Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/29/2002

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den einzigen Punkt der Tagesordnung auf: Regierungserklärung des Bundeskanzlers mit anschließender Aussprache Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die heutige Aussprache nach der Regierungserklärung neun Stunden, morgen ebenfalls neun Stunden und am Donnerstag drei Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard Schröder. ({0})

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen haben am 22. September von den Wählerinnen und Wählern den Auftrag zur weiteren sozialen und ökologischen Erneuerung unseres Landes erhalten. ({0}) - Das mag Ihnen komisch vorkommen; aber es war so. ({1}) Ich habe schon gelegentlich feststellen müssen, dass Sie das vielleicht ein bisschen anders erwartet hatten. Aber nehmen Sie zur Kenntnis: Sie saßen auf der Oppositionsseite, Sie sitzen da und Sie werden da sitzen bleiben. ({2}) Wir haben den Auftrag, Gemeinsinn und Verantwortungsbereitschaft zu stärken, Solidität, aber auch Solidarität zu organisieren und diesen Auftrag werden wir erfüllen. Die Menschen in Deutschland wissen, dass wir in wirtschaftlich schwierigen Zeiten leben. Sie wissen um die Gefahren durch den internationalen Terrorismus; sie wissen um die Gefahren durch regionale Konflikte - alles Gefahren, die unsere innere Sicherheit, aber auch unseren wirtschaftlichen Wohlstand bedrohen; sie wissen, dass uns der veränderte Altersaufbau unserer Bevölkerung und der Wandel im Erwerbsleben zu weit reichenden Veränderungen bei den Systemen der sozialen Sicherung, zu Sparsamkeit, zu höherer Effizienz und zu größerer Gerechtigkeit zwingen. Aber die Menschen in Deutschland haben sich ausdrücklich nicht dafür entschieden, den Sozialstaat abzuschaffen, wahllos Leistungen zu kürzen ({3}) oder gar die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zurückzudrehen. ({4}) Sie haben der neuen Regierung eben nicht den Auftrag erteilt, die Interessen von Gruppen und Verbänden über das Gemeinwohl zu stellen. ({5}) Wir wissen um den Wählerauftrag und deshalb übernehmen wir Verantwortung für das Ganze. ({6}) Die Entwicklung der internationalen Finanz- und Aktienmärkte, die Zurückhaltung von Konsumenten und Investoren in allen großen Volkswirtschaften, eine anhaltende Unsicherheit auf den Rohstoff- und Energiemärkten durch die explosive Lage im Nahen Osten, das alles gibt wenig Anlass zu der Hoffnung auf eine kurzfristige Besserung der Weltwirtschaft. Deshalb kommt es für uns darauf an, im Inland die Kräfte für Wachstum und Erneuerung zu stärken. Dabei stehen die klassischen Instrumente, um den Konsum und die Investitionstätigkeit durch Subventionen, durch Finanzspritzen zu stimulieren, nicht mehr zur Verfügung; denn diese Instrumente können in einer Zeit der fortschreitenden wirtschaftlichen Verflechtung keine Wirkung entfalten. Die bereits beschlossene nächste Stufe der Steuerreform, die wir zur Beseitigung der nicht vorhersehbaren Flutschäden um ein Jahr verschieben mussten, tritt mit ihren bedeutenden Entlastungseffekten im Jahr 2004 in Kraft. Weitere Entlastungen werden folgen. Sie sind für 2005 bereits beschlossen und werden die Wachstumskräfte in Deutschland stärken. ({7}) Gerade weil die Politik der abgestuften Steuersenkungen weiterverfolgt wird, ({8}) ist es nötig, einzelne Ausnahme- und Subventionstatbestände im Steuerrecht auf ihre Zweckmäßigkeit und auf ihre Zielgenauigkeit hin zu überprüfen und gegebenenfalls auch abzuschaffen. Die in der Koalition vereinbarten Einsparungen und Einschnitte sind in sich ausgewogen. Sie dienen allein dem Ziel, neue Handlungsmöglichkeiten für Zukunftsinvestitionen und damit für Wachstum und Beschäftigung zu eröffnen. ({9}) Obenan stehen Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungswesen. Wir müssen und wir werden die Qualität von Bildung und Ausbildung deutlich verbessern und damit die Lebenschancen insbesondere junger Menschen erhöhen. ({10}) Gegen vielfachen Widerstand werden wir die Familien fördern und die Sozialsysteme reformieren, ({11}) ohne den Grundsatz der Solidarität preiszugeben. ({12}) Wir setzen einen Schwerpunkt öffentlicher Investitionen bei der Wiederherstellung und der weiteren Modernisierung der Infrastruktur in den neuen Bundesländern. Damit stärken wir die innovativen Kräfte in der Wirtschaft, und zwar ganz gleich ob in kleinen, mittleren oder großen Unternehmen. ({13}) Es geht uns darum, unsere Spitzenposition in der Forschung und bei der Anwendung neuer Technologien sowie bei der ökologischen Modernisierung zu halten und sie, wo immer es geht, auszubauen. ({14}) Meine Damen und Herren, zur weiteren Konsolidierung der öffentlichen Haushalte gibt es keine vernünftige Alternative. Wir brauchen Zukunftsinvestitionen statt Zinszahlungen. Wir dürfen heute also nicht das konsumieren, was wir unseren Kindern und Enkeln als Zukunftschancen eröffnen wollen. ({15}) Wir brauchen und wir werden Spielräume im Etat schaffen, um Vorsorge für unsere Volkswirtschaft treffen zu können, und werden bei Bedarf gezielt gegensteuern. Die Bundesregierung hält an dem Ziel fest, bis 2006 einen ausgeglichen Bundeshaushalt zu erreichen. ({16}) Dabei muss klar sein: Der Stabilitätspakt selbst steht nicht zur Diskussion. Was wir aber brauchen, ist seine konjunkturgerechte Ausgestaltung. ({17}) Gerade in der gegenwärtigen Situation muss es möglich sein, die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen. Erforderlich ist also mehr Flexibilität, um in konjunkturell schwierigen Zeiten gegensteuern zu können. ({18}) Angesichts der schwierigen weltwirtschaftlichen Lage, die natürlich unmittelbare Auswirkungen auf die Konjunktur und das Wachstum in Deutschland hat, müssen wir eines erkennen: Es ist jetzt nicht die Zeit, neue Forderungen zu stellen, ohne zu neuen Leistungen bereit zu sein. Wer nur seine Ansprüche pflegt, der hat wirklich noch nicht verstanden, worum es geht. ({19}) Wer soliden Wohlstand, nachhaltige Entwicklung und neue Gerechtigkeit will, der wird Verständnis dafür aufbringen, dass man bei bestimmten staatlichen Leistungen auch kürzer treten muss und dass auf das erreichte Leistungsniveau des Staates und der Sozialversicherungen nicht fortwährend draufgesattelt werden kann. ({20}) Zur Reform und Erneuerung gehört auch, manche Ansprüche, Regelungen und Zuwendungen des deutschen Wohlfahrtsstaates zur Disposition zu stellen. Manches, was auf die Anfänge des Sozialstaates in der BismarckZeit zurückgeht und vielleicht noch vor 30, 40 oder 50 Jahren selbstverständlich und berechtigt gewesen sein mag, hat heute seine Dringlichkeit und damit seine Berechtigung verloren. Diese Bundesregierung, diese Koalition hat eine gelungene Mischung aus mehr wachstumsfördernden Investitionen des Staates, ({21}) intelligentem Sparen, mehr Steuerehrlichkeit und mehr Steuergerechtigkeit vereinbart. ({22}) Wer in einer labilen konjunkturellen Situation noch höhere Einsparungen des Staates fordert, der nimmt in Kauf, dass die berechtigten Anliegen der Bürgerinnen und Bürger Schaden nehmen. ({23}) Meine Damen und Herren von der Opposition, ich kann ja verstehen, dass Sie wegen der verlorenen Wahl immer noch ein wenig sauer sind. ({24}) Wenn man in Ihre Gesichter schaut, merkt man es Ihnen an. Ich kann das gut nachvollziehen. Sie alle haben sich schon auf der Regierungsbank sitzen sehen und nun ist es wieder nichts geworden. Wenn Sie so weitermachen, wird es auch so bleiben; seien Sie sich dessen ganz sicher. ({25}) Wie man hört, sind Sie auf dem besten Wege, so weiterzumachen. ({26}) Zu der Politik, die wir vereinbart haben, gibt es keine vernünftige, jedenfalls