen wir an dem hohen Niveau der Leistungsfähigkeit
arbeiten; denn die Konkurrenz schläft nicht.
Der sehr detaillierte Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands hat im Wesentlichen drei
zentrale Aussagen: Erstens. Wir haben seit Anfang der
90er-Jahre Boden verloren. Zweitens. Die seit 1999 unternommenen Anstrengungen zeigen Erfolge. Drittens.
Das reicht aber noch nicht aus. Wir dürfen uns nicht zurücklehnen, sondern müssen weiter voranschreiten.
Auch und gerade in Zeiten der konjunkturellen Durststrecke sind Zukunftsinvestitionen von größter Bedeutung.
({0})
Das gilt für die Wirtschaft ebenso wie für die öffentlichen Haushalte. Es ist darum richtig, dass der Bundeskanzler ein so klares Bekenntnis zu Investitionen in die
Zukunft abgelegt hat. Die Haushaltskonsolidierung ist
unbestritten notwendig; denn wenn wir weiter hemmungslos auf Pump leben, werden die kommenden Generationen noch weniger Gestaltungsmöglichkeiten haben als wir. Aber genau deswegen ist Sparen kein
Selbstzweck. Gerade im Hinblick auf unsere Verantwortung, optimale Grundlagen für die kommenden Generationen zu schaffen, müssen wir in Bildung, Forschung und
Innovation investieren. Wir müssen für die Zukunft sparen, nicht an der Zukunft.
({1})
Im Technologiebericht nimmt der Bereich Bildung
diesmal zu Recht einen Schwerpunkt ein; denn schließlich stellt das Bildungssystem das Fundament der technologischen Leistungsfähigkeit dar. Ich finde es sehr
schade, dass die Opposition hierzu bislang noch wenig
gesagt hat. Der Bericht beschreibt insbesondere im Bereich der Hochqualifizierten einen deutlichen Mangel,
der zu erheblichen Problemen führen wird, wenn wir
nicht energisch gegensteuern. Positiv ist der wesentlich
durch die BAföG-Reform bewirkte Anstieg der Studentenzahlen.
({2})
Die Bachelor- und Masterstudiengänge können einen
Beitrag zur Attraktivitätssteigerung des Hochschulbesuchs leisten.
Der von der Bundesministerin angebotene Pakt für
Hochschulen ist dringend nötig, um die Studienbedingungen zu verbessern. Die Studienabbrecherquote muss
gesenkt und die Studiendauer muss gekürzt werden. Die
Nachwuchsarbeit ist weiter zu intensivieren. Die Hochschulen müssen in die Lage versetzt werden, sich ein internationales Profil zu erarbeiten. Dem absehbaren Fachkräftemangel muss durch die optimale Förderung der
hier Geborenen, aber auch durch gezielte Zuwanderung
ausländischer Akademiker entgegengewirkt werden.
({3})
Wir müssen darüber hinaus unser gesamtes Bildungssystem auf die Erfordernisse der Wissenswirtschaft einstellen. Bereits in der Schule werden die Grundlagen gebildet. Die Menschen müssen die Chance erhalten, die in
ihnen steckenden Potenziale zu entwickeln. Die Bundesregierung gibt bereits in Zusammenarbeit mit den Ländern wichtige Impulse für die Qualitätssteigerung der
Schulbildung, etwa mit der Finanzierung von Ganztagsschulen und mit der Formulierung nationaler Bildungsstandards.
Wir müssen vor allem eines beachten: Eine Gesellschaft, die auf die Kompetenz vieler Menschen verzichtet, weil sie aufgrund ihrer sozialen Herkunft schlechtere
Bildungschancen erhalten, ist erstens ungerecht organisiert und zweitens volkswirtschaftlich schlecht aufgestellt.
({4})
Der Technologiebericht hat auf diesen Missstand hingewiesen. Während 72 Prozent der Kinder aus hoher sozialer Herkunft den Hochschulzugang erwerben, erreichen
dies ganze 8 Prozent der Kinder aus unterer sozialer Herkunft. Darum sind Maßnahmen notwendig, um Kinder
und Jugendliche aus so genannten bildungsfernen
Schichten zu fördern, statt sie frühzeitig auf ein niedriges
Bildungsniveau festzulegen. Die Arbeitslosen von morgen gehen heute zur Schule. Die beste Arbeitsmarktpolitik ist eine ausgezeichnete Bildungspolitik.
({5})
Ich hoffe, dass wir durch PISA und IGLU zu einer
ernsthaften und ideologiefreien Diskussion über die
Dauer der gemeinsamen Schulzeit aller Kinder und Jugendlichen kommen. Wer immer noch den gemeinsamen
Swen Schulz ({6})
Unterricht gegen die Begabtenförderung ausspielen
möchte, dem halte ich ein Zitat aus dem Technologiebericht entgegen:
Elitequalifikationen können nicht entstehen, wenn
die frühe Förderung in der Breite versagt.
({7})
Darüber hinaus müssen wir unsere Anstrengungen
forcieren, den Zugang zu Hochschulbildung zu öffnen, damit diejenigen, die - aus welchen Gründen auch
immer - das Abitur nicht haben, über ihre berufliche
Qualifikation in den Hochschulbereich gelangen und
somit ein Spitzenniveau der Bildung erreichen können.
Der Technologiebericht bescheinigt uns gerade in diesem Bereich im internationalen Vergleich eine schlechte
Position.
Angesichts der skizzierten bundespolitischen Herausforderungen habe ich kein Verständnis dafür, dass sich
die CDU/CSU-Fraktion offenbar seit neustem gegen die
gemeinsame Bildungsplanung von Bund und Ländern
ausspricht.
({8})
Es steht bei allen nachvollziehbaren Überlegungen zur
Organisation des Föderalismus fest, dass die Bildung
eine gesamtstaatliche Herausforderung darstellt.
({9})
Bund und Länder sind zur Zusammenarbeit angehalten. Vor allem aber sind die Kinder und Jugendlichen darauf angewiesen, dass in jeder Hinsicht alles unternommen wird, um ihren Interessen gerecht zu werden. Ich
halte es daher für grundsätzlich falsch, dass sich die
Bundestagsfraktion der CDU/CSU faktisch aus der Gestaltung der Zukunft ausklinken will. Ich setze aber darauf, dass die diesbezüglichen Ausführungen der Kollegin Reiche vorige Woche im Fachausschuss nicht mit
der Fraktion abgestimmt waren und bald korrigiert werden.
({10})
Die Regierungskoalition hat aus der Entwicklung seit
Anfang der 90er-Jahre bereits 1998 die richtigen
Schlüsse gezogen und Weichenstellungen für die Zukunft vorgenommen. Wir alle sind jetzt aufgefordert, das
Tempo zu erhöhen.
Herzlichen Dank.
({11})
Auch dies war eine erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch, Herr Kollege Schulz!
({0})
Jetzt aber kommt kein jungfräulicher Redner, sondern
der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber.
({1})
Sie haben das Wort.
Herr Präsident, dass Sie mir die Jungfräulichkeit absprechen, ist nicht ganz falsch. Schließlich habe ich vier
tüchtige und glückliche Kinder.
Ich freue mich, dass wir uns in den Grundsatzfragen
in einer so expliziten Weise einig sind. Ich vernehme
hier nur Begeisterung für Technologie. Ich begrüße es
auch, Herr Müntefering, dass Sie in diese Debatte eingestiegen sind.
Wir haben in den nächsten Jahren in der Tat in diesem
Bereich noch feiste Probleme zu lösen. Mehrere Redner
haben über die Entwicklung des Haushalts gesprochen.
Der Haushalt des Forschungsministeriums hat sich recht
gut entwickelt; Frau Bulmahn hat das mit angemessenem
Stolz vorgetragen. Der Haushalt des Technologiebereichs dagegen - dieser fällt nach dem Organisationserlass des Bundeskanzlers nämlich dem Wirtschaftsministerium zu - hat in den letzten Jahren bestenfalls stagniert.
Wenn man den Zuwachs für 2003 verstehen will, muss
man eine komplexe Rabulistik zum BTU anwenden, um
überhaupt zu begreifen, wie das Bezahlen für Flops berechnet werden soll. Das heißt also, was insgesamt im
Forschungsbereich der rot-grünen Bundesregierung passiert ist, bedeutet einen Zuwachs von vielleicht 10 Prozent, ungefähr 2 Prozent im Jahr.
Herr Müntefering, ich finde es großartig, dass Sie sagen: Wir werden den dreiprozentigen Haushaltsanteil in
2010 erreichen. - Dazu braucht es die Führungskraft des
Fraktionsvorsitzenden.
({0})
Sie sind hier im Wort und ich gehe davon aus, dass dies
ein stetiger und entschlossener Anstieg wird. Was in der
MifriFi steht - minus 2,8 Prozent für das nächste Jahr,
weil die Zuwächse im Zusammenhang mit dem Verkauf
der UMTS-Lizenzen auslaufen -, werden Sie kraftvoll
stemmen. Sie werden Frau Bulmahn beistehen und dem
Wirtschaftsminister helfen, der hier vereinsamt in der
Gestalt seines Staatssekretärs auf der Regierungsbank
sitzt.
({1})
Frau Bulmahn hat festgestellt, die Bundesregierung
habe die Weichen richtig gestellt. Das fing 1998 an. Da
hat die Bundesregierung hier beschlossen, dass Technologie in den Zuständigkeitsbereich des Wirtschaftsministers fällt. Was ist passiert? Der Mittelstand, die
Luftfahrt und Energieindustrie sind an das Wirtschaftsministerium gegangen. Die tüchtigen Beamten, die Mittel und die Titel sind beim Wirtschaftsminister angekommen, aber die Begeisterung der Leitung für diese
Themen war ungemein begrenzt. Die Leidenschaft des
alten Wirtschaftsministers war gedämpft. Beim neuen
Wirtschaftsminister wissen wir noch nicht, wie es ihm
ums Herz ist. Ich würde es jedenfalls gern einmal erleben, dass dafür gekämpft wird. Strahlkraft ist so nicht
entstanden: Die Themen sind Ihnen genommen, aber angekommen ist nichts. Wir befinden uns in einem leeren
Raum.
Liebe Frau Bulmahn, Sie sind bekannt für Ihr Engagement bei IGLU, BAföG und PISA. Aber für einen
Aufbruch in die Welt der Gene, in die Welt der Computer und die Welt der Quanten haben Sie nicht gesorgt.
Sie verbreiten nicht gerade eine Faszination in dieser
Welt.
({2})
Es ist zu Recht gesagt worden: Begeisterung und Faszination machen schon die Hälfte des Erfolgs aus. Wenn
nicht Leidenschaft überkommt und erkennbare Freude
daran, das etwas Neues geschieht, dann sind wir alle in
Schwierigkeiten.
Sie haben hier im Einzelnen die angeblich richtigen
Weichenstellungen aufgezählt. Aber offenbar ist die Botschaft nicht überall angekommen: Die Innovationsfähigkeit des Mittelstandes, die wir nun wirklich brauchen,
lässt seit 1999 nach, ebenso wie die Zahl der Gründungen zurückgeht. Wir sind an allen Stellen in Schwierigkeiten. Die Steuerreform ist erst einmal verschoben worden, das betrifft die Rahmenbedingungen und nicht nur
die Programme.
Herr Müntefering, ich hoffe sehr, dass Sie zu den drei
Prozent Zuwachs bei der Max-Planck-Gesellschaft im
nächsten Jahr stehen. Aber dass der Zweifel hieran
wächst, wenn der Mittelstand erst einmal erfahren hat,
dass seine Steuerreform kurzfristig verschoben wird, das
können Sie niemandem verübeln. Forschung lebt vom
Vertrauen in die Rahmenbedingungen.
({3})
Wir brauchen eine dynamische Biotechnologie; die
Kollegen haben darauf hingewiesen. Gleichzeitig aber
ein faktisches Moratorium zu verhängen ist nicht sehr
klug.
({4})
Wir brauchen die großen Flaggschiffe der Technik. Aber
den Transrapid so lange zu problematisieren, dass wir
dann glücklich sein können, wenn er in China fährt, ist
keine besonders faszinierende Darstellung von Zukunftsfähigkeit und Überzeugungskraft.
({5})
Über Kerntechnik reden wir gar nicht mehr. Wir haben die sicherste Kerntechnik der Welt und dann beschließen wir, daraus auszusteigen. Wo ist eigentlich
Herr Kuhn?
({6})
- Ah, auf den letzten Bänken angekommen!
({7})
Herr Kuhn, ich bin etwas skeptisch gegenüber ihrer weisen Erkenntnis, dass man sich auf bestimmte Gebiete
konzentrieren sollte, die der Staat in seiner Weisheit und
Güte vorgibt.
({8})
Der Staat weiß von Zukunft gar nichts.
({9})
Der Staat erbringt schon eine großartige Leistung, wenn
er die Menschen nicht behindert. Der Staat sollte nicht
die Zukunft bestimmen. Ältere Menschen erinnern sich
sicherlich noch an die großartigen Energieprogramme,
die die Bundesregierung seit 1973 aufgelegt hat. Damals
haben Sie ein Ziel von 45 Gigawatt für die Kernenergie
beschlossen. Das alles ist natürlich Unsinn gewesen,
gell?
({10})
Gestaltet die Zukunft offen und lasst die Menschen
das machen, wozu es sie treibt. Gebt ihnen Luft und
Freiraum und sorgt für verantwortbare Rahmenbedingungen! In der damaligen Diskussion über die grüne
Gentechnologie hat uns Herr Catenhusen bestätigt, dass
es in Deutschland die beste Sicherheitsforschung auf der
ganzen Welt gibt. Aber dann in dieser Sache ein Moratorium zu verhängen ist wirklich eine Perversion.
({11})
Herr Müntefering hat behauptet, dass wir in den
schrecklichen 90er-Jahren die wichtigen Zeichen der Zukunft nicht verstanden hätten. Ich sage Ihnen: Das, was
als eine moderne Forschungs- und Gründerlandschaft
gepriesen worden ist, ist damals entstanden. Es sind
kluge und herausragende Forschungsminister der Union
gewesen,
({12})
die mit technikorientierten Programmen für die Gründung wie TOU, wie BTU und mit dem Bio-RegioWettbewerb eine Zukunft aufgebaut haben, die sich dynamisch entwickelt hat. Das war eine der großen Stärken.
Ich höre mit Vergnügen, was Herr Kuhn in diesem
Zusammenhang zu den Steuern sagt. Herr Kuhn, ich
möchte über die Stichworte hinaus Konkretes hören. Sie
müssen etwas bringen. Dann können wir diskutieren.
Sprechen Sie zum Beispiel über das, was Herr Eichel an
Frost über die Landschaft gelegt hat, als er die Wesentlichkeitsgrenze für Beteiligungen auf 1 Prozent reduziert hat. Damit ist die ganze Landschaft der Business
Angels ins Rutschen gekommen. Sprechen Sie über die
Fondsbesteuerung. Die Finanzämter können seit anderthalb Jahren keine verbindlichen Auskünfte mehr geben,
weil kein Mensch weiß, was Sache ist. Da in Deutschland keine Fonds mehr gegründet werden, entsteht kein
Eigenkapital und bricht unsere Forschungslandschaft
zusammen.
Frau Bulmahn, Sie haben unter anderem die ehrenvolle Aufgabe, die Forschungspolitik der Bundesregierung zu koordinieren, sie kraftvoll zu führen und mit
Charme, Entschlossenheit und Nachdruck dafür zu sorgen - es geht nicht nur um Geld -, dass auch im Finanzminister die Flamme für die Zukunft Deutschlands
brennt. Das wäre doch eine Aufgabe, die Ihrer Leidenschaft wert wäre.
Kollege Riesenhuber, Sie sind zwar sehr schön in
Fahrt. Aber Sie reden bereits auf Kosten Ihres Nachfolgers.
Das dürfen Sie ihm aber nicht von der Redezeit abziehen. Sie hätten mich rechtzeitig bremsen müssen.
Liebe Freunde, ich möchte nur noch mit guten Wünschen schließen.
({0})
Ich wünsche der Frau Forschungsministerin, dass sie
trotz ihrer reduzierten Zuständigkeiten so gut koordiniert
und einen so kraftvollen Führungsstil entwickelt, dass
ihr die Wissenschaft mit Begeisterung zujubelt, dass der
Mittelstand in ihr seine Vertreterin findet, dass die jungen Unternehmen daran glauben, dass sie eine hervorragende Ministerin ist, und dass ihr selbst die Opposition
applaudiert. Das braucht Deutschland.
({1})
Sie haben noch drei Jahre Zeit, um eine Strategie zu entwickeln. Wirtschaften Sie nicht von Tag zu Tag. Machen
Sie einen großen Wurf für die Zukunft. Dann werden wir
die Regierungsverantwortung übernehmen und wirklich
etwas daraus machen.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Jörg Tauss, SPD-Fraktion.
({0})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Riesenhuber, ich bin zwar nicht in allen
Punkten Ihrer Auffassung. Aber Sie waren noch ein Forschungsminister, der damals bei den Schwarzen um seinen Etat gekämpft hat. Nach Ihnen war dann Dunkelheit.
Es ist gut, dass er immer wieder aus der letzten Reihe
emporsteigt, um seinen Nachfolgern die Peinlichkeit Ihrer heutigen Politik aufzuzeigen. Ich danke ihm eigentlich dafür.
({0})
- Jetzt kriegen Sie sich doch wieder ein.
Gestern hatten wir einen parlamentarischen Abend
zum nationalen Genomforschungsnetz. Von Ihnen war
kaum jemand anwesend, zumindest nicht diejenigen, die
heute hier geredet haben. Aber es ist auch kein Wunder,
dass Sie nicht gekommen sind. Dorthin, wo Aufbruchstimmung herrscht und gesagt wird: „Wir sind auf dem
richtigen Weg“, gehen Sie nicht, weil das nicht in Ihr
Konzept passt, weil Sie die Situation in unserem Lande
mies machen. Diese Wahrheit müssen Sie sich sagen lassen.
({1})
Frau Flach, es ist einfach die Unwahrheit, wenn Sie
erzählen, wir seien nicht in der Lage, international mitzuhalten. Das ist Ausdruck von Krawallopposition, aber
nicht Ausdruck der Realität in diesem Lande.
({2})
Ich zitiere aus dem Bericht:
Die technologische Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist ... hoch.
Das ist der erste Satz des Berichts zur technologischen
Leistungsfähigkeit.
Die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung nehmen zahlenmäßig überdurchschnittlich ... zu ...
Das findet sich auf der ersten Seite des Berichts zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands.
({3})
Seite 2: Pro Kopf sind wir in wissenschafts- und forschungsintensiven Dienstleistungen vorn.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, da oben auf
der Tribüne sitzen junge Menschen, für die wir im Moment in allen Forschungseinrichtungen Schülerlabore
einrichten. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie versuchen,
die Öffentlichkeit zu täuschen und uns zu beschimpfen;
aber hören Sie doch auf, die Öffentlichkeit und die Wissenschaft in dieser Form zu beschimpfen. Sie haben es
nicht verdient. Sie schmälern deren Leistungen, die sie
in diesem Land erbringen. Mit dieser Form von Krawallopposition fügen Sie Deutschland Schaden zu; das muss
an dieser Stelle gesagt werden.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihre Polemik richtet sich ein Stück weit gegen Sie selbst. Frau
Reiche, Sie haben gesagt: Andere Länder sind dynamischer. Natürlich, auch dies steht im Technologiebericht:
Erfreuliche Kursänderungen der letzten Jahre konnten
die Versäumnisse der Vergangenheit noch nicht voll ausbügeln. - An dieser Stelle ist nicht von den letzten fünf
Jahren die Rede, sondern von Ihrer Regierungszeit, Herr
Riesenhuber, von der Zeit, in der bei Bildung und Forschung gekürzt worden ist und in der Sie diesen Etat als
Steinbruch benutzt haben.
({5})
Herr Riesenhuber, ich finde es nett, über Informations- und Kommunikationstechnologie zu reden; Sie
wissen, das ist unser gemeinsames Hobby. Allerdings
gab es zu Ihrer Zeit im Bundestag noch keinen Zugang
zum Internet; im Bundeskanzleramt fanden wir damals
Rohrpost statt Internet vor.
({6})
Insofern sollten Sie nicht so tun, als ob Sie an dieser
Stelle die Erfinder der technologischen Bewegung wären.
Allerdings haben wir auch Probleme. Ich bin Ihnen
dankbar, dass einige von Ihnen zumindest an dieser
Stelle einmal auf die realen Punkte hingewiesen haben.
Aus dem Technologiebericht geht deutlich hervor:
Deutschland hat keine andere Chance auf hohe Einkommen bei hohem Beschäftigungsstand, als weiterhin intensiv in Bildung und Wissenschaft, Forschung und Technologie zu investieren.
Das ist der richtige Kernsatz aus dem Bericht: Wir haben
keine andere Chance, als diese Investitionen auch weiterhin vorzunehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, aus diesem
Grund sagen wir auch: Wir sind auf dem richtigen Weg.
Aus diesem Grund kämpfen wir um unseren Haushalt.
Aus diesem Grund hat es uns wehgetan, im Jahr 2003
nicht an die Maßnahmen anknüpfen zu können, die wir
in den vier Jahren zuvor umgesetzt haben. Das ist auch
der Grund, warum der Bundeskanzler am 14. März hier
gesagt hat: In den nächsten Jahren werden wir bei den
Wissenschaftsorganisationen wieder für Aufwuchs sorgen. Dieses Signal brauchen wir.
({7})
In diesem Zusammenhang bitte ich Sie, dies zu würdigen und nicht in dieser Form wahrheitswidrig zu konterkarieren, Herr Kollege Mayer. Sie haben behauptet,
die Mittel für die Deutsche Forschungsgemeinschaft
seien gekürzt worden. Entschuldigen Sie bitte, Herr Kollege Mayer: Sie sind älter als 15; PISA-Aufgabenstellungen dürften bei Ihnen nicht mehr zu wesentlichen Problemen führen. Aber Zahlen müsste man lesen können;
man müsste rechnen können. - Sie da hinten von der
CDU/CSU können die „Bild“-Zeitung lesen, aber rechnen können Sie nicht. - Herr Professor Winnacker hat
sich ausdrücklich bei uns dafür bedankt, dass wir trotz
der schwierigen Haushaltslage in diesem Jahr für die
Deutsche Forschungsgemeinschaft einen Aufwuchs verzeichnen.
({8})
Im Gegensatz zu Ihrer Regierungszeit haben wir seit
1998 die Mittel um 16 Prozent erhöht und in diesem Jahr
einen Aufwuchs von 2,5 Prozent erzielt. Das ist konkrete
Nachwuchsförderung bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft, denn hiervon profitieren insbesondere junge
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
({9})
In Bezug auf die Zukunft haben wir große Fortschritte erzielt, Herr Kollege Riesenhuber. Die Genomforschung habe ich vorhin angesprochen; darüber hinaus
nenne ich die Stichworte Nanotechnologie, Mikrotechnologie, I-und-K-Technologie, also die optischen und elektronischen Technologien. Alle diese Fakten liegen auf
dem Tisch.
Sie haben Recht: In den letzten Jahren sind besonders
in den F-und-E-intensiven Bereichen Arbeitsplätze entstanden. Ich betone es noch einmal: Diese Arbeitsplatzzuwächse in Deutschland sind in den letzten Jahren entstanden. Es sind zu wenige Arbeitsplätze entstanden;
anderenfalls wäre die Arbeitslosigkeit heute nicht so
hoch. Es steht völlig außer Frage, dass zu wenige Arbeitsplätze entstanden sind; aber der Zuwachs an Arbeitsplätzen entstand ausschließlich in den F-und-E-intensiven Bereichen. Aus diesem Grund hat Franz
Müntefering völlig Recht, wenn er auf den Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt hinweist. Wir als Fraktion
begrüßen daher den Vorschlag unseres Fraktionsvorsitzenden, eine Task-Force einzurichten, außerordentlich.
Das wäre - auch im Rahmen der Agenda 2010 - ein
Weg, der uns dazu berechtigt, zu sagen: Hierdurch werden weitere Verbesserungen, auch auf dem Arbeitsmarkt, geschaffen.
({10})
Eines ist klar: Die technologische Leistungsfähigkeit
einer Volkswirtschaft hängt davon ab, inwieweit es ihr
gelingt, Potenziale in Wachstum und Beschäftigung umzusetzen und den innovativen Strukturwandel zu forcieren. Dies gilt auch für die neuen Bundesländer, wo es
- trotz aller Probleme, die es dort gibt - an den Orten
insgesamt weniger Probleme gibt, wo wir es geschafft
haben, für die Ansiedlung von Wissenschaftseinrichtungen, für die Ansiedlung von innovativen Unternehmen
zu sorgen und Cluster in unterschiedlichen Bereichen zu
installieren, beispielsweise in der Region Halle/Leipzig
und anderswo. Darin liegt die Chance für die Zukunft,
die wir nutzen müssen, im Westen wie im Osten.
Meine herzliche Bitte an Sie lautet: Begleiten Sie
diesen Weg! Hören Sie auf, diesen Weg mit Unwahrheiten zu diskreditieren! Begleiten Sie diesen Weg mit
konkreten Vorschlägen! Begleiten Sie diesen Weg im
Interesse unseres Landes und der Zukunft seiner jungen
Generation! Um diese Generation geht es, nicht um Ihre
Krawallopposition. Es geht um die Zukunft unseres
Landes und um die Zukunft der jungen Menschen, die
auf der Besuchertribüne heute in großer Zahl anwesend
sind.
({11})
Nun hat Kollege Michael Kretschmer, CDU/CSU, das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Tauss, wir probieren es zum Ende dieser Debatte noch
einmal mit etwas Inhalt
({0})
und mit etwas konkreteren Sätzen.
Sie haben die neuen Bundesländer angesprochen.
Ich möchte darauf gern eingehen. Die Wissenschaftsinfrastruktur in den neuen Bundesländern kann sich mittlerweile sehen lassen. Sie ist in vielen Bereichen Weltspitze; in anderen Bereichen ist sie auf dem Weg dorthin.
({1})
Es gibt in den neuen Bundesländern aber auch große
Unterschiede zu den alten Bundesländern. Auch das zeigt
der Bericht in eindringlicher Weise. Ich möchte kurz darauf eingehen. Das größte Innovationshemmnis ist nach
wie vor die Kleinteiligkeit der Unternehmenslandschaft. Während in Deutschland auf 100 000 Einwohner
im Schnitt 376 Unternehmen mit einem Jahresumsatz
von 1 Million Euro kommen, so sind es in den neuen
Bundesländern gut 100 Firmen weniger, nämlich 270.
Die F-und-E-Aufwendungen in den neuen Bundesländern entfallen zu mehr als zwei Dritteln auf kleine und
mittlere Unternehmen. In Westdeutschland hingegen
tragen Großunternehmen mit über 500 Beschäftigten
85 Prozent aller F-und-E-Aufwendungen.
Die ostdeutschen Unternehmen haben in den letzten
Jahren einen großen Sprung gemacht. Sie haben in den
vergangenen Jahren den Export von forschungsintensiven Gütern um jährlich 30 Prozent steigern können. Das
geschah aber auf einem sehr niedrigen Niveau. Laut dem
vorliegenden Bericht sind im Jahr 2001 lediglich 4,5 Prozent aller in Deutschland produzierten F-und-E-intensiven Waren in den neuen Bundesländern hergestellt worden. Dort muss unsere Politik ansetzen: Wir brauchen in
größerer Zahl Unternehmen, die forschungsintensive
Produkte herstellen. Nur diese Unternehmen - auch das
steht in dem Bericht - wachsen statistisch schneller, sie
sind resistenter gegen Konjunkturdellen und sie garantieren in der Regel höhere Einkommen.
Wir wollen die Förderprogramme „Regionale
Wachstumskerne“ und „Inno-Regio“ weiterentwickeln.
Sie haben - das ist unbestritten - in den neuen Bundesländern positive Wirkungen. Bedauerlich ist - man muss
es der Vollständigkeit halber einfach sagen - der riesige
bürokratische Aufwand, der dort nach wie vor herrscht.
Es gibt beispielsweise ein Netzwerk, in dem 126 Beteiligte gebraucht werden, um zwölf Projekte mit 64 Einzelverträgen zu managen. Das ist weder innovativ noch
der Sache angemessen.
({2})
Wir möchten für die neuen Bundesländer drei Dinge
konkret ansprechen:
Erstens. Wir müssen es schaffen, den Innovationsprozess erfolgreicher Unternehmen auch nach Auslaufen
der Förderung weiter zu begleiten.
Zweitens. Wir wollen den Aufbau weiterer Netzwerke und wir möchten, dass Netzwerke, die derzeit erfolgreich arbeiten, weiteren finanziellen Spielraum erhalten. Das muss möglich sein, weil nach Informationen
Ihres Ministeriums die Zuwachsraten bei den Inno-Regio-Projekten nicht so groß sind und der Mittelabfluss
gehemmt ist und deswegen finanzielle Ressourcen vorhanden sind.
Drittens - ich komme zum Schluss -: Wir möchten
die neuen Bundesländer mit Großforschungseinrichtungen und Centers of Excellence stärker fördern. Wir brauchen auch externe Impulse für mehr Wachstum. Das endogene Potenzial, das jetzt vorhanden ist, reicht nicht
aus, um den Wirtschaftsaufschwung in Gang zu setzen
und die neuen Bundesländer tatsächlich voranzubringen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/788 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Dietrich Austermann, Heinz
Seiffert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Strikte Einhaltung des geltenden Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes
- Drucksache 15/541 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Präsident Wolfgang Thierse
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({1}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Entschließung des Europäischen Parlaments
zu der jährlichen Bewertung der Durchführung der Stabilitäts- und Konvergenzprogramme ({2}) ({3})
-Drucksachen 15/345 Nr. 34, 15/737 Berichterstattung:
Abgeordnete Georg Fahrenschon
Kerstin Andreae
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Otto Bernhardt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei diesem Tagesordnungpunkt geht es um die Frage: Wie halten wir es mit den Stabilitätskriterien? Zur Diskussion stehen ein Antrag meiner Fraktion, der CDU/CSUFraktion, und eine Beschlussempfehlung des Finanzausschusses. Zwischen diesen beiden Papieren besteht
ein entscheidender Unterschied. Während sich Vertreter der Bundesregierung, beginnend beim Bundeskanzler, und Vertreter der Regierungsfraktionen seit Monaten auch in der Öffentlichkeit intensiv mit der Frage
beschäftigen: „Wie können wir die Stabilitätskriterien
vor dem Hintergrund der schwierigen wirtschaftlichen
Lage ein bisschen aufweichen?“, ist unsere Position,
die in dem Antrag auch ganz klar zum Ausdruck
kommt: Wir sind dafür, dass die Stabilitätskriterien
auch und gerade in einer schwierigen Zeit konsequent
eingehalten werden.
Wir erinnern in diesem Zusammenhang daran, dass es
die frühere CDU/CSU-FDP-Regierung war, die sich dafür eingesetzt hat, dass es zu dem Stabilitäts- und
Wachstumspakt kam. Wenn wir nach dem Hintergrund
fragen, dann führt uns das in die Jahre 1997 und 1998
zurück, als wir uns - viele erinnern sich - intensiv über
die Einführung des Euros unterhalten haben. Die Einführung des Euros war in Deutschland nicht unumstritten und sie ist es auch heute nicht. Wir sind uns hier im
Hause sicherlich darüber einig, dass die Einführung des
Euros ein ganz wichtiger, vielleicht sogar der wichtigste
Schritt auf dem Wege zur europäischen Integration war;
denn er hat die europäische Integration unumkehrbar gemacht.
Natürlich gab es Vorbehalte in der deutschen Bevölkerung. Jeder, der damals für den Euro eingetreten ist
- so auch ich -, hörte die Vorbehalte der Bevölkerung.
Es wurde gesagt: Wir geben die stabile D-Mark auf und
wir machen eine Union mit Ländern wie Spanien, Italien, Frankreich und Portugal, die das Thema Preisstabilität nicht so ernst nehmen wie wir in Deutschland. - Wir
haben letztlich die Zustimmung auch der Fachwelt in
Deutschland für den Euro nur bekommen, weil wir gesagt haben: Den Euro darf nur einführen, wer sehr
strenge Kriterien erfüllt.
Dann wurde in der Diskussion gesagt - Sie erinnern
sich -: Diese Länder werden sich Mühe geben, um die
Kriterien einmal zu erfüllen, aber wenn sie den Euro erst
haben, dann beginnt sozusagen wieder der alte Trott. Deshalb ist im Stabilitäts- und Wachstumspakt sehr
deutlich zum Ausdruck gebracht worden: Wer den Euro
eingeführt hat, muss auch auf Dauer bestimmte Kriterien
erfüllen. Das gilt vor allem für die 3-Prozent-Nettoneuverschuldung, aber das gilt natürlich auch für die
60 Prozent Gesamtverschuldung bezogen auf das Bruttosozialprodukt.
Jetzt zur Realität, meine Damen und Herren. Die Realität ist, dass Deutschland 2001 mit 2,8 Prozent schon
ganz dicht an die 3-Prozent-Grenze gekommen ist. Die
Realität ist - ich will heute nicht die Schlachten von gestern wieder führen -, dass wir im Jahre 2002 das Ziel
nicht knapp, sondern mit 3,6 Prozent Nettoneuverschuldung um 20 Prozent verfehlt haben. Seit wenigen Tagen
muss wohl jeder zur Kenntnis nehmen, Herr Minister
- wir sagen es seit Monaten, jetzt sagt es aber auch die
EU -: Auch in diesem Jahr werden wir wohl aller Wahrscheinlichkeit nach das 3-Prozent-Kriterium wieder verfehlen. Die EU spricht von 3,4 Prozent, ich selber befürchte - ich könnte das begründen, aber dafür reicht die
Zeit nicht aus -, es werden mindestens 3,6 Prozent Nettoneuverschuldung.
Jetzt kommen wir natürlich in eine schwierige Position: Wer auf europäischer Ebene strikt die Einhaltung
der Kriterien fordert, der muss natürlich erst einmal zu
Hause seine Schularbeiten machen.
({0})
Damit sind wir bei der aktuellen Situation: Wir stellen
nämlich fest, dass wir in den beiden entscheidenden
volkswirtschaftlichen Größen, Wirtschaftswachstum und
Arbeitslosigkeit, dabei sind, zum Schlusslicht bzw. zum
Spitzenreiter in Europa zu werden.
Sie, Herr Minister, werden eine Argumentation vertreten - ich glaube, Sie stehen auf der Rednerliste -, die
ich schon im Vorhinein als unredlich bezeichne. Sie werden sich hier wieder hinstellen und sagen: Wir leben in
einer globalisierten Welt; unsere Probleme hängen mit
dem 11. September und der schwierigen Lage der Weltwirtschaft zusammen. Dazu sage ich ganz deutlich: Natürlich hat die weltwirtschaftliche Lage Einfluss auf die
Situation in Deutschland. Wer das leugnet, nimmt die
Fakten nicht zur Kenntnis. Aber wir müssen uns doch
mit der Frage beschäftigen: Warum werden alle anderen
Länder in Europa mit eben diesen Rahmenbedingungen
deutlich besser fertig als wir?
({1})
Schauen Sie einmal in die Presseerklärung der EUKommission von vorgestern hinein, in der von einem
Wirtschaftswachstum in Deutschland von 0,4 Prozent
und im EU-Raum vom Drei- bis Vierfachen ausgegangen wird. Es stellt sich doch die Frage, warum im letz3264
ten Jahr die Italiener, die Spanier und die Engländer ein
drei- bis viermal so hohes Wachstum wie wir gehabt
haben.
Bezüglich der Arbeitslosenzahlen ist festzustellen,
dass wir im Jahre 2001 erstmalig über der durchschnittlichen Quote in Europa lagen. Wir sind Gott sei Dank
noch nicht Spitzenreiter, aber bei uns lag die Quote erstmalig höher als der Durchschnitt. Ich habe mir nun die
Zahlen für das Jahr 2002 angeschaut; danach liegt die
Arbeitslosenquote in Deutschland zum zweiten Mal über
dem EU-Durchschnitt. Wenn ich mir vor Augen führe,
dass wir im März ein paar Hunderttausend mehr Arbeitslose als im März des Vorjahres hatten, dann habe ich die
Befürchtung, dass wir in diesem Jahr einen der schlechtesten Plätze bezüglich der Arbeitslosenquote in Europa
einnehmen werden.
Deshalb stelle ich fest, meine Damen und Herren: Natürlich kann nur derjenige für die strikte Einhaltung der
Stabilitätskriterien in Europa eintreten, der seine Schularbeiten zu Hause macht. Solange wir Schlusslicht beim
Wirtschaftswachstum sind - jetzt zum dritten Male -,
Spitzenreiter bei der Neuverschuldung sind und die Arbeitslosigkeit bei uns im europäischen Vergleich eine
Spitzenposition einnimmt, so lange müssen wir uns vorhalten lassen, dass wir unsere Schularbeiten nicht gemacht haben.
Nun komme ich zu möglichen Ursachen: Im Sachverständigengutachten des entsprechenden EU-Papiers
steht: In Deutschland sind grundlegende Reformen auf
dem Arbeitsmarkt und bei den Sozialversicherungen
notwendig. - Wenn wir diese nicht einleiten, bleibt die
Situation so, wie sie jetzt ist. Sie machen den Fehler, auf
zurückgehende Einnahmen mit neuen Steuern zu reagieren. Wir haben darüber diskutiert, Sie hatten 41 vorgeschlagen. Wir haben Sie davor bewahrt, dass diese
Vorschläge Gesetzeskraft erhielten, denn die Sachverständigen haben gesagt, wenn das Gesetz geworden
wäre, würde die Wirtschaft noch einmal um 0,5 Prozent
weniger wachsen. Wir haben Sie davor, wie gesagt, bewahrt. Heute Nacht sind, wie ich gehört habe, ganz vernünftige Ergebnisse im Vermittlungsausschuss erzielt
worden. Die meisten Ihrer Vorschläge haben sich damit
Gott sei Dank erledigt. Das ist etwas Positives für die
weitere Entwicklung in Deutschland.
({2})
Abschließend, meine Damen und Herren, halte ich
fest: Wir als Deutsche sollten uns nicht an einer Diskussion in Europa über die Aufweichung der Kriterien beteiligen. Wir sollten vielmehr dafür eintreten, dass sie
strikt angewandt werden, denn wir waren die Väter dieser Kriterien. Wir sollten unsere Schularbeiten machen,
indem wir grundlegende Reformen umsetzen.
Ich sage von dieser Stelle: Wir sind bereit - die Union
hat es schon bewiesen -, auf diesem Wege im Interesse
der deutschen Volkswirtschaft mitzugehen.
({3})
Ich erteile Bundesminister Hans Eichel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich finde es niedlich, meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU, wie Sie mit der
Rednerreihenfolge spielen. Ich unterstelle, dass Sie, verehrter Herr Kollege Merz, wenigstens in der heutigen
Debatte reden,
({0})
nachdem wir von Ihnen die ganze Zeit, als es um das
Steuervergünstigungsabbaugesetz ging, überhaupt nichts
mehr gehört haben, wie überhaupt bei der Opposition an
dieser Stelle ein völliges Durcheinander festzustellen
war.
({1})
Ich sage das, weil das unmittelbar mit dem zu tun hat,
was Sie, Herr Kollege Bernhardt, eben angesprochen haben. Sie haben völlig richtig angefangen, indem Sie
wörtlich formuliert haben: „Wie halten wir es mit den
Stabilitätskriterien?“ Sie haben offenkundig Ihre eigene
Fraktion gemeint.
({2})
- Das ist auch sehr schön. - Aber zunächst einmal muss
man sich doch mit Ihnen beschäftigen. Es ist festzustellen, dass Sie sich nun zum Verteidiger des Stabilitätsund Wachstumspaktes aufschwingen. Das finde ich
gut. Wenn wir an diesem Punkt wieder zusammenkämen, wäre das ein großer Gewinn.
Nur, verehrter Herr Kollege Bernhardt, ich erinnere
an Folgendes. Richtig, es war Theo Waigel, der den Stabilitäts- und Wachstumspakt gewollt hat. Aber wo war
denn die Finanzpolitik dazu? Die Situation, die Sie uns
1998 hinterlassen haben, war so, dass wir 80 Milliarden
neue Schulden hätten machen müssen, wenn wir nicht
sofort und intensiv eingegriffen hätten.
({3})
Das heißt, Sie formulieren auf der einen Seite einen
Anspruch, den Sie aber auf der anderen Seite nicht erfüllen.
Was war denn im vergangenen Jahr? Wenn ich mich
recht erinnere, war Ihr gesamtes Wahlprogramm ein
einziges Versprechen mit der Konsequenz eines Bruchs
der europäischen Stabilitätskriterien, Herr Kollege
Bernhardt. Nichts von alledem hätte jemals umgesetzt
werden können.
Was war denn im vergangenen Sommer Ihr Vorschlag, als wir bezüglich des Wiederaufbaus in den von
der Flutkatastrophe betroffenen Gebieten gesagt haben,
wir könnten uns keine neuen Schulden leisten, das
müsse solide finanziert werden?
({4})
Wo stünden wir hinsichtlich der Stabilitätskriterien denn
heute, wenn wir Ihnen gefolgt wären?
({5})
Und so geht es weiter, wenn ich an die Verabschiedung des Haushalts dieses Jahres denke. Von Ihrer Seite
waren keine Einsparungen geplant, sondern Sie haben
2 Milliarden Euro zusätzliche Ausgaben vorgeschlagen.
({6})
Diese Doppelstrategie hat sich heute Nacht fortgesetzt. Deswegen finde ich es sehr mutig, dass Sie sich
nach dem Vermittlungsergebnis hier hinstellen und sagen, wir müssten den Stabilitätspakt einhalten und insbesondere all das, was der Ecofin-Rat, der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister der EU, Deutschland
empfohlen hat, auch umsetzen. Hätten Sie sich selbst
heute Nacht oder schon eher an die Empfehlungen gehalten, verehrter Herr Kollege Bernhardt, dann stünden
wir nun anders da.
({7})
Denn, meine Damen und Herren, wir wollen doch
festhalten, dass der Rat vor dem Hintergrund der Annahme - damals übrigens noch gemeinsam mit der Europäischen Kommission - von 1,5 Prozent Wachstum
empfohlen hat, dass alles, was wir im Herbst vorgeschlagen haben, auch umgesetzt werden muss. Dazu gehört
auch das Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen.
So leicht können Sie sich da nicht herausschleichen.
Heute Morgen tritt der Brandstifter von heute Nacht als
Biedermann auf.
({8})
Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({9})
Man konnte in diesem Zusammenhang eine spannende Beobachtung machen, die übrigens sehr viel mehr
mit Ihrem innerparteilichen Stellungskrieg zu tun hat als
mit der Finanzpolitik dieses Landes. Man konnte sehen,
dass die Finanzpolitiker in den Ländern eine gänzlich
andere Position bezogen haben als zum Beispiel die Finanzpolitiker in Ihrer Bundestagsfraktion, soweit sie
sichtbar waren, zum Beispiel Herr Meister. Von dem Paket, das vorgesehen war, sollen im Entstehungsjahr gerade einmal 30 Prozent umgesetzt werden. Das ist für die
Zukunft ein dickes Problem.
({10})
Aber auch für dieses Jahr entsteht ein dickes Problem. Wo ist denn Ihr Bemühen um die Kommunalfinanzen?
({11})
Von 6,7 Milliarden Euro Steuereinnahmen für die Kommunen bleiben gerade 600 Millionen Euro übrig. Das
müssen Sie Frau Roth einmal erklären. Die Länder sind
verantwortlich dafür, dass die Kommunalfinanzen in
Ordnung sind; denn die Kommunalfinanzen sind nach
unserer Verfassungsordnung Bestandteil der Länderfinanzen. Wo ist denn die Verantwortung, insbesondere
Ihrer Länder, für die Finanzen der Kommunen und für
die Investitionsfähigkeit der Kommunen in diesem
Lande?
Wenn man genauer hinsieht, kann man sagen: Sie nähern sich der Wirklichkeit sozusagen portionsweise.
Nach dem 2. Februar brauchten Sie zwei Monate, um
dahin zu kommen, dass wir uns auf Mehreinnahmen in
Höhe von 4,4 Milliarden Euro im Bereich der Unternehmensbesteuerung - dazu gehört übrigens nicht nur die
Körperschaftsteuer - einigen konnten.
Sehen wir uns einmal die Resolution an, die die Herren Kollegen Steinbrück und Koch gemeinsam eingebracht haben. Heute Nacht haben Sie sich diese Resolution nicht mehr zu Eigen gemacht. Aber in der Debatte
morgen wollen Sie sich - so ist es heute Nacht verabredet worden; darauf bin ich schon außerordentlich gespannt - darauf beziehen. Dann sieht die Welt wieder ein
bisschen anders aus. Nach und nach schließen Sie sich
meinen Vorschlägen an. Sie brauchen nur länger, bis Sie
dahin kommen.
Folgender Punkt ist besonders interessant. Zwischen
Herrn Koch und Herrn Steinbrück wurde verabredet, die
Subventionen in drei Jahren um 10 Prozent zu kürzen.
Angesichts der Tatsache, dass wir die Finanzhilfen von
1998 bis 2003 um über 30 Prozent gekürzt haben, nämlich von 11,4 auf 7,8 Milliarden Euro, ist dies kein sehr
ehrgeiziges Vorhaben. An dieser Stelle werden Sie mehr
leisten müssen.
Sie reden immer davon, die Subventionen müssten
herunter. Im Subventionsbericht der Regierung Kohl
sind die Eigenheimzulage und die ermäßigten Mehrwertsteuersätze als Subventionen geführt. Genau diese
Punkte waren Gegenstand des Gesetzes, das wir vorgelegt haben. Was ist Ihr Vorschlag? Sie können nicht von
genereller Subventionskürzung reden, wenn jedes Mal,
wenn es darauf ankommt, von Ihrer Seite Blockade betrieben wird.
Sie, Herr Kollege Bernhardt, reden davon, die Systeme der sozialen Sicherung reformieren zu wollen.
Aber heute Nacht konnte nur ein dürftiger Kompromiss
geschlossen werden, weil Sie nicht bereit sind, mehr zu
tun und Nein zu den Wünschen der Lobbyisten zu sagen.
Das ist die Lage, in der wir uns heute befinden: Sie verniedlichen die gesamte Situation.
({12})
Lassen Sie uns nicht abstrakt über den europäischen
Stabilitäts- und Wachstumspakt reden, sondern ganz
konkret ansprechen, wer was dafür tut, damit wir unseren Verpflichtungen nachkommen. Ob es der Haushalt,
die Steuergesetze oder der Subventionsabbau sind: Jedes
Mal bleiben Sie hinter den Notwendigkeiten zurück. Sie
sind, gemessen an Ihren eigenen Kriterien, nicht in der
Lage, die Verpflichtungen, die erfüllt werden müssen,
auch nur halbwegs zu erfüllen.
Sehr verehrter Herr Kollege Bernhardt, ich sage noch
einmal: Ich begrüße, dass es in dieser Nacht überhaupt
zu Bewegungen gekommen ist. Aber die Resolution, die
eine Protokollerklärung der Bundesregierung wird, auf
die Sie sich beziehen wollen, haben Sie einfach beiseite
geschoben, weil Sie ganz genau wissen, dass Sie und
insbesondere die Länder nicht über diesen Sommer kommen werden, wenn Sie auf der Linie verharren, die Sie
bisher eingeschlagen haben.
Wir wollen unsere Verpflichtungen im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts erfüllen. Wir hätten es ein
Stück leichter, wenn Sie uns damals einen anderen Bundeshaushalt hinterlassen hätten. Die Defizite müssen wir
nun aufarbeiten. Ich will meinen Blick aber nicht in die
Vergangenheit richten, da es wenig Sinn macht. Herr Kollege Bernhardt, es kommt jetzt darauf an, dass Sie Ihrer
Verantwortung für die Länderhaushalte und für die
Kommunalhaushalte, die Ihre Partei zumindest im Bundesrat hat - Sie stellen dort die Mehrheit -, gerecht werden.
Wir werden alles auf den Prüfstand stellen müssen.
({13})
Ich bin den Ländern entgegengekommen, indem ich
gesagt habe: Ab dem Jahr 2004 - das war der Wunsch
der Länder - darf der Anteil des Bundes am dann noch
zulässigen Defizit 45 Prozent und jener der Länder und
Kommunen 55 Prozent betragen. Dann müssen Sie für
die 55 Prozent aber auch die Verantwortung übernehmen.
({14})
Sie dürfen nicht einfach nur erklären, dass Ihnen nicht
passt, was wir vorlegen, wenn Sie auf der anderen Seite
keine Vorschläge machen, wie man im gleichen Umfang einsparen kann. Wo ist denn das Sparpaket der
Länder, das Herr Stoiber Anfang dieses Jahres für alle
B-Länder - so habe ich es damals verstanden - angekündigt hat?
({15})
Davon ist bis heute absolut nichts zu sehen. Ich kann es
ja verstehen. In Bayern stehen Landtagswahlen vor der
Tür. Da fällt es Ihnen natürlich besonders schwer, das
einzuhalten, was Sie vorher versprochen haben. Auch
das gehört zur Realität.
Ich begrüße, dass die CDU-Fraktion in BadenWürttemberg Beschlüsse gefasst hat, die sich mit der Besoldung im öffentlichen Dienst beschäftigen. Da werden viele andere nachziehen müssen. Aber ich sage noch
einmal: Für 55 Prozent des dann zulässigen Defizits der
Länder und Kommunen haben die Länder die Verantwortung. Bisher vermisse ich auch nur einen ansatzweise
zureichenden Beitrag von Ihrer Seite. So kann es nicht
weitergehen.
Natürlich haben Sie Recht, dass wir eine riesige Reformagenda vor uns haben. Der Bundeskanzler hat sie
hier schon vorgestellt. Ich bin sehr gespannt, wie Sie sich
verhalten. Heute Nacht haben wir eine erste Kostprobe
Ihres Verhaltens nicht nur hinsichtlich der Steuern, sondern auch hinsichtlich der Systeme der sozialen Sicherung bekommen. Jedes Mal, wenn es darauf ankommt,
weichen Sie notwendigen, aber unangenehmen Entscheidungen aus. Damit werden wir die Zukunft nicht gewinnen. Ich prophezeie Ihnen, dass wir vor dem Hintergrund
genau der Aufgaben, die vor uns liegen - niemand weiß
genau, wie die wirtschaftliche Entwicklung dieses Landes im Laufe des Sommers verläuft -,
({16})
vor sehr schwerwiegenden Entscheidungen stehen werden. Die nächste Frage wird sich ergeben, wenn uns die
Mai-Steuerschätzung vorliegt;
({17})
die Frage nämlich, welche Korrekturnotwendigkeiten
sich daraus ergeben.
({18})
Darüber möchte ich heute nicht philosophieren, weil es
keinen Zweck hat, jeden Tag neue Daten in die Welt zu
setzen, und weil auch Ihre Fachleute sich in diesem
Punkt schon gewaltig und in kurzer Zeit geirrt haben.
Also verlassen wir uns wie jeder seriöse Finanzpolitiker und genau so, wie dies auch der Kollege Faltlhauser
macht, auf die Daten, die uns mit der Mai-Steuerschätzung und der November-Steuerschätzung vorgelegt werden. Aber dann, sehr verehrter Kollege Bernhardt, wird
es nicht reichen, bei dem, was Sie heute Nacht getan haben, stehen zu bleiben. Sie werden im Laufe des Sommers zu ganz grundlegenden Veränderungen ihrer Position kommen müssen, weil Sie, jedenfalls über die
Landesregierungen, in großem Umfang Mitverantwortung für die Entwicklung dieses Landes tragen. Das verlangt wesentlich mehr, als Sie heute Nacht an Einsicht
gezeigt haben.
({19})
Entschuldigung. - Der nächste Redner ist der Kollege
Dr. Günter Rexrodt, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Eichel, Sie haben sich eben darüber ausgelassen, dass
Sie Probleme haben, Ihren Haushalt auf die Reihe zu beDr. Günter Rexrodt
kommen, und dass seine Deckung nicht stimmt. Sie haben so getan, als ob die Opposition schuld daran ist, dass
das nicht klappt. Aber das ist ja nun Ihre Aufgabe.
({0})
Die rot-grüne Koalition hat die Finanzpolitik ja immer als eine Monstranz vor sich hergetragen. Sie war die
große Erfolgsstory. Das ist sie aber nicht mehr. Wenn Sie
Ihre Rede schon so anlegen, fordere ich Sie auf, die
Dinge, die zu dieser Misere geführt haben, doch einmal
beim Namen zu nennen. Aber unterlassen Sie Ihre ständigen Ausflüchte, die Sie auch eben wieder angeführt
haben. Am Anfang war also die riesengroße Schuldensumme, die Sie übernommen haben, schuld.
({1})
Dann waren es die Folgen des 11. September 2001. Nun
ist es die Unsicherheit im Irak. Diese Unsicherheit auf
den Märkten gibt es ja, Herr Eichel.
({2})
Aber ich würde mir langsam einmal andere Erklärungen
für die konjunkturelle Misere einfallen lassen
({3})
und in der öffentlichen Argumentation nicht die ständige
Überfrachtung bezüglich der Unsicherheit vornehmen.
Es geht um Fakten.
Der Kern des Übels, meine Damen und Herren, besteht nämlich darin, dass sich unser Land und insbesondere die Wirtschaft in einer Vertrauenskrise befinden.
Die Verbraucher sind verunsichert. Die Investoren investieren nicht mehr. Deutschland ist gegenüber seinen Partnerländern zurückgefallen. Deutschland ist Schlusslicht.
Die Europäische Kommission geht davon aus, dass wir
in diesem Jahr zum zweiten Mal hintereinander die Verschuldungskriterien von Maastricht nicht einhalten werden.
Dies, meine Damen und Herren, ist das Ergebnis einer
falschen Politik,
({4})
einer Politik fehlerhafter Prognosen, gebrochener Versprechungen, hektischer Ankündigungen und kleinkarierter Rückzieher, ungerechter und schwer verständlicher
Steueränderungen, einer bürokratischen Rentenreform
und einer nicht aus den Startlöchern kommenden Gesundheitsreform. Dies ist eine Politik, in der blanke Gewerkschaftsinteressen die Notwendigkeit der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes überlagern.
({5})
- Das ist keine alte Mär. Das sind die Fakten, die gerade
erst bei den Entscheidungen der IG Metall bestätigt wurden. Die Hoffnung, die einige hatten, dass auch diese
große Gewerkschaft endlich auf Reformkurs geht und
sich an anderen orientiert, ist zerstört. Auch das, meine
Damen und Herren, wird sich wieder im Verlust von Arbeitsplätzen niederschlagen.
({6})
Die Fakten liegen auf dem Tisch. Was haben Sie denn
getan? Kern Ihrer Politik war eine Politik der Bündnisse. Es gab Bündnisse für jedes und alles. Sie können
doch nicht bestreiten, dass dies der Kern der Politik zumindest in der letzten Legislaturperiode war. Diese Politik der Bündnisse, bei der man bei verschiedenen Themen mauscheln wollte, ist gescheitert. Nun, meine
Damen und Herren, ist auch noch die Finanzpolitik gescheitert. Das müssen Sie sich schon sagen lassen; denn
wir werden nicht darauf verzichten, Ihnen das vorzuhalten.
({7})
Ich will jetzt gar nicht über die Dinge reden, die dazu
geführt haben, dass die rot-grüne Mehrheit hier vor rund
drei Wochen einen Haushalt beschlossen hat, von dem
wir heute wissen - das sage ich ohne jede Polemik, das
ist Fakt -, dass er nicht das Papier wert ist, auf dem er
steht;
({8})
denn die Voraussetzungen für die Einhaltung des Haushalts sind nicht gegeben. Dazu bräuchten wir 1 Prozent
Wachstum und Herr Eichel hat selbst gesagt, dass der
Haushalt nur dann eingehalten werden kann, wenn es
1 Prozent Wachstum gibt, es nicht zu einer signifikanten
Erhöhung der Arbeitslosenzahlen kommt, die Steueramnestie Geld einbringen wird und über das Steuervergünstigungsabbaugesetz - eigentlich ist das ein Steuererhöhungsgesetz - bestimmte Milliardenbeträge erwirtschaftet
werden. So wird es aber nicht kommen und deshalb ist der
Haushalt Makulatur.
Aber worum geht es heute wirklich? Der Herr Kollege Bernhardt hat es auf den Punkt gebracht: Heute geht
es um die Einhaltung der Verschuldungsgrenzen, der
Kriterien von Maastricht. Herr Eichel, dazu haben Sie eigentlich gar nichts gesagt, Sie haben nur über Ihre Nöte
gesprochen.
({9})
Es ist nun einmal so, dass die Kriterien von Maastricht
nicht eingehalten werden können. Vielleicht wird es
morgen besser.
Ich möchte Ihnen zwei Aussagen ins Stammbuch
schreiben. Die eine ist von der Bundesbank, die an ihrer
Spitze sozialdemokratisch besetzt ist. Sie schreibt in einem bemerkenswerten Papier vom Februar 2002:
Nur eine klare finanzpolitische Linie, die eine auf
Ausgabenbegrenzung ausgerichtete ... Konsolidierungsperspektive aufweist, kann bei Konsumenten
und Investoren bestehende Befürchtungen... ausräumen und... Vertrauen schaffen.
Daneben möchte ich Ihnen die Entschließung des
Europäischen Parlaments, die heute auf der Tagesordnung steht - ich verweise auf die Drucksache 15/737 -,
nahe bringen. Darin heißt es in Ziffer 2,
dass die Vorschriften des Stabilitäts- und Wachstumspakts... im Falle Deutschlands und Portugals
nicht streng angewendet wurden.
Das Europäische Parlament warnt vor der Aufweichung
der Kriterien durch Wahlkämpfe und nationale Versprechungen. Es fordert die Gleichbehandlung aller Staaten
und durchgreifende Reformen der Sozialsysteme und
eine differenzierte Lohnpolitik. Darüber hinaus fordert
es einen flexiblen Arbeitsmarkt.
Das alles sind Forderungen des Europäischen Parlaments, Herr Eichel. Die rot-grüne Koalition dagegen
spricht schon wieder - so steht es auch in den uns vorliegenden Unterlagen - von Rücksicht auf die ökonomische Gesamtsituation und etwaigen Sondereinflüssen.
Das ist doch das Einfallstor für die Verletzung der Kriterien von Maastricht.
({10})
Das ist der geradezu hinterhältige Versuch, das Versagen
der eigenen Politik als einen Schicksalsschlag darzustellen und sich das Ganze in Brüssel noch absegnen zu lassen.
({11})
Damit wird Deutschlands Reputation als Land der
Stabilität ebenso verspielt wie unsere BenchmarkFunktion auf den internationalen Kapitalmärkten. Dann
sind wir nicht nur Schlusslicht und ein schlechter Verlierer. Wir sind sogar ein gefährlicher Verlierer, wenn es
selbstverständlich wird, in der Nettoneuverschuldung
über die Kriterien von Maastricht auszuweichen. Diesen
Weg gehen Sie, Herr Eichel.
({12})
Angefangen hat der Bundeskanzler damit bei der
Flut. Das kann man ja noch nachvollziehen. Das will ich
auch nicht kritisieren. Aber dass das Ganze System hat,
sehen Sie daran, dass die deutsche Regierung, der Bundeskanzler, bei Begegnungen mit den französischen Kollegen immer wieder die Absolutheit der Defizitkriterien kritisiert und sich dabei auf Aussagen bezogen hat,
die diese infrage stellen.
Worauf soll denn ein Stabilitätspakt abstellen, etwa
auf den guten Willen, auf die reine Hoffnung oder auf
die unbeirrbare Fortsetzung des Konsolidierungskurses,
wie Sie es ausdrücken, Herr Eichel? Dann können wir
gleich sagen, wir haben mit Zitronen gehandelt.
3 Prozent sind 3 Prozent - ich kann mich noch entsinnen, dass Sie so argumentiert haben. Jetzt kommt es zurück: 3 Prozent sind 3 Prozent. Sinn dieses Stabilitätspaktes ist doch, dass nicht auf die politische
Alltagsrhetorik, sondern auf konkrete Zahlen und Ziffern abgestellt wird. Dagegen wehren Sie sich jetzt und
das ist gefährlich. Deutschland ist ein schlechter und gefährlicher Verlierer geworden.
({13})
Noch ein letzter Gedanke: Sie haben uns gesagt, Sie
werden im Jahre 2004 einen Haushalt closed to balance,
also einen nahezu ausgeglichenen Haushalt, vorlegen.
Daraus ist nun schon 2006 geworden. Herr Eichel, es
wird auch 2006 nicht gelingen.
({14})
Das wissen wir doch alle. Dazu müssten Sie den gesamtstaatlichen Verschuldungsrahmen um 65 Milliarden Euro
zurückschrauben. Die Länder nehmen Ihnen das nicht
ab.
Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen:
Ihre Finanzpolitik, die Finanzpolitik von Rot-Grün - einst
Vorzeigeprojekt -, ist im Chaos gelandet. Ihnen nimmt
keiner mehr ab, dass wir Stabilitätspolitik machen. Es ist
ein gefährliches Spiel, einfach so in die Verschuldung
auszuweichen. Eine Vertrauenskrise im Land ist
schlimm, Schlusslicht zu sein macht die Menschen betroffen. Aber die Unglaubwürdigkeit im gesamteuropäischen Rahmen ist zu viel, Herr Eichel. Herr Eichel, halten Sie im doppelten Sinne des Wortes ein: mit dieser
Politik und bei den Kriterien von Maastricht.
({15})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Hermenau,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Obwohl
ich sonst um eigene Worte nicht verlegen bin, will ich
gern mit einem Zitat beginnen:
… Sie … betreiben ein Doppelspiel: Einerseits bekennen Sie sich zu den Kriterien und zum Fahrplan
von Maastricht. Andererseits blockieren Sie durch
die Bundesratsmehrheit die notwendige Konsolidierung auf der Ausgabenseite. Das wirkt sich nicht
nur negativ auf den Bundeshaushalt … aus, sondern
Sie blockieren damit auch die Konsolidierung bei
Ländern und Kommunen.
({0})
Das hat Theo Waigel am 30. Oktober 1996 in der
133. Sitzung des Deutschen Bundestages gesagt. Damals
ging es um Sozialhilferecht und das Asylbewerberleistungsgesetz.
Heute geht es um das Steuervergünstigungsabbaugesetz. Sie stellen sich hierhin, hauen auf den Putz
({1})
und schämen sich nicht einmal dafür, dass der Erhalt des
Dienstwagenprivilegs Ihr Beitrag zur Konsolidierung
der deutschen Staatsfinanzen ist.
({2})
Der CDU-Antrag unterstellt, wir würden eine Aufweichung der Maastricht-Kriterien anstreben. Das ist
völlig abwegig. Wenn von Flexibilität die Rede war,
dann von der so genannten eingebauten Flexibilität, die
im Maastricht-Vertrag enthalten ist, deren sich jeder bedienen kann, der sich beeilt hat, seine Strukturreformen durchzuführen. Andere europäische Länder können
das tun, denn sie haben die Strukturreformen Mitte der
90er-Jahre durchgezogen und befinden sich jetzt in einer
günstigen Lage. Sie können ohne ein strukturelles Defizit, das wie ein schwerer Rucksack auf ihnen lastet, in
Zeiten der Konjunktur flexibel reagieren. Wir Deutschen
nicht.
Unser strukturelles Defizit, seit Mitte der 90er-Jahre
verschleppt, drückt uns fast zu Boden
({3})
und lässt uns nur schwer Luft bekommen. Das heißt aber
nicht, dass man die Maastricht-Kriterien aufgeben sollte.
Sie unterstellen das in Ihrem Antrag nur.
Auf der einen Seite betreiben Sie eine Boykott- und
Blockadepolitik und versuchen alle Maßnahmen, die wir
vorschlagen, zu stoppen. Sie brüsten sich sogar noch damit. Auf der anderen Seite tun Sie so, als wollten Sie
wirklich Konsolidierung betreiben, indem Sie solche lächerlichen Anträge vorlegen. Ihr Antrag, den Sie von der
CDU/CSU vorgelegt haben, hat eindeutig das Steuersenkungsversprechen des Herrn Stoiber im Wahlkampf des
letzten Jahres versenkt. Ich sage nur: Titanic.
({4})
Sie spielen auf Zeit. Sie wollen hier so lange boykottieren, bis uns die Zeit davonläuft. Schon jetzt stehen wir
unter großem Druck, die Reformen durchzuziehen, weil
sich alles so lang hingezogen hat, weil die Reformen
nicht stattgefunden haben, weil Sie sie versäumt haben.
Herr Kohl wollte keinem weh tun, schon gar nicht vor
der schwierigen Wahl 1998.
({5})
Ich gebe gern zu, dass Herr Lafontaine auch keinem
weh tun wollte und es dadurch ebenfalls zu einer Zeitverzögerung kam. Das geht auf unser Konto und das will
ich nicht beschönigen.
Aber seit 1999 befindet sich diese Bundesregierung
auf dem richtigen Kurs, auf dem Konsolidierungskurs.
({6})
Konsolidierung bedeutet, für nachhaltiges Wachstum zu
sorgen und nicht einfach nur konjunkturell herumzudoktern. Das strukturelle Problem in der Arbeitslosigkeit ist
1973/74, 1981/82 und 1993 entstanden. In dieser Zeit hat
Rot-Grün nicht regiert.
({7})
Damals hat man es nicht geschafft, die Arbeitslosigkeit
nach der konjunkturellen Delle wieder abzubauen. Das
Defizit ist treppchenförmig immer weiter angewachsen.
({8})
Sie haben nichts dagegen unternommen, fordern aber
jetzt, dass wir 30 Jahre Misswirtschaft in einem Ruck
abarbeiten. Das ist nicht zu schaffen.
({9})
Inzwischen ist es so weit gekommen, dass der zuständige EU-Kommissar Solbes die Opposition in Deutschland - er hat ausdrücklich die Bundesländer und den Bundesrat, aber auch die CDU/CSU benannt - für einen
Risikofaktor bei der Konsolidierung der deutschen Staatsfinanzen hält. Das müssen Sie sich einmal überlegen.
({10})
Ich bin mir nicht sicher, ob Herr Stoiber oder Herr Koch
das wirklich gewollt und gemeint haben. Ich habe sie
manchmal konstruktiver als die Bundestagsfraktion erlebt. Ihr Herumbrüllen kann ich nur so interpretieren,
dass Sie den Machtverlust immer noch nicht verwunden
haben und das knappe Wahlergebnis vom letzten Jahr
Sie ganz säuerlich gestimmt hat. Mehr erkenne ich darin
nicht.
({11})
Zurück zum Föderalismus. Weil sich die Länder und
damit die CDU/CSU, die im Bundesrat die Mehrheit hat,
so schädlich aufführen, ist in Brüssel der Eindruck entstanden, der deutsche Föderalismus sei kein vernünftiges
System. Indem Sie Föderalismus als Obstruktion in
Brüssel in Erfahrung bringen, schaden Sie im Prinzip all
denjenigen aus Ihrer eigenen Partei, die versuchen, die
Föderalismusdebatte pragmatisch nach vorne zu treiben.
Ich halte das für einen ganz fatalen politischen Kurs.
Aber das ist Ihnen offensichtlich egal, Sie fahren auf
Crash.
Wir schlagen jetzt ziemlich harte Reformen vor, auch
im Bereich des Arbeitsmarktes, weil genau da am
ehesten Möglichkeiten bestehen, schleunigst Veränderungen vorzunehmen. Wir reden über moderate Lohnpolitik, über eine größere Lohndifferenzierung nach Qualifikation, nach Region, vielleicht auch nach
Unternehmen, und wir reden auch darüber, die Anreize
zur Arbeitsaufnahme zu verstärken.
({12})
Das sind alles keine schönen Entscheidungen. Die
Regierung Kohl hat versucht, sie so lange wie möglich
aufzuschieben, und auch Herr Lafontaine hat, wie bereits
gesagt, sich nicht bemüht, sie beschleunigt umzusetzen.
Das wissen wir alle. Aber seit 1999 wurde versucht, diesen Kurs zu fahren. Es war nicht schnell genug, das haben wir längst konzediert, deshalb wird jetzt auf die
Tube gedrückt. Und wer stoppt, blockiert und boykottiert? - Sie da drüben! Sie meinen, Sie hätten die finanzpolitische Weisheit in diesem Land gepachtet. Wenn man
die Ihnen zuerkennen sollte, müssten Sie sich aber anders verhalten.
({13})
Wir haben Beispiele in Europa, ich nenne Irland oder
Dänemark. In Dänemark hat eine Regierung Anfang
der 80er-Jahre einen sehr strengen Konsolidierungskurs
gefahren. Es wurde ein hartes Sparpaket verabschiedet,
die Steuern wurden erhöht und man ist damit einigermaßen über die Runden gekommen. In den 80er-Jahre war
es noch ein bisschen einfacher als heute. Auch in Irland
hat die Regierung Anfang der 80er-Jahre versucht, die
Situation des Landes zu verbessern, aber es hat an der
Akzeptanz in der Bevölkerung gemangelt. Die Bevölkerung hatte kein Vertrauen in die Maßnahmen, die ergriffen wurden. Ein paar Jahre später hat Irland einen zweiten Versuch unternommen und das Vertrauen in der
Bevölkerung und in der Wirtschaft errungen, indem man
deutlich stärker auf eine Reduzierung der Ausgaben gesetzt hat, weniger auf Steuererhöhungen und Investitionsprogramme. Man hat also die Ausgaben gekürzt.
Das machen wir seit Jahren, aber Sie machen da nicht
mit. Sie machen wohlfeile Vorschläge, sind aber nicht in
der Lage, sie durchzusetzen, weil sie offensichtlich nicht
funktionabel sind. Sie sprechen vollmundig von der
Phrase Subventionsabbau, aber verweigern sich, die
Subventionierung der Dienstwagen abzuschaffen. So
sieht Ihre Wirtschaftspolitik konkret aus.
Wenn man aus den Erfahrungen der anderen Länder
hätte lernen wollen, hätte man Mitte der 90er-Jahre anfangen müssen, nicht erst 2001 oder 2002. Das wissen
Sie ganz genau. Schon Mitte der 90er-Jahre lag man
selbst in Boomzeiten nur knapp unter dem MaastrichtKriterium, das 1997 eingeführt worden ist. Man brauchte
schon damals immer einen großen Wirtschaftsaufschwung, um sich halbwegs über Wasser zu halten. Das
heißt, wir schleppten auch schon damals das große strukturelle Defizit mit uns herum. Man kann durchaus die
Parallele zu 1997 ziehen; ich habe vorhin nicht umsonst
Herrn Waigel zitiert. Im Jahre 1997 hatten wir ein vergleichbar hohes strukturelles Defizit wie jetzt immer
noch. Das Problem ist, dass es nicht gelungen ist, dieses
Defizit wirklich abzubauen. Das leugnet auch niemand.
Aber es ist sträflich, den Zeitfaktor jetzt noch weiter zu
vernachlässigen, denn der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat ein ganz wichtiges Ziel, das eng mit dem Jahr
2006 verknüpft ist. Uns ist aufgetragen worden, den
demographischen Wandel, der in Europa zu verzeichnen ist, in der Finanzpolitik zu beachten. Wir müssen uns
also bemühen, schleunigst von den hohen Zinszahlungen
herunterzukommen. Die nachfolgende Generation der
Steuerzahler wird nämlich nur in der Lage sein, eine der
beiden Lasten zu tragen: die Zinsen für unsere Schulden
von heute oder unsere Renten von morgen.
Dem muss bei unserem politischen Handeln Rechnung getragen werden. Im Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde die Vorgabe gemacht, dass es die Mitgliedstaaten bis zum Jahr 2006 geschafft haben müssen, sich
von übermäßigen Zinsbelastungen zu befreien, um in der
Lage zu sein, mit der wachsenden Alterung der Bevölkerung fertig zu werden. Das ist ein entscheidender Punkt.
({14})
Wir dürfen nicht noch länger herumdrucksen. Wir müssen vorankommen.
({15})
Ich kann Herrn Eichel deswegen nur allzu gut verstehen, wenn er sagt, das Ergebnis, das im Bundesrat herausgekommen ist, sei die Tinte nicht wert, mit der es geschrieben worden ist.
({16})
Es bringt uns diesem Ziel nämlich nicht näher. Sie haben
einen Scheinantrag vorgelegt. Sie sagen, Sie wollten,
dass die Maastricht-Kriterien eingehalten werden, und
keiner solle daran herumschustern; gleichzeitig verhindern Sie aber, dass diese Kriterien eingehalten werden
können, und brüsten sich sogar damit. Das ist doch wirklich absurd!
({17})
Herr Waigel hat am 27. Juni 1997 verkündet, 1997 sei
das Referenzjahr. Jedes Land habe die Chance und jedes
Land habe die Pflicht und für jedes Land gelten die gleichen Voraussetzungen. Für die Entscheidung zählten übrigens Ist-Ergebnisse des Jahres 1997 und nicht Prognosen, Schätzungen oder Quartalsabrechnungen; so viel
dazu, angesichts der ständig wiederkehrenden Debatten
zu den Hilfen für die Bundesanstalt für Arbeit. Es war
damals klar, dass am Jahresende abgerechnet wird. Was
für 1997 galt, gilt aber auch für 2003.
Sie versuchen, eine Obstruktionspolitik zu betreiben,
und haben im ersten Vierteljahr nur versucht, uns Hindernisse in den Weg zu legen und uns zum Stolpern zu
bringen. Das ist das Einzige, was Sie auf diesem Gebiet
bis jetzt geleistet haben. Mehr haben Sie nicht beigetraAntje Hermenau
gen. Nicht ein einziger Vorschlag ist von Ihnen gekommen. Weder in den vollmundigen Reden des Herrn
Rexrodt habe ich einen konstruktiven Vorschlag gehört,
noch in den Ausführungen der Redner von der CDU/
CSU, die vorhin gesprochen haben. Sie haben nur allgemein philosophiert, wie die Finanzpolitik aussehen
könnte, und sind nicht konkret geworden. Das möchte
ich hier festhalten.
({18})
- Tja, Herr Rexrodt, wenn Sie wüssten, was ich immer
denke, wenn Sie reden!
({19})
Herr Stoiber hat am 6. April, also vor einigen Tagen,
gesagt, er sehe nicht ein, dass sich Bayern an möglichen
Strafzahlungen beteiligt, wenn es zu einer dauerhaften
Überschreitung der Defizitobergrenze kommt. Er sei
nicht bereit, denjenigen, die Reformen verweigern und
dadurch die öffentliche Hand in immer höhere Neuverschuldung treiben, auch noch die EU-Strafen wegen des
jahrelangen Reformstaus zu bezahlen.
({20})
Angesichts dieser Aussage muss ich Sie fragen, welches Bundesland im Jahr 2002 denn massiv dazu beigetragen hat, dass Herr Eichel in Brüssel die bittere Botschaft verkünden musste, dass eine Überschreitung des
Maastricht-Kriteriums absehbar sei? - Es war das Bundesland Hessen, das eindeutig nicht von der SPD regiert
ist. Hessen durfte nur 0,8 Milliarden Euro Schulden machen, hat aber über 2 Milliarden Euro Schulden gemacht.
Die Verfehlung des Maastricht-Kriteriums geht also wesentlich auf das Konto CDU-geführter Länder, die ihre
eigenen Interessen in den Vordergrund gestellt haben.
({21})
Wenn Sie sich auf die Lösung dieser nationalen Aufgabe nicht einlassen wollen, wenn Sie nicht in der Lage
sind, zu erkennen, worum es eigentlich geht, dann müssen Sie sich den Vorwurf von Herrn Solbes gefallen lassen, dass Sie das eigentliche Konsolidierungsrisiko in
Deutschland sind.
({22})
Nächster Redner ist der Kollege Friedrich Merz,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Bundesfinanzminister, dem sehnlichen
Wunsch, den Sie hier vorgetragen haben, dass Sie von
mir etwas hören wollen, komme ich gerne nach, damit
Sie nicht länger auf Entzug sind.
({0})
Lassen Sie mich mit zwei Nachrichten beginnen, die
uns am Dienstag erreicht haben und völlig unabhängig
vom Ergebnis des Vermittlungsausschusses vom gestrigen Abend sind. Vorgestern hat die EU-Kommission in
Brüssel am späten Nachmittag sehr kurz hintereinander
zwei Erklärungen herausgegeben. Die eine lautete,
Deutschland stehe nach Einschätzung der EU-Kommission als einziges Mitgliedsland am Rande einer Rezession. Die zweite Meldung, die uns nur wenig später erreicht hat, lautete, das Haushaltsdefizit Deutschlands
betrage nach einer Prognose der EU-Kommission in diesem Jahr 3,4 Prozent. Damit übersteige die Neuverschuldung zum zweiten Mal in Folge die im Stabilitätspakt
maximal zulässigen 3 Prozent. Beide Meldungen und
Einschätzungen der EU-Kommission haben etwas miteinander zu tun. Herr Eichel, Ihr Problem ist, dass Sie
das bis heute nicht verstanden haben.
({1})
Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen, bevor
ich auf die eigentlichen Probleme zu sprechen komme,
über die wir heute zu diskutieren haben. Den gegenwärtigen Zustand einer Bundesregierung erkennt man immer daran, dass sie die Intensität der Kritik an der Opposition unter weitgehendem Verzicht auf eigene
Vorschläge erhöht.
({2})
Genau das ist der Zustand, den wir gegenwärtig bei Ihnen feststellen. Je ratloser Sie werden, desto heftiger beschimpfen Sie die Opposition.
Ich will nur eines feststellen: Herr Eichel, den blauen
Brief hat nicht die Opposition in Deutschland, sondern
die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland
bekommen.
({3})
Sie haben ihn bereits einmal bekommen und entgegen
allen Prognosen, die Sie immer noch abgeben, werden
Sie ihn in diesem Jahr ein zweites Mal hintereinander erhalten. Das hat im Wesentlichen vier Ursachen.
Die erste Ursache ist, dass Sie die Weichen am Anfang Ihrer rot-grünen Regierungszeit falsch gestellt haben. Die Schulden stammen nicht aus dem Erbe der alten Bundesregierung von Helmut Kohl und Theo
Waigel,
({4})
sondern es war Oskar Lafontaine, der Ihnen bereits im
ersten Haushaltsjahr 30 Milliarden DM höhere Ausgaben auf den Tisch gelegt hat.
Über die zweite Ursache, die Sie zu verantworten haben, mussten wir in der letzten Nacht wieder diskutieren.
Es geht um Ihre Entscheidung, dass im Jahre 2001 eine
Körperschaftsteuerreform durchgeführt wurde. Herr
Bundesfinanzminister Hans Eichel, ich sage Ihnen:
Wenn wir heute noch einmal vor der Frage stünden, ob
eine solche Körperschaftsteuerreform, wie Sie sie im
Jahre 2001 durchgesetzt haben, gemacht werden soll,
dann würde nicht ein einziger Ministerpräsident in
Deutschland - auch keiner, der aus Ihren Reihen gestellt
wird - noch einmal zustimmen.
({5})
Die Körperschaftsteuerausfälle, die damit verbunden
sind, sind bis zum heutigen Tag ein wesentlicher Teil der
Probleme.
({6})
Sie haben in zwei Jahren 40 Milliarden Euro weniger
Körperschaftsteuer eingenommen. Mit diesem Teil der
heutigen Probleme müssen Sie sich herumschlagen, weil
Sie die Weichen bei der Körperschaftsteuer im
Jahre 2001 völlig falsch gestellt haben.
({7})
Über das Ergebnis der Sitzung des Vermittlungsausschusses in der letzten Nacht werden wir morgen noch
in Ruhe diskutieren. Lassen Sie mich eine Bemerkung
dazu machen: Herr Eichel, wir haben nichts anderes getan, als auch im Vermittlungsausschuss genau das einzuhalten, was wir im Bundestagswahlkampf und in den
beiden Landtagswahlkämpfen in Niedersachsen und in
Hessen zugesagt haben. Wir sehen einen Korrekturbedarf bei der Körperschaftsteuer und sind ansonsten nicht
bereit, Steuererhöhungen in Deutschland zuzustimmen.
Dass wir dieses Versprechen im Gegensatz zu Ihnen
nicht nur eingehalten haben, sondern dass die Union
diese Position gestern Abend auch geschlossen vertreten
hat und Sie nicht einen Einzigen aus der Union haben
herausbrechen können, mag Sie überrascht haben; das ist
aber das Ergebnis der letzten Nacht.
({8})
Von dieser Stelle aus will ich insbesondere dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch ausdrücklich
danken, der mit einer sehr klugen Verhandlungsstrategie
dafür gesorgt hat,
({9})
dass ein Kompromiss möglich wurde und dass in der
Steuererhöhungsdebatte, die wir uns in diesem Lande
besser erspart hätten, wenigstens ein Rest an wirtschaftspolitischem Verstand gewahrt wurde.
({10})
Damit komme ich zu Ihrem dritten großen Problem,
das Sie offenkundig nicht in den Griff bekommen. Es
schlägt sich in den Defizitzahlen nieder. Eines der großen Probleme der öffentlichen Haushalte - insbesondere
derer, die Sie zu verantworten haben - sind die völlig aus
dem Ruder laufenden Sozialausgaben. Wenn sich das
Verhältnis zwischen Investitionen und Sozialausgaben
über einen langen Zeitraum hinweg verschlechtert und
es durch verweigerte Reformen bei den sozialen Sicherungssystemen zusätzlich eine solch dramatische Entwicklung nimmt, wie wir sie in den letzten Jahren festgestellt haben, dann dürfen Sie sich nicht darüber
wundern, dass wir immer weniger bereit und in der Lage
sind, die Kriterien, die in Maastricht niedergelegt wurden, zu erfüllen.
In den öffentlichen Haushalten ist die Balance zwischen Investitionen und Sozialausgaben so weit aus dem
Ruder gelaufen, dass dies nicht ein konjunkturelles oder
kurzfristiges Problem ist. Herr Eichel, Sie schlagen sich
seit viereinhalb Jahren mit einem tief greifenden strukturellen Problem herum und sind erkennbar nicht in der
Lage, dieses zu lösen. Sie sind erkennbar auch nicht bereit, dieses zu lösen; denn ansonsten hätten wir längst die
Reformen auf dem Tisch liegen, über die in diesem
Lande schon so lange diskutiert wird.
({11})
Ich bin damit beim vierten Grund - er kommt in dem
zum Ausdruck, was die EU-Kommission zu Recht kritisiert hat -: Unser Land befindet sich in einer tiefen strukturellen Wachstums- und Beschäftigungskrise. Herr
Eichel, Sie werden mit Ihrer Finanzpolitik auch in Zukunft hoffnungslos scheitern, wenn Sie nicht endlich begreifen, dass die Finanzpolitik im gegenwärtigen Zustand
der Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland nur
Fehler machen kann. Wenn sie gut ist, kann sie allenfalls
Fehler vermeiden. Einer der Fehler wäre, die Neuverschuldung zu erhöhen. Der zweite Fehler wäre, eine Debatte über Steuererhöhungen zu beginnen. Sie als Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland machen gleich
beide Fehler.
Dies ist die schlechteste Finanzpolitik, die in der Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen jemals gemacht worden ist, weil sie jeden wirtschaftspolitischen
Sachverstand vermissen lässt, den ein Finanzminister
wenigstens minimal haben müsste.
({12})
Sie handeln völlig ohne jeden Bezug zu dem, was wirtschaftspolitisch notwendig ist. Sie als Finanzminister
- entschuldigen Sie, Sie wissen, dass ich das nicht persönlich meine - haben Ihre Tägigkeit auf eine rein buchhalterische Finanzpolitik reduziert, die die ausschließlich
mechanisch-technische Betrachtung der Einnahmen und
Ausgaben zum obersten Primat der Finanzpolitik gemacht hat. Wenn Sie dies fortsetzen, bleibt es dabei, dass
Sie ein gescheiterter Finanzminister sind.
({13})
Raus aus der Wachstums- und Beschäftigungskrise
unseres Landes - das ist die einzig richtige Antwort, die
Sie auf der Regierungsbank geben können, wenn Sie
gleichzeitig die - richtigen - Kriterien des MaastrichtVertrages erfüllen wollen und müssen, des Vertrages, der
sich unmittelbar mit dem Engagement der Bundesrepublik Deutschland im Zuge der Euroeinführung verbindet.
Wir sind das Land, das so viel Wert darauf gelegt hat,
dass Preisstabilität und Haushaltsdisziplin zum Maßstab
in der gesamten Europäischen Union werden. Mit Ihrem
Namen wird in die Geschichtsbücher eingehen, dass
Deutschland vom Stabilitätsanker in Europa zu dem
Land geworden ist, das eine Gefährdung von PreisstabiFriedrich Merz
lität und Budgetdisziplin für ganz Europa darstellt. Mit
dieser Bilanz, Herr Eichel, sollten Sie nicht so selbstbewusst und überheblich auftreten und die Opposition beschimpfen, wie Sie das gerade getan haben.
({14})
Lassen Sie mich eine Schlussbemerkung machen. Wir
alle sorgen uns in erheblichem Maße um die Finanzen
der Kommunen. Aber dass ausgerechnet Sie dies aufgreifen und wiederum mit Kritik an der Opposition verbinden, ist schon ein starkes Stück, Herr Eichel.
({15})
Sie in Ihrer Regierungsverantwortung sind es gewesen,
die den Kommunen in einem nie da gewesenen Umfang
Lasten aufgebürdet haben. Gleichzeitig haben Sie den
Kommunen immer mehr die finanziellen Mittel entzogen, die erforderlich sind, um diese Lasten schultern zu
können.
({16})
Sie haben es mehrfach abgelehnt - ich will das noch
einmal festhalten, damit die Öffentlichkeit dies zur
Kenntnis nimmt -, die Gewerbesteuerumlage auf das
Maß zu reduzieren, das vor der Körperschaftsteuerreform bis zum Jahre 2000 gegolten hat. Jetzt kommen Sie
im Zuge Ihrer Gewerbesteuerreform mit einigen Brosamen an und wollen über die Einbeziehung der Freiberufler in die Gewerbesteuer die Situation der kommunalen
Finanzen verbessern. Das ist so, als ob jemand eine Sau
aus dem Dorf treibt, anschließend mit einem Kotelett in
der Hand wiederkommt und dafür bei den Betroffenen
Lob und Anerkennung verlangt. So geht es wirklich
nicht.
({17})
Dass die Kommunen in einer solchen Verfassung
sind, verbindet sich eng mit Ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik, der hohen Arbeitslosigkeit und den völlig aus
dem Ruder laufenden Sozialhilfeausgaben in den Kommunen. Damit schließt sich wiederum der Kreis.
Wenn Sie es nicht schaffen, endlich die Reformen auf
den Weg zu bringen, mit denen hinsichtlich Wachstum
und Beschäftigung in Deutschland wenigstens das europäische Mittel erreicht wird, dann werden wir uns am
heutigen Tag nicht zum letzten Mal damit beschäftigen,
dass dieses Land zu unser aller Sorge erneut die Kriterien des Maastricht-Vertrages verletzen wird. Dieses
Problem hat einen Namen. Der Name ist Hans Eichel.
({18})
Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Joachim Poß, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Merz, mit Ihrer Rede haben Sie erneut unter Beweis gestellt, dass Sie noch nicht in der Realität dieses
Landes - jedenfalls in der finanziellen Realität - angekommen sind.
({0})
Das waren, wie üblich, Sprüche von Wolke sieben im
Wolkenkuckucksheim.
({1})
- Herr Merz, wenn Sie letzte Woche Donnerstag an dem
Gespräch mit Herrn Koch teilgenommen hätten - Sie haben es vorgezogen, sich vertreten zu lassen -,
({2})
dann hätten Sie sehr wohl zur Kenntnis nehmen können,
dass sich Herr Koch längst von Ihrer Fundamentalopposition verabschiedet hat. Er ist schon in der Wirklichkeit
angekommen.
({3})
Wenn Sie gestern an der Sitzung des Vermittlungsausschusses teilgenommen hätten, dann hätten Sie zur
Kenntnis nehmen können, dass die Ministerpräsidenten
Müller, Böhmer und andere ebenfalls längst in der Realität dieses Landes angekommen sind. Deswegen haben
wir schließlich die Vereinbarung getroffen - sie wird
morgen von Ihrer Seite durch Herrn Kauder zu Protokoll
gegeben -, neben der bereits vereinbarten Korrektur der
Körperschaftsteuer die steuerpolitische Agenda neu zu
eröffnen.
Herr Koch hat keinen Zweifel daran gelassen, wie
notwendig es ist, sich mit der umfassenden Sanierung
der Staatsfinanzen sowohl auf der Einnahmenseite wie
auch auf der Ausgabenseite zu beschäftigen. Diesen
Konflikt haben Sie in Ihren Reihen noch zu lösen, Herr
Merz. Ich wiederhole: Sie sind bisher noch nicht aufgestellt. Sie sind bisher mit dummen Sprüchen aufgefallen
und damit durchgekommen. Diese Zeit ist aber endgültig
vorbei.
({4})
Jetzt geht es um konkrete Alternativen. Dabei lassen
Sie jede konkrete Festlegung vermissen. Herr Eichel hat
zu Recht auf den groß angekündigten Strategiegipfel
hingewiesen, der sechs Stunden getagt hat. Der Berg
kreißte, aber nicht einmal ein Mäuschen kam dabei heraus. Das ist die Realität der CDU/CSU.
Wir waren uns übrigens gestern mit Herrn Koch und
anderen einig darüber
({5})
- wir haben letzte Woche Donnerstag ein ausführliches
Gespräch mit Herrn Koch geführt -, dass der Verfall
der Körperschaftsteuer mehrere Gründe hat. Er hat
konjunkturelle Gründe; hinzu kommen die Steuersatzsenkung im Interesse der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, die Sie immer gefordert haben, und die Ausschüttung der Guthaben, die sich in der Kohl-Ära
angesammelt hatten.
({6})
Zu berücksichtigen sind auch die Verlustvorträge, die in
Ihrer Regierungszeit entstanden sind. 1995 betrugen sie
250 Milliarden DM; inzwischen belaufen sie sich auf
250 Milliarden Euro.
({7})
- Auch Sie, Herr Rexrodt, kommen mit solchen Sprüchen nicht mehr durch. - Darauf müssen wir Antworten
finden, und zwar in der nächsten Runde der Steuergesetzgebung. Dann können Sie sich nicht mehr davor
drücken, wie das noch gestern Abend versucht wurde.
Das sind die Punkte, die für die Bevölkerung, die Wirtschaft und auch für die Planungssicherheit bezüglich Investitionen wichtig sind.
({8})
Diese Koalitionsregierung muss nicht von Ihnen auf
die Einhaltung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes hingewiesen werden. Wir haben das nicht
nötig. Wir kennen unsere rechtlichen und politischen
Pflichten.
({9})
Es ist unverfroren, dass sich CDU/CSU und FDP bei den
Themen Haushaltskonsolidierung und Stabilitätspakt zu
Wort melden. Das sind schließlich Parteien, die sonst
keine Gelegenheit auslassen, Steuer- und Abgabensenkungen sowie öffentliche Mehrausgaben zu fordern.
({10})
Ihr Vorgehen ist unverfroren. Denn solide Finanzen
und Haushaltskonsolidierung sind wahrlich nicht Ihre
Themen. Ihre zentrale wirtschafts- und finanzpolitische
These - das gilt für Merz, Rexrodt und andere - lautet:
Steuersenkungen zu jeder Zeit, und zwar ohne Rücksicht auf die Folgen für die öffentlichen Haushalte von
Bund, Ländern und Kommunen.
Ihr Credo lautete doch: Allein durch Steuersenkungen
würde der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland
erfolgen, auch wenn die öffentlichen Haushalte dadurch
handlungsunfähig gemacht würden. Monatelang - nicht
nur im Bundestagswahlkampf - haben Sie zum Beispiel
die Senkung des Einkommensteuerspitzensatzes auf unter 40 Prozent - bis auf 35 Prozent - und die angeblich
erforderliche steuerliche Gleichstellung von Personenund Kapitalgesellschaften versprochen.
({11})
Allein die Verwirklichung dieser beiden Forderungen
würde das gesamtstaatliche Defizit in diesem Jahr auf
weit über 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes anwachsen lassen.
({12})
Deswegen in aller Ruhe: Wenn wir gemeinschaftlich an
dem Ziel festhalten wollen, den Stabilitätspakt wirklich
ernst zu nehmen, dann setzt das die Mitwirkung der Oppositionsparteien - jedenfalls in den Landesregierungen
und auf kommunaler Ebene - voraus; aber nicht, indem
Sie weiter schwarz malen - so wie das Herr Merz gemacht hat - oder Obstruktion betreiben. Das ist die Alternative. Sie sind jetzt an der Wegscheide: entweder
verantwortungsvoll Politik zu machen und sich Ihrer
Verantwortung in den von Ihnen regierten Ländern zu
stellen - das gilt auch für die Kommunen - oder weiter
Totalopposition zu betreiben. Das ist die Situation, um
die es hier geht.
({13})
Wir brauchen keine Sonntagsreden, sondern konkrete
Vorschläge. Wie wollten Sie die Flutopferhilfe finanzieren? Sie hatten vorgeschlagen, die Schuldentilgung dafür
auszusetzen und so die Neuverschuldung des Bundes zu
erhöhen.
({14})
Dieser Vorschlag wurde von Ihnen so vehement vertreten, dass es für uns alle überraschend war, dass Sie im
Ergebnis dann plötzlich doch unserem Finanzierungsvorschlag - der Verschiebung der Steuerentlastungsstufe
2003 um ein Jahr auf 2004 - zugestimmt haben.
({15})
- Sie haben da nicht mitgemacht? Aber die Union hat da
mitgemacht, Herr Rexrodt.
Die faktische Missachtung von Haushaltskonsolidierung und soliden Finanzen ist das Kennzeichen der Politik von CDU/CSU und FDP, und zwar bis zum heutigen
Tage.
Bei den Beratungen des Bundeshaushaltes 2003, Herr
Haushälter Kampeter, in dem es nun wirklich nichts zu
verteilen gibt, hat die Opposition immer wieder versucht, Mehrausgaben in Milliardenhöhe durchzusetzen.
({16})
Auch das steht in krassem Widerspruch zu Ihrer heutigen
Forderung nach strikter Haushaltskonsolidierung.
Ich möchte jetzt nicht an all die Leidensgeschichten
erinnern. Ich habe vorhin schon das Stichwort Strategiegipfel genannt. Immer, wenn Sie einen Anlauf unternehmen, um sich auf konkrete Maßnahmen zu verständigen,
scheitert dieser Anlauf. Auf keinen einzigen SparvorJoachim Poß
schlag konnte sich die Union bis zu dieser Debatte heute
einigen.
({17})
Das muss in der Republik nun wirklich langsam bekannt
werden.
({18})
Sie sind mit Ihrem Latein am Ende, meine Damen und
Herren von der Opposition. Sie haben Ihr verbales Pulver verschossen. Jetzt sind Sie gefordert.
({19})
Den gestrigen Abend im Vermittlungsausschuss hat
die starke Uneinigkeit und Zerstrittenheit der Union in
Strategiefragen und inhaltlichen Fragen geprägt und belastet.
({20})
Weil aber offensichtlich zumindest in Teilen der Union
ein Umdenken und eine Annäherung an die finanziellen
Realitäten und an die politischen Erfordernisse in unserem Land stattgefunden hat, konnte wenigstens ein gerade noch akzeptabler Kompromiss erzielt werden. Dieser Kompromiss ist aus unserer Sicht akzeptabel, aber er
ist auch das Maximum dessen, was man gerade noch
vertreten kann. Für die Kommunen bietet er unter dem
Gesichtspunkt der Soforthilfe in diesem Jahr nichts außer einer Null. Diese Nulllösung haben Sie herbeigeführt
und nicht wir.
({21})
Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten die Kommunen
schon in diesem Jahr eine kräftige Entlastung erfahren.
Ob die Union ernsthaft bereit ist, endlich von Ihrer
bisherigen Verweigerungs- und Blockadestrategie abzuweichen, wird sich bei den weiteren Gesetzesvorhaben
zeigen. Wir treffen uns jetzt noch öfter bis hin zum Vermittlungsausschuss. Wir haben uns zur Weiterverfolgung
unerledigter Punkte verabredet.
Es wissen alle, dass Deutschland die niedrigste Steuerquote in Europa hat und dass die Steuerbelastung mit
den bereits beschlossenen Steuerreformstufen im nächsten Jahr und im Jahr 2005 noch weiter sinken wird. Auch
sollten alle wissen, dass insbesondere auf der Ebene der
Länder und Kommunen die gravierenden Finanzprobleme in großem Maße auf eine unzureichende Steuerbasis zurückzuführen sind. Herr Rexrodt, Folgendes will
ich Ihnen einmal sagen - ich hatte das Gefühl, dass die
Unionsvertreter das ähnlich gesehen haben -: Sich mit
einer grundsätzlichen Erklärung, wie das Ihr Vertreter im
Vermittlungsausschuss gestern gemacht hat, aus jeder
Mitverantwortung zu stehlen geht nicht. So kann man
für Deutschland keine Verantwortung tragen.
({22})
Die Union wie auch die FDP, die gestern jede konstruktive Mitarbeit verweigert hat, stehen in einer klaren
gesamtstaatlichen Verantwortung. Auch Sie sind an Landesregierungen beteiligt, so bedauerlich das sein mag.
Sie können sich nicht länger so verstecken, wie Sie das
bisher getan haben, und meinen, die Politik mit Deklamationen bedienen zu können.
({23})
Niemand, der in der Regierung und in den Regierungsfraktionen Verantwortung trägt, stellt den Stabilitäts- und Wachstumspakt infrage. Insofern entbehrt Ihr
heutiger Antrag jeder Grundlage.
({24})
Die Notwendigkeit einer soliden und nachhaltigen Haushaltspolitik in allen europäischen Staaten als unabdingbare Voraussetzung für Wohlstand in Europa wie auch
zur Sicherung der gemeinsamen Währung ist unbestritten. Wenn die heutige Debatte überhaupt einen Sinn hat,
dann den, deutlich zu machen, dass der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt auch in der derzeitigen,
lang andauernden konjunkturellen Schwächephase genug Spielraum für eine angemessene nationale und europäische Finanzpolitik lässt und auch lassen muss. Es ist
doch eine ökonomische Selbstverständlichkeit, dass in
außergewöhnlichen Situationen die vorübergehende
Hinnahme eines öffentlichen Defizits von mehr als
3 Prozent möglich sein muss. Wer das leugnet und die
Einhaltung der Dreiprozentgrenze in jeder Situation,
Herr Rexrodt - und „koste es, was es wolle“ -, fordert,
der handelt konjunkturpolitisch falsch und letztlich auch
gesamtgesellschaftlich unvernünftig.
({25})
Im Übrigen führt genau diese starre und falsche Sichtweise des Stabilitätspaktes dazu, dass die Akzeptanz einer institutionellen Obergrenze für die staatliche Kreditaufnahme, wie sie das Dreiprozentkriterium darstellt,
ausgehöhlt wird. Ich bin mir sicher: Theodor Waigel, der
in Europa den Stabilitätspakt durchgesetzt hat, hätte das
nicht anders gesehen. Der Beschluss des Finanzausschusses zum Thema Stabilitätspakt, Drucksache 15/737,
lautet wie folgt:
Der Deutsche Bundestag unterstützt die Haltung
der Bundesregierung, sich weiterhin für die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes einzusetzen und im Hinblick auf die ökonomische Gesamtsituation und auf etwaige Sondereinflüsse von
seinen bestehenden Regelungen europäisch abgestimmt sinnvoll Gebrauch zu machen.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Diese Linie ist in ökonomischer und stabilitätspolitischer Hinsicht richtig.
Dazu gibt es keine Alternativen, jedenfalls nicht von Ihrer Seite.
Danke.
({26})
Nächster Redner ist der Kollege Hans Michelbach,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Poß, warum lehnen Sie unseren Antrag ab?
({0})
Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion
lebt nun einmal von soliden öffentlichen Finanzen. Nur
so kann die Grundlage für Vertrauen, Preisstabilität,
Wachstum und Beschäftigung geschaffen werden. Hierfür wurde unter der Federführung von Theo Waigel der
Stabilitäts- und Wachstumspakt in der Eurozone durchgesetzt. Er selbst und wir, seine Mitstreiter in der CDU/
CSU, konnten uns damals allerdings nicht vorstellen,
dass ausgerechnet unser Land einmal so massiv gegen
das Defizit- und das Schuldenstandskriterium verstoßen
wird.
Herr Eichel, Ihr Vorgänger Theo Waigel und unsere
damalige Koalition haben die Kriterien eingehalten.
({1})
Sie verletzen die Kriterien, niemand anders. Das sind die
Fakten. Alles andere ist doch üble Nachrede. Sie suchen
die Schuld immer bei anderen.
({2})
Tatsächlich ist Rot-Grün das finanzpolitische Risiko in
Deutschland, niemand anders.
({3})
Tatsache ist, dass Brüssel ein deutsches Defizit in
Höhe von 3,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes im
laufenden Jahr erwartet. Damit werden wir nach 2002
die Stabilitätsregeln auch 2003 wieder deutlich brechen.
Wir müssen mit mindestens 3,4 Prozent rechnen, wenn
nicht ein sofortiger Kurswechsel vorgenommen wird.
Herr Eichel, Sie behaupten, dass daran die Länder und
Kommunen schuld seien. Das ist ein Märchen; denn das
Finanzierungsdefizit des Bundes einschließlich der Sozialversicherungen beträgt, bezogen auf die im Finanzrat
vereinbarte Bemessungsgröße von 45 Prozent des BIP,
4,6 Prozentpunkte.
Durch die Bundespolitik sind wir zu einem gesamtstaatlichen Schuldenstand von 3,4 Prozent und mehr gekommen; dazu trägt allein der Bund 4,6 Prozentpunkte
bei. Die deutliche Überschreitung der Dreiprozentgrenze
ist letztendlich damit im Zusammenhang zu sehen - trotz
der Verschiebebahnhöfe zulasten der Länder und Kommunen. Diese 4,6 Prozentpunkte sind eben zu hoch, um
die Schulden bei den Ländern und Kommunen unter die
Dreiprozentmarke zu senken. Es ist deutlich zu erkennen, dass wir die Rahmenbedingungen beim Bund verändern und einen Kurswechsel vornehmen müssen.
Beim Bund muss gespart werden. Wir müssen auf Bundesebene die richtige Politik und auch die richtige Steuerpolitik machen.
Meine Damen und Herren, wie immer - wie auch vor
der Bundestagswahl im letzten Jahr - setzen Sie auf
Ausreden und Verschleierung. Sie ignorieren einfach die
Einschätzung der EU-Kommission bezüglich des diesjährigen Defizits.
({4})
Sie entgegnen dem EU-Finanzkommissar Pedro Solbes,
die Schätzung berücksichtige angeblich die steuerlichen
Maßnahmen der Bundesregierung nur zum Teil. Das ist
entwaffnend. Sie haben die Steuererhöhungen, die in dem
Steuervergünstigungsabbaugesetz vorgesehen waren,
({5})
bereits in Verbindung mit einer Defizitquote von
2,8 Prozent nach Brüssel gemeldet. Das heißt, Sie haben
Steuererhöhungen in Ihre Meldungen aufgenommen,
von denen Sie genau wussten, dass die CDU/CSU sie
letzten Endes nicht mitmacht, weil sie kontraproduktiv
sind und Wachstum und Beschäftigung kosten werden.
Das ist die Wahrheit.
({6})
Diese Aussage ist nicht nur entwaffnend; sie zeigt,
dass Sie Einnahmen aus dem Abkassiermodell zulasten
der Bürgerinnen und Bürger, zulasten des Mittelstandes
schon veranschlagt hatten. Ich bin all denjenigen aus den
CDU/CSU-regierten Bundesländern und unseren Mitgliedern des Vermittlungsausschusses sehr dankbar, die
im Vermittlungsausschuss diese Steuererhöhungen
zum Scheitern gebracht haben. Ihre Geschlossenheit bewirkte eine große Leistung im Sinne der Bürger, im
Sinne von Wachstum und Beschäftigung.
({7})
Herr Poß hat so getan, als wenn er mit diesem Vermittlungsergebnis gar nichts zu tun hätte. Herr Poß, ich
habe heute früh gelesen, 30 der 32 Mitglieder des Vermittlungsausschusses, also auch solche aus der SPD, hätten diesem Vermittlungsergebnis zugestimmt. Ich sage
es Ihnen deutlich: Sie können sich doch davon gar nicht
absetzen.
({8})
Es ist gut, dass es so gekommen ist. Wir haben eine
Wertzuwachssteuer auf Immobilien, Aktien und Fonds
verhindert. Wir haben eine Firmenwagensteuer für Außendienstmitarbeiter verhindert. Wir haben eine Verschlechterung der Abschreibungen für die Bauwirtschaft
und für die Investoren verhindert. Wir haben eine Einschränkung der Verlustrechnung für die mittelständischen Betriebe verhindert; es wäre ein Anschlag auf den
Mittelstand gewesen, wenn er seine Verlustvorträge
nicht mehr hätte verrechnen können. Außerdem haben
wir eine Kürzung der Eigenheimzulage verhindert. Das
hätte die Wirtschaft belastet sowie Wachstum und Beschäftigung in Deutschland gekostet.
({9})
Die Bundesregierung handelt nicht, sofern sie nicht
wie in diesem Vermittlungsverfahren dazu gezwungen
wird, sondern verzögert weiter, reißt neue Löcher auf
und bringt Deutschland in eine immer schwierigere wirtschaftliche Lage. Wer Steuern erhöht, der erhöht die Arbeitslosigkeit. Lassen Sie deshalb die Finger von Ihren
Abkassiermodellen, von Ihren beabsichtigten Steuererhöhungen. Das muss Ihnen ins Stammbuch geschrieben
werden.
({10})
Ich bin sehr dankbar, dass wir als einen der wesentlichen Punkte eine Stabilisierung im Bereich der Körperschaftsteuer erreicht haben. Das war sicherlich ein richtiger Kompromiss. Erst die rot-grüne Steuerreform hat ja
zu diesen Verwerfungen geführt.
Die Zahlen, die vom Bundesfinanzminister nach
Brüssel gemeldet wurden, haben von vornherein nicht
gestimmt. Es wurde nur noch getrickst, getäuscht und
verschoben. Angesichts der schlechten politischen Rahmenbedingungen hat niemand 1,5 Prozent oder
1,0 Prozent Wachstum als realistisch angesehen. Heute
stehen wir am Rande einer Rezession und müssen uns
mit 0,4 Prozent Wachstum zufrieden geben. Damit kann
man nicht einverstanden sein. Gerade Deutschland muss
einen finanzpolitischen Kurswechsel erzwingen.
({11})
Es muss aufgrund seiner Vorbildfunktion eine stabile
Grundlage für unsere gemeinsame Währung durchsetzen.
Die CDU/CSU geht - im Gegensatz zum rot-grünen
Finanzdesaster - diese Herausforderungen mit einem
klaren Sanierungskonzept an.
({12})
Um die Vertrauenskrise zu beseitigen und Deutschland
aus der Haushalts- und Wachstumsfalle herauszuführen,
muss ein ehrliches finanzpolitisches Konzept auf den
Tisch, das den Bürgern zwar einiges zumutet, ihnen aber
auch eine klare Zukunftsperspektive aufzeigt.
Die Sicherung des Stabilitäts- und Wachstumspakts
bedarf grundlegender Wirtschafts- und Strukturreformen auf den Güter-, Dienstleistungs-, Kapital- und Arbeitsmärkten.
({13})
Deutschland muss mehr dafür tun. Wir müssen erstens
die Haushaltskonsolidierung voranbringen, zweitens weniger Staat durchsetzen
({14})
und drittens auch in der Steuerpolitik die ökonomische
Vernunft walten lassen.
({15})
Es bedarf einer sofortigen Haushaltskonsolidierung
und eines materiellen Budgetausgleichs beim Gesamtstaat ab 2006. Um das Ziel „weniger Staat“ zu erreichen,
muss die Staatsquote bis 2010 auf 40 Prozent gesenkt
werden. Bei den Steuersenkungen und insgesamt bei der
Steuerpolitik müssen wir immer darauf achten,
({16})
dass keine Substanzbesteuerungen vorgenommen werden. Wir müssen das Steuereinkommen der Bürger und
der Betriebe nach ihren Erträgen ausrichten. Man darf
nicht immer weitere Schnitte in die Substanz der Betriebe vornehmen, wenn man immer neue Insolvenzen
von Betrieben und den Verlust von weiteren Arbeitsplätzen vermeiden möchte.
({17})
Herr Kollege Michelbach, schauen Sie bitte einmal
auf Ihre Uhr!
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Ich freue mich, dass uns heute ein Vermittlungsergebnis vorliegt, das für die Ziele Wachstum und Beschäftigung letzten Endes eine deutliche Orientierung
schafft. Wir mahnen heute noch einmal an, dass die Defizitquote beim Stabilitätspakt eingehalten wird
({0})
und dass wir eine neue steuerpolitische Agenda mit einem klaren Sanierungsplan für Deutschland auf den Weg
bringen. Unser finanzpolitisches Konzept sieht anders
als das von Herrn Eichel aus,
({1})
das immer nur auf Fiskalismus abzielt und die Wachstums- und Beschäftigungskräfte außer Acht lässt.
Herzlichen Dank.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch, fraktionslos.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
wurde gerade gebeten, zu sagen, dass ich von der PDS
bin. Das tue ich gern.
Der Bundeskanzler hat den Krieg im Irak in seiner
Regierungserklärung als einen Grund dafür genannt, die
europäischen Konvergenzkriterien zu überdenken. Es ist
richtig: Der Krieg ist ein Konjunkturkiller. Klar ist, dass
der Krieg das Wirtschaftswachstum gedrosselt hat und
damit auch die Arbeitslosigkeit erhöht hat. Die öffentlichen Kassen werden also weiter stark belastet. Die Kosten des Krieges, die auf den Steuerzahler zukommen,
sind noch gar nicht abzuschätzen.
SPD und Grüne haben sich zwar intensiv gegen diesen Krieg ausgesprochen; aber sie haben bis zum letzten
Tag US-Bombern Überflugrechte gewährt und deutsche
Soldaten in AWACS-Flugzeugen belassen. Damit haben
sie leider den Erwartungen der US-Regierung entsprochen und als logistisches Rückgrat für diesen Krieg gute
Dienste geleistet. Selbst die kleine Schweiz hat mehr
Mut bewiesen; sie hat nämlich der US-Regierung die
Überflugrechte verwehrt.
({0})
Die Bundesregierung sieht nur zwei Möglichkeiten:
Erhöhung der Steuern oder Erhöhung des Defizits. Wenn
Sie die Neuverschuldung erhöhen, wie das übrigens gerade der CDU-Ministerpräsident Wulff in Niedersachsen
macht, dann bekommen Sie Ärger mit Brüssel, da die
Neuverschuldung nicht über 3 Prozent steigen darf. Da
die Bundesrepublik im Jahr 2003 einen Wert von
3,4 Prozent erreicht und damit bereits im zweiten Jahr
das Konvergenzkriterium überschreitet, ist eine weitere
Neuverschuldung mit Brüssel nicht zu machen. Offensichtlich ist die EU-Kommission nicht bereit, den Irakkrieg als Grund für eine flexiblere Gestaltung der Konvergenzkriterien zu akzeptieren, was ich persönlich
übrigens für falsch halte.
Also bleibt der Bundesregierung nur die Möglichkeit
der Steuererhöhung. In der Presse war von einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte zu
lesen. Das wäre aus meiner Sicht wirklich ein politischer
Skandal und ökonomischer Unsinn, ein Skandal deshalb,
weil Herr Eichel den Kapitalgesellschaften allein im Jahr
2000 fast 24 Milliarden Euro Körperschaftsteuer erlassen hat. Im Vermittlungsausschuss hat sich heute Nacht
die CDU/CSU durchgesetzt. Sie hat die möglichen Einnahmen aus der Körperschaftsteuer von 15 Milliarden Euro
auf 4,4 Milliarden Euro pro Jahr heruntergehandelt.
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen einmal etwas zur Schlusslichtdebatte sagen, die ich genauso unsinnig finde. Ich habe mir heute Morgen in Brüssel eine
niederländische Zeitung gekauft. Da gab es eine große
Schlagzeile: Nederland hekkensluiter in EU. - In verschiedenen Ländern wird also beschworen, man sei
Schlusslicht. Ich weiß nicht, wozu das gut sein soll.
Ich finde, dass die Pläne zur Erhöhung der Mehrwertsteuer auch deshalb ein Skandal sind, weil sich die SPD
und die Grünen weigern, Steuergerechtigkeit wieder
herzustellen. Ihre große Steuerreform hat die Kommunen ruiniert und soziale Schieflagen hervorgerufen. Es
ist Zeit, dass sich die SPD endlich an ihre Wahlversprechen erinnert und die Vermögensteuer wieder einführt.
({1})
Es ist auch ein Skandal, finde ich, weil die Bundesregierung mit diesen Einnahmen den Wiederaufbau des
Irak finanzieren will. Da kann ich nur der Ministerin
Wieczorek-Zeul Recht geben: Wer den Irak zerbombt,
der muss auch die finanzielle Verantwortung für den
Wiederaufbau übernehmen. - Es kann nicht sein, dass
sich einige US-Unternehmen mithilfe ihrer Regierung
und mit unseren Steuergeldern an diesem Krieg eine goldene Nase verdienen.
Eine Mehrwertsteuererhöhung ist auch ökonomischer
Unsinn, weil sie die Binnennachfrage weiter drosseln
würde, und das würde wiederum mehr Arbeitslosigkeit
bedeuten.
Wir als PDS fordern deshalb: keine Mehrwertsteuererhöhung, dafür sofortige Besteuerung von Kapitalgesellschaften und Vermögen. Das würde sofort Einnahmen von circa 30 Milliarden Euro pro Jahr ergeben.
Ich greife darum die Forderung des Kanzlers auf: Mut
zur Veränderung. - Aber es gehört offensichtlich sehr
viel Mut dazu, soziale Gerechtigkeit wieder herzustellen. Ich hoffe, meine Damen und Herren von Rot-Grün,
dass Sie diesen Mut endlich aufbringen können.
({2})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Axel
Schäfer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Strikte
Einhaltung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes und strenge Anwendung seiner Vorschriften, diese
Worte des CDU/CSU-Antrags stehen in krassem Gegensatz zu dem, was Sie an Taten in der aktuellen Politik
folgen lassen, nämlich striktes Anhalten und strenges Einwenden: striktes Anhalten der notwendigen Reformvorschläge der rot-grünen Bundesregierung und strenges
Einwenden gegen alle zukunftsweisenden Konzepte.
Der vorliegende Antrag ist ohne jede positive Erwartung, enthält dafür aber umso mehr negative Prophezeiungen. Am 11. März dieses Jahres schreiben die Unionsparteien: Bereits heute steht so gut wie fest, was mit dem
Defizit- und dem Schuldenstandskriterium wird. - Tatsächlich: Bereits 295 Tage vor Ende des Jahres wissen
Sie, liebe schwarze Kolleginnen und Kollegen, wie 2003
enden wird, nämlich schwarz in schwarz.
({0})
Mehr noch, Sie behaupten - ich zitiere -: „Die Bundesregierung täuscht erneut“.
({1})
Axel Schäfer ({2})
Auch das kennen wir ja schon: erst das tagtägliche
„Lügen, Lügen“-Gerede nach der Wahl, jetzt neue Formulierungen in die gleiche Richtung. Dabei geht es nicht
nur um Worte, es geht auch um die Wirkung dieser
Worte. Wer immer nur schlecht redet, der redet auch
schlechte Situationen mit herbei.
({3})
Wer aber über deutsche Europa-Politik ernsthaft diskutieren will, muss die europäische Sicht über Deutschland
und dabei auch die Fakten kennen.
Erstens. Bundeskanzler Gerhard Schröder, Finanzminister Hans Eichel und alle anderen Verantwortlichen haben immer wieder deutlich gemacht, dass der Stabilitätspakt nicht zur Diskussion steht. Punkt. Warum
diskutieren wir heute trotzdem? Weil Sie ein Stück öffentliche Verunsicherung wollen - und das in Zeiten, in
denen die Menschen ein besonderes Sicherheitsbedürfnis haben. Das ist aus meiner Sicht geradezu unverantwortlich.
({4})
Zweitens. Portugal, Frankreich und Deutschland liegen zurzeit über dem Referenzwert des Maastricht-Vertrages. Die Europäische Kommission hat vorgestern dargelegt, dass sich die Haushaltslage der Eurostaaten
noch verschlechtern und das Defizit aller EU-Staaten in
diesem Jahr auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes
erhöhen wird. Wir haben es also mit verbundenen europäischen und nicht mit nationalstaatlichen Problemen zu
tun. Brüssel befürchtet zudem im kommenden Jahr bei
Italien eine Überschreitung der Dreiprozentgrenze. In
Portugal, Frankreich und Italien regieren bekanntlich
christdemokratische und konservative Parteien. Wer als
Christdemokrat - das sind Sie ja - glaubt, mit einem Finger auf den sozialdemokratischen Finanzminister
Deutschlands zeigen zu müssen, der sollte sich bewusst
sein, dass bei ihm drei Finger automatisch auf die eigenen Parteifreunde in der Europäischen Volkspartei zurückweisen.
({5})
Drittens. Wir kennen die besonderen deutschen
Standortfaktoren, insbesondere die jährliche Belastung
mit Transferleistungen in Höhe von 75 Milliarden. Wir
wissen zugleich - auch das ist deutlich geworden -, dass
Deutschland der größte Nettozahler in der EU mit allein
7 Milliarden im letzten Jahr ist.
Viertens. Die EU-Kommission hat das deutsche Stabilitätsprogramm ausdrücklich positiv bewertet und
zugleich daran erinnert, dass die deutsche Volkswirtschaft trotz ihrer Größe nach wie vor höchst anfällig für
externe Schocks ist. Zu Beginn des Irakkonfliktes hat
Brüssel - bitte vergessen Sie das nicht - erklärt, dass ein
Krieg grundsätzlich ein außergewöhnliches Ereignis ist.
Mit anderen Worten: Es wurde ausdrücklich anerkannt,
dass sich dadurch Unwägbarkeiten für Stabilität und
Wachstum ergeben. - Die EU ist nun einmal komplizierter, als viele in der Union das glauben machen wollen.
Mit strammen Appellen ist es da nicht getan.
({6})
Es ist klar: Europa muss in seiner allseits bekannten
schwierigen Wirtschafts- und Finanzsituation gemeinsam handeln, zugleich muss jedes Land seinen Verpflichtungen nachkommen. Genau das tut die Bundesregierung, genau das hat Gerhard Schröder am 14. März
hier Punkt für Punkt dargelegt. Wir haben an diesem
14. März eine Perspektive mit der Agenda 2010 aufgezeigt. Diese Agenda gibt es mit dem Lissabon-Prozess
bereits auch in Europa, der die Gemeinschaft bis 2010
zur wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaft der Welt machen soll, die fähig ist,
ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum zu realisieren, und
der für einen größeren sozialen Zusammenhalt sorgen
soll. Basis dafür ist die Verbesserung von Infrastruktur
und Humankapital. Diese europäischen Ziele sind auch
Grundlage unserer Politik. Lissabon 2010 entspricht in
Deutschland die Agenda 2010. Das packen wir jetzt an;
damit muss aber auch Mut zur Veränderung einhergehen.
Dabei wissen wir: Da die Geldpolitik komplett in den
Händen der EU liegt, muss die Wirtschaftspolitik besser
europäisch abgestimmt und zugleich national ausgestaltet werden. Deshalb - davon hat hier niemand geredet hat Bundeskanzler Schröder zusammen mit Tony Blair
und Jacques Chirac jetzt Maßnahmen vorgeschlagen,
wie die Industrie im internationalen Wettbewerb besser
unterstützt werden kann. Alle diese Initiativen wurden
auf dem EU-Gipfel im März dieses Jahres übernommen.
Der Tenor lautet: Die strukturelle Erneuerung und
Modernisierung Europas ist voranzutreiben, um so die
Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaften weiter
zu steigern, Beschäftigungschancen für alle zu sichern
und damit auch positive Entwicklungen im Haushaltsbereich zu befördern.
Ich erinnere hierbei daran, dass Hemmnisse abgebaut
werden, mit denen die europäische Industrie unter den heutigen Markt- und Wettbewerbsbedingungen noch leben
muss. Es werden keine unnötigen neuen Auflagen geschaffen, den Unternehmen also keine neuen Lasten aufgebürdet. Die Märkte werden liberalisiert, also der Binnenmarkt
wird besser gestaltet. Die Umsetzung europäischer Forschungsergebnisse wird erleichtert, die Biotechnologie
wird gestärkt, die Beziehungen zwischen Instituten und
neuen Unternehmen werden besser verzahnt. Schließlich
wird die Finanzierung von Dienstleistungen, die allgemeinen wirtschaftlichen Interessen dienen, gesichert.
Wenn wir heute entscheiden wollen, wohin es gehen
soll, so müssen wir auch wissen, woher wir kommen,
wie die Grundlagen der europäischen Finanz- und
Haushaltspolitik aussehen. Vor fast genau vier Jahren,
am 24./25. März 1999, hat die rot-grüne Bundesregierung zu Beginn einer Legislaturperiode, in schwierigen
Zeiten, auf dem Berliner Sondergipfel mit der Agenda
2000 die entscheidende finanzielle und haushaltstechnische Grundlage auch für die EU-Erweiterung gelegt.
Im Dezember 2002 hat diese rot-grüne Bundesregierung auf dem Kopenhagener EU-Gipfel wiederum - auch
zu Beginn einer Legislaturperiode, auch in schwierigen
Zeiten - maßgeblich die Finanzierung für die neuen Län3280
Axel Schäfer ({7})
der auf den Weg gebracht. Gestern hat das Europäische
Parlament der Aufnahme von zehn Mitgliedstaaten zugestimmt. Das ist ein historischer Erfolg für uns alle. Es ist
eine Leistung dieser Bundesregierung, die vor der Geschichte Bestand hat.
({8})
„Demokratie ist eine Frage des guten Gedächtnisses“,
so hat Kurt Schumacher, der frühere SPD-Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, einmal formuliert. Der
ehemalige CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende in diesem
Hause, Kollege Wolfgang Schäuble, erklärte am 26. März
1999 in der damaligen Europadebatte zur Agenda 2000
- ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin -:
Aber die Beschlüsse zur Agenda 2000 bleiben hinter den Notwendigkeiten und hinter den gesteckten
Erwartungen zurück.
Und weiter:
Weil auf dem Berliner Gipfel keine Vereinbarung
über Maßnahmen zu stärkeren nationalen Gestaltungsmöglichkeiten erreicht worden ist ..., ist dieser
Gipfel gescheitert.
Tatsächlich war dieser Gipfel ein großer Erfolg, der
den europäischen Einigungsprozess entscheidend vorangebracht hat. Sie haben sich bezüglich der Geschichte
geirrt. Es ist klar: Wer, wie Sie heute, am Anfang eines
Prozesses dessen Scheitern erklärt, wird am Ende selbst
scheitern.
({9})
Wer Anfang 2003 schon erklärt, am Ende des Jahres
würden wir schlecht dastehen, der steht am Ende selbst
schlecht da.
Wir wollen als Deutsche in Europa gut dastehen, auch
weil Europa gut für Deutschland ist. Deshalb wird diese
rot-grüne Regierung ihre Politik wie 1998 bis 2002 auch
in diesem Jahr für Deutschland in Europa zu einem Erfolg werden lassen.
Vielen Dank.
({10})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Patricia Lips, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Mit der Einführung des Euro im Rahmen der
Wirtschafts- und Währungsunion wurden strikte, für alle
verbindliche Regeln festgelegt, um die Stabilität der
neuen Währung zu garantieren. Gleichzeitig wurden
Möglichkeiten geschaffen, um im begründeten Bedarfsfall ausnahmsweise und vorübergehend reagieren zu
können. Diese Regeln haben bisher alle Bewährungsproben bestanden. Es gibt auch für die Zukunft keine Veranlassung, daran zu zweifeln.
({0})
Nichtsdestotrotz oder vielleicht gerade deshalb bleibt
festzustellen, dass die Einsicht in die Notwendigkeit des
Stabilitäts- und Wachstumspaktes in Europa vielerorts
immer mehr abnimmt. Aufgabe der deutschen Bundesregierung wie auch des Deutschen Bundestages sollte es
deshalb sein, solchen Überlegungen deutlich entgegenzutreten und sich nicht an einer derart gestalteten Debatte zu beteiligen. Das ist eine Verantwortung, die von
unserem Land erwartet wird.
Doch welche Signale gehen von Deutschland aus?
SPD und Bündnis 90/Die Grünen sagen von sich in ihrem eigenen Antrag, sich maßgeblich für ein Ende der
Debatte eingesetzt zu haben, in welcher die Kriterien des
Paktes seit Wochen öffentlich diskutiert werden. Herr
Poß, Herr Schäfer, Sie haben beide gesagt, keiner stelle
den bestehenden Stabilitäts- und Wachstumspakt infrage. Gestatten Sie mir deshalb, nachfolgend zwei Pressemeldungen zu zitieren, die aufzeigen, was Sie gelegentlich darunter verstehen, Debatten zu diesem Thema
zu beenden. Beide stammen von Mitte Februar. Die Zahl
der Zitate ließe sich beliebig erweitern, aber allein diese
beiden machen deutlich, weshalb es uns so schwer fällt,
an Ihre Aussagen zu glauben.
Zunächst zitiere ich die „FAZ“ vom 12. Februar:
Am Vortag hatte der SPD-Vorstand über den finanzpolitischen Kurs beraten. Nach der Sitzung hatte die
SPD-Politikerin Andrea Nahles berichtet, Bundeskanzler Schröder wolle Verhandlungen mit Großbritannien und Frankreich über eine Lockerung des
Konsolidierungskurses in Europa führen. Dies hatte
jedoch SPD-Generalsekretär Olaf Scholz bestritten.
Am Dienstag bekundete ein Sprecher des Bundesfinanzministeriums, die Bundesregierung halte am
Konsolidierungskurs fest. Der SPD-Politiker
Ludwig Stiegler ... sagte jedoch, eine Fixierung nur
auf die Maastricht-Kriterien sei nicht gewollt.
({1})
Sie müssen schon zugeben: Man ist verwirrt.
({2})
Die „Frankfurter Rundschau“ schrieb am gleichen
Tag:
„Uns ist kein Plan für eine Lockerung des europäischen Wachstums- und Stabilitätspaktes bekannt“,
betonte eine Sprecherin des Hauses Eichel. Am
Vortag hatte Schröder hingegen die Debatte über
eine Korrektur des Sparkurses als berechtigt bezeichnet und eine europäische Initiative zu diesem
Thema angekündigt.
Weiter im Text:
Differenzen in den Aussagen zwischen Eichel und
Schröder seien nicht zu erkennen. Sie
- die Sprecherin Patricia Lips
könne sich die Sache nur so erklären, dass der
Kanzler missverstanden worden sei.
Es ist schon ein Kreuz mit bestimmten Ämtern.
({3})
Dieses Missverständnis setzt sich mit der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 14. März fort. Ich zitiere:
Deshalb halten wir am Ziel der Haushaltskonsolidierung und am Stabilitätspakt, den wir vereinbart
haben, fest. Nur:
- jetzt kommt es Dieser Pakt darf eben nicht statisch interpretiert
werden.
Sie haben Recht, Herr Schäfer: Es geht hier um die Wirkung der Worte. Das Signal, das Sie nach draußen senden, ist völlig verwirrend, und das Schauspiel, das Sie
hier abgeliefert haben, war und ist entwürdigend.
({4})
Sind Sie sich eigentlich darüber im Klaren, dass Sie mit
diesen öffentlichen Debatten in den anderen Ländern
von Dankbarkeit über Häme über den deutschen Musterschüler bis hin zur Ungläubigkeit über Deutschland so
ziemlich alles ernten, was die Diskussion in Europa noch
zusätzlich anheizen wird?
Die aktuelle wirtschaftliche Situation in Deutschland ist verheerend und nachweislich hausgemacht. In
einer Entscheidung des Europäischen Rates wird im Januar dieses Jahres ausgeführt, dass die Überziehung des
Etats und die Einnahmeausfälle in Deutschland nur zum
Teil mit konjunkturellen Faktoren erklärt werden können. Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen - diese
Entscheidung bewertet immerhin Ihre Politik -: Ein wenig mehr Selbstkritik und stille Einkehr hinsichtlich Ihrer eigenen Politik der vergangenen viereinhalb Jahre ist
an dieser Stelle sicher angebracht.
({5})
Frau Hermenau, Sie haben vorhin sinngemäß gesagt,
dass sich dieses Land seit 1999 auf dem richtigen Weg
befindet. Der „Economist“ stellte bereits vergangenes
Jahr zur rot-grünen Politik fest:
Durch die Konjunkturschwäche Deutschlands wird
Westeuropa im kommenden Jahr das niedrigste
Wachstum einer Weltregion aufweisen. Durch die
Fehler dieser Regierung zieht Deutschland zurzeit
die Wirtschaft der Europäischen Union in die Tiefe.
Das ist die Antwort, die nicht nur wir Ihnen auf Ihre
Aussage geben. Die Situation ist schlimm und bedauerlich. Wir wünschten, sie wäre anders.
({6})
Der Generaldirektor für den Binnenmarkt in der EU
sagt im aktuellen „Focus“:
Die deutsche Wachstumsschwäche droht die gesamte europäische Konjunktur in den Abgrund zu
ziehen.
({7})
- Sie sollten in Ihren Zwischenrufen weniger zynisch
sein. Es geht hier um sehr viel. - Diese Aussagen machen doch mehr als deutlich, dass wir zwischenzeitlich
nicht mehr Betroffene, sondern vielmehr selbst Teil des
Problems geworden sind. Es stünde Ihnen deshalb gut
an, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, nun nicht noch zusätzlich den Eindruck zu
hinterlassen - es tut mir Leid, dies sagen zu müssen;
aber so ist es -, Sie würden versuchen, Ihr eigenes Unvermögen auszutricksen, indem Sie sich daran beteiligen, die Stabilität unserer Währung neu zu definieren.
In Ihrem Antrag sagen Sie noch mehr. Sie sprechen
nämlich davon, dass die Bundesregierung mit ihrer Annahme des Defizitverfahrens für 2002 ein wichtiges Bekenntnis zum Pakt in seiner bestehenden Form abgegeben habe. Ich sage es Ihnen ganz deutlich: Die
Regierung hat nicht ein Bekenntnis abgegeben, sondern
sie ist einer puren Selbstverständlichkeit nachgekommen. Ich erinnere an das Verhalten der Bundesregierung
im Zusammenhang mit dem blauen Brief vor einem
Jahr: Rollläden runter, Augen und Ohren zu, Annahme
verweigert - frei nach dem Motto: Wir doch nicht! - Wo
war also Ihr wichtiges Bekenntnis zur Stabilität unserer
Währung zum damaligen Zeitpunkt, als Sie den berechtigten blauen Brief nicht annahmen?
Meine sehr geehrten Damen und Herren, durch Ihren
heutigen Antrag sind Sie nicht glaubwürdiger geworden.
({8})
Eines wird in der Abfolge deutlich: Nicht nur Ihre jüngsten Äußerungen in der Presse, sondern auch die gesamte
Entwicklung zeigt auf, dass bei Ihnen fast schon System
dahinter steckt, das System, den Stabilitätspakt sehr beharrlich und mit allerlei beschönigenden Redewendungen durch neue Interpretationen im öffentlichen Bewusstsein zu entwerten, Regeln nach Kassenlage zu
umgehen oder Verantwortung abzuschieben. Herr
Eichel, dies haben Sie heute wieder eindrucksvoll getan.
({9})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brauchen ein starkes Europa. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt bildet die Grundlage der finanzpolitischen
Solidarität und des Vertrauens nicht nur zwischen den
Staaten der Eurogruppe, sondern vor allem auch auf den
Finanzmärkten weltweit. Die Äußerungen in Ihrem Antrag sind entweder überflüssig oder Sie wollen doch
mehr, als der Pakt schon heute zulässt. Genau dies ist zu
befürchten.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
- Ich sage nur noch ein paar Sätze. - Nehmen Sie uns
diese Befürchtung! Machen Sie Ihre Hausaufgaben im
Strukturbereich! Das ist das Einzige, was diesem Land
hilft. Unser Antrag wird Ihnen dabei eine psychologisch
wichtige Stütze bieten.
Vielen Dank.
({0})
Frau Kollegin Lips, dies war Ihre erste Rede hier in
diesem Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen recht herzlich
und wünsche Ihnen politisch und persönlich alles Gute.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/541 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir stimmen über Tagesordnungspunkt 4 b ab, über
die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung über die Ent-
schließung des Europäischen Parlaments zu der jährli-
chen Bewertung der Durchführung der Stabilitäts- und
Konvergenzprogramme, Drucksache 15/737. Der Aus-
schuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung, eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und Enthal-
tung der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 d sowie
die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
18. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des
Schutzes von Verfassungsorganen des Bundes
- Drucksache 15/805 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Siebten Buches Sozialgesetzbuch und des
Sozialgerichtsgesetzes
- Drucksache 15/812 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. Juli 2002 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Französischen Republik
über die deutsch-französischen Gymnasien
und das deutsch-französische Abitur
- Drucksache 15/717 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags des Bundesministeriums
der Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 2002 - Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes ({3}) -
- Drucksache 15/770 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
ZP 2 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Barbara Wittig, Dr. Dieter Wiefelspütz,
Wilhelm Schmidt ({4}), Franz
Müntefering und der Fraktion der SPD, den
Abgeordneten Hartmut Büttner, Dr. Angela
Merkel, Michael Glos und der Fraktion der
CDU/CSU, den Abgeordneten Silke Stokar
von Neuforn, Volker Beck ({5}), Katrin
Dagmar Göring-Eckardt, Krista Sager und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten Gisela Piltz,
Dr. Max Stadler, Dr. Wolfgang Gerhardt und
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs
eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des
Stasi-Unterlagen-Gesetzes ({6})
- Drucksache 15/806 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des ErneuerbareEnergien-Gesetzes
- Drucksache 15/810 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 i sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 d auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 19 a:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Melderechtsrahmengesetzes
- Drucksache 15/536 ({8})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({9})
- Drucksache 15/822 Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Fograscher
Ralf Göbel
Silke Stokar von Neuforn
Gisela Piltz
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/822, den Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist das Gesetz in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalition und der CDU/
CSU bei Enthaltung der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen - Der Gesetzentwurf ist mit demselben Votum wie in der zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 19 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung des gesellschaftsrechtlichen
Spruchverfahrens ({10})
- Drucksache 15/371 ({11})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({12})
- Drucksache 15/838 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Brinkmann ({13})
Dr. Jürgen Gehb
Hans-Christian Ströbele
Rainer Funke
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/838, den Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 19 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({14})
- zu der Verordnung der Bundesregierung
Achtundfünfzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
- zu der Verordnung der Bundesregierung
Einhundertste Verordnung zur Änderung
der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - zu der Verordnung der Bundesregierung
Einhundertsechsundvierzigste Verordnung
zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum
Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 15/291, 15/292, 15/293, 15/763 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnungen auf den Drucksachen 15/291, 15/292 und 15/293
nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 d auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 26 zu Petitionen
- Drucksache 15/764 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 26 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 19 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 27 zu Petitionen
- Drucksache 15/765 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 27 ist ebenfalls mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 19 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 28 zu Petitionen
- Drucksache 15/766 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 28 ist ebenfalls mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 19 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 29 zu Petitionen
- Drucksache 15/767 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 29 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 19 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 30 zu Petitionen
- Drucksache 15/768 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 30 ist mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der
FDP angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 19 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 31 zu Petitionen
- Drucksache 15/769 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 31 ist mit den Stimmen
der Koalition und der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU
angenommen.
Wir kommen zu Zusatzpunkt 3 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 32 zu Petitionen
- Drucksache 15/829 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 32 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zu Zusatzpunkt 3 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 33 zu Petitionen
- Drucksache 15/830 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 33 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zu Zusatzpunkt 3 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 34 zu Petitionen
- Drucksache 15/831 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 34 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zu Zusatzpunkt 3 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 35 zu Petitionen
- Drucksache 15/832 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 35 ist mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der
FDP angenommen.
Die Fraktion der CDU/CSU hat gebeten, die Sitzung
jetzt zu unterbrechen, damit sie eine Fraktionssitzung abhalten kann. Der Wiederbeginn der Sitzung wird rechtzeitig durch Klingelsignal angekündigt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({25})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Haltung der Bundesregierung zur Berufung
des früheren Bundeswirtschaftsministers
Werner Müller zum Vorstandsvorsitzenden
des RAG-Konzerns
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Rainer Brüderle von der FDP-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind
Zeugen eines unglaublichen Skandals.
({0})
Ich möchte meine Rede mit einem entsprechenden Zitat
beginnen:
Ex-Wirtschaftsminister Müller hat dem Ansehen
der Regierung erheblichen Schaden zugefügt
({1})
und Deutschland einen schlechten Dienst erwiesen.
Dies sagte der damalige Regierungssprecher UweKarsten Heye, der mit diesen Worten den Wechsel des
EU-Kommissars Bangemann in den Verwaltungsrat einer Telekommunikationsgesellschaft kommentiert hat.
Bangemann war lediglich zuständig für die Deregulierung eines Marktes. Hier haben wir aber einen
ungleich dramatischeren Fall. Herr Müller hat die Verlängerung der Steinkohlesubventionen in Brüssel persönlich ausgehandelt. Er hat diese Milliardensubvention
an die Ruhrkohle AG auszahlen lassen.
({2})
Sein Haus sprach sich für die Fusion von Eon und Ruhrgas - das neue Unternehmen hat einen Marktanteil von
85 Prozent - entgegen der Entscheidung des Kartellamts
und entgegen der Empfehlung der Monopolkommission
aus. Die Delegation auf den Staatssekretär im Wirtschaftsministerium wirkt vor diesem Hintergrund umso
peinlicher. Das ist die Dimension des Skandals.
({3})
Im Eilverfahren wurde die Fusion, die zu einem Unternehmen mit 85 Prozent Marktanteil führte, noch vor
der Bundestagswahl durchgezogen. Der Eon-Vorstandsvorsitzende Hartmann ist gleichzeitig der Aufsichtsratsvorsitzende der Ruhrkohle AG; denn über 40 Prozent
der Anteile an der Ruhrkohle AG hält Eon. Ein Schelm,
wer Böses dabei denkt.
({4})
Im Soldatengesetz und im Beamtenrecht gibt es Konkurrenzklauseln. Es gibt Tätigkeitsverbote für Beamte
und Mitarbeiter oder zumindest Übergangsfristen für
den Fall, dass sie im Anschluss an ihre Tätigkeit im öffentlichen Dienst auf dem gleichen Feld tätig werden.
Bei dem, was hier passiert, gibt es noch nicht einmal
eine Schamfrist. Wie will ich das einem kritischen jungen Menschen erklären? Bei ihm muss doch der Verdacht aufkommen, hier werde quasi ein ordnungspolitischer Judaslohn für vorherige Entscheidungen kassiert,
indem er anschließend dort Vorstandsvorsitzender wird.
({5})
Wie verkommen ist die deutsche Politik, dass in ihr so
etwas möglich ist und die Regierung dazu schweigt!
Wenn es um einen harmloseren Fall geht, der andere betrifft, wird wochenlang eine Kampagne geführt. Wenn es
um die eigenen Leute geht und Herr Müller dort untergebracht wird, herrscht Funkstille und dann ist alles in
Ordnung und prima.
Gemäß Umfragen aller demoskopischen Institute
trauen 50 Prozent der Bevölkerung allen Parteien nichts
Rechtes mehr zu. Durch Ihr Verhalten ist wieder ein
Stein gelegt worden, mit dem das Vertrauen in die deutsche Politik erheblich beschädigt wird. Das ist ein mieser
Stil!
({6})
Es ist ein pharisäerhaftes Verhalten der Regierung,
sich im Fall Bangemann aufzublasen - der Regierungssprecher drohte sogar rechtliche Konsequenzen an - und
hier Mist hoch fünf zu machen und dazu zu schweigen.
Man findet dies in Ordnung und sogar die grünen Obermoralisten finden es gut, dass Herr Müller wieder einen
Job hat. Das ist wirklich keine angemessene Verhaltensweise.
({7})
Es zeigt sich, wie ein Filz aus Montanmitbestimmung,
Gewerkschaften, Sozialdemokraten und von Subventionen des Staates abhängigen Unternehmen
({8})
hier ein Netzwerk installiert, das eine der Ursachen dafür
ist, weshalb wir nicht nur im Ansehen, sondern auch bei
der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht mehr frühere Größenordnungen erreichen können. Dies ist die
teuerste ABM-Maßnahme, die es je in Deutschland gab.