keine verantwortbare Alternative. ({27}) Ich sage es noch einmal: Wer in einer labilen konjunkturellen Situation noch höhere Einsparungen des Staates fordert, der nimmt in Kauf, dass die berechtigten Anliegen der Bürgerinnen und Bürger ernsthaft Schaden nehmen. Theoretisch gibt es eine Alternative: Wir hätten, wie es ja gelegentlich vorgeschlagen worden ist, über die beschlossenen und notwendigen Einsparungen - etwa bei den konsumtiven Ausgaben und bei den Subventionen hinaus in allen Ressorts einen gleich hohen Prozentsatz der Leistungen ersatzlos streichen können. Das wäre aber das Gegenteil von sozialer Gerechtigkeit gewesen. Wir brauchen vor allem Investitionen in Zukunftschancen; das werden wir organisieren. Wir wollen deshalb keinen Staat, der verarmt und damit handlungsunfähig wird. ({28}) Es bleibt dabei - das ist unsere gemeinsame Überzeugung -: Einen solchen Nachtwächterstaat kann sich nur eine kleine Minderheit von Mächtigen und Privilegierten leisten. Die Mehrheit in unserem Land kann und will das nicht. ({29}) Die Mehrheit in unserem Land hat Anspruch auf einen Staat, der Gemeinwohl befördert, Chancen eröffnet und Gerechtigkeit organisiert. Gerechtigkeit ist nach unserer Auffassung viel mehr als die Forderung, dass alle Opfer bringen müssen. Mehr als auf die Verteilung knapper werdender öffentlicher Mittel kommt es heute auf die Verteilung von Chancen in unserer Gesellschaft an. Unsere politische Generation steht vor der historischen Aufgabe, Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung zu definieren und sie politisch zu organisieren. Das ist der Grund, warum wir die Menschen in Deutschland, auch diejenigen, die in diesem Hause auf welcher Seite auch immer Politik machen, zu einer Verantwortungspartnerschaft aufrufen. ({30}) Gemeinsam können wir die gewiss großen, aktuellen Schwierigkeiten überwinden und weit über diese Legislaturperiode hinaus die Kräfte und das Können unseres Landes für ein in jeder Hinsicht reicheres Leben der heutigen und der künftigen Generationen mobilisieren. ({31}) Vordringliche Aufgabe in der beginnenden Legislaturperiode ist nach unserer festen Überzeugung die Reform der Arbeitsmärkte. Wir haben in Deutschland nicht nur eine zu hohe Arbeitslosigkeit; wir haben auch zu viele Überstunden, zu viel Schwarzarbeit und zu viele offene, also nicht besetzte Stellen. Mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission ist es gelungen, nach mehr als 30 Jahren fortwährender Diskussionen um Reformen auf dem Arbeitsmarkt ein schlüssiges Gesamtkonzept vorzulegen. ({32}) Diese Vorschläge, die wir ohne Abstriche umsetzen, werden die größte Arbeitsmarktreform seit Bestehen der Bundesrepublik bewirken. Ich denke, wir alle sollten die Gelegenheit nutzen, um Herrn Hartz und den Mitgliedern der Kommission für ihre Arbeit zu danken, und darangehen, die Ergebnisse umzusetzen. ({33}) Was wir mit dieser Reform erreichen werden, ist eben nicht nur eine schnellere und effizientere Vermittlung von Arbeitslosen in offene Stellen. Nein, wir eröffnen darüber hinaus neue Beschäftigungsmöglichkeiten, vor allen Dingen in den Dienstleistungsberufen. Wir schaffen auch bei geringem Eigenkapital neue Chancen auf Selbstständigkeit und Existenzgründung. Wir sorgen für neue Flexibilität durch die Einrichtung von Personal-Service-Agenturen und geben den Menschen die Chance, sich auf Zeit beruflich zu bewähren. Vor allem Langzeitarbeitslose erhalten endlich wieder Gelegenheit, auf diese Weise in Beschäftigung zu kommen. ({34}) Wir machen mit dieser Reform gerade bei den Dienstleistungen legale Arbeit attraktiv und verringern so die Versuchung, Arbeitskraft illegal anzubieten. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Schwarzarbeit ist nach unserer Auffassung kein Kavaliersdelikt, sondern ein Missbrauch unserer Sozialsysteme. Diesen Missbrauch müssen wir mit aller Konsequenz bekämpfen. ({35}) Bei allem geht es mit dieser Reform nicht um eine falsch verstandene Öffnung der Arbeitsmärkte durch bedenkenlose Beschneidung von Arbeitnehmerrechten. Uns geht es um die Eröffnung neuer Möglichkeiten. Die Vorschläge der Hartz-Kommission und die Beschlüsse der Bundesregierung, die dort erarbeiteten Ergebnisse unverwässert umzusetzen, demonstrieren auch etwas, das weit über die dringlichen Reformen auf dem Arbeitsmarkt hinausweist: Hier ist gezeigt worden, dass auch in vermachteten, teilweise verkrusteten Strukturen die nötigen Veränderungen möglich und politisch machbar sind, jedenfalls dann, wenn alle Beteiligten ihre Kraft zur gemeinsamen Verantwortung in die Waagschale werfen. ({36}) Aus diesem großen Reformprojekt können wir eine zentrale Botschaft herauslesen, die auch die Maxime in den vor uns liegenden Regierungsjahren sein wird und - das füge ich hinzu - sein muss: Es geht nicht darum, immer nur zu fragen, was nicht geht. Es geht vielmehr darum, zu fragen, was jede und jeder Einzelne von uns dazu beitragen kann, dass es geht. ({37}) Die Bundesregierung tritt ihr neues Mandat mit dem festen Willen an, unser Land weiter zu erneuern. Innovationen, wie wir sie uns vorgenommen haben, brauchen gewiss Geduld und gelegentlich einen langen Atem. Auch wenn der Weg der Reformen mitunter beschwerlich ist wir werden nicht nachlassen. In der Koalitionsvereinbarung sind für viele Bereiche wichtige Schritte benannt. Gelegentlich sind es erst bescheidene Schritte. Ich meine aber, in allen Punkten ist festzustellen, dass die Richtung stimmt. Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode die Voraussetzungen für eine Politik der Gerechtigkeit, der Erneuerung und der Nachhaltigkeit geschaffen. In den nächsten vier Jahren werden wir diese Politik weiterhin konsequent in die Wirklichkeit des Alltags umsetzen. Denn das ist der Maßstab unserer Politik: Sie hat sich im Alltag der Menschen zu bewähren. ({38}) Vieles von dem, was wir bereits begonnen haben oder womit wir jetzt beginnen, weist über die nächsten vier Jahre hinaus. Manches bei den Veränderungen an den Sozialsystemen, an der Finanzstruktur und bei der Entfaltung neuer Wirtschaftskraft wird erst nach einiger Zeit vollends zur Wirkung kommen. Unsere große Chance ist es, die Gestaltung des gesamten Jahrzehnts in Angriff zu nehmen und damit die Frage zu beantworten, wie im Zeitalter der Globalisierung und strukturellen Veränderungen des Wirtschaftens und des Arbeitens Gerechtigkeit hergestellt bzw. gesichert werden kann. Deshalb begreifen wir es als unsere vordringliche Aufgabe, Deutschland zu einem wirklich kinderfreundlichen Land zu machen, ({39}) und zwar zu einem Land, in dem Kinder so gut betreut werden, dass sie beim Spielen lernen können und beim Lernen das Spielen nicht vergessen müssen. ({40}) Meine Damen und Herren, wir werden erreichen, dass Frauen wirkliche Wahlfreiheit zwischen Familie und Beruf haben. ({41}) Wir werden erreichen, dass das Großziehen von Kindern eben nicht als Last oder gar als Risiko empfunden wird. Wir werden die Bedingungen dafür schaffen, dass Kindererziehung als selbstverständlicher und glücklicher Abschnitt eines erfüllten Lebens erfahren werden kann. ({42}) Wir wollen also ein Land sein, das seinen Kindern alle Möglichkeiten einräumt, in einer sicheren Umwelt mit gesunden und bezahlbaren Lebensmitteln aufzuwachsen, und das allen eine erstklassige Bildung und Ausbildung garantiert. ({43}) Allein dafür stellen wir in den nächsten vier Jahren 4 Milliarden Euro für die Einrichtung von 10 000 neuen Ganztagsschulen zur Verfügung. ({44}) Damit wollen wir mithelfen, dass Deutschland in zehn Jahren wieder zu den führenden Bildungsnationen zählt. Genauso wenig, wie der Zugang zu erstklassigen Bildungsangeboten vom Geldbeutel der Eltern abhängen darf, dürfen Bildungschancen vom Wohnort bestimmt sein. ({45}) Wir werden daher gemeinsam mit den Ländern einen Kern von nationalen Bildungs- und Leistungsstandards erarbeiten. Den Schulen schließlich müssen wir mehr Autonomie gewähren und sie zu mehr Wettbewerb und Eigenverantwortlichkeit herausfordern. ({46}) Für Kinder bis zum Alter von drei Jahren werden wir eine gesetzliche Betreuungsquote von 20 Prozent errei54 chen. Dies finanzieren wir über die Entlastung der Kommunen durch die Reformen am Arbeitsmarkt. ({47}) Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Gerechtigkeit und Zukunftsinvestitionen erreicht werden können, wenn unsere Politik ganzheitlich auf diese Ziele ausgerichtet wird. ({48}) Wir werden unsere rechtsstaatliche Demokratie stärken und weiter ausbauen. Die demokratische Teilhabe werden wir entwickeln und fördern. Deshalb halten wir an unserem Ziel fest, Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene einzuführen. ({49}) Wir setzen auf eine umfassende Politik der Integration gegen jede Ausgrenzung sozialer, ethnischer, religiöser oder kultureller Gruppen und Minderheiten. ({50}) Dabei verstehen wir unter Integration weder die zwanghafte Angleichung noch die Akzeptanz von Parallelgesellschaften. Integration heißt für uns vollkommene Teilhabe an den Chancen, aber natürlich auch an den Pflichten unseres Gemeinwesens. Eine gesteuerte Zuwanderung wird die Zukunftschancen aller Menschen in Deutschland erhöhen und denjenigen, die zu uns kommen, weil sie zu uns kommen dürfen, eine sichere Lebensperspektive bieten. Dazu gehört das Angebot, aber auch die Verpflichtung zur Integration. ({51}) Von entscheidender Bedeutung ist dabei auch die nachholende Integration der Ausländerinnen und Ausländer, die bei uns leben. Zugleich werden wir die Ausreisepflicht für die Nichtbleibeberechtigten konsequent durchsetzen. ({52}) Wir werden mit einer umfassenden Integrationspolitik nicht zuletzt die Versäumnisse früherer Jahrzehnte korrigieren. ({53}) Unser Ziel ist, ein Land zu schaffen, in dem der Mensch wirklich im Mittelpunkt aller gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen steht. Das ist auch ein Grund dafür, dass wir den Verbraucherschutz über die Lebensmittelsicherheit hinaus stärken und eine moderne Familienpolitik fortsetzen, damit die Menschen leben können, wie sie leben wollen, anstatt sich vorschreiben zu lassen, wie sie leben sollen. Vergessen wir aber auch nicht: Mehr Wachstum und mehr Produktion bedeuten nicht automatisch mehr Freiheit für den Einzelnen. Für uns ist Lebensqualität mehr als Lebensstandard, mehr als Konsum oder Einkommensniveau. Lebensqualität umfasst die ganze Vielfalt des Lebens der Menschen in unserem Land, hat also sehr viel mit Freiheit zu tun, und zwar Freiheit von Angst und Not. Das heißt aber auch Freiheit zur Verwirklichung ganz persönlicher Lebensentwürfe. Dies ist deswegen so, weil wir Freiheit eben nicht auf Gewerbefreiheit reduzieren. ({54}) Freiheit heißt für uns, dass jede und jeder Einzelne die Chance auf ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben hat. Wir wollen ein Land sein, das seine Spitzenstellung im Umwelt- und Klimaschutz sowie in Forschung und Technologie behauptet und weiter ausbaut. ({55}) Wir schaffen auf diese Weise einen neuen Zusammenhalt, der auf Freiheit, auf Selbstbestimmung und auf Nachbarschaft gründet. Wir wollen einen neuen Gemeinsinn und einen Staat, der öffentliche Güter wie Gesundheit, Sicherheit und Mobilität bereitstellt, ohne in das private Leben der Menschen hineinzuregieren. Deshalb brauchen wir nicht einfach weniger oder mehr Staat, sondern vor allem einen effizienten, an den Interessen und Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger orientierten Staat, der in der Wirtschafts- und in der Gesellschaftspolitik wichtige und vor allem richtige Impulse gibt. ({56}) Um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, aber auch der Unternehmen in die Zukunft unseres Landes zu stärken sowie die Binnennachfrage und die Investitionen anzukurbeln, brauchen wir eine Wirtschafts- und eine Arbeitsmarktpolitik aus einem Guss. Diese Politik steht auf fünf Säulen: strategische Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur für die Familien und zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie für die ökologische Erneuerung unseres Landes, Fortsetzung der Haushaltskonsolidierung und Einsparungen bei den konsumtiven Staatsausgaben und den Subventionen, nachhaltige Entlastung der Menschen von Steuern und Abgaben, ({57}) Strukturreformen am Arbeitsmarkt, bei Rente und Gesundheit, um die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfähig zu machen und, wo immer es geht, die Lohnnebenkosten zu senken, ({58}) und Abbau unnötiger Bürokratie. Deutschland ist ein Land mit einem großartigen wirtschaftlichen Potenzial und enormen eigenen Wachstumskräften. Unsere Position auf den Weltmärkten im Export, das Qualifikationsniveau unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Vielzahl der bei uns entwickelten Verfahren und Patente und die gute Infrastruktur sind Stärken, die wir weiterentwickeln müssen und werden, um auch in Zeiten ungünstiger Weltkonjunktur bestehen zu können. Wir wollen eine neue Kultur der Selbstständigkeit und einen neuen Aufschwung bei den Existenz- und Unternehmensgründungen. ({59}) Dazu bündeln wir die Mittelstandsförderung. Wer sich aus der Arbeitslosigkeit heraus selbstständig machen will und kann, den werden wir dabei unterstützen. ({60}) In den ostdeutschen Bundesländern werden wir in den Inno-Regio-Prozess durch weiterentwickelte Fördermaßnahmen zur Gründung neuer Unternehmen eingreifen und ihn ergänzen. Wir werden die Entwicklung eines neuen Mittelstandes im Dienstleistungssektor fördern und die Existenzbedingungen kleiner Dienstleistungsbetriebe systematisch verbessern. Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan werden wir Aufbau Ost und Ausbau West gleichermaßen voranbringen. Wir werden die Planung von Bauvorhaben vereinfachen und auf diese Weise Investitionen beschleunigen. Auf der Grundlage des Solidarpakts II, der bis ins Jahr 2019 Planungssicherheit gewährt, werden wir die Wirtschaftsentwicklung in den ostdeutschen Bundesländern vorantreiben. Ostdeutschland muss besser in die überregionale und internationale Arbeitsteilung eingebunden werden. ({61}) Besonderes Augenmerk legen wir dabei auch auf die Förderung von Direktinvestitionen in den ostdeutschen Ländern und Regionen. ({62}) Es bedarf nicht erst jener grausamen terroristischen Bedrohung, deren Aktualität uns auch in diesen Tagen ständig vor Augen geführt wird, um zu erkennen: Sicherheit ist in unserer einen Welt längst nicht mehr mit nationalen Maßnahmen allein, sondern nur durch internationale Zusammenarbeit zu gewährleisten. ({63}) Aber auch im nationalen Maßstab, in unserer eigenen Gesellschaft, ist Sicherheit eben nicht allein Sache von Polizei, Justiz oder Militär. Die Bundesregierung hat schon frühzeitig national und international einen erweiterten Sicherheitsbegriff definiert und dafür geworben. Dazu gehört die Sicherheit von Leib und Leben vor Krieg und Kriminalität, keine Frage, aber eben auch die materielle, soziale und kulturelle Sicherheit, eben zur Vergewisserung der eigenen Identität, und nicht zuletzt die Sicherheit des Rechts und die Absicherung gegen Krankheit und andere Lebensrisiken. ({64}) Wir sind davon überzeugt: Erst eine Gesellschaft, die in dieser Weise umfassend Sicherheit bereitstellen kann, ist fähig zu guter Nachbarschaft und zu friedlicher Zusammenarbeit nach außen, aber eben auch zu den notwendigen