({9})
Eine solche Politik ist problematisch. Die Steinkohlesubventionen müssten aufgrund dieses Verhaltens sofort
gestrichen werden. Sie werden volkswirtschaftlich unsinnig verwendet. Wir haben nicht hinreichend Geld für
Bildung und Ähnliches; aber im Steinkohlebereich wird
die Gewährung von Subventionen verlängert. Zudem
gibt es einen Deal: Die Holländer, die Italiener und die
Franzosen dürfen die Zahlung von Dieselsubventionen
an ihre Spediteure zulasten der deutschen Spediteure
bzw. Brummifahrer verlängern, damit wir die Gewährung der unsinnigen Steinkohlesubventionen fortführen
können. Derjenige, der dafür die Verantwortung trägt
und ermöglicht hat, dass die Ruhrkohle AG mithilfe von
Milliardensubventionen arbeiten kann, hat sich quasi
vorher durch die Gewährung von Subventionen für die
Steinkohle seine eigenen Vorstandsbezüge gesichert.
({10})
Das ist keine Rechtsfrage; das mag rechtlich nicht angreifbar sein.
({11})
Aber dies ist ein hundsmiserabler Stil. Wie wollen wir
Vertrauen in den Staat und in die Politik schaffen, wenn
oberste Führungskräfte in Deutschland, Minister des
Bundes, solch eine Verhaltensweise an den Tag legen?
Das ist unglaublich. Das ist ein Tiefgang, wie wir ihn in
Deutschland noch nie erlebt haben.
({12})
Die Regierung schweigt. Wenn ein solches Vorgehen
mit dem Filz aus Gewerkschaften, Mitbestimmung und
der Ruhrkohle zu tun hat, ist es offenbar in Ordnung. Bei
anderen Dingen hat man ganz schnell eine hohe Tonlage
und kritisiert es.
({13})
Wenn Herr Müller Anstand hätte, würde er diese Berufung nicht annehmen und sagen: Das geht nicht. So
kann man nicht vorgehen. Ich kann nicht jahrelang in
diesem Bereich tätig sein und für ein Mammutunternehmen die Weichen stellen und mich dann anschließend in
das offenbar selbst vorbereitete Nest setzen.
({14})
Das ist eine moralische Katastrophe. Das ist zutiefst unanständig und hat mit Ordnungspolitik, mit der
Grundausrichtung der deutschen Wirtschaftspolitik überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil!
({15})
Ich finde es äußerst bedauerlich. Die Regierung hat
jetzt die Chance, dazu eine Erklärung abzugeben. Beim
Fall Bangemann haben Sie die Backen dick aufgeblasen.
Bei diesem Fall ging es um vielleicht 5 Prozent von dem,
was jetzt vor uns liegt. Wenn es die Roten betrifft, ist alles in Ordnung. Wenn es um die anderen geht, ist es
schändlich. Pfui Teufel!
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wilhelm Schmidt von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von Herrn
Brüderle etwas über Moral und Stilfragen zu hören ist
fast witzig. Denn Sie sind diejenigen, die uns am allerwenigsten belehren sollten.
({0})
Ich könnte Ihnen lange Storys über Herrn Friderichs, Herrn
Bangemann, Herrn Möllemann und Herrn Haussmann erzählen. Alle sind aus Ihren Reihen.
({1})
Herr Rexrodt ist sicherheitshalber gar nicht hier, damit er
auf seine intensive Verflechtung mit der Wirtschaft nicht
angesprochen werden kann. Sie sollten uns also gar
nichts erzählen.
Ferner denke ich, dass wir im Bundestag wahrhaftig
Besseres zu tun haben. Es gab gestern eine Aktuelle
Stunde der CDU/CSU. Auch die war wieder ziemlich
aufgeblasen. Zum wiederholten Male wurden Haushaltsfragen auf den Tisch gepackt, die Sie alle längst geregelt
wissen.
({2})
Wir haben heute Morgen über den Stabilitäts- und
Wachstumspakt gesprochen; auch das war eine überflüssige Debatte, wie sich erwiesen hat. Sie versuchen, von
Ihrer Konzeptionslosigkeit und Schwäche abzulenken.
({3})
Deshalb kommen Sie auf das Thema „Berufung von
Herrn Müller zum Vorstandsvorsitzenden der RAG“ für
die Aktuelle Stunde.
Ich kann nur sagen: Es entlarvt Sie und stinkt ohne
Ende zum Himmel. Wir haben Ihnen daher nur Folgendes
zu erklären: Erstens ist der Vorgang rechtlich einwandfrei. Zweitens, sind der Bundestag und die Bundesregierung nicht die Oberaufseher deutscher Unternehmen.
Drittens ist es gut, dass wir uns auch dieser Debatte widmen, aber nicht in dem Maße, wie Sie es wünschen;
denn Sie blasen ein parlamentarisches Instrument auf.
({4})
Draußen im Land fragen die Menschen: Haben die
nichts Besseres zu tun? Wir sagen eindeutig: Ja, wir
schon, die FDP offensichtlich nicht. Da sich die CDU/
CSU mit fünf Rednern beteiligt, hat offensichtlich auch
die andere Oppositionspartei nichts Besseres zu tun.
Kehren Sie vor Ihrer eigenen Haustür! Lassen Sie diesen Unsinn! Lassen Sie uns zu seriöser Politik, zu der
Sie offensichtlich nicht fähig sind, möglichst bald zurückkehren.
({5})
Dann werden wir der Sache entsprechend Rechnung tragen.
({6})
- Ihre Zwischenrufe kennen wir alle schon. Auch das
macht die Sache nicht besser. Wir werden uns dieser Aktuellen Stunde nicht widmen.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Schauerte von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Kollege Schmidt, die Sache ist wirklich nicht
witzig,
({0})
aber sie stinkt zum Himmel;
({1})
so nehme ich Ihre beiden Begriffe auf.
Ich wundere mich nicht, dass nur einer von Ihnen redet. Die anderen wollten es nicht, weil es ihnen zu peinlich ist.
({2})
Ich kann die Hoffnung nicht aufgeben, dass Sie eines Tages die Messlatte gleichmäßig anlegen werden und nicht
wie jetzt einmal so und einmal anders.
({3})
Deswegen darf ich noch einmal auf den Fall Bangemann
abstellen:
Im Jahr 1999 wollte Bangemann zur Telefónica nach
Spanien. Heide Simonis, Ihre tüchtige Ministerpräsidentin, sah in Bangemanns Verhalten eine „Verrohung der
Sitten“.
Manche handeln so undurchschaubar wie eh und je
und sind vor allem daran interessiert, irgendwie irgendetwas für sich herauszuholen.
So lautet der Originalton von Heide Simonis.
Ich könnte jetzt viele andere nennen, zum Beispiel
Verheugen: Es gab eine Sondersitzung der 15 EU-Botschafter, um ein Verfahren gegen Bangemann anzustrengen, damit ihm die Pensionsansprüche aberkannt würden. Das war die breite Stimmungslage in der deutschen
Sozialdemokratie.
({4})
In der „Süddeutschen Zeitung“ von damals gab es
eine schöne Zusammenfassung; dort heißt es in Bezug
auf Ihre Fraktion und Partei:
Empörung löste vor allem aus, dass er damit genau
in jenem Bereich arbeiten wird, für den er bei der
EU seit 1992 die Verantwortung hatte.
({5})
Wenn das damals galt, dann gilt das auch heute.
({6})
Ihr Minister ist aus der Veba, heute Eon, gekommen und
hat vier Jahre als Minister gearbeitet, und zwar erkennbar monopolnah und liberalisierungsfeindlich. Die Liberalisierung der Elektrizitätsmärkte hat in allen Bereichen
schweren Schaden genommen.
({7})
Er war sehr „nützlich“. Dann kam das Kartellverfahren
bzw. die Ministererlaubnis. Wir haben ihm schon vor der
Erteilung der Ministererlaubnis gesagt, er möge definitiv
erklären, dass er bei keinem der in diesem Verfahren Beteiligten später in Lohn und Brot sein wird. Das haben
wir ihm öffentlich hier im Haus gesagt.
Das Ergebnis war: Er stand vor einem Problem und
hat das nicht selber gemacht, sondern seinem Staatssekretär Tacke übertragen. Es wurde eine bis heute rechtswidrige Ministererlaubnis erteilt. Das Verfahren ist nur
beendet worden, weil gekauft wurde, weil die Kläger gegen diese rechtswidrige Entscheidung abgefunden wurden. Federführend verantwortlich, Frau Kollegin
Hustedt, war Minister Müller.
Jetzt gibt es das Schweigen der Grünen,
({8})
„Das Schweigen der Lämmer“, das Schweigen der Grünen, das Schweigen der grünen Lämmer: Wo sind Sie
mit Ihrem Sauberkeitsanspruch geblieben? Das Problem
wird noch viel größer: Überlegen Sie, was ein normaler
Beamter zu bedenken hat. Dieser Minister war nicht einmal Abgeordneter, er war nur Minister, eigentlich war er
Beamter, und was für einer.
In § 69 a Bundesbeamtengesetz - Tätigkeit nach Beendigung des Beamtenverhältnisses - steht:
Ein Ruhestandsbeamter oder früherer Beamter mit
Versorgungsbezügen, der nach Beendigung des Beamtenverhältnisses innerhalb eines Zeitraumes von
fünf Jahren ... außerhalb des öffentliches Dienstes
eine Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit aufnimmt, die mit seiner dienstlichen Tätigkeit in den
letzten fünf Jahren vor Beendigung des Beamtenverhältnisses im Zusammenhang steht und durch
die dienstliche Interessen beeinträchtigt werden
können, hat die Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit der letzten obersten Dienstbehörde anzuzeigen.
Hier ist die Bundesregierung gefragt. Die Bundesregierung muss sich dazu äußern, ob sie das, was hier passiert, begrüßt oder nicht.
({9})
Die Berufung erfolgt nicht wegen der schönen Augen
von Herrn Müller, sondern weil er für das Unternehmen
Ruhrkohle AG aufgrund seiner früheren Tätigkeit als
Minister und der damit verbundenen besten Beziehungen zum Haus mit Blick auf die nächsten Subventionsentscheidungen nützlich sein soll. Das ist eine dienstliche Angelegenheit.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Monopolminister Müller ist nun nach einer vierjährigen Entleihung
- eine Zeit, in der er die Energiemonopole gestärkt hat hoch bezahlt in die Monopole zurückgekehrt.
({11})
Genau diese Kurve ist er gefahren.
Das hat nichts damit zu tun, dass wir eine Wechselbeziehung zwischen Politik und Wirtschaft wollen. So
grob, so plump, so durchsichtig und so voller Beziehungsgeflecht, das der Steuerzahler zu bezahlen hat, haben wir das in diesem Lande noch nicht erlebt. Das ist
ein Anschlag auf Sauberkeit.
({12})
Wenn ich höflich bin,
({13})
sage ich: Es riecht nach einer verfeinerten Art von Korruption. Wenn ich brutal bin, müsste ich sagen: Dies ist
auf höchster Ebene korruptes Verhalten. Anders kann
man das nicht bewerten.
({14})
Ich bitte Sie darum, das zu klären. Das ist noch nicht
das Ende der Debatte. Sie brauchen nicht zu glauben,
dass das Thema schnell an Ihnen vorbeiginge, nur weil
Sie lediglich einen Redner in die Debatte schicken. Das
Thema bleibt. Ob sich die Ruhrkohle AG mit einer solchen Entscheidung einen Gefallen in Bezug auf die
Durchsetzung ihrer berechtigten Ziele getan hat, wird die
Zukunft zeigen.
({15})
Es ist ein unerträglicher Vorgang.
Herr Schmidt, wenn ich Ihnen das noch sagen darf:
Was mich besonders stört
({16})
- nein, ganz nachdenklich -, ist, dass dieses Thema Ihre
Partei angeblich oder tatsächlich überhaupt nicht zu interessieren scheint. In Europa sollen demnächst Kommissare eine Auszeit von mindestens einem Jahr nehmen
müssen. Das ist so eine Art Schamfrist. Sie müssen wenigstens eine Kurve fahren. Warum machen wir in
Deutschland nichts Vergleichbares? Warum sagen wir
nicht, dass eine neue Tätigkeit in einer so unmittelbaren
Nähe zur vorhergehenden Tätigkeit nicht erlaubt ist? So jemand muss auf die Wartebank.
Herr Kollege Schauerte, die Zeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Schluss. - Mindestens das wäre nötig. Denken Sie einmal darüber nach.
Wir denken über Corporate Governance, über Transparenz, über eine neue Unternehmenskultur nach und
dann kommen Sie hier mit einer Parteibuchwirtschaft
und einer Klüngelwirtschaft, die alles platt macht. Es ist
peinlich, peinlich, peinlich!
({0})
Das Wort hat die Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/
Die Grünen.
({0})
Ich komme gleich noch zu Ihnen, Herr Schauerte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren hier, ob es verwerflich ist, dass der ehemalige
Wirtschaftsminister jetzt Chef der RAG wird. In der Tat
sind die Grünen in solchen Dingen moralisch sehr rigide.
Ich persönlich zum Beispiel achte sehr penibel darauf,
dass ich an meinem Engagement für Erneuerbare Energien nichts, aber auch gar nichts verdiene. Weder sitze
ich in Aufsichtsräten noch investiere ich zum Beispiel in
Windparks oder dergleichen mehr, obwohl viele auf
mich zukommen.
({0})
- Ich weiß. Deswegen diskutiere ich gern über solche
Dinge. Immerhin ist gerade das Verhältnis zwischen Energiewirtschaft und Politik
({1})
noch aus der Monopolzeit
({2})
außerordentlich problematisch - da stimme ich Ihnen
zu - und sie sind außerordentlich eng verwoben.
Allerdings diskutiere ich nicht mit der FDP in solch
einer Aktuellen Stunde über eine solche Vorlage. Sie
weinen scheinheilige Krokodilstränen und zetteln hier
eine verlogene Debatte an.
({3})
und bei der SPD)
Es sind doch Sie, die in der Theorie immer ideologisch
fordern, wir brauchen fließende Übergänge zwischen
Wirtschaft und Politik, einen Austausch der Eliten. Und
es sind Sie, die das nicht nur fordern, sondern in hohem
Maße auch praktizieren.
Sie haben den Namen Bangemann schon selbst ins
Spiel gebracht, wohl wissend, dass dies das beste Beispiel ist. Der kurzfristige Wechsel von der EU-Kommission zur spanischen Firma Teléfonica war seinerzeit ein
Riesenskandal.
Ich möchte weitere Beispiele nennen. Sie kennen
doch bestimmt den Nachwuchsstar und Hoffnungsträger
der FDP in Nordrhein-Westfalen, Andreas Reichel, damals Mitglied des Landtags von Nordrhein-Westfalen.
Ich frage Sie: Wo ist der gelandet, nachdem die FDP
nicht mehr in den Landtag gekommen war?
({4})
Er ist Pressesprecher bei der RAG geworden. Und was
hat er - das unterscheidet ihn von Frau Röstel - außerMichaele Hustedt
dem gemacht? Gleichzeitig war er Schatzmeister bei
Herrn Möllemann.
({5})
Inzwischen ist er zurückgetreten wegen der illegalen
Finanzgeschäfte von Möllemann.
Ein anderes Beispiel: Ihr Bundestagskollege Rexrodt
sitzt in sieben Aufsichtsräten. Unter anderem ist er Teilhaber der PR-Agentur WMP Wirtschaft, Medien und
Politik, bei der er pro Jahr rund 740 000 DM, etwa die
Hälfte in Euro, verdient.
({6})
Wen berät diese Firma? Sie berät zum Beispiel Firmen
wie Eon und BP. Erinnern wir uns an die Debatte über
die Eon-Ruhrgas-Fusion im Wirtschaftsausschuss, Herr
Brüderle. Damals sind die Grünen aufgestanden und haben gesagt: Wir wollen über diese weit reichende Angelegenheit diskutieren. Ich bin persönlich auf Sie zugegangen. Daraufhin hat Herr Rexrodt, der an der Beratung
von Eon verdient, während er gleichzeitig Mitglied des
Bundestages ist, eingegriffen und jede Diskussion im
Wirtschaftsausschuss unterbunden.
({7})
Öffentlich hat er sich dann geäußert, dass er die Fusion
von Eon und Ruhrgas voll unterstützt.
({8})
So ist die Realität: Sie bekleiden die Posten nicht nacheinander, sondern gleichzeitig - und beginnen dann hier
eine so scheinheilige Debatte.
({9})
Jetzt einmal - Herr Schauerte weiß schon, was nun
kommt - zur CDU:
({10})
Wie war das denn da? Ich weiß, dass Sie, Herr
Schauerte, dieser Fusion kritisch gegenübergestanden
haben. Aber auch Sie haben einen Maulkorb verpasst bekommen, nämlich von Ihrem Kollegen Wissmann. Herr
Wissmann ist, wie Sie wissen, Teilhaber einer Kanzlei,
die BP vertritt. BP wiederum hat an der Fusion von Eon
und Ruhrgas mit verdient, weil sie die Aral-Tankstellen
bekommen hat.
Deshalb sage ich: Die Debatte, die Sie hier führen, ist
hochgradig scheinheilig.
({11})
Einen Anlass für eine Aktuelle Stunde bietet das Ganze
in keinem Fall.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gudrun Kopp von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen!
Liebe Kollegin Hustedt, Sie haben lange über alle möglichen Sachverhalte referiert, ohne sie korrekt zu schildern.
Ich erinnere Sie zum Beispiel daran, dass der Kollege
Rexrodt nicht Mitglied des Wirtschaftsausschusses ist.
({0})
In die Debatte eingegriffen hat er seinerzeit bestimmt
nicht.
Liebe Frau Hustedt, Sie haben es versäumt, sich klar
zu der Frage zu äußern, wie die Grünen dazu stehen,
dass Herr Müller zur RAG wechselt. Weil Sie es damit
haben bewenden lassen, Ihre persönliche Befindlichkeit
zu äußern, will ich Ihnen ein bisschen auf die Sprünge
helfen: Ihr Kollege Hubert Ulrich, mittelstandspolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, hat sich
- ich meine, es war in der „Süddeutschen Zeitung“ ganz klar gegen diese neue Jobvermittlung zugunsten
von Herrn Müller gewandt.
({1})
Genau das ist Gegenstand der heutigen Debatte. Die Präsenz hier im Plenum zeigt, wie sehr das Thema die SPD
und die Grünen interessiert. Das finde ich mehr als beschämend.
({2})
Im Kern geht es um die Frage: Wem nützt diese Nominierung von Herrn Müller als Chef der RAG? In dem
Zusammenhang ist es natürlich interessant, zu wissen,
wie es mit der Steinkohlesubvention weitergeht.
2,6 Milliarden Euro allein in diesem Jahr sind kein Pappenstiel; das ist eine Subventionierung von derzeit ungefähr 80 000 Euro pro Arbeitsplatz. Die Bundesregierung
hat absolut keinen Plan. Sie weiß noch nicht einmal, wie
es nach dem Jahr 2005 weitergehen soll.
({3})
Das ist mehr als unverantwortlich. Wer glaubt, dass Herr
Müller als RAG-Chef ein Konzept zum Abbau von Subventionen vorlegen wird, der wird eines Besseren belehrt
werden. Sie spielen sich einander die Bälle zu, von der
einen wie der anderen Richtung. Genau das ist es, womit
wir unsere Zukunft verspielen.
({4})
Angesichts des Ministerentscheids des vergangenen
Jahres, an dem Herr Müller ganz entscheidend mitgewirkt hat, kann ich aus heutiger Sicht nur sagen - das ist
meine Überzeugung -: Wir sollten auf Ministerentscheide verzichten
({5})
und solche Eingriffe in das Marktgeschehen nicht länger
zulassen. Dafür gibt es das Bundeskartellamt, das ja seinen Aufsichtspflichten auch hervorragend gerecht wird.
Dort sollte man tätig werden. Das Instrument des Ministerentscheids ermöglicht, dass die Politik direkt auf
Marktentscheidungen einwirken kann. Ich bin davon
überzeugt, das es besser wäre, wenn man dies abschaffen
würde.
Zu einem weiteren Punkt: Denken Sie einmal zurück,
wofür sich Herr Müller als Minister eingesetzt hat! Er
hat auf EU-Ebene in Brüssel immer dafür gekämpft
- das hat Rainer Brüderle eben richtig gesagt -, dass die
Subventionen auch weiterhin gezahlt werden dürfen. Im
Gegenzug wurden - das war eine der Auswirkungen Frankreich und Italien Sonderregelungen bei der Mineralölsteuer zugestanden.
({6})
Darüber hinaus war Herr Müller verantwortlich für
weitere Subventionen. Ich erinnere nur an das Erneuerbare-Energien-Gesetz, mit dem er ein weiteres riesengroßes Subventionsfass aufgemacht hat. Diese Zusammenhänge muss man sehen.
({7})
Ich glaube nicht, dass er nun in der Lage sein wird, Subventionen abzubauen und sich auf neue Herausforderungen einzustellen, die ein zukunftsfähiges Wirtschaften
ermöglichen. Das hat direkte Auswirkungen auf die Politik, beeinflusst unseren Haushalt und wird uns zum
Nachteil gereichen. Herr Müller ist eben kein „Mann für
alle Fälle“, wie das neulich eine Zeitung getitelt hat. Jedenfalls ist er kein Mann für den Bergbau. Herr Müller
ist ein Mann mit Vergangenheit und verkörpert die Vergangenheit noch heute.
Ich glaube, dass der Tatbestand seiner Berufung für
die Politik insgesamt ein weiteres Maluszeichen ist. Ich
gebe Herrn Brüderle wie auch den Vorrednern von der
CDU/CSU-Fraktion völlig Recht: Wir alle nehmen so
Schaden. Ich kann deswegen an den Bundeskanzler, dem
nachgesagt wird, ein besonders gutes Verhältnis zu
Herrn Müller zu haben, nur appellieren, Herrn Müller zu
raten, davon abzusehen, diese Position für sich zu reklamieren. Dies würde Schaden vermeiden helfen. Ich kann
nur hoffen, dass es demnächst zu einem radikalen Subventionsabbau kommen wird.
({8})
Wir von der FDP-Fraktion legen schon seit langem zukunftsfähige Konzepte dazu vor und fahren in dieser
Frage einen stringenten Kurs.
Vielen Dank
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Per se ist ein Wechsel von der Politik in die Wirtschaft oder umgekehrt nicht schlecht. Mehr noch: Wir
brauchen in Deutschland dringend eine gegenseitige Befruchtung und einen Austausch zwischen Politik und
Wirtschaft. Wohin es führt, wenn der wirtschaftliche
Sachverstand in der Politik zu kurz kommt, sieht man
eindrucksvoll an dem Kurs der rot-grünen Bundesregierung: Mit einer Mischung aus Murks und Marx und dem
Herumdoktern an Symptomen, ohne eine klare wirtschaftspolitische Linie, führen Sie Deutschland nicht nur
außenpolitisch, sondern auch wirtschaftlich ins Abseits.
({0})
Wirtschaftspolitische Kompetenz, Erfahrung oder gar
Führungserfahrung? - Fehlanzeige auf der ganzen Linie!
Kompetenz - dieses Wort muss man in diesem Fall in
Anführungszeichen setzen - beschränkt sich bei Ihnen
auf die Beteiligung von Gewerkschaftsfunktionären.
Wirtschaftlicher Sachverstand und frisches Blut sind hier
überfällig.
Herr Müller verfügt ohne Zweifel über einen gewissen Erfahrungsschatz in Politik und Wirtschaft. Er kann
Kilowatt und Kilowattstunde unterscheiden, vielleicht
auch Bilanzen lesen und er weiß, wie Politik funktioniert. Das ist gut und das kritisiere ich nicht - im Gegenteil. Es hat aber doch ein sehr starkes Gschmäckle, wie
man es im Schwäbischen sagen würde, wenn jemand,
der die Rahmenbedingungen bis vor wenigen Monaten
wenn nicht gesetzt, so doch zumindest politisch zu verantworten hatte - Eon und der Zusammenhang mit der
Kohleförderung wurden genannt -, ein paar Monate später an die Spitze gerade des Unternehmens berufen wird,
das der größte Profiteur der gesamten Aktivitäten im Ministerium war.
({1})
Es mag sein, dass dies keine Rechtsfrage ist: zumindest aber moralisch wäre es dringend geboten, zu sagen,
dass man ein solches Amt nicht antritt. In jedem Unternehmen gibt es Konkurrenzausschlussklauseln, die so etwas verbieten. Wenn jemand in einem Unternehmen der
Energieversorgung als Vorstand tätig war, kann er nicht
ohne Weiteres ein halbes Jahr später in einem Konkurrenzunternehmen die gleiche Vorstandstätigkeit ausüben.
Das gebietet das Recht; vor allem aber gebietet dies auch
der moralische Anstand.
Neben diesem moralischen Aspekt stellt sich für die
Ruhrkohle Aktiengesellschaft allerdings auch die Frage,
ob Herr Müller der richtige Mann ist. Mit stetig wachsender Tendenz werden bereits heute zwei Drittel des
Umsatzes der RAG in den Geschäftsfeldern Chemie und
Immobilien erwirtschaftet. Nur ein Drittel des Umsatzes
wird im Geschäftsfeld Kohle und Bergbau im weiteren
Sinne erwirtschaftet. Hier stellt sich doch zu Recht die
Frage, ob der andere einschlägige Kandidat, der jetzt
schon für den größeren Geschäftsbereich verantwortlich
ist, nicht die bessere Wahl für die Ruhrkohle Aktiengesellschaft gewesen wäre.
({2})
Das muss das Unternehmen aber selbst entscheiden.
Auch der nächste Punkt sollte Sie interessieren; er
muss ausgeräumt und geklärt werden. Es liegt doch die
Vermutung nahe, dass dieser Deal von langer Hand ausgeheckt und vorbereitet wurde. Kann es nicht sein, dass
die SPD über ihre fünfte Kolonne - die Gewerkschaften und die Montanmitbestimmung hier ihre Finger im Spiel
hatte und jetzt ihr parteipolitisch motiviertes Süppchen
kochen will?
({3})
- Frau Kumpf, Sie gehören auch zu der Spezies, die außer ihrer Gewerkschaftserfahrung wenig in den Bundestag einzubringen hat.
Es ist doch auffällig, wie offensichtlich die Gewerkschaften den Herrn Müller hier auf den Thron gehoben
haben. Dies muss geklärt werden. Es ist Ihre und nicht
unsere Aufgabe, dies zu tun. Dem können Sie nicht ausweichen, indem Sie sich nicht an der Debatte beteiligen
und indem Sie versuchen, diesem Thema aus dem Weg
zu gehen.
({4})
Abschließend fordere ich die Bundesregierung auf
- Frau Kopp hat es bereits angesprochen -, schnellstmöglich ernsthafte Verhandlungen über den Anschluss
an den Kohlekompromiss über das Jahr 2005 hinaus zu
führen und diesem Haus endlich einmal Vorschläge zu
unterbreiten.
({5})
Die Beschäftigten der RAG haben Anspruch auf Planungssicherheit - nicht nur Herr Müller, der diese in Form
eines Fünfjahresvertrages als Vorstandsvorsitzender erhält. Die Kumpels, die in diesem Bereich beschäftigt sind,
haben Anspruch auf eine verlässliche Perspektive. Sie
müssen wissen, wie es angesichts der Degression mit ihrem Arbeitsplatz weitergeht.
Sie sind gefordert, hier endlich Vorschläge zu machen; dem können Sie nicht mehr ausweichen. Sie müssen sich an dieser Diskussion und Debatte beteiligen.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Michelbach von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt keinen Zweifel: Die Berufung des früheren
Wirtschaftsministers Werner Müller zum neuen Vorstandschef des Chemie- und Bergbaukonzerns RAG ist
ein schlimmer Bärendienst für die gesamte deutsche
Wirtschaft
({0})
und zeugt von Unsensibilität. Das Verflechtungskartell,
das zu dieser Berufung beigetragen hat, muss aufgelöst
werden. Personeller Austausch von Wirtschaft und Politik? - Ja, aber keine undurchsichtige Kungelei. Wir müssen daran interessiert sein, dass diejenigen aus dem Unternehmertum, aus dem Mittelstand, die sich politisch
engagieren, ihre Aktivitäten so durchsichtig gestalten,
wie wir das mit der Veröffentlichung im Bundestagshandbuch machen. Ein Deckmantel an Verflechtungen,
wie er bei Herrn Werner Müller zu beobachten ist, kann
dagegen nicht gutgeheißen werden.
Diese heutige Debatte
({1})
ist wichtig und notwendig. Wir brauchen Sauberkeit in
der Wirtschaft und in der Politik.
({2})
Darauf haben unsere Bürger Anspruch. Dies darf nicht
einfach abgetan werden; denn der Bürger und die mittelständischen Betriebe zahlen sonst die Zeche.
({3})
Die unternehmerische Ethik - Vorbild für die soziale
Marktwirtschaft - wird durch solche Vorgänge schwerwiegend beschädigt.
({4})
Natürlich ist es in Ordnung, wenn sich jemand aus der
Politik ehrenamtlich engagiert. Das Engagement muss
nur bekannt gemacht werden.
({5})
Ganz anders aber war es bei diesem Verflechtungskartell. Als Mittelständler bin ich über diese unsaubere Postenschieberei zutiefst betroffen. Dem Unternehmertum
wird nachhaltiger Schaden zugefügt. Alle Kräfte dieses
Hauses sollten daran interessiert sein, dass diese Sachen
aufgedeckt, beim Namen genannt und rückgängig gemacht werden. Deshalb bin ich für die heutige Gelegenheit ausgesprochen dankbar.
Anlass, kritische Fragen zu stellen, gibt es genug: Hat
Herr Müller seinen neuen Chefsessel durch eine Schmierenkomödie erreicht? Ist es inzwischen so weit gekommen, dass in Deutschland Mitglieder der Bundesregierung käuflich sind? Hat sich Herr Müller einen
wohldotierten Arbeitsplatz in der Energieindustrie schon
zu seiner Zeit als Bundeswirtschaftsminister durch Willfährigkeit gesichert?
({6})
Ist Müllers neue Position ein Dankeschön aus der Energiebranche an den ehemaligen Bundeswirtschaftsminister, weil er ihnen seinerzeit gefällig war?
({7})
- Herr Schmidt, Sie fordern Beweise. Solche Fragen
werden doch noch erlaubt sein. Darauf erwarten wir
Antworten.
({8})
Wenn Sie es ehrlich meinen, dann schlage ich Ihnen vor,
diese Fragen dem Bundeskanzleramt zu stellen. Die Ministererlaubnis, die von Bundeswirtschaftsminister
Müller erteilt wurde, stinkt geradezu zum Himmel.
Diese Sache, die wie geschaffen ist für ein Drehbuch
zum Thema Genossenfilz und Gewerkschaftskungelei in
einer Konzernwirtschaft, muss geklärt werden. Sonst erhält unser Land den Geschmack einer Bananenrepublik.
Das können wir nicht dulden, daran können wir kein Interesse haben.
({9})
Ich kann deutlich sagen: Bundeskanzler Schröder und
Bundeswirtschaftsminister Clement tragen daran eine
klare Mitschuld. Sie haben dieses Verflechtungskartell
gutgeheißen und unterstützt. Die Paten hierfür sitzen im
Bundeskanzleramt. Das zeigt das wahre Gesicht dieser
Regierung. Die Reaktion der SPD zeigt, dass Sie betroffen sind und zunächst einmal keine Klärung wollen. Das
habe ich auch früher schon festgestellt, als der Bundeskanzler bei der 60-Millionen-Abfindung von Herrn Esser
von Mannesmann kein kritisches Wort hervorgebracht
hat.
Wir müssen deutlich machen, dass die insbesondere
im Bundeswirtschaftsministerium beschlossenen Beihilfen und zukünftigen Subventionen zulasten der Steuerzahler, zulasten der Haushaltskonsolidierung und zulasten der Zukunftsfinanzierung unseres Landes gehen.
Deswegen ist dies ein wichtiger Anlass, darüber zu reden, ob hier ein Verstoß gegen solche Regelungen vorliegt.
({10})
Die Bundesregierung ist gut beraten, ein beamtenrechtliches Verfahren gegen Herrn Müller anzustrengen. Das
kann man und das muss man verlangen, um Sauberkeit
und Durchsichtigkeit in dieser Frage herzustellen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rolf Bietmann von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Vor wenigen Wochen verkündete ausgerechnet die IG Bergbau-Chemie-Energie als erste die Nachricht, man habe mit dem ehemaligen Bundeswirtschaftsminister einen geeigneten Vorstandsvorsitzenden
gefunden. Die erstaunte Öffentlichkeit musste zur
Kenntnis nehmen, dass in einem der größten deutschen
Unternehmen nicht die Eigentümerseite, sondern die Gewerkschaften den Vorstandsvorsitzenden proklamieren.
Wirft aber der geneigte Betrachter einen genaueren
Blick auf die Eigentümerseite, dann schlägt bei Kenntnis
wirtschaftlicher Zusammenhänge sein Erstaunen in fragendes Entsetzen um; denn mit RWE und Eon hat die
RAG genau die Eigentümer, die in den zurückliegenden
Jahren den größten energiewirtschaftlichen Milliardendeal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
verabredet haben. Dieser Milliardendeal war von der Zustimmung eben des Ministeriums abhängig, dessen Minister heute an die Spitze des durch die Zustimmung neu
gestalteten RAG-Konzerns rückt.
Es ist unbestreitbar völlig unvertretbar, dass ein ehemaliger Bundeswirtschaftsminister die Führung eines
Konzerns übernimmt, der in der jetzigen Struktur mit
seiner neuen Tochter Degussa nur deshalb zustande gekommen ist, weil im Interesse der heutigen Eigentümer
des Unternehmens eine Ministererlaubnis erteilt wurde,
die alle Bedenken der Kartellbehörde und der Verbraucherverbände hinsichtlich einer Monopolbildung im Energiemarkt in den Wind geschlagen hat.
({0})
- Das ist ein politisch skandalöser Fall, Frau Hustedt.
Die Politik - das sage ich an die Grünen gerichtet nimmt schweren Schaden, wenn in den deutschen Medien der Eindruck kommentiert wird, die Amtshandlung
der Erteilung der Ministererlaubnis könnte in einem Zusammenhang mit der Berufung des Ministers zum Vorstandsvorsitzenden des von der Entscheidung betroffenen Konzerns stehen. Dieser Vorgang wird das Vertrauen
in die Politik, insbesondere aber das Vertrauen in die rotgrüne Bundesregierung, weiter schwer erschüttern.
Lassen Sie mich noch etwas ausführen. Der Kollege
Schauerte hat auf die im Beamtenrecht vorgesehene Regelung hingewiesen, dass innerhalb von fünf Jahren
nach dem Ausscheiden aus dem Beamtenverhältnis
keine Tätigkeiten aufgenommen werden dürfen, die
möglicherweise zu Interessenkollisionen führen. Für
Minister gilt zwar das Ministergesetz, das keine entsprechende Regelung beinhaltet. Aber eigentlich müssten
gerade für die Spitzenstaatsdiener solche Interessenkollisionen ausgeschlossen werden. Was für den einfachen deutschen Beamten gilt, muss erst recht für die
Minister gelten.
({1})
Wenn man sich dann gut meinend fragt, ob es einen
zwingenden sachlichen Grund für die Berufung von
Herrn Müller gibt, dann stößt man auf die Begründung,
er sei ein ausgewiesener Energieexperte. Diese Begründung ist aber absolut untauglich;
({2})
denn ein Blick auf die Ausrichtung der RAG zeigt, dass
75 Prozent des Umsatzes der neu gestalteten RAG nichts
mehr mit Energie zu tun haben, weil der Schwerpunkt
dieses Konzerns auf der Chemie und - man höre und
staune - auf Immobilien liegt. Mir ist aber von den Qualitäten des Herrn Müller im Immobiliensektor oder in der
Chemie wahrhaft nichts bekannt.
Einzig richtig an dem Erklärungsversuch ist die Tatsache, dass Herr Müller - damit kommen wir zur Politik aus Treue gegenüber der ihn berufenden Gewerkschaft
und sicherlich auch der nordrhein-westfälischen SPD alles daransetzen wird, den defizitären Bereich der Steinkohle über das Jahr 2005 hinaus durch milliardenschwere Subventionen zulasten der Steuerzahler
künstlich am Leben zu halten. Diese Subventionspolitik
ist gesamtwirtschaftlich nicht vertretbar und schädigt
den Standort Deutschland dauerhaft.
({3})
Aber so zynisch es auch klingen mag: Hier schließt
sich wieder der Kreis. Denn letztlich zahlt der Steuerzahler den Preis für einen politisch gewollten gigantischen
Wirtschafts- und wohl auch Personaldeal.
CDU und CSU - da können Sie noch so viel kritisieren - fordern die Bundesregierung auf, diesen Vorgang
wirklich schonungslos offen zu legen und dem Deutschen Bundestag Auskunft über erkennbare Interessenkollisionen eines früheren Mitglieds der rot-grünen Bundesregierung zu geben. Verweigern Sie sich dem, haben
Sie jeden Anspruch auf moralisch bewertende Kritik in
der Politik verloren. So wie im Fall Müller, meine Damen und Herren, geht es in Deutschland wahrhaft nicht.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Kurt-Dieter Grill von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das
Schweigen der Sozialdemokraten sagt mehr, als wenn
hier fünf Verteidigungsreden gehalten worden wären. Sie
haben in dieser Auseinandersetzung offensichtlich
schlechte Karten.
({0})
Sehen Sie sich an, was die Kollegin Hustedt und der
Kollege Schmidt hier vorgetragen haben: Man zeigt mit
Empörung auf einen Fall, den man für besonders
schlimm hält, und rechtfertigt damit das eigene Verhalten. Das ist der Vorgang, der hier heute stattgefunden
hat. Darf ich also davon ausgehen, dass Frau Hustedt
und auch Herr Schmidt der Meinung sind, weil es den
Fall Bangemann gibt, den sie als so schlimm bezeichnet
haben, dürfe man sich gleichermaßen wie die FDP verhalten?
({1})
Frau Hustedt, ich rate Ihnen dringend, das, was Sie hier
zur WMP vorgetragen haben, sofort wieder zu vergessen. Denn der Medienberater der Länder Brandenburg
und Berlin, Mitarbeiter von WMP, ist jemand, der auf
Kosten des Berliner Senats und der Berliner Bürger
großzügige PR für Berlin und Brandenburg macht. Wenn
Sie schon solche Gesellschaften nennen, dann sollten Sie
auch nicht vergessen, dass einer Ihrer schönen Abende
zum EEG von einer Rechtsanwaltskanzlei gesponsert
worden ist.
({2})
Ich finde außerdem, dass wir über die Fusion von Eon
und Ruhrgas in diesem Zusammenhang gar nicht unbedingt reden sollten; das ist bei der Sache mit Herrn
Müller jetzt gar nicht so sehr die Frage. Wir reden dann
nämlich über den falschen Verursacher des Ganzen.
Lange bevor der Antrag beim Bundeswirtschaftsminister
und beim Bundeskartellamt eingegangen war, hat der
Bundeskanzler auf einer Betriebsräteversammlung im
Oktober 2001 öffentlich gesagt, er sei für eine Fusion
von Eon und Ruhrgas. Die Begründung, die man dafür
nennen kann, ist durchaus diskutabel. Sie ist unabhängig
von der Diskussion über die Märkte im innerdeutschen
Bereich, die Hartmut Schauerte und Hans Michelbach
hier vorgetragen haben. Der Punkt ist: Diesen Fall hat
nicht irgendeine anonyme SPD zu verantworten; die Sache hat einen Namen und der heißt Gerhard Schröder.
Werner Müller ist ein Protegé des Bundeskanzlers.
({3})
Man könnte sich noch darüber unterhalten, ob Werner
Müller an dieser Stelle richtig ist, wenn er eine Erfolgsbilanz als Manager und Politiker vorzulegen hätte.
({4})
Aber Herr Müller ist - das ist das Erste - Anfang der
90er-Jahre aus dem Vorstand der VKA mit einer Millionenabfindung entlassen worden, weil die Veba keinen
Bedarf mehr für einen Manager von der Qualität des
Herrn Müller hatte.
({5})
Das Zweite ist, dass sich Herr Müller, wie die Zeitungen hier und da berichteten, selber als Nachfolger von
Herrn Harig, von Herrn Goll und anderen ins Gespräch
hat bringen lassen.
Und schließlich - das ist das Dritte - sollte man sich
einmal die Erfolgsbilanz von Werner Müller in seinem
Amt ansehen: Die 4,6 Millionen Arbeitslosen sind die
Folge nicht irgendeiner Wirtschaftspolitik in diesem
Lande, sondern sind die Folge seiner Wirtschaftspolitik.
({6})
Wo sind denn, so könnte man noch fragen - ich habe das
in diesem Hause oft genug getan -, die Konzepte seiner
Energiepolitik? Fragmente hat er vorgelegt und für das,
was er draußen vertreten hat, hat er in diesem Hause
keine Mehrheit auf dieser Seite des Hauses gehabt. Rot
und Grün haben die energiepolitischen Ansichten dieses
Mannes nie mitgetragen.
({7})
Wo also ist der Erfolg des Wirtschaftsministers Müller,
der ihn berechtigen würde, in eine leitende Funktion einzutreten?
Ein Letztes - es ist ja schon eine Reihe von Argumenten dazu vorgetragen worden -: Es gibt die gute Regel,
wonach ehemalige Minister nicht in den Ausschuss gehen sollten, für den sie als Minister sozusagen zuständig
waren, um die Beamten, die ehemaligen Mitarbeiter,
nicht in Verlegenheit zu bringen. Jetzt geht ein Mann an
die Spitze eines Konzerns, der auch mit Beamten verhandeln muss, die vorher im Ministerium seine Untergebenen waren. Wie sollen so objektive und faire Verhandlungen zustande kommen? Hier werden doch Menschen
durch Personalauswahl unter Druck gesetzt.
Ich möchte gar nicht herumstänkern, sondern lediglich
feststellen: Das Ergebnis des hier zur Diskussion stehenden Deals ist, dass der RAG und damit auch der deutschen Steinkohle - die hier vertretenen Anliegen sind
durchaus berechtigt - und den Kumpels der schlechteste
aller Männer an die Spitze gesetzt worden ist. Man kann
nur sagen: Schade, dass es so weit kommen konnte.
({8})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Berufe in der Krankenpflege sowie
zur Änderung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes
- Drucksache 15/13 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({1})
- Drucksache 15/804 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Brüning
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin spricht
für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach politischem Streit in der Aktuellen Stunde kommen wir nunmehr zur abschließenden Beratung über einen Gesetzentwurf, der im federführenden Ausschuss im
Konsens verabschiedet wurde. Das zeigt, dass wir angesichts der neuen Herausforderungen der Pflegeberufe
imstande sind, zwei Schritte gemeinsam zu gehen: erstens die Pflegeberufe zu modernisieren und ihnen eine
Zukunftsperspektive zu geben sowie zweitens durch moderne Finanzierungsinstrumente dafür zu sorgen, dass
künftig die Einrichtungen, die nicht ausbilden, finanziell
nicht mehr besser gestellt sind als diejenigen, die ausbilden.
({0})
Ich möchte mich zuallererst bei den Kolleginnen und
Kollegen der Koalitionsfraktionen und der Opposition
für die konstruktive und gute Beratung bedanken. Wir
haben auch im Dialog mit den Pflegeverbänden einiges
an Verbesserungen auf den Weg gebracht. Ich möchte
mich bedanken für die große Geduld, die die Kolleginnen und Kollegen bei den zahllosen Fachgesprächen hatten. Es ist ein guter Tag, wenn wir heute in zweiter und
dritter Lesung über den vorliegenden Gesetzentwurf abschließend beraten und ihn verabschieden.
({1})
Das Gesetz wird nach 17 Jahren Stillstand in der
Krankenpflegeausbildung von vielen, die in der Pflege
aktiv sind und die sich mit der Situation in der Pflege
auseinander setzen, für dringend erforderlich gehalten.
Es ist auch deutlich geworden, dass es in dieser Zeit Entwicklungen in den Pflegewissenschaften gegeben hat.
Diese sind wie der Aspekt der Eigenständigkeit der
Pflege in das Gesetzgebungsverfahren eingeflossen.
Mit der Novellierung der Krankenpflegeausbildung
wollen wir langfristig Bedingungen dafür schaffen, dass
erstens auch in Zukunft eine qualitativ hochwertige pflegerische Versorgung unter veränderten Rahmenbedingungen sichergestellt ist. Wir wollen zweitens, dass der Pflegeberuf für junge Menschen attraktiver wird und dadurch
einem allgemeinen Fachkräftemangel vorgebeugt wird. Es
herrscht schon heute in einigen Gebieten ein großer Fachkräftemangel. Dies hängt auch damit zusammen, dass dieser Beruf gesellschaftlich nicht ausreichend gewürdigt
und nicht für attraktiv gehalten wird. Mit der neuen anspruchsvollen Ausbildung, die wir nun festlegen, sind wir
auf dem richtigen Weg. Wir wollen drittens ein erweitertes
Verständnis der Pflege in der Ausbildung schaffen. Auch
diesem Belang wird der Gesetzentwurf gerecht.
Die Anhörung im Februar dieses Jahres hat gezeigt,
dass alle Sachverständigen die Novellierung der Krankenpflegeausbildung für dringend notwendig erachten.
Wir waren uns nach dieser Anhörung sowohl im Ministerium als auch im Fachausschuss über die wesentlichen Inhalte des Gesetzes einig:
Erstens. Es bleibt bei zwei Berufsbildern für die
Kranken- und Kinderkrankenpflege. Allerdings enthält
die Ausbildung künftig weitgehend gemeinsame Ausbildungsanteile. Den besonderen Erfordernissen einer kindgerechten Versorgung tragen wir durch die Spezialisierung in der zweiten Phase Rechnung.
Zweitens. Die neuen Berufsbezeichnungen „Gesundheits- und Krankenpfleger/in“ sowie „Gesundheits- und
Kinderkrankenpfleger/in“ unterstreichen bereits sprachlich den erweiterten Ansatz in der Krankenpflege.
Drittens. Die Ausbildungsziele werden den neuen Anforderungen angepasst. Dabei wird der eigenständige
Aufgabenbereich der Pflege hervorgehoben. Es wird
klargestellt, dass die Pflege nicht auf den kurativen Aspekt beschränkt ist. Krankenpflege beinhaltet fortan
auch präventive, rehabilitative und palliative Maßnahmen. Krankenpflege unterliegt so einem umfassenden
Ansatz. Es handelt sich um eine qualitativ hochwertige,
anspruchsvolle Ausbildung, die in aller Regel von sehr
engagierten Menschen gewählt wird. Dem wollen wir
durch die Ausbildungsneuordnung mehr Raum geben.
({2})
Viertens. Die praktische Ausbildung findet nicht mehr
nur in Krankenhäusern, sondern auch in geeigneten ambulanten oder stationären Pflege- oder Rehaeinrichtungen
statt. Auch dies ist wichtig, denn gerade die ambulanten
Einrichtungen sollen sich in Zukunft mehr entfalten können. Deswegen sollen sie auch für die Ausbildung zur
Verfügung stehen.
Die schulische und praktische Ausbildung steht
fortan unter der Gesamtverantwortung der Schulen. Zudem gibt es verbindliche Regelungen zur Unterstützung
der praktischen Ausbildung durch Praxisbegleitung der
Schulen und Praxisanleitung in den Einrichtungen. Auf
diesem Wege stellen wir eine sinnvolle Verbindung von
Theorie und Praxis sicher, denn heute gehört beides zu
einer guten Ausbildung.
Ein wichtiger Punkt der Ausschussberatung waren die
Mehrkosten, die den Krankenhäusern durch die verbesserte Ausbildung entstehen. Es bestand Einigkeit darüber, dass die Finanzierung dieser Mehrkosten durch die
gesetzliche Krankenversicherung auf Dauer gewährleistet sein müsse. Nur so können wir die Ausbildungsbereitschaft der Krankenhäuser erhalten. Sie mit Mehrkosten zu belasten wäre gerade in einer Situation, in der wir
darum werben müssen, dass mehr ausgebildet wird, kontraproduktiv.
({3})
In den Ausschussberatungen wurden entsprechende Änderungen des Gesetzentwurfes vorgeschlagen, die dies
sicherstellen. Ich appelliere daher an dieser Stelle an die
Krankenhäuser und deren Ausbildungsbereitschaft: Stellen Sie ein bedarfsgerechtes Ausbildungsangebot sicher.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam sehr wachsam sein, denn gerade im Moment erleben wir - dies wird uns auch aus der Praxis berichtet -,
dass Ausbildungskapazitäten teilweise verringert werden. Wir sollten uns gemeinsam dafür stark machen, dass
die Kapazitäten ausgeweitet werden. Durch die gemeinsamen Finanzierungspools und die Überleitungsvorschriften müssen wir jetzt die klare Botschaft vermitteln,
dass es unser Wunsch ist, dass in Zukunft mehr und qualitativ hochwertig ausgebildet wird.
({4})
Die Erfahrungen mit der integrierten Ausbildung, wie
wir sie heute beschließen, könnten gemeinsam mit der
neuen bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung und
den zur Erprobung generalistischer Ausbildungen vorhandenen Modellklauseln auch die Grundlage dafür sein,
zu einem späteren Zeitpunkt verantwortlich über die
weitere Entwicklung der Pflegeberufe zu entscheiden.
Wir sind uns einig, dass es dringend notwendig ist,
die Ausbildung der Pflegekräfte zu modernisieren. Wir
haben beim Thema Ausbildungsnovellierung einen breiten Konsens erreicht. Es hat sich ausgezahlt, dass der
Gesetzentwurf in enger Abstimmung mit Verbänden und
mit den Bundesländern erarbeitet wurde. Wir schaffen in
einem wichtigen Bereich einen modernen Ausbildungsrahmen und auch eine vernünftige Finanzierung für die
Zukunft. Lassen Sie uns gemeinsam dafür werben, dass
die Fachkräfte, die in der Pflege eine gute Arbeit leisten,
auch in Zukunft eine Chance haben.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Brüning von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Das Gesetz über die Berufe
in der Krankenpflege, das wir heute in abschließender
Lesung beraten, ist angesichts der steigenden Lebenserwartung der Bevölkerung und der veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von zentraler Bedeutung. Die Pflege kranker und schwacher Menschen ist
elementarer Bestandteil jeder sozialen Gesellschaft. Das
berufliche Pflegen ist somit nicht nur ein Beruf, sondern
auch ein gesellschaftlicher Auftrag. Dieser Auftrag ergibt sich aus der Verpflichtung zur Fürsorge für Hilfsbedürftige und ist Ausfluss des im Grundgesetz verankerten Sozialstaatsprinzips.
Die Krankenpflege blickt auf eine lange Tradition
zurück. Schon im alten Griechenland gab es Heilpläne,
die Elemente der heutigen Krankenpflege enthielten.
Eine ganz besondere Bedeutung für die Entwicklung der
abendländischen Pflege und insbesondere der Krankenpflege hat das mit der Entstehung des Christentums verbundene Ideal der Nächstenliebe. Dieser Nächstenliebe
entsprang die praktische Karitas, der Dienst am Menschen, eine wichtige Grundlage der Krankenpflege, die
heute aufgrund von Finanzmangel leider häufig vernachlässigt wird.
Die organisierte Krankenpflege in Krankenhäusern
hat ihren Ursprung im frühen Mittelalter. Bereits vor
über 500 Jahren, im Jahre 1452, entstand die erste deutsche Hebammenordnung zur Festschreibung einer Ausbildung im Kranken- und Pflegebereich. Im Jahre 1782
wurde in Deutschland die erste Krankenpflegeschule,
damals Krankenwärterschule genannt, gegründet. Zunächst bildete sie nur Männer aus. Ab 1801 existierte
eine weitere Schule für Frauen. Damals herrschte ein
großer Mangel an ausgebildetem Pflegepersonal; denn
immer mehr Menschen ließen sich im Krankenhaus behandeln.
Auch heute konstatieren wir in Deutschland einen
Mangel im Pflegebereich, der angesichts von drohenden
Nullrunden, die mittlerweile Gott sei Dank zurückgenommen wurden, hoffentlich bald etwas abgeschwächt
wird.
({0})
In Deutschland benötigt ein stetig steigender Bevölkerungsanteil professionelle Pflege. Ende 1999 waren über
2 Millionen Menschen im Sinne des Krankenpflegegesetzes pflegebedürftig. Davon wurde knapp die Hälfte
- immerhin über 1 Million Menschen - von Fachkräften
der Krankenpflege versorgt.
Der Bedarf an qualifizierten Pflegekräften wird in
den kommenden Jahren stark ansteigen. Für 2020 prognostiziert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
einen Anstieg der Zahl pflegebedürftiger Menschen auf
3,3 Millionen und für 2050 auf sogar 4,7 Millionen. Das
bedeutet, dass in knapp 15 Jahren ein Anteil an der Bevölkerung pflegebedürftig sein wird, der etwa der Bevölkerung der Stadt Berlin entspricht.
Die hohe Personalfluktuation und die vielfach mangelnde Attraktivität der Krankenpflege tun ein Übriges,
dass sich die Schere zwischen dem Bedarf an Pflegepersonal und dem Bestand an vorhandenem qualifizierten
Personal weiter öffnet.
Die Verweildauer der ausgebildeten Pflegekräfte im
Beruf ist kurz. Bei der Alterszusammensetzung der berufstätigen Pflegekräfte ist auffällig, dass ab dem mittleren Lebensalter von etwa 30 bis 40 Jahren nur wenige
anzutreffen sind. Grund dafür sind eine hohe Drop-outRate in den Pflegeberufen und die nach dem Berufseintritt immer früher auftauchenden Burn-out-Syndrome.
Diese Fluktuation führt unter anderem dazu, dass die
durch Erfahrung erworbene Kompetenz für den Beruf
verloren geht.
Maßnahmen, die den Verbleib im Beruf fördern, sind
auch aus ökonomischer Sicht zu unterstützen; denn eine
dreijährige Ausbildung kostet insgesamt circa 50 000
Euro pro Person. Daher muss dringend über geeignete
Maßnahmen nachgedacht werden, um die Bereitschaft,
im Beruf zu verbleiben oder in ihn zurückzukehren, zu
erhöhen. Die entsprechenden Maßnahmen sollten insbesondere die Vereinbarkeit von Beruf und Familie im
Blick haben.
({1})
Außerdem muss ein höherer Anteil junger Menschen
für den Pflegeberuf geworben werden. Nur so kann der
wachsende Bedarf an Pflegekräften gedeckt werden. Das
wird jedoch nur möglich sein, wenn die Attraktivität des
Berufsbildes erhöht wird.
Das Krankenpflegegesetz von 1985 ist nicht mehr geeignet, diese gravierenden Probleme zu lösen. Es entspricht nicht mehr den Erfordernissen, die der demographische Wandel an die Krankenpflege stellt. Auch das
Aufgabenspektrum im Pflegebereich hat deutlich zugenommen. Schließlich haben sich die medizinischen und
technischen Möglichkeiten weiterentwickelt.
Das mittlerweile 18 Jahre alte Gesetz soll nun endgültig den neueren Anforderungen angepasst werden. Insbesondere die Finanzierung der Ausbildung neuer Fachkräfte stellt ein Problem dar. Der Faktor Ausbildung ist
in den vergangenen Jahren mehr und mehr zum Wettbewerbsnachteil der ausbildenden Krankenhäuser geworden.
({2})
Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt daher die Einführung der Fondsfinanzierung.
Die Ausbildungsstätten befinden sich überwiegend in
der Trägerschaft von Krankenhäusern. Die Finanzierung
einer Krankenpflegeschule erfolgte bisher anteilig aus
dem Budget des jeweiligen Krankenhauses. Nach der
neuen Regelung erhalten die ausbildenden Schulen nunMonika Brüning
mehr gesonderte Zahlungen aus dem so genannten Ausgleichsfonds, an dem sich alle Häuser beteiligen müssen.
Wir begrüßen sehr, dass auf unseren Hinweis hin auch
die Finanzierung der Ausbildung in den Krankenhäusern
für die Zeit bis 2005 gesichert wurde. Dies geschieht
durch die gleichzeitige Änderung der Bundespflegesatzverordnung und des Krankenhausentgeltgesetzes. Ohne
diese Änderungen wären die Folgen dramatisch gewesen. In den Jahren 2003 und 2004 wären mit hoher
Wahrscheinlichkeit weniger neue Ausbildungsplätze bereitgestellt worden.
Eine große Errungenschaft in unserem Sozialstaat ist
die Möglichkeit, sich als Pflegebedürftiger in den gewohnten vier Wänden pflegen zu lassen. Wie Sie alle
wissen, wird diese Möglichkeit vermehrt in Anspruch
genommen. Daher ist es richtig und wichtig, dass die
Ausbildung teilweise auch im ambulanten Bereich
stattfindet. Einen wesentlichen Punkt in diesem Zusammenhang hat die rot-grüne Mehrheit aber nicht aufgegriffen: die Einbeziehung ambulanter Dienste in die Finanzierung der Krankenpflegeausbildung.
({3})
Wo bleibt die Beteiligung derjenigen an den Kosten der
Ausbildung, die vom Einsatz der Krankenpflegeschülerinnen und -schüler in ihren Einrichtungen direkt profitieren? Ich habe auf diesen Punkt bereits in der ersten
Lesung im Dezember 2002 und in den Ausschusssitzungen hingewiesen. Leider ist insoweit kein Fortschritt zu
erkennen.
Das geltende Gesetz über die Krankenpflegeausbildung ist seit knapp 18 Jahren in Kraft. Die verstrichene
Zeit hat viele Veränderungen mit sich gebracht. Ich
bitte Sie alle daher, mit weiteren Anpassungen dieses
Gesetzes an die Realitäten im Krankenpflegebereich
nicht noch einmal 18 Jahre zu warten; denn die Krankenpflege unterliegt einem ständigen Wandel. Die nächsten
Herausforderungen stehen schon vor der Tür. Es ist insbesondere erforderlich, eine bedarfsgerechte Steuerung
in den Berufen sicherzustellen und damit eine gute und
dem aktuellen medizinischen Stand entsprechende Betreuung der Kranken und Pflegebedürftigen zu gewährleisten. Diese Steuerung muss zeitnah geschehen.
So sollten beispielsweise die operativen technischen
Assistenten möglichst bald eine staatlich anerkannte Berufsbezeichnung erhalten und sollte die entsprechende
Ausbildung gesetzlich geregelt werden.
({4})
Aufgrund der sich ständig erweiternden pflegerischen
und medizinischen Erkenntnisse ist auch über eine stärkere wissenschaftliche Ausrichtung der Pflegeberufe
nachzudenken. Die Pflegeausbildungen können nicht
noch weitere Jahrzehnte außerhalb des öffentlichen
Schul- und Hochschulwesens oder ohne klare Anbindung daran fortgeführt werden. Darüber hinaus sind
auch die Pflegeberufe in größere gesellschaftliche Zusammenhänge zu stellen.
Bei aller Beschäftigung mit finanziellen Aspekten der
Ausbildung der Pflegekräfte dürfen aber die Belange der
Pflegebedürftigen nicht aus dem Blick geraten. Lassen
Sie mich daher noch auf einen weiteren Aspekt der Pflegeausbildung zu sprechen kommen, der zunehmend an
Bedeutung gewinnt: die transkulturelle Pflege. Die
Ausbildung der Pflegekräfte berücksichtigt den kulturellen Einfluss auf die Pflegebeziehung und die Genesung
nur in geringem Umfang.
In Deutschland leben zurzeit 7,3 Millionen Menschen
ausländischer Abstammung. Die Tendenz ist steigend.
Auch sie werden krank und müssen gepflegt werden.
Eine angemessene Pflege muss den kulturellen Hintergrund des Patienten berücksichtigen. Krankenschwestern und Krankenpfleger müssen sich vermehrt in andere
Kulturen hineindenken. Aus eigener Erfahrung weiß ich,
wie viel unterschiedliche Kulturen heutzutage allein
beim Personal eines Krankenhauses vertreten sein können. In dem mir bekannten Krankenhaus handelt es sich
immerhin um Menschen aus 22 verschiedenen Nationen,
die sich im Arbeitsprozess 24 Stunden lang um die Bedürfnisse von durchschnittlich 400 Patienten kümmern.
Diese kulturelle Vielfalt stellt eine enorme Bereicherung für die Betreuung der Patienten dar. Sie verbessert
die sprachliche Verständigung mit den Patienten. Darüber hinaus vereinfacht sie Anamnese und Kontrolle der
Behandlungserfolge. Wir müssen uns sehr bald sehr
ernsthaft Gedanken über kulturvergleichendes Denken
machen. Methodisch muss dies auch in der Grund-, Fortund Weiterbildung gelehrt und dann genutzt werden.
Schwierigkeiten bestehen allgemein darin, dass ein
Mensch umso stärker vom Pflegepersonal abhängig
wird, je höher sein Pflegebedarf ist. Seine persönliche
Integrität und Intimsphäre könnten erheblich gefährdet
werden, wenn persönliche Grenzen nicht respektiert und
Nähe und Distanz einseitig von den Pflegenden her bestimmt werden. Es gilt, die Würde des Patienten zu achten und zu wahren. Daher müssen die Pflegekräfte zukünftig noch mehr zur Interaktion und Kommunikation
befähigt werden, um der Individualität des Patienten angemessen begegnen zu können.
Ich möchte mit einem Zitat von James Allen schließen:
Die Zukunft beginnt heute. Leben heißt denken und
handeln. Denken und handeln aber heißt verändern.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Selg von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben hier heute über einen Gesetzentwurf
zur Änderung der Krankenpflegeausbildung zu entscheiden. Das betrifft mich ganz persönlich, die ich den Beruf
seit 24 Jahren ausübe, und mit mir viele Kolleginnen und
Kollegen draußen. Wir alle hoffen nämlich, dass es in
Zukunft mehr Kollegen werden, wenn wir die Attraktivität dieses Berufes steigern. Ich habe 17 Jahre darauf gewartet, dass ein solches Gesetz kommt. Ich bin sehr
dankbar und froh darüber, dass es jetzt endlich so weit
ist.
In einer Fachzeitschrift stand, dass mehr als 40 000 Stellen im Pflegebereich aus verschiedenen Gründen nicht
besetzt werden können. Das sind alarmierende Zahlen.
Der zitierte Artikel zeigt dabei auf, dass es vielfältige
Ursachen für einen zunehmenden Personalmangel gibt,
und macht deutlich, dass eine Verbesserung der Situation
in der Krankenpflege eigentlich nur über eine Steigerung
des Ansehens der Pflegeberufe zu erreichen ist. Dazu
muss man aber bei der Ausbildung ansetzen. Genau das
tun wir heute mit diesem Gesetzentwurf.
({0})
Fraktionsübergreifend bestand große Einigkeit, was ja
leider hier nur zu selten vorkommt.
({1})
- Natürlich gibt es ab und zu auch andere Gesetze; das
weiß auch ich. - Die Anhörung zu diesem Gesetzentwurf hat gezeigt, dass es dringenden Handlungsbedarf
gibt.
Auf die Finanzierung und andere Dinge, bei denen
dieses Gesetz ganz klar Lücken offen lässt, möchte ich
jetzt gar nicht näher eingehen. Aber, liebe Frau Brüning,
auch Sie wissen, dass viele dieser Dinge eigentlich in die
Kompetenz der Länder fallen. So hoffe ich, dass wir
auch in diesem Punkte weiter vorankommen.
({2})
Wir legen dafür hier den Grundstein, die Gespräche
müssen dann aber weitergehen.
Pflegen kann jeder - das hört man leider immer noch
allzu oft in unserer Gesellschaft. Dagegen käme wohl
keiner auf die Idee, zu sagen, Haare schneiden oder ein
Auto reparieren könne jeder. Dabei reduziert sich das
Verständnis des Wortes „Pflege“ in der Gesellschaft leider häufig immer noch nur auf Pflege im letzten Abschnitt des Lebens, nämlich die Altenpflege. Ich glaube
deshalb, dass wir dringend einen Bewusstseinswandel
bezüglich des Wortes „Pflege“ herbeiführen müssen,
denn dabei geht es um mehr als nur um zielbestimmte
Erhaltung körperlicher Funktionen. Pflege umfasst viele
psychische und soziale Elemente und sollte deshalb
ganzheitlich als ein Beruf verstanden werden, der sich
um Menschen in verschiedenen Lagen kümmert.
Angesichts des Personalmangels, der in der Krankenpflege herrscht - das ist ein Berufszweig mit einer Arbeitslosenquote von gerade einmal 2,5 Prozent, Tendenz
fallend -, ist es heute besonders wichtig, dass wir den hohen Arbeitsbelastungen in diesem Beruf - da ist wiederum
die Tendenz steigend, man braucht nur an die DRGs oder
an die demographische Entwicklung unserer Gesellschaft
zu denken - gerecht werden. Das tun wir mit diesem Gesetzentwurf, indem wir eine gute Ausbildung ermöglichen und damit die Attraktivität des Berufes steigern.
Vieles von dem, was durch dieses neue Gesetz erreicht wird, wurde vorher schon genannt: Es sind mehr
Unterrichtsstunden vorgesehen; die Schulen werden
selbstständiger, weil sie die Gesamtverantwortung für
die praktische und theoretische Ausbildung bekommen;
wir werden Modellprojekte einrichten, in denen gemeinsame Konzepte für Kranken- und Altenpflege entwickelt
werden; wir steigern die Durchlässigkeit in den tertiären
Bereich, indem Pflegende zu Studiengängen zugelassen
werden. All das sind Dinge, die dringend notwendig
sind. Pflege wird in Zukunft nicht mehr nur als stationäre Pflege in Krankenhäusern stattfinden, sondern auch
in der Prävention, in der Rehabilitation und vor allen
Dingen im ambulanten Bereich, der in Zukunft immer
wichtiger werden wird.
Ein bisschen Wasser muss ich allerdings in den Wein
gießen. Nach 24 Jahren eigener Berufserfahrung möchte
ich hier nicht behaupten, dass alles ganz wunderbar sei.
({3})
Aber ich denke, nach 17 Jahren ist dies ein erster Schritt
in die richtige Richtung, und wir werden das weiterentwickeln. In § 3 wir ein Ausbildungsziel festgelegt, das einen umfangreichen eigenverantwortlichen Aufgabenbereich vorsieht. Das verleiht dem Beruf endlich mehr
Gewicht. Besonders wichtig finde ich, dass wir hier voranschreiten; denn gerade in der Krankenpflege gibt es Tätigkeiten, die examinierten Kräften vorbehalten werden
müssten, so wie es bei den Hebammen und vielen anderen Heilberufen bereits der Fall ist. Ich denke, wir brauchen diese Regelung der der Pflege vorbehaltenen Tätigkeiten ganz dringend, um eine Abgrenzung nicht nur nach
oben zu den Ärzten - denn wir sind als Pflegekräfte nicht
die Gehilfen des Arztes, wie es in manchen Fernsehsendungen gern dargestellt wird -, sondern auch nach unten
zu den geringer qualifizierten Kräften zu schaffen.
Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir haben heute
Morgen fraktionsübergreifend - das finde ich ganz hervorragend - begonnen, Gespräche mit dem Ministerium
und dem Deutschen Pflegerat darüber zu führen, wie
man diese Aufgaben definieren könnte. Wir werden das
weiterentwickeln. Diese Entwicklung ist dringend notwendig. Weitere Gespräche dazu wird es im September
geben. Ich lade Sie alle herzlich dazu ein, an einer Weiterentwicklung und somit an der Steigerung der Attraktivität dieses Berufs, der in unserer Gesellschaft unglaublich wichtig ist, mitzuwirken.
Danke.
({4})
Das Wort hat der Kollege Detlef Parr von der FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
wirklich erfreulich, dass es in diesen gesundheitspolitisch sehr stürmischen Zeiten ein Thema gibt, das nicht
streitig ist. Auch wir begrüßen, dass es mit dem Krankenpflegegesetz zu einer Modernisierung der Krankenpflegeausbildung kommt. Das war lange überfällig. Kollegin Selg hat das gerade sehr plastisch dargestellt.
Das Gesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die
Qualität der Ausbildung wird steigen. Das werden wir
durch unser Abstimmungsverhalten unterstützen; wir
stimmen dem Gesetz zu. Die fachlichen Kompetenzen
werden auf gesundheitsfördernde, präventive, rehabilitative und palliative Inhalte ausgeweitet. Vor allem durch
die Ausdehnung der praktischen Ausbildung im ambulanten Bereich wird den modernen Herausforderungen
an die Krankenpflege Rechnung getragen.
Ein Problem gibt es allerdings. Mit der Zusammenführung der Krankenpflege- und der Kinderkrankenpflegeausbildung in den ersten Ausbildungsjahren - hier
muss konsequenterweise auch die Altenpflegeausbildung mit einbezogen werden - wird der Weg in eine einheitliche Grundausbildung für die Pflegeberufe eingeschlagen. In der Anhörung ist die berechtigte Frage
aufgeworfen worden, inwieweit damit den diversifizierten Anforderungen an die einzelnen Berufsbilder Rechnung getragen wird. Die Fachverbände sind hier sehr unterschiedlicher Meinung. Ich finde, wir sollten den heute
eingeschlagenen Weg auf jeden Fall nach einem bestimmten Erfahrungszeitraum kritisch überprüfen.
Ein weiteres Manko des Gesetzentwurfes ist bereits
angesprochen worden, nämlich die Regelung der
Finanzierung des entstehenden Mehraufwandes. Vor allem die Ausbildung in ambulanten Einrichtungen außerhalb der Krankenhäuser muss von diesen selbst geschultert werden. Der Gesetzentwurf sieht eine Anhebung des
Stellenschlüssels vor, der die Krankenkassen mit
100 Millionen Euro zusätzlich belastet. Die Krankenhäuser bezweifeln, dass diese Summe reichen wird. Wir
können nur hoffen, dass diese neuen finanziellen und logistischen Belastungen sie nicht dazu veranlassen, sich
aus der Krankenpflegeausbildung immer stärker zurückzuziehen. Auch diese Entwicklung müssen wir sorgfältig
verfolgen und zu gegebener Zeit wieder auf den Prüfstand stellen. Eine bessere Ausbildung nutzt wenig,
wenn Ausbildungsplätze gestrichen werden.
Es ist auch stark zu bezweifeln, liebe Kolleginnen und
Kollegen von Rot-Grün, ob Sie mit dem Gesetz Ihre
Zielvorgabe einer Steigerung der Attraktivität der Pflegeberufe erreichen werden. Das verlangt nämlich mehr
als eine Ausbildungsreform oder eine Namensänderung
von der heute offensichtlich nicht mehr geliebten Bezeichnung „Schwester“ hin zu „Pflegerin“ und auch
mehr als einen zusätzlich eingebrachten Entschließungsantrag, der beabsichtigt, die akademische Weiterqualifizierung zu fördern. Es verlangt vor allem, Frau Staatssekretärin - da reichen Appelle nicht aus -, die
Arbeitsbedingungen für die Pflegeberufe und die medizinischen Berufe in den Krankenhäusern zu verbessern.