Veränderungsmaßnahmen nach innen. Die demographische Entwicklung unserer Bevölkerung etwa kann nicht ohne Auswirkung auf die Struktur unserer Systeme der sozialen Sicherung bleiben. Medizinischer Fortschritt und gestiegene Lebensqualität haben unsere Gesellschaft erfreulich verändert, die Lebenserwartungen der Menschen verlängert und immer mehr Krankheiten therapierbar gemacht. Doch wenn ein immer kleinerer Teil der Gesellschaft die Beiträge für die Kassen aufbringen muss, deren Leistungen im Gesundheitswesen und bei der Altersversorgung von einem immer größeren Teil in Anspruch genommen werden, dann bedroht das auf Dauer die Funktionsfähigkeit der Solidargemeinschaft. ({65}) Die Bundesregierung setzt alles daran, das hohe Niveau der medizinischen Versorgung, das es in unserem Land Gott sei Dank gibt, zu sichern und - das ist das Entscheidende - für jede und für jeden zugänglich zu halten. ({66}) Wir werden dieses leistungsfähige Gesundheitswesen dann und nur dann auch für das Wohlergehen aller Menschen nutzen können, wenn wir die Strukturen verändern, die Systeme öffnen und in hohem Maße vorhandene Effizienzreserven auch wirklich nutzen. Wir wollen keine Zweiklassenmedizin und mit uns wird es sie nicht geben. ({67}) Was wir aber brauchen und was wir schaffen werden, sind mehr Verantwortung und mehr Wettbewerb im System, eine Stärkung der Prävention und mehr Zusammenarbeit zwischen Kassen, Patienten, Ärzten, Krankenhäusern und Gesundheitszentren. ({68}) Die Rolle der Patienten werden wir durch mehr Rechte und verbesserte Schutzvorkehrungen stärken. Wir wollen mündige Patienten, die aktiv an der Vorsorge und der Pflege ihrer Gesundheit teilnehmen. In der Rentenpolitik haben wir mit der zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge begonnen, das Sicherungssystem wirklich zukunftstauglich zu machen. Den Weg zu mehr Eigenverantwortung und mehr Wettbewerb, den wir mit der Errichtung der zweiten Säule in der Altersvorsorge eingeschlagen haben, werden wir fortsetzen, um so auf Dauer die Renten sicherer zu machen und die Beiträge bezahlbar zu halten. ({69}) Sowohl die Gesundheits- als auch die Altersversorgung werden wir nach dem Muster reformieren, mit dem wir in der Hartz-Kommission Blockaden beseitigt und neue Wege eröffnet haben. Im Gesundheitswesen erwarten wir von allen Beteiligten die unbedingte Orientierung an den gemeinsamen Zielen: der Bereitstellung des medizinisch Notwendigen, dem effizienten Einsatz der Mittel und der Entlastung bei den Arbeitskosten. Dabei folgen wir dem Grundsatz: „Soziale Sicherheit durch Solidarität und Verantwortung“ heißt auch in diesen Bereichen: fördern, aber die Betroffenen auch fordern. Neben der sozialen Sicherheit ist die innere Sicherheit ein wesentliches Fundament unserer Gesellschaft und eine wesentliche Bedingung unserer Freiheit. Wir haben deshalb stets betont, dass es keinen Widerspruch zwischen Sicherheit auf der einen Seite und Bürgerrechten auf der anderen Seite geben kann und geben darf. ({70}) Wir verstehen Sicherheit als ein elementares Bürgerrecht. ({71}) So verstandene Sicherheit ist nur durch das Zusammenspiel dreier Schlüsselelemente zu gewährleisten: einer effizienten, gut ausgerüsteten und bürgernahen Polizei, entwickeltem Bürgersinn und aktiver Zivilcourage sowie einer unabhängigen Justiz in einem starken Rechtsstaat. Diesem Konzept bleibt die Bundesregierung verpflichtet. Im Kampf gegen das organisierte Verbrechen werden wir auf der Basis der europäischen Beschlüsse die Zusammenarbeit weiter verbessern. Im Strafprozess stärken wir die Rechte der Verbrechensopfer. Die Strafvorschriften gegen sexuellen Missbrauch, insbesondere von Kindern, werden wir fortentwickeln. Parallel dazu setzen wir die Reformen in der Gesellschaftspolitik fort. Die Gleichstellung und die gleiche Berücksichtigung von Frauen und Männern setzen wir für den Bereich der Bundesregierung als durchgängiges Leitprinzip durch. ({72}) Auf die völlig neue Bedrohungssituation nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 haben wir umfassend und schnell reagiert. Bis Mitte der Legislaturperiode werden wir die Antiterrorgesetzgebung den Erfordernissen weiter anpassen. Moderne Methoden zur Identitätsfeststellung und zur Aufklärung von Straftaten werden wir weiterentwickeln und selbstverständlich nutzen. Der erweiterte Sicherheitsbegriff ist auch Leitmotiv der Bundesregierung in der Außen-, in der Sicherheitsund in der Entwicklungspolitik. Wir setzen die Politik der guten Nachbarschaft fort und kommen unserer Verantwortung nach, die sich aus Deutschlands politischer und geographischer Lage im Herzen Europas, aus der Partnerschaft im Altantischen Bündnis und aus der Wertegemeinschaft für Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und Gerechtigkeit ergibt. Die außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen lassen sich an zwei Daten anschaulich festmachen: Durch den 9. November 1989 hat sich Deutschlands Rolle in der Welt langfristig gewandelt und der 11. September 2001 hat die Sicherheit in der Welt insgesamt dramatisch verändert. Mir liegt daran, dass Folgendes immer wieder deutlich wird: Deutschland ist heute mit fast 10 000 Soldatinnen und Soldaten nach den Vereinigten Staaten von Amerika der größte Truppensteller, was internationale Einsätze angeht. Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus, der - was wir gerade in diesen Tagen wieder spüren - längst nicht gewonnen ist, wird uns auch weiterhin ebenso substanzielles Engagement abfordern wie unsere langfristig eingegangenen Sicherheitsund Aufbauverpflichtungen, etwa auf dem Balkan, aber auch in Afghanistan. Gleichzeitig befindet sich die Bundeswehr im größten Reformprozess ihrer Geschichte, der sie für ihre komplexen Aufgaben von heute und morgen tauglicher als in der Vergangenheit machen soll. Die Bundesregierung - mir liegt daran, das hier deutlich zu machen - dankt den Soldatinnen und Soldaten ausdrücklich für ihr großes professionelles Engagement unter diesen enormen Belastungen. ({73}) Völlig zu Recht genießen unsere Soldatinnen und Soldaten das große Vertrauen der Menschen, für die sie, ob in Kabul, in Bosnien-Herzegowina oder in Mazedonien, im Kosovo oder in Georgien, immer auch Hoffnung auf Frieden und auf Sicherheit verkörpern. Welch glückhafter Wandel in der deutschen Geschichte! ({74}) Die Fortsetzung der Reform unserer Streitkräfte setzt voraus, dass wir das Gesamtspektrum der Aufgaben der Bundeswehr unter heutigen sicherheitspolitischen Bedingungen analysieren und bereit sind, die daraus notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Dies erfordert auch eine umfassende Prüfung dessen, was wir unter diesen neuen Bedingungen an materieller Ausrüstung und an Personal wirklich benötigen. Bis Ende der Legislaturperiode werden wir überprüfen, ob über das beschlossene und ins Werk Gesetzte hinaus weitere Strukturanpassungen oder gar eine Änderung der Wehrverfassung nötig sind. ({75}) Auch wenn wir infolge unserer wiedererlangten staatlichen Einheit und der damit erlangten vollen Souveränität wiederholt unsere nunmehr selbstverständliche Bereitschaft unter Beweis gestellt haben und stellen, gegebenenfalls unseren militärischen Beitrag für Frieden und Sicherheit zu leisten, ist sich die Bundesregierung jedoch bewusst: Sicherheit ist heute weniger denn je mit militärischen Mitteln, geschweige denn mit militärischen Mitteln allein herzustellen. ({76}) Wer Sicherheit schaffen und aufrechterhalten will, der muss - das ist klar - einerseits Gewalt entschieden bekämpfen, andererseits aber auch das Umfeld befrieden, in dem Gewalt entsteht, und zwar durch präventive Konfliktregelung, durch