Qualifikation ist das eine, die Stationen mit ausreichend
Personal auszustatten und dieses angemessen zu bezahlen das andere. Was nutzt unserem Gesundheitswesen
qualifiziertes Personal, wenn dieses aus Erschöpfung
und Resignation den Arbeitsplatz nach kurzer Berufstätigkeit verlässt? Was nutzt qualifiziertes Personal, wenn
von der Politik verordnete Nullrunden die Krankenhäuser zu weiterem Stellenabbau zwingen?
Der Blick zurück auf die gestrige Sitzung des Vermittlungsausschusses ist aus Sicht der FDP erfreulich. Es hat
sich gelohnt zu kämpfen. Wir haben nämlich erreicht,
dass neben den Krankenhäusern, die sich im Jahr 2003
freiwillig am Fallpauschalensystem beteiligen, auch die
Krankenhäuser von der Nullrunde befreit sind, deren
Leistungen insgesamt aus medizinischen Gründen oder
wegen einer Häufung von schwer kranken Patienten mit
dem Fallpauschalenkatalog noch nicht sachgerecht vergütet werden können.
({0})
Schon im Hinblick auf den demographischen Faktor werden Pflegekräfte in Zukunft mehr gebraucht denn
je; Frau Staatssekretärin hat schon darauf hingewiesen.
Die Herausforderungen, die sich aus dem demographischen Faktor ergeben, sind so groß, dass sie durch dieses
Gesetz wohl kaum gemeistert werden können. Es bedarf
eines grundlegend neuen Reformkurses. Sonst laufen
wir in einen Pflegenotstand und nicht zuletzt in einen
Versorgungsnotstand, dessen Dramatik wir alle nicht ignorieren sollten.
({1})
Ich hoffe, Frau Staatssekretärin, dass Sie dies bei Ihrer
angekündigten Gesundheitsreform mit bedenken.
Wenn man auf die Ergebnisse der Rürup-Kommission, die gestern vorgestellt wurden, schaut
({2})
und wenn man die persönliche Bewertung der Gesundheitsministerin hört, dann muss man sagen, dass nichts
Gutes zu erwarten ist. Mit dem Y-Modell wird der Öffentlichkeit ein X für ein U vorgemacht,
({3})
frei nach Goethes Faust: Da steh ich nun, ich armer Tor,
und bin so klug als wie zuvor.
({4})
- Herr Kirschner, es fehlt allen Beteiligten offensichtlich
der Mut
({5})
- darin müssten wir uns eigentlich einig sein -, anstelle eines Sammelsuriums von faulen professoralen
Kompromissformeln eine wirklich nachhaltige und in
sich geschlossene Konzeption vorzulegen.
({6})
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, mit einem solchen Verhalten wird seit Jahren Chance um Chance verspielt. Es muss endlich eine klare, grundsätzliche Kursentscheidung geben.
({7})
Man darf sich nicht mit dem Y-Modell aus der Verantwortung stehlen. Es darf sich niemand mehr in diesem
Hause vor klaren und reformfreudigen Positionen drücken.
({8})
Ich hoffe, dass die Diskussion im Mai/Juni zu einem
guten Ergebnis führen wird, das genauso gut ist wie das
Gesetz, das wir heute verabschieden. Es wäre schön, Sie
würden häufiger Gesetzentwürfe einbringen, denen wir
zustimmen können.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Erika Lotz
[SPD]: Da müsst ihr auch mitspielen!
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Margrit
Spielmann, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Auch ich und mit
mir meine Fraktion sind natürlich froh, dass wir heute
die Neuordnung der Krankenpflegeberufe beschließen.
Mit dieser Neuordnung beschreiten wir - das wurde
schon gesagt - einen Weg zu mehr Qualität und zu der
unbedingt notwendigen Anpassung der Krankenpflegeausbildung an die heutige Pflegewirklichkeit. Dies ist
angesichts der immensen Bedeutung, die der Gesundheits- und Krankenpflege in unserer Gesellschaft zukommt, von besonderer Dringlichkeit. Ich sage auch: Es
ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Ich möchte zu Beginn einen Dank an all jene aussprechen, die sich in besonderer Weise für diese Neuordnung
eingesetzt haben, die den großen Abstimmungsbedarf,
den wir gemeinsam zu schultern hatten, stets mit Weitsicht vorbereitet und realisiert haben und die stets das
Ziel im Auge hatten, eine praktikable Novellierung der
Krankenpflegeberufe auf den Tisch zu legen.
Wir wollten - darauf konzentrierte sich unser gemeinsames Handeln - mehr berufliche Handlungskompetenz
im Sinne von prozesshafter und zielgerichteter Pflege,
mehr Koordinierung und Kooperation, aber auch mehr
Beratung und Anleitung aller an der Pflege Beteiligten
erreichen. Wir wollten ferner die Gestaltung von vernetzten pflegerischen Prozessen in Angriff nehmen, und
zwar auf den unterschiedlichsten Ebenen. Deshalb bin
auch ich froh - ich betone das ebenso -, dass wir diesen
Gesetzentwurf fraktionsübergreifend sehr sachlich und
immer zielorientiert beraten haben.
({0})
- Vielen Dank, Herr Kollege Parr.
Lassen Sie mich ein paar wichtige Punkte der Reform
genauer betrachten. Zunächst etwas zum Ausbildungsziel und zur Neufassung: Der neue Ansatz in der Pflege
unterstreicht, wie schon Frau Selg sagte, den präventiven, gesundheitsfördernden, rehabilitativen und palliativen Anspruch als wichtige Aspekte einer ganzheitlich
ausgerichteten Pflege. Wichtige Erkenntnisse der Pflegewissenschaft haben Einzug in die Ausbildung gehalten.
Der eigenständige Bereich der Pflege wird explizit betont.
Damit wird nicht nur den stark veränderten Rahmenbedingungen in der Pflege Rechnung getragen. Vielmehr
wird damit auch das eigene Berufsverständnis vieler
Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger umgesetzt, die
ihre Aufgabe längst nicht mehr allein auf den kurativen
Aspekt begrenzt sehen. Krankenpflegerinnen und -pfleger nehmen schon jetzt ihre Rolle zum Beispiel als
Berater und Anleiter von Patienten und Angehörigen
wahr. Sie sind Organisator bei der Gestaltung der pflegerischen Arbeit und des gesamten pflegerischen Prozesses.
Die neue Berufsbezeichnung „Gesundheits- und
Krankenpfleger“ macht diese Neuausrichtung, so meinen wir, auch nach außen hin deutlich. Ich hoffe sehr,
dass sich diese Bezeichnung, auch wenn sie zugegebenermaßen ziemlich lang ist, schnell durchsetzen wird.
Denn ich bin sicher, dass es damit leichter sein wird, die
Neuausrichtung nach allen Seiten hin deutlich zu machen.
({1})
Wir brauchen selbstbewusste Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und -pfleger, die ihren Beruf eigenverantwortlich, selbstständig und in guter Zusammenarbeit
mit einem oftmals multiprofessionellen Team ausführen
können. Dafür soll die Ausbildung den Weg bereiten.
Ich halte es für gut und richtig, dass wir weiterhin
zwei Berufsbilder mit unterschiedlichen Berufsbezeichnungen für die allgemeine Krankenpflege und die Kinderkrankenpflege haben. Die Ausbildung sieht künftig
- darauf wurde schon hingewiesen - einen gemeinsamen
Teil mit anschließender Differenzierungsphase vor. So
können wir weiterhin den ganz speziellen Anforderungen, die an die zukünftigen Gesundheits- und KinderDr. Margrit Spielmann
krankenpflegerinnen und -pfleger gestellt werden, gerecht werden.
Ich halte die Aufrechterhaltung der Differenzierung
der Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger gerade vor
dem Hintergrund unserer Forderung nach einer guten,
kindgerechten medizinischen Betreuung im ambulanten,
im rehabilitativen, aber auch im palliativen Bereich für
besonders wichtig. Die Pflege und Versorgung kranker
Kinder bedarf einer speziellen Ausbildung.
({2})
Sie bedarf aber auch vor dem Hintergrund unseres Antrages im vergangenen Jahr in Zukunft unserer Aufmerksamkeit und der Formulierung entsprechender gesundheitspolitischer Ziele zur Verbesserung der Versorgung
von Kindern und Jugendlichen auf den unterschiedlichsten Ebenen.
Im vorliegenden Gesetzentwurf, Herr Parr, sind
Modellklauseln vorgesehen, sodass generalistische
Ausbildungsmodelle durchaus erprobt werden können
und auch sollen. An weitergehende Reformen der Pflegeberufe gerade auch im Hinblick auf eine europarechtliche Angleichung ist damit sehr wohl gedacht. Wir können diese Reformen somit in Angriff nehmen, sollten
aber zunächst ausreichend Erfahrungen mit diesem Gesetz sammeln und vor allen Dingen die Neuregelungen
im Altenpflegegesetz genauer betrachten.
Durch die Novellierung der Krankenpflegeausbildung wird vorgesehen - auch dies sagte die Staatssekretärin schon sehr differenziert -, dass ein Teil der
Ausbildung außerhalb des Krankenhauses in ambulanten, teilstationären und stationären Pflegeeinrichtungen oder in Rehabilitationseinrichtungen durchgeführt
wird. Damit wird für die angehenden Gesundheits- und
Krankenpflegerinnen und -pfleger die Möglichkeit geschaffen, während ihrer Ausbildung umfassende Kenntnisse und Erfahrungen sowohl in der Prävention und
der Rehabilitation als auch in der palliativen Medizin zu
sammeln.
Der ganzheitliche Ansatz der Pflege wird mit dem
Ausbildungseinsatz in den unterschiedlichsten Gesundheitseinrichtungen unterstrichen. Hier, so meine ich, bedarf es sicher eines guten Abstimmungsprozesses zwischen allen an der Ausbildung Beteiligten. Pflege leistet
damit - ich denke, das ist etwas ganz Wichtiges - einen
wesentlichen Beitrag zur Vernetzung von Gesundheitseinrichtungen. Der Ausbildungseinsatz im ambulanten
Bereich ist auch deshalb so immens wichtig, da wir in
diesem Bereich weiterhin einen steigenden Bedarf an
professionellen Gesundheits- und Krankenpflegern haben. Viele Menschen in diesem Land könnten heute ohne
professionelle Unterstützung durch Krankenpflegerinnen oder Krankenpfleger nicht mehr in den eigenen vier
Wänden wohnen. Die ambulanten Pflegedienste leisten
dort einen unermesslich großen Beitrag zur Erhaltung
der Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Das möchte ich hier noch einmal betonen und ihnen
unsere Hochachtung dafür aussprechen.
({3})
Man sollte über die in der Tat oftmals schlechte
finanzielle Ausstattung noch einmal beraten. Deshalb
möchte ich einen Appell an die Zuständigen in den Ländern richten: Nur gemeinsam können wir es schaffen,
genügend motivierten Nachwuchs für den Beruf zum
Gesundheits- und Krankenpfleger heranzuziehen. Es ist
wichtig, Herr Parr, dass die Länder die Attraktivität der
Krankenpflegeberufe auch dadurch steigern, dass sie für
ausgebildete Pflegefachkräfte ohne Hochschulreife den
Zugang zu Pflegestudiengängen auf Hoch- und Fachhochschulebene ermöglichen.
({4})
Weiterhin sollte durch ergänzende Bildungsangebote
die Chance eröffnet werden, die Fachhochschulreife
während der Ausbildung zu erwerben. Das ist übrigens
auch ein ausdrücklicher Wunsch der Pflegeverbände.
Die beste Gewähr - das haben wir vielleicht alle am
eigenen Leib gespürt - und sozusagen das Fundament
für eine erfolgreiche pflegerische Versorgung ist eine
gute qualifizierte Ausbildung. Ich bin zuversichtlich,
dass die Novellierung, die wir heute besprechen, genau
dazu beitragen wird. Packen wir es an! Ich hoffe, wir tun
es gemeinsam. Herzlichen Dank für den konstruktiven
Dialog zu diesem Gesetz.
Vielen Dank.
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Werner Lensing, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wer von Ihnen kennt nicht die viel zitierte und
dem Philosophen Arthur Schopenhauer zugeschriebene
Aussage und korrekte Feststellung:
Die Gesundheit ist zwar nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.
Ich denke, vor dem Hintergrund dieser Lebenserfahrung offenbart sich die besondere Aufgabe derjenigen,
die sich um Kranke und Schwache sorgen. Diese handeln zumindest nicht nur aus beruflichen Gründen, sondern vornehmlich aus Gründen der eigenen Berufung.
Schon deswegen haben diese unsere volle Aufmerksamkeit und Unterstützung bei der Vorbereitung und
Ausbildung ihrer schwierigen Tätigkeit verdient. Infolgedessen muss es eine zwingende und unverwechselbare
Aufgabe der Politik sein, einen eigenen Anteil zu einer
Qualitätsverbesserung der Ausbildung sowie zu einer
gesteigerten Attraktivität der pflegerischen Berufe einzubringen.
Daher teile ich die Auffassung vieler, nach der das
Krankenpflegerecht an die veränderten Verhältnisse
anzupassen ist. Das gilt besonders mit Blick auf die
Tatsache, Pflegeleistungen nicht mehr nur auf die
Krankenhäuser zu konzentrieren, sondern zunehmend
auch auf den ambulanten Bereich und die häusliche
Pflege auszudehnen.
({0})
Ich befürworte die Differenzierung der Pflegeausbildung in einen allgemeinen Teil und in eine Differenzierungsphase, in der die praktische und schulische
Ausbildung auf die Abschlüsse in den einzelnen Berufsfeldern hin spezialisiert wird. Das ist heute schon zu
Recht angeklungen.
Dies darf aber nicht zu einer generalisierten Ausbildung führen, im Gegenteil: Auf eine Basisausbildung,
welche die Pflege von Menschen aller Altersklassen und
Versorgungsbereiche umfasst, sollten Stufen folgen, die
ein solides Wissen - natürlich auf dem Stand der neuesten Forschung - in den speziellen Fachbereichen vermitteln. Wir begrüßen seitens der CDU/CSU, dass an dem
Grundsatz festgehalten wird, die Ausbildung praxisnah
durchzuführen.
Als richtungsweisend erachte ich persönlich die Etablierung einer gegebenenfalls theoriegeminderten, verkürzten Ausbildungsform in der Krankenpflege. Hätten wir für unsere dualen Ausbildungsberufe ein
modulares System, könnten wir etwa 100 000 mehr
praktisch begabten Jugendlichen einen Ausbildungsplatz
verschaffen.
Die Ausbildung in den Gesundheitsberufen ist selbstverständlich eine berufliche Ausbildung. Die Standards
der Ausbildung an Krankenpflegeschulen sollten deshalb auch den Anforderungen entsprechen, die an die berufliche Bildung gestellt werden, unter anderem im Hinblick auf die Einbeziehung allgemeinbildender Fächer
und der Sprachen. Das gilt nicht zuletzt für alle Lehrerinnen und Lehrer, die nach der Rahmenverordnung
der Kultusministerkonferenz und nach den Prüfungsordnungen für Lehrer in den einzelnen Ländern auszubilden
sind. Ein wesentlicher Punkt sollte dabei sein, dass der
allgemein bildende und der fachtheoretische Unterricht
durch Lehrkräfte mit Universitätsabschluss der entsprechenden Fachrichtung zu sichern sind.
Überdies erscheint es sinnvoll, Ausbildungsverbünde herzustellen, in denen eine Krankenpflegeschule
für mehrere Krankenhäuser zuständig ist, die dann auch
die praktische Ausbildung übernehmen. Die Zentralisierung der schulischen Ausbildung könnte dazu beitragen,
Schulgrößen zu schaffen, die den effizienten und sinnvollen Einsatz von Lehrkräften zulassen. Bekanntlich arbeiten größere Schulen wirtschaftlicher. Die Zuständigkeit solcher Schulen für mehrere Krankenhäuser kann
durch eine Rotation der Auszubildenden Probleme vermeiden helfen, die sich in der praktischen Ausbildung
aus der zunehmenden Spezialisierung der Krankenhäuser ergeben könnten. In den neuen Bundesländern sind
solche zentralen Ausbildungsverbünde in der Praxis bereits erprobt.
Frau Staatssekretärin, ich möchte auch erwähnen, wo
wir bei aller Übereinstimmung auch Nachteile erkennen.
Ich frage daher: Wieso sollte ein junger Mensch mit
Hauptschulabschluss in Anlehnung an den anerkannten
Weg der dualen Ausbildung nicht sofort eine Ausbildung
zur Pflegerin bzw. zum Pfleger beginnen können?
Kranke hingebungsvoll und verantwortlich pflegen zu
können ist nicht allein an ein hohes theoretisches Wissen, sondern vor allem an die soziale Kompetenz und die
Zuverlässigkeit eines jeden gebunden.
Ich fordere deshalb: Schneiden wir endlich den alten
Zopf ab, der seit mindestens einer Generation geflochten
wird, und lassen Sie uns für die Krankenschwestern und
Krankenpfleger einen wirklich attraktiven Weg zur
beruflichen Weiterqualifizierung finden. Dazu gehört
auch, über die Frage nachzudenken: Warum sollte eine
erfahrene OP-Schwester nicht die direkte Zulassung zu
einem Medizinstudium erhalten? Sie weiß doch am
ehesten, was sie im Studium zu erwarten hat.
Die Durchlässigkeit, die es in anderen Berufen schon
längst gibt, muss auch endlich in den Kranken- und Pflegeberufen Einzug halten, zumal die Pflegeberufe über
ein enormes Zukunftspotenzial verfügen.
Mein Fazit:
Erstens. Die gegenwärtigen Reformbestrebungen sind
durchaus geeignet, die Struktur der Krankenpflegeschulen und der sonstigen Schulen für Gesundheitsfachberufe zu verbessern.
Zweitens. Noch immer fehlt der mutige Schritt, eingefahrene Wege zu verlassen und das Berufsfeld der Krankenpflege für die Schwestern und Pfleger dynamischer
und durchlässiger zu gestalten.
Drittens. Nur durch ein vielfältiges Angebot an Möglichkeiten zur Fort- und Weiterbildung kann aus dem
Einstieg in die Pflegetätigkeit ein Start in die gesundheitsberufliche Karriere werden.
Ich danke Ihnen.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über
die Berufe in der Krankenpflege sowie zur Änderung des
Krankenhausfinanzierungsgesetzes, Drucksache 15/13.
Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
empfiehlt unter Nummer 1 seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 15/804, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit demselben Stimmenergebnis angenommen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Unter Nummer 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 5/804 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei
Enthaltung der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Veronika
Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Abschluss der europäischen Übernahmerichtlinie anstreben
- Drucksache 15/539 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({1}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates betreffend Übernahmeangebote
KOM ({2}) 534 endg.; Ratsdok. 12846/02
- Drucksachen 15/339 Nr. 2.7, 15/606 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Schulz ({3})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Schaffung eines gemeinsamen europäischen Kapitalmarktes ist in diesem Hause und auch in anderen europäischen Parlamenten ein fraktionsübergreifendes Ziel.
Nur wenn wir dieses Ziel erreichen, können wir das Potenzial der Wirtschafts- und Währungsunion voll ausschöpfen und damit die Dynamik der europäischen und
vor allem der deutschen Wirtschaft stärken.
Uns allen ist klar, dass die Beseitigung von privatrechtlichen Übernahmehindernissen ein wesentlicher
Teil dieser Bemühungen zur Vervollständigung des EUBinnenmarktes ist. Der neudeutsche Begriff des so genannten „level playing field“ beschreibt den Zustand, der
mit Blick auf das europäische Übernahmerecht unser
Ziel sein muss: gleiche Bedingungen für grenzüberschreitende Unternehmensübernahmen und Fusionen in
Europa, unabhängig vom Herkunftsland der beteiligten
Unternehmen. Schlussendlich muss die Entscheidung
über ein Übernahmeangebot immer von den Anteilseignern gemäß ihren Kapitalanteilen getroffen werden und
von sonst niemandem.
Wir sollten hier nicht den Fehler begehen, die Festlegung von langfristigen gesetzlichen Rahmenbedingungen von derzeitigen oder kurz- bzw. mittelfristigen
Marktverhältnissen abhängig zu machen. Vielmehr stellt
eine vernünftige Regelung in diesem Bereich eine Maßnahme dar, die zur Überwindung der derzeitigen Kapitalmarktschwäche beitragen kann.
({0})
Vor diesem Hintergrund ist der von der EU-Kommission
präsentierte Vorschlag zur Regelung öffentlicher Übernahmeangebote zu bewerten und zu kritisieren.
Bevor ich auf die im Entwurf enthaltenen Punkte im
Detail eingehe, scheint mir wichtig, noch einmal klarzustellen, dass sich die geplante Richtlinie lediglich auf
privatrechtliche Übernahmehindernisse bezieht und Fragen zum niedersächsischen VW-Gesetz oder zu von
staatlichen Stellen gehaltenen so genannten Goldenen
Aktien - „golden shares“ - nicht Gegenstand dieser
Richtlinie sind. Diese Fragen des öffentlichen Rechts
sollen in Zukunft durch Vertragsverletzungsverfahren
systematisch überprüft werden. In dieser Richtlinie wird
hierzu lediglich eine öffentliche Verlautbarung entsprechender Rechte gefordert.
Nun aber zu der Frage, die für die Beurteilung des
Richtlinienvorschlags entscheidend ist: Würde eine Umsetzung des Richtlinienentwurfs im Falle öffentlicher
Übernahmeangebote gleiche Voraussetzungen für alle
Unternehmen in der Europäischen Union schaffen? Zur
Beantwortung dieser Frage darf ich die Bundesregierung
zitieren:
Der Kommissionsvorschlag der Übernahmerichtlinie wird in seiner jetzigen Fassung dem Anspruch,
ein einheitliches „level playing field“ und damit
faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, nicht
gerecht.
So äußerte sich das Bundesministerium der Finanzen
in seinen Stellungnahmen sowohl dem Finanzausschuss
des Deutschen Bundestages als auch den deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament gegenüber.
Diese Meinung wird in der Beschlussempfehlung des
Finanzausschusses auf Drucksache 15/606 bekräftigt.
Auch der Antrag von CDU/CSU - Drucksache 15/539 unterstützt ausdrücklich diese Haltung.
Einigkeit zwischen den Fraktionen besteht nicht nur
in der Beurteilung, sondern auch in der Begründung derselben. Der Knackpunkt aus deutscher Sicht ist - aufgrund des interfraktionellen Konsens in dieser Frage
muss ich das nicht weiter ausführen -, dass die im deutschen Unternehmensrecht vorgesehenen Schutzmechanismen wie Vinkulierung oder Vorratsbeschlüsse abgeschafft werden sollen, während Schutzmechanismen,
die in anderen Staaten üblich sind - ich nenne als Beispiel Mehrfachstimmrechte -, in Zukunft lediglich einem Prüfauftrag unterzogen werden sollen. Dies widerspricht dem angestrebten Ziel, einen einheitlichen
Rechtsrahmen herzustellen.
Die Begründungen, die von der Kommission für diese
Ungleichheit vorgebracht werden, sind dabei alles andere als überzeugend.
({1})
Dies wird auch in anderen nationalen Parlamenten und
im Europäischen Parlament so gesehen. Außerdem bin
ich der Ansicht - ich denke, das trifft auf alle Mitglieder
des Hauses zu -, dass die Kommission die von deutscher
Seite erbrachten Vorleistungen zu wenig honoriert hat.
Trotz all dieser Übereinstimmungen in den grundlegenden Kritikpunkten hielten und halten wir die Beschlussempfehlung, die von den Vertretern von SPD und
Grünen im Finanzausschuss verabschiedet wurde, nicht
für zustimmungsfähig, und zwar aus zwei Gründen:
Der erste Grund ist, dass die Empfehlung von RotGrün nicht den Stand der Verhandlungen berücksichtigt,
der zwischen Vertretern der Kommission auf der einen
und des Europäischen Parlaments auf der anderen Seite
seit Vorstellung des Richtlinienentwurfs erreicht wurde.
Dieser Annäherungsprozess zwischen Parlament und
Kommission in dieser Frage ist übrigens eminent wichtig. Das hat uns die Erfahrung aus dem Jahr 2001 gelehrt, als die damals formulierte Übernahmerichtlinie im
Europäischen Parlament ganz knapp abgelehnt wurde.
Deshalb sollten wir als Deutscher Bundestag unseren
Beitrag zu dieser Annäherung leisten, indem wir die
Kommission in die richtige Richtung lenken.
Der zuständige Kommissar Bolkestein ist mittlerweile offensichtlich dazu bereit, auch die in anderen
Staaten üblichen Übernahmehemmnisse in die Richtlinie
einzubeziehen. Wie der Berichterstatter im Europäischen
Parlament, der Kollege Klaus-Heiner Lehne, geäußert
hat, sollen nach einer Übergangsfrist bis 2010 nur noch
so genannte Doppelstimmrechte erhalten bleiben. Wie
Sie an der Jahreszahl sehen, ist die Beschlussempfehlung
von Rot-Grün - sie geht vom Jahr 2008 aus - in diesem
Punkt nicht auf dem neuesten Stand.
({2})
Wir würden uns jedoch freuen, wenn Sie diesbezüglich
hellseherische Fähigkeiten gezeigt haben und es zu einer
Verkürzung des Zeitraums kommt.
Unser Antrag unterstützt in diesem Punkt die Position
des Europäischen Parlaments. Mit ihm erhöhen wir den
Druck auf alle Seiten - insbesondere auf die Kommission -, sich stärker hin zu einem echten „level playing
field“ zu bewegen.
Der zweite Grund, der gegen die Empfehlung von
SPD und Grünen, aber für unseren Antrag spricht, besteht darin, dass unser Papier auch auf Punkte eingeht,
die jenseits der Problematik des „level playing field“ zu
kritisieren und zu klären sind. Dementsprechend sind
wir der Auffassung, dass ein Beschluss des Deutschen
Bundestages die Bundesregierung in ihrem berechtigten
Anliegen unterstützen muss, europäische Unternehmen
vor Übernahmen aus solchen Drittstaaten zu schützen,
die ein weit weniger liberales Übernahmerecht haben,
als es sich die Staaten der EU mit dieser Richtlinie zu geben gedenken.
({3})
Die Richtlinie darf nur bei Unternehmen aus den Drittstaaten Anwendung finden, die sich reziprok auch für
Übernahmewünsche aus der EU öffnen. Diese Reziprozität muss schon deswegen gegeben sein, damit es nicht
so weit kommt, dass für unsere Unternehmen die Richtlinie gilt, die Unternehmen aus den Drittstaaten aber
nicht diese Übernahmevoraussetzungen haben. Im Antrag von Rot-Grün ist zu diesem Punkt nichts zu finden,
sodass die Bundesregierung bei den anstehenden Verhandlungen auf EU-Ebene bisher nicht ihr volles Gewicht einbringen konnte, da ihr die Unterstützung des
gesamten Hauses in diesem Punkt fehlt.
({4})
Ebenso wenig beziehen sich SPD und Grüne in ihrer
Empfehlung auf sonstige strittige Detailfragen. Aber
vielleicht haben Sie bei Abfassung des Antrags den
Richtlinienentwurf noch nicht richtig gelesen. So ist beispielsweise die von der Kommission vorgeschlagene Regelung über die Bestimmung der bei grenzüberschreitenden Übernahmen zuständigen Aufsichtsbehörde viel zu
kompliziert. Hier gilt es, eine Regelung zu finden, nach
der das Unternehmen des Ziellandes der Aufsicht unterliegt.
Darüber hinaus ist die Preisreferenzperiode, die in der
Richtlinie vorgesehen ist, viel zu lang. Es kann nicht
sein, dass Durchschnittspreise für eine zu lange Zeitachse ermittelt werden, wodurch gewisse Gegebenheiten
nicht widergespiegelt werden. Wenn wir die momentane
Phase betrachten, dann wissen wir, dass eine viel zu
lange Referenzperiode für bestimmte Übernahmen
schädlich wäre.
Diese Liste der Detailfragen ließe sich bis hin zur
Frage des Squeeze-out, also der Abfindung von Kleinaktionären, zu der Sie nichts gesagt haben, fortsetzen. Von
daher ist unser Antrag, der bei diesen Verhandlungen
eine Grundlage und Unterstützung für die Bundesregierung darstellt, weiter gehend und konkreter. Deshalb darf
ich Sie bitten, unserem Antrag zuzustimmen.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Schultz,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Leo Dautzenberg, ich habe dich sehr wohl verReinhard Schultz ({0})
standen. Das Wichtigste an deiner Botschaft war, dass
wir auch vor dem Hintergrund globaler Entwicklungen
und unabhängig davon, dass es zwei verschiedene Texte
zur Abstimmung gibt, beim europäischen Übernahmerecht - ein wichtiges Thema - relativ nah beieinander
sind; dies war bereits im Ausschuss erkennbar. Insofern
denke ich, dass das, was der Bundestag mit seinem Gewicht in die Waagschale wirft, in der Sache Unterstützung findet. Das wird auf der europäischen Ebene auch
so ankommen.
Natürlich bedeutet die Richtlinie im Hinblick auf
mögliche feindliche Übernahmen einen großen Fortschritt. Die Regelungen zu öffentlichen Übernahmeangeboten, wesentlichen Dingen des Minderheitenschutzes
und grundsätzlichen Fragen der Objektivierung der Bewertung von Minderheitenanteilen stellen positive Ansätze dar. Die Bundesregierung hat sich in diesen Fragen
gut positioniert.
Wir sind nicht grundsätzlich gegen grenzüberschreitende Übernahmen.
({1})
Wir sind im Gegenteil dafür, dass die Übernahme von
Unternehmen, also der Kauf und Verkauf von Unternehmen und Unternehmensanteilen, erleichtert wird. Das
haben wir durch ein modernes Unternehmensteuerrecht,
durch das der steuerfreie Übergang einer Unternehmensbeteiligung auf ein anderes Unternehmen ermöglicht
wird, nachgewiesen.
Es stellt sich letztendlich die Frage, wie dies im internationalen Verkehr gestaltet wird. Es geht nicht darum,
wie man die Änderungen der Beherrschungs- und
Machtverhältnisse, die mit einer Veränderung der Anteilsmehrheit verbunden sind, politisch bewertet, sondern es geht darum, ob Minderheitsaktionäre generell
geschädigt werden oder ob durch die mangelnde Transparenz ein weiterer politischer Schaden entsteht. Insofern geht es uns nicht um die Verteidigung von Besitzständen, die sich in Unternehmenssatzungen und von
mir aus auch in das Aktienrecht oder in andere Rechtsfelder eingeschlichen haben. Uns geht es ausschließlich
darum, dass man vernünftig bewertet, wie Unternehmensübergänge zustande kommen.
Dabei sind natürlich auch Rechtsgüter gegeneinander
abzuwägen. Wenn ein bisheriger Mehrheitsaktionär
seine Mehrheit verkauft und sich auf eine qualifizierte
Minderheitsposition zurückzieht - „qualifiziert“ heißt,
dass er aus guten Gründen selbst Unternehmer bleibt -,
kann ein Vertrag darüber abgeschlossen werden, wie die
neue Mehrheit mit ihrer Mehrheit umzugehen hat und
welche Sonderrechte die Minderheit hat. Dies ist ein völlig freier Vertrag, der, wenn Restriktionen damit verbunden sind, in der Regel sogar Einfluss auf den Kaufpreis
hat, der für die Mehrheitsbeteiligung zu entrichten ist.
Man kann nicht einfach blind sagen, dass jede Art einer
Stimmrechtsbeschränkung, einer Beschränkung des
Mehrheitsstimmrechts usw. immer automatisch damit
verbunden ist, dass der freie Kapitalverkehr, die Niederlassungsfreiheit oder was auch immer beschränkt ist;
denn oft sind damit erworbene Eigentumsrechte verbunden, die sich im Preis niedergeschlagen haben.
Ich könnte Ihnen zig Beispiele von internationalen
und nationalen Unternehmensübergängen aus jüngster
Zeit aufzeigen, bei denen die Preisfindung nicht zuletzt
auch davon abhing, welche Rolle der dann verbliebene
Minderheitseigner unternehmerisch spielen konnte.
({2})
Ein anderer wichtiger Punkt ist - darin sind wir uns
völlig einig -, dass nicht innerhalb von Europa Spielregeln geschaffen werden sollten, die die Bestimmungen in
Deutschland, die sich traditionell aus Unternehmenssatzungen entwickelt haben oder aber durch den Bundestag
beschlossen worden sind, außer Kraft setzen, während
zum Beispiel in Skandinavien oder Frankreich die Bestimmungen ungeschmälert erhalten bleiben. Wenn zum
Beispiel die Richtlinie nach dem neuesten Stand in Kraft
gesetzt würde, dann würde eine Wagenburg aus nationalem Recht und selbst geschaffenem Unternehmensrecht
in einigen Ländern geradezu zementiert, während bei uns
Mauern abgerissen würden, wodurch Unternehmensübergänge erleichtert würden. Wir wollen innerhalb
Europas ein faire Situation.
Es geht aber natürlich nicht nur um Europa; darauf
werden auch die Redner nach mir hinweisen. In der Vergangenheit gab es eine Reihe von interessanten Unternehmensübergängen, insbesondere zwischen den Vereinigten Staaten und Europa bzw. Deutschland. Das
Übernahmerecht in den Vereinigten Staaten ist relativ
starr. Amerikanische Unternehmen werden geschützt.
Ein amerikanisches Management, das sich gut positioniert, kann durch Vorgänge auf dem Kapitalmarkt nicht
in eine Lage gebracht werden, in der es zu einer feindlichen Übernahme kommen könnte. Das ist nicht gut.
({3})
- Natürlich hat es welche gegeben, aber es waren keine
feindlichen Übernahmen. Die großen Unternehmensübergänge, die zum Beispiel deutsche Unternehmen in
Amerika zustande gebracht haben, waren vielleicht im
Ergebnis für einige Beteiligte nicht sehr freundlich - ich
erinnere an das Beispiel Chrysler -, aber es waren freundschaftlich ausgehandelte Übergänge. Dazu bedurfte es
keiner Verteidigungsmechanismen. Eine feindliche Übernahme gegen den Willen des Managements ist in den Vereinigten Staaten praktisch nicht möglich.
Ein europäisches Übernahmerecht aber, das letztendlich für alle und international gilt, wäre ein Einfallstor
für diejenigen, die sich außerhalb der EU hinter nationalem Recht verschanzt haben, um hier beliebig einzufallen. Insofern, lieber Herr Dautzenberg, ist natürlich der
Hinweis völlig richtig, dass wir Reziprozität brauchen.
Dies darf aber nicht nur bilateral der Fall sein; dafür ist
das Thema zu komplex. Bevor eine solche Richtlinie in
Kraft gesetzt wird, brauchen wir nicht nur auf europäischer Ebene, sondern auch auf globaler Ebene eine Harmonisierung des Übernahmerechts zwischen den wichtigsten Industriestaaten innerhalb der OECD.
Reinhard Schultz ({4})
Das sind die Gründe, weswegen wir die Übernahmerichtlinie in der jetzigen Fassung nicht mittragen und uns
auch gegen diesen Punkt besonders wehren. Wir können
uns nicht auf sämtliche Details einlassen; denn das bedeutete für unseren Standort ein hohes Risiko.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas
Pinkwart, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Ausführungen meiner Vorredner haben gezeigt, dass das
Thema Übernahme in der Darstellung immer mit Angst
und Schrecken verbunden ist. Dies gilt besonders in einer Situation, in der wir feststellen müssen, dass gerade
deutsche Unternehmen erheblich unterbewertet sind.
Dies stellt im Moment das wesentliche Übernahmeproblem dar. Ich habe große Zweifel, ob das, was gestern im
Vermittlungsausschuss vereinbart worden ist, einen Beitrag dazu leisten kann, dass dieses Problem entschärft
wird. Im Gegenteil: Man muss befürchten, dass die deutschen Kapitalgesellschaften dadurch weiteren Schaden
nehmen und sich deren Unterbewertung fortsetzt.
({0})
Ansonsten aber haben Übernahmen nicht nur negative
Folgen, sondern können in positiver Hinsicht - wenn
wir unsere Unternehmen hinreichend wettbewerbsfähig
machen, können wir das so interpretieren - neue Unternehmenskonzepte, neue Ideen und frisches Kapital für
die Unternehmen bedeuten. Damit wird im Ergebnis eine
Stärkung des Finanzplatzes erreicht. Hiervon können
nicht nur die Unternehmensleitung und die Aktionäre
der beteiligten Unternehmen, sondern natürlich auch die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Unternehmen
profitieren.
Deshalb wäre es unserer Ansicht nach falsch, Übernahmen staatlich zu regulieren oder gar rechtliche
Rahmenbedingungen zur Abwehr von Übernahmen,
Mehrfachstimmrechte oder Stimmrechtsbeschränkungen
einzuführen; denn dies beeinträchtigt einen funktionierenden Finanzplatz. Aus diesem Grunde haben wir in der
vorvergangenen Legislaturperiode mit dem KonTraG
von 1997 konsequenterweise die Mehrfachstimmrechte
beseitigt. Im Kontext der anstehenden Liberalisierung
auf diesem Gebiet in Europa ist es deshalb nur konsequent, darauf hinzuwirken, dass bei Schaffung eines
einheitlichen europäischen Rahmens im Bereich der Unternehmensübernahmen auch in anderen Ländern bestehende Mehrfachstimmrechte unterbunden werden.
({1})
Das Gleiche gilt auch für die Reziprozität, die selbstverständlich sein sollte, wenn in Europa ein einheitliches
und sehr liberales Übernahmerecht ermöglicht werden
kann. Wir, die FDP-Fraktion, sind jedenfalls sehr daran
interessiert, dass sich diese Übernahmemöglichkeiten eröffnen und sich die Chance bietet, unsere Unternehmen
wettbewerbsfähig zu gestalten, auch gegenüber amerikanischen und asiatischen Unternehmen, damit sie bei einem rechtlichen Fairplay in Zukunft möglicherweise
auch solche Unternehmen übernehmen können.
Herzlichen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Hubert Ulrich, Bündnis 90/Die Grünen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren im Prinzip über den nächsten Schritt im Zusammenhang mit dem europäischen Binnenmarkt. Ein wesentlicher Schritt in den vergangenen zwei Jahrzehnten
war die langsame Angleichung der Steuergesetzgebung.
Ein weiterer wesentlicher Schritt war die Einführung des
Euro.
Nun sind wir dabei, die Kapitalmärkte europaweit zu
harmonisieren. Auch das ist ein sehr wichtiger Schritt;
denn ich denke, gerade offene Kapitalmärkte tragen dazu
bei, dass die Unternehmenslandschaft mit dem notwendigen Kapital versorgt werden kann. Ohne Kapital kann
nun einmal keine Volkswirtschaft funktionieren.
Dabei geht es in starkem Maße darum, den deutschen Aktienmarkt zu fördern, der in den vergangenen Jahren bekanntlich enorm unter Druck geraten ist.
Er ist stärker unter Druck geraten als beispielsweise der
US-amerikanische Kapitalmarkt. Ich erinnere nur daran, dass der Dow Jones von 11 000 auf 8 000 Punkte
gefallen ist. Der DAX ist von 8 000 auf 2 500 - zeitweise sogar auf 2 000 - Punkte gefallen.
({0})
Das heißt, der deutsche Aktienmarkt ist - das gilt auch
für die anderen europäischen Aktienmärkte - nicht so
stabil wie die US-amerikanischen Märkte. Das hat seine
Gründe.
({1})
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass dies schon einmal anders war, was die wenigsten wissen. 1914 beispielsweise hatte Deutschland mehr börsenorientierte Unternehmen als die USA. Durch die Weltkriege ist zwar sehr
viel Schaden entstanden, aber das gilt für ganz Europa.
Wir müssen daran arbeiten, dass sich die gegenwärtige Situation wieder bessert. Die großen Probleme vor allem der
kleinen und mittleren Unternehmen liegen schließlich vor
allem in der Kapitalbeschaffung. Bundesdeutsche Unternehmen sind heute zu einem großen Teil kreditfinanziert,
angelsächsische Unternehmen hingegen aktienfinanziert.
Wir müssen die Aktienfinanzierung fördern.
({2})
Diese hängt im starken Maße mit der Freizügigkeit, zumindest innerhalb der Europäischen Union, zusammen.
Wie bereits von allen anderen Rednern angesprochen
wurde, ist die Reziprozität sehr wichtig. Die US-amerikanischen Märkte sind völlig abgeschottet. Es geht nicht
an, dass die europäischen Staaten ihre Märkte nach außen öffnen, während andere Staaten das unterlassen. Wie
wir innerhalb Europas vorgehen, ist aber eine andere
Frage, um die es heute im Rahmen der europäischen
Übernahmerichtlinie geht. Dabei vertreten die einzelnen
Nationalstaaten ihre speziellen Interessen.
Was unser VW-Gesetz ist, sind in anderen Staaten die
Doppelstimmrechte. Dabei muss stark differenziert
werden. Zum Beispiel dürfen die Mehrfachstimmrechte
in den skandinavischen Ländern nicht mit dem in Frankreich bestehenden Doppelstimmrecht gleichgesetzt werden. Letzteres bedeutet nur, dass derjenige, der seine Aktien länger als zwölf Monate hält, ein Doppelstimmrecht
erhält. Damit wird das Zocken an den Aktienmärkten ein
wenig eingeschränkt.
In Skandinavien - die Familie Wallenberg ist ein bekanntes Beispiel - gibt es ein bis zu 40faches Stimmrecht. Das geht nicht an. Aber soweit mir bekannt ist, hat
die Europäische Union diese skandinavischen Mehrfachstimmrechte inzwischen unterbunden. Um diese kann es
deshalb nicht mehr gehen.
Wir werden uns aber auch in Zukunft nur schwer gegen die Einführung dieser EU-Richtlinie wehren können.
Ich nenne nur das Stichwort „Goldene Aktien“, die es
heute noch in vielen europäischen Staaten gibt. In den
nächsten Jahren werden aber 99 Prozent dieser Aktien
verschwinden. Sie werden von der Kommission nur
noch in einem sehr engen Rahmen zugelassen werden,
zum Beispiel aus Gründen der nationalen Sicherheit.
Auch unser VW-Gesetz wird - das dürfte Ihnen bekannt
sein - seit mehreren Wochen von der Europäischen
Kommission beklagt. Auch das wird fallen.
({3})
Da müssen wir uns etwas einfallen lassen. Insofern werden wir uns in Deutschland Gedanken machen müssen,
wie wir unser Aktienrecht europäischem Niveau angleichen. In diesem Zusammenhang muss man durchaus
über das französische System mit Doppelstimmrechten
nachdenken. Denn dieses System scheint von der Kommission akzeptiert zu werden. Das wäre ein gewisser Ersatz für das heutige VW-Gesetz.
Was mich aber am Antrag der CDU/CSU-Fraktion
gewundert hat - das möchte ich schon einmal ansprechen -, ist der vorletzte Punkt. Da geht es um die so genannte Preisreferenzperiode. Wenn ich ernst nehme,
was hier steht, dann fordert die CDU/CSU, dass eine
Übernahme zum geringsten Preis erfolgen soll, wenn es
zu einer feindlichen Übernahme kommt.
({4})
- Doch, das steht da drin. Gerade die Preisreferenzperiode bedeutet ja, dass derjenige, der sich in ein anderes Unternehmen einkauft, über einen längeren Zeitraum
einen Preis bilden muss, und zwar über einen Zeitraum
von sechs bis zwölf Monaten. Das ist eine sehr vernünftige, eine sehr gute Regelung, die mit dem heutigen deutschen Recht durchaus korrespondiert.
Damit sind wir beim Squeeze-out, dem zweiten
Schritt. Das bedeutet, dass durch diese von der EU vorgeschlagene Regelung insbesondere der deutsche Kleinaktionär einen fairen Marktpreis erhält. Genau das will
die CDU/CSU konterkarieren. Es erschließt sich mir
nicht, wohin Sie an dieser Stelle wollen.
Das heißt - das wurde vom Kollegen von der SPD gesagt -, dass die derzeitige Übernahmerichtlinie, die noch
nicht dazu führt, dass wir in Europa wirklich gleiches
Recht haben, von den Koalitionsfraktionen zu Recht abgelehnt wird. Sie wird so lange abgelehnt, bis wir wirklich einen Vorschlag auf dem Tisch liegen haben, der innerhalb der Europäischen Union gleiche Bedingungen
für alle schafft. Dann kann die Koalition einer solchen
Vorgabe auch folgen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär bei
der Bundesministerin der Justiz, Alfred Hartenbach.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich begrüße es, dass der Finanzausschuss
mehrheitlich die Forderung der Bundesregierung stützt,
und empfinde es als erfreulich, dass der Antrag der
CDU/CSU zumindest Flankenschutz gewährt.
({0})
In ihren zentralen Forderungen stimmen beide Vorlagen überein. Die künftige Übernahmerichtlinie muss
auch und gerade im Hinblick auf die Mehrstimmrechte
ein einheitliches Level Playing Field für Übernahmen
schaffen. Was meinen wir mit diesem Begriff? Es darf
nicht sein, dass die Spielregeln für eine Übernahme in
den verschiedenen Staaten unterschiedlich bleiben.
({1})
Diesem Ziel wurde der Kommissionsentwurf zur
Übernahmerichtlinie vom vergangenen Herbst nicht gerecht. Seine Umsetzung würde ungleiche Ausgangs- und
Wettbewerbsbedingungen für Unternehmensübernahmen in Europa schaffen. Durch die vorgesehene Regelung würden deutsche Unternehmen zum Verzicht auf
Abwehrmöglichkeiten gegen feindliche Übernahmen gezwungen, während zugleich den Unternehmen anderer
Mitgliedstaaten weiterhin gestattet wäre, sich durch
Mehrstimmrechte effektiv gegen solche Übernahmen abzuschotten.
Die Bundesregierung setzt sich bei den Verhandlungen daher primär für eine echte europäische Harmonisierung ein. Auch Mehrstimmrechte müssen im Übernahmefall außer Kraft gesetzt werden können. Zugleich
sollte die Liberalisierung innerhalb von Europa aber Bietern aus Drittstaaten, die selbst über wirkungsvolle Abwehrinstrumente verfügen, nicht zugute kommen. Es
geht also auch um ein internationales Level Playing
Field.
Unseren Bemühungen war leider nicht sofort Erfolg
beschieden. Inzwischen hat die amtierende griechische
Präsidentschaft aber erfreulicherweise den Gedanken einer echten Harmonisierung aufgegriffen und in einem
neuen Vorschlag die Berücksichtigung der Mehrstimmrechte vorgeschlagen. Auch andere Mitgliedstaaten begrüßen diesen Vorschlag der Präsidentschaft genauso
wie wir. Auch die Kommission und maßgebliche Stimmen im Europäischen Parlament stützen diesen griechischen Vorschlag.
Auf deutlichen Widerstand stößt der neue Ansatz allerdings bei den skandinavischen Ländern, weil gerade
dort Mehrstimmrechte weit verbreitet sind. Nun hat allerdings die Präsidentschaft angesichts der im Übrigen
großen Zustimmung erkennen lassen, dass sie gewillt ist,
ihrem Vorschlag zum Erfolg zu verhelfen. Das ist für die
Beratungen in Brüssel nützlich. Allerdings weiß heute
noch niemand, wie das Ergebnis sein wird. Sollte die
von uns angestrebte europäische Harmonisierung nicht
erreichbar sein, dann muss es den Mitgliedstaaten auch
in Zukunft gestattet werden, ihre jeweiligen Abwehrmöglichkeiten beizubehalten. Für Deutschland hieße
das: Es bleibt bei den bisherigen Regelungen des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes, also bei der
Möglichkeit für die Vorstände und die Aufsichtsräte, Abwehrmaßnahmen zu ergreifen.
An dieser Stelle möchte ich dem Berichterstatter zur
Übernahmerichtlinie im Europäischen Parlament, dem
Kollegen Lehne, sehr herzlich für seine konstruktive Zusammenarbeit danken.
({2})
Wir haben in vielen, wenn auch nicht in allen Fragen
übereinstimmende Vorstellungen. Auch Ihnen, meine
lieben Kolleginnen und Kollegen aus dem Finanzausschuss, danke ich und bitte um weitere Unterstützung
unserer Linie.
Herr Kollege Dautzenberg, Sie haben eben das
VW-Gesetz angesprochen. Mit Blick auf unser nationales Recht denke ich übrigens nicht, dass wir das VW-Gesetz in einen Zusammenhang mit der Diskussion über
die Übernahmerichtlinie bringen sollten. Die Kommission stellt dieses Gesetz mit ihrem Abmahnschreiben
vom März dieses Jahres infrage - Herr Dautzenberg, Sie
haben das schon herausgearbeitet -, weil es angeblich
primäres EU-Recht, die Regeln der Kapitalverkehrsfreiheit, verletze. Das ist aber nicht die Intention des VWGesetzes. Es geht dort vielmehr um eine nur aus der Historie verständliche Ordnung der Eigentumsverhältnisse
und Verantwortlichkeiten aus der Zeit der Privatisierung
der Gesellschaft. Die Belegschaft hatte nach dem Krieg
die Volkswagenwerke aus dem Nichts und über viele
Jahre mit großem Einsatz aufgebaut. Dies sollte sich bei
der Privatisierung widerspiegeln, und zwar in der Einrichtung einer Volkswagen-Stiftung, die dem Allgemeinwohl verpflichtet war und noch immer ist, sowie in der
Schaffung und Erhaltung der Volksaktie VW. Das ist der
Sinn der beanstandeten Regelung und das werden wir
der Kommission mit Nachdruck verständlich machen.
Ich hoffe sowohl in diesem Bereich als auch bei unseren
Bemühungen um eine faire Übernahmerichtlinie auf die
volle Unterstützung dieses Hauses.
Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben, und
wünsche uns weiterhin gute Beratungen.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Stefan Müller, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Es gibt derzeit im
Wirtschaftsgebiet der Europäischen Union noch immer
zum Teil gravierende Unterschiede bei den Rechtsvorschriften zur Firmenübernahme. Es wird Zeit, auch für
den Bereich der Firmenübernahmen eine einheitliche europäische und vor allem eine ausgewogene Regelung zu
finden, die den wirtschaftlichen Notwendigkeiten der
heutigen Zeit gerecht wird. Ziel - ich denke, darüber
sind wir uns in diesem Hause einig - muss die Schaffung
eines so genannten Level Playing Field für alle Mitgliedstaaten sein, bei dem durch den Abbau von Sondervorschriften Wettbewerbsgleichheit auf diesem Gebiet
hergestellt wird. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt die Abschaffung von Rechtsbarrieren und die
Schaffung eines vollständigen Level Playing Field auf
europäischer Ebene.
Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen, dass
Deutschland in der Vergangenheit schon sehr große Anstrengungen diesbezüglich unternommen hat. Nur, wir
müssen auch feststellen, dass es nicht bei dem einseitigen Geben unsererseits bleiben darf. Spätestens seit der
Übernahme von Mannesmann durch Vodafone wissen
wir, wie wichtig eine einheitliche Verordnung ist.
({0})
Natürlich ist es noch immer schmerzhaft, wenn ein alteingesessenes deutsches Unternehmen durch eine ausländische Firma übernommen wird. Aber daran werden wir
uns in Zukunft vermutlich gewöhnen müssen, und zwar
nicht nur - das ist hier schon mehrfach angesprochen worden - auf europäischer Ebene. Entscheidend für unsere
Wirtschaft und den Standort Deutschland ist dann nicht
mehr, in wessen Hand sich ein Unternehmen befindet, sondern allein die Tatsache, wie viele Arbeitsplätze durch eine
Übernahme gesichert bzw. geschaffen werden können.
Vor diesem Hintergrund sollten auch die Widersacher einer Verordnung keine Angst vor einer diesbezüglichen
Stefan Müller ({1})
Neuregelung haben; denn wenn wir es schaffen, den
Wirtschaftsstandort Deutschland in Zukunft attraktiver
zu gestalten, dann sehe ich in dieser neuen Richtlinie
auch für unsere Unternehmen mehr Chancen als Risiken
auf dem europäischen Markt.
Ebenso muss es unser gemeinsames Ziel sein, diese
Richtlinie so schnell wie möglich in Kraft zu setzen und
zu einer tragfähigen gemeinsamen Lösung zu kommen.
({2})
Ich habe mir noch einmal angeschaut, wie lange wir in
Europa schon über diese Richtlinie diskutieren. Bereits
in den 80er-Jahren gab es die ersten Vorschläge für eine
Harmonisierung der einzelnen Rechtsvorschriften; damals wurden die ersten Vorstöße gewagt, um zu einer
Vereinheitlichung zu kommen. Letztlich hat es nun bis
zum Oktober letzten Jahres gebraucht, bis von der Europäischen Kommission ein neuer Entwurf vorgelegt werden konnte.
Dieser Entwurf stellt für die deutsche Seite sicherlich
eine Verbesserung gegenüber den bisherigen Richtlinien
und Vorschlägen dar, ist aber gleichwohl noch nicht befriedigend. Insbesondere in Bezug auf Art. 11, der die
Unwirksamkeit der Beschränkung der Übertragung von
Wertpapieren und Stimmrechten vorsieht, haben wir
meiner Meinung nach noch erheblichen Diskussionsbedarf; denn solange in anderen Ländern die Möglichkeit
besteht, sich gegen Übernahmen abzuschotten, kann
auch von der deutschen Wirtschaft nicht verlangt werden, keine geeigneten Gegenmaßnahmen einzuleiten.
Allein der Grundsatz der Waffengleichheit gebietet es,
allen Unternehmen in Europa die gleichen Chancen zu
bieten.
({3})
Die Kollegen in Brüssel haben immer noch mit erheblichem Widerstand insbesondere aus den drei skandinavischen Ländern zu kämpfen, denen auch die Einbeziehung
ihrer Mehrfachstimmrechte in die Durchbrechungsregel
deutlich zu weit geht und die bereits erheblichen Widerstand angekündigt haben. Auch Frankreich versucht,
seine nationalen Regelungen der doppelten Stimmrechte
nicht dieser Regelung zu unterwerfen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir trotz dieser Widerstände und
Meinungsverschiedenheiten zu einem einheitlichen
Standard in Europa kommen können.
In diesem Prozess muss selbstverständlich auch gewürdigt werden, dass die Bundesrepublik Deutschland
die von mir schon angesprochenen Vorleistungen bereits
erbracht hat. Uns muss auch von daher daran gelegen
sein, auf ein zeitnahes Auslaufen von Sonderregelungen
im Ausland hinzuwirken.
({4})
Ich stelle hier deutlich fest: Es ist für deutsche Unternehmen nicht hinzunehmen, wenn die skandinavischen
Länder sowie Frankreich und die Niederlande durch
Mehrfachstimmrechte bzw. Stiftungszertifikate eine einheitliche Regelung zulasten der deutschen Unternehmen
unterlaufen. Besonders vor diesem Hintergrund halte ich
es für außerordentlich wichtig, noch vor Ablauf der vorgesehenen Frist bis 2010 eine Überprüfung der einzelnen
Sondertatbestände vorzunehmen und diese nach Möglichkeit schon vorher auslaufen zu lassen.
({5})
Natürlich fielen unter die Durchbrechungsregel - das
ist auch schon angesprochen worden - auch die letzten
verbleibenden deutschen Sonderregelungen wie beispielsweise die Vorratsbeschlüsse, was aber im Sinne einer Vereinheitlichung für uns hinnehmbar wäre und auch
vorgesehen ist. Ich meine schon, dass Deutschland als
größtes und wirtschaftlich bedeutendstes Mitgliedsland
der Europäischen Union in diesem Prozess eine der treibenden Kräfte bleiben muss. Wir unterstützen daher - ich
glaube, darüber sind wir uns in diesem Hause einig grundsätzlich die Bemühungen der Europäischen Kommission auf diesem Gebiet.
Sorge bereitet uns allerdings immer noch, dass die
Kommission aus Gründen einer meiner Meinung nach
zweifelhaften Kompromissbereitschaft an Art. 11, also
an den Mehrheitsstimmrechten, festhalten möchte. Ich
halte es für wenig zielführend, dass die Kommission angekündigt hat, sie werde nach fünf Jahren die Umsetzung der Richtlinie überprüfen. In diesem Punkt stimme
ich einmal mit der Bundesregierung überein, dass eine
Überprüfung nach fünf Jahren grundsätzlich nichts an
nachteiligen Auswirkungen insbesondere für die deutschen Unternehmen zu ändern vermag.
({6})
Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass in diesem Zeitraum schon erhebliche Veränderungen zum Nachteil unserer Wirtschaft eingetreten sein könnten. Eine angekündigte Überprüfung nach fünf Jahren bedeutet auch nicht,
dass die betroffenen Länder dann von ihrer heute schon
artikulierten Meinung abgehen werden.
Nach Ansicht der Kommission haben Doppel- und
Mehrfachstimmrechte lediglich eine Bedeutung für die
Unternehmensfinanzierung. Es gäbe demnach keinen
Beweis dafür, dass etwaige negative Auswirkungen auch
im Falle von Unternehmensübernahmen stattfänden.
An dieser Stelle muss noch einmal deutlich festgehalten werden, dass diese Erkenntnis der Kommission ganz
im Gegensatz zu dem steht, was die Kommission selbst
in einem von ihr in Auftrag gegebenen Gutachten vom
10. Januar 2002 veröffentlicht hat, in dem Aktien mit
Doppel- und Mehrstimmrechten eindeutig als Haupthindernis für Übernahmeangebote eingestuft wurden. Der
Kommission ist daher zu empfehlen, auf eine spätere
Überprüfung zu verzichten und den Anregungen der Experten schon heute Folge zu leisten.
({7})
Uns nützt keine Übernahmerichtlinie, deren materieller Teil zwar endlich einen europaweiten Fortschritt mit
sich bringt, aber bewirkt, dass die Unternehmen mit formalen Hindernissen, beispielsweise mit unübersichtlichen Kompetenzzuweisungen bei den Aufsichtsbehörden, mehr Zeit als mit den Übernahmegesprächen selbst
verbringen.
Stefan Müller ({8})
Ich bin damit beim Thema Aufsichtsorgane. Es ist
wichtig, dass sich auch aus dieser Richtlinie eine Vereinfachung ergibt, um einen unnötigen Wirrwarr und unnötige Kompetenzstreitigkeiten bei den Überwachungsbehörden zunichte zu machen. Deswegen bin ich schon der
Meinung, dass die Zuständigkeiten für diese Übernahmen und für die Aufsicht den Aufsichtsbehörden des
Landes, in dem sich das Zielunternehmen befindet, zuzuordnen sind.
({9})
Aus Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion befinden wir uns mit einer einheitlichen Übernahmerichtlinie
auf dem richtigen Weg zur Stärkung eines gemeinsamen
europäischen Binnenmarktes, der uns die Möglichkeit
geben könnte, die Vorteile der Wirtschafts- und Währungsunion für uns voll zu nutzen. Wir fordern die Bundesregierung daher noch einmal nachdrücklich auf, sich
noch deutlicher als bisher für die Belange der deutschen
Unternehmen einzusetzen und alles dafür zu tun, unseren
Firmen auf dem europäischen Markt dieselben Möglichkeiten zu bieten, die ausländische Unternehmen hier bei
uns haben.
Ich danke Ihnen.
({10})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege HansJürgen Uhl, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Lassen Sie mich gleich zu Beginn feststellen:
Der Entwurf für eine EU-Übernahmerichtlinie ist im
Kern unausgewogen und schafft kein Level Playing
Field, also keine fairen, keine gleichen Bedingungen.
Herr Müller, ich kann das, was Sie gesagt haben, nur
bestätigen: Das, was im Augenblick in der Mache ist,
führt nicht zur Waffengleichheit.
({0})
Die Möglichkeiten der Abwehr feindlicher Übernahmen sollen bei Skandinaviern und Deutschen entfallen.
Franzosen und Niederländer sollen Mehrfachstimmrechte und Stiftungslösungen, also ihre nationalen Abwehrinstrumente, behalten.
Auch der zweite Anlauf von EU-Kommissar Bolkestein
schafft keine fairen Wettbewerbsbedingungen, nicht
innerhalb der EU und schon gar nicht gegenüber amerikanischen Unternehmen. Gerade in den USA gibt es eine
Vielzahl von Instrumenten zur Abwehr feindlicher Übernahmen. In den Vereinigten Staaten wird dem Leitungsorgan der Zielgesellschaft ein weiter Spielraum für Abwehrmaßnahmen eingeräumt. Diese variieren von
Bundesstaat zu Bundesstaat zum Teil sehr stark. Das ist
eine weitere Hürde für übernahmewillige Dritte. Tatsache ist: Von den zehn größten Übernahmefällen der letzten Jahre waren sieben transatlantisch. Das zeigt die Bedeutung des Übernahmerechts im Verhältnis zu den
Vereinigten Staaten.
Die Folgen der geplanten EU-Regelung sind schnell zu
beschreiben: Für amerikanische oder auch japanische Unternehmen wäre es ein Leichtes, europäische Konzerne
feindlich zu übernehmen. Umgekehrt wäre dies kaum
möglich. Deshalb meine ich: Die im Entwurf der EUÜbernahmerichtlinie vorgesehenen Art. 9 und Art. 11
sollten ersatzlos gestrichen werden. Damit wäre weiterhin gewährleistet, dass Abwehrmaßnahmen durch Aufsichtsrat und Vorstand beschlossen werden können.
Gleichzeitig wäre dies ein Garant für die Beteiligung der
Arbeitnehmervertreter.
Ziel der Richtlinie muss sein, gleiche Bedingungen zu
schaffen, und dies, ohne in gewachsene und bewährte Industrie- und Unternehmenskulturen einzugreifen. Dies
gilt auch für die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Information, Konsultation und
Mitbestimmung haben in einer Reihe europäischer Länder eine lange Tradition, insbesondere bei uns in
Deutschland. Das gehört zu unserer sozialen Orientierung und zu unserer politischen Demokratie. Fragen wir
uns doch einmal: Wie wären denn struktureller Wandel
und Rationalisierungsprozesse in unserem Land und
auch in manch anderem Land in Europa abgelaufen,
wenn wir nicht tagtäglich die Balance zwischen Kapital
und Arbeit und damit auch die soziale Verantwortung für
Arbeitsplätze und Standortregionen praktizieren müssten?
({1})
Nicht zuletzt aus diesem Grund enthält das deutsche
Übernahmerecht einen Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats bei Verteidigungsmaßnahmen. Mit einer Übertragung des Entscheidungsrechts über Abwehrmaßnahmen auf die Hauptversammlung würde eine Gegenwehr
gefährlich eingeschränkt. Anders gesagt: Wer zu spät
kommt, den bestraft Herr Bolkestein.
Der Brüsseler Entwurf greift mit seiner Stillhaltepflicht in gewachsene und zu Recht bestehende Mitbestimmungsstrukturen ein. Das müssen wir uns einmal
praktisch vorstellen. Da muss ein Unternehmen Tausende Aktionäre innerhalb kürzester Zeit zusammenrufen, um deutlich zu machen, dass man feindlich übernommen werden kann. Die praktischen Probleme sowie
auch die verheerende Wirkung in der Öffentlichkeit und
auf dem Kapitalmarkt können wir uns alle wohl leicht
ausmalen.
Unser nationales deutsches Übernahmerecht ist gut.
Unsere Verteidigungsrechte sind richtig. Es gibt keinen
Grund, das zu ändern. Ebenso wirkungsvolle Verteidigungsmöglichkeiten haben in anderen EU-Staaten Tradition. Warum sollten sie alle so einfach über Bord geworfen werden?
Fragen wir uns weiter: Warum sollen wir denn bewährte industrielle Beziehungen in Deutschland der neoliberalen Ideologie eines EU-Kommissars opfern?
Meine Damen und Herren, wir führen hier keine
akademische Diskussion über abstrakte Modellvorstellungen. Es geht um konkrete Gefahren für deutsche und
europäische Unternehmen und damit um die Frage, ob
betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten auch künftig
mit einer sozialen Verpflichtung für Beschäftigung und
Standortregionen verknüpft werden. Ich frage: Wollen
wir das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes - Eigentum verpflichtet - weiterhin ernst nehmen oder wollen
wir eine Unkultur des Heuerns und Feuerns wie in den
USA? Das sind zwei verschiedene Welten mit unterschiedlichen historischen Bezügen. Das Sozialstaatsmodell Europa ist es wert, meine ich, verteidigt zu werden.
({2})
Weil wir jene Unkultur in Europa nicht wollen, muss die
Chance für eine Balance zwischen Kapital- und Arbeitnehmerinteressen auch weiterhin gewahrt bleiben.
Fakt ist: Große deutsche Industriekonzerne sind potenzielle Übernahmekandidaten. Das wird deutlich,
wenn wir uns den Börsenwert anschauen. Der Börsenwert von Daimler-Chrysler, BMW und Volkswagen mit
zusammen weit über 1 Million Beschäftigten und mit
vielen Standorten in der ganzen Welt liegt unter dem
Börsenwert des Handyherstellers Nokia.
({3})
Das zeigt: Da stimmt die Welt nicht. Die Börsenkapitalisierung von Toyota liegt auch weit über dem gemeinsamen Wert der drei deutschen Automobilkonzerne.
({4})
Deshalb dürfen wir es nicht allein den Kapitalmärkten
überlassen, Entscheidungen über die Zukunft von Industriestandorten in Deutschland und Europa und damit
über das Schicksal von Millionen von Beschäftigten und
ihren Familien zu treffen.
Für uns gilt: Industriepolitik ist Standortpolitik, Beschäftigungspolitik und auch Sozialpolitik. Deshalb
- Herr Ulrich, das sage ich auch an Ihre Adresse - werden wir auch das VW-Gesetz verteidigen. Es wird nicht
fallen. Es muss verteidigt werden, weil es vernünftig
ist.
({5})
Weder Frankreich noch die USA kämen auf die Idee,
ihre nationalen industriepolitischen Positionen aufzugeben. Warum sollten wir das tun? Die volkswirtschaftliche Bedeutung und die Vernunft fordern, dass unsere
großen Industrieunternehmen auch weiterhin aus
Deutschland und nicht aus Detroit, New York oder Tokio
gesteuert werden.
({6})
Darum gehe ich davon aus, dass sich die Bundesregierung bei der kommenden Tagung des Rates deutlich für
eine Lösung stark machen wird, die unsere deutschen
und europäischen Unternehmen wirkungsvoll vor feindlichen Übernahmen schützt.
Vielen Dank fürs Zuhören.
({7})
Herr Kollege Uhl, das war Ihre erste Rede in diesem
Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich und
wünsche Ihnen persönlich und politisch alles Gute.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/539 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung über den Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-
päischen Parlaments und des Rates betreffend
Übernahmeangebote, Drucksache 15/606. Der Aus-
schuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch
die Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Bundeseinheitliche Praxis bei der Einbürgerung von Unionsbürgern herstellen - Hindernisse beseitigen
- Drucksache 15/762 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Gisela Piltz, Dr. Max Stadler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Umsetzung der deutsch-französischen Initiative zur Gewährung einer doppelten Staatsangehörigkeit
- Drucksache 15/362 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Sebastian Edathy, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Für die heutige Debatte gibt es einen einfachen und zugleich gewichtigen Grund: Als Bundesparlament haben
wir neben der Schaffung von Bundesrecht auch die Aufgabe, auf seine einheitliche Umsetzung zu achten. Insbesondere dann, wenn die Ausführung geltenden Rechtes
mit erheblichen Folgen für Bürgerinnen und Bürger verbunden ist, müssen, egal ob in Kiel oder München, gleiche Kriterien gelten.
Im Rahmen der Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechtes im Jahre 1999 hat der Bundestag nicht
zuletzt einen wesentlichen Beitrag zur Förderung des
Kerngedankens der Europäischen Union, nämlich zum
Erreichen des Ziels einer weitgehenden rechtlichen
Gleichstellung geleistet. Im Ausländerrecht ist seitdem
Folgendes festgeschrieben: Wir verzichten bei der Einbürgerung von Staatsangehörigen anderer EU-Länder auf die Abgabe ihrer bisherigen Staatsangehörigkeit,
wenn in dieser Hinsicht seitens des Herkunftslandes
ebenso verfahren wird.
({0})
Dieser Wille des Gesetzgebers findet sich auch in der
Gesetzesbegründung, in der festgehalten wird, es gebe in
diesen Fällen ein
fehlendes öffentliches Interesse an der Vermeidung
von Mehrstaatigkeit.
Wörtlich heißt es dort weiter:
Bei Ausländern, die Staatsangehörige eines anderen
Mitgliedstaats der Europäischen Union sind, besteht bereits eine weitgehende Inländergleichbehandlung. Das Interesse am Erwerb der deutschen
Staatsangehörigkeit unter Aufgabe der bisherigen
ist daher für EU-Ausländer gering, woraus sehr
niedrige Einbürgerungsquoten resultieren. Im Hinblick auf das Ziel der europäischen Integration soll
der Anreiz zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit dadurch verstärkt werden, dass der
Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit
nicht gilt, wenn Gegenseitigkeit besteht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist doch ganz
eindeutig: Wer das Zusammenwachsen Europas befördern will und zudem will, dass auf Dauer in Deutschland
lebende EU-Bürger unbürokratisch die Möglichkeit zur
rechtlichen Gleichstellung erhalten sollen, der muss sie
in der Gemeinschaft der deutschen Staatsbürger willkommen heißen, ohne ihnen den Verzicht auf die bisherige Staatsangehörigkeit abzuverlangen.
({1})
Das ist, wenn ihr Herkunftsstaat mit deutschen Staatsangehörigen ebenso verfährt, nicht nur so gewollt, sondern
geltendes Recht.
Freilich - das ist der Grund für diese Debatte scheint das Wissen um diese Tatsachen in manchen, vor
allem wohl süddeutschen Amtsstuben noch nicht hinreichend verbreitet zu sein.
({2})
Insbesondere in Bayern ist leider entgegen den gesetzlichen Bestimmungen
({3})
einbürgerungswilligen EU-Bürgern die Beibehaltung ihrer Staatsangehörigkeit verweigert worden. Dies ist nicht
nur völlig unverständlich, sondern ein Unding.
({4})
Inzwischen liegen zahlreiche Fälle unzutreffender
Auslegungen des § 87 Abs. 2 des geltenden Ausländergesetzes vor, in dem genau diese Hinnahme von Mehrstaatigkeit bei EU-Bürgern, mit deren Ländern Gegenseitigkeit für deutsche Staatsangehörige besteht, geregelt
ist. Dies hat nicht zuletzt zu diplomatischen Beschwerden seitens einiger Herkunftstaaten geführt. Deshalb ist
an dieser Stelle im Deutschen Bundestag die Anmahnung einer einheitlichen Anwendung des Bundesrechtes durch die Behörden der Bundesländer dringend geboten.
({5})
Es ist nicht akzeptabel, dass Antragsteller in ein anderes
Bundesland ziehen müssen, um einen vom Bundesgesetzgeber eingeräumten Anspruch geltend machen zu
können.
({6})
So hat in der letzten Woche der Bayerische Verwaltungsgerichthof entscheiden müssen, dass ein griechischer
EU-Bürger mit seinem Begehren, bei der Einbürgerung
seine griechische Staatsangehörigkeit beibehalten zu
können, Recht hatte. Dies war ihm zuvor von bayerischen Behörden verweigert worden.
({7})
Eigentlich könnte man sagen, die Staatsregierung in
München sollte froh sein über jeden, der freiwillig ein
Bayer werden will. Aber ganz im Ernst: Man kann doch
wohl mindestens erwarten, dass geltendes deutsches
Recht auch in Bayern zur Anwendung kommt.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf Bundesebene ist
der Weg zu einer menschennahen Einbürgerungspolitik
nicht mit dem Beschluss des neuen Staatsangehörigkeitsrechts beendet worden.
({9})
Bis Ende des letzten Jahres galt aus deutscher Sicht die
wechselseitige Hinnahme von Mehrstaatigkeit innerhalb
der Europäischen Union für Griechenland, Großbritannien, Irland und Portugal sowie eingeschränkt für die
Niederlande.
In der deutsch-französischen Erklärung zum
40. Jahrestag des Élysée-Vertrages Anfang dieses Jahres
haben Staatspräsident Chirac und
„Wir müssen unseren
Bürgerinnen und Bürgern auch die Staatsbürgerschaft
beider Länder ermöglichen, soweit sie das wünschen.“
Aus diesem Grund ist die SPD-Bundestagsfraktion
der Bundesregierung dankbar, dass sie das vor 40 Jahren
entstandene Europaratsübereinkommen über die Verringerung der Mehrstaatigkeit aufgekündigt hat. Seitdem
besteht die wechselseitige Möglichkeit des Beibehalts
der bisherigen Staatsangehörigkeit
({0})
auch mit Blick auf Frankreich, Belgien, Italien und
Schweden. Derzeit erfüllen nur noch fünf der 14 anderen
EU-Mitgliedstaaten die entsprechenden Voraussetzungen nicht. Dies sind Dänemark, Finnland, Luxemburg,
Österreich und Spanien.
({1})
Ich hoffe namens meiner Fraktion, dass bald auch in diesen fünf Ländern bei dortigen Einbürgerungen von Deutschen die Möglichkeit zur Beibehaltung der deutschen
Staatsangehörigkeit geschaffen wird und damit umgekehrt auch bei uns.
Es war übrigens - das sage ich an die Reihen der
CDU/CSU-Fraktion gewandt - der CDU-Abgeordnete
Herbert Czaja, der vor 50 Jahren in einer Bundestagsdebatte Folgendes beklagte:
Eine doppelte Staatsangehörigkeit, etwa die deutsche und die österreichische, ist unmöglich. ... Und
das in der Zeit des Sich-Näherkommens der europäischen Völker!
Eine noch immer durchaus aktuelle Aussage!
1953 sagte Carlo Schmid in derselben Debatte für die
SPD-Fraktion:
Wenn wir ein enges, ein etatistisches, nur vom
Staate aus gesehenes Staatsangehörigkeitsrecht haben, werden wir versucht sein, auch in den Beziehungen von Staat zu Staat und von Volk zu Volk
exklusiv zu denken. Haben wir aber ein individualistisches, das heißt weltbürgerliches Staatsangehörigkeitsrecht, dann werden wir auch in den Beziehungen von Staat zu Staat leichter gesinnt sein,
weltbürgerlich zu denken.
({2})
Und fängt nicht jedes weltbürgerliche Denken - und
das heißt doch auf unserem Kontinent: europäisches Denken - damit an, dass man es für möglich
hält, dass einer mehrere Staatsangehörigkeiten besitzen kann?
Meine Damen und Herren, Carlo Schmid hatte Recht.
Genau davon, von der Orientierung am Menschen, ist
das neue Staatsbürgerschaftsrecht in Deutschland geprägt.
({3})
Mit dem vorliegenden Antrag der Koalition bekräftigen und fordern wir zweierlei:
Erstens. Wir fordern Bundesregierung und Bundesländer auf, dafür zu sorgen, dass die zuständigen deutschen Verwaltungsstellen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit bei der Einbürgerung von Unionsbürgern der
Beibehaltung der bisherigen Staatsangehörigkeit unbürokratisch zustimmen, so wie das im Ausländergesetz
vorgesehen ist.
Zweitens. Im Staatsangehörigkeitgesetz - auch das ist
uns sehr wichtig - ist die Möglichkeit vorgesehen, dass
von unseren Behörden deutschen Bürgern, die sich in einem anderen Land einbürgern lassen wollen, die Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit gestattet
werden kann. Unser Antrag fordert, dass diese Beibehaltungsgenehmigung bei der Einbürgerung Deutscher in
anderen EU-Staaten generell ermöglicht wird.
({4})
- Herr Geis, ich wundere mich, dass Sie einen so progressiven Vorschlag machen, aber ich werde Sie beim
Wort nehmen. Ich lade alle herzlich ein, diese Debatte
miteinander zu führen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 1913 hat der SPDAbgeordnete Otto Landsberg im Reichstag folgende
Frage gestellt: „Sind denn die Menschen der Gesetze
und der Verträge wegen da oder umgekehrt die Gesetze
und Verträge der Menschen wegen?“
({5})
- Das ist keine Phrase, das ist Bestandteil einer demokratischen und menschennahen Politik, Herr Geis. Wir
machen Gesetze für die Menschen.
({6})
- Selbst für Herrn Grindel, auch wenn es manchmal
schwer fällt.
Die Antwort der Koalition auf die Frage von Otto
Landsberg ist eindeutig: Für uns steht der Mensch im
Mittelpunkt. Ich würde es begrüßen, wenn sich im
Zuge der anstehenden Beratungen im Innenausschuss
auch die zwei übrigen Fraktionen dem Antrag der Koalition anschließen würden. Denn hier geht es nicht
um eine Frage, die wir zum Gegenstand von Parteienstreit machen sollten. Hier geht es darum, als Gesetzgeber deutlich zu machen, dass Deutschland ein modernes, ein liberales und nicht zuletzt ein europäisches
Land ist.
({7})
Ich hätte eigentlich noch zwei Minuten Redezeit. Frau
Präsidentin, vielleicht kann mir diese Zeit bei der nächsten Rede angerechnet werden.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({8})
Herr Kollege Edathy, das wird nicht funktionieren.
Ich denke aber, die Kolleginnen und Kollegen sind dankbar, wenn ein Thema in kürzerer Zeit abgehandelt wird.
Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Staatsbürgerschaftsrecht ist keine kleine
Münze. Es ist in einer Demokratie wichtig, dass klar abgrenzbar ist, wer zum Staatsvolk gehört und wer nicht.
Dass unser Staatsangehörigkeitsrecht so kompliziert ist
und dass jede zweite Einbürgerung mittlerweile unter
Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft erfolgt
- das bedeutet, es gibt nur eine halbe Hinwendung zu
unserem Staatswesen -,
({0})
bleibt ein großes Problem und zeigt, wie richtig es war
und ist, dass CDU und CSU das rot-grüne Staatsbürgerschaftsrecht abgelehnt haben.
({1})
Otto Schily hat bei der Verabschiedung des neuen
Staatsangehörigkeitsrechts 1999 - Herr Edathy, Ihre Zitate reichen sehr weit zurück; deshalb zitiere ich eine
Aussage, die erst vier Jahre zurückliegt - beteuert: Die
Herbeiführung möglichst vieler doppelter Staatsbürgerschaften ist nicht unser Ziel. - Die Wirklichkeit sieht
heute anders aus.
CDU und CSU haben damals auch die doppelte
Staatsbürgerschaft für EU-Bürger kritisch gesehen, weil
mehrere Pässe eben nicht Ausdruck für besondere europäische Integration sind. Wenn das richtig wäre, Herr
Edathy, dann wäre Otto von Habsburg, der drei Staatsangehörigkeiten besitzt, auch ein dreimal so guter Europäer
wie Joschka Fischer. - Ich wundere mich, dass jetzt nicht
der Zwischenruf von den Grünen kommt: Da haben Sie
völlig Recht. - Eine doppelte Staatsbürgerschaft schafft
doppelte Loyalitäten. Das wollen wir nicht.
({2})
Eine verbesserte EU-Staatsbürgerschaft könnte in dieser Frage Klarheit schaffen. Wir werden abwarten, welches Ergebnis die Beratungen im Konvent hervorbringen.
Nun zu den beiden vorliegenden Anträgen im Einzelnen.
Der FDP-Antrag ist unserer Auffassung nach überflüssig. Durch die Kündigung des Übereinkommens
des Europarats zur Verringerung der Mehrstaatigkeit durch Deutschland hat dieses Abkommen zwischen
Deutschland und Frankreich tatsächlich keine Wirkung
mehr. Franzosen werden in Deutschland eingebürgert,
ohne dass sie ihre alte Staatsbürgerschaft aufgeben müssen, und umgekehrt. Mit Ausnahme von Bayern und Baden-Württemberg gehen alle Bundesländer davon aus,
dass insoweit Gegenseitigkeit im Sinne des § 87 Abs. 2
Ausländergesetz gegeben ist. Über dieses Problem der
Gegenseitigkeit gibt es in der Tat unterschiedliche Auslegungen und auch Gerichtsentscheidungen. Mein Kollege Nobert Geis wird dazu noch das Notwendige sagen.
Herr Burgbacher, da Sie diese baden-württembergische Praxis nicht für richtig halten, möchte ich Sie daran
erinnern, dass die FDP an der baden-württembergischen
Landesregierung beteiligt ist. In Stuttgart rechts blinken
und hier in Berlin links abbiegen ist kein klarer Kurs.
Das finde ich nicht richtig.
Auch der Antrag von SPD und Grünen zielt auf Bayern und Baden-Württemberg und auf den Abbau weiterer bürokratischer Hemmnisse. Was Sie damit eigentlich
meinen, Herr Edathy, ist hier völlig nebulös geblieben.
Wahrscheinlich wollen Sie damit das so genannte
Gegenseitigkeitserfordernis infrage stellen. Unabhängig von der Auslegung des § 87 Abs. 2 bleibt eines festzuhalten: Wenn man praktisch alle EU-Bürger zu doppelten Staatsbürgern machen würde, dann wäre das eben
nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Ihnen geht
es um zusätzliche Mehrstaatigkeit. Genau das wollen wir
nicht; wir sind dagegen.
({3})
Man muss sich doch folgende Fragen stellen: Was ist
nach der Osterweiterung?
({4})
Was ist zum Beispiel im Falle eines EU-Beitritts der
Türkei? Wer so freigebig mit der Staatsbürgerschaft umgeht, der hat nicht begriffen, dass Integration etwas mit
gemeinsamer Sprache, mit schulischem und kulturellem
Miteinander und mit der Achtung von Gesetzen zu tun
hat, aber nicht - das wäre viel zu billig - mit dem Doppelpass.
({5})
Integration ist viel mehr, Herr Edathy.
({6})
Es muss auch erlaubt sein, darauf hinzuweisen, welche Konsequenzen der Doppelpass im Bereich der Bekämpfung von Kriminalität hätte. Ein Angehöriger der
Mafia, der den Doppelpass besitzt, kann eben nicht abgeschoben werden. Für Ihren Antrag werden sich die Sicherheitsbehörden schwer bedanken.
({7})
In Ziffer 3 des Antrages von SPD und Grünen wird
von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Fünf EUStaaten, nämlich Spanien, Finnland, Dänemark, Österreich und Luxemburg, lassen Mehrstaatigkeit grundsätzlich nicht zu. Da läuft Ihr Antrag sozusagen wegen Unmöglichkeit ins Leere.
Ich will aber auch sagen - denn Sie, Herr Edathy, haben das angesprochen -, dass wir als CDU/CSU nicht
bereit sind, auf die Beibehaltungsgenehmigung zu verzichten, weil es im Falle der Annahme einer neuen
Staatsangehörigkeit schon richtig ist, den deutschen
Staatsbürger an seine Bindungen an Deutschland zu erinnern.
Problematisch ist in diesem Zusammenhang übrigens
schon, dass es nach Ihrer Auffassung zwar den deutschfranzösischen Doppelpass geben soll, es aber wegen
der geschilderten Rechtslage keinen Doppelpass im Hinblick auf Österreich, Spanien oder Dänemark geben
kann. Hier schaffen Sie Europäer erster und zweiter Ordnung. Genau das sollte man nicht tun. Deshalb ist es
richtig, auf eine einheitliche EU-Staatsbürgerschaft zu
warten.
Herr Kollege Grindel, darf ich Sie einmal unterbrechen: Der Herr Kollege Edathy möchte eine Zwischenfrage stellen.
Ich möchte im Zusammenhang vortragen.
Was steckt also in Wahrheit hinter dem Antrag von
SPD und Grünen? Es geht Ihnen nicht um Integration.
Es geht Ihnen schon gar nicht um Europa. Es geht Ihnen
darum, mit allen Mitteln sicherzustellen und alle Hebel
in Bewegung zu setzen, dass es künftig wieder mehr in
der Wahlkasse klingelt.
({0})
Weil Ihnen die alten sozialdemokratischen Wähler weglaufen, weil Fritz, Willi und Jupp längst CDU wählen,
sollen das jetzt Pierre, Pjotr und Hassan ausgleichen. Mit
uns ist das nicht zu machen!
({1})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Marieluise Beck.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich erinnere mich noch an die Zeiten, in denen wir hier
die großen politischen Schlammschlachten um den Doppelpass geführt haben
({0})
und Herr Stoiber aus Bayern äußerte, die doppelte
Staatsbürgerschaft sei gefährlicher als die RAF.
Nun kann man drei Jahre nach der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts vielleicht feststellen, dass das
Abendland und auch Deutschland nicht untergegangen
sind.
({1})
Ich hatte eigentlich gehofft, dass wir heute etwas gelassener über diesen Sachverhalt sprechen können. Aber es
scheint immer noch so zu sein, dass Sie sich - im Süden
noch mehr -, wenn es um europapolitische Offenheit
geht, ungeheuerlich schwer tun. Ich bin da allerdings
ganz ruhig. Ich gehe davon aus, dass die Gerichte den
Ländern Baden-Württemberg und Bayern schon zeigen
werden, was Bundestreue bedeutet. Ich bin mir ganz sicher: Da die Rechtslage so eindeutig ist, wird die Frage
des Doppelpasses für EU-Bürger auf dem Prinzip der
Gegenseitigkeit, wenn sie nicht politisch entschieden
wird, eben durch die Gerichte geklärt. Das ist nicht
schön für die Politik. Aber das scheint in diesem Fall unumgänglich zu sein.
({2})
Nun zu dem großen Popanz, den Sie in Bezug auf die
Frage der Mehrstaatigkeit aufbauen. Wir haben in der
Tat in den Jahren 2000 und 2001 eine hohe Zahl von
Einbürgerungen unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit
gehabt, und zwar bei etwa 40 Prozent der Einbürgerungen. Das hatte damit zu tun, dass wir Einbürgerungen
von Kindern im Alter von null bis zehn Jahren vorgenommen haben, dass wir viele Altfälle aufgearbeitet haben und dass wir gerade in den Jahren 2000 und 2001
eine große Zahl von anerkannten Asylbewerbern, denen
nicht zugemutet wird, zu dem Konsulat ihrer Verfolger
zu gehen und dort ihre Staatsbürgerschaft aufzukündigen, eingebürgert haben, sodass man sagen kann: Für
viele Menschen ist hier in Deutschland die Tür dafür geöffnet worden, nicht nur Bewohner, sondern auch Bürger
zu sein.
({3})
- Das hat sehr viel mit der Frage der Hinnahme von
Mehrstaatigkeit zu tun; ich habe Ihnen das gerade erklärt. Zum Glück sind es auch immer wieder Anwälte
aus der Union, gerade aus Ihren Reihen, gewesen, die
Iraner vertreten und gesagt haben: Könnt ihr uns nicht
helfen? Seit fünf oder sieben Jahren betreuen sie Klienten, die vergeblich versuchen, aus der iranischen Staatsbürgerschaft entlassen zu werden. Jeder weiß, dass es
keine Entlassung geben wird. Trotzdem trietzten die
Behörden diese Menschen weiter und aufgrund der
Halsstarrigkeit der Behörden gab es keine Einbürgerung
in Deutschland.
({4})
- Diese Menschen sind auch so genannte Doppelstaater.
Sie haben offensichtlich Probleme, sich mit modernen
Entwicklungen auseinander zu setzen. In Deutschland
gibt es inzwischen 700 000 Kinder aus binationalen Familien, die Doppelstaater sind, weil sie in Deutschland
geboren wurden. Die Anzahl dieser Kinder wächst Jahr
für Jahr, weil die Anzahl der binationalen Verbindungen
wächst. Die Menschen sind nämlich deutlich kosmopolitischer als Sie von der Union. Sie scheren sich überhaupt
nicht um die von Ihnen aufgeworfenen Loyalitätsfragen.
Die Grenzen sind nicht nur für die Waren, sondern
auch für die Menschen offen. Die Zahl der Menschen,
die grenzüberschreitende Verbindungen eingehen, Ehen
schließen und Kinder bekommen, nimmt zu. Alle Kinder
aus diesen Verbindungen haben einen Doppelpass. Ich
halte es für irrwitzig, davon zu sprechen, dass diese Kinder nur eine halbe Hinwendung zu Deutschland hätten
und nur halb loyal sein könnten. Was Sie sagen, ist einfach Unsinn.
({5})
Ich möchte einen weiteren Punkt aufgreifen. Die
Doppelbödigkeit, die in dieser Debatte zum Ausdruck
kommt, ärgert mich ausgesprochen stark. Bitte gehen Sie
einmal darauf ein, weshalb Sie 1,2 Millionen Spätaussiedlern die deutsche Staatsbürgerschaft unter Beibehaltung ihrer russischen oder polnischen Staatsbürgerschaft
ermöglicht haben.
({6})
Ich habe damit nie ein Problem gehabt. Sie müssen nur
beides mit gleicher Elle messen:
({7})
Bei dem einen von geteilter Loyalität zu sprechen und
bei dem anderen nicht, geht nicht.
({8})
Hier geht es um einen deutsch-französischen Vorschlag. In Deutschland leben 112 000 Franzosen und
150 000 Deutsche leben in Frankreich. Das ist ein Stück
Grenzüberschreitung. Sie sollten sich gegenseitig Bürgerrechte einräumen. Das ist ein weiterer Schritt auf dem
Weg des zusammenwachsenden Europas.
({9})
Eines fernen Tages werden wir dann vielleicht einmal
eine europäische Staatsbürgerschaft haben.
({10})
Die rechtlichen Grundlagen sind nach der Reform des
Staatsbürgerschaftsrechts eindeutig: Innerhalb der Europäischen Union ist bei Gegenseitigkeit Mehrstaatigkeit
hinzunehmen. Bayern und Baden-Württemberg werden
sich gegen solche Entwicklungen noch einige Zeit sträuben können. Da Deutschland aber ein Rechtsstaat ist,
wird das sicherlich bald ein Ende haben.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Burgbacher,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Staatssekretärin Beck, ich beginne da, wo
Sie aufgehört haben. Es ist völlig richtig - darauf zielt
unser Antrag -: Wir wollen die doppelte Staatsangehörigkeit für Deutsche und Franzosen. Das, was in der
Gemeinsamen deutsch-französischen Erklärung zum
40. Jahrestag des Élysée-Vertrags stand, soll umgesetzt werden. Ich zitiere:
Wir müssen unseren Bürgerinnen und Bürgern auch
die Staatsbürgerschaft beider Länder ermöglichen.
Das heißt, dass es heute noch nicht so ist. Herr Edathy,
Sie müssen den bestehenden Rechtszustand korrekt
wahrnehmen.
({0})
- Seither ist überhaupt nichts geändert worden.
Die Bundesrepublik Deutschland hat den Vertrag gekündigt - das ist völlig richtig -, allerdings schon lange
vorher. Frankreich - ich habe mich bei der Botschaft
heute noch einmal erkundigt - hat diesen Vertrag noch
nicht gekündigt.
({1})
- Nein. - Deshalb gilt er für Frankreich formal nach wie
vor.
Der gegenwärtige Zustand ist wie folgt: Einige Länder akzeptieren das, gewähren aber keinen einklagbaren
Rechtsanspruch auf die Doppelstaatsangehörigkeit. Das
ist zum Beispiel bei Frankreich der Fall. Deshalb halten
wir es für richtig, hier einen rechtlich einwandfreien ZuErnst Burgbacher
stand herzustellen. Darum geht es uns mit unserem Antrag.
({2})
Ich sage auch ganz deutlich an die Kollegen von CDU/
CSU gerichtet: Wir wollen, dass Deutsche und Franzosen
beide Staatsangehörigkeiten bekommen können
({3})
- Frau Staatssekretärin, Sie haben die Zahlen genannt,
wie viele im jeweils anderen Land leben -; denn das ist
bedeutsam für die deutsch-französische Freundschaft
und das wollen wir auch dokumentieren.
Herr Edathy, wir lehnen Ihren Antrag gar nicht von
vornherein ab. Wir werden ihn im Ausschuss sehr offen
diskutieren. Wir haben im Grunde das gleiche Ziel, haben aber unterschiedliche Ansichten hinsichtlich des augenblicklich herrschenden Rechtszustands. Wir sollten
im Ausschuss ganz sachlich und ohne große Polemik
({4})
darangehen, die geltende Rechtslage zu klären.
Im Staatsangehörigkeitsrecht, dem die FDP zugestimmt hat, steht sehr deutlich: Hinnahme doppelter
Staatsangehörigkeit auf Gegenseitigkeit. Gegenseitigkeit kann aber nicht heißen, dass dies in dem einen Land
geduldet wird und in dem anderen nicht.
({5})
Gegenseitigkeit muss ein rechtlich einwandfreier Zustand sein. Darauf legen wir Wert.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie und auch die
Kolleginnen und Kollegen von der Union ganz herzlich,
keinen falschen Zungenschlag in die Diskussion zu bringen. Wir sind in Europa zum Glück ein ganzes Stück
weiter. In der europäischen Verfassung haben wir bereits
die europäische Staatsangehörigkeit verankert. Angesichts der engen Beziehungen zwischen Deutschland
und Frankreich halte ich es für eine Selbstverständlichkeit, dass der Franzose, der bei uns lebt, die deutsche
Staatsangehörigkeit und damit auch das Wahlrecht bekommt und umgekehrt für den Deutschen in Frankreich
das Gleiche gilt.
Wir sollten hier keine alten Diskussionen und Vorurteile aus der Schublade holen, sondern offen darangehen,
die rechtlichen Voraussetzungen zu prüfen. Ich denke,
dass wir am Schluss zu einer gemeinsamen Lösung im
Sinne der Menschen in unserem Land kommen können.
Herzlichen Dank.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich kann an die Rede von Herrn
Burgbacher anknüpfen. Wir wollen ebenfalls, dass
§ 87 Abs. 2 Ausländergesetz, nach dem die Erlangung
der doppelten Staatsangehörigkeit für Bürger der EU
möglich ist, auch zwischen Deutschland und Frankreich
Geltung haben soll, aber unter der Voraussetzung der
Gegenseitigkeit, wie es im Gesetz steht. Diese Voraussetzungen sind nach meiner Auffassung - das haben Sie
auch angedeutet - heute noch nicht gegeben. Ich möchte
auch ausführen, warum ich der Auffassung bin, dass
diese Voraussetzungen heute noch nicht vorliegen.
Lassen Sie mich aber nun zum Antrag der SPD kommen. Mit dem Ansatz der FDP kann man sich sehr wohl
auseinander setzen. Im Antrag der SPD dagegen geht es
darum, die doppelte Staatsangehörigkeit generell einzuführen. - Das wollten Sie immer; Frau Beck hat es eben
auch gesagt. - Dieses Ziel ist bereits Inhalt des ersten
Koalitionsvertrages zwischen SPD und Grünen vom
22. Oktober 1998. Das kam auch in dem ersten Entwurf
des Staatsangehörigkeitsrechts vom 13. Januar 1999
zum Ausdruck. Erst aufgrund der Unterschriftenaktion
und des Wahlausgangs in Hessen - es ist gut, wenn man
daran einmal erinnern darf - sind Sie zu der Überzeugung gekommen, dass das so nicht geht. Damit blieb es
bei dem Grundsatz der Vermeidung der doppelten
Staatsangehörigkeit. Sie haben es eingesehen und sich
eines Besseren belehren lassen.
Aber in Ihrem heutigen und jetzt zu diskutierenden
Antrag beginnen Sie wieder mit dem alten Spiel. Sie
wollen - Frau Beck, in Ihrem Redebeitrag haben Sie genau das Gleiche gesagt - im Grunde die doppelte Staatsangehörigkeit generell einführen.
({0})
Dabei machen wir nicht mit, weil wir der Meinung sind,
dass die Staatsangehörigkeit Ausdruck einer besonderen
Bindung des einzelnen Mitgliedes des jeweiligen Volkes
zu seinem Staat ist. Deswegen gibt es die Staatsangehörigkeit überhaupt. Es gibt eine Loyalität des Staatsbürgers gegenüber seiner Staatsregierung, gegenüber seinem Staat.
Herr Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Edathy?
Bitte sehr.
Herr Kollege Geis, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass Gegenstand des vorliegenden Antrages von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen im ersten Punkt ist, dass
wir die Wahrung geltenden Rechtes im Verwaltungsvollzug der Länder sichern wollen? Es geht um nicht mehr
und nicht weniger, als § 87 Abs. 2 des Ausländergesetzes,
der beschlossen ist, auch mit Leben zu füllen.
Sind Sie außerdem bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass wir im zweiten Punkt etwas fordern, das gerade bei
CDU und CSU auf Sympathie stoßen müsste? Wir wollen
nämlich verstärkt darauf achten, dass Deutsche, die sich
in anderen EU-Staaten, die bislang nicht die Mehrstaatigkeit akzeptieren, einbürgern lassen wollen, jedenfalls
nicht aufgrund deutscher Verwaltungsentscheidungen gezwungen werden, die deutsche Staatsangehörigkeit aufzugeben.
Dann hätten Sie eigentlich einen Vorschlag für eine
entsprechende Gesetzesänderung vorlegen müssen, bevor Sie Ihren Antrag gestellt haben. Sie können diesen
Antrag doch nicht losgelöst sehen von Ihrer übrigen
Politik im Bereich der Staatsangehörigkeit und des Ausländerrechts.
({0})
Es gibt genug Beispiele dafür, dass Sie die doppelte
Staatsangehörigkeit nicht nur erleichtern, sondern prinzipiell ermöglichen wollen. Sie wollen prinzipiell jedem,
der nach Deutschland kommt, die doppelte Staatsangehörigkeit anbieten.
({1})
Sie können diesen Antrag nicht von Ihrer Politik loslösen. Wenn Sie mir das nicht abnehmen, bitte ich Sie: Lesen Sie Ihren Koalitionsvertrag vom 22. Oktober 1998!
({2})
Lesen Sie Ihren ersten Entwurf zum Staatsangehörigkeitsrecht und lesen Sie die Begründung des Antrages,
über den wir heute debattieren! Dann werden Sie mir
Recht geben müssen. Es ist so; das halten wir fest. Aber
wir wollen das nicht.
({3})
- Ich weiß ja, dass Sie sich jetzt dagegen wehren. Aber
verhalten Sie sich doch danach. Sie wollen im Prinzip
nicht nur die Erleichterung der doppelten Staatsangehörigkeit, sondern Sie wollen sie generell ermöglichen. Dagegen wehren wir uns, weil wir glauben, dass das mit
dem deutschen Staatsangehörigkeitsrecht und mit unserem Demokratieverständnis nicht vereinbar ist.
({4})
Demokratie setzt das Volk voraus. Demokratie ist
nicht die Herrschaft der Bevölkerung, sondern die Herrschaft des Volkes.
({5})
Das Volk bildet seinen Willen durch die Demokratie. Sie
können sich als parlamentarische repräsentative Demokratie nicht einfach über das Volk hinwegsetzen, von
dem Sie Ihre Legitimation beziehen. Das ist ein wichtiger Gedanke, den Sie einmal beherzigen sollten.
Wir dürfen und müssen an der deutschen Staatsangehörigkeit festhalten. Deswegen ist es erforderlich, dass
wir die doppelte Staatsangehörigkeit nicht in einem solchen Ausmaß zulassen, wie Sie es gern haben möchten.
({6})
Die doppelte Staatsangehörigkeit schafft nun einmal
Loyalitätskonflikte. Die Aufspaltung in Nur-Deutsche,
die auf Gedeih und Verderb mit Deutschland und mit
dem Schicksal des deutschen Volkes verbunden sind,
und in Auch-Deutsche mit einer zweiten Staatsangehörigkeit, die gehen können, wenn es brenzlig wird, hält
auf Dauer kein Volk und keine Gesellschaft aus. Deswegen müssen wir daran festhalten.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme
auf das zurück, was Herr Burgbacher gesagt hat. Wir
sind für die Durchsetzung des § 87 Abs. 2 Ausländergesetz. § 87 Abs. 2 Ausländergesetz ist aber eine Ausnahme von der Regel. § 85 ist die Regel, die besagt, dass
derjenige, der die deutsche Staatsangehörigkeit anstrebt,
sie nur erlangen kann, wenn er die alte Staatsangehörigkeit, seine Herkunftsstaatsangehörigkeit, aufgibt.
({8})
§ 87 macht davon eine Ausnahme; das ist richtig. In § 87
Abs. 2 heißt es: Ein EU-Bürger kann die deutsche
Staatsangehörigkeit erwerben und seine alte Staatsangehörigkeit beibehalten, wenn Gegenseitigkeit verbürgt ist.
({9})
Diese Gegenseitigkeit haben wir im Verhältnis von
Deutschland zu anderen EU-Ländern noch nicht. Unter
Gegenseitigkeit verstehe ich Gleichwertigkeit. Das
heißt, dass ein Deutscher, der im Ausland die ausländische Staatsangehörigkeit anstrebt, dort genauso schwere
oder leichte Voraussetzungen haben muss wie ein Ausländer in Deutschland. Das ist aber nicht der Fall. In
Deutschland ist es so, dass, wenn alle gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, ein Anspruch auf Einbürgerung besteht.
({10})
In allen anderen EU-Ländern wird eine Ermessensentscheidung getroffen. Das ist ein wesentlicher Unterschied. In manchen Ländern, zum Beispiel in Frankreich, besteht noch nicht einmal die Möglichkeit,
Rechtsmittel einzulegen, wenn die Ermessensentscheidung abschlägig ist.
Aus diesem Grund sind wir der Meinung, dass eine
Gegenseitigkeit noch nicht gegeben ist. Es muss unser
Bestreben sein, zu dieser Gegenseitigkeit zu kommen.
Dazu müssen bilaterale Verträge geschlossen werden
und § 25 des Staatsangehörigkeitsrechts, der vorsieht,
dass derjenige die deutsche Staatsangehörigkeit verliert,
der eine fremde Staatsangehörigkeit annimmt, muss geändert werden.
({11})
Das alles ist bis jetzt noch nicht geschehen. Deswegen
ist die Haltung von Bayern und Baden-Württemberg völlig korrekt und rechtens.
Danke schön.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/762 und 15/362 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Rainer Funke, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Statistiken reduzieren - Unternehmen entlasten - Bürokratie abbauen
- Drucksache 15/752 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten Redezeit erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Birgit Homburger, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben heute erneut die Möglichkeit, über einen Antrag zum Bürokratieabbau zu debattieren. Dieser wird
heute von der FDP-Bundestagsfraktion eingebracht.
({0})
Im Statistischen Bundesamt sind 2 800 Mitarbeiter
beschäftigt, die jährlich circa 350 Bundesstatistiken erstellen. Dafür stellt der Bund ungefähr 500 Millionen
Euro an Steuermitteln zur Verfügung.
({1})
Für jede einzelne Statistik gibt es darüber hinaus - auch
das muss man wissen - eine eigene Rechtsgrundlage. Da
kann ich nur sagen: Willkommen im Bürokratietollhaus
Deutschland!
({2})
Deswegen hat die FDP-Bundestagsfraktion dieses
Thema aufgegriffen.
Wir haben, wie Sie wissen, auch eine Initiative dazu
gestartet und eine Homepage unter www.wirmachenseinfacher.de eingerichtet.
({3})
Viele Bürgerinnen und Bürger haben uns hier in den letzten Wochen und Monaten Vorschläge unterbreitet. Eines
der Themen, das immer wieder genannt wurde - das
muss man zur Kenntnis nehmen -, war das Statistikunwesen in Deutschland. Es ist also vollkommen richtig,
dass wir das Thema aufgegriffen haben, uns vorgenommen haben, mit diesem Antrag die Zahl der Statistiken
zu reduzieren, und
({4})
die Bundesregierung aufgefordert haben, entsprechend
tätig zu werden.
({5})
An Ihrer Stelle würde ich mich darüber nicht aufregen
und ständig Zurufe machen; denn es ist kein unanständiges Anliegen.
({6})
Auch Ihr Minister Clement hat ganz klar gesagt, dass er
Bürokratie abbauen will.
({7})
Er hat im vergangenen Jahr vollmundig angekündigt,
dass er die Pflichten zum Abfassen statistischer Berichte
überprüfen wolle und die Wirtschaft davon spürbar entlasten wolle. Es hieß, er wolle dazu ein Sofortprogramm vorlegen. Das Anliegen kann also gar nicht so
unanständig sein, wenn Herr Clement das Gleiche will
wie die FDP. Doch bei einem Sofortprogramm gehen wir
davon aus, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, dass es sofort ausgearbeitet wird. Bis jetzt haben
Sie aber noch nichts vorgelegt. Deswegen fordern wir
die Bundesregierung auf, dem Deutschen Bundestag
endlich eine entsprechende Vorlage zu unterbreiten.
({8})
62 jährliche und unterjährliche Erhebungen richten
sich an die Unternehmen. Besonders für kleine und mittlere Unternehmen bedeuten statistische Erhebungen eine
besondere Kostenbelastung. Die Aufstellungen von
Monats-, Vierteljahres- und Jahresstatistiken werden
von den Unternehmen, die zu diesen Auskünften verpflichtet sind, als sehr belastend empfunden. Gut jedes
dritte Unternehmen empfindet die hieraus resultierende
Belastung als hoch oder sehr hoch.
({9})
Insbesondere die mittleren Unternehmen fühlen sich
in erster Linie durch die Pflichten zur Berichterstattung
für die amtliche Statistik belastet. Allein bei den Lohnund Gehaltskosten werden vier Erhebungen durchgeführt. Das muss man sich einmal vorstellen! Dazu zählen
die Kostenstrukturerhebung, die Verdiensterhebung, die
Arbeitskostenerhebung und die Gehalts- und Lohnstrukturerhebung. Immer wieder kommt es dabei zu Doppelerhebungen. Häufig werden Daten abgefragt, die den
Unternehmen gar nicht vorliegen und die sie mit sehr
viel Aufwand ermitteln müssen. Wenn den Firmen dabei
aber ein Fehler unterläuft und sie die gesetzlichen oder
die von den Behörden gesetzten Fristen nicht einhalten,
riskieren sie nach § 23 des Bundesstatistikgesetzes ein
Bußgeld.
Hier muss ich Ihnen sagen: Wir befinden uns in einer
Situation, in der wir gerade die kleinen und mittleren Betriebe von dieser Vielzahl an Doppelerhebungen und
teilweise auch unsinnigen Erhebungen entlasten müssen.
Wir müssen ihnen Zeit zurückgeben, damit sie andere
Dinge für ihre Betriebe tun können, die dringend notwendig sind.
({10})
Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen: Die Bäcker erzählen mir, dass eine Erhebung vorgenommen wird. In
dieser wird abgefragt, wie viel Öl für die Öfen und wie
viel weißes und dunkles Mehl verbraucht und wie viele
Brötchen und Brote damit gebacken werden.
({11})
- Genau, Herr Kuhn; es wird auch abgefragt, wie viele
süße Teilchen und Kuchen damit gebacken werden. - Ich
frage mich, wofür das alles abgefragt wird. Wenn das
niemand erklären kann, dann - das muss ich Ihnen ganz
klar sagen - sollten wir in der Politik gemeinsam agieren
und dafür sorgen, dass das abgeschafft wird und die Unternehmen von einem solchen Unsinn entlastet werden.
({12})
Im Übrigen ist der Aufwand auch für die Behörden
groß. Deswegen sagen wir ganz klar: Die Bundesregierung muss endlich aufhören, immer nur davon zu reden,
dass sie hier etwas tun will. Sie muss endlich handeln.
Sie muss Maßnahmen dafür ergreifen, dass Doppelerhebungen unter allen Umständen vermieden werden, und
sie muss prüfen, ob Vollerhebungen zu Stichprobenerhebungen gemacht werden können. Außerdem sollte darauf geachtet werden, dass die Grenzen für unterjährige
Berichtspflichten - unterhalb dieser sind die Unternehmen nicht berichtspflichtig - nicht abgeschafft, sondern
angehoben werden. Wenn es der Bundesregierung mit
dem Abbau von Bürokratie wirklich Ernst ist, dann muss
sie schnell handeln. Clement ist im letzten Jahr als Tiger
gestartet und zwischenzeitlich als Bettvorleger gelandet.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ich
kann Ihnen nur sagen: Nehmen Sie die Chance wahr, die
Sie durch den Antrag der FDP erhalten! Tun Sie das, was
Sie genauso wie wir für richtig halten - jedenfalls erklären Sie das in der Presse -: Entlasten Sie die kleinen und
mittleren Betriebe von Bürokratie!
Vielen Dank.
({14})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Sigrid
Skarpelis-Sperk, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Statistik
ist weder in der Politik noch in der Öffentlichkeit noch
- das habe ich gerade von einem Kollegen gehört - im
Studium an den Universitäten ein besonders beliebtes
Thema. Vielen erscheint sie nur als eine kostspielige
Erbsenzählerei auf Kosten der Steuerzahler und als ein
Folterinstrument von Zahlenfetischisten und grauen Herren mit Ärmelschonern, die hinter noch graueren
Schreibtischen sitzen. Noch viel schlimmer ist das durch
viele Bonmots zum Ausdruck gebrachte und verbreitete
Misstrauen bezüglich des Wahrheitsgehalts von Statistiken, so zum Beispiel in dem berühmten Churchill-Ausspruch, dass er nur an Statistiken glaubt, die er selbst gefälscht habe.
Frau Kollegin, das Überraschende ist, dass Statistiken
trotzdem sehr gefragt sind. Laut Johann Hahlen, dem
Präsidenten des Statistischen Bundesamtes, hat besonders die Nachfrage aus der Wirtschaft und von Unternehmen nach Daten seines Amtes lawinenartig zugenommen. Das hat einen guten Grund: Trotz aller Vorurteile
sind Statistiken ein Schlüsselinstrument für die Willensbildung in der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft; denn nur aufgrund einer zuverlässigen Datenbasis kann der wirtschaftliche und gesellschaftliche
Wandel erfasst und von Ökonomen und Gesellschaftswissenschaftlern in Wissenschaft, Unternehmen und Administration analysiert werden.
Ohne zuverlässige Informationen können keine rationalen Entscheidungen getroffen werden. Das dürfen wir
jetzt beim Finanzsystem und aufgrund einiger fürchterlicher Fehlentscheidungen auf den europäischen und internationalen Kapitalmärkten feststellen. Dies wissen
Investmentgesellschaften, Banken, multinationale Ölkonzerne und Produzenten von Konsumgütern. Die ITBranche hat das für ihren Bereich auf die treffliche ForDr. Sigrid Skarpelis-Sperk
mel gebracht: Garbage in, Garbage out. Auf Deutsch
heißt das: Wenn ich mein System nur mit Informationsmist füttere, kann als Ergebnis auch nur Mist herauskommen.
Nur die Politik in Deutschland hat das fast zwei Jahrzehnte unter Ihrer Amtszeit anders gesehen. Die deutsche
Statistik ist in punkto Aktualität weit hinter die USA und
leider auch deutlich hinter die EU-Partnerländer zurückgefallen. Als wir die Regierung übernommen haben, war
es doch nachgerade peinlich, dass die Bundesbank und
die Europäische Zentralbank von der deutschen Politik
mit deutlichen Mahnungen eine Verbesserung der Datenbasis eingeklagt haben und die europäischen Finanzminister, der Ecofin-Rat, am 29. September 2000 einen Aktionsplan mit detaillierten Angaben beschließen mussten,
welche Staaten in welchem Bereich nun endlich ihre Statistiken zu verbessern und anzupassen hätten. Seither gibt
es vierteljährlich einen Bericht darüber, welche Staaten
ihre Hausaufgaben gemacht haben und welche nicht.
Dieser europäische Aktionsplan war und ist wichtig,
weil
eine genauere und innovative Erfassung und Analyse des rapiden gesellschaftlichen Wandels durch
ein enges Zusammenwirken von unabhängiger Wissenschaft und unabhängiger Statistik die Politik
zielgenauer machen. Nur so können die komplexen
Wechselwirkungen zwischen Bevölkerungsentwicklung, Strukturänderungen der Wirtschaft, Ausbildungssystem, Beschäftigung und sozialer Sicherung richtig verstanden und aufbereitet werden, um
darauf erfolgreiche Politik aufzubauen.
So die Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn.
Fehlen nämlich zuverlässige Daten, so kommt es zu einer erheblichen Erhöhung der Unsicherheit. Das kann
für alle, die Entscheidungen fällen müssen, sehr teuer
werden.
Die Enquete-Kommission „Globalisierung der
Weltwirtschaft“ hat zum Beispiel in ihrem Schlussbericht im Juni 2002 parteiübergreifend und einstimmig,
liebe Frau Kollegin, also mit Zustimmung der FDP-Vertreter, das unzureichende Datenmaterial bei der staatlichen Erfassung der Globalisierung beklagt:
Die Enquete-Kommission hat ... immer wieder feststellen müssen, dass wichtige Daten zur Beurteilung von Globalisierungstatbeständen und -trends
nicht in der notwendigen Form zur Verfügung standen. Zwar gibt es eine Fülle von statistischen Daten, die von vielen nationalen, internationalen und
supranationalen Stellen veröffentlicht werden, aber
allzu häufig sind sie nicht ausreichend aussagekräftig. … Für manche Fragen fehlen Daten völlig, andere Daten weisen Mängel in der Tiefengliederung
auf.
Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass in einem
demokratischen Staat eine allgemein zugängliche Informationsquelle wie die amtliche Statistik, die allen umsonst zur Verfügung steht, ein öffentliches Gut ist:
({0})
zuverlässig und grundsätzlich kostenlos für jeden Bürger, jedes Unternehmen und die Wissenschaft. Dessen
Qualität und Zuverlässigkeit als Informationsinstrument
sind für Politik, Wirtschaft, Verbände und jeden einzelnen Bürger zentral.
Die britische Regierung hat deswegen in einem viel
beachteten Grünbuch festgestellt, die amtliche Statistik
sei „a matter of trust“, also eine Frage des Vertrauens.
Damit dieses Vertrauen erhalten bleibt und das Datenangebot aktuell und zuverlässig ist, muss sich die amtliche
Statistik in ihrem Angebot - jetzt kommen wir zum
Kernpunkt - kontinuierlich an gesellschaftliche und
wirtschaftliche Veränderungen anpassen.
({1})
Das haben Sie in Ihrer Regierungszeit versäumt, was Ihnen international bestätigt worden ist.
({2})
Es ist doch einfach blamabel, wenn einem Land wie
Deutschland gesagt werden muss, es möge seine Hausaufgaben machen und bitte das Niveau von Portugal
oder Griechenland anstreben.
({3})
Es ist doch absurd, wenn die Deutsche Bundesbank und
die Europäische Zentralbank anmahnen, die entsprechenden Daten zu liefern. Wir müssen die Fehler Ihrer
Regierungszeit ausbügeln und uns dafür noch Vorwürfe
anhören.
({4})
- Herr Schauerte, das gehört sich nicht. Sie haben in der
Enquete-Kommission den Beschluss mitgetragen, aus
dem ich Ihnen vorgelesen habe.
Sprechen wir nun über die Belastungen. Wenn statistische Erhebungen gemacht werden, hat man zwei, sich
zum Teil widersprechende Anforderungen unter einen
Hut zu bringen. Die amtliche Statistik muss möglichst
effizient sein und die Befragten möglichst gering belasten; darin sind wir alle einer Meinung.
({5})
Die Statistik muss sich zudem an den Bedürfnissen der
Benutzer orientieren. Das ist nicht neu. Die rot-grüne
Bundesregierung hat sich seit ihrer Amtsübernahme darum bemüht, die Statistik zu reformieren und den Anforderungen der Zeit anzupassen. Sie hat also jene Schritte,
die in dem Antrag der FDP unter dem marktschreierischen Titel „Statistiken reduzieren - Unternehmen entlasten - Bürokratie abbauen“ gefordert werden, längst
unternommen.
({6})
Was ist bisher auf Initiative der Bundesregierung erfolgt? Erstens. Sie hat längst - und zwar sofort nach ihrem
Amtsantritt - grundsätzliche Überlegungen angestellt,
wie die informationelle Infrastruktur in Deutschland
verbessert werden kann. Dazu hatte die Forschungsministerin eine eigene Kommission eingerichtet, die ihren Bericht am 31. März 2001 übergeben hat.
Zweitens. Zusätzlich hat im Juni 2002 der Statistische
Beirat - das grundsätzlich berufene Gremium von Nutzern, Befragten und Produzenten der Bundesstatistik der Bundesregierung einen Bericht mit dem Titel „Empfehlungen zur Weiterentwicklung der amtlichen Statistik“ vorgelegt. In dem Bericht stellte der Beirat fest, dass
bereits die Hälfte der 38 Empfehlungen aus dem Jahre
1999 umgesetzt war. Darunter fallen Maßnahmen zur rationelleren Gestaltung der statistischen Arbeit und Verbesserung der Rahmenbedingungen, zur Einschränkung
und Einstellung bestehender Statistiken sowie Prüfaufträge zu Berichtssystemen. Sehr geehrte Frau Kollegin,
dem Bericht zufolge ist alles, was Sie fordern, bereits
umgesetzt worden.
({7})
Weitere 17 Empfehlungen waren noch in Bearbeitung. Alles zusammengenommen ist also weit mehr erfolgt, als mit den im FDP-Antrag erwähnten, in den vergangenen fünf Jahren abgeschafften neun Statistiken
suggeriert wird. Frau Kollegin, Sie sind in der Statistik
nicht auf der Höhe der Zeit!
Nimmt man die Statistikbereinigungsgesetze des letzten Jahrzehnts, die Tests mit der bundeseinheitlichen
Wirtschaftsnummer für Unternehmen, Betriebe und
sonstige wirtschaftlich Tätige sowie das Kernprojekt
„Vereinfachung der amtlichen Statistik“ aus dem im
Februar 2003 von der Bundesregierung beschlossenen
Masterplan Bürokratieabbau hinzu, so fragt man sich
nach dem Sinn des von der FDP eingebrachten Antrags
und der darin aufgelisteten Forderungen.
({8})
Viel wichtiger wäre es, sich auch in den Bundesländern
gemeinsam mit uns für die Verabschiedung des Verwaltungsdatenverwendungsgesetzes - das ist ein schrecklich langer Name für ein Gesetz - einzusetzen.
({9})
Denn damit könnte ein gewaltiger Schritt zur Entlastung
der Befragten - auch der kleinen und mittleren Unternehmen - erfolgen. Stattdessen gibt es ein dauerndes
Hickhack mit den Bundesländern. Ich habe übrigens einen wunderschönen Brief aus dem Land BadenWürttemberg gelesen, in dem der zuständige Minister
angeordnet hat: Diese Statistik darf nicht geändert werden; diese Änderung darf nicht vorgenommen werden
und an dieser Stelle gibt es ein Problem.
Die Bundesregierung ist insofern nicht an den Verzögerungen schuld. Das stelle ich nachdrücklich fest. Es
gibt eine Fülle von Verzögerungen für die Reduzierung
von Statistiken, für die Entlastung der Unternehmen und
für den Bürokratieabbau generell, die nicht wir zu verantworten haben, sondern die in dem föderalen Hickhack
begründet sind.
({10})
Mit diesem Verwaltungsdatenverwendungsgesetz
sollte auch untersucht werden, ob sich Daten für Zwecke
der Konjunkturstatistik eignen und ob dadurch Erhebungen ersetzt werden können. Außerdem ist geplant, die
Handwerkszählung durch eine Auswertung des von den
Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder geführten Statistikregisters zu ersetzen, um zum Beispiel rund
560 000 Handwerksunternehmen von dieser Totalbefragung zu entlasten.
Des Weiteren ist noch die Vergabe einer Belastungsstudie im Gespräch. Diese ist bisher am Widerstand der
Statistischen Landesämter gescheitert. Auch dafür ist der
Bund nicht verantwortlich.
Ich komme deswegen zu der Schlussfolgerung: Der
Antrag der FDP geht an wesentlichen Problemen vorbei,
({11})
die bei der Erneuerung der Statistik in der kommenden
Wissens- und Informationsgesellschaft auftreten. Die
FDP vergisst, dass Wissen nicht eine Quantité négligeable ist, sondern zu einem Produktionsfaktor avanciert
ist. In den Punkten, in denen der Antrag vernünftige Vorschläge enthält, sind diese nichts Neues und das meiste
davon ist schon auf den Weg gebracht worden.
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alexander
Dobrindt.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn Sie am Wochenende
alle wieder in ihren Wahlkreis gehen und mit den Bürgern und den Unternehmern reden, dann stellen Sie fest,
dass neben der berechtigten allgemeinen Unzufriedenheit über diese Bundesregierung ein weiteres Thema immer wieder artikuliert wird, nämlich das Übermaß an bürokratischen Regelungen und im besonderen die Flut an
statistischen Meldungen. Es geht dabei inzwischen um
weit mehr als um die faktische Bewältigung dieser Statistiken, die immer auch mit finanziellen Belastungen
verbunden sind. Nein, die statistische Auskunftspflicht
in Deutschland hat sich zu einem psychologischen Problem entwickelt.
Viele Betriebe sehen darin eine unzumutbare Gängelung durch den Staat, die die Unternehmen - ich spreche
hier in erster Linie von den mittelständischen Unternehmen - Zeit und Geld kostet, was angesichts trüber Konjunkturprognosen oft sogar für den Fortbestand eines
Betriebes entscheidend sein kann. Allein die Tatsache,
dass sich der Deutsche Bundestag mit Bürokratieabbau
und der Reduzierung von Statistiken beschäftigt, löst bei
einer Reihe von Unternehmen reine Angstschweißreaktionen aus. Das muss uns auch nicht verwundern; denn in
dem Maße, in dem wir zum wirtschaftlichen Schlusslicht
in Europa geworden sind, haben wir uns zum Weltmeister der bürokratischen Hürden hochgearbeitet.
Über 85 000 Gesetze, Verordnungen und Einzelvorschriften gibt es inzwischen in Deutschland. Diese Bundesregierung hat in den letzten Jahren maßgeblich dazu
beigetragen, dass es noch mehr und nicht weniger geworden sind.
({0})
Die Zahlen sprechen für sich: 400 neue Gesetze,
1 300 Rechtsverordnungen. Wenn man von der Einberufung einer weiteren Kommission spricht, dann schauen
Sie sich einmal die Reaktion der Menschen an, die Sie
erleben werden.
Aber immerhin: Das Problem ist zum Teil erkannt
worden und Minister Clement hat bei der Aussprache
zur Regierungserklärung am 30. Oktober letzten Jahres
verkündet:
Wir müssen den Prozess der Überwindung von
Überbürokratie in Deutschland wirklich mit neuen
Ideen voranbringen. Der Wettbewerb der Ideen ist
eröffnet.
Wir von der Union haben inzwischen eine ganze
Reihe von Ideen und zentralen Themen angesprochen,
wie zum Beispiel die verstärkte Befristung von Gesetzen, die Einführung von Experimentier- und Öffnungsklauseln und die Einberufung eines Parlamentsausschusses, der die spezifische Aufgabe hat,
({1})
Bürokratieabschätzungen abzugeben und an den sich
Bürger und Unternehmen wenden können, um auf nicht
hinnehmbare bürokratische Gesetzesfolgen hinzuweisen.
({2})
Aber die Bürgerbeteiligung ist beim Thema Bürokratieabbau bei den Regierungsfraktionen gar nicht so
erwünscht. Anders ist es auch nicht zu erklären, dass in
der letzten Version ihres Koalitionsvertrags genau dieses
Thema herausgestrichen worden ist.
In Bayern sind inzwischen Hunderte von Unternehmen und Bürgern dem Aufruf der Staatsregierung gefolgt und haben sich aktiv dem Thema Bürokratieabbau
gewidmet. 700 Praxisvorschläge sind bisher erarbeitet
worden. Das zentrale Ergebnis steht fest: In Deutschland
gehen viel zu viele produktive Energien durch übermäßige Bürokratie verloren.
({3})
Das sind Energien, die wir dringend bräuchten, um
die Wachstumskräfte in Deutschland wieder sprießen zu
lassen. Bringen Sie doch endlich ein Bürokratiewucherabbaugesetz in den Bundestag ein. Das wäre der
richtige Schritt. Das wäre ein entscheidender Beitrag,
um die Arbeitslosigkeit von 4,6 Millionen Menschen zu
bekämpfen.
({4})
Die Bundesregierung - ich komme schon zu Ihnen hat im letzten Jahr einen Masterplan für Bürokratieabbau
versprochen. Inzwischen hat das Bundeskabinett Eckpunkte daraus verabschiedet. Auf der Internetseite des
Innenministeriums lässt sich lesen, dass an dem umfassenden Sofortprogramm fünf Ministerien beteiligt sind.
Anschließend ist zu lesen:
Um Wachstum und Beschäftigung in Deutschland
zu fördern, wird die Bundesregierung Bürokratie
weiterhin konsequent abbauen.
Solche Ankündigungen treiben dem Mittelstand und
den Menschen in Deutschland, wie so oft während Ihrer
Regierungszeit, den Angstschweiß ins Gesicht. Wenn
Sie damit ausdrücken wollen, dass Sie so weitermachen
wie bisher, dann scheinen Sie auch das Problem nicht
wirklich verstanden zu haben. Wenn Sie Wachstum und
Beschäftigung in Deutschland fördern wollen, dann ergreifen Sie endlich die notwendigen Maßnahmen. Heben
Sie das Kündigungsschutzgesetz für Neueinstellungen
bei Betrieben mit unter 20 Beschäftigten auf, lassen Sie
die betrieblichen Bündnisse für Arbeit zu, stellen Sie die
Kleinbetriebe von statistischen Auskunftspflichten weitgehend frei.
Ich kann auch aus persönlichen Erfahrungen berichten. Vier Statistiken müssen parallel in meinem Unternehmen erfasst werden. Wenn man an geeigneter Stelle
kritische Anmerkungen dazu macht, dann bekommt man
die Antwort zu hören, dass man froh sein müsse, dass es
nicht noch mehr seien. Wenn auch noch ein kleiner Fehler vorhanden ist, dann wird man aufgefordert, das beim
nächsten Mal gefälligst richtig zu machen. So geht man
mit Menschen bei uns um, die Arbeitsplätze schaffen
und für Beschäftigung sorgen.
({5})
Derjenige, der Bürokratie schafft, muss sie auch wieder abbauen. Deswegen sind Sie aufgefordert, hier endlich tätig zu werden. Wie sieht es denn mit dem Zeitplan
für den Masterplan Bürokratieabbau aus? Am 26. Februar dieses Jahres war der Beginn des Sofortprogramms. Es wurde anschließend eine entsprechende
Geschäftsstelle im Innenministerium eingerichtet. Am
1. April dieses Jahres sind angeblich - darüber hätte ich
heute gerne etwas gehört - mindestens drei Vorhaben
zum Bürokratieabbau je Ressort genannt worden. Anschließend fand die erste Sitzung des Staatssekretärausschusses statt. Wir hätten auch hier gerne etwas darüber
gehört, was das ist und was dieser Ausschuss tut. Das Ergebnis scheint eher dürftig zu sein.
Die Belastungen des Mittelstandes mit Vorschriften
- angefangen mit Brüssel bis hin zu den Kommunen lassen den Firmen immer weniger Luft zum Atmen.
Alle 15 Minuten geht in der Bundesrepublik Deutschland ein Unternehmen in die Insolvenz. Wenn Sie nicht
endlich die dringendsten Maßnahmen ergreifen, wird
der Mittelstand, das Rückgrat unserer Wirtschaft, zusammenbrechen.
({6})
Ich darf abschließend nochmals Wirtschaftsminister
Clement zitieren. Er hat am 30. Oktober letzten Jahres
gesagt: „Was geht, ist eine deutliche Reduzierung statistischer Meldungen.“ Legen Sie los. Wir werden Sie daran nicht hindern.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Fritz Kuhn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man den FDP-Antrag liest - um an die Ausführungen meines Vorredners anzuknüpfen -, dann stellt man
fest, dass es dort um etwas anderes geht als das, wovon
Sie, lieber Kollege, gesprochen haben. Es geht um das
Statistikwesen in Deutschland und dessen Auswirkungen auf die Wirtschaftsbetriebe. Ihre Rede wäre vor drei
Wochen angemessen gewesen; denn damals ging es generell um Bürokratieabbau. Aber das schadet ja nichts.
Vielleicht haben Sie Ihre damalige Rede recycelt.
Ich halte es für nicht zielführend, wenn die Opposition ständig sagt, wir machten alles falsch, während die
Regierung das Gegenteil behauptet. Bei nüchterner Betrachtung stellt man fest, dass es um einen klassischen
Zielkonflikt geht. Wir, die Politiker, sowie viele Unternehmer und Vertreter der Unternehmensverbände wollen
qualifiziertes Datenmaterial zur Begleitung und Beurteilung dessen, was wirtschaftlich und wirtschaftspolitisch
richtig ist. Wir brauchen verlässliche Konjunkturdaten;
deshalb ist es schlecht, wenn es statistische Fehlerquellen gibt oder wenn die Daten unzureichend sind. Das ist
die eine Seite. Auf der anderen Seite nervt es viele Betriebe in Deutschland - es geht um eine beträchtliche
Zahl -, wenn sie regelmäßig Fragen beantworten und bei
Fehlern mit den von Ihnen geschilderten Sanktionen
rechnen müssen. Zum Teil sind die Fragen schwer zu beantworten. Man weiß ja aus eigener Lebenserfahrung,
dass es einen ärgert, wenn einem eine Frage gestellt
wird, die man nicht beantworten kann. Außerdem entstehen den Betrieben aufgrund der statistischen Erhebungen Kosten und Zeitverluste. Das ist der Zielkonflikt.
Nun versucht die Regierung - ein entsprechender Gesetzentwurf liegt bereits auf dem Tisch; über ihn wird
noch im Ausschuss beraten werden -, ein anderes Verfahren zu finden, in dessen Rahmen weniger Primärdaten und mehr Sekundärdaten, so genannte Verwaltungsdaten, erhoben werden, sodass man qualifizierte
Informationen für die Konjunkturstatistiken hat und die
Wirtschaft weniger nerven muss. Wir machen das auch.
Das einzige Problem ist jetzt noch die Auseinandersetzung mit den Ländern über die Kostenverteilung. Diese
wird noch einmal überprüft und gemeinsam mit den
Ländern geklärt. So ist es und so wird es gemacht.
Punkt.
({0})
Zum Abschluss möchte ich noch etwas an die Adresse
der FDP sagen. Wenn man eine schlechte Strategie gewählt hat - ich war zwölf Jahre lang Vorsitzender einer
Oppositionsfraktion; deswegen verstehe ich etwas von
dem Geschäft -, dann ist man leicht versucht, folgendermaßen vorzugehen: Man schaut, was die Regierung ohnehin schon macht, stellt dann schnell einen Antrag und
sagt, es müsse endlich etwas geschehen. Das ist eine
Beschäftigungstherapie, mit der Sie öffentlich Eindruck machen wollen. Das ist aber nur hohler Wind und
bringt in der Sache überhaupt nichts.
({1})
So verhält es sich auch mit Ihrem Antrag. Alle, die etwas davon verstehen, wissen, dass sich die Regierung
dieses Themas angenommen hat und es längst vielfältige
Gespräche zwischen Bundes- und Landesstatistikern
gibt. Aber Sie tun so, als hätten Sie alles neu erfunden,
und stellen einen Antrag. Da Sie offenbar so viel Zeit haben, Frau Homburger, kann ich das ja verstehen. Ich
kann aber nicht verstehen, warum Sie das ganze Haus
mit solchen überflüssigen Anträgen aufhalten. Diese
Frage ist bisher nicht beantwortet.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Schauerte.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kuhn, wie unnütz hier die Zeit verbracht wird,
hängt von jedem Debattenredner selbst ab. Sie hätten aus
Ihrer Redezeit etwas machen können.
({0})
Ich bin für jede Gelegenheit dankbar, über dieses
wichtige, aber auch ärgerliche Thema zu sprechen. Dabei gibt es für mich keine erste und zweite Vaterschaft.
Wir alle wissen, dass es im Hinblick auf die Statistiken
wie auf die Bürokratie insgesamt ein dickes Problem
gibt. Ich erinnere nur daran, dass der Bundeskanzler in
seiner ersten Regierungserklärung den Bürokratieabbau
zu einem seiner zentralen Anliegen gemacht hat. Das Ergebnis war das Gegenteil. Ich füge hinzu: mea culpa;
auch in unserer Regierungszeit ist der Bürokratieabbau
überhaupt nicht ausreichend gelungen. Niemand von uns
hat Veranlassung, zufrieden zu sein.
Aber das Problem ist eher größer als kleiner geworden. Ich verdeutliche dies an wenigen Zahlen, damit man
ein Gefühl für dieses Problem bekommt: In der 8. Wahlperiode wurden 237 Gesetze verabschiedet, in der
9. Wahlperiode 97, in der 10. Wahlperiode 256, in der
11. Wahlperiode 293. Dann kam die Wiedervereinigung
mit dem unvermeidlich hohen Anpassungsbedarf. In der
12. Wahlperiode schnellte die Zahl auf 460 hoch, in der
13. Wahlperiode sank die Zahl wieder auf 400. Dann
kam Ihre erste Regierungsperiode, in der Sie die Zahl
der Gesetze auf den absoluten Spitzenwert von 489 erhöhten.
({1})
Es ist aber nicht nur die Zahl der Gesetze, sondern es
sind auch die damit einhergehenden Belastungen gestiegen, obwohl wir alle davon reden, dass hier eine Reduzierung notwendig ist. Das kann uns nicht zufrieden stellen.
({2})
Daher haben wir auch ein paar Probleme damit, jetzt
Ihren Ankündigungen Glauben zu schenken. Unsere
besten Wünsche, Hoffnungen und Gebete begleiten Sie.
Wir möchten, dass auf diesem Gebiet etwas passiert. Im
Moment stellen Sie auf Bundesebene die Regierung.
({3})
- Ja, das wird nicht mehr lange dauern. - Sie sind gegenüber der europäischen Ebene sprachfähig, was bei diesem Thema nicht zu unterschätzen ist. Hier sind wir als
Opposition fast einflusslos; wir können kaum etwas gestalten. Aber wir haben eine Mitverantwortung in den
Ländern. Hier könnte doch eine große Koalition zum
wirksamen Abbau der Bürokratie zustande kommen.
Wer hindert uns denn daran, dieses Thema wirklich ernst
zu nehmen?
Dass die Bürokratie eine unerträgliche Belastung darstellt, die sich auf vieles wie Mehltau legt, dass wir bei jeder Angstsituation in Deutschland einen unglaublichen
zusätzlichen Wust an neuer Bürokratie produzieren, ohne
irgendwo etwas wegzunehmen, kann uns doch nicht zufrieden machen. Wenn wir nur einmal nachvollziehen,
was bei irgendwelchen Lebensmittelskandalen - ich
denke hier nur an die BSE-Krise - und Gesundheitsproblemen an neuer Bürokratie entsteht und was wir in der
Finanzwirtschaft an neuen Bürokratien aufbauen, wenn
es eine große Pleite im Land gibt - das reicht bis hin zu
Basel II und den damit zusammenhängenden Konsequenzen -, dann können wir uns doch nicht gemütlich
zurücklehnen.
Insofern macht es überhaupt keinen Sinn, zu fragen,
wie man überhaupt einen solchen Antrag stellen könne.
Sie hätten den Antrag stellen können, wir hätten ihn stellen können, die FDP hat ihn stellen können. Wir müssen
das Thema ernst nehmen.
({4})
- Nein, es fehlt noch der nötige Nachdruck.
Ich schildere Ihnen ein paar Ansätze, die heute noch
fehlen. Die CDC/CSU-Fraktion hat ein Programm mit
dem Titel „Bürokratie abbauen - nicht reden, handeln
und den mutigen Wurf wagen“ verabschiedet. In ihm
geht es darum, geltende Vorschriften auf den Prüfstand
zu stellen. In Zukunft muss geregelt sein, dass man für
jede neue Vorschrift die Abschaffung zweier Vorschriften vorschlägt. Dies führt zu einem hohen Disziplinierungserfolg bei jedem, der ein neues Gesetz will.
({5})
- Wir können auch drei nehmen, wenn Ihnen das zu wenig ist. Ich will nur, dass wir an dieser Stelle irgendetwas
machen.
({6})
Ich nenne Ihnen noch eine willkürliche Zahl: Wir
wollen, dass alle Verordnungen, die vor dem 1. Januar
1980 erlassen wurden, zum 31. Dezember 2004 ersatzlos
außer Kraft treten. Wissen Sie was? Würde man so verfahren, würde in Deutschland nichts passieren. Sie müssten schon beweisen, dass das Gegenteil der Fall ist.
Beispielsweise hat das Saarland in diesem Bereich
wirklich große Erfolge erzielt. Die neue Regierung von
Ministerpräsident Müller hat dieses Problem angepackt
und ist bisher weitergekommen, als man gedacht hat.
Schicken Sie Ihre Mitarbeiter einmal dorthin, um sich
das anzuschauen! Warum macht man auf der Bundesebene nicht etwas Ähnliches?
Verfallsautomatismus:
Alle Verwaltungsvorschriften sind künftig fünf
Jahre nach ihrem In-Kraft-Treten daraufhin zu
überprüfen, ob sie weiterhin Bestand haben sollen.
Wir müssen entsprechende Selbstbindungen des Parlaments, des Gesetzgebers beschließen, damit auf diesem
Gebiet wirklich einmal etwas passiert.
({7})
Wir sind zu bequem, wir lassen die Dinge laufen und
wundern uns dann.
Stichwort Genehmigungsverfahren: Was passiert
beim Richterrecht? Um dort zu fundamentalen Änderungen zu kommen, müssen wir gemeinsam einen Ansatz
verfolgen. Vernünftige Menschen dürften darüber eigentlich keinen ideologischen Streit führen. Anders verhält es sich, wenn man sagt: Dieser Staat ist neugierig;
dieser Staat will immer mehr wissen; dieser Staat will
immer mehr planen. Das war der Ansatz von Frau
Skarpelis-Sperk, die im Grunde genommen die Auffassung vertreten hat, wir brauchten von allem mehr, bis zur
Regierungsübernahme von Rot-Grün habe es zu wenig
gegeben. Das war ihr Vorwurf, ein ganz interessanter
Beitrag zum Thema Entbürokratisierung. Dann haben
Sie ausgerechnet Griechenland als Beispiel genannt. Sie
möchten nicht, dass zu diesem Land ein Vergleich gezogen wird, was ich bei Ihnen persönlich gar nicht verstehe. Das ist doch in Ordnung, es ist keine Diskriminierung anderer Länder!
Wir können heute feststellen, dass diejenigen Länder,
die weniger Bürokratie haben, arbeitsmarktpolitisch,
wirtschaftspolitisch und wachstumsmäßig erfolgreicher
als diejenigen sind, die viel Bürokratie haben.
({8})
Gerade deswegen sollten wir uns mit diesen Ländern
einmal vergleichen und uns die Fragen stellen: Warum
funktioniert es denn da und warum ist es bei uns so kompliziert? Ich will das nicht vertiefen.
Uns in der Union wäre sehr lieb, wenn diese kleine
Debatte dazu beitragen würde, dass wir anfangen, dieses
Thema wirklich ernst zu nehmen. Wir haben bei keinem
Thema in der Vergangenheit so viel gelogen wie bei dem
des Bürokratieabbaus. Wir alle haben darüber geredet;
aber wir alle sind die Lösung dieses Problems nicht
wirklich konsequent angegangen und wir alle haben
nicht mutig in die Strukturen eingegriffen, weil wir Politiker uns diesbezüglich fast ohnmächtig fühlten. Ich
möchte nicht, dass das so weitergeht.
Ich will, dass wir gemeinsam mit den Beamtenapparaten diesen Moloch ausdünnen, um die Bürokratie
schlanker, effektiver und beherrschbarer zu machen.
Fangen Sie damit an! Unsere Gebete, unsere Hoffnungen
und unsere besten Wünsche begleiten Sie. Wir werden
Sie nicht stören. Aber seien Sie einmal ein bisschen mutig!
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/752 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung auch
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Margrit Wetzel, Klaus Brandner, Doris
Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Thea
Dückert, Volker Beck ({0}), Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nutzung von Geoinformationen in Deutschland voranbringen
- Drucksache 15/809 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir auch so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Margrit Wetzel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
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akzeptieren?“ beantworten Sie mit Ja und es erscheint
eine Karte „Bund, Länder, Regionen“. Per Mausklick
kommen Sie immer tiefer in den Datensatz, bis Sie
schließlich auf einer Karte Ihre Stadt, Ihren Landkreis
oder Ihr Dorf sehen. Die Menüleiste bietet Ihnen wichtige
Themenfelder an, offene Stellen auf dem Arbeitsmarkt,
wichtige Daten aus der Land- und Forstwirtschaft, Klimadaten, Wetterdaten, Umweltdaten, Raumplanungsdaten, Verkehrsdaten, Navigationsdaten und Bodennutzungsdaten. Bund, Länder und Kommunen speisen
tagesaktuell qualitätsgesicherte Daten ins Netz ein und
Sie haben den Zugriff auf alle Daten, die Ihr Herz begehrt, und zwar als Überlagerung topographischer Karten anschaulich dargestellt.