Schaffung sozialer und ökologischer Sicherheit, durch ökonomische Zusammenarbeit und durch das Eintreten für Menschen- und auch für Minderheitenrechte. ({77}) Einer solchen präventiven und umfassend ansetzenden Außen- und Sicherheitsrepublik bleibt die Bundesregierung verpflichtet. Wir haben nicht erst durch die Attentate von New York, Washington, Djerba, Bali und zuletzt Moskau schmerzlich erfahren müssen, dass die Modernisierungs- und Verflechtungsprozesse unserer heutigen Welt weder zwangsläufig friedlich verlaufen noch automatisch zu mehr Freiheit und Demokratie führen. Umso größer ist unsere Verpflichtung, den Prozess der Globalisierung nicht nur anzunehmen, sondern ihn auch aktiv politisch zu gestalten. ({78}) Sicherheit setzt gerade bei beschleunigten, aber ungleichzeitigen Entwicklungen voraus, dass wir uns ständig um Interessenausgleich und auch um eine gerechtere Verteilung der Globalisierungsgewinne bemühen. Wir werden unter den Bedingungen einer enger zusammengerückten Welt keine Sicherheit erreichen, wenn wir Unrecht, Unterdrückung und Unterentwicklung weiter gären lassen. ({79}) Gegen die neue Gefahr einer privatisierten Gewalt von Kriegsherren, Kriminellen und Terroristen setzen wir internationale Allianzen gegen Terrorismus und gegen Unfreiheit. Wir wollen die Stärkung von Gewaltmonopolen durch starke, legitimierte internationale Organisationen, allen voran die Vereinten Nationen. ({80}) Dies werden wir auch durch unsere Mitarbeit im Weltsicherheitsrat und den Vorsitz, den Deutschland dort turnusgemäß übernehmen wird, bekräftigen. Die Bundesregierung tritt in ihrer internationalen Verantwortung dafür ein, dass mit der Globalisierung der Märkte eine Globalisierung der Menschenrechte und der sozialen Sicherheit einhergeht. ({81}) In diesem Sinne haben wir uns zuletzt auf dem Weltnachhaltigkeitsgipfel in Johannesburg ({82}) für konsequente Armutsbekämpfung, Öffnung der Weltmärkte sowie eine weltweite Anstrengung für Klimaschutz und ökologische Energienutzung engagiert. ({83}) Die Finanzierungsbasis für die Entwicklung haben wir festgeschrieben; wir werden bis zum Jahr 2006 das Ziel einer Quote von 0,33 Prozent für die Entwicklungsarbeit umsetzen. ({84}) Deutschlands Platz bei der Durchsetzung universeller Werte unter Wahrnehmung unserer internationalen Verantwortung bleibt durch die feste Verankerung in unseren Bündnissen, unsere Rolle in der Europäischen Union und unsere Freundschaft zu den Vereinigten Staaten von Amerika bestimmt. ({85}) Unsere transatlantischen Beziehungen, die auf der Solidarität freiheitlicher Demokratien und auf unserer tief empfundenen Dankbarkeit für das Engagement der Vereinigten Staaten beim Sieg über die Nazibarbarei und bei der Wiederherstellung von Freiheit und Demokratie beruhen, sind von strategischer Bedeutung und von prinzipiellem Rang. ({86}) Diese Beziehungen finden ihren Ausdruck in einer Vielzahl von politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und zivilgesellschaftlichen Kontakten und Freundschaften. Dies schließt aber unterschiedliche Bewertungen in ökonomischen und politischen Fragen nicht aus. ({87}) Wo es sie gibt, werden sie sachlich und im Geiste freundschaftlicher Zusammenarbeit ausgetragen. ({88}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat immer deutlich gemacht, dass Deutschland die Prioritäten bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus im fortgesetzten Engagement bei Enduring Freedom und in der Fortsetzung und Stärkung internationaler Koalitionen gegen den Terror sieht. Wir wissen, dass gerade der Nahe und Mittlere Osten dringend Hoffnung auf greifbare Fortschritte in Richtung eines dauerhaften und gerechten Friedens brauchen. In diesem Sinne hat sich die Bundesregierung intensiv für ein Ende der tödlichen Spirale von Terror und Gewalt in Israel und in Palästina eingesetzt. Mit unseren europäischen und amerikanischen Partnern sind wir uns einig, dass Frieden im Nahen Osten nur durch ein Ende der Gewalt und die Ermöglichung eines Zusammenlebens von Israelis und Palästinensern in zwei eigenständigen, anerkannten Staaten mit sicheren Grenzen erreicht werden kann. ({89}) Eine solche Lösung muss auf dem Verhandlungsweg gefunden werden. Um die Gefahr, die von Massenvernichtungswaffen ausgeht, zu mindern, haben wir unsere technischen, personellen und sachlichen Mittel angeboten und werden die Mission der VN-Waffeninspektoren im Irak mit allen Kräften, die wir haben, unterstützen. ({90}) Die Region und die gesamte Welt brauchen genaue Kenntnis über die Waffenpotenziale des Regimes im Irak. Wir brauchen die Gewissheit, dass die dortigen Massenvernichtungswaffen vollständig abgerüstet werden. ({91}) Über den Weg zu diesem Ziel hat die Bundesregierung frühzeitig ihre Auffassung und auch ihre Besorgnisse zum Ausdruck gebracht. Die zwischenzeitliche Entwicklung und die internationale Diskussion vor allen Dingen im Weltsicherheitsrat zeigen, dass die Chance besteht, eine militärische Konfrontation am Golf doch noch zu vermeiden. Ich bekräftige in diesem Zusammenhang unsere Haltung, dass wir auf unbeschränktem Zugang der Waffeninspektoren zu den Arsenalen Saddam Husseins beharren. Angesichts der bedrohlichen Lage im Nahen Osten und der Notwendigkeit, den Kampf gegen den internationalen Terrorismus auf möglichst breiter Grundlage zu führen und ihn dann zu gewinnen, setzt die Bundesregierung auf die Ausschöpfung aller Möglichkeiten von internationalen Inspektionen. Gegenüber dem Irak und anderen Gefahrenherden müssen eine konsequente Politik der Abrüstung und internationale Kontrollen vorrangiges Ziel bleiben. Das ist einer der Gründe, warum wir immer gesagt haben - das gilt nach wie vor -, dass wir uns an einer militärischen Intervention im Irak nicht beteiligen werden. ({92}) Meine Damen und Herren, unsere Politik für Frieden, Menschenrechte und Sicherheit ist und bleibt eine Politik in Europa, für Europa und als Folge dessen auch von Europa aus. Wir setzen die Politik der freundschaftlichen Partnerschaft mit Russland in gemeinsamer Verantwortung fort. Wir unterstreichen unsere Solidarität mit der russischen Bevölkerung angesichts brutaler Terroranschläge wie zuletzt in Moskau. Gleichzeitig setzen wir auf eine politische Lösung der Konflikte in Tschetschenien und in der gesamten Kaukasusregion. ({93}) Dies ist auch zentrale Forderung der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, die zu stärken und auszubauen unser Ziel ist. Ende der vergangenen Woche ist es dem Europäischen Rat in Brüssel gelungen, eine tragfähige Grundlage für die Erweiterung der Europäischen Union zu schaffen. Damit kann das zentrale europäische Projekt am Anfang dieses Jahrhunderts, nämlich die endgültige Überwindung der schmerzlichen Teilung Europas, erfolgreich abgeschlossen werden. ({94}) Wir haben gewusst, dass wir diese historische Chance nur nutzen können, wenn sich die Mitgliedstaaten im Europa der Fünfzehn vor dem Ende der Beitrittsverhandlungen, also noch in diesem Jahr, auf ein belastbares finanzielles Konzept vor allem bei der Agrarfinanzierung einigen. Mit dem Brüsseler Kompromiss, vor allem auch durch die Zusammenarbeit mit unseren französischen Freunden, ist ein Ergebnis erzielt worden, das den Erfordernissen der Begrenzung der Agrarkosten in der erweiterten Europäischen Union Rechnung trägt, ({95}) das die historische Tragweite der Entscheidung, um die es geht, aber nie aus den Augen gelassen hat. Zusammen mit unseren Partnern sind wir der gemeinsamen Verantwortung vor der europäischen Geschichte gerecht geworden und haben die Grundlagen dafür gelegt, dass nun auch in Europa zusammenwachsen kann, was