Habe ich damit bei Ihnen als Nutzer oder als Verbraucher Wünsche geweckt? Leider sind wir noch nicht so
weit - leider. Glauben Sie, dass unsere moderne IT-Gesellschaft ohne diese Entwicklung auskommt? Wissen
Sie, wie viele kleine und mittlere Unternehmen nur darauf warten, all die Techniken und Dienstleistungspakete
rund um diesen Zukunftsmarkt zu entwickeln, und wie
viele Arbeitsplätze damit geschaffen werden können?
Wissen Sie, dass viele potenzielle Anbieter von Daten
kaum über die Wünsche der Nutzer informiert sind und
dass viele potenzielle Nutzer viel zu wenig darüber wissen, woher sie die benötigten Daten erhalten können?
Der Umsatz der Geoinformationswirtschaft in
Deutschland liegt unter 100 Millionen Euro, aber das zukünftig bei uns zu erschließende Marktpotenzial wird
auf fast 7 Milliarden Euro geschätzt. Es lohnt also, sich
mit diesem wichtigen Zukunftsmarkt zu befassen.
Das haben wir als Parlament vor zwei Jahren das erste
Mal getan, um die Aktivitäten der Bundesregierung und
des von ihr eingesetzten Interministeriellen Ausschusses für Geoinformationswesen - kurz „IMAGI“ genannt - zu begleiten und zu unterstützen. Was alles inzwischen an Fortschritt und Verbesserung erreicht
wurde, kann Staatssekretär Körper für das BMI viel authentischer vermitteln. Deshalb bleibt mir an dieser Stelle
nur, einen überzeugten und ganz herzlichen Dank an all
jene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu richten, die in
den Ministerien und Behörden so engagiert und motiviert
und auch nachdrücklich an diesem Thema arbeiten. Sie
haben es verdient, dass ihr Einsatz von der Öffentlichkeit
wahrgenommen wird. Wir als Koalitionsfraktionen wollen mit der heutigen Debatte auch zum Ausdruck bringen, dass wir das in höchstem Maß würdigen.
({0})
- Danke für die Unterstützung. Sie gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Ministerien.
Nun zum Blick nach vorn; denn wir als Parlament
wollen ja unterstützen. Bund, Länder und Kommunen
sind die größten Halter und Erheber unterschiedlichster
Geodaten. Nutzer oder Anwender orientieren sich aber
weder an Ländergrenzen noch am föderalen System oder
an der kommunalen Selbstverwaltung. Nutzer erwarten
Transparenz, schnellen, einfachen und preiswerten Zugang zu allen Daten, die zudem kompatibel, miteinander
verknüpfbar und für vielseitige Nutzungen verfügbar
sein sollen. Weil wir immer wieder feststellen, dass das
leider noch nicht umfassend möglich ist, sondern insbesondere die unterschiedlichen Zuständigkeiten zu Stolpersteinen werden, bitten wir die Bundesregierung, uns
einen Bericht darüber zu geben, welche Probleme bei der
Koordination des Geoinformationsmarkts auf Bundesund Länderebene noch bestehen.
Wir wollen Transparenz und einfache Weitergabe von
Daten möglich machen. Das Informationsfreiheitsgesetz,
das wir so bald wie möglich in den Bundestag einbringen wollen, aber auch E-Pricing-Modelle mit einheitlichen Abgaberegelungen sollen die Eintrittsbarrieren
beim Geoinformationsmarkt senken. Möglicherweise
kann es über das Internet sogar zu einer unentgeltlichen
Grundversorgung mit Geodaten kommen; das wollen
wir zumindest gern geprüft wissen.
Sicherlich besteht auch Konsens darüber, dass in das
Notfallvorsorgeinformationssystem, dessen Geofachdaten überwiegend von den Ländern erfasst werden, alle
notwendigen und wichtigen Daten einfach und schnell
eingebracht werden und sowohl Bundes- als auch Länderbehörden zur Verfügung stehen müssen.
Wir nehmen die Aktivitäten auf der Arbeitsebene von
Bund und Ländern, die die Entwicklung des Geodatenmarkts voranbringen, mit großer Zufriedenheit zur
Kenntnis und bitten deshalb die Bundesregierung, diese
Bemühungen durch die Einladung der Länder zu einer
strategischen GDI-Deutschland-Konferenz zu unterstützen.
Die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft - das hat
auch die vom Bundeswirtschaftsminister in Auftrag gegebene Studie gezeigt - kann intensiviert werden und
Nutzen für alle Beteiligten bringen. Dies sollte zum einen durch Public Private Partnership geschehen, in der
sich Kreativität, Flexibilität und Marktnähe der kleinen
und mittleren Unternehmen voll entfalten können. Zum
anderen wird - davon gehen wir aus - der wechselseitige
Austausch des IMAGI mit der Wirtschaft in einem Kuratorium neue Impulse und Transparenz für beide Seiten
bringen und dazu führen, dass Angebot, Nachfrage und
Entwicklung des Geoinformationsmarkts noch besser an
den Bedürfnissen der Anwender und den Möglichkeiten
der Anbieter ausgerichtet werden.
Die Benennung eines Government-to-Business-Moderators als zentralen Ansprechpartner des Bundes für
Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft, der auch die
nationalen Interessen Deutschlands in der Geoinformationswirtschaft vertritt, halten wir für hilfreich. In diesem
Zusammenhang kann ich nur nachdrücklich auf die hervorragenden Erfahrungen verweisen, die wir beim Bundeswirtschaftsministerium gerade mit dem maritimen
Koordinator gemacht haben. Dies kann ein Beispiel dafür sein, wie auch im Geoinformationsmarkt eine optimale Zusammenarbeit zwischen Behörden und der Wirtschaft erfolgen kann. Deshalb bitte ich das Haus ganz
herzlich um Zustimmung zu unserem Antrag.
({1})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Vera Dominke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit gestern liegt uns der Antrag von Rot-Grün „Nutzung
von Geoinformationen in Deutschland voranbringen“
auf dem Tisch. Ein hehres Ziel, ein Ziel, dem auch wir
uns verpflichtet fühlen, ein Ziel, dessen parlamentarische Behandlung die Fraktion der CDU/CSU in der letzten Legislaturperiode vor drei Jahren mit ihrer Großen
Anfrage „Nutzung der Geoinformationen in Deutschland“ angeschoben hat.
Worum geht es dabei? Geoinformationen sind ortsund raumbezogene Daten, die heute auf allen Ebenen, in
Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung, und in unser
aller täglichem Leben von Bedeutung sind: ob Radwanderkarte oder Raumplanung, ob Navigationssystem im
PKW oder Landesverteidigung, ob Naturschutz oder
Hochwasserkatastrophe - in nahezu allen Bereichen basieren die entscheidenden Daten und Systeme auf Geoinformationen. In der Geoinformation steckt ein gewaltiges wirtschaftliches Potenzial, das darauf wartet, in
Deutschland stärker als bisher aktiviert zu werden.
Vor zwei Jahren hatte die CDU/CSU-Fraktion einen
Entschließungsantrag eingebracht, der konkrete und zielführende Maßnahmen hierzu beinhaltete. Rot-Grün verhinderte die Verabschiedung dieses Antrages.
({0})
Der Parlamentarische Staatssekretär Körper sprach damals mit großen Worten davon, wofür die Bundesregierung alles sorgen werde.
({1})
Heute, gerade einmal zwei Jahre später, scheint urplötzlich die Untätigkeit der Bundesregierung so dramatisch
geworden zu sein, dass sich die Koalitionsfraktionen genötigt sehen, in nur zwei Tagen einen Eilantrag durchzupeitschen, in dem die Bundesregierung aufgefordert
wird, tätig zu werden.
({2})
Das tut auch Not. Wurde vor zwei Jahren von Rot-Grün
noch begrüßt, dass der IMAGI die Konzeption eines effizienten Geodatenmanagements des Bundes erarbeitet
habe und gegenwärtig mit dessen Umsetzung befasst sei,
wird in dem heute vorliegenden Antrag als deutlicher
Fortschritt festgestellt, dass der IMAGI die bereits existierende Konzeption für das Datenmanagement zu einer
Konzeption der Dateninfrastruktur weiterentwickelt und
eine Strategie für die Umsetzung beschlossen hat. Von
der vor zwei Jahren bevorstehenden tatsächlichen Umsetzung ist heute nicht mehr die Rede.
Um zu allen Positionen dieses Antrages etwas zu sagen, reicht die Redezeit leider nicht aus. Aber auf einige
Punkte will ich hier doch noch kurz hinweisen:
An mehreren Stellen dieses Antrages schimmert
durch, dass an der Länderkompetenz für das amtliche
Vermessungswesen gerüttelt werden soll. Das ist mit uns
nicht zu machen.
({3})
Die Forderung nach Einsetzung eines Kuratoriums,
um die Wirtschaft stärker einzubeziehen, erscheint äußerst unausgegoren. Was soll ein solches Kuratorium
tun? Wer soll ihm angehören? Welche Kompetenzen
sind ihm zugedacht? Sinnvoller wäre es zum Beispiel,
den IMAGI zu einer Arbeitsgruppe umzugestalten, in die
Wissenschaft, Wirtschaft und, viel stärker als bisher, die
Länder integriert werden, statt eine zusätzliche dritte Institution einzurichten.
({4})
Statt die Benennung eines G2B-Moderators zu fordern, wie es im Antrag steht - wer weiß schon, was das
ist? -, sollte besser die Forderung, die auch der Dachverband DDGI stellt, nach einem hochrangigen Beauftragten umgesetzt werden.
({5})
- Das steht im Antrag noch nicht drin.
Was ist mit der „partnerschaftlichen Zusammenarbeit
mit KMU im Bereich des Vertriebsstrukturenaufbaus“
gemeint? Was steckt in Wirklichkeit dahinter?
Schließlich ein letztes Beispiel für die Unausgegorenheit dieses Antrages. Im Forderungskatalog für die Bundesregierung erscheint die baldige Verabschiedung eines
Informationsfreiheitsgesetzes. Meine Damen und Herren, seit wann verabschiedet die Bundesregierung Gesetze? Das fällt noch immer in die Kompetenz dieses
Hauses.
({6})
Es liegt auf der Hand, dass dieser Antrag in keiner
Weise beschlussreif ist. Er bedarf der gründlichen Beratung im Fachausschuss. Das Thema ist viel zu wichtig
und zu bedeutsam, um es in einer Hopplahopp-Aktion
durchzupeitschen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen
auf der linken Seite des Hauses, warum eigentlich diese
Eile? Was treibt Sie zu solcher Hektik? Warum fürchten
Sie die Diskussion im Ausschuss? Honi soit qui mal y
pense.
Wir beantragen Ausschussüberweisung, um im Fachausschuss mit der gebotenen Gründlichkeit eine runde
Sache zu erarbeiten, die die Geoinformationen in
Deutschland wirklich vorwärts bringt. In seiner jetzigen
Form können wir dem Antrag nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({7})
Liebe Frau Kollegin Dominke, wir gratulieren Ihnen
im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Josef Fell.
Frau Präsidentin! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Geoinformationen stellen eine wichtige Datenbasis dar. Sie machen Planungen zielgenau und effektiv.
Rot-Grün hat die Bedeutung der Geoinformationen stets
erkannt und ernst genommen. Dafür, Frau Dominke,
braucht es nicht die Aufforderung der Union. Ihre Ablehnung auch einzelner wichtiger Punkte dieses Antrags
zeigt wiederum, dass Sie es mit dem Ausbau der Nutzung von Geoinformationen nicht sehr ernst meinen.
Rot-Grün hingegen hat die Möglichkeiten der Erfassung von Geoinformationen stetig ausgeweitet. Vor
allem in der Forschungsförderung wurde darauf Wert
gelegt. Ich erinnere nur an den Ausbau der Satellitenbeobachtung, zum Beispiel über Envisat, oder auch die
kontinuierliche Verdichtung von Messstationen, beispielsweise bei der Erfassung von Umweltdaten.
In den verschiedensten Bereichen liefern Geoinformationen die entscheidende Planungsbasis. Dazu gehören so wichtige Felder wie der Hochwasserschutz und
die Hochwasserwarnung, Waldschadensüberwachung,
Gewässergüte, Luftreinhaltung oder andere Umweltschutzdaten, zum Beispiel auch für die Klimaforschung.
Besonders bedeutsam sind Geoinformationen neben dem
Umweltschutz aber auch für Planungen in der Landwirtschaft, für den Verkehr, in der Raumordnung und für vieles mehr.
Aufgrund der heutigen, umfassend ausgeweiteten
Möglichkeiten liegen eine Fülle von Daten vor, die aufgearbeitet und zur Verfügung gestellt werden müssen.
Sie bieten eine hervorragende Basis für eine wirtschaftliche Nutzung mit der Option neuer Wertschöpfung und
der Schaffung neuer qualifizierter Arbeitsplätze sowie
innovativer Produkte.
Zurzeit können längst nicht alle Geoinformationen
genutzt werden. Aber in den letzten Jahren wurden die
Verarbeitungs- und Nutzungsmöglichkeiten vor allem
durch die Arbeit des Interministeriellen Ausschusses für
Geoinformationswesen Zug um Zug verbessert. Diese
Erfolge gilt es auszuweiten. Im vorliegenden Antrag der
Koalitionsfraktionen werden dazu entsprechende Vorschläge gemacht. Sie dienen zur Unterstützung und Vertiefung der bisherigen Arbeit der Bundesregierung. Eine
wichtige Aufgabe wird es sein, die Koordinierung des
Geoinformationswesens auf Bundes- und Länderebene
zu verstärken. Auch die unentgeltliche Grundversorgung
mit Geodaten, zum Beispiel über das Internet, sollte
deutlich ausgeweitet und verbessert werden. Die zügige
Verabschiedung eines Informationsfreiheitsgesetzes
wird weitere Möglichkeiten bieten.
Aus der Sicht von Bündnis 90/Die Grünen hat der
weitere Ausbau des deutschen Notfallvorsorge-Informationssystems eine besondere Bedeutung. Gerade die
Hochwasserkatastrophen der letzten Monate zeigen, dass
weitere Verbesserungen notwendig sind. Informationslücken gab es zum Beispiel beim fränkischen Hochwasser
im Januar dieses Jahres. Verbesserungen lassen sich mit
dem Ausbau der Datenerfassung, der Datenverarbeitung
und der Datenauswertung schaffen. Eine verbesserte Datenlage zur Hochwasserwarnung hilft aktuelle Schäden
vermeiden und ergibt zudem Erkenntnisse für einen verbesserten Hochwasserschutz.
Damit das wirtschaftliche Potenzial von Geoinformationen wirklich genutzt werden kann, ist eine verstärkte
Kooperation mit der Wirtschaft anzustreben. Vor allem
auch kleine und mittlere Unternehmen müssen in die
Lage versetzt werden, kostengünstig und unbürokratisch
auf die für sie interessanten Geoinformationen zurückgreifen zu können.
In dem von Rot-Grün heute vorgelegten Antrag zur
Nutzung von Geoinformationen werden umfassende und
detaillierte Vorschläge gemacht, um eine verstärkte Nutzung zu ermöglichen. Die Umsetzung dieser Vorschläge
wird einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der
Notfallvorsorge und der Umweltbeobachtung, zur Umweltverbesserung sowie zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen mithilfe gezielter Planungen für Infrastrukturmaßnahmen oder von neuen Produkten und
Dienstleistungen leisten.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Union,
es mit dem Ausbau des Geoinformationssystems ernst
meinen, dann können Sie unserem Antrag nur zustimmen; denn er wird weitere Verbesserungen ermöglichen.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag enthält eine Reihe von richtigen und
sinnvollen Aussagen und Forderungen,
({0})
denen natürlich auch die FDP zustimmen kann, zumal
wir in der Vergangenheit eine ganze Reihe von entsprechenden Anträgen zu diesem Thema gestellt haben, die
von Ihnen - so ähnlich konnte es Frau Dominke bei Anträgen der CDU/CSU-Fraktion erleben - natürlich global
abgelehnt wurden.
Frau Dr. Wetzel, ich schätze Ihr Engagement auf diesem Gebiet. Wir wollen alle gemeinsam zum Erfolg
kommen. Aber mich stört das Déjà-vu-Erlebnis in dieser
Angelegenheit: Bereits im Februar 2001 haben die Koalitionsfraktionen die Einrichtung des Interministeriellen
Ausschusses für Geoinformationswesen begrüßt und
eine bessere Koordinierung des Geoinformationswesens
in Deutschland gefordert. Diese Forderung kommt im
Punkt a Ihres Antrags erneut vor.
Verbesserung der Anwenderfreundlichkeit und Erleichterung des Zugangs haben Sie schon vor zwei Jahren gefordert. Diese Forderung findet sich im Punkt b
Ihres Antrags. Auch gegen den Ausbau des deutschen Notfallvorsorge-Informationssystems - das ist der Punkt c - haben wir inhaltlich nichts zu sagen. Aber angesichts der
Hochwasserkatastrophen, die wir vor einigen Monaten
erlebten, ist wohl klar, dass es wesentlich besser gewesen wäre, wenn gerade an dieser Stelle alles ein wenig
schneller gegangen wäre.
({1})
Unter Punkt d Ihres Antrages wird die Einberufung
einer Bund-Länder-Konferenz und unter Punkt e eine
bessere Einbeziehung der Wirtschaft gefordert. Das ist
zwar interessant, aber nicht gerade neu.
Frau Kollegin Flach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Reichenbach?
Ja, gerne.
Frau Kollegin, haben Sie zur Kenntnis genommen,
dass das System schon seit geraumer Zeit im Netz ist
und dass das Problem eher darin liegt, dass die Plattform
nicht ausreichend von denen genutzt wird, die die Daten
zur Verfügung stellen müssten, nämlich von denen, denen nach dem Grundgesetz der Katastrophenschutz obliegt?
Lieber Kollege, selbstverständlich nehme ich das zur
Kenntnis; ich habe kein Problem damit. Für mich ist
aber entscheidend, dass im Parlament offensichtlich immer wieder routinemäßig Forderungen erhoben werden,
die aber in der Praxis - das sage ich in Richtung von
Herrn Körper - nicht umgesetzt werden, sodass wir uns
ständig mit den gleichen Themen befassen müssen.
({0})
Wir von der FDP wollen, dass die Vorschläge umgesetzt
werden, damit die Menschen einen Nutzen von diesem
System haben. Genau das passiert offensichtlich nicht.
Ich könnte Ihnen vorlesen, was Sie uns nunmehr zum
dritten Mal in diesem Parlament vorlegen, ohne dass
sich etwas bewegt.
({1})
Die Verbesserung der Nutzbarkeit für die Wirtschaft
haben Sie vor zwei Jahren gefordert. Neu ist die Forde3330
rung nach der Gründung von drei zusätzlichen Gremien;
Sie wollen nämlich ein Kuratorium für IMAGI, einen
G2B-Moderator und die Einrichtung zentraler Vertriebsstellen in den Fachbehörden des Bundes. Da zahlreiche
Gremien bereits neu gegründet wurden - das ist das Einzige, was in den letzten Jahren gelaufen ist -, frage ich
mich, was diese Forderung zur Vereinfachung und zur
Verbesserung der Nutzerfreundlichkeit beitragen soll.
Ich halte dies aus Sicht der FDP eher für einen GremienGAU als für eine Verbesserung der Situation.
({2})
Nach dieser kurzen Zusammenfassung der im vorliegenden Antrag gestellten Forderungen frage ich Sie,
Frau Dr. Wetzel: Was haben Sie eigentlich in den vergangenen zwei Jahren gemacht, dass Sie uns diese alten
Schoten wieder auf den Tisch legen?
({3})
Die Koordination zwischen Bund und Ländern klappt
offenbar immer noch nicht. Die Einwürfe der Kollegin
Dominke lassen natürlich bei mir eine Art Warnlicht aufleuchten, dass es offensichtlich nicht besser wird. Worin
liegt eigentlich das Problem?
({4})
Liegt es wirklich daran, dass sich die Länder nach wie
vor nicht bewegen? Warum müssen wir uns immer wieder mit Forderungen dieser Art auseinander setzen? Ich
erwarte von Herrn Körper, dass er uns einmal sagt, woran es hapert.
({5})
Wer ist denn wirklich schuld? Ich erwarte natürlich mit
Spannung, was Sie uns gleich erzählen werden.
Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass Sie das Anträgeschreiben lassen und dass Sie handeln. Denn natürlich
sind wir mit Ihnen der Meinung, dass wir Geoinformationen brauchen - und das schnell.
({6})
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Körper. Er kann dann gleich auf
Ihre Fragen antworten.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, in dem vorliegenden Antrag wird ein guter Überblick über die zahlreichen Maßnahmen der Bundesregierung gegeben, die seit der letzten Entschließung in diesem Zusammenhang im Geoinformationswesen erreicht
wurden. In ihm wird der Entwicklungsstand der angestrebten und teilweise im Aufbau befindlichen Geodateninfrastruktur sehr deutlich aufgezeigt. Die Geodateninfrastruktur ist einer der zentralen Bausteine der
Fortentwicklung der Konzeption des Geodatenmanagements des Bundes. Hingewiesen wird auch auf die zahlreichen, teilweise unter Einbeziehung der Länder durchgeführten Pilotprojekte. Man muss diesen Antrag also
richtig lesen.
({0})
Ich finde es sehr erfreulich, dass das aufgebaute
Metainformationssystem für Geodatenbestände des Bundes nach einem erfolgreichen Probelauf schon im Sommer dieses Jahres in den Wirkbetrieb gehen wird. Schon
heute ist dieses Metainformationssystem, in dem man
„Daten über Daten“ erhält, für jedermann über das Internet verfügbar. Dies ist eine sachdienliche Maßnahme,
die wir durchgeführt haben. Im Augenblick ist dies noch
in eingeschränkter Form möglich. Deshalb ist schon der
zweite Schritt in Angriff genommen worden: In Kooperation mit einigen Ländern wird eine Verknüpfung der
auf Landes- und kommunaler Ebene vorhandenen Metainformationssysteme entwickelt und erprobt. Dies ist ein
weiterer, konkreter Schritt.
Bei der Harmonisierung und Optimierung der administrativen Vorgaben für den Bezug und die Abgabe von
Geodaten wurde ebenfalls ein großer Schritt nach vorne
getan. Die Rahmenrichtlinie des IMAGI für „Entgelte
und Abgabebedingungen für Geodaten“ wurde verabschiedet. Sie ist im Januar dieses Jahres in Kraft getreten
und gilt für alle Bundesbehörden. Darin wird unter anderem eine Kategorisierung von Geodaten vorgenommen,
die nach Grundversorgung, Standardversorgung und auftraggeberspezifischer Versorgung gegliedert wird.
Verbunden sind diese Kategorien mit einer Festlegung
der Entgelte.
({1})
- Frau Flach, wenn Sie etwas fragen wollen, dann stellen
Sie eine Zwischenfrage! - Jeder Nutzer kann dem derzeit erstellten Geodatenkatalog des Bundes entnehmen,
ob die für ihn interessanten Geodaten kostenfrei sind
oder mit welchen Kosten er beim Bezug der Geodaten zu
rechnen hat.
Zur Förderung und Weiterentwicklung der Anwenderfreundlichkeit der Geodateninfrastruktur Deutschland
möchte ich hervorheben, dass ganz intensiv an der Fertigstellung des Internetportals GeoPortal.Bund gearbeitet
wird. Auch der weit größere, erweiterte Teil des Portals,
aus dem nicht nur Metadaten, sondern auch Geodaten
verfügbar sind, soll noch im Herbst öffentlich verfügbar
sein. Schon im Sommer dieses Jahres wird auch das Onlinebestellsystem des Geodatenzentrums des Bundes,
das der Öffentlichkeit auf der CeBIT vorgestellt wurde,
freigegeben werden. Sie sehen, es geht voran und es
wird konkret gehandelt. Das ist gut so.
({2})
Es gibt noch andere Initiativen und Entscheidungen,
auf die ich jetzt nicht näher eingehen möchte. Den Forderungskatalog aus dem Antrag möchte ich insbesondere
dazu nutzen, um auf die Verbesserungsfähigkeit der Koordinierung des Geoinformationssystems beim Aufbau
der Geodateninfrastruktur hinzuweisen. Ich halte die lapidare, fast polemische Bemerkung der CDU-Kollegin
zu den Zuständigkeiten von Bund und Ländern
schlichtweg für falsch.
({3})
Für die Zwischenfrage des Kollegen Reichenbach bin
ich sehr dankbar: Ein Geodateninformationssystem ist
nur so gut wie die Daten, mit denen es unterfüttert wird.
Dafür sind auch die Länder zuständig. Es darf nicht der
Beliebigkeit der Länder überlassen bleiben, welche Informationen hinzukommen. Es geht in der Tat um eine
verbesserte Koordinierung. Das ist der Kern dieses Antrages, den wir umsetzen wollen.
({4})
Ich will nicht über Schuld oder Nichtschuld sprechen.
Das wäre völliger Käse. Ich will die Verantwortlichkeiten benennen, die es in diesem Zusammenhang gibt. Ich
will nicht den Eindruck erwecken, dass es falsche Verantwortlichkeiten gibt. Die Länder sind mit im Boot und
haben es mit in der Hand, ob es funktioniert oder nicht.
Der Bund hat seine Hausaufgaben erledigt. Wir werden
diese wichtigen Zugangsmöglichkeiten weiterentwickeln.
({5})
Dafür brauchen wir die Mitarbeit aller und keine polemischen Bemerkungen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Abgeordnete Marion Seib.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Wer oder was hat Sie, geehrte Damen und Herren von Rot-Grün, eigentlich aufgeweckt? Der Weckvorgang hat Sie offensichtlich so erschreckt, dass Sie glatt vergessen haben, dass wichtige
Themen von nationaler Bedeutung zuerst im zuständigen
Ausschuss diskutiert werden müssen.
({0})
Oder ist Ihnen vielleicht gar nicht mehr bewusst, welcher
Ausschuss für das Thema Geodaten zuständig ist? Wollten Sie dem Wirtschaftsausschuss oder dem Innenausschuss das Thema nicht anvertrauen, sodass Sie sofort
mit Hektik im Bundestag einen Antrag einbringen mussten?
Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage unserer Fraktion war umfassend und hat Anlass zur
Hoffnung gegeben, weil Sie sich dort ausdrücklich zum
Kabinettsbeschluss der Kohl-Regierung bekannt haben.
Dieser Kabinettsbeschluss hat etwas vorangebracht. Wir
können feststellen, dass IMAGI tätig war und dass sich
die Länder selbstverständlich in der gebotenen Weise
umfassend daran beteiligt haben.
Die Politik der jetzigen Regierung hat das Thema leider nicht ausreichend befördert. Bei entsprechendem
Einsatz des zuständigen Bundesinnenministers Schily
für dieses wichtige Thema könnten wir schon über zwei
Jahre weiter sein.
({1})
Die Harmonisierung und Optimierung der administrativen Vorgaben enden nun einmal nicht bei der Regelung
der Entgelte und Abgabebedingungen für Geodaten. Es
reicht auch nicht aus, die Einbeziehung der Länder in die
Arbeit des IMAGI zu begrüßen.
Vielmehr wäre es wichtig gewesen - Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich zitiere aus Ihrer Antwort -,
die „nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes zuständigen Länder“ weiter zu fördern. Die Länder bringen sich seit Jahren über die Arbeitsgemeinschaft der
Vermessungsverwaltungen ein. Die Länder werden in
Kürze mit Unterstützung des Bundesamtes für Kartographie und Geodäsie den satellitengestützten Positionierungsdienst - SAPOS - der AdV für Navigation und
Vermessung bundeseinheitlich realisieren. Der Vertrag
hierzu wurde vor kurzem auf der Hannover Messe unterzeichnet.
In Ihrem Antrag findet sich kein Wort darüber. Sie
verlieren kein Wort über die für Notfall- und Katastrophendienste notwendigen georeferenzierten Hausnummern, die parzellenscharf nachgewiesen werden können.
Auch hierzu liegt von den Ländern ein unterschriftsreifer
Vertrag vor.
Warum haben Sie in Ihrem Antrag kein Wort über die
„Shuttle Radar Topography Mission“ verloren? Wo bleiben Ihre Aussagen über und die Finanzmittel für Galileo?
Die Geodateninfrastruktur muss in einem dauerhaften
Bezug zur Erde stehen.
Wer Ihren Antrag nach fachlichen Gesichtspunkten
durchforstet, dem bleiben nur folgende Rückschlüsse übrig:
Erstens. Sie bejubeln die Leistungen, die durch mutige Entscheidungen der Kohl-Regierung angestoßen
wurden.
Zweitens. Sie bejubeln Metainformationssysteme für
Geodatenbestände in Bundeszuständigkeit, obwohl dies
heute bei einer modernen Verwaltung bereits zur Selbstverständlichkeit gehört, und zwar auch deshalb, weil es
um eine zigfache Aufsplitterung in vielfältige Fachkompetenzen geht.
Drittens. Sie bejubeln die Leistungen der Länder, lassen in Ihrem Antrag aber dennoch nichts unversucht, die
Zentralisierung zu fördern.
Viertens. Sie fordern einen so genannten G2B-Moderator. Damit wollen Sie das Projektmanagement implantieren, das Ihnen in der Studie empfohlen wurde. Sie
bleiben aber die Auskunft über die Ausschreibungsbedingungen zur Besetzung dieser Stelle schuldig. Haben
Sie etwa schon einen Bewerber in der Hinterhand?
Fünftens. Ihre Forderung gegenüber Ihrer Regierung
nach einer schnellen Realisierung der Datenbereitstellung lässt die Vermutung aufkommen, dass es hier auch
um Vertriebsmonopole für Softwaresysteme geht. Wenn
dem so wäre, bliebe die Frage offen, welche Ausschreibung wo gelaufen ist, um dieses Problem zu lösen.
Sechstens. Die aus einer vom Wirtschaftsminister
wahrscheinlich freihändig vergebenen nordrhein-westfälischen Studie abgeschriebenen Handlungsempfehlungen geben auch keine Auskunft darüber, wie beim Erfassen, Handeln und Verwalten der Geoinformationen die
privaten Dienstleister und die Wissenschaft eingebunden werden sollen.
Meine zentrale Forderung lautet deshalb: Der Interministerielle Ausschuss für Geoinformationswesen muss
für Wirtschaft und Wissenschaft geöffnet werden. Dies
brächte Transparenz. Deshalb, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, wäre es besser gewesen, Sie hätten hier nicht nur Beschreibungen von Verwaltungssituationen geliefert, sondern klar dargestellt, auf welchen
Wegen Sie die Länder fördern wollen, damit diese ihren
Zuständigkeiten besser nachkommen können. Es wäre
wichtig gewesen, bekannt zu geben, welche Instrumente
Sie den Ländern dazu an die Hand geben wollen. Schade
um die vertane Chance.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen,
Drucksache 15/809, mit dem Titel „Nutzung von Geoinformationen in Deutschland voranbringen“. Wer von
Ihnen stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU
bei Enthaltung der FDP angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 5 und 6 auf:
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Scheer, Doris Barnett, Dr. Axel
Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt,
Hans-Josef Fell, Undine Kurth ({0}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Internationale Konferenz für Erneuerbare
Energien
- Drucksache 15/807 ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Scheer, Doris Barnett, Dr. Axel
Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt,
Volker Beck ({1}), Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Initiative zur Gründung einer Internationalen
Agentur zur Förderung der Erneuerbaren
Energien ({2})
- Drucksache 15/811 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch, dann verfahren wir auch so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Hermann Scheer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die beiden Anträge stehen in einem gedanklichen Zusammenhang, wie sich unschwer feststellen lässt. Ich möchte sowohl dazu, welchen Sinn die Konferenz hat, als auch zu
IRENA, der Internationalen Agentur zur Förderung der
Erneuerbaren Energien, einige begründende Worte sagen. Ich möchte auch sagen, warum wir vonseiten des
Parlaments die Initiativen unterstützen und vorantreiben
sollten.
1992, als die Agenda 21 verabschiedet worden ist,
fehlte in diesem berühmten und ansonsten sehr wichtigen und guten Dokument die Bezugnahme auf das Weltenergieproblem, obwohl es das Schlüsselproblem für die
Weltökologie und für die Entwicklung vieler Länder von
entscheidender Bedeutung ist. Bekanntlich geht ohne
Energie nichts. Es ist unvorstellbar und auch vom Potenzial her unmöglich, die Energieversorgung, wie sie heute
dominant ist und bei der die Industrieländer die meiste
Energie verbrauchen, auf die ganze Welt zu übertragen.
Zehn Jahre später wurde auf der Rio-plus-10-Konferenz in Johannesburg dieser Mangel der Agenda 21 behoben. Es bildete sich sogar eine andere Art der Koalition
der Willigen, eine Gruppe von Ländern - inzwischen
sind es über 100 -, die gesagt haben: Wir müssen hier sogar mehr tun, als in dem Schlussdokument von Johannesburg vereinbart wurde. Aber die Situation ist nun einmal so: Auch wenn der Geist inzwischen williger
geworden ist, sind die Initiativen, bezogen auf die internationale Situation, noch weitgehend schwach. Weltweit
wächst der Energiebedarf immer noch wesentlich schneller als der Zuwachs der Nutzung Erneuerbarer Energien,
obwohl es zwei objektive Grenzen des herkömmlichen
Energieeinsatzes gibt, die mit der Reservelage und mit
der Belastbarkeit der Ökosphäre zusammenhängen.
Deswegen wird diese Konferenz im Wesentlichen
vier Aufgaben haben:
Erstens. Das Zutrauen in die weit unterschätzten
Möglichkeiten der Erneuerbaren Energien muss gestärkt
werden.
({0})
Zweitens. Es darf nicht nur darüber diskutiert werden,
welche Nachteile finanzieller oder ökonomischer Art
- vermeintliche ökonomische Belastungen - es unmöglich machen würden, beschleunigt Erneuerbare Energien
einzuführen. Gesprochen werden muss auch über die
ökonomischen Vorteile umfassender Art, damit sie den
Entscheidungsträgern und den Gesellschaften dieser
Welt klar werden. Angesichts der extremen Energieimportabhängigkeit von Drittweltländern, die sich diese gar
nicht mehr leisten können, muss neben dem umweltpolitischen Aspekt auch über den entwicklungspolitischen
Aspekt gesprochen werden.
({1})
Drittens. Da, wo Initiativen stattgefunden haben,
müssen die Erfolge der Politik einem Vergleich unterzogen werden, damit im Sinne eines produktiven Weltföderalismus der eine vom anderen die guten Ansätze lernen
kann.
Viertens. Es muss darüber gesprochen werden, was
aus eigener Kraft realisiert werden kann. Denn es ist undenkbar, die Weltenergieversorgung nur mit den herkömmlichen Methoden gesonderter Förderprogramme
oder Subventionen auf Erneuerbare Energien umzustellen, was das eigentliche Ziel ist. Die Wirtschaftsordnungen müssen sich darauf entsprechend einrichten, gerade
wenn sie die Vorteile erkennen.
Was die Einrichtung einer Internationalen Agentur für
Erneuerbare Energien angeht, so ist dafür ein zwingendes Erfordernis gegeben, das international bisher noch
nicht ausreichend erkannt worden ist. UN-Organisationen haben viele Aufträge, aber sie sind nicht auf diese
Frage spezialisiert, auch nicht von ihrem Statut her. Es
gibt im internationalen Institutionensystem eine Reihe
von Regierungsorganisationen, die sich mit der Energieversorgung beschäftigen, etwa die Internationale Atomenergieagentur, die sich die Atomenergieförderung zur
Aufgabe gemacht hat, oder die Internationale Energieagentur, deren eigentliche Aufgabe die Sicherheit der
Versorgung mit fossilen Energien ist. Eine Regierungsorganisation - nur um diese geht es mir; Nichtregierungsorganisationen für erneuerbare Energien gibt es
kontinental und weltweit - für diesen speziellen Bereich
gibt es aber noch nicht.
Es ist ein nicht mehr tragbarer Zustand, dass sich der
Förderung der Energien, auf denen die Hoffnung der
Welt liegt und liegen muss, keine institutionelle Kraft
widmet, die dies vorantreibt. Mit der Einrichtung einer
solchen Agentur geht es zunächst einmal darum, die „institutionelle Waffengleichheit“, um den Begriff hier einmal zu benutzen, herzustellen. Eine Agentur, die von ihren Statuten her auf Erneuerbare Energien konzentriert
ist, wäre weltweit ebenso ein Signal, wie es in den 50erJahren, als man die Weltenergiezukunft noch bei der
Atomenergie suchte, die 1957 gegründete Internationale
Atomenergieagentur war. Wer die Notwendigkeit einer
IRENA bestreitet, müsste konsequenterweise - das muss
man allen sagen - gleichzeitig die Forderung erheben,
die Internationale Atomenergieagentur aufzulösen,
({2})
zumindest soweit es um ihr technisches Entwicklungsprogramm geht. Wir leisten jährlich einen Mitgliedsbeitrag in Höhe von 25 Millionen Euro. Die Hälfte des gesamten Budgets der IAEA geht in die technischen
Entwicklungsprogramme, also in die Ausbildung und
das Training von Wissenschaftlern und Experten - weltweit, bis nach Afrika, obwohl dort nie ein solches Kraftwerk stehen wird -, welche sich der Förderung der
Atomenergie widmen.
Eine solche Agentur muss wesentlich dazu beitragen,
dass das überwunden wird, was eine weltweite Einführung Erneuerbarer Energien hauptsächlich verhindert.
Man braucht für eine weltweite Einführung Erneuerbarer
Energien aufgrund ihres dezentralen Charakters nämlich viele Menschen, die damit umzugehen gelernt haben. Es muss die Ausbildung von Ingenieuren, Architekten, Handwerkern und Wissenschaftlern - das, was man
international die „human capacity“ nennt - vorangetrieben werden. Das ist eine globale Ausbildungsaufgabe.
Es geht nicht um Projektförderung oder die Finanzierung; dafür gibt es schon Institutionen. Es geht darum,
dass man subsidiär dort tätig wird, wo bisher nichts geschehen ist. Es gibt zwar hier und dort Initiativen, aber
wenn man die globale Landkarte betrachtet, ist in dieser
Schlüsselfrage eigentlich bisher noch nicht viel geschehen. Deshalb bedürfen wir einer solchen Initialzündung.
Mit dieser deutschen, aber weltweit angelegten Initiative
machen wir einen großen Schritt nach vorne. Sie ist international angelegt. Alle Länder sind eingeladen, dort
Mitglied zu werden, auch wenn dem am Anfang nicht
alle folgen werden. Bei der IAEA waren es am Anfang
17 Mitglieder, nun sind es 130. Diese Entwicklung wird
bei der Agentur für Erneuerbare Energien mindestens
genauso positiv sein.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat die Abgeordnete Kristina Köhler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die entscheidende Frage in der heutigen Debatte ist nicht, ob es
sinnvoll ist, den Transfer Erneuerbarer Energien in Entwicklungs- und Schwellenländer zu fördern. Natürlich
ist das sinnvoll;
({0})
denn die Sicherstellung einer Versorgung mit nachhaltiger Energie in diesen Ländern ist eine der grundlegenden
Voraussetzungen für deren wirtschaftliche und soziale
Entwicklung, für Armutsbekämpfung und Friedenssicherung sowie für die Erschließung künftiger Exportmärkte, wovon nicht zuletzt die westlichen Industrienationen profitieren werden. Die entscheidende Frage ist
Kristina Köhler ({1})
vielmehr, mit welchen Instrumenten und mit welchen
Kosten-Nutzen-Relationen wir das tun wollen.
({2})
Wir müssen also die verschiedenen Instrumente miteinander vergleichen und gegeneinander abwägen. Genau das vermisse ich in Ihrem Antrag. Wenn es Ihnen
tatsächlich um Klimaschutz, Ressourcenschonung, Armutsbekämpfung und eine langfristige Energieversorgung gehen würde, wie Sie in Ihrem Antrag schreiben,
dann würde sich die von Ihnen geplante Agentur nicht
ausschließlich dem Transfer Erneuerbarer Energien widmen.
({3})
Der Aufbau einer Versorgung mit Erneuerbaren Energien
ist Teil eines nachhaltigen Energieversorgungskonzeptes,
aber eben nicht mehr als ein Teil. Die einseitige Ausrichtung auf Erneuerbare Energien ist der falsche Weg, um
eine nachhaltige Energieversorgung sicherzustellen.
({4})
Was ist beispielsweise mit den immensen CO2-Einsparpotenzialen, die durch die Weiterentwicklung fossiler Technologien erreicht werden können, was teilweise
wesentlich kostengünstiger ist als der Ausbau bei den
Erneuerbaren Energien? Wollen Sie dies den Entwicklungsländern vorenthalten?
({5})
Was ist mit den konventionellen Energien, die Ressourcen schonend und wirtschaftlich eingesetzt werden können, was in den Entwicklungsländern sehr sinnvoll sein
könnte? Davon ist in Ihrem Antrag kein Wort zu finden.
Wirtschaftlichkeit und Kosteneffizienz gehören auch
zu einer nachhaltigen Energiepolitik und dürfen nicht
hinter ideologischen Scheuklappen und einer unkritischen Euphorie für Erneuerbare Energien verschwinden.
({6})
Wirtschaftlichkeit und Kosteneffizienz werden wir
aber nur mit einem Energiemix erreichen sowie mit einer
an Effizienzgesichtspunkten orientierten Förderung Erneuerbarer Energien. Wir wollen doch nicht auf internationaler Ebene die Fehler wiederholen, die wir in
Deutschland mit unserer Subventionspolitik beispielsweise bei der Windenergie machen. Diese Art der Subventionspolitik ist kein Exportschlager.
({7})
Neben einer differenzierten Betrachtungsweise vermisse ich bei Ihnen auch eine realistische Bestandsaufnahme. Eine Initiative zur Gründung einer internationalen Agentur zur Förderung Erneuerbarer Energien ist ja
nun kein sonderlich origineller Gedanke.
({8})
Es gibt weltweit sehr viele Institutionen und Projekte,
die sich dieser Frage widmen. Ich möchte Ihnen nur fünf
davon nennen: Es gibt erstens das Deutsche Windenergie-Institut, das sich der Aus- und Weiterbildung im
Ausland widmet. Zweitens gibt es das Internationale
Transferzentrum für Umwelttechnik, das sich seit 1996
genau dem widmet, was Sie für diese Agentur vorsehen.
Drittens gibt es die Vereinten Nationen, die im Rahmen
der UNEP-Programme an der Erforschung und Durchsetzung Erneuerbarer Energien arbeiten. Viertens gibt es
das 1990 gegründete UNEP Collaborating Centre on Energy and Environment, das sich dem Wissenstransfer
über Erneuerbare Energien widmet. Fünftens gibt es das
von der UN initiierte AREED-Projekt in Afrika, durch
das regionale Unternehmen, die sich im Bereich der Erneuerbaren Energien engagieren wollen, unterstützt werden.
({9})
Statt mit IRENA nun eine zusätzliche, kostenintensive Institution zu schaffen, wäre es sehr viel sinnvoller,
diese bestehenden Institutionen besser miteinander zu
vernetzen und ihre Agenda, wo nötig, zu erweitern.
({10})
Dieser Meinung ist übrigens auch das Darmstädter ÖkoInstitut.
({11})
Zugegeben: Eine neue Agentur zu schaffen lässt sich natürlich sehr viel publikumswirksamer inszenieren, als
eine Institution auszubauen, die es bereits gibt. IRENA
ist ja auch ein sehr schöner Name. Wir sollten uns von
schönen Namen aber nicht zu viel versprechen. Dies
zeigt ebenfalls die vor allen Dingen durch Wohlklang
beeindruckende Task Force Erneuerbare Energien,
die 2001 von der G 8 auf der Weltenergiekonferenz in
Buenos Aires initiiert wurde. Damals wurde ein Finanzbedarf bis zum Jahre 2020 von mehreren 100 Milliarden
US-Dollar veranschlagt. Schauen wir in den Koalitionsvertrag, stellen wir fest, dass Sie für den Ausbau Erneuerbarer Energien und die Steigerung der Energieeffizienz
in den Entwicklungsländern in den nächsten fünf Jahren
jeweils 500 Millionen Euro veranschlagen. Dies ist nun
wirklich nur ein äußerst kleiner Bruchteil der von der
Task Force Erneuerbare Energien veranschlagten
Summe. An dieser Stelle zeigt sich, wie weit der rotgrüne Anspruch und die finanzielle Wirklichkeit auseinander klaffen.
({12})
Wenn Nachhaltigkeit mehr sein soll als eine Worthülse, dann müssen wir die umwelt- und entwicklungspolitischen Instrumente einer Kosten-Nutzen-Analyse
unterziehen. Einer solchen Analyse hält IRENA nicht
stand.
({13})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Vorbereitungen für die Internationale Konferenz für Erneuerbare Energien, zu der Bundeskanzler Schröder in Johannesburg eingeladen hat, laufen auf Hochtouren. Über
100 Länder haben schon signalisiert, dass sie dabei sein
wollen. Mit ihnen zusammen werden wir die Agenda
dieser internationalen Konferenz festlegen.
Ich glaube, das ist ein bedeutender Hoffnungsschimmer. Wenn wir in die Zeit nach dem großen Aufbruch in
Rio zurückblicken, stellen wir fest, dass die Umweltkonferenzen deutlich an Dynamik verloren haben. Nunmehr
haben wir einen neuen Ansatz gewählt, indem wir sagen:
Lasst uns diejenigen zusammensuchen, die nicht immer
über die Lasten klagen, wenn es um den Klimaschutz
geht, sondern die sich - zum Beispiel für die wirtschaftliche Entwicklung - auch etwas davon versprechen.
({0})
Bundeskanzler Schröder hat der Staatengemeinschaft
diesen Ansatz angeboten. Dieser wird auch aufgegriffen,
aber leider nicht von Ihnen. Ich finde es sehr bedauerlich
und schade, dass Sie sich an der IRENA abgekämpft
- dazu sage ich gleich noch etwas -, zur Konferenz aber
kein einziges Wort gesagt haben.
({1})
Ich möchte Sie ausdrücklich dazu einladen, dass wir als
Parlament diese Konferenz gemeinsam begrüßen, auf
den Weg bringen und positiv begleiten.
({2})
Mit dieser Konferenz wollen wir zeigen, dass sich
Klimaschutz auch wirtschaftlich lohnt und er eine
Chance für die wirtschaftliche Entwicklung bietet. Er
bietet die Chance, vom Öl wegzukommen; das ist aktuell
eine sehr wichtige Diskussion. Wir müssen die Abhängigkeit von krisengeschüttelten Regionen überwinden.
Im „long run“ wollen wir erst 50 Prozent und dann
100 Prozent der Bevölkerung mit Strom, Wärme und
Treibstoff von heimischen Erneuerbaren Energieträgern
versorgen. Wir wollen auch aufzeigen, dass die Erneuerbaren Energien ein großes Potenzial zur Bekämpfung
der Armut haben. Viele Menschen in der Welt sind eben
noch nicht an große Energieversorgungssysteme angeschlossen. Die dezentralen Erneuerbaren Energien bieten
eine gute Chance, diese Menschen preiswert in den Genuss von Strom und Wärme kommen zu lassen.
({3})
Wir hoffen, dass diese Konferenz eine Aufbruchstimmung initiiert, damit die Staaten zusammenarbeiten und
Bremser keine Chance mehr haben, um so den Klimaschutz voranzutreiben.
In diesem Zusammenhang halte ich die IRENA für
ein absolut notwendiges Instrument. Sie verlangen, die
Instrumente abzuwägen. Was haben wir denn gemacht?
Seit Jahren wägen wir die Instrumente ab, und zwar so
lange, bis sie auf dem Niveau sind, in dem Sie jetzt in die
Diskussion einsteigen. Wir sind nach den Jahren der Abwägung zu dem Ergebnis gekommen: Zusätzlich zu den
bestehenden Institutionen bedarf es einer IRENA, gerade
weil es für den atomaren und den fossilen Bereich vergleichbare Institutionen gibt. Damit ziehen wir gleich
und machen deutlich: Bei der weltweiten Vertretung der
Konzepte der Erneuerbaren Energien soll Waffengleichheit herrschen.
({4})
Eine entsprechende Institution für die fossilen Energien
- falls Sie das nicht wissen - gibt es doch längst.
Die IRENA soll in bilateralen Gesprächen gegründet
werden. Wir werden versuchen, möglichst viele Staaten
davon zu überzeugen, diese internationale Agentur mit
uns zusammen zu gründen. Sie soll vor allen Dingen
dazu dienen, den Technologie- und den Know-howTransfer zu organisieren. Hermann Scheer hat eben
vollkommen richtig gesagt, dass es einen großen Unterschied macht, ob man große Kraftwerke baut oder dezentral Erneuerbare Energien einsetzen möchte. Es
bedarf umfassender Schulungsprogramme für die Menschen vor Ort, damit sie eine Biogasanlage auch fahren
können; denn so einfach ist das nicht.
Die IRENA soll darüber hinaus dazu dienen, den
Drive, der von dieser Konferenz ausgeht, kontinuierlich
weiterzutragen, damit auf diese Weise neue Impulse und
Debatten über die richtigen Instrumente angeregt werden. Es ist nun nicht mehr die Zeit, darüber zu diskutieren, ob wir eine IRENA brauchen, sondern es ist Zeit,
die Ärmel hochzukrempeln, um mit den Ländern der
Welt, die mit uns gemeinsam vorangehen wollen, diese
Institution zu gründen.
Danke.
({5})
Es spricht jetzt die Abgeordnete Angelika
Brunkhorst.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Sinne einer guten internationalen Politikkoordinierung bestehen bei der FDP gegen die Internationale
Konferenz zur Förderung Erneuerbarer Energien, die für
nächstes Jahr in Bonn geplant ist, prinzipiell keine Bedenken. Ich muss allerdings dazu sagen, dass uns die
Eile und die Kombination mit dem Antrag zur IRENA,
der Internationalen Agentur zur Förderung Erneuerbarer
Energien, stutzig macht. Wir fragen uns in diesem Zusammenhang: Gibt es nicht schon genügend außerparlamentarische Gremien in Deutschland, deren Bedeutung
oftmals wirklich fragwürdig ist? Die FDP kritisiert, dass
unter dieser Regierung verstärkt eine Entparlamentarisierung politisch wichtiger Entscheidungsbereiche stattfindet.
({0})
Die Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen haben uns also
mit der IRENA noch kurz vor Ostern ein Kaninchen aus
dem Hut gezaubert. Das stellt sich für uns so dar: Wir
müssen noch schnell einen Antrag machen, damit wir
das Parlament im Boot haben und frei nach dem Märchen vom Hasen und dem listigen Igel sagen können:
Wir sind schon hier. Ich meine, es mangelt Ihnen an der
gebotenen Sorgfalt.
({1})
Erstens. Die Einrichtung dieser Internationalen Agentur ist präjudizierend für ähnliche Einrichtungen in anderen Politikbereichen.
({2})
Eine Gründung ist mit erheblichem Finanzbedarf verbunden, und zwar bei einem ständig sinkenden Umweltbudget.
Zweitens. Die Frage, ob man die IRENA überhaupt
braucht oder ob diese Funktion nicht von dem ohnehin
geplanten Begleitkreis für die internationale Konferenz
in Bonn übernommen werden kann, stellt sich hier ganz
dringend. Da die Kollegin von Bündnis 90/Die Grünen,
Frau Hustedt, eben erklärt hat, IRENA sei so wichtig,
frage ich mich: Warum wurde der Antrag nicht dem üblichen Beratungsverfahren im Umweltausschuss unterzogen?
Drittens. Eine Spezialagentur für spezifische Energiearten leidet aus Sicht der Liberalen an demselben Mangel wie das EEG insgesamt: Es werden selektiv einzelne
Energieformen bevorzugt. Dies führt zu einer Ungleichbehandlung der Energieträger, die wir uns angesichts der
anstehenden Probleme der globalen Klima- und Energiepolitik nicht leisten können.
Lassen Sie mich das präzisieren: Zum einen wissen
wir nicht, was IRENA eigentlich kosten soll. Das wollen
Sie der Regierung überlassen. Dieses Vorgehen ist nicht
rechtmäßig. Ich denke, wenn der Bundestag über die
Einrichtung der Agentur abstimmen soll, müssen Sie
dem Parlament einen bezifferbaren Vorschlag machen.
({3})
Zum anderen ist der Antrag, wie ich meine, parlamentarisch unangemessen, weil Sie es ohne weiteres der Regierung überlassen wollen, die Agentur einzusetzen.
Eine weitere Spezifizierung findet nicht statt.
({4})
Ich denke, das ist der Bedeutung des Themas nicht angemessen.
({5})
Die Liberalen werden einen solchen Blankoscheck
auf keinen Fall ausstellen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Anke Hartnagel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich bin etwas erstaunt darüber, wie die Debatte gegenwärtig vonseiten der CDU/
CSU und der FDP geführt wird. Ich kann mich daran erinnern, dass in der jüngsten Sitzung des Umweltausschusses festgehalten wurde, man wolle gemeinsam an
die Überarbeitung des EEG herangehen und man sei sich
einig über die Bedeutung der nachhaltigen Energien.
Aber die Argumente in dieser Diskussion verfolgen die
entgegengesetzte Richtung. Das verstehe ich nicht.
({0})
- Ich glaube schon. Es hat durchaus mit nachhaltigen
Energien zu tun. Es geht darum, die Versorgung mit
nachhaltigen Energien auf internationaler Ebene - ob in
Osteuropa oder in Entwicklungsländern - mit vernünftigen Konzepten umzusetzen.
({1})
Darum geht es.
({2})
Das bedeutet eigentlich, dass Sie, wenn Sie das EEG
überarbeiten wollen, den nachhaltigen Energien eine
große Priorität einräumen wollen. Aus Ihren Ausführungen geht das aber nicht hervor.
Ich verstehe auch Ihre Äußerung nicht, Frau
Brunkhorst, dass das Parlament nicht beteiligt werde.
Schließlich können wir die Agentur gar nicht einsetzen.
Ich denke, dass es richtig ist, einen Antrag einzubringen,
in dem die Regierung aufgefordert wird, dies zu tun. Davon sollten wir nicht abrücken. Eine Entpolitisierung
kann ich nicht erkennen; denn die Parlamentarier sind
sehr wohl an der Vorbereitung beteiligt. Insofern weiß
ich nicht, worin die Entpolitisierung bestehen soll.
Ich möchte noch einige Ausführungen machen. Die
Förderung regenerativer Energien ist untrennbar mit der
Armutsbekämpfung verknüpft. Wir, die Industrieländer, tragen dabei eine große Verantwortung. Deswegen
ist es notwendig, dass wir uns gemeinsam mit den Entwicklungsländern an einen Tisch setzen.
Die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns der Weltgemeinschaft wurde gerade in Johannesburg wieder
deutlich. Bundeskanzler Schröder hat dort zu einer internationalen Konferenz nach Deutschland eingeladen.
Schon im kommenden Frühjahr - ich begrüße es, dass es
so schnell geht - wird diese Konferenz stattfinden. Das
heißt, diese Bundesregierung nimmt ihre Verantwortung
wahr.
({3})
Die deutschen Erfolge bei der Förderung Erneuerbarer
Energien sind nicht ohne Grund auf dem Johannesburger
Gipfel als weltweit beispielhaft bewertet worden.
Zur Konferenz: Wichtig für das Parlament ist - ich
habe das eben bereits ausgeführt -, dass neben der Deutschen Energie-Agentur, deutschen Organisationen und
Unternehmen, die auf dem Gebiet der Erneuerbaren
Energien tätig sind, Umweltschutzverbänden und Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit auch die Parlamentarierinnen und Parlamentarier aller Fraktionen in
die weitere Vorbereitung der Konferenz einbezogen werden. Wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben
also die Möglichkeit der kritischen und konstruktiven Begleitung zur Vorbereitung der Konferenz. Nutzen wir
diese Chance, liebe Kolleginnen und Kollegen, anstatt
uns zu beklagen, dass wir nicht beteiligt würden!
({4})
Mit dieser Konferenz geben wir einen internationalen
Anstoß zum weltweiten Ausbau der Erneuerbaren Energien. Zukunftsenergien sind das Mittel, Armut zu bekämpfen und gleichzeitig Klima und Umwelt zu schützen. Denn eines muss uns allen klar sein: Zwei
Milliarden Menschen haben derzeit keinen Zugang zu
Energie. Das muss man sich vorstellen. Dieser Zugang
ist aber unerlässlich für den wirtschaftlichen Fortschritt,
die Entwicklung eines Gesundheitswesens und eines Bildungssystems, kurz gesagt: für die Bekämpfung der Armut. Erst wenn es den Entwicklungsländern gelingt, ihre
heimische Erneuerbare Energie zu nutzen, werden Sie
aus der Energie- und damit aus der Armutsfalle herauskommen. Um auch dies klar zu sagen: Atomenergie
kann hierbei nicht die Lösung sein.
({5})
Auch fossile Energien sind keine Alternative. Wie
sich die Abhängigkeit gerade vom Öl auswirkt, können
wir momentan täglich am Fernseher verfolgen. Wenn die
Weltgemeinschaft die globale Energiewende mit allen
ihr zur Verfügung stehenden Mitteln einleitet, können
Konflikte um erschöpfliche - sprich: fossile - Energieträger vermieden werden. Das verdeutlicht: Erneuerbare
Energien haben eine friedenstiftende Wirkung.
({6})
Lassen Sie mich noch einen Punkt unterstreichen. Es
kann nicht darum gehen, dass die Industrieländer den
Entwicklungsländern ihre Technologien aufdrängen. Wir
können und müssen voneinander lernen. Ein Export von
Know-how ist natürlich wichtig, aber er macht nur Sinn,
wenn die ökonomischen, ökologischen und kulturellen
Gegebenheiten in den jeweiligen Ländern berücksichtigt
werden. Darum ist es auch so wichtig, dass auf der Konferenz nicht nur die Regierungsvertreter aller beteiligten
Länder zusammenkommen, sondern auch Nichtregierungsorganisationen und Interessenvertreter der privaten Wirtschaft. Darüber hinaus ist es ein ebenso wichtiger Schritt, dass parallel zur Konferenz die Initiative für
eine Internationale Agentur für Erneuerbare Energien,
die IRENA, realisiert wird.
Ich komme zum Schluss und möchte nur noch eine
Bemerkung machen. Wir können all diese Probleme und
Vorhaben, die wir jetzt dargelegt haben, nur bewältigen
und die globale Energiewende nur dann vorantreiben,
wenn wir uns gemeinsam anstrengen. Die Konferenz
und die internationale Agentur sind entscheidende
Schritte auf diesem Wege. Ich bitte Sie, meine Damen
und Herren von der Opposition, das zu bedenken und in
Ihre Überlegungen einzubeziehen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ralf Brauksiepe.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit zunehmendem Abstand zur Kioto-Konferenz wird
immer deutlicher, wie bedeutsam die damals gefassten
Beschlüsse waren, die ganz wesentlich von der damaligen Bundesumweltministerin Angela Merkel geprägt
und initiiert worden sind.
({0})
In der Kontinuität dieser Politik sind wir auch heute
fest entschlossen, die vorhandenen Potenziale für den
Ausbau Erneuerbarer Energien weltweit zu nutzen. Angesichts von zwei Milliarden Menschen, die weltweit
keinen regelmäßigen Zugang zu Energie haben, haben
wir dazu gar keine Alternative. Deswegen, Frau Kollegin Hustedt, ist der Begriff der „Waffengleichheit“, den
Sie hier eingeführt haben, der völlig falsche Ansatz. Es
geht nicht darum, die einen Energieträger als Waffe gegen die anderen einzusetzen. Wir brauchen sie alle, wenn
wir zwei Milliarden Menschen ohne Zugang zu Energie
mit Energie versorgen wollen. Das ist unser Ansatz.
({1})
Dabei ist es notwendig, mit dem gebotenen Augenmaß vorzugehen. Ich verstehe, dass Sie uns nicht glauben, aber ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen, was
beispielsweise die Europäische Kommission in der
Vorbereitung des Johannesburg-Gipfels im letzten Jahr
völlig zu Recht festgestellt hat. Dort heißt es, dass - ich
zitiere der erwartete Anstieg des Energieverbrauchs in den
Entwicklungsländern nicht hauptsächlich durch die
erneuerbaren Energien abgedeckt werden kann, die
für viele dieser Länder derzeit unerschwinglich
sind.
Deswegen ist es so notwendig, sämtliche Maßnahmen
zur Steigerung der Energieeffizienz bei allen Energieträgern weltweit entschlossen zu nutzen.
Zur Vollständigkeit dieser Situationsbeschreibung gehört eben auch, dass die fossilen Energieträger, die in
vielen Entwicklungsländern unter günstigen geologischen Rahmenbedingungen reichlich vorhanden sind,
bei der Energieversorgung der Menschen gerade auch in
den Entwicklungsländern eine unverzichtbare Rolle
spielen und auch in Zukunft spielen werden. Deswegen
kann es nicht darum gehen, eine ideologisch geprägte
Debatte über Wert oder Unwert einzelner Energieträger
zu führen.
({2})
Entscheidend ist doch vielmehr, dass die Energieversorgung einer weiterhin wachsenden Weltbevölkerung auf
Nachhaltigkeit aufgebaut wird. Nachhaltigkeit ist aber
kein Synonym für Erneuerbare Energien. Auch hier verweise ich Sie auf das, was die Europäische Kommission,
die Sie in Ihre Planungen einbeziehen wollen, dazu festgestellt hat: Die traditionelle Form des Einsatzes von Biomasse in weiten Teilen Afrikas ist eben nicht nachhaltig.
Ähnliches kann man über die Wasserkraft sagen. Außerdem wird kein verantwortlicher Politiker ernsthaft den
Versuch unternehmen wollen, den Entwicklungsländern, die sich selbst preiswert mit fossilen Energieträgern versorgen können, die Nutzung der vorhandenen
Potenziale auszureden. Es geht hier also auch um die
Entwicklung und Verbreitung von Technologien für eine
möglichst saubere Nutzung von Kohle, Öl und Gas.
Frau Kollegin Hartnagel, Sie waren in der letzten Legislaturperiode ja noch nicht Mitglied des AwZ. Deshalb
sage ich Ihnen: Der AwZ hat zum Beispiel Anhörungen
zum Thema Megacities durchgeführt, die ein immer
größer werdendes Problem in den Entwicklungsländern
sind. Man wird nicht alle Megacities nur mit Erneuerbaren Energien versorgen können. Hier braucht man einen
sinnvollen Energiemix. Genau um den geht es uns.
({3})
Jetzt komme ich auf die für das nächste Jahr geplante
internationale Konferenz für Erneuerbare Energien zu
sprechen. Frau Kollegin Hustedt, in meiner Fraktion sind
fast fünfmal so viele Abgeordnete wie in Ihrer. Deswegen muss nicht jeder von uns - ich bitte um Ihr Verständnis - das gesamte Thema abarbeiten. Ich möchte Ihnen
nur so viel dazu sagen: Wir unterstützen grundsätzlich
diese Konferenz und sind auch bereit, in dem von Ihnen
angeregten nationalen Begleitkomitee engagiert mitzuarbeiten, weil wir uns aus Erfahrung versprechen, dass solche Konferenzen auch dringend benötigte Impulse für
das politische Handeln in der Zeit danach setzen werden.
({4})
Ich möchte Ihnen aber auch deutlich sagen, was uns
an Ihrem Antrag zu dieser internationalen Konferenz
stört. Hieran wird wieder die Tatsache sehr deutlich
- das werfe ich Ihnen vor -, dass Sie alle wichtigen globalen Fragen letztlich immer unter innenpolitischen Aspekten beantworten.
({5})
Das begann ja mit dem von Ihnen gerühmten Besuch des
Bundeskanzlers in Johannesburg. Der wahlkämpfende
Bundeskanzler hat seine damalige Rede ganz bewusst in
deutscher Sprache gehalten, obwohl Deutsch keine Konferenzsprache war. Er hat dies nicht getan, weil er nicht
in der Lage gewesen wäre - das war nicht das Problem
-, einen fünfminütigen englischsprachigen Text vom
Blatt abzulesen. Er hat das vielmehr getan, weil sich
seine Rede nicht in erster Linie an die Teilnehmer der
Konferenz in Johannesburg, sondern an die deutsche Öffentlichkeit gerichtet hat. Die Art und Weise, wie Sie
Klimapolitik betreiben, ist das Problem.
({6})
Daher müssen wir Ihren Antrag ablehnen, in dem Sie behaupten - ich weiß, das tut weh -, dass der Bundeskanzler mit dieser Art des Auftretens großen Anklang gefunden hätte. Seine Art hat auf die Teilnehmer dieser
Konferenz eher abstoßend gewirkt. Für uns ist es auch
nicht akzeptabel - um es ganz deutlich zu sagen -, dass
Sie versuchen, durch die Schaffung oder die Nutzung
solcher internationalen Ereignisse davon abzulenken,
dass Sie Ihre Hausaufgaben nicht erledigen.
({7})
Zum Abschluss möchte ich Ihnen ein paar einschlägige und beeindruckende Zahlen zu den Ausgaben des
Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Bereich der bilateralen technischen und finanziellen Zusammenarbeit im Jahr 1998
und - damit Sie vergleichen und sehen können, wohin es
geht - im Jahr 2003 nennen. Die Ausgaben für den Umwelt- und Ressourcenschutz im Entwicklungshilfehaushalt betrugen 1998 420 Millionen Euro, 2003 nur noch
372 Millionen Euro. Für Bildung wurden 1998 146 Millionen Euro ausgegeben. 2003 sind es nur noch 111 Millionen Euro. Die Ausgaben für die Bevölkerungspolitik
betrugen 1998 69 Millionen Euro, 2003 nur noch
58 Millionen Euro.
({8})
Die Ausgaben für Energieerzeugung und -versorgung in
der Entwicklungszusammenarbeit - das ist ein ganz
wichtiger Kernbereich - betrugen 1998 133 Millionen
Euro. Im Haushalt 2003 sind nur noch 72 Millionen
Euro eingestellt. Das ist die bittere Realität Ihrer Politik.
Wir werden es nicht zulassen, dass Sie von diesem Versagen durch internationale Konferenzen und festliche
Empfänge ablenken. Nicht Reden, sondern Handeln ist
gefragt. Darauf kommt es an und daran werden wir Sie
messen.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 15/807 mit dem Titel „Internationale Konferenz für Erneuerbare Energien“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen
worden.
Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 15/811
mit dem Titel „Initiative zur Gründung einer Internationalen Agentur zur Förderung der Erneuerbaren Energien“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? ({0})
Enthaltungen? - Auch dieser Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H.
Carstensen ({1}), Albert Deß, Helmut
Heiderich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Hürden für die Biotechnik abbauen
- Drucksache 15/803 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch erhebt sich dagegen nicht. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Abgeordnete Helmut Heiderich.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn der heutigen Plenarsitzung hat der Bundestag über die technologische Leistungsfähigkeit unseres Landes debattiert. Dabei sind von führenden
Personen der rot-grünen Koalition deutliche und hehre
Worte vorgetragen worden. Zwei Beispiele: „Aus unserem Land muss mehr an technologischen Innovationen
kommen“, äußerte Ex-Grünen-Chef Kuhn. „Wir wissen,
dass Technologie in großem Stil gekauft werden muss,
weil wir sie nicht mehr selbst haben“, sagte SPD-Fraktionschef Müntefering. Seine Folgerung lautete: „Eine
breite Aufbruchstimmung für technologische Innovationen ist deshalb notwendig.“ In diesem Ton ging es eine
ganze Zeit lang weiter.
Solche Worte hören wir zwar gern, aber wir hören sie
auch schon seit langem.
({0})
Dann allerdings, wenn es um die Umsetzung, um praktisches Handeln, geht - auch das ist heute Morgen schon
gesagt worden -, bleibt von alledem relativ wenig übrig.
Negativstes Beispiel dafür ist die Biotechnik.
Mehrfach hat Ihr Bundeskanzler die Biotechnologie
als die Schlüsseltechnologie dieses Jahrhunderts bezeichnet. Doch zumindest im Bereich der Biotechnik
halten Sie diesen Beritt verschlossen. Sie haben diese
Technologie weggeschlossen und unternehmen alles, um
den Schlüssel versteckt zu halten. Dabei hat Ihre Bundesregierung selbst im europäischen Ministerrat erklärt,
das Moratorium zur Forschung und Entwicklung gentechnisch verbesserter Pflanzen sei rechtswidrig. Die
Bundesregierung hat die europäische Vereinbarung von
Lissabon, in der gesamten Biotechnik bis zum
Jahre 2010 weltweit führend zu sein, mit ausgehandelt
und ohne Wenn und Aber unterschrieben.
Doch das politische Handeln sieht völlig anders aus:
Das Moratorium, also der Stopp von Forschung, Entwicklung und wirtschaftlicher Anwendung, hat die Aufbruchstimmung und die Aufholjagd der 90er-Jahre in
Deutschland wie in Europa beendet. So ist nach Feststellung der EU zum Beispiel die Zahl der Freisetzungsanträge in der Forschung seit 1998 um sage und schreibe
76 Prozent zurückgegangen. In Deutschland ist sie sogar
noch stärker zurückgegangen. Die EU-Kommission
stellte in ihrem Forschungsfortschrittsbericht vom März
2003 - er ist nur wenige Tage alt - fest, dass die neu gegründeten, jungen Unternehmen der Biotechnikbranche
- darauf haben auch die Regierungsfraktionen heute
Morgen hingewiesen - stark einbrechen, Insolvenz erleiden oder gänzlich ins Ausland verschwinden.
Deshalb, so meinen wir, muss sich die Bundesregierung intensiv für die umgehende Aufhebung des Moratoriums einsetzen.
({1})
Sie darf diese Aufhebung nicht wieder an neue, aufschiebende Bedingungen knüpfen, wie es Ministerin
Künast vor wenigen Tagen mit der Feststellung andeutete, erst müssten alle EU-Richtlinien, die es in diesem
Aufgabenfeld gebe, in Kraft sein, dann könne man darüber reden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das wäre
tatsächlich das Ende jeder positiven Entwicklung in diesem Technologiebereich.
({2})
Man denke nur daran, dass die Bundesregierung die Umsetzung der EU-Richtlinie seit 1998 vor sich herschiebt.
Dazu hat die EU in ihrem Fortschrittsbericht gesagt, dies
bremse jede weitere Entwicklung in diesem Bereich.
Am 24. April 2003, also in genau 14 Tagen, veranstaltet die EU-Kommission eine Tagung über die neuesten
Forschungsergebnisse zur Koexistenz von gentechnischem und nicht gentechnischem Pflanzenbau. Auch das
ist ein Grund, weshalb wir diesen Antrag heute in das
Plenum eingebracht haben.