zusammengehört. ({96}) Wir werden nunmehr beim europäischen Gipfel im Dezember in Kopenhagen die Beitrittsverhandlungen mit zehn mittel- und osteuropäischen Ländern abschließen. Dabei wissen wir: Gerade uns Deutschen bieten sich mit der Vertiefung und der Erweiterung der Europäischen Union großartige politische wie ökonomische Möglichkeiten. Wir wissen: Die Geschichte der Einigung Europas ist eine Erfolgsgeschichte. Der Prozess der wirtschaftlichen Integration mit der Herstellung des größten Binnenmarkts der Welt und der Einführung einer gemeinsamen Währung hat nicht zuletzt dazu beigetragen, Nationalismen in Europa klein zu halten oder sie zu überwinden. ({97}) Aber, meine Damen und Herren, unser Europa zeichnet sich durch mehr aus als durch wirtschaftliche Stärke, Leistungsfähigkeit, Erfindergeist und Arbeitsfleiß. Europa, das ja nie geographisch, sondern immer politisch definiert war, steht nach unserer Auffassung für eine ganz spezifische Kultur und auch Lebensform. In Europa, unserem Europa, hat sich ein eigenes, auch einzigartiges Zivilisations- und Gesellschaftsmodell durchgesetzt, das auf dem Gedanken der europäischen Aufklärung fußt und auf Teilhabe aller Menschen als Triebkraft für seine Entwicklung setzt. Dieses Europa, das so mühevoll aus seiner blutigen Vergangenheit zur freiheitlichen und friedlichen Gegenwart und Zukunft gefunden hat, ist eine echte Wertegemeinschaft geworden. ({98}) Das europäische Modell der Verbindung aus Eigeninitiative und Gemeinsinn, aus Individualität und Solidarität, hat sich bewährt. Wir, die Deutschen, haben unseren Beitrag dazu geleistet. Es ist ein Modell, das sich auch in Zeiten der Globalisierung durchsetzen kann und ohne dass wir es exportieren können oder wollen, auch vielen anderen Entwicklungschancen bietet. Die Europäische Union ist die Antwort der Völker auf Krieg und Zerstörung. Sie ist unsere Antwort auf die Globalisierung und auch auf die Herausforderung durch Instabilität und durch Terrorismus. ({99}) Allerdings hat sich in der vergangenen Zeit das eigentliche Problem in der Konstruktion der Europäischen Union zunehmend bemerkbar gemacht. Ich meine vor allem die Zuordnung der Verantwortlichkeiten. Wir müssen dafür Sorge tragen - das ist in dieser Legislaturperiode möglich -, dass die Europäische Union auch mit 25 oder gar mehr Mitgliedstaaten politisch führbar bleibt. Unser Ziel ist eine starke und handlungsfähige, eine verständlich organisierte und demokratisch legitimierte Europäische Union, die sich durch Transparenz und Bürgernähe auszeichnet. ({100}) Dieses Ziel wollen wir bis zur Regierungskonferenz im Jahr 2004 erreichen. Mit der in Nizza beschlossenen Grundrechte-Charta liegt bereits ein wichtiges Element für eine künftige europäische Verfassung vor. Was wir darüber hinaus zur Komplettierung der europäischen Verfassung benötigen, wird im Konvent unter Vorsitz von Giscard d’ Estaing beraten. Die Bundesregierung unterstützt die Arbeit des Konvents mit allen Kräften. Wir werden daran mitwirken, einen Verfassungsentwurf zu präsentieren. Er muss beinhalten: eine eindeutigere Abgrenzung der Kompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten auf der einen Seite und der Europäischen Union auf der anderen Seite; die Schaffung einer starken und zugleich auch politisch verantwortlichen Kommission, deren Präsident vom Europäischen Parlament zu wählen ist; ein in seinen Rechten deutlich gestärktes Europäisches Parlament, die Reform des Rates, der grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit entscheiden soll, sowie eine verbesserte Zusammenarbeit der Gemeinschaft in Fragen der inneren und der äußeren Sicherheit. Die bevorstehenden historischen Weichenstellungen wie auch die Arbeiten an der europäischen Verfassung werden wir in enger Abstimmung mit unseren französischen Freunden betreiben. ({101}) Wir haben in Brüssel gesehen, dass wir ohne ein gemeinsames deutsch-französisches Vorgehen - auch wenn gelegentlich schmerzhafte Kompromisse gemacht werden müssen - ein Europa der Bürger, dessen Nutzen aus Vertiefung und Erweiterung allen Europäern zugute kommen soll, nicht werden schaffen können. Wir wollen eine neue Kultur der Selbstständigkeit und der geteilten Verantwortung. Deshalb fördern wir die weitere Stärkung der freiheitlichen und sozialen Bürgergesellschaft. Ich will allerdings deutlich machen: Wir wollen die Zivilgesellschaft nicht deshalb stärken, damit sich der Staat aus seinen originären Aufgaben zurückziehen kann. ({102}) Es ist gewiss richtig, dass der Staat nicht die Bereiche organisieren soll, in denen es die Gesellschaft besser kann. Deshalb brauchen wir weniger Bürokratie und weniger Obrigkeitsdenken, aber nicht unbedingt weniger Staat. Ebenso klar ist: Der allgegenwärtige Wohlfahrtsstaat, der den Menschen die Entscheidungen abnimmt und sie durch immer mehr Bevormundung zu ihrem Glück zwingen will, ist nicht nur unbezahlbar, er ist am Ende auch ineffizient und inhuman. ({103}) Deshalb fördern wir die Eigenverantwortung und die Kräfte zur Selbstorganisation unserer Gesellschaft. Vor allem die vielen Tausend ehrenamtlich und freiwillig Tätigen in kulturellen und sozialen Projekten sowie in Projekten des Sports brauchen größere Gestaltungsräume. Wir fördern diese Verantwortung für das Gemeinwohl nicht nur, wir fordern sie auch. ({104}) Der Reichtum und die Kreativität unseres Landes werden wesentlich bestimmt durch großartige kulturelle Leistungen und Angebote. Die Bundesregierung hat bereits in der vergangenen Legislaturperiode begonnen, den Dialog mit Künstlern, Intellektuellen und Kulturschaffenden wieder aufzunehmen. Das Amt des Beauftragten für Kultur und Medien hat sich als segensreich erwiesen, und zwar nicht nur für die Kultur, sondern auch für unser ganzes Land und unsere Gesellschaft. ({105}) Mir liegt daran, dass deutlich wird: Für die Bundesregierung ist Kultur nicht einfach eine angenehme Nebensache im Leben der Menschen. Wir wissen vielmehr, dass Sicherheit, Identität und die Fähigkeit zur friedlichen Nachbarschaft in erheblichem Maße kulturelle Errungenschaften sind. Wir wissen, dass Kunst und Kultur wesentliche Bausteine für eine Gesellschaft der Partnerschaft und auch für eine Gesellschaft der Gerechtigkeit sind. An diesem Ziel richten wir unsere Kulturpolitik aus - im Innern, aber auch im Rahmen der auswärtigen Beziehungen. ({106}) Die Aufgabe ist klar: Um die Erneuerung Deutschlands voranzutreiben und die wirtschaftlichen Probleme zu meistern, um neue Chancen zu eröffnen und neue Gerechtigkeit zu organisieren, brauchen wir das Mitwirken aller auf allen Ebenen. Wir brauchen eine neue Selbstverantwortung und auch eine neue unternehmerische Verantwortung. Wir stehen vor großen Reformen auf den Arbeitsmärkten sowie bei Bildung und Ausbildung und auch - wir wissen, dass dies manchen schmerzen wird in unserem Sozialsystem. Dabei setzen wir auf die vielen Tausend Frauen und Männer, die in diesen Bereichen engagiert tätig sind. Sie sind die eigentlichen Vorantreiber des Wandels. Wir werden, wo immer es geht, den Konsens mit den volkswirtschaftlichen Akteuren, den Bürgern und den gesellschaftlichen Gruppen suchen. Aber genauso klar muss sein: Wir lassen am Primat der Politik nicht rütteln. ({107}) Bei aller Bereitschaft zum Dialog - dies wird ja gelegentlich als Vorwurf konstruiert - und aller Bereitschaft zum Konsens muss am Ende die Politik, das heißt die Bundesregierung und ihre parlamentarische Mehrheit, die notwendigen Entscheidungen treffen - und sie wird es tun. ({108}) Die Frage, ob unser Land politisch geführt oder mächtigen Interessengruppen überlassen wird, ist entscheidend für unsere Zukunft. ({109}) Eine