Die Bundesregierung ist nun gefordert, eine zügige
Verabschiedung von Leitlinien auf der Grundlage gesicherter Erkenntnisse zu fordern und zu fördern. Sie ist
jedoch nicht gefordert, Detailfragen, zum Beispiel nach
den Einzelheiten der Haftungsregelungen, zur Vorbedingung für die weitere Entwicklung zu machen. Es würde
Jahre dauern, bis sich die gesamte EU auf detaillierte Bestimmungen tatsächlich einigen könnte. In diesem Bereich muss jetzt nach dem Subsidiaritätsprinzip gehandelt werden, zumal wir in Deutschland bereits ein
umfassendes und ausreichendes Haftungsrecht für all
diese Fragen haben.
({3})
- Verehrte Frau Höfken, interessanterweise hat das sogar
Ihr Kollege Trittin festgestellt und bestätigt. Wie ich einer Meldung des VWD vom 24. März dieses Jahres entnehme - sie ist also ganz aktuell -, hat er Folgendes gesagt - ich zitiere -:
Auch für die EU-weite Regelung von Schäden
durch gentechnisch veränderte Organismen ({4})
sei von deutscher Seite kein Bedarf. In Deutschland
… sei dieser Bereich durch die zivilrechtliche Haftung geregelt.
({5})
Also, auch Herr Trittin hat gelegentlich einmal Recht.
Ich glaube, dort hat er eine richtige Äußerung getroffen.
Ich meine, an dieser Stelle eine neue Diskussion und
eine Verzögerungsdebatte zu eröffnen würde Deutschland und die Europäische Union von ihren selbst gesteckten Zielen für den Zeitraum bis 2010 vollends abbringen.
Wo heute Forschung und Entwicklung verschwinden
- dessen müssen wir uns doch immer bewusst sein -,
verschwinden morgen auch die Arbeitsplätze.
({6})
Ich meine, Sie müssten aus Erfahrung klug geworden
sein.
Es kann auch nicht hingenommen werden - ich greife
ein tagesaktuelles Thema auf -, was die - ich sage das
ganz bewusst - Krawallorganisation Greenpeace vorgestern wieder angestellt hat. Erstmals hat das
Robert Koch-Institut nach ausführlicher wissenschaftlicher und rechtlicher Prüfung den Versuchsanbau eines
pilzresistenten GVO-Weizens genehmigt, und das - bitte
hören Sie gut zu! - für ein Areal von zehn mal 19,5 Metern; das entspricht der Größe eines Vorgartens. So viel
ist vom großflächigen Programm des Kanzlers von der
EXPO 2000 offensichtlich übrig geblieben. Damals war
von dem Anbau auf einer Fläche von 10 000 Hektar die
Rede. Diesen Anbau hat man der Industrie auch zugesichert. Was wir jetzt sehen, ist das Ergebnis von zweieinhalb Jahren Regierungshandeln in diesem Land.
Aber - deswegen habe ich es eben gesagt - Greenpeace hat dieses Versuchsfeld bereits wieder zerstört und
unbrauchbar gemacht.
({7})
Das geschah mit der interessanten und, wie ich finde, unglaublichen Begründung, die von uns, dem Gesetzgeber,
geschaffenen rechtlichen Regeln seien für Greenpeace
nicht ausreichend.
({8})
Greenpeace hat sein eigenes Rechtsverständnis, welches
über dem des Deutschen Bundestages steht! Greenpeace
meint aus diesem Verständnis heraus, man könne Felder
verwüsten und das Eigentum anderer Leute beschädigen.
Ich glaube, das kann so nicht hingenommen werden.
({9})
Ich fordere auch von Ihnen, von den Fraktionen der Grünen, der SPD, aber auch von der Bundesregierung, dass
Sie sich von diesem Handeln deutlich distanzieren und
klar sagen, dass es in Deutschland nicht so weitergehen
darf.
Man darf nicht immer wieder das Argument hervorholen - es kam heute Morgen vom Kollegen Fell, der
gerade gegangen ist -, die Bevölkerung wolle keine
Gentechnik und deswegen brauche man sie nicht weiterzuentwickeln. Dies ist falsch, weil wir seit Jahren Tausende Tonnen an gentechnisch erzeugten Futtermitteln
nach Deutschland importieren und in der Landwirtschaft
und in der Industrie einsetzen.
({10})
- Ich habe Sie akustisch leider nicht verstehen können.
({11})
- Verbraucher haben die bestellt - richtig -,
({12})
nämlich Verbraucher, die als Landwirte diese Mittel einsetzen; ich komme gleich noch darauf zurück. Verehrter
Herr Kollege, Sie werden heute kaum noch einen Käse
aus dem Regal nehmen können, der nicht mit gentechnisch hergestelltem Lab erzeugt worden ist; Sie wissen
das alles.
({13})
Sie wissen, dass Produkte der Gentechnik längst im
Lande vorhanden sind. Sie behaupten aber immer, das
sei etwas, was man in diesem Land nicht einführen
dürfe.
Durch das Moratorium, das durch Ihre Bundesregierung mit verursacht ist, haben die Bürger bis heute keinerlei praktischen Vergleich zwischen Produktlinien unHelmut Heiderich
terschiedlicher Art. Deswegen kann man mit diesem
Argument im Prinzip gar nicht kommen.
Obwohl dieser Vergleich bis heute nicht möglich ist,
zeigen die Umfragen aus neuester Zeit, dass die Akzeptanz der Gentechnik zunehmend größer wird. Das zeigen nicht nur die Umfragen in Deutschland; das zeigen
auch Umfragen in der EU im Übrigen. Sie kennen die
letzte Allensbach-Studie zu diesem Thema. Auch in der
grünen Gentechnik - das ist darin ausdrücklich abgefragt
worden - sehen die Menschen inzwischen mehr Vorteile
als Nachteile.
Wir sind deshalb als Entscheidungsträger aufgerufen, dem aktuellen Argument des EU-Forschungskommissars Busquin vom vergangenen Freitag zu folgen.
Busquin hat das folgendermaßen formuliert - ich zitiere -:
Neue gentechnische Verfahren bieten ein immer
größeres Potenzial für die umweltfreundliche, verbraucherorientierte Sortenzüchtung.
Diesem Argument braucht man nichts hinzuzufügen.
In den 90er-Jahren - ich will noch einmal daran erinnern - haben wir mit dem Bio-Regio-Wettbewerb eine
tolle Aufholjagd geschafft: Neue Unternehmen entstanden, Netzwerke wurden geknüpft, private und öffentliche Forschungsaktivitäten waren weltweit an der Spitze
dabei. Auch hierbei lässt es die Bundesregierung an
Fortsetzung fehlen. Insbesondere fehlt es an Konzepten,
um die bisher erreichten Erfolge zu verstetigen und den
Spitzenleistungen, die in einzelnen Regionen erreicht
worden sind, auch international das Mithalten im Wettbewerb zu ermöglichen.
Dies ist nicht nur eine Frage des Geldes, das ist auch
eine Frage der Konzeption und es ist eine Frage des
Sichkümmerns um die Probleme. Ich möchte Sie von
hier aus dazu aufrufen: Suchen Sie jetzt nicht wieder
nach Ausreden, um Entwicklungen zu verhindern, führen Sie nicht wieder Diskussionen auf grundsätzlichen
ideologischen Ebenen, sondern handeln Sie, um die von
uns und von Ihnen selbst gesteckten Ziele der europäischen Agenda 2010 - das Wort ist inzwischen Mode geworden - zu erreichen,
({14})
damit wir Zukunftsentwicklung und Arbeitsplätze bei
uns im Lande schaffen und von den Entwicklungen in
anderen Regionen des Erdballs nicht weiter abgehängt
werden! Meine Damen und Herren, ich hoffe, Sie stimmen dementsprechend unserem Antrag zu.
Vielen Dank.
({15})
Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Matthias Berninger das Wort.
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um
gleich mit einer Legendenbildung aufzuräumen: Herr
Kollege Heiderich, nicht das Moratorium hat den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen in Europa gestoppt, sondern eine klare Entscheidung der Verbraucher.
Dieses Moratorium ist auf Druck einiger Regierungen in
Brüssel zustande gekommen, weil die Verbraucherinnen
und Verbraucher die schleichende Einführung der grünen Gentechnik, die in anderen Teilen der Welt möglich
war, in Europa nicht wollten.
({0})
Ich bin froh darüber, dass wir in der erweiterten Europäischen Union einen Binnenmarkt von beinahe einer
halben Milliarde Menschen haben, die es sich nicht gefallen lassen, dass irgendwelche großtechnologischen
Unternehmen ihnen Dinge vorsetzen, sondern die als
Verbraucherinnen und Verbraucher ihren klaren Willen
zum Ausdruck bringen. - Das also führte vor einigen
Jahren zu dem Moratorium.
Im Übrigen ist es nur ein De-facto-Moratorium, weil
die Kommission rein rechtlich jederzeit die Möglichkeit
hätte, es zu umgehen. Sie ist aber klug beraten, es nicht
zu tun. Sie weiß, dass die Bürgerinnen und Bürger in Europa als Verbraucherinnen und Verbraucher überhaupt
kein Interesse daran haben, dass große multinationale
Konzerne ihre Belange in den Vordergrund schieben.
({1})
Ein zweiter wichtiger Punkt: Sie haben gesagt, die
Akzeptanz für die grüne Gentechnik werde größer. Ein
Blick in die Reihen der Union macht zweierlei deutlich:
Die Akzeptanz ist nicht so besonders groß, denn es ist
kaum jemand da.
({2})
Bemerkenswerter ist aber, dass sich die Kolleginnen und
Kollegen aus dem Agrarausschuss verstecken. Ich suche
sie hier vergeblich.
({3})
- Die von der Union. - Ich weiß auch, warum sie sich
verstecken: Weil die Position, die die Union in ihrem
Antrag formuliert, nicht einmal vom Deutschen Bauernverband getragen wird.
({4})
Die Schleusen für die grüne Gentechnik zu öffnen
würde bedeuten, dass man die Interessen derjenigen
Parl. Staatssekretär Matthias Berninger
Landwirte, die gentechnikfrei produzieren wollen - die
Mehrheit der Bäuerinnen und Bauern in Deutschland
wollen gentechnikfrei produzieren -, den Interessen derjenigen opfert, die sagen, dass sie das Neue einmal ausprobieren wollen. Die Bundesregierung setzt auf Wahlfreiheit.
({5})
Um Wahlfreiheit sicherzustellen, muss man aber gerade
bei der Einführung der Gentechnik dafür Sorge tragen,
dass diejenigen, die sich für gentechnikfreien Anbau entscheiden, das auch tun können, ohne wirtschaftlichen
Schaden zu erleiden.
({6})
Nehmen Sie die große Gruppe der Landwirte, die
heute beispielsweise Raps anbaut, welcher dann nachher
in Margarine verarbeitet wird. Große Konzerne wie Unilever zum Beispiel haben sich ja entschieden, gentechnikfreie Margarine auf den Markt zu bringen. Wenn in einer Region, die für Unilever produziert, jemand damit
anfangen würde, gentechnisch veränderten Raps in großem Stil anzubauen, weil er wie der Kollege von der
Union der Meinung ist, man müsse jetzt einmal richtig
loslegen, haben alle anderen ein massives wirtschaftliches Problem. Das ist der Grund, warum Bundesministerin Künast sehr klar sagt: Die Fragen, wie die Koexistenz
von gentechnikfreier und auf Gentechnik basierender
Produktion verbindlich geregelt wird und wie klar dokumentiert wird, wo gentechnisch veränderte Organismen
angebaut werden, sind so wichtig und zentral, dass sie
erst geklärt werden müssen, bevor man das Moratorium
aufhebt.
({7})
Diese Auffassung wird von vielen europäischen Regierungen geteilt.
Ich will noch eines hinzufügen: Hierbei handelt es
sich nicht, wie Sie meinen, um eine Verzögerungstaktik;
vielmehr hat die Bundesregierung ihre Hausaufgaben
bezüglich der Frage, wie Koexistenz realisiert werden
kann, gemacht. Wir haben uns im Gegensatz zu Ihnen
massiv dafür eingesetzt, dass klare Kennzeichnungsregeln eingeführt werden. Ich freue mich, wenn sich Europäisches Parlament und Kommission auf klare Grenzwerte für die Kennzeichnung gentechnisch veränderter
Organismen verständigen.
Dazu noch eine Bemerkung: Als wir die Kennzeichnungspflicht eingeführt haben, sagte die Gentechniklobby, das sei kein Problem, und forderte, alle gentechnikfreien Produkte zu kennzeichnen, die gentechnisch
produzierten sollten stattdessen einfach so auf den Markt
kommen. Sie wäre also damit einverstanden gewesen,
alle gentechnikfreien Produkte zu kennzeichnen.
({8})
Nach der gleichen Philosophie soll nun der Anbau
betrieben werden: Jeder soll zwar gentechnikfrei anbauen können, aber derjenige, der das unbedingt will,
soll selber dafür sorgen, dass seine Produkte nicht von
gentechnisch veränderten Produkten beeinflusst werden.
Das kann es ja wohl nicht sein: Obwohl die breite Mehrheit der Landwirte für gentechnikfreien Anbau ist, soll
sie von einer Minderheit, die zusammen mit Monsanto
und anderen großen Unternehmen versucht, die Gentechnik einzuführen, gezwungen werden, ihre Produktionsmethoden zu verändern und wirtschaftlichen Schaden hinzunehmen.
Das ist unausgewogen
({9})
und widerspricht den Verbraucherrechten und auch dem
Recht auf Wahlfreiheit. Das ist der Grund, warum wir
hier eine Regelung vonseiten der Kommission erwarten
und gemeinsam mit der Kommission für eine einheitliche europäische Regelung eintreten.
Egal, was wir machen und wie wir handeln, immer erhebt die Opposition die Forderung nach einheitlichen europäischen Regelungen. In ihrem Antrag zur Freigabe
der Gentechnik heißt es dann aber plötzlich: Subsidiarität sei nötig, wir sollten einmal Tempo machen und nicht
auf europäische Regelungen warten.
({10})
Diese Doppelzüngigkeit kritisiere ich. Sie ist auch der
Grund dafür, warum ich glaube, dass Sie mit Ihrer Politik nicht die Interessen der bäuerlichen Landwirtschaft,
sondern die Interessen einer Agrarindustrie vertreten, die
in großen Strukturen organisiert ist. Sie werden Verständnis dafür haben, dass wir ein solches Vorgehen ablehnen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christel HappachKasan.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Kollege Berninger, Sie haben, wie ich meine, an
den Problemen Deutschlands vorbei- und ausschließlich
für eine rot-grüne Klientel geredet.
({0})
Sie verspielen mit Beiträgen wie dem, den Sie gerade abgegeben haben, Deutschlands Zukunft.
Ich will das durchaus näher begründen: Deutschland
droht gemeinsam mit elf anderen Ländern eine Klage
vor dem Europäischen Gerichtshof, wenn nicht umgeDr. Christel Happach-Kasan
hend die EU-Richtlinie über die Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen umgesetzt wird. So
lautete eine Meldung von heute. Schade, dass Sie nicht
näher darauf eingegangen sind. Auch wenn dies nicht
das erste Klageverfahren wäre, stellt sich für mich die
Frage, welchen Sinn es macht, diese Klage abzuwarten,
statt endlich die Richtlinie umzusetzen. Die Bundesregierung konnte in ihrer Antwort auf meine Kleine Anfrage keine einzige Schädigung von Mensch oder Umwelt durch transgene Pflanzen benennen. Sie haben die
Antwort unterschrieben, Kollege Berninger. Die grüne
Gentechnik führt somit nicht zu Gesundheits- oder Umweltschäden. Das ist eine gute Nachricht, wenn auch
nicht für Rot-Grün. Schließlich werden in sieben Ländern auf fast 60 Millionen Hektar transgene Pflanzen angebaut. Es gibt somit ausreichende und offensichtlich
gute Erfahrungen im Umgang mit transgenen Pflanzen.
({1})
Der Anbau von goldenem Reis in Asien kann helfen,
Menschen vor Erblindung zu schützen.
({2})
Goldener Reis ist eine transgene Sorte. Es gibt somit
sehr gute Gründe, den Anbau von transgenen Pflanzen
zu fördern, statt ihn zu verhindern.
({3})
In der Öffentlichkeit - auch dazu hätte ich Ausführungen von einem Vertreter der Bundesregierung erwartet setzt sich allmählich die Meinung durch, dass gentechnisch veränderte Pflanzen kein erhöhtes Risiko bedeuten. Auch der äußerst diskrete Umgang der Bundesregierung mit den Ergebnissen einer Allensbach-Studie, die
Ende 2001 veröffentlich wurde und dies belegt, kann daran nichts ändern. Es gibt somit auch eine öffentliche
Akzeptanz für einen verantwortungsvollen Umgang mit
transgenen Pflanzen.
Der Zickzackkurs der Bundesregierung bei der grünen Gentechnik ist nicht zu übersehen. Schröder wollte
den kritischen Dialog, herausgekommen ist eine Fundamentalopposition. Aber inzwischen plant Ministerin
Künast den geordneten Rückzug. Die Forderung nach
Nulltoleranz für zufällige Beimischungen wird von ihr
nicht aufrechterhalten. Gut so! Der Schwellenwert von
0,9 Prozent ist akzeptiert. Nun will die Ministerin über
Haftungsregelungen eine neue Hürde aufbauen.
Dabei ist Deutschland auch in dieser Frage kein rechtsfreier Raum. Kollege Heiderich hat darauf hingewiesen.
Es wird zu prüfen sein, inwieweit unterschiedliche Züchtungsmethoden unterschiedliche rechtliche Regelungen
erfordern. Ministerin Künast hat im „Spiegel“ erklärt,
dass Verbraucher, die sich für gentechnikfreie Lebensmittel entscheiden, auf keinen Fall mehr zahlen sollen - eine
tolle Forderung. Dabei weiß sie genau, dass schon jetzt
das Gegenteil gilt. GVO-freies Soja kostet pro Tonne zwischen 5 und 25 Euro mehr als anderes Soja, so die Antwort der Bundesregierung auf meine Anfrage. Trotzdem
sagt Ministerin Künast im „Spiegel“ solchen Unsinn.
({4})
Die grüne Gentechnik - das zeigt der Zickzackkurs
der Regierung - ist für Rot-Grün ein äußerst schwieriges
Thema. Die SPD wird an ihrem Erfolg beim Abbau der
Arbeitslosigkeit gemessen - bisher Fehlanzeige. Die
Grünen bedienen mit etwas mehr Erfolg die Klientel der
Bedenkenträger. Zusammen reicht es weder in Hessen
noch in Niedersachsen zur Regierung. Neue Arbeitsplätze können in einem Hochlohnland wie Deutschland
insbesondere in der Entwicklung und Anwendung neuer
Technologien entstehen. Wir brauchen neue Arbeitsplätze; das sollte in diesem Hause jedem klar sein.
Bei der roten Gentechnik haben in Hessen gerade die
Grünen dafür gekämpft, dass Deutschland seine Forschungsergebnisse nur zu einem geringen Anteil zur
Entwicklung von marktfähigen Produkten nutzen
konnte. Bei der grünen Gentechnik tun sich die Grünen
dabei hervor, die Entwicklung von Produkten und auch
die notwendige Forschung ins Ausland zu verdrängen.
Dafür gibt es konkrete Beispiele. Ich fordere meine Kollegen aus Schleswig-Holstein auf, für Arbeitsplätze in
unserem gemeinsamen Bundesland zu kämpfen.
({5})
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit, Sie sind
schon weit drüber.
Ja, ich komme zum Schluss. - Ein führendes norddeutsches Pflanzenzuchtunternehmen, das in SchleswigHolstein und in Mecklenburg-Vorpommern jeweils einen
Standort hatte, hat die Entwicklung transgener Sorten
nach Kanada ausgelagert.
({0})
Kämpfen Sie für Arbeitsplätze in unserem Land!
Mit Ihrer Politik kann es nicht gelingen, Arbeitsplätze
bei uns zu erhalten. Die SPD wird sich entscheiden müssen, ob sie ihre Politik an den Interessen der Menschen
im Lande oder an denen ihres grünen Koalitionspartners
ausrichtet.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Matthias
Weisheit.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der vorliegende Antrag ist von der Überschrift her eine
Mogelpackung; denn in der Überschrift steht Biotechnik,
im Antrag selber ist ausschließlich von grüner Gentechnik die Rede.
({0})
- Doch, natürlich, aber Biotechnik ist sehr viel weitergehend als grüne Gentechnik. Sie hätten anstandshalber
doch wenigstens hineinschreiben können, um was es Ihnen geht. Weil Sie das nicht getan haben, ist es eine Mogelpackung.
Sie haben mit dem Lab und den Fermenten ein biotechnologisches Beispiel gebracht, Herr Heiderich; dafür
war ich Ihnen richtig dankbar. Das ruft in der Tat in der
Bevölkerung keine Probleme hervor. Aber bei dem, was
an Saatgut und Pflanzen auf den Acker kommt, sieht es
schon anders aus. Europaweite Umfragen zeigen, dass
die Skepsis und die Ablehnung der grünen Gentechnik
im Vergleich zur Befürwortung weit überwiegen.
({1})
Ich komme zum nächsten Punkt. Die zur Verabschiedung anstehende EU-Kennzeichnungs- und Rückverfolgbarkeitsverordnung ist ein wichtiger Fortschritt,
weil sie eine Kennzeichnung auch für gentechnisch veränderte Futtermittel vorschreibt. Vom In-Kraft-Treten
dieser Verordnung hängt die von Ihnen, Frau HappachKasan, angemahnte Umsetzung der EU-Freisetzungsrichtlinie ab, die im Vergleich zur alten, bereits abgelösten Regelung hinsichtlich der Monitoring-Anforderungen einen erhöhten Sicherheitsstandard bietet. Sobald
die EU-Rückverfolgbarkeitsverordnung steht, werden
wir diese Richtlinie umsetzen. Es sind zwar noch kleinere Auseinandersetzungen mit dem Parlament zu erwarten. Aber ich hoffe, dass die noch offenen Fragen gelöst werden können. Anschließend, wenn also diese
Voraussetzungen erfüllt sind, und nicht vorher kann man
die Richtlinie umsetzen und das De-facto-Moratorium
aufheben.
Lassen Sie mich noch etwas zur Haftungsfrage sagen. Die in Ihrem Antrag vertretene Ansicht, dass sich
das Haftungsrisiko nur auf wirtschaftliche Schäden beschränkt und dass die Frage des Haftungsrisikos bei uns
gelöst sei, kann ich nicht teilen. Die Zulassungsverfahren dienen dazu, Schäden für die menschliche Gesundheit und für die Umwelt zu vermeiden. Man kann sie
aber nicht völlig ausschließen.
Ich verweise in diesem Zusammenhang auf den vom
Bundestag in Auftrag gegebenen Bericht des Büros für
Technikfolgenabschätzung „Risikoabschätzung und
Nachzulassungsmonitoring transgener Pflanzen“ vom
November 2000. Darin heißt es, dass es sich bei den
Umweltwirkungen von Freisetzungen um „unspezifische
biologische Phänomene handelt, die von einer Vielzahl
wechselwirkender Faktoren abhängig sind und die trotz
teilweise jahrzehntelanger Forschung in vielen Aspekten
nur unvollständig verstanden sind“.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Helmut Heiderich ({2})
Wenn dem so ist, dann ist die Frage nach der Haftung
nicht ganz so einfach zu beantworten.
Umweltschäden lassen sich nicht von vornherein ausschließen. Ich bin daher der Meinung, dass wir bei der
Haftung auf europäische Regelungen drängen müssen
und dass wir uns nicht auf nationale Regelungen beschränken dürfen. Ich finde es übrigens ganz toll, dass
Sie im Zusammenhang mit der Koexistenz das Subsidiaritätsprinzip anwenden wollen. Wenn wir das machen
würden, dann wären Sie die Ersten, die schreien würden:
Wettbewerbsnachteile für die deutsche Landwirtschaft!
Das kann nicht unser Ziel sein. Das Ziel muss vielmehr sein, Mindestvereinbarungen auf europäischer
Ebene zu haben. Zum Beispiel machen Pollen nicht an
den Grenzen halt. Für den im Elsass angebauten Raps
oder Mais existiert die Grenze am Rhein nicht. Die Pollen können einfach zu uns herüberfliegen. Beispiele von
größeren Dimensionen: Staub gelangt ab und zu von der
Sahara über das Mittelmeer und die Alpen bis zu mir
nach Hause. Über London befinden sich immer wieder
gewaltige Pollenkonzentrationen von Raps, obwohl in
London und in der direkten Umgebung kein Raps angebaut wird. Im Hinblick auf Haftungsregelungen muss
man also internationale - zumindest europäische - Vereinbarungen treffen und kann diese Fragen nicht bloß
auf der nationalen Ebene regeln.
({3})
Ihrer Forderung nach Aufhebung des Moratoriums
und der Wiederaufnahme der Zulassung von gentechnisch veränderten Pflanzen können wir so lange nicht
entsprechen, solange die Verordnung zur Kennzeichnung
und Rückverfolgbarkeit noch kein geltendes Recht ist
und die Freisetzungsrichtlinie noch nicht umgesetzt ist.
({4})
- Ich habe doch gesagt, dass man sie jetzt umsetzen
kann.
({5})
- Doch, wir werden sie umsetzen; Sie werden sich noch
wundern.
({6})
Auch steht noch die Klärung von Fragen bezüglich Koexistenz und Haftung aus. Es geht nicht nur um Rechtssicherheit für die Gentechnikbranche, sondern auch um
Klarheit und Rechtssicherheit für Bauern und Verbraucher.
Mich wundert es schon, dass auf dem vorliegenden
Antrag die Namen aller CDU/CSU-Verbraucherschützer
stehen, die ansonsten sehr kritisch sind, was den Verbraucherschutz angeht. In diesem Zusammenhang haben
sie ihre Vorbehalte wohl völlig vergessen.
Es muss klar sein: Wenn ich als Verbraucher - aus
welchem Grund auch immer - keine gentechnisch veränderten Produkte haben will, dann muss ich mich darauf
verlassen können, dass in dem Lebensmittel, in dem Produkt, das ich einkaufe, kein gentechnisch veränderter
Organismus enthalten ist.
({7})
- Natürlich beinhalten solche Produkte zugegebenermaßen gentechnisch veränderte Organismen bis zu dem
festgelegten Grenzwert von 0,9 Prozent. Auf genau diese
Argumentation konnte man warten: Ein bisschen lasst
ihr ja zu; dann könnt ihr es ja ganz zulassen. Das ist die
Strategie, die einmal ein Konzern gefahren hat: Sie wollten sich auf die Gentechnik einlassen und haben versucht, solche Produkte zu verkaufen. Das ist ihnen nicht
gelungen. Deshalb haben sie dies schnell wieder eingestellt.
Durch die Hintertür geht das nicht. Für den Verbraucher muss klar sein, welche Produkte er kauft.
({8})
Mich wundert es, wie gesagt, dass die Namen aller Verbraucherschützer der CDU/CSU auf dem Antrag stehen.
Dass Ihr Name, Herr Heiderich, darauf steht, hat mich
natürlich nicht gewundert.
Es bleibt noch ein Punkt, der mich angesichts Ihrer
Forderungen etwas stutzig gemacht hat: die klare Unterstützung der Biotechbranche. Zunächst einmal ist das
wieder eine Mogelpackung. Nach Lesen des Antrages
stellt sich die klare politische Unterstützung der grünen
Gentechnikbranche bzw. von ein paar Saatgutherstellern
heraus, die sich darauf spezialisiert haben. Dies zu tun,
so meine ich, ist weder Sache einer Regierung noch Sache des Parlamentes. Wenn wir die richtigen Rahmenbedingungen schaffen - wir sind gerade dabei -, dann
muss die Branche selber für Akzeptanz sorgen. Das ist
wohl der richtige Weg.
({9})
Wenn Sie die Unterstützung so verstehen sollten
- auch das könnte man herauslesen -, dass die Regierung zur Werbeagentur für diese Branche werden soll,
({10})
dann wäre das schon aus sachlichen Gründen ein Grund
genug, Ihren Antrag abzulehnen.
Ich hätte noch eine Redezeit von zwei Minuten. Ich
verzichte darauf, weil ich den vorliegenden Antrag von
vornherein für nicht beratungswürdig gehalten habe. Wir
müssen aber darüber beraten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit und verschenke die
restlichen zwei Minuten meiner Redezeit.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/803 mit dem
Titel „Hürden für die Biotechnik abbauen“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter
im Jahre 2001 ({0})
- Drucksache 15/230 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort für die Bundesregierung der Parlamentarische
Staatssekretär Gerd Andres.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
Rüstungsexportbericht 2001, den ich Ihnen hier kurz
vorstellen will, ist der dritte seiner Art. Mit ihm legt die
Bundesregierung dem Deutschen Bundestag Rechenschaft über die Rüstungsexportpolitik des Jahres 2001
ab. Diese Debatte findet vor dem Hintergrund des Krieges im Irak statt. Dies verleiht dem Rüstungsexportbericht besondere Aktualität. Der neue Bericht zeigt, dass
die Bundesregierung im Jahre 2001 wieder eine verantwortungsvolle Rüstungspolitik verfolgt hat, gerade auch
mit Blick auf Staaten in der Konfliktregion, deren Politik
zur besonderen Sorge Anlass gibt.
Bei aller Zurückhaltung sind jedoch gleichzeitig die
bündnispolitischen Verpflichtungen unseres Landes zu
berücksichtigen. Deutschland muss, insbesondere im
Rahmen von EU und NATO, als verlässlicher Kooperationspartner für gemeinsame Rüstungsprojekte zur Verfügung stehen und übernommene Verpflichtungen in diesem Rahmen erfüllen. Diese Haltung, die Offenheit
gegenüber EU-, NATO- und der NATO gleichgestellten
Ländern - dabei handelt es sich um Australien, Japan,
Neuseeland und die Schweiz - einerseits und die Zurückhaltung gegenüber sonstigen Ländern andererseits,
prägt das mit dem Rüstungsexportbericht 2001 unterbreitete Zahlenmaterial.
Der Bericht soll die Exportkontrollpolitik der Bundesregierung transparent machen. Die Darstellung der
rechtlichen und politischen Entscheidungsgrundlagen
für die Rüstungspolitik steht dabei im Mittelpunkt. Diese
Darstellung wird durch tabellarisch aufbereitetes
Zahlenmaterial sowohl zu erteilten Ausfuhrgehmigungen als auch zu tatsächlichen Ausfuhren ergänzt.
Im Interesse der Transparenz ermöglicht der Bericht
zudem einen Überblick über die Entwicklung der
Genehmigungen und tatsächlichen Ausfuhren in den
Jahren 1996 bis 2001. Das Bild wird, wie schon im Vorjahr, durch eine Strafverfolgungsstatistik, Abschnitte
über an andere Länder geleistete militärische Ausrüstungshilfen sowie über neu abgeschlossene regierungsamtliche Kooperationen im Rüstungsgüterbereich mit
deutscher Beteiligung ergänzt.
Ein besonderes Kapitel des Rüstungsexportberichts
ist der Genehmigungspolitik bei der Ausfuhr von
Kleinwaffen gewidmet. Damit würdigt die Bundesregierung die herausgehobene Bedeutung der Kleinwaffenproblematik. Im Jahr 2001 hat zu diesem Thema eine
große UN-Konferenz in New York stattgefunden, bei der
wir uns zusammen mit unseren europäischen Partnern
für eine stringente Exportpolitik bei dieser Waffenkategorie eingesetzt haben. Im Nachgang beteiligt sich
Deutschland maßgeblich an verschiedenen internationalen Initiativen zu dieser Problematik. Diese Bemühungen werden auf der UN-Folgekonferenz im Juli 2003 in
New York ihre Fortsetzung finden.
Ich möchte nun kurz auf die Zahlen des Berichts eingehen. Mir ist natürlich bewusst, dass es nie ganz unproblematisch ist, mit Statistiken einen Nachweis führen zu
wollen - vor knapp zwei Stunden haben wir hier eine
Parlamentsdebatte zu anderen Fragen der Statistikführung gehabt -; das gilt insbesondere dann, wenn die
Datenbasis schmal und daher anfällig für zufällige
Schwankungen ist. Dies ist bei den Zahlen des Rüstungsexportsberichts der Fall. Sie zeigen allerdings - insoweit lässt sich in der Tat eine klare Aussage treffen -,
dass der Anteil der Rüstungsexporte an den deutschen
Gesamtausfuhren sehr gering - um nicht zu sagen: außerordentlich gering - ist. Das Zahlenwerk lässt aber
darüber hinaus den restriktiven Ansatz unserer Exportkontrollpolitik erkennen.
Bei den Kriegswaffen, also den Rüstungsgütern, die,
grob gesprochen, als Waffen angesehen werden können,
liegen statistische Daten für die tatsächlich erfolgten
Ausfuhren vor. Der Anteil der tatsächlich erfolgten Ausfuhren lag im Jahr 2001 bei nur 0,06 Prozent. Er ist damit gegenüber dem Vorjahr erneut gesunken, und zwar
um 0,11 Prozent. Der Gesamtwert aller ausgeführten
Kriegswaffen betrug 718,4 Millionen DM. Da sich der
Bericht auf das Jahr 2001 bezieht, spreche ich nicht von
Euro, sondern von D-Mark. Auch dieser Wert ist gegenüber dem Vorjahr, also dem Jahr 2000, erneut zurückgegangen, und zwar um 46 Prozent.
Bei den Genehmigungen für Ausfuhren liegen für alle
Rüstungsgüter, also sowohl für Kriegswaffen als auch
für alle sonstigen Rüstungsgüter, statistische Angaben
vor. Im Berichtsjahr wurden Einzelausfuhrgenehmigungen im Wert von 7,209 Milliarden DM erteilt. Dieser
Wert liegt deutlich über dem Wert des Vorjahres. Die Genehmigungswerte für die Ausfuhr in EU-, NATO- und
gleichgestellte Länder blieben dabei praktisch unverändert.
Dagegen haben sich die Genehmigungswerte für Ausfuhren in die anderen Länder, die so genannten Drittländer, mehr als verdoppelt. Dafür kann ich eine Erklärung
liefern: Diese Steigerung beruht im Wesentlichen auf einer Genehmigung für die Lieferung von drei U-Booten
an Südkorea. Auch hinter dieser Verdoppelung verbirgt
sich also kein großartiger, schlimmer Tatbestand, sondern er ist damit einfach erklärt.
Auch für Sammelausfuhrgenehmigungen ist ein
deutlicher Anstieg zu verzeichnen. Diese Genehmigungen werden für Ausfuhren im Rahmen von Kooperationsprojekten mit EU- und NATO-Ländern erteilt. Sie ermöglichen den vereinfachten Warenaustausch zwischen
den Kooperationspartnern und stellen somit unter anderem ein wichtiges Instrument für die Entwicklung einer
gemeinsamen europäischen Rüstungsindustrie dar. Der
Anstieg beruht unter anderem auf den Fortschritten im
Eurofighter-Programm, für das verstärkt auf Sammelausfuhrgenehmigungen zurückgegriffen wurde.
Der Rüstungsexportbericht beschäftigt sich erneut mit
den viel beachteten internationalen Vergleichsstatistiken,
die ein Länderranking vornehmen. Unsere Untersuchungen führen zu dem Ergebnis, dass bislang ein seriöser Vergleich der bedeutenden Exportländer nicht möglich ist. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Statistiken
unterschiedliche Begrifflichkeiten verwenden und in der
Bewertung einzelner Ausfuhren sehr unterschiedlichen
Regeln folgen. Transparenz und Vergleichbarkeit setzen
insoweit eine gewisse internationale Harmonisierung voraus. Wir unterstützen entsprechende Bestrebungen,
doch sind greifbare Ergebnisse in diesem Zusammenhang nur in kleinen Schritten zu erwarten.
({0})
Bei aller somit gebotenen Vorsicht - - Frau Kollegin,
wenn Sie etwas leiser telefonieren könnten, dann müsste
ich Ihr Gespräch nicht mithören.
({1})
- Ich halte das für eine schwierige Materie. Eine schwierige Materie muss man hier nicht echauffiert oder sonst
wie vortragen.
({2})
Es geht vielmehr darum, die Fakten darzustellen.
({3})
Im Übrigen: Wenn die Kollegin Interesse hätte, dann
würde sie zuhören und nicht telefonieren. Das ist ja auch
ein Problem.
Bei aller somit gebotenen Vorsicht dürfte Deutschland
nach meiner Einschätzung aber um einiges hinter den
USA, Russland, Frankreich und wohl auch Großbritannien liegen. Das schließt nicht aus, dass hier auch noch
andere Länder zu nennen wären, deren Statistiken sich
aber einer vergleichenden Betrachtung gänzlich entziehen.
({4})
- Stimmt, Herr Kollege Polenz.
Hauptempfänger deutscher Rüstungsgüter sind in allererster Linie unsere EU- und NATO-Partner. Mehr als
80 Prozent des Gesamtwertes der erteilten Genehmigungen entfallen auf Ausfuhren in EU-, NATO- und gleichgestellte Länder. Dies lässt zum einen die grundsätzlich
restriktive Genehmigungspolitik gegenüber den anderen
Ländern erkennen. Zum anderen wird dadurch aber auch
die Einbindung Deutschlands in partnerschaftliche Kooperationen deutlich, was sich insbesondere an dem hohen Wert für Sammelausfuhrgenehmigungen ablesen
lässt.
Wie gesagt, die Berufung auf Statistiken ist nie ganz
unproblematisch. Der Rüstungsexportbericht, den ich Ihnen hier kurz vorgestellt habe, zeigt nach meiner Überzeugung aber durchaus, dass die Bundesregierung eine
überlegte und äußerst zurückhaltende Exportkontrollpolitik betrieben und damit die Vorgaben der von ihr geschaffenen politischen Grundsätze erfüllt hat. Dass sie
damit auch ihre aus der Kooperation mit anderen Ländern erwachsenen Verpflichtungen zu berücksichtigen
hatte, habe ich bereits erwähnt.
Meine Damen und Herren, wir sind gut beraten, wenn
wir diese Politik auch in Zukunft mit Augenmaß fortsetzen. Genau das werden wir auch tun.
Ich danke Ihnen herzlich.
({5})
Das Wort hat der Kollege Erich Fritz von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, Sie haben gerade die Begriffe
Aktualität und Transparenz benutzt. Aktuell ist dieser
Bericht nun wirklich nicht. Er war im Mai im Ministerium fertig. Im Juni konnten wir die Zahlen von SIPRI
lesen; da war schon klar, dass Deutschland im Jahr 2001
mit Ausfuhren in Höhe von 675 Millionen US-Dollar der
fünftgrößte Rüstungsexporteur gewesen ist. Im Dezember
haben wir dann den Bericht der Bundesregierung bekommen. Seit dem 18. Dezember liegt er jetzt dem Bundestag
vor. Dieser Rüstungsexportbericht 2001 kommt also
schon sehr spät, noch später als die ersten beiden Berichte, die auch schon spät vorgelegt wurden. Woran
mag das gelegen haben? Der eigentliche Vorlagetermin
wäre zur Zeit der Bundestagswahl gewesen. Das passte
vielleicht nicht ganz gut. Rot-Grün konnte und wollte
den Wählern und Wählerinnen wahrscheinlich nicht so
einfach sagen, dass das, was sie zur Rüstungsexportpolitik versprochen hatten, in ihrer Regierungszeit nicht umgesetzt wurde. Es wird weiter gemacht wie bisher, was ja
nichts anderes belegt, als dass auch in der Vergangenheit
in diesem Bereich bereits eine sehr verantwortungsvolle
und restriktive Politik gemacht wurde.
Dem Rüstungsexportbericht zufolge sind die Einzelgenehmigungen von 5,6 Milliarden DM im Jahr 2000
auf 7,2 Milliarden DM im Jahr 2001 gestiegen. Die
Sammelausfuhrgenehmigungen sind von 3,7 Milliarden DM in 2000 auf 7,5 Milliarden DM in 2001 gestiegen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Anteil der Exporte, die nach dem Außenwirtschaftsgesetz genehmigt
werden müssen, damit um 29 Prozent. Sie haben zum
Verhältnis zwischen Genehmigungen und Ausfuhren etwas gesagt, das wir gerne zugestehen wollen.
Die deutschen Rüstungsexporte bewegen sich also
weiter auf einem durchaus gewohnten Niveau. Deutschland rangiert nach wie vor an fünfter Stelle nach den
USA, Russland, Frankreich und Großbritannien. Ich will
im Folgenden einmal versuchen, die Aussagen im Rüstungsexportbericht mit Ihren eigenen Ansprüchen zu
vergleichen.
Die Kriterien Menschenrechtsstatus, innergesellschaftliche Lage und regionale Sicherheit im Empfängerland haben im Jahr 2001 sicher keine ausreichende
Berücksichtigung gefunden. So hat es auch diesmal Lieferungen in die Türkei oder nach Israel gegeben. Die
Türkei ist das fünftwichtigste Bestimmungsland bei erteilten Einzelgenehmigungen und achtgrößter Empfänger kommerzieller Ausfuhren von Kriegswaffen. Israel
ist der neuntgrößte Empfänger kommerzieller Ausfuhren
von Kriegswaffen. Es wurden außerdem Ausfuhrlizenzen für Kleinwaffen wie Sturm- und Maschinengewehre,
Pistolen und Munition erteilt, auch in offensichtliche
Krisengebiete wie Bangladesch mit 129 Genehmigungen und Nepal mit neun Genehmigungen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat den rot-grünen Versuch, der Öffentlichkeit mit der Verabschiedung
der politischen Grundsätze für den Import von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern weiszumachen, es
gäbe wenige exklusive Kriterien, ohnehin von Anfang
an als eine sehr populistische Maßnahme angesehen. Es
geht nämlich in jedem Einzelfall um eine Abwägung, ob
es außenpolitisch sinnvoll ist, eine Genehmigung zu erteilen oder nicht. Darum kommt niemand herum, selbst
wenn er sich noch so schöne Kriterien gibt. Einen vollständigen objektiven Entscheidungskatalog kann es
demnach nicht geben. Wie inkonsequent die Politik von
Rot-Grün ist und wie weit Anspruch und Wirklichkeit
auseinander liegen, zeigen die genannten Lieferungen.
Ein weiteres Beispiel ist Taiwan. Das Exportverbot,
so können wir Pressemitteilungen vom 29. Januar 2003
entnehmen, ist nicht so restriktiv, wie es die Bundesregierung vorgibt. Während die Bundesregierung den
Wunsch des Kieler U-Boot-Herstellers HDW und seines
US-Partners nach Lieferung von U-Booten bzw. U-BootAntrieben nach Taiwan abgelehnt und dabei auf ihre
Ein-China-Politik verwiesen hat, - die wir teilen -, ist
zur gleichen Zeit die Zahl der Genehmigungen für die
Lieferung von Rüstungsgütern von 17 Genehmigungen
in 2000 auf 34 Genehmigungen in 2001 angestiegen.
Wohlgemerkt: Es mag gute Gründe für diese Genehmigungen geben und wir wollen sie gar nicht kritisieren. Es
geht nur darum, dass immer bestimmte Ansprüche erhoben und hehre Ziele formuliert werden, die in der Praxis
oft nicht so eingehalten werden, wie Sie es den Menschen weismachen wollen.
Bei den Entwicklungsländern - auch dieser Frage
muss man nachgehen - stimmt tatsächlich das, was der
Staatssekretär vorgetragen hat. Die meisten Exporte gehen zwar in NATO-Staaten und NATO-vergleichbare
Staaten, in Industrieländer und an osteuropäische Übergangsstaaten; aber immerhin gibt es auch Kriegswaffenlieferungen im Wert von 3,9 Millionen DM - zugegebenermaßen keine bedeutende Größenordnung - in
Entwicklungsländer. Zu diesen Ländern gehören Südafrika, Tansania, Thailand oder Ecuador, bei denen eine
Lieferung nicht ganz unproblematisch ist.
Im Übrigen ist in der Zukunft mit einem Anstieg von
Kriegswaffenexporten in Drittländer zu rechnen. Es sind
nämlich bereits Verträge abgeschlossen worden, die bisher nur keinen Niederschlag im Rüstungsexportbericht
gefunden haben. Diese Exporte beschränken sich aber
- Gott sei Dank - auf den Marinebereich, sodass sich
Befürchtungen, die man unter entwicklungspolitischen
Gesichtspunkten anführen kann, nicht stellen. Als Empfängerländer sind Südafrika und Malaysia zu nennen.
Zur Frage der Transparenz. Im Rüstungsexportbericht bleibt nach wie vor vieles im Dunklen. Der Bericht
schlüsselt zwar genehmigte Listenpositionen sowie Anzahl und Gesamtwert der Genehmigungen nach Empfängerländern auf - das ist Anlage 5 -, aber eine weitere
Aufschlüsselung innerhalb der Listenpositionen erfolgt
nur teilweise. Unzureichend sind auch die Informationen
hinsichtlich der genauen Beschreibung und der Stückzahl der genehmigten und tatsächlich gelieferten Güter
sowie hinsichtlich des Endverbleibs. Angesichts dessen,
dass die Kollegen von den Grünen und der SPD vor der
Bundestagswahl dazu gesagt haben, man wolle das sehr
verfeinern und verbessern - ich denke nur an die Äußerungen von Herrn Wend, im Wirtschaftsausschuss -,
muss ich feststellen: Nichts ist in dieser Hinsicht passiert.
Damit es in dieser Frage kein Missverständniss gibt,
möchte ich betonen: Das sind keine Forderungen, die die
CDU/CSU-Fraktion erhoben hat. Es sind vielmehr Ihre
eigenen Kriterien, an denen ich Sie messe.
({0})
Wir sind der Meinung, dass wir in der Rüstungsexportkontrollpolitik vor allen Dingen gegenüber der Öffentlichkeit klarstellen müssen: Es ist ein Politikbereich,
in dem sich Außenpolitik, nationale Interessen und
Bündnisinteressen mit wirtschaftlichen Interessen verbinden, die wirtschaftlichen Interessen aber nicht im
Vordergrund stehen dürfen. Aber vom Umsatz her, der in
diesem Bereich erzielt wird, und dessen Bedeutung für
die Außenwirtschaft kann wirklich niemand behaupten,
dass wir darauf abstellen würden. Sie aber stellen immer
eine überhöhte Moral auf, der Sie regelmäßig nicht gerecht werden. Das ist kein guter Weg, weil Sie auf diese
Weise falsche Signale geben.
Wir fordern - Herr Staatssekretär, das ist die Antwort
auf Ihre Frage - eine gemeinsame europäische Rüstungspolitik. Das tun wir nicht erst seit heute. Ich finde
es schön, dass sich die Bundesregierung in dieser Woche
durch mehrere Äußerungen dazu bekannt hat, unter den
neuen sicherheitspolitischen Bedingungen einiges von
dem zu tun, was sie bisher versäumt hat. Ich halte es
auch für sinnvoll, über die Einrichtung einer europäischen Rüstungsagentur nachzudenken. Das halte ich für
einen sinnvollen Ansatz, der im Übrigen von der CDU/
CSU-Fraktion - ich nenne nur Karl Lamers; aber auch
andere haben daran mitgewirkt - entwickelt worden ist.
Wir brauchen über die Dual-Use-Verordnung hinaus eine
gemeinsame europäische Exportregelung. Die bisherigen Selbstverpflichtungen reichen nicht aus. Wir brauchen eine einheitliche Struktur bei der europäischen
Rüstungsindustrie. Denn wir müssen feststellen, dass es
in einigen Ländern - Deutschland gehört nicht dazu -,
entsprechend der ursprünglichen Ausrichtung der Rüstungswirtschaft, noch immer Überkapazitäten gibt und
dass dies nach wie vor zu einem Exportdruck führt.
Diese müssen wir gemeinsam abbauen. Wir müssen die
Bedürfnisse auf das ausrichten, was im Bündnis und was
für eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und
eine europäische Verteidigungspolitik nötig ist.
Um das alles müssen wir uns ernsthaft bemühen;
denn es geht auch darum, ob man entscheidenden politischen Einfluss behält. Ich denke zum Beispiel an die
Ausstattung der neuen NATO-Mitglieder. Wir haben uns
zwar sehr für deren Mitgliedschaft eingesetzt, haben es
aber nicht geschafft, dass der Auftrag für die Modernisierung der polnischen Luftwaffe an die EADS geht.
Er ist an Lockheed Martin gegangen. Dabei kommt die
Frage auf, ob wir nicht aus künstlicher Zurückhaltung
heraus Chancen versäumen, die nicht nur wirtschaftliche
Möglichkeiten eröffnet hätten, sondern auch politische
Einflussnahme und Gestaltung möglich gemacht hätten.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Es müsste doch
möglich sein, wenn Nichtregierungsorganisationen das
schaffen, dass auch eine Regierung in der Lage ist, den
Bundestag zeitnah über die Exportpolitik zu informieren.
Ich hoffe, dass die nächsten beiden Berichte nicht erst in
eineinhalb Jahren folgen, sondern in wenigen Monaten.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
alle empfinden sicher Freude und Erleichterung über den
Kollaps des Saddam-Hussein-Regimes und über das
Ende der Kämpfe um Bagdad. Angesichts der vielen
Tausenden Verletzten und Toten, die diese Invasion gekostet hat, und angesichts der vielen frühen Fehler, die
zum Wachsen dieses Regimes und zur Katastrophe dieWinfried Nachtwei
ses Krieges beigetragen haben, ist die Freude für viele
aber durch Zorn getrübt.
Der Angriff auf den Irak wurde mit seiner Kriegspolitik und seinem Streben nach Massenvernichtungswaffen
begründet. Doch woher hatte der Irak diese Fähigkeiten?
Der Irak konnte seine zerstörerischen Fähigkeiten nur
aufbauen, weil ihm in den 80er-Jahren Staaten in Ost
und West, von der Sowjetunion über die USA und
Frankreich bis zur Bundesrepublik, entscheidend dabei
halfen. Wenn wir Krisen- und Kriegsvorbeugung heute
ernst nehmen, müssen wir auch eine restriktive Rüstungsexportpolitik betreiben. Das ist kein Moralismus,
sondern ein weitsichtiger Realismus.
({0})
Angesichts der engen europäischen und transatlantischen Verflechtungen wird die internationale Exportkontrolle immer wichtiger. Sie von der Opposition drängeln
immer wieder - heute haben Sie das natürlich nicht getan -, wir müssten die Regeln für die deutschen Rüstungsexporte lockern, um kooperationsfähig zu sein. Das
führt in die falsche Richtung.
({1})
In einem größeren und zusammenwachsenden Europa
brauchen wir eine europäische Rüstungsexportpolitik,
die sich am Anspruch der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, der Kriegsverhütung, orientiert.
Herr Kollege Nachtwei, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Polenz?
Er ist doch gleich an der Reihe, seine Rede zu halten.
In die kann er alles, was er sagen möchte, hineinpacken.
({0})
Es wird keine Zwischenfrage zugelassen.
Wie die so genannten Denial-Konsultationen zeigen,
gibt es durchaus Staaten, die mit bestimmten Exportgenehmigungen noch zurückhaltender als die Bundesrepublik umgehen. Mit den überarbeiteten politischen Grundsätzen haben wir einen guten Rahmen für die
Rüstungsexporte geschaffen.
Als Parlamentarier nehmen wir zur Kenntnis, dass
sich das Export- und Genehmigungsvolumen im Berichtszeitraum in der bisherigen Bandbreite bewegt. Bei
der tatsächlichen Ausfuhr von Kriegswaffen haben wir
einen erfreulichen Tiefstand erreicht; sie liegt so tief wie
seit vielen Jahren nicht mehr. 93 Prozent der tatsächlichen Ausfuhr von Kriegswaffen gehen in NATO- und
EU-Staaten. Bei den Genehmigungen zur Ausfuhr von
Rüstungsgütern insgesamt gab es einen Anstieg um insgesamt 29 Prozent. Der Grund, die Lieferung von drei
U-Booten an Südkorea, ist vorhin genannt worden.
Im Jahre 2001 machte die Ausfuhr von Rüstungsgütern 0,06 Prozent des deutschen Gesamtexportes aus.
Laut einer Statistik des Londoner Instituts für Strategische Studien hatte Deutschland im Jahre 2000 einen
Marktanteil von 2 Prozent an den internationalen Waffenlieferungen. Das sind Belege dafür, dass die Bundesrepublik eine im internationalen Vergleich restriktive
Rüstungsexportpolitik betreibt.
({0})
In Teilbereichen - in etlichen Empfängerländern und vor
allem im Bereich der Kleinwaffen - tun sich aber nichtsdestoweniger Probleme auf:
Zum Beispiel wurden in der Kohl-Ära Lizenzen für
Kleinwaffenproduktionen, die nicht mehr rückholbar
sind, grob fahrlässig nach Saudi-Arabien vergeben.
Hieraus ergeben sich deutliche Konsequenzen für künftige Lizenzvergaben. Für mich ist es nicht nachvollziehbar, dass es aktuell Lieferungen von kleinen Waffen und
kleinen Kriegswaffen an dieses saudi-arabische System
gibt.
({1})
Ein anderes Beispiel sind die Kleinwaffen. Es ist ausgesprochen zu begrüßen, dass die Bundesregierung
400 000 ausgemusterte G-3-Gewehre der Bundeswehr in
den nächsten Jahren zerstören wird. Beunruhigend ist
aber der deutliche Anstieg der Exporte von Kleinwaffen.
Es wirkt für mich auch nicht beruhigend, dass ein erheblicher Teil der Handfeuerwaffen in die USA, die Heimat
von Michael Moore, geht.
({2})
Eine restriktive und transparente Rüstungsexportpolitik braucht einen wirksamen Rechtsrahmen. Heute ist es
so, dass im Außenwirtschaftsgesetz und im Kriegswaffenkontrollgesetz unterschiedliche Genehmigungsstandards stehen. Die Ausfuhr von Kriegswaffen ist verboten, es sei denn, es gibt dafür eine ausdrückliche
Genehmigung. Nach dem Außenwirtschaftsgesetz ist die
Ausfuhr von Rüstungsgütern, die nicht als Kriegswaffen
definiert sind, jedoch grundsätzlich zu genehmigen. Die
Bundesregierung muss häufig vor Gericht nachweisen,
dass der beantragte Export zu einer konkreten Störung
des Zusammenlebens der Völker führt oder die auswärtigen Beziehungen erheblich stört. Diese Praxis ist unserer
Auffassung nach untragbar. Die Freiheit des Handels
darf nicht für Rüstungsgüter gelten. Wir brauchen eine
Regelung, wonach jegliche Ausfuhr von Rüstungsgütern
einer Genehmigung bedarf.
({3})
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf das bisher vorliegende Format der deutschen Rüstungsexportberichte
eingehen. Hier hat sich in den vergangenen Jahren sicherlich einiges verbessert. Aus bündnisgrüner Sicht ist
der Informationsgehalt des Berichts jedoch immer noch
verbesserungsfähig. Unser Ziel ist es, dass sich der deutsche Exportbericht mindestens an den jeweils transparentesten Beispielen anderer EU- oder NATO-Partnern
anlehnt.
Vor dem Hintergrund der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen wird es zunehmend wichtiger,
dass künftige Rüstungsexportberichte verstärkt auf den
Bereich von Dual-Use-Exporten eingehen. Restriktive
Rüstungsexportkontrolle, vertragsgestützte Abrüstungsund Rüstungskontrolle sowie Nichtverbreitung sind zentrale Elemente einer vorbeugenden und gemeinsamen
Sicherheitspolitik. Sie angesichts des abschreckenden
Beispiels des Irakkriegs zu stärken ist das Gebot der
Stunde.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat der Kollege Harald Leibrecht von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren!
Im internationalen Rüstungshandel der 90er-Jahre
... spielen Deutschland und die deutsche Industrie
nur eine marginale Rolle ... Anders als die öffentliche Diskussion oft nahe legt, gilt dies insbesondere
für den Export konventioneller Waffensysteme in
Entwicklungsländer.
Zu diesem Ergebnis kam die Stiftung Wissenschaft und
Politik im Juni 2001. Diese Aussage hat natürlich unverändert Gültigkeit. Das wird seitens der FDP ausdrücklich begrüßt.
({0})
Wir waren und sind der Auffassung, dass Rüstungsexporte weltweit reduziert und Rüstungsexportkontrollen
auf regionaler und internationaler Ebene konsequent
ausgebaut werden müssen.
Wir reden heute über den Rüstungsexportbericht
2001. Herr Andres, besonders aktuell ist er nicht; das haben wir schon gehört. Die gerade zitierte Aussage der
Stiftung Wissenschaft und Politik bezog sich auf die
90er-Jahre, also auf die Zeit, als Deutschland noch von
CDU/CSU und der FDP regiert wurde. Wir alle können
uns noch sehr gut daran erinnern, wie es damals vonseiten der SPD und der Grünen massive Kritik ob der extensiven Rüstungsexportbewilligungen der Bundesregierung gab.
Was hat sich seither geändert?
({1})
Gibt es unter Rot-Grün weniger Rüstungsexporte? Es hat
sich zwar etwas geändert, aber es gibt nicht weniger
Rüstungsexporte. Geändert hat sich vor allem, dass die
Rüstungsexportpolitik von Rot-Grün inkonsequent ist.
Dadurch kommt es immer wieder zu größeren außenpolitischen Irritationen.
Man könnte bei der Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung durchaus den Eindruck bekommen, dass
bei Kaufanfragen seitens der NATO-Partner ein besonders strenger Maßstab angelegt wird. Ich erinnere nur an
die türkische Anfrage zum Kampfpanzer Leopard 2, die
nach langem Hin und Her letztendlich zur Ablehnung
durch die Bundesregierung führte. Demgegenüber erhielt die Republik Korea Rüstungsgüter in Milliardenhöhe. Ich möchte hier nur am Rande anmerken, dass die
Türkei damals mit Nebelwurfkörpern und anderen
Kleinteilen abgespeist wurde. Ich glaube, das sagt viel
über das Verständnis dieser Regierung von NATO-Partnerschaft aus.
({2})
In diesem Zusammenhang kann auch die obskure Art
und Weise der Lieferung der „Patriot“-Raketen, die auf
dem Weg nach Israel einen Umweg über Holland machen mussten, nicht mehr verwundern.
Rüstungsexporte werden auf absehbare Zeit weiter
stattfinden. Das ist uns klar; davon bin ich überzeugt.
Aber natürlich bin ich darüber nicht erfreut.
Deutschland muss und wird auf diesem Pfad unverändert eine marginale Rolle spielen. Das ist aber beileibe
kein rot-grünes Verdienst. Wäre diese Bundesregierung
verantwortungsbewusst, hätte sie längst eine engere Zusammenarbeit mit allen EU-Partnern auf den Gebieten
der Rüstungsentwicklung, der Rüstungsproduktion,
beim Rüstungsexport, bei der Rüstungskontrolle wie
auch bei der Abrüstung angestrebt.
Herr Andres, Sie haben vorhin zu Recht bemängelt,
dass es viel zu wenig Zusammenarbeit und gemeinsam
formulierte Kriterien gibt.
({3})
Aber Sie stellen schließlich die Regierung. Sie können
insofern Abhilfe schaffen und das Thema mit Ihren Kollegen in anderen EU-Staaten erörtern.
({4})
Rüstung muss in ihrer Gesamtheit gesehen werden
statt in einzelnen Teilen. Ich glaube, dass auch Deutschland hierbei zu Kompromissen bereit sein muss. Als
Mitglied der EU muss Deutschland eine europäische
Rüstungsindustrie anstreben und als Grundlage hierfür
einheitliche europäische Kriterien für den Rüstungsexport schaffen. Es reicht nicht, wenn die Regierung beim
Thema Rüstungsexport den Mund voll nimmt, aber nicht
entsprechend handelt.
Die Bundesregierung muss sich auch den Vorwurf der
„taz“ gefallen lassen, die am 4. Februar feststellte: „Der
deutsche Rüstungsexport boomt weiter.“ Diese Aussage
wie auch der Bericht, dessen Lektüre ich empfehle, machen deutlich, wie sehr die Wähler in diesem Bereich
von der rot-grünen Regierung enttäuscht sind.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Pflug von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich hatte ursprünglich geglaubt, der vorliegende
Bericht sei ziemlich unstrittig. Ich habe mich aber eines
Besseren belehren lassen müssen. Der Kollege Fritz hat
angemahnt, dass dieser Bericht zu spät kommt.
({0})
Zugegeben, Herr Kollege Fritz, er kommt relativ spät.
Aber ich habe mich bei dieser Gelegenheit gefragt, wann
wir wohl den ersten Bericht der Regierung Kohl zu ihren
Rüstungsmaßnahmen vorgelegt bekommen. Darauf warten wir bis heute.
({1})
Im Übrigen diskutieren wir die Berichte - derzeit liegt
uns der dritte Bericht vor - nur deshalb, weil wir damals
aufgrund des Antrags der Türkei auf Panzerlieferung die
Konsequenzen gezogen haben, dass dafür politische
Grundsätze formuliert werden müssen. Das haben wir
auch getan.
({2})
- Aber sie sind dann, wie ich meine, durchaus vernünftig
überarbeitet worden. Herr Kollege Fritz, auch Sie hätten
1992, als Ihre Regierung Panzer nach Saudi-Arabien geliefert hat, einen guten Anlass gehabt, die Grundsätze zu
überarbeiten. Es hätte sich sicherlich eine spannende
Diskussion ergeben, wenn uns daraufhin ein Rüstungsbericht vorgelegt worden wäre.
({3})
Es wäre gut, wenn er uns jetzt noch nachgeliefert würde.
Ich kann Ihnen für die Koalition versichern, dass wir sogar noch heute, nach elf Jahren, über diesen Bericht diskutieren würden.
({4})
Man muss das schon richtig würdigen. Auch dass der
Kollege Leibrecht von der FDP plötzlich die „taz“ zitiert, halte ich für durchaus bemerkenswert. Man gewinnt den Eindruck, dass damit versucht wird, bei einer
unstrittigen Materie noch irgendetwas zu finden, an dem
man herummäkeln kann.
Aus unserer Sicht - das möchte ich betonen - hat die
Bundesregierung mit der Verabschiedung der politischen Grundsätze für den Export von Kriegswaffen
und sonstigen Rüstungsgütern für eine erhebliche Verbesserung der Transparenz in der Rüstungspolitik gesorgt.
({5})
Die Entscheidungen über Rüstungsexportvorhaben
werden durchaus unter außen-, sicherheits- und bündnispolitischen Interessen unter Beachtung der Menschenrechte gewürdigt, Herr Kollege Fritz. Ihre Bemerkung,
dass Ihre Ausführungen keine Forderung der Unionsfraktion darstellen, habe ich zunächst nicht verstanden.
Ich war völlig verwirrt und habe zunächst geglaubt, Ihr
Redebeitrag entspreche der Politik der CDU/CSU. Sie
haben das aber richtig gestellt; Sie haben sich gewissermaßen als neutraler Beobachter geäußert. Nehmen Sie
bitte zur Kenntnis, dass es sich um einen Abwägungsvorgang zwischen den von mir genannten verschiedenen
Belangen - der Außen- und Sicherheitspolitik und den
bündnispolitischen Interessen unter Beachtung der Menschenrechte wie auch der ökonomischen Interessen handelt. Die Forderung, auch die ökonomischen Interessen zu beachten, ist Ihnen sicherlich nicht fremd.
Mit Ausfuhrvorhaben, die im Hinblick auf das Empfängerland oder das Rüstungsgut von besonderer Bedeutung sind, wird der Bundessicherheitsrat befasst. Zusätzlich zu den bisher in diesem Gremium vertretenen
Ressorts nimmt nun auch - das ist ebenfalls neu - das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung teil, um besonderen entwicklungspolitischen Aspekten Rechnung zu tragen.
Die Bundesregierung hat mit den neuen Richtlinien
eine optimale Balance bei diesem sicherlich nicht einfachen Thema gefunden. Mit den neuen Richtlinien ist es
nach unserer Meinung gelungen, das Verfahren bei den
Rüstungsexporten an zusätzliche politische Kriterien anzupassen und dabei gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Mehr
Transparenz und klare Kriterien sind kein Nachteil, sondern ein guter Vertrauensschutz für die deutsche Wirtschaft, auch hinsichtlich der Kooperationsfähigkeit der
deutschen Unternehmen in einer doch stark zusammenwachsenden internationalen Rüstungswirtschaft.
({6})
Entgegen der in solchen Debatten immer wieder vorgetragenen Kritik - gerade vonseiten der Opposition - haben sich die Richtlinien nach unserer Auffassung durchaus bewährt.
Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass der
letzte Bericht in der Folge der Aussprachen in den zuständigen Ausschüssen verbessert wurde. Zusätzliche Informationen wurden damals aufgenommen. So wird zum
Beispiel über eine Strafverfolgungsstatistik, über militärische Ausrüstungshilfen, die andere Länder erhielten,
sowie über neu abgeschlossene regierungsamtliche Kooperationen im Rüstungsbereich mit deutscher Beteiligung berichtet. Ebenfalls neu ist im Rüstungsexportbericht ein Kapitel über die Genehmigungspolitik bei der
Ausfuhr von Kleinwaffen.
Ich will Ihnen ersparen, die Zahlen noch einmal aufzulisten. Der Staatssekretär hat das gemacht. Ich halte
fest, dass aus unserer Sicht gerade die neuen Kriterien
beachtet worden sind und dieses auch für das Parlament
ein wesentlicher Fortschritt ist.
Der Rüstungsexportbericht belegt, dass die Bundesregierung entsprechend ihrem Bekenntnis in ihren politischen Grundsätzen eine restriktive Exportkontrollpolitik
betrieben hat. Herr Andres hat darauf aufmerksam gemacht. Sie verfolgt gleichzeitig eine Politik, die dem Gedanken der Kooperation, insbesondere mit unseren europäischen Nachbarn, Rechnung trägt. Deshalb findet
diese Politik auch unsere volle Zustimmung.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ruprecht Polenz von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie
mich zwei kurze Vorbemerkungen machen. Herr Kollege
Pflug, ich teile Ihre Leidenschaft für rückwärts gewandte
Debatten nicht. Wir sollten uns doch einig sein, dass wir
gemeinsam den Wunsch haben, über die nächsten Berichte zeitnäher zu diskutieren. Das sollte machbar sein.
({0})
Die zweite Vorbemerkung: Ich würde gerne sehen,
dass ein Wunsch der Kirchen bei der Erstellung der
künftigen Berichte aufgegriffen wird. Die haben vorgeschlagen, dass bei Rüstungsexporten außerhalb der
NATO in dem Bericht die zugrunde liegenden außenund sicherheitspolitischen Gesichtspunkte erläutert werden sollten. Das wäre auch ein Beitrag zu etwas mehr
Transparenz.
({1})
Der Bericht hat ja eine recht gemischte Presse bekommen. Man musste bis Dezember zurückgehen, um sich
das Presseecho anzuschauen. Der „Stern“ hat geschrieben: „Die rot-grüne Bundesregierung von Kanzler
Gerhard Schröder hat im Jahr 2001 den Waffenexport
spürbar erleichtert.“ Das „Handelsblatt“ hatte die
Schlagzeile: „Rot-Grün auf Zickzackkurs - 34 Rüstungsexporte nach Taiwan.“ Die „Frankfurter Rundschau“ hat geschrieben: „Weniger Kriegswaffen exportiert.“
({2})
Die Schlagzeilen spiegeln die Wirklichkeit. Die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung ist keineswegs
so klar und stringent, wie es die Vorredner hier gern dargestellt hätten.
({3})
Ich meine auch, dass wir jetzt nicht künstlich Unterschiede herbeireden sollten, die es in der Sache nicht
gibt. Deshalb will ich doch festhalten: Wir haben eine
breite Übereinstimmung im Bundestag, dass Deutschland eine restriktive Rüstungsexportpolitik betreiben
soll.
({4})
Die vorhin nicht zugelassene Zwischenfrage, Herr
Kollege Nachtwei, wäre gewesen, dass Sie bitte eine
Quelle für Forderungen der Union hätten benennen sollen, die Restriktionen zu lockern. Die hätten Sie wahrscheinlich nicht benennen können,
({5})
denn dem Rüstungsexportbericht liegt der Verhaltenskodex der Europäischen Union zur Waffenausfuhr
zugrunde. Dieser Kodex stammt vom 8. Juni 1998 und
wurde von der damaligen CDU/CSU-geführten Bundesregierung maßgeblich mit herbeigeführt. Der europäische Code of Conduct ist dann durch die politischen
Grundsätze ergänzt worden, auf die Sie von der Regierungsseite alle so stolz sind. Unklar bleibt allerdings
auch bei der Lektüre des Berichts, ob sich für die Genehmigungspraxis aus diesen politischen Grundsätzen irgendetwas konkret ergeben hat, was sich nicht auch aus
dem europäischen Verhaltenskodex sowieso ergeben
hätte. Es gibt dazu im Bericht keine Angaben.
Nur an einer Stelle wird auf die besondere Bedeutung
des Punktes III.7 der Grundsätze hingewiesen. Nach
dem 11. September sei deutlich geworden, dass bei Exportentscheidungen auch berücksichtigt werden müsse,
ob das Empfängerland bisher den Terrorismus oder die
internationale Kriminalität unterstützt habe. Wenn dem
so sei, dürfe in solche Länder nicht exportiert werden.
Ich bin ziemlich sicher, dass das auch die europäischen
Verhaltenskodizes nicht erlauben.
({6})
Falls die politischen Grundsätze der Bundesregierung
tatsächlich etwas anderes bewirken würden, als der europäische Verhaltenskodex sowieso vorschreibt, dann
könnte es - damit möchte ich mich jetzt auseinander setzen - Probleme mit dem Ziel geben, die Rüstungspolitik
der Europäer stärker als bisher zu koordinieren. Dieses
Ziel ist sinnvoll; denn die Leistungs- und WettbewerbsRuprecht Polenz
fähigkeit der europäischen Rüstungsindustrie lässt sich
nur so erhalten und verbessern. Wir brauchen mehr Kooperation, Zusammenschlüsse und Fusionen innerhalb
der europäischen Rüstungsindustrie. Das bedeutet,
dass die Konzerne umgebaut werden müssen. Bisher hat
man in Projekten gedacht und die Aufgaben auf Firmen
in verschiedenen Ländern verteilt.
In Zukunft wird man innerhalb der länderübergreifenden Konzerne Strukturen verändern und Kompetenzzentren schaffen, in denen bestimmte Fähigkeiten - zum
Beispiel die Mikroelektronik oder die Stealth-Technik gebündelt werden. Die Zulieferung erfolgt dann innerhalb europäischer Firmen und nicht mehr zwischen europäischen Ländern. Es wird nur der Firmenstandort - darauf kommt es mir an - diese Umstrukturierung
überleben, der zulieferfähig ist. In Zukunft wird es also
konzerninterne Zulieferungen von Rüstungsgütern nach
Großbritannien, Spanien oder Frankreich geben. Die
Entscheidung über eine eventuelle Ausfuhr in Drittländer wird dann in diesen Ländern getroffen, und zwar im
Rahmen des europäischen Code of Conduct und nicht
nach den politischen Grundsätzen der Bundesregierung.
({7})
Eine europäische Verteidigungsunion und ein europäischer Beschaffungsmarkt sind nur machbar, wenn ein
Teil der nationalen Souveränität im Vertrauen auf gleich
gerichtete Interessen innerhalb Europas aufgegeben wird
und wenn es einen europäischen Binnenmarkt für Rüstungsgüter gibt. Daran wird kein Weg vorbeigehen.
({8})
Nur dieser Weg wird dazu führen, dass Europa für seine
Verteidigung auch die Basis einer leistungsfähigen
Rüstungsindustrie erhalten kann, dass wir in Europa
schrittweise unnötige Doppel- und Dreifachstrukturen
im Verteidigungsbereich zugunsten gemeinsamer Einrichtungen aufgeben können, dass angesichts knapper
Kassen die Haushalte entlastet werden können und dass
der europäische Pfeiler innerhalb der NATO tragfähiger
und belastbarer gestaltet werden kann. Das bedeutet aber
für die Rüstungsindustrie und die Rüstungsexportpolitik
den Verzicht auf einen deutschen Sonderweg innerhalb
Europas.
Wir brauchen - damit komme ich zum letzten Punkt auch mehr Stetigkeit in der Rüstungsexportpolitik
nach dem Motto: Wer A sagt, muss auch B sagen. Wenn
die Ausfuhr von Rüstungsgütern in ein Drittland genehmigt worden ist, dann müssen damit grundsätzlich auch
die späteren Lieferungen von Ersatzteilen und notwendigem Zubehör genehmigt werden. Denn welche Folgen
hat es, wenn das anders gehandhabt wird, weil zum Beispiel das Bestimmungsland Jahre später auf einmal zu
einer Krisenregion gehört? Gerade das ist ja der Fall, für
den das betreffende Land mit der Waffenbeschaffung
vorsorgen wollte. Wenn dann die Ersatzteile nicht geliefert werden können, dann wird sich künftig nicht nur das
betreffende Land andere Lieferanten suchen. Das wird
sich auch bei anderen Interessenten herumsprechen, die
sich dann dreimal überlegen werden, ob sie ein solches
Risiko eingehen oder von vornherein auf eine Bestellung
verzichten.
Das sind Zielkonflikte, um die Sie sich nicht herummogeln können nach dem Motto, Herr Staatssekretär:
Der Rüstungsexportbericht ist für die Grünen und im
Verteidigungsausschuss kümmern wir uns um eine europäische Rüstungsagentur und nicht mehr um das, was
wir Herrn Nachtwei und seinen Kollegen versprochen
haben.
({9})
Zu der Forderung nach mehr Stetigkeit gehört auch,
dass nicht nur die Entscheidungen selbst nach sachlichen
Gründen getroffen werden müssen. Auch die Entscheidungsverfahren dürfen nicht durch sachwidrige Erwägungen bestimmt werden. So ist der Termin einer Bundestagswahl kein sachlich erhebliches Kriterium für
Rüstungsexporte; schon gar nicht darf der Termin eines
grünen Parteitages irgendwelchen Einfluss auf den Zeitpunkt der Entscheidung über Rüstungsexporte haben. Es
gibt aber immer wieder Klagen darüber - dies spricht
sich herum -, dass signalisiert werde, der Antrag könne
erst nach einem grünen Parteitag positiv beschieden werden.
({10})
Ich fasse zusammen, meine Damen und Herren: Es
besteht bei uns allen eine grundsätzliche Übereinstimmung darin, dass Deutschland weiterhin eine restriktive
Rüstungsexportpolitik betreiben muss. Dabei können wir
aber keinen Sonderweg in Europa einschlagen, wenn wir
auf dem Weg zu einer europäischen Rüstungsindustrie
weiter vorankommen wollen.
Vielen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/230 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln in der
vertragsärztlichen Versorgung
- Drucksache 15/800 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Horst Schmidbauer von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Sehen Sie
es mir bitte nach, dass wir am heutigen Tag eine gewisse
Genugtuung empfinden. Wir haben über viele Jahre Hindernisse ausgeräumt und Steine beseitigt, die den Weg
zu einer Positivliste auch in Deutschland verbauten. Wir
sind sicher, dass am heutigen Tage auch in Deutschland
eine Erfolgsstory für die Positivliste beginnt.
({0})
Wir empfinden Genugtuung, weil wir gleich dreimal
positive Wirkung erzielen: Wir stellen auf dem schwierigen Sektor der Arzneimittel in Deutschland Transparenz
her, wir bewirken eine Qualitätsverbesserung und wir
können mit der Positivliste letztendlich auch Geld sparen.
({1})
Diese Genugtuung empfindet sicherlich auch jemand,
der heute hier nicht anwesend ist, sondern sich wahrscheinlich in Heidelberg aufhält. Es handelt sich um
Professor Ulrich Schwabe, der für die Kommission
verantwortlich war. Es ist ihm sicherlich sehr wichtig,
dass sein Lebenswerk jetzt mit dieser Positivliste gekrönt wird. Wir haben natürlich nicht vergessen, Kollege
Zöller, dass Sie von der CDU/CSU mit Herrn Seehofer
an der Spitze Professor Schwabes Lebenswerk seinerzeit
zerstört haben.
({2})
Professor Schwabe hatte die Positivliste 1995 fertig.
({3})
Sie haben seinerzeit einen Rechtsbruch begangen.
({4})
Obwohl die Positivliste beschlossen war, haben Sie sie
durch den Staatssekretär schreddern lassen.
({5})
Diese geschredderte Positivliste haben Sie seinerzeit
- diese makabre Geschichte zeigt auch Ihr Parlamentarismusverständnis - dem Geschäftsführer eines Pharmaverbandes als Geburtstagsgeschenk übergeben. Das war
am 15. Mai 1995. Diesen Tag sollte man nicht vergessen.
Wir haben Anlass, Professor Schwabe für seine Kommissionsarbeit zu danken. Er hat es in einer Zeit, in der
wir in diesem Parlament mit Kommissionen nicht durchgehend positive Erfahrungen machen, erreicht, dass die
Kommission zur Erarbeitung der Positivliste einen einstimmigen Beschluss gefasst hat.
({6})
Da die Kommission nicht unbedingt homogen zusammengesetzt ist, spricht dies für den verantwortlichen Leiter dieser Kommission, für Professor Schwabe, der es
mit seiner fachlichen Kompetenz und seiner hohen persönlichen Integrität fertig gebracht hat, dass diese Positivliste einstimmig auf den Weg gebracht worden ist. Damit bekommt sie Gewicht und dem Anliegen wird
Nachdruck verliehen.
({7})
Es gibt eine weitere große Gruppe, die das Einbringen
eines Gesetzentwurfs, der die Einführung einer Positivliste vorsieht, in den Deutschen Bundestag mit Genugtuung zur Kenntnis nimmt, nämlich die deutsche Ärzteschaft.
({8})
Ich darf in Erinnerung rufen, dass die deutsche Ärzteschaft auf mehreren Ärztetagen seit 1999 die Positivliste
gefordert hat.
({9})
Ich zitiere aus dem Beschluss des 102. Deutschen Ärztetages 1999:
Die Delegierten des 102. Deutschen Ärztetages unterstützen eine am jeweiligen aktuellen Wissensstand orientierte Liste verordnungsfähiger Arzneimittel als ein wirkungsvolles Mittel zur rationellen
Arzneitherapie.
Begründung:
Eine derartige, von einer unabhängigen Kommission zu erarbeitende Liste trägt zu einer Arzneimittelverordnung bei, die allen Patienten eine an den
Maßstäben von Notwendigkeit, Sicherheit und Kostenbewusstsein orientierte Therapie garantiert.
Eine derartige Positivliste führt zudem zur besseren
Abstimmung zwischen stationärer und ambulanter
Arzneimitteltherapie.
({10})
Diese Forderung zieht sich wie ein rotes Band bis zum
letzten Ärztetag. Ich bin froh darüber, dass wir damit einem wichtigen Anliegen der Ärzteschaft in Deutschland
endlich Rechnung tragen können.
({11})
Ich möchte aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zitieren:
Die durch Information bewirkte Transparenz dient
damit zugleich der Qualität und Vielfalt der Produkte und einer am Nachfrageverhalten orientierten
Preisbildung von Seiten der Anbieter.
Ist der Markt unübersichtlich und fallen - wie im
System der gesetzlichen Krankenversicherung Nachfrage, Anspruchsberechtigung und Kostentragung auseinander, kann ein - an den Regeln des
Marktes gemessen - rationales Verhalten der beteiligten Personen auch dadurch bewirkt werden, dass
die Angebotsvielfalt strukturiert wird, indem die
Klassifizierung in identische, teilidentische oder
vom Nutzen her ähnliche Produkte erkennbar wird.
Dann ermöglicht ein Preisvergleich, der auf eine
Standardmenge bezogen wird, eine Entscheidung
unter Berücksichtigung der Kosten-Nutzen-Relation.
({12})
Die Orientierung an den Bedingungen des Preiswettbewerbs ist der vom Gesetzgeber vorgesehene
Weg, um den Gesetzesadressaten die Beachtung des
ihnen rechtlich vorgegebenen Grundsatzes der
Wirtschaftlichkeit zu ermöglichen. Dies dient dazu,
das Leistungssystem der Krankenversicherung
funktionsfähig zu halten.
Weiter heißt es:
Die Berufsfreiheit der Pharmaunternehmen wird
nicht berührt.
Ich habe aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Festsetzung von Festbeträgen für Arzneimittel zitiert. Ich sage ganz deutlich: Das Bundesverfassungsgericht hat uns das Gebot auferlegt, Transparenz in
Deutschland herzustellen und die Qualität erfassbar und
nachvollziehbar zu machen. In diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts steht ganz deutlich, dass im Interesse der Funktionsfähigkeit des solidarischen Systems
für die Krankenkassen ein Wirtschaftlichkeitsgebot besteht. Diesem Gebot haben wir uns zu stellen.
({13})
Zusammengefasst: Ich glaube, wir schaffen damit
endlich Transparenz in Deutschland. Die Anzahl der
Arzneimittel in Deutschland soll von 40 000 auf 20 000
zurückgehen. Damit sorgen wir für einen überschaubaren Bereich.
({14})
Ich kann dieses Gejammer und Getöse nicht mehr hören;
schließlich sind wir mit diesen 20 000 Arzneimitteln in
Europa nach wie vor an der oberen Grenze. Ich möchte
auf zwei andere europäische Länder verweisen: In Großbritannien gibt es 14 021 Arzneimittel und in Schweden
3 502.
({15})
Angesichts dessen haben wir allen Anlass dazu, zu sagen: Wir bringen das Minimum dessen auf den Weg, was
wir an Transparenz schaffen müssen.
({16})
Zur Qualität: Der Nutzen von Arzneimitteln ist anhand kontrollierter Studien zweifelsfrei belegt. Wir sind
den Menschen angesichts der schwierigen Situation
mangelnder Transparenz Hilfe schuldig. Allem Gejammer zum Trotz wird es dabei bleiben, dass wir Geld sparen werden.
({17})
1,7 Milliarden Euro werden ersetzt. Wir wissen natürlich, dass ein Substitutionseffekt da ist,
({18})
dass auch andere Arzneimittel verordnet werden. Aber
ich denke, man kann sich auf die Fachleute verlassen.
Die Fachleute sagen: Netto bleiben 800 Millionen Euro
übrig. Das ist ein Betrag, den wir zu berücksichtigen haben. Es geht nicht nur um Transparenz und Qualität, sondern auch um einen wirtschaftlichen Effekt.
({19})
Wegen der medizinischen Notwendigkeit, der Sicherheit und der günstigen Kosten ist es wichtig, dass wir die
Arzneimittel-Positivliste jetzt auf den Weg bringen. Es
ist ein guter Weg, der auch rechtlich sauber und abgesichert ist. Wenn alle dem Gebot des Bundesverfassungsgerichts folgen würden, dann hätten wir auch keine Probleme im Land.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolf Bauer von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Es
wäre jetzt natürlich ganz reizvoll, wie in der vorigen Woche auch, auf die SPD einzugehen, aber, Herr
Schmidbauer, nur eine Bemerkung dazu: Ich habe immer
gedacht, dass wir Politik für Bürger machen. Seit wann
machen wir denn Politik, um Lebenswerke zu vollenden? Das ist wirklich etwas Neues.
({0})
Sie wissen genauso wie ich, dass die frühere Gesundheitsministerin Andrea Fischer mit der Einführung der
Positivliste gescheitert ist. Sie hat nachher zwar die
Grundlage dafür geschaffen, aber mit der Einschränkung, dass eine Positivliste im Bundesrat zustimmungsbedürftig ist.
Nun gibt es eine Rechtsförmlichkeitsprüfung des
Bundesjustizministeriums. Sie bestätigt letztlich auch,
dass die Zustimmung des Bundesrats notwendig ist.
Wenn Sie uns jetzt Rechtsbruch vorwerfen, dann ist das
schon interessant; denn Ihre Gesundheitsministerin will
mit einem Trick versuchen, am Bundesrat vorbeizukommen. Wenn überhaupt, dann ist das der Rechtsbruch.
({1})
Aber lassen wir es einmal dahingestellt sein, ob die
fragwürdige Konstruktion, die jetzt vorgesehen ist, jemals Gesetz wird. Viel interessanter ist, was die Bundesgesundheitsministerin eigentlich damit erreichen will.
Mittlerweile wird zugegeben - ursprünglich war das
nicht so -, dass es nicht nur um Qualitätssteigerung,
sondern auch um Kostendämpfung geht. Das ist auch in
Ordnung; wir haben nichts dagegen. Nur ist das Instrument der Positivliste - wie übrigens alle anderen Instrumente, die Sie bisher vorgestellt haben - völlig unbrauchbar.
({2})
Es ist völlig uninteressant, wie viele Medikamente
letztlich auf dem Markt sind; wichtig ist nur, dass wir
dem Arzt die Möglichkeit geben, das einzusetzen, was
für die Therapie seines Patienten letztlich das Richtige
ist.
({3})
Besser, als es in der gestrigen Ausgabe der „FAZ“
zum Thema Positivliste formuliert worden ist, kann man
es gar nicht formulieren - das erinnert an das, was Sie
zum Lebenswerk gesagt haben, Herr Schmidbauer -:
Herzensangelegenheiten … vernebeln die Sinne
und verschleiern den Blick auf die Realität.
({4})
Wir könnten noch lange über die Zahlen und das Einsparvolumen streiten, das erreicht werden soll. Da es
ein schöner Abend ist, will ich davon absehen. Nur noch
so viel - das ist vielleicht ganz interessant -: Nach meinen Informationen soll bei einer Anhörung des BMGS
am 17. März 2003 der neue Abteilungsleiter Franz
Knieps gesagt haben, dass jedwede wirtschaftliche Betrachtungsweise der Positivliste weitgehend Spekulation
ist.
({5})
Das stimmt auch wieder nicht mit dem überein, was hier
gesagt worden ist.
Woher will das Gesundheitsministerium wissen, welche Substitutionseffekte sich einstellen?
({6})
Erstens steht fest, dass mit der Einführung der Positivliste schwach wirkende Arzneimittel durch stärkere
ersetzt werden.
({7})
Soll dann etwa auf Spatzen nur noch mit Kanonen geschossen werden? Ist das eine sinnvolle Gesundheitspolitik? Induzierte Substitutionseffekte, die der Erkrankungsschwere nicht angemessen sind, sind als
Qualitätsverschlechterung und nicht als Qualitätsverbesserung anzusehen.
({8})
Zweitens steht fest, dass die Nebenwirkungen eines
Arzneimittels mit der Stärke seiner Wirkstoffe überproportional steigen.
({9})
Ich weiß nicht, warum Sie das wollen. Das kann doch
auch nicht Sinn und Zweck der Sache sein.
Drittens steht fest, dass Ärzte und Patienten in aller
Regel auf teurere Medikamente ausweichen und dass es
unter dem Strich keine Ersparnis gibt. Was da möglicherweise an zusätzlichen Kosten auf uns zukommt, ist
gar nicht bekannt. Offensichtlich soll es auch gar nicht
bekannt gemacht werden.
Ich will Ihnen damit nur sagen: Das Problem - ich habe
es eben schon einmal angesprochen - kann relativ einfach gelöst werden. Warum soll der Arzt nicht entscheiden, welches Medikament für seinen Patienten das richtige und sinnvollste ist? So einfach ist das letztendlich.
({10})
Ihr Gesetzentwurf ist übrigens auch ein typisches Beispiel dafür, was die SPD unter Stärkung der Patientenrechte versteht. Wir können hier einmal demonstrieren,
dass genau das Gegenteil der Fall ist. Arzt und Patient
müssen die Entscheidungsfreiheit hinsichtlich einer Therapie haben, denn die, welche für den einen Patienten
eine zweckmäßige therapeutische Alternative ist, kann
für einen anderen, Herr Schmidbauer, zum Beispiel ein
allergiebedingtes Risiko beinhalten, das bis hin zum allergischen Schock führen kann. Man muss doch einfach
berücksichtigen, dass man nicht alles per Listenmedizin
regeln kann.
({11})
Mehr als bedenklich ist auch, dass über eine solch
komplizierte Materie nicht Spezialisten, sondern demDr. Wolf Bauer
nächst Parlamentarier entscheiden müssen. Es handelt
sich ja hier um ein Gesetz, das letztendlich vom Parlament beschlossen werden muss. Das ist eine sehr fragwürdige Konstruktion. Sie wissen doch genau wie wir
auch, dass sehr viele Facharztgruppen dagegen Sturm
laufen: Nehmen Sie die Internisten, Diabetologen, Kinderärzte, Dermatologen, Orthopäden usw.
({12})
Sie tun das zu Recht, denn sie befürchten, dass sie ihre
Patienten nicht mehr optimal und individuell versorgen
können. Durch die Ausgrenzung von Arzneimitteln werden insbesondere chronisch Kranke betroffen, die ihre
Arzneimittel dann aus eigener Tasche bezahlen müssen.
({13})
Wollen die Koalitionsfraktionen wirklich, dass unsere
GKV-Versicherten immer mehr zu Patienten zweiter
Klasse werden? Offensichtlich wird das angestrebt.
({14})
In der „Ärzte Zeitung“ von heute wird nicht nur ganz
speziell davor gewarnt, einen Wirkstoff wie zum Beispiel Benfotiamin für Diabetiker auszugrenzen, sondern
es wird auch ganz allgemein gesagt - ich zitiere -:
Es sei ein Rückschritt in der Diabetesbehandlung
zu erwarten, wenn die Positivliste Wirklichkeit
werde …
Weil wir gerade bei den Antidiabetica sind, lassen Sie
mich noch auf Folgendes hinweisen: Acarbose - bekannter unter dem speziellen Namen Glucobay - wird
im Entwurf der Positivliste von 2001 noch aufgeführt.
Seit April 2002 wird es in den jeweiligen Entwürfen
nicht mehr aufgeführt, obwohl sich die Aufnahmekriterien im Gesetz in der Zwischenzeit nicht verändert haben. Interessanterweise ist allerdings die Acarbosebehandlung wichtiger Bestandteil aller existierenden
Leitlinien zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2.
Also auch das stimmt nicht überein.
({15})
Interessanterweise werden Patienten, die Acarbose verordnet bekommen, nicht von Disease-ManagementProgrammen ausgeschlossen. Auf der einen Seite wollen Sie zwar diese Disease-Management-Programme,
({16})
auf der anderen Seite konterkarieren Sie sie aber mit der
Positivliste. An diesem Beispiel ist auch zu erkennen,
dass die Positivliste und Disease-Management-Programme nicht aufeinander abgestimmt sind. Die Kompatibilität ist nicht gewährleistet.
Das Durcheinander wird komplett, wenn demnächst
noch das Zentrum für Qualität in der Medizin hinzukommt. Man kann sich hier wirklich des Eindrucks nicht
erwehren, dass auch in diesem Bereich im Gesundheitsministerium die eine Abteilung nicht weiß, was die andere vorhat bzw. tut. Das wiederum liegt natürlich an der
Führungsschwäche der Leitung, die ja mittlerweile hier
vertreten ist.
({17})
Alles muss heute auf Evidenz basieren: Immer mehr
Reglementierung, immer mehr Bürokratismus, immer
mehr Einfluss des Staates sind demzufolge die evidenzbasierten Leitlinien der Gesundheitspolitik von RotGrün. Auf dem Arzneimittelmarkt brauchen wir aber wie
im gesamten Gesundheitswesen statt mehr Regulierung
mehr Wettbewerb. Zusammen mit mehr Transparenz
und Eigenverantwortung des Einzelnen wird sich auch
hier Qualität durchsetzen und damit auch das effizienteste Arzneimittel.
Auch brauchen wir nicht immer neue Institutionen
und Kommissionen. Bei der Vielfalt - das hat ja auch
bei Ihnen eben ein wenig angeklungen - ist dann demnächst wohl eine Kommissionskoordinierungskommission erforderlich.
({18})
Welche Institutionen haben wir bereits und welche sollen
noch kommen, immer vorausgesetzt, dass Rot-Grün mit
seiner Regulierungswut so weitermacht? Es beginnt mit
einer Ethikkommission, dann haben wir ein Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, das Arzneimittel zulässt; wir haben den Bundesausschuss der Ärzte
und Krankenkassen; wir haben die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und letztendlich eine
Kommission, die die Negativliste aufstellt.
({19})
Die letztgenannte Kommission soll jetzt umgewandelt
werden in ein Institut für Arzneimittelverordnung, das
die Positivliste herausgibt.
Das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information wird die Positivliste erarbeiten. Allein dieser Bürokratismus wird 540 000 Euro kosten.
Auch das ist letztlich kein Einsparpotenzial.
({20})
Ich will gar nicht davon sprechen, dass demnächst das
Zentrum für Qualität in der Medizin hinzukommen soll.
Meine Damen, meine Herren von der linken Seite des
Hauses, der Masterplan Bürokratieabbau dieser Bundesregierung lässt bei all dem, was wir hier zu erwarten haben, grüßen!
({21})
Nicht zuletzt aus dieser Auflistung ist unschwer zu erkennen, dass eine zeitnahe Aktualisierung der Positivliste mehr als problematisch ist. Nicht alle gerade zugelassenen patentgeschützten Arzneimittel sind auf der
Positivliste zu finden. Ich sage es noch einmal: Zugelassen sind sie, aber aufgeführt nicht. Das BMGS führt
damit das bewährte Zulassungsinstrumentarium, ja die
Existenzberechtigung seiner eigenen Behörde, nämlich
des BfArM, ad absurdum.
({22})
Es ließe sich auch zu diesem Bereich noch viel sagen.
Ich möchte nur darauf hinweisen, dass die Positivliste
- das wird von vielen bestätigt - Arbeitsplätze gefährdet
und wahrscheinlich zum Arbeitsplatzabbau führen
wird. Sie müssen daran denken, dass vor allem mittelständische Betriebe betroffen sind,
({23})
weil sie durch eine eingeschränkte Produktpalette besonders darunter leiden.
Ich komme nun noch zu den Alternativen. Zuvörderst
brauchen wir endlich das Gesamtkonzept für die
Gesundheitspolitik, das wir seit Jahren immer wieder
eingefordert haben. Das ist Aufgabe der Regierungskoalition bzw. der Bundesregierung selbst. Nun ist angekündigt, dass es demnächst kommen wird - ich hoffe,
bald.
({24})
Es macht auch keinen Sinn, dass permanent Strukturen zerschlagen werden, ohne dass man weiß, was man
dagegengesetzt haben will. Ich denke dabei zum Beispiel
an das Budgetaufhebungsgesetz, das zwar durchgeboxt
worden ist, bei dem aber keiner die Folgen kannte. Das
Ganze ist ins Gegenteil umgeschlagen.
Wenn ich von bewährten Strukturen spreche, dann
meine ich natürlich auch die Negativliste. Wir können
doch mit der Negativliste alle Probleme lösen, die ins
Haus stehen,
({25})
und wir können sie damit effektiver lösen.
So bleibt mir nur, noch einmal auf die „FAZ“ vom
9. April zurückzukommen, in der es heißt - da kann ich
nur beipflichten -: Das gesamte Gesetz gehört in den
Schredder und nicht ins Parlament.
Vielen Dank.
({26})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der
Positivliste werden die in Deutschland auf dem Markt
befindlichen 40 000 Arzneimittel auf die reduziert, die
wirksam und zweckmäßig einsetzbar sind und deswegen
auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden dürfen. Es handelt sich um ein Instrument, das mehr Qualität, mehr Wirtschaftlichkeit und
mehr Transparenz bringt. Deswegen sollten wir uns darauf verständigen können.
Ich sage ausdrücklich an die Adresse der Opposition:
Ich denke nicht, dass die Positivliste im Jahre 2003 noch
ein Thema für Kulturkämpfe sein sollte.
({0})
Wir sind nicht mehr im Jahre 1995. Das Schreddern mag
damals für Sie wichtig gewesen sein, aber heute sollten
Sie das mit etwas kühlerem Kopf betrachten.
({1})
Herr Kollege Bauer, die Positivliste ist nun gerade
kein Beispiel für die von Ihnen immer wieder beschworene Staatsmedizin,
({2})
sondern sorgt schlicht und ergreifend für mehr Rationalität im Leistungsgeschehen.
({3})
Vielleicht sollte es Ihnen zu denken geben, dass die
Ärzte dafür sind.
({4})
Sie hören doch sonst so gerne auf die Leistungserbringer.
Im Übrigen stimmt auch Ihr Einwand nicht, alles
würde teurer, weil immer nur nach teureren Medikamenten gegriffen würde, wenn ein bestimmter Wirkstoff
nicht mehr auf der Positivliste zu finden sei. Woher nehmen Sie das? Auf der Positivliste befinden sich Wirkstoffe nicht nur mit einem breiten Wirkungsspektrum,
sondern auch unterschiedlicher Preisklassen. Es gibt sogar ein Nebeneinander der klassischen Schulmedizin
und der alternativen Arzneimittel. Das heißt, hier bestehen therapeutische Alternativen. Es gibt überhaupt keinen Anlass, anzunehmen, dass ausgerechnet durch die
Positivliste alles teurer würde. Im Gegenteil, wir versprechen uns davon Einsparungen.
Dementsprechend befürchtet die Pharmaindustrie
Einbußen. Wahr ist, dass einige Betriebe tatsächlich Einbußen erleiden werden; das ist nicht zu bestreiten. Aber
ich erinnere auch daran, dass die gesetzliche Krankenkasse natürlich kein Instrument der Wirtschaftsförderung
darstellt.
({5})
Wir sollten uns aber auch vor Augen halten, dass der Widerstand der Pharmaindustrie gegen die Positivliste im
Grunde genommen kurzsichtig ist; denn eine Verbesserung der Arzneimittelqualität in Deutschland ist wichtig
für die internationale Wettbewerbsfähigkeit.
Was ist in Deutschland in den letzten Jahrzehnten passiert? Deutschland war einmal berühmt dafür, die Apotheke der Welt zu sein. Aber in den letzten 20 Jahren hat
die deutsche Arzneimittelindustrie stark an Boden verloren. Warum? Weil auf dem deutschen Markt alles absetzbar war und deswegen der Impuls für Innovationen
fehlte. Selbst eine vom VFA in Auftrag gegebene Studie
zeigt, dass von den fünf Ländern, die deutlich höhere
Forschungsaktivitäten als Deutschland zeigen, drei Länder eine Marktregulierung durch eine Positivliste kennen. Es geht also nicht darum, die Pharmaindustrie von
dieser Positivliste zu verschonen. Es liegt eher in ihrem
eigenen längerfristigen Interesse, dass dafür gesorgt
wird, dass Qualität den Markt in Deutschland bestimmt.
Auch die Versicherten und die Patientinnen und Patienten haben daran ein großes Interesse.
({6})
Wir folgen dem Beispiel dieser drei Länder und darüber hinaus dem Beispiel von Belgien, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Österreich, Portugal, Spanien und der Schweiz. Ich kann mir nicht vorstellen, dass
dieser Weg so katastrophal sein soll, wie von der Opposition behauptet.
Ich will hervorheben - das ist ein wichtiger Punkt -,
dass die Positivliste auch die Therapievielfalt sichert.
Sowohl die Arzneimittel der Schulmedizin als auch die
alternativen Arzneimittel finden sich auf dieser Liste. Ich
will deutlich sagen, dass die Polemik gegen die angebliche Schamanenmedizin - entsprechende Briefe haben
uns dieser Tage erreicht - völlig fehl am Platz ist. Diejenigen, die solche Briefe schreiben, sollten sich vor Augen halten, dass diese Mittel von großen Teilen der Bevölkerung gewünscht und angewandt werden und dass
sie in der Regel preiswerter und ärmer an Nebenwirkungen sind. Ich sage aber auch deutlich: Sie wirken.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch bemerken, dass
der Vorschlag der Rürup-Kommission, nicht rezeptpflichtige Arzneimittel künftig von der Erstattung auszunehmen bzw. mit 100 Prozent Zuzahlung zu belegen,
keine gute Idee ist. Allein die Frage, was gefährlich ist,
entscheidet über die Rezeptpflicht. Das gehört zum Gefahrenabwehrrecht. Vielmehr entscheidet die Frage, was
von Nutzen ist, darüber, ob die Kosten für ein Arzneimittel von der Krankenkasse getragen werden. Deswegen
sollten wir hier keine Änderung vornehmen.
Das Nebeneinander verschiedener Therapieansätze
auch im Arzneimittelbereich schafft produktive Konkurrenz. Die Opposition behauptet doch immer, sie sei für
Wettbewerb. Genau den gibt es hier. Deswegen ist die
Positivliste ein wichtiger Baustein zur Verbesserung der
Leistungen unseres Gesundheitswesens.
({7})
Der Kollege Dr. Dieter Thomae hat wegen der ver-
schobenen Debatte gebeten, seine Rede zu Protokoll ge-
ben zu dürfen1). Ich bitte um Ihr Einverständnis. Damit
schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/800 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der
§§ 1360, 1360 a BGB
- Drucksache 15/403 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Als erste Rednerin hat die Kollegin Sabine Bätzing
von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei allem gebührenden Respekt vor der Geset-
zesinitiative des Bundesrates muss ich heute leider fest-
stellen: Aus dem Süden gibt es nichts Neues. So hat der
uns vorliegende Gesetzentwurf, der auf Initiative von Ba-
den-Württemberg eingebracht wurde, denselben Wort-
laut wie ein Gesetzentwurf aus der 14. Legislaturperiode,
der der Diskontinuität verfiel. Hoffnungen, dass es sich
hierbei um eine echte Verbesserung der Rechtsstellung
von Ehepaaren handeln würde, müssen - leider - begra-
ben werden.
Aber lassen Sie mich von vorne anfangen: Vor dem
Hintergrund des erforderlichen Bürokratieabbaus und
der von uns allen kritisierten Paragraphendichte liegt es
in der Verantwortung der Gesetzgeber, kritisch zu prü-
fen, ob ein neues Gesetz überhaupt erforderlich ist.
Von daher überlegt man zunächst immer: Welches Ziel
soll das neue Gesetz verfolgen? Diese Frage habe auch
ich mir gestellt.
Zugegeben, der erste flüchtige Blick in den Gesetz-
entwurf kann einem die Realität verklären. So könnte
man meinen, dass mit diesem Gesetz wirklich etwas zur
Verbesserung der Rechtsstellung des haushaltsfüh-
renden Ehegatten im Verhältnis zum erwerbstätigen
Partner getan wird, soll doch jedem Ehegatten ein
„Recht auf angemessene Teilhabe an den Einkünften, die
dem Unterhalt zu dienen bestimmt sind“, zuerkannt wer-
den und ist doch daneben ein Anspruch auf Erteilung der
Auskunft über die Einkommens- und Vermögenssitua-
tion vorgesehen. Klingt plausibel! So plausibel, dass
man Hoffnung schöpfen kann für die Ehen, in denen der
erwerbstätige Partner bisher auf dem Portemonnaie sitzt
und es nur widerwillig öffnet? - Nein, nicht wirklich.
Denn bei genauerem Vergleich erkennt man, dass genau
diese Möglichkeiten, wie sie hier gefordert werden, be-
reits bestehen. Sie sind überflüssig.
1) Anlage 2
Die §§ 1360 und 1360 a BGB legen bereits ausdrücklich fest, dass die Ehegatten einander zum Unterhalt verpflichtet sind.
({0})
Darüber hinaus besagt sogar die ständige Rechtsprechung dazu, dass der angemessene Unterhalt der Familie
alles umfasst, was nach den Verhältnissen der Ehegatten
erforderlich ist, um die Kosten des Haushaltes zu bestreiten und die persönlichen Bedürfnisse der Ehegatten zu
befriedigen, sogar einschließlich eines Taschengeldes.
Die Rechtsstellung der Eheleute wird durch den Gesetzentwurf also de facto nicht verbessert. Auch die Umbenennung des Auskunftsanspruches führt zu keiner echten Verbesserung der bestehenden Rechtslage.
({1})
Ändert man also nur die Verpackung und gibt dem
Kind einen anderen Namen oder was bringt der Gesetzentwurf den Ehepartnern wirklich? „Partner“ ist in diesem Zusammenhang ein gutes Stichwort. Denn benötigt
eine Partnerschaft, eine intakte Ehe - nur über diese
sprechen wir bei den Regelungen der §§ 1360 ff. BGB zusätzliche Regelungen und Eingriffe vom Staat? Trauen
wir unseren Ehepaaren nicht mehr zu, ihre persönlichen
Angelegenheiten - dazu zähle ich auch die familiären Finanzverhandlungen - in eigener Verantwortung mit dem
nötigen Vertrauen und Respekt in ihren eigenen vier
Wänden zu führen?
({2})
Ich gebe - wenn auch ungern - zu, dass es immer
noch Ehen gibt, in denen den Frauen zu Monatsbeginn
das knapp bemessene Haushaltsgeld auf dem Küchentisch abgezählt wird. Wenn es hoch kommt, gibt es dazu
vielleicht noch ein Taschengeld. Zweifelsohne entspricht
dies nicht der modernen Auffassung von einer partnerschaftlichen Beziehung. Aber werden wir diese Familiensituation durch neue Paragraphen verändern können,
neue Paragraphen, die - ich betone es noch einmal - inhaltlich nichts Neues konkret regeln, sondern nur etwas
klarstellen? Pure Worthülsen sollen also plötzlich den
Alleinverdienern die Spendierhosen überstülpen. Entschuldigen Sie, meine Damen und Herren, aber daran
habe ich große Zweifel.
({3})
Noch mehr Zweifel an dem Entwurf kommen jedoch
auf, wenn man dessen Begründung und die anschließende Erläuterung zu den Auswirkungen des Gesetzes
auf die Länderhaushalte liest. So wird in der Begründung gesagt, dass die Ehepartner durch die Gesetzesänderung dazu ermutigt würden, vor Gericht ihren Ehepartner zum Beispiel auf Kontenauskunft zu verklagen, da
der Anspruch nun im Gesetz klargestellt sei. Wir haben
vorhin von Vertrauen und Respekt in einer intakten Ehe
gesprochen. Halten Sie es für wahrscheinlich, dass man
eine Auskunft von seinem Ehepartner vor Gericht einklagt? - Nein. Selbst der Bundesrat als Gesetzesinitiator
glaubt daran in letzter Instanz nicht. In der Begründung
ist er von seiner eigenen Argumentation noch halbwegs
überzeugt, bei den finanziellen Auswirkungen weist er
aber darauf hin, dass die Anzahl der entsprechenden Gerichtsverfahren und damit die Kosten aufgrund der vorgesehenen Änderungen kaum zunehmen werden.
Da frage ich mich: Was denn nun? Ist dies alles nur
schöne Fassade und Augenwischerei? Wenn es uns wirklich um eine Verbesserung der Situation der Hausfrauenehe geht, können wir es uns nicht erlauben, uns solche
faulen Eier ins Nest zu legen. Damit werden wir unserer
Verantwortung nicht gerecht.
Schritte, die zur Verbesserung der Rechtsstellung des
haushaltsführenden Ehegatten im Verhältnis zum erwerbstätigen Partner beitragen, werden wir begrüßen.
({4})
Aber Regelungen mit alleinig klarstellendem Charakter
sollten sich in unser bewährtes System einfügen.
Partnerschaft, Vertrauen und Respekt sind die Grundlagen einer intakten Familie. Davon lebt eine Ehe. Sind
sie nicht vorhanden, helfen auch keine Paragraphen und
leeren Worthülsen.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Granold von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren Kollegen! Der über das Land Baden-Württemberg und den
Bundesrat eingebrachte Gesetzentwurf zur Änderung der
§§ 1360 und 1360 a BGB trägt dem Gedanken der ehelichen Teilhabe am Familienunterhalt in verbesserter
Weise Rechnung und stärkt so die Ehe in ihrem Wesen
als gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Mann und
Frau, verfassungsrechtlich geschützt in den Art. 6 und 3
Grundgesetz.
Der Gesetzgeber hat bewusst auf ein Leitbild der Ehe
verzichtet und es den Eheleuten überlassen, eine angemessene Regelung für das partnerschaftliche Zusammenleben zu finden. So ist es nur natürlich, dass eine
Vielzahl von Lebensformen in unserer sich stetig wandelnden Gesellschaft mittlerweile Realität ist.
Die Erwerbstätigkeit beider Ehepartner ist heute ein
mehrheitlich gewählter Lebensentwurf. Neben Doppelverdiener- und Zuverdienerehen - in der Regel arbeiten
hier die teilzeitbeschäftigten Ehefrauen mit - sind ein
Drittel der Ehen so genannte Haushaltsführungsehen, in
denen nur ein Ehepartner - in 80 Prozent der Fälle ist es
der Mann - erwerbstätig ist. Den Familien- und Hausfrauen - natürlich auch den in diesem Beruf arbeitenden
Männern, aber auch den Teilzeiterwerbstätigen - steht
aufgrund der derzeitigen Gesetzeslage ein Anspruch auf
ein angemessenes Wirtschaftsgeld in eigenständiger Verwaltung, bemessen nach den ehelichen Lebensverhältnissen, zu. Aus der Verpflichtung zur ehelichen LebensUte Granold
gemeinschaft leitet sich, von der Rechtsprechung
anerkannt, ein Informationsanspruch in groben Zügen
über den wesentlichen Bestand des Vermögens und der
Einkünfte ab.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
vom 28. Februar 2002 zum nachehelichen Ehegattenunterhalt festgestellt - ich zitiere -:
Kindererziehung und Haushaltsführung stehen
gleichwertig neben der Beschaffung des Einkommens. Daraus erfolgt der Anspruch auf gleiche Teilhabe am gemeinsam Erwirtschafteten während und
nach der Ehe.
({0})
Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2
Grundgesetz schützt die Ehe als Lebensgemeinschaft gleichberechtigter Partner.
Kommen den Ehegatten gleiches Recht und gleiche
Verantwortung bei der Ausgestaltung ihres Eheund Familienlebens zu, so sind auch die Leistungen, die sie jeweils im Rahmen der von ihnen in gemeinsamer Entscheidung getroffenen Arbeits- und
Aufgabenzuweisungen erbringen, als gleichwertig
anzusehen; so haben beide Ehegatten grundsätzlich
auch Anspruch auf gleiche Teilhabe am gemeinsam
Erwirtschafteten, das ihnen zu gleichen Teilen zuzuordnen ist. Dies gilt nicht nur für die Zeit des Bestehens der Ehe, sondern entfaltet seine Wirkung
auch nach Trennung und Scheidung der Ehe.
Die Konsequenz hieraus für den Gesetzgeber ist, was
heute Gegenstand der Beratung ist. Was für Trennung
und Scheidung bereits gesetzlich geregelt ist, muss auch
während der Ehe gelten: Auskunftspflicht beider Partner über ihr Einkommen, um ihnen gleichberechtigt eine
Übersicht über ihre finanzielle Situation zu ermöglichen.
Transparenz in finanziellen Angelegenheiten ist ein kleiner Schritt zu mehr Partnerschaftlichkeit in der Ehe. Damit wird ein Signal gesetzt, das gesellschaftspolitisch
vonnöten ist.
Wer moniert, dass solche Selbstverständlichkeiten
nicht in gesetzliche Regelungen aufgenommen werden
sollen, muss sich fragen, warum andere Selbstverständlichkeiten, etwa dass Ehefrauen in der Ehe nicht vergewaltigt werden dürfen, vor noch nicht allzu langer Zeit
in das Strafgesetzbuch aufgenommen wurden.
Die Erfahrung der Fachverbände in ihrer alltäglichen
Beratungspraxis zeigt, dass die Familien- und Hausfrauen über die finanziellen Verhältnisse oft nicht oder
nur unzureichend informiert sind, was sich im Übrigen
bei späteren Trennungen in sich mittlerweile häufenden
Auskunftsklagen bei Familiengerichten bestätigt. Noch
gravierender ist, dass in nicht wenigen Fällen unzureichende finanzielle Mittel zur Haushaltsführung und zum
persönlichen Bedarf zur Verfügung stehen.
Gerade vor dem Hintergrund der Gleichwertigkeit
von Familien- bzw. Hausfrauen und erwerbstätigen
Ehegatten müsste zumindest die Klarstellung einer
Selbstverständlichkeit hier ohne Debatte möglich sein,
nämlich das Recht auf angemessene Teilhabe an den
Einkünften, die dem Familienunterhalt zu dienen bestimmt sind - auch wenn nur einer der Ehegatten über
solche Einkünfte verfügt.
Im Steuerrecht beim Ehegattensplitting, im Versorgungsausgleich und beim Zugewinn ist die Teilhabe am
gemeinsam Erwirtschafteten gesetzlich geregelt. Wir haben jetzt die Chance, dies im Gesetz klarzustellen und die
nicht Erwerbstätige - in der Regel ist es die Ehefrau rechtlich zu stärken, ihre Stellung als haushaltsführende
Partnerin aufzuwerten, so wie es das Verfassungsgericht
bereits festgeschrieben hat.
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang noch eine
Bemerkung: Lassen wir ganz schnell das entwürdigende
Taschengeld für die Familien- und Hausfrauen in der
Versenkung verschwinden! In einer partnerschaftlichen
Ehe ist kein Platz für Bittsteller. Die Basis ist vielmehr
Gleichberechtigung: Beteiligung statt Taschengeld; denn
Letzteres bekommen Kinder.
({1})
Wir diskutieren dieser Tage über den Bericht der Bundesregierung zum Stand der Beseitigung jeder Form der
Diskriminierung von Frauen und das Bemühen um
Gleichberechtigung und Gleichstellung. Heute haben wir
die Möglichkeit, einen kleinen Beitrag zu leisten, ein Signal zu setzen, eine gesetzliche Klarstellung vorzunehmen, die nichts kostet, die aber einen großen Erfolg
bringt: nämlich endlich die Aufwertung der Hausfrauentätigkeit. Gleichberechtigung ist doch nur dann wirklich
gewährleistet, wenn Gleichwertigkeit besteht und die
Rahmenbedingungen stimmen. Der Beitrag des haushaltsführenden Ehegatten in der Partnerschaft ist ebenso
viel wert wie der des in Teilzeit oder Vollzeit tätigen
Ehegatten.
({2})
Wir haben uns als Politiker und Gesetzgeber um alle Lebensformen zu kümmern, damit die Wahlfreiheit auch
wirklich eine solche ist.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard ScheweGerigk vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
vorgelegte Gesetzentwurf bezieht sich auf Ehen, in denen eine traditionelle Rollenteilung zwischen den Geschlechtern besteht: Der Mann verdient das Geld, die
Frau bleibt zu Hause. Der Entwurf zielt darauf ab, die Situation der nicht erwerbstätigen Ehegatten zu verbessern. Zu 75 Prozent sind das die Frauen.
Erfreulicherweise - da gebe ich Ihnen Recht, Frau
Bätzing - hat sich innerhalb der letzten Jahre einiges
zum Positiven verändert; denn zunehmend teilen vor allem jüngere Paare gleichberechtigt ihre Aufgaben und
ihr Einkommen - aber eben nur die jüngeren. Dennoch
ist heute noch in 27 Prozent der Ehen nur ein Ehegatte
erwerbstätig, in der Regel der Mann. 1997, als der Gesetzentwurf geschrieben wurde, waren es noch 31 Prozent. Aber auch wenn dieser Trend anhält, müssen wir
alles dafür tun, den partnerschaftlichen Umgang der
Ehegatten miteinander zu stärken. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, hier haben wir ein gemeinsames
Ziel. Jedoch bin ich mir nicht sicher, ob der von Ihnen
vorgeschlagene Weg auch zielführend ist.
Obwohl Ehefrauen seit 1977 das Recht haben, ohne
Zustimmung des Ehemannes berufstätig zu sein, übernimmt noch immer fast jede dritte Ehefrau ausschließlich Hausarbeit und Kindererziehung. In Zahlen ausgedrückt sind das in der Bundesrepublik Deutschland
knapp 4 Millionen Frauen. Dies tun viele allerdings
nicht freiwillig; denn Untersuchungen haben gezeigt,
dass 70 Prozent der nicht erwerbstätigen Mütter gerne
neben der Kindererziehung weiterhin ihrem Beruf nachgehen würden.
({0})
In vielen Familien ist durch diese Aufgabenteilung
auch die Dominanz in den Familien klar festgeschrieben,
ganz nach dem Motto: Wer das Geld hat, hat das Sagen.
Fakt ist, dass jede zweite Hausfrau mit ihrer finanziellen
Beteiligung nicht zufrieden ist. Hier setzt der vorliegende Gesetzentwurf an: Er will Hausfrauen in Finanzfragen rechtlich besser stellen. Frauen sollen ein Teilhaberecht an den Einkünften des Ehegatten sowie einen
Anspruch auf Auskunft über den Verdienst des Partners
haben.
Durch das vorgesehene Teilhaberecht würde der nicht
erwerbstätigen Ehegattin signalisiert, dass sie für ihren
persönlichen Bedarf nicht nur Bittstellerin für ein Taschengeld ist, das ihr der Ehemann großzügig überlässt,
sondern dass ihr selbstverständlich der angemessene Teil
der Einkünfte zusteht. Problematisch könnte in diesem
Zusammenhang jedoch die rechtliche Stellung gegenüber Gläubigern werden. Denn wird der Ehefrau ein
symbolisches Teilhaberecht eingeräumt, würde es künftig Gläubigern der Ehefrau erleichtert, den Unterhaltsanspruch zu pfänden. Das müssen wir eingehend prüfen,
wenn wir eine tatsächliche Verbesserung für die Frauen
erreichen wollen.
Das zweite Element des Entwurfs, das Auskunftsanspruchsrecht der nicht verdienenden Ehegattin,
schätze ich als Vorteil für die Frauen ein. Derzeit existiert ein allgemeiner Informationsanspruch über das Einkommen und das Vermögen des Ehemannes. Der Ehemann kann aber darauf verweisen, dass sein Geld seine
Sache sei. Mit der Einführung eines echten Auskunftsanspruchs soll dieses Informationsdefizit der nicht verdienenden Ehefrau aufgehoben werden. Eine getrennt lebende oder geschiedene Ehegattin besitzt dieses Recht
und ich sehe nicht ein, weshalb eine Ehefrau weniger
Rechte haben sollte.
({1})
Ich frage mich aber: Was passiert konkret in der Praxis, wenn ein Mann der Ehefrau nicht sagen will, wie
hoch sein Einkommen ist, oder wenn er bewusst falsche
Aussagen macht? Ein Recht auf Einsicht der Bankbelege
hat die Ehefrau auch nach diesem Gesetzentwurf nicht.
Hier bleibt den Frauen dann nur der Weg zum Gericht.
Auch wenn vielleicht nicht viele Frauen diesen Schritt
wagen, so ist es doch wichtig, dass faktisch die Möglichkeit besteht. Trotzdem bin ich sicher, dass sehr viel mehr
Ehefrauen entsprechende Informationen einfordern werden, wenn sie wissen, dass sie auch das Recht dazu haben. Man kann nicht von symbolischem Recht sprechen,
wie es zum Teil gemacht wird. Ich glaube, es ist eine
Stärkung der Frauen in dieser Situation.
Zusammenfassend kann man sagen: Das Ziel des Gesetzes, eine rechtliche Stärkung der nicht erwerbstätigen
Ehefrauen, wird von meiner Fraktion unterstützt. Allerdings gibt es weiteren Klärungsbedarf, damit die Regelungen nicht zu einem Bumerang für die Frauen werden.
Ich glaube, es wird wichtig sein, dass wir in den Ausschussberatungen mit den Berichterstatterinnen und Berichterstattern nach Wegen suchen, wie wir diesem Ziel
nahe kommen.
Ich freue mich schon auf die Zusammenarbeit mit allen Kolleginnen des Hauses mit dem Ziel, die Rechte der
nicht erwerbstätigen Ehefrauen zu stärken. Obwohl es
immer weniger werden, was sicherlich erfreulich ist,
bleibt dies ein wichtiges Ziel.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf des Bundesrates enthält eine klarstellende
Änderung der §§ 1360 und 1360 a BGB, der zufolge die
Position des nicht erwerbstätigen Ehegatten als haushaltsführender oder lediglich hinzuverdienender Partner
verbessert und gestärkt werden soll. In der Regel handelt
es sich dabei um Ehefrauen, wobei nicht zu verkennen
ist, dass angesichts einer sich ändernden gesellschaftlichen Haltung zur Ehe auch zunehmend Männer den
Haushalt führen oder lediglich hinzuverdienen, während
die Ehefrau Hauptverdienerin ist. Aufgrund einer sich
ständig verschärfenden Arbeitsmarktsituation wird dies
in Zukunft noch häufiger der Fall sein, zumal Frauen in
zunehmendem Maße gut ausgebildet sind.
In § 1353 BGB steht die Definition der ehelichen Lebensgemeinschaft, worin auch die wechselseitige Verantwortung festgelegt ist. Daraus ist seitens der Rechtsprechung ein Auskunftsanspruch auf Unterrichtung
über die wechselseitige Einkommenssituation in groben
Zügen definiert worden. Im Unterschied hierzu gibt das
Bürgerliche Gesetzbuch den getrennt lebenden oder geschiedenen Ehegatten einen Auskunftsanspruch im
Detail, der einklagbar und durchsetzbar ist. Die Auskunftsrechte von getrennt lebenden und geschiedenen
Ehegatten sind also rechtlich stärker normiert.
Man kann zu Recht große Zweifel haben, ob ein Auskunftsanspruch unter Ehegatten, wie im Bundesratsentwurf vorgeschlagen, in der Rechtspraxis umzusetzen ist.
Ein Ehepartner, der Informationen über das Einkommen
seines Partners haben will, würde sich im Interesse des
Rechtsfriedens sehr überlegen, ob er oder sie zur Durchsetzung eines Auskunftsanspruchs den anderen tatsächlich verklagen will. Es bleibt also die Frage zu stellen,
wo die Bedeutung der Gesetzesvorlage liegt und ob
diese rechtspolitisch klug ist.
({0})
Wenn die Zielsetzung tatsächlich die ist, Ehepartnern
die wechselseitigen Auskunftsklagen schmackhaft zu
machen, ist eine Ergänzung der §§ 1360 und 1360 a
BGB kritisch zu beurteilen.
({1})
Es kann nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, Eheleute,
die grundsätzlich zu vertrauensvollem und solidarischem
Handeln aufgerufen sind, miteinander in Streit zu führen. Sollte aber Zielsetzung sein, ein Signal zu setzen,
das die Eheleute in gemeinsamer Verantwortung umsetzen müssen, dann ist die vom Bundesrat vorgeschlagene
Ergänzung der § § 1360 und 1360 a BGB möglicherweise sinnvoll.
Die gesellschaftliche Realität sieht mittlerweile so
aus, dass immer weniger Ehen geschlossen werden und
Ehen immer häufiger geschieden werden. Außerdem ist
die demographische Entwicklung in Deutschland eindeutig so, dass immer weniger Kinder geboren werden.
Frauen werden zunehmend älter, bis sie sich erstmals
entschließen, ein Kind zu bekommen. 40 Prozent der
Akademikerinnen in Deutschland haben keine Kinder.
Diese demographisch problematische Entwicklung
hängt auch damit zusammen, dass die so genannte Hausfrauen- und Hinzuverdienerehe für Frauen an Bedeutung
verliert. Die Ehe bietet zunehmend nicht mehr den tragfähigen Boden, um Kinder zu erziehen, ohne die Doppelbelastung der Berufstätigkeit auf sich zu nehmen,
weil die Entscheidung zu einer solchen Familienführung
den Frauen - aber nicht nur ihnen - schwer fällt. Dabei
ist sicherlich auch von erheblicher Bedeutung, dass
Frauen eine Entscheidungsbasis für die Wahl brauchen,
Hausfrau oder eine nur in geringem Umfang berufstätige
Frau und Mutter sein zu wollen.
Aber auch in einer ganz anderen familiären Situation
brauchen sie klare Informationsmöglichkeiten hinsichtlich ihrer Unterhaltsansprüche, nämlich um die Entscheidung treffen zu können, wenn sie wegen der Versorgung alter Eltern oder sonstiger hilfsbedürftiger
Familienmitglieder zu Hause bleiben wollen.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Eine eindeutige Entscheidungsbasis aufgrund detaillierter Informationsmöglichkeiten über das Familieneinkommen brauchen Frauen und Männer nicht zuletzt auch
bei einer eigenständigen und selbstbewussten Vermögensplanung, die nur dann ernsthaft möglich ist, wenn
sie in Kenntnis aller wirtschaftlichen Faktoren getroffen
werden kann. Der Gesetzentwurf aus Baden-Württemberg - ich freue mich über die Anwesenheit von Frau
Ministerin Werwigk-Hertneck - berücksichtigt unter diesem Aspekt die Situation von Eheleuten, die gleichberechtigt in der Ehe leben wollen und sich nicht gegen die
Ehe entscheiden wollen.
Es bleibt zu hoffen, dass aus dem Bundesjustizministerium neue Vorschläge kommen. - Frau Bätzing, Sie
hatten ja gerügt, dass nichts Neues vorgelegt worden sei.
- Ich wünsche mir, dass die Bundesjustizministerin den
Gesetzentwurf aus dem Bundesrat aktiv fördert und ihn
nicht in der familienpolitischen Schublade liegen lässt.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir beschäftigen uns heute mit einem Gesetzentwurf des Bundesrates, der von Baden-Württemberg
eingebracht worden ist. Dieser stimmt mit dem Gesetzentwurf überein, mit dem wir uns am 13. Oktober 2000,
also noch in der letzten Wahlperiode, in erster Lesung
beschäftigt haben. Damals herrschte Übereinstimmung
darüber - das war in allen Reden nachzulesen; ich habe
mir die Mühe gemacht -, dass niemand diesen Entwurf
weiterverfolgen wollte. Der Entwurf war damals bereits
in erster Lesung durchgefallen - und das, wie ich meine,
zu Recht.
({0})
Seinerzeit hat die von uns allen sehr geschätzte Kollegin Margot von Renesse, die in ihrer zwölfjährigen Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag, was die Gleichstellung von Mann und Frau angeht, sehr segensreich
gewirkt hat, folgende Überschrift gefunden: Man will etwas für Frauen tun. Aber man will in Wirklichkeit nur so
tun, als ob man etwas täte.
({1})
Man will das klarstellen, was schon lange geltendes
Recht ist. Das ist in den Reden heute Abend auch wieder
deutlich geworden, es sei denn, ich bin intellektuell nicht
in der Lage gewesen, diesen zu folgen. All das, was vorgetragen wurde, ist schon heute geltendes Recht, geltende Rechtsprechung und in einer intakten Ehe kein
Problem. Von daher stellt sich die Frage, warum man mit
einem neuen Satz 3 im § 1360 BGB bestehendes Recht
noch einmal klarstellen muss.
({2})
Eine solche Gesetzgebung ist letzten Endes unsinnig
({3})
und für das juristische Handwerk absolut fatal.
({4})
Es stellt sich die Frage nach der praktischen Relevanz einer solchen Klarstellung, die laut der Begründung in das Gesetz hineingeschrieben werden soll. Fragen wir also, ob es in der Lebenswirklichkeit praktische
Gründe dafür gibt! Laut einer repräsentativen Umfrage
des Forsa-Instituts, die im Auftrag der Zeitschrift „Frau
im Spiegel“ durchgeführt wurde, wirtschaften nur noch
16 Prozent der deutschen Frauen mit Haushaltsgeld und
lediglich 12 Prozent erhalten Taschengeld. In der Mehrzahl der Partnerschaften sind die Haushaltsfinanzen
mittlerweile ein Gemeinschaftsthema geworden.
({5})
85 Prozent der Frauen treffen gemeinsam mit ihrem
Partner Entscheidungen über Anschaffungen,
({6})
83 Prozent der Frauen sind über den Verdienst des Mannes im Bilde und 61 Prozent müssen keine Rechenschaft
darüber ablegen, wofür sie Geld ausgeben. Das ist die
moderne Ehe.
({7})
Sie haben heute ein tradiertes und überkommenes Bild
von der Ehe dargestellt, wie es der Wirklichkeit im
21. Jahrhundert letzten Endes nicht mehr entspricht.
({8})
Denjenigen, die immer nach Entbürokratisierung rufen, sage ich Folgendes: Wir als Gesetzgeber sollten uns
wirklich davor hüten, mit gesetzgeberischen Maßnahmen in die durch Art. 6 Grundgesetz geschützte Privatheit der intakten Ehe - darum geht es hier - hineinzuregieren.
Herr Kollege Stünker, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Nein. - Lassen Sie mich zum Abschluss noch zwei
Dinge dazu sagen:
Erste Anmerkung: Frau Ministerin, wenn Sie Ihren
Gedanken, eine Klarstellung im § 1360 BGB vorzunehmen, logisch zu Ende denken, dann müssten Sie konsequenterweise zu der Meinung kommen, auch das eheliche Güterrecht entsprechend ändern zu wollen. Ihrer
Begründung ist aber zu entnehmen, dass Sie genau das
nicht wollen. Diesen Schritt wollen Sie letzten Endes
nicht gehen. Das eine geht aber nicht ohne das andere.
Meine zweite Anmerkung dazu: Ich war neun Jahre
lang Familienrichter. Frau Kollegin Laurischk, es ist mir
wirklich schleierhaft, wie sich die Gerichte einer solchen
Regelung in der Praxis annehmen sollen. Wenn wir solche Prozesse fördern, sollten wir uns im Ergebnis auch
über den nachehelichen Ehegattenunterhalt und über
Auskunftsansprüche bei getrennt Lebenden unterhalten.
({0})
Für diese haben wir das alles im Gesetz geregelt.
Mit dem Vorschlag, den Sie hier vorlegen, geben Sie
den Frauen Steine statt Brot.
({1})
Sie tun genau das, was Frau von Renesse gesagt hat: Sie
tun so, als würden Sie etwas tun. In Wirklichkeit ist das
ein retardierter Vorschlag.
Schönen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Röttgen
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei
dem vorliegenden Gesetzentwurf zum Familienrecht, der
vom Bundesrat in den Bundestag eingebracht worden ist
und auf eine Initiative des Landes Baden-Württemberg
zurückgeht, geht es um eine gesellschaftspolitische
Frage. Es geht um die Gesellschaftspolitik, weil dieser
Gesetzentwurf die wirtschaftliche und finanzielle Anerkennung der Haushaltstätigkeit in der Ehe und damit in
der Regel auch in der Familie beinhaltet. Diese Tätigkeit
wird in vier von fünf Fällen von der Ehefrau geleistet;
die Ehemänner sind immer noch in der Minderheit.
({0})
Das Interessante und ein wenig auch das Erschreckende an dieser Debatte ist, dass es offensichtlich Unterschiede in der Beurteilung der sozialen Wirklichkeit
gibt.
({1})
Wir haben auch heute wieder unverbindliche Schönwetterreden über die Partnerschaft, den Wert der Haushaltstätigkeit und die Anerkennung, die ihr zukommt, gehört.
({2})
Auch Sie haben heute wieder eine solche Rede auf teilweise sehr bescheidenem Niveau gehalten, wie ich sagen
muss.
({3})
Frau Bätzing hat gerühmt, dass die Ehefrau in der Wirklichkeit sogar ein Taschengeld bekommen könne. Welch
eine Großtat im 21. Jahrhundert! Der Kollege Stünker
hat erklärt, wir hätten nur noch moderne Ehen, in der
alle gleichberechtigt partizipieren, alles sei bestens, es
gebe überhaupt keine Defizite in der Anerkennung und
daher auch keinen Handlungsbedarf. Das bestätigt im
Grunde nur meine generelle These, dass die eigentlich
strukturkonservative Fraktion auf der linken Seite dieses
Hauses angesiedelt ist. Sie sind die Status-quo-Partei.
({4})
Wir haben uns überlegt: Lohnt es sich überhaupt, hier
darüber zu reden? Wir waren der Auffassung, dass es gut
ist, heute darüber zu debattieren. Ich wusste aber gar
nicht, wie gut das ist. Frau Schewe-Gerigk, ich teile
nicht alles, was Sie gesagt haben.
({5})
Dies gilt insbesondere für die Tatsache - ich will es einmal freundlich formulieren -, dass Sie sich ein Urteil
darüber anmaßen, wie andere ihre Ehe führen sollen. Ich
führe keine Alleinverdienerehe. Aber in der Familie meiner Frau gibt es ein solches Modell. Meine Schwägerin
hat sich als promovierte Akademikerin aus freier Wahl
dafür entschieden und sagt: Wir haben vier Kinder und
das ist es, was ich mir wünsche. Ich finde, keiner sollte
sich das Recht herausnehmen, darüber ein Urteil zu sprechen. Überlassen Sie diese autonome Entscheidung den
Ehepartnern!
({6})
Das hat mich an Ihrem Beitrag gestört. Aber ich glaube,
dass sich das nicht unbedingt im Gesetzentwurf auswirken muss; denn er gilt nur für diejenigen, die sich für
eine solche Lebensweise entscheiden.
Es gibt eine Diskrepanz zwischen den unverbindlichen Reden und der sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Wirklichkeit; das ist überhaupt nicht zu bestreiten. Reden Sie einmal mit Anwälten für Familienrecht!
Sie werden Ihnen bestätigen, dass Ehefrauen quer durch
alle Bevölkerungsschichten oft noch nicht einmal wissen, was ihr Ehemann im Monat verdient. In den Beratungen vor der Scheidung werden die Ehefrauen gefragt,
ob sie die Steuererklärung nicht unterschrieben hätten,
weil man dann die Höhe des Verdienstes hätte sehen
müssen. Die Antwort ist dann, dass sie die Steuererklärung ohne hinzuschauen unterschrieben hätten. Das ist
die Wirklichkeit, nicht nur, aber auch in Deutschland.
Dass Sie in der SPD generationen- und geschlechtsübergreifend davor die Augen verschließen, ist eine erschreckende Tatsache; das muss ich schon sagen.
({7})
In dieser Sache hat es übrigens eine rechtliche Veränderung gegeben. Die Kollegin Granold hat aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zitiert. Am
28. Februar 2002 hat das Bundesverfassungsgericht in
dieser Sache geurteilt
({8})
und im Grunde genommen genau das beschlossen, was
jetzt im Gesetzentwurf steht. Das sollten Sie sich einmal
durchlesen. Das Bundesverfassungsgericht ist also mit
seiner Wertung auf der Seite des Bundesrates.
Das Verdienstvolle des Gesetzentwurfs des Bundesrates ist, dass die Ebene der schönen und folgenlosen
Worte verlassen und das Mittel des Rechts gewählt wird,
um der Anerkennung Ausdruck zu geben. Das ist das
Entscheidende, das ist die wesentliche Veränderung. Die
Möglichkeiten des Gesetzgebers, auf die soziale Wirklichkeit und das Bewusstsein einzuwirken und Anerkennung zu verschaffen, sind begrenzt. Es ist die privatautonome Entscheidung der Eheleute, wie sie ihre Ehe
gestalten. Man kann gesellschaftliche Anerkennung
nicht rechtlich erzwingen. Aber das, was der Gesetzgeber kann, nämlich mit der Ausdrucksform des Rechts
Anerkennung zu verschaffen, sollte er tun. Das ist unsere
Auffassung. Darum befürworten wir diesen Gesetzentwurf.
({9})
Wir appellieren an die einzige Fraktion dieses Hauses,
die den Gesetzentwurf ablehnt, sich konstruktiv an der
Beratung zu beteiligen. Verweigern Sie bitte nicht nur
deswegen die Unterstützung, weil Sie diesen Entwurf
nicht eingebracht haben.
({10})
Lassen Sie uns hier zusammenarbeiten! Ich freue mich
darüber - das will ich hier zum Ausdruck bringen -, dass
alle anderen Fraktionen diesem Gesetzentwurf grundsätzlich - über Details muss geredet werden - positiv
gegenüberstehen. Das ist ein gutes Signal. Es stimmt
hoffnungsvoll, dass am Ende ein gutes Ergebnis herauskommt.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt die Justizministerin des Landes
Baden-Württemberg, Corinna Werwigk-Hertneck.
Corinna Werwigk-Hertneck, Ministerin ({0}):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ginge mit
diesem Gesetzentwurf, wenn er Gesetz würde, ein Ruck
durch die Machos oder handelt es sich dabei um „eine
Art Gedichtvortrag zum Muttertag“,
({1})
wie es Margot von Renesse in der Bundestagsdebatte am
13. Oktober 2000 formuliert hat? Ich habe das Protokoll
Ministerin Corinna Werwigk-Hertneck ({2})
auch gelesen, Herr Stünker. Darin steht etwas völlig anderes, als Sie ausgeführt haben.
({3})
Ich nehme es jungen Frauen nicht übel, wenn sie den
idealen Traum der partnerschaftlichen Ehe postulieren.
Aber ich bin doch etwas verwirrt, was die SPD zu diesem Thema wirklich meint; denn ich habe auch die Stellungnahme der Bundesregierung aus diesem Jahr sorgfältig gelesen, aus der ein anderes Ehebild hervorgeht.
Danach muss sich diese Regelung - also der Gesetzesvorschlag des Bundesrates - nämlich in ein „bewährtes
System des Familienunterhaltes einfügen. In diesem
System stehen sich die Ehegatten nicht mit individualrechtlichen, auf die persönliche Nutzenmehrung gerichteten Ansprüchen gegenüber, sondern sie stellen ihre
persönlichen Interessen hinter die Verwirklichung der
gemeinsamen und partnerschaftlich bestimmten Ziele
der Familie zurück“,
({4})
und zwar in der Regel auf Kosten der Frauen!
Ich war 20 Jahre lang Fachanwältin für Familienrecht
und habe selbst Beratungen durchgeführt. Was Sie sagten, Herr Dr. Röttgen, ist völlig richtig. Die Anwaltschaft
kann die genannten Beispiele bestätigen.
Das Bundesverfassungsgericht hat deswegen in Übereinstimmung mit der vorherigen Rechtsprechung eine
angemessene Teilhabe gefordert; insofern haben Sie
Recht, Herr Stünker. Aber wie wird eine solche Teilhabe
erreicht? Es gibt keinen Auskunftsanspruch. Auch wenn
zum Beispiel eine Professorenfrau, die zwar ihren Mann
liebt und gerne mit ihm Weltreisen macht, aber immer
noch mit 500 Euro Taschen- bzw. Haushaltsgeld auskommen muss, selbst wenn die Kinder bereits das Studium abgeschlossen haben, zaghaft nachfragt, wie viel
ihr Mann verdient, dann ist es wichtig, dass er seine Gehaltsabrechnung vorzeigt.
({5})
Mit der im vorliegenden Gesetzentwurf getroffenen
Klarstellung und der Bezugnahme auf § 1605 BGB wird
diese Auskunftspflicht geregelt. Sicherlich fällt es vielen Männern schwer, ihre Verhältnisse offen zu legen.
({6})
Darauf hat übrigens auch eine sehr alte ehemalige Bundestagsabgeordnete, Frau Dr. Diemer-Nicolaus, hingewiesen, als sie hörte, dass ich diesen Gesetzentwurf erneut auf die Tagesordnung des Bundesrates setzen ließ.
Sie hat mir erzählt: Frau Kollegin, ich habe es schon
1957 versucht, aber die Männer wollten den Frauen damals noch keine Einsicht in die Unterlagen gewähren.
Sie haben Recht, Herr Stünker: Die Hausfrauenehe
entspricht längst nicht mehr allen ehelichen Lebensverhältnissen. Die Zahl der partnerschaftlichen Beziehungen nimmt zum Glück zu, aber es gibt noch sehr viele
Ehen, in denen das anders ist. Wir Politikerinnen und Politiker sprechen immer wieder gerne davon, die Familien
zu stärken. Dann müssen wir aber auch Frauen stärken,
die sich ganz für die Familie entscheiden. Sonst bleiben
es wieder einmal nur hohle Worte.
({7})
Herr Stünker, Ihre Meinung, dass auch die Errungenschaftsgemeinschaft erwogen und die Zugewinngemeinschaft daher wieder auf den Prüfstand gestellt werden müsste, teile ich nicht. Ich meine vielmehr, Ihre
Argumentation entlarvt eine bestimmte Denkweise.
Denn wenn man nur wissen will, wie viel Geld monatlich zur Verfügung steht, dann heißt das noch lange
nicht, dass der gesamte gesetzliche Güterstand geändert
werden muss.
({8})
Er muss vielleicht auf europäischer Ebene geändert werden. Ich trete sehr dafür ein, dass wir Überlegungen darüber anstellen, wie ein europäisches Gesetzbuch konzipiert werden könnte. Dabei geht es um äußerst wichtige
familienrechtliche Fragen.
Ich werbe dafür, das über den Bundesrat eingebrachte
Gesetzesvorhaben - es ist sehr wichtig; deswegen bedanke ich mich dafür, dass ich als Beauftragte des Bundesrates hier sprechen kann - zu unterstützen und angemessen zu beraten. Sie, Frau Schewe-Gerigk, haben
- wie auch Frau Renesse vor zweieinhalb Jahren - versprochen: Wir werden das Vorhaben wohlwollend und
ernsthaft prüfen. Ich hoffe daher sehr, dass wir in den
weiteren Beratungen ein Stückchen vorankommen.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/403 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. April 2003, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.