Gesellschaft, deren Regierung nicht für die Nutzung aller Chancen und für den gleichen Zugang zu den Chancen sorgt, wird unter den Fliehkräften der Globalisierung von innen in Schwierigkeiten kommen, wenn nicht gar zusammenbrechen. Für Zusammenhalt und Wohlergehen der Gesellschaft in Zeiten äußerer Risiken, in Zeiten äußerer Unsicherheiten und in Zeiten tief greifender innerer Veränderungen zu sorgen, das verstehen wir als die zentrale Aufgabe dieser Regierung in den nächsten vier Jahren. Das Ziel unseres Weges ist klar: ein Leben reicher an Chancen, reicher an Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitsformen, reicher an Dienstleistungen und Märkten, reicher an Zukunftshoffnungen sowie an Kultur und Sicherheit, aber durchaus auch reicher an Einkommen und Vermögen für alle. ({110}) Gemeinsam werden wir dieses Ziel erreichen und gemeinsam werden wir damit für uns und unsere Kinder eine lebenswerte Zukunft schaffen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({111})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Angela Merkel, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, beim Zuhören, insbesondere bei der letzten Passage Ihrer Regierungserklärung, in der Sie so salbungsvoll die hehren Ziele Ihrer Politik - ein Leben reicher an Chancen, reicher an Arbeitsmöglichkeiten, reicher an Zukunftshoffnungen, reicher an Einkommen -, die wir - so haben Sie gesagt - gemeinsam erreichen werden, aufgelistet haben, kam mir ein Satz aus dem Johannesevangelium in den Sinn: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ ({0}) Ich füge hinzu: Ihre Wahrnehmung der Realität, Herr Bundeskanzler, und Ihre Regierungserklärung sind auch nicht von dieser Welt. ({1}) Eigentlich war man mehr als eine Stunde lang versucht, den Satz herauszubrüllen: Die Wahrheit ist konkret, Genosse! - Das haben wir vermisst, Herr Bundeskanzler. ({2}) Sie haben manches Problem durchaus richtig beschrieben. Aber man konnte bei mancher Problembeschreibung Ihnen und denjenigen, die Ihnen zugehört haben, förmlich ansehen, dass sie sich dabei ziemlich schlecht fühlen. Denn Lyrik ist nötig. Ich frage Sie: Wen wollen Sie diesmal zum Schuldigen stempeln? Die Probleme von heute können Sie eben nicht mehr der imaginären Erblast von 16 Jahren Helmut Kohl in die Schuhe schieben. ({3}) Sie spüren es und Sie haben es die ganze Zeit gespürt. Das, Herr Bundeskanzler, lastet auf Ihrer Rede. Sie wissen, es gibt eine Erblast und Sie tragen schwer daran, aber es ist Ihre eigene Erblast, die rot-grüne Erblast, die Deutschland bremst und Wachstum unmöglich macht. ({4}) Die Staatskassen wollen sich partout nicht füllen, die Löcher werden täglich größer. Die Rentenversicherung verlangt mehr Beiträge und gibt weniger Sicherheit, das Gesundheitssystem schluckt das Geld wie ein Pillensüchtiger die Pillen. Daran werden auch die Ankündigungen eines Vorschalt- oder Nachschaltgesetzes nichts ändern, das wird so bleiben. Herr Bundeskanzler, das Schlimmste ist: Die Arbeitslosigkeit sinkt nicht, sondern wird weiter steigen. Dabei geht es nicht um irgendeine Zahl, um 4 Millionen oder 4,5 Millionen in diesem Winter; nein, hier geht es um Menschen, um Familien, um das Selbstwertgefühl dieser Menschen, um Hoffnungen, um Verletzungen, um Enttäuschungen, um richtige menschliche Schicksale. Es ist keine nackte Zahl und deshalb sage ich Ihnen: Keines dieser konkreten Schicksale hat in den letzten 65 Minuten in diesem Saal eine Rolle gespielt und das werfen wir Ihnen vor. ({5}) Man hätte sich gewünscht, dass Sie nach der mit Ach und Krach gerade einmal so gewonnenen Bundestagswahl diesmal richtig durchstarten. ({6}) Der Titel Ihres Koalitionsvertrags ist durchaus viel versprechend. „Erneuerung - Gerechtigkeit - Nachhaltigkeit“ - das ist Ihr Angebot an die Gesellschaft. ({7}) Sie wollen das mit einem Kabinett, das insgesamt an Lebensalter auf 800 Jahre kommt, durchsetzen. Ich würde sagen: So alt waren Aufbruch und Erneuerung selten in Deutschland. ({8}) Aber wenn man sich einmal die Mühe macht, die darin enthaltenen Absichtserklärungen zu verstehen und mit dem zu vergleichen, was Ihre Regierung heute, in den Tagen vor und in den Tagen nach der Wahl gesagt hat, kommt es noch schlimmer. Herr Bundeskanzler, es kann nur ein einziges Urteil geben: Dies ist ein Koalitionsvertrag der Enttäuschung, es ist ein Koalitionsvertrag der Täuschung und es ist ein Koalitionsvertrag der Vertuschung. Dies werden wir auch weiterhin beim Namen nennen. ({9}) Man weiß ja auch schon, was jetzt kommt: Wahlkampf fortsetzen, schlechte Verlierer, CDU-Staat beenden, Kettenhunde loslassen, Helfershelfer und so weiter und so fort. ({10}) Aber damit bekommen Sie nicht einmal mehr die Treuesten der Treuen in Ihren eigenen Reihen hinter dem Ofen hervorgelockt. ({11}) Die deutsche Öffentlichkeit fällt auf so etwas schon lange nicht mehr herein. Dies alles bestätigt nur den Eindruck, dass Ihnen diese knapp gewonnene Wahl ziemlich in den Knochen steckt. Sie haben heute schon Angst vor der Quittung, die Sie in Niedersachen und Hessen bekommen werden. ({12}) Wir werden es den Menschen auch immer wieder sagen. ({13}) Sie zeigen an diesen Stellen auch schon Verfolgungswahn. Aber nicht wir haben Ihnen Verfolgungswahn vorgeworfen, sondern die „Süddeutsche Zeitung“, die Sie wahrscheinlich noch nicht zu den Kettenhunden des konservativen Lagers zählen können, Herr Bundeskanzler. ({14}) Dass Ihr Koalitionsvertrag ein Vertrag der Täuschung und Vertuschung ist, belegen einige Zitate: Steuererhöhungen sind in der jetzigen konjunkturellen Situation ökonomisch unsinnig und deswegen ziehen wir sie auch nicht in Betracht. Gerhard Schröder in der ARD am 26. Juli 2002. ({15}) Wir halten die Rentenbeiträge langfristig stabil. Gerhard Schröder in der „Frankfurter Rundschau“ am 18. Juni 2002. ({16}) Ich bin sicher, wir kriegen keinen blauen Brief aus Brüssel. Herr Eichel am 17. September 2002, fünf Tage vor der Wahl, in der ARD-Sendung mit dem schönen Titel „Ihre Wahl 2002“. ({17}) Meine Damen und Herren, ich erspare Ihnen, dies alles auf die Waagschale zu legen. Ich nenne hier nur das Beispiel Eichel: Von einer Neuverschuldung in Höhe von 2,5 Prozent war am Tag vor der Wahl die Rede, von 2,9 Prozent am Tag nach der Wahl und 14 Tage später war von einem blauen Brief aus Brüssel die Rede. Inzwischen ist er froh, wenn er ihn bekommt und vonseiten der Kommissare in Brüssel nicht noch mehr draufgepackt wird. Das ist die Wahrheit. ({18}) Die Wahrheit ist so konkret, dass man sagen kann: Jede Familie in diesem Lande wird draufzahlen. Die Menschen kommt die Wahl buchstäblich teuer zu stehen. 200 Euro im Monat beträgt die Mehrbelastung für jede deutsche Durchschnittsfamilie mit zwei Kindern und 30 000 Euro Einkommen. ({19}) Zur Kürzung der Eigenheimzulage: ({20}) - Richtig, Herr Schmidt, man weiß nicht, was am Ende kommt. Dies ist das Einzige, was bei Ihnen Gültigkeit hat. ({21}) Ich füge nur noch hinzu: Es ist gut, dass es uns gibt, ({22}) sonst wüssten die Leute nicht, was kommt. Wenn sie nur Sie hätten, würde es ganz schlimm kommen. ({23}) Nun zur Eigenheimzulage: Hören Sie sich einmal Ihre Abgeordnete Margrit Wetzel aus Stade an. Sie sagt: Die Streichung der Eigenheimzulage ist ein Schlag ins Gesicht der deutschen Bauwirtschaft. ({24}) - Wo Sozialdemokraten Recht haben, haben sie Recht. ({25}) Sie begreifen doch gar nicht, was Sie den Menschen antun! Wissen Sie, was dies für eine Familie bedeutet, die ein Haus bauen will? Sie weiß, dass sie ohne diese Förderung bei der Bank - dies ist doch der entscheidende Punkt - nicht mehr kreditfähig ist. ({26}) Riesige Bauunternehmen machen heute mit Fertigteilhäusern Dumpingangebote und zerstören so die kleinen Baubetriebe vor Ort. Herr Stolpe, hier frage ich Sie: Was tun Sie mit solchen Plänen eigentlich für die Bauwirtschaft im Osten? ({27}) Dem Stichwort Eigenheimzulage kann man hinzufügen: Gassteuer, Tabaksteuer, Steuerreform verschoben, höhere Rentenbeiträge und höhere Krankenkassenbeiträge. Dies zusammen macht die Mehrbelastung in Höhe von 200 Euro pro Familie und Monat aus. ({28}) Dann behaupten Sie, Ihre Maßnahmen seien nicht nur notwendig, sondern gerecht und maßvoll und träfen vor allem diejenigen, die noch mehr tragen können. ({29}) Schauen Sie sich doch einmal an, was das in Wahrheit bedeutet. Es trifft alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Lande, es trifft alle Autofahrer und insbesondere die Pendler. Es trifft die, die Lebensmittel einkaufen, denn sie sind von der Erhöhung der Preise der landwirtschaftlichen Vorprodukte betroffen. Es trifft die Leistungsträger - das sind die Facharbeiter, die Gesellen, diejenigen, die Überstunden machen in diesem Lande -, weil Sie die Beitragsbemessungsgrenze erhöhen. ({30}) Es trifft die Mieter in diesem Lande, es trifft die, die für ihre Altersvorsorge Wertpapiere gekauft haben, und es trifft natürlich wie immer - weil die Sie nicht wählen ganz besonders die Bauern; das ist schon fast Routine. ({31}) Man muss doch wirklich einmal fragen dürfen: Was ist an diesen Belastungen eigentlich gerecht? Wo ist die Balance, von der Sie bei diesen Belastungen so gerne sprechen? ({32}) Besteht schon deshalb eine Balance und ein Gleichgewicht, weil alle in diesem Lande gemeinsam am Boden liegen? Das kann doch nicht die Balance sein, die Sie meinen. ({33}) Deshalb heißt die schlichte Schlussfolgerung: RotGrün macht arm ({34}) und, noch schlimmer, Rot-Grün bietet den Menschen überhaupt keine Aussicht in Bezug auf die Frage, wie in diesem Lande Wachstum und damit wieder mehr Beschäftigung entstehen können. ({35}) Wirklich schlimm an Ihrer Politik ist, dass Sie wissen, dass die Lage der öffentlichen Haushalte viel schlechter ist, als Sie uns heute sagen. ({36}) Deshalb werden Sie uns, vor allen Dingen nach dem 2. Februar, scheibchen- und tröpfchenweise weitere Maßnahmen zumuten. Darum frage ich heute schon einmal vorsorglich: Was haben Sie mit dem Ehegattensplitting vor? ({37}) Was soll mit dem Sparerfreibetrag geschehen? Was wird aus der Entfernungspauschale? Verändert sich an der Mehrwertsteuer noch mehr? Beabsichtigen Sie, die Lebensversicherungen noch stärker zu belasten? Es ist doch kein Zufall, dass das alles in den Koalitionsgesprächen aufgetaucht und anschließend wieder in der Schublade verschwunden ist. Deshalb sagen wir Ihnen sehr bewusst: Wir verlangen im Namen der Bürger dieses Landes, ({38}) dass Sie uns heute und diese Woche hier reinen Wein in Bezug auf das einschenken, was Sie in den nächsten Monaten vorhaben. ({39}) Es ist ganz klar: Sie, die Sie dort sitzen, sind keine Regierung der Erneuerung, sondern eine Regierung der Verteuerung. ({40}) Oskar Lafontaine hatte doch Recht: ({41}) Nicht der Mut wächst, Herr Bundeskanzler, sondern die Wut der Menschen in diesem Lande über diese Art der Politik. ({42}) Herr Bundeskanzler, man möchte es mit einem Ihrer Lieblingsworte kommentieren: Wie Sie mit den Menschen in diesem Lande umgehen, das ist schlicht und ergreifend unanständig. ({43}) Unanständig ist das, was Sie machen, ({44}) und unanständig ist vor allen Dingen das Brechen von Versprechen. Ich möchte auf die Debatte vom 13. September 2002 hier in diesem Hause zurückkommen. Ich habe mich damals gar nicht lange mit den vielen gebrochenen Versprechen in der Arbeitsmarkt-, Gesundheitspolitik usw. aufgehalten, ({45}) sondern ich habe Ihnen nur eines gesagt: Die größte Täuschung der Nachkriegszeit ist Ihre Haltung im Zusammenhang mit einem militärischen Einsatz gegen den Irak. ({46}) Es hat sich jetzt erwiesen, dass meine Aussage richtig war. ({47}) Ihre Haltung war und ist der größte Betrug am deutschen Wähler in der Nachkriegsgeschichte. Vor der Wahl gab es nur ein einziges Wort: Nein. Nein zur UN, nein zum Verbleib der ABC-Panzer in Kuwait, nein zu Sanktionen. ({48}) Nach der Wahl besitzt der Bundesaußenminister die Dreistigkeit, einer englischen Zeitung auf die Frage, was mit dem so genannten deutschen Weg sei, zu antworten, er könne natürlich nicht für den Kanzler sprechen, aber: Forget it! - Auf Deutsch: Vergesst es! Das ist es, was Sie hoffen und wovon Sie ausgehen. ({49}) Für wie dumm halten Sie eigentlich die deutsche Bevölkerung? Die Menschen werden das nicht vergessen. ({50}) Die Wahrheit und die Politik sind - Herr Schmidt, da können Sie so viel schreien, wie Sie wollen - eben nicht so einfach. ({51}) Wie steht es denn mit der Beantwortung der vielen konkreten Fragen, die sich ergeben? Wie wird sich die Bundesregierung verhalten? Ist sie bereit, sich an einer UN-Peacekeeping-Maßnahme nach einer militärischen Auseinandersetzung mit dem Irak zu beteiligen? Zu welchen Hilfsmaßnahmen wäre sie bereit, wenn der Irak Israel angreift? Was machen die ABC-Spürpanzer in Kuwait im Falle eines militärischen Konfliktes? Würden deutsche Soldaten Hilfe für die verwundeten US-Soldaten leisten? Würde die Bundesregierung dem NATO-Mitglied Türkei militärisch zu Hilfe kommen, wenn sie vom Irak angegriffen würde? Wie verhält sich die Bundesregierung bei einer Abstimmung über eine Resolution des UN-Sicherheitsrates nach dem 1. Januar? ({52}) Wollen Sie alleine mit Syrien mit Nein stimmen? Diese Fragen interessieren uns. Wir wollen sie beantwortet haben. Auf eine Antwort warten wir schon lange. ({53}) Herr Bundeskanzler, Sie haben es bis heute nicht geschafft, unser nationales Interesse zu definieren. Deshalb sage ich Ihnen für die CDU und die CSU: Wir alle wollen keinen Krieg. ({54}) Das habe ich schon damals deutlich gemacht und tue es jetzt wieder. Wann immer Konflikte diplomatisch oder politisch gelöst werden können, sollte in dieser Beziehung nichts unversucht gelassen werden. Eine kurze Anmerkung zum Wochenende sei mir in diesem Zusammenhang gestattet. Wir alle sind gegen terroristische Angriffe. Ich hätte mir deswegen von Ihnen, Herr Bundeskanzler, schon gewünscht, Sie hätten dem russischen Präsidenten Putin mit aller Klarheit deutlich gemacht, dass wir mit Nachdruck erwarten, dass auch politische Anstrengungen in Tschetschenien unternommen werden. Das wurde versäumt. ({55}) CDU und CSU sind bereit, die von der UN erwarteten Beschlüsse gegen den Irak zu unterstützen. Wir sind im Übrigen der Auffassung, dass die französischen Ansätze hierfür eine gute Grundlage bieten. Ich komme zu einem Punkt, zu dem Sie auch nicht Stellung genommen haben, der aber schon im November aktuell wird. CDU und CSU erwarten, dass sich die Bundesregierung auf dem NATO-Gipfel in Prag, auf dem das Thema Irak mit Sicherheit zur Sprache kommen wird, nicht aus dem Kreis der Verbündeten stiehlt, sondern sich für eine gemeinsame Position der NATO-Mitgliedstaaten einsetzt. ({56}) Ich möchte nicht erleben - das sage ich für die Union -, dass Norwegen, Ungarn und Polen auf der Seite der Amerikaner sind und wir nicht. Deutschland hat Freundschaften. Diese Freundschaften sind an Werte gebunden und müssen in einem Bündnis etwas zählen. ({57}) Das alles sage ich mit Blick auf die Zukunft. Wir ahnen doch schon, wie es ablaufen wird, wenn es Weihnachten wird, der Januar kommt und die Wahlen in Niedersachen und in Hessen vor der Tür stehen. Sie werden in Hessen die alten Plakate aus dem Jahr 1991 auspacken, auf denen steht: Kein Blut für Öl. - Ich kann Ihnen sagen: Genau das wird nicht funktionieren, weil sich die Menschen im Lande ziemlich erstaunt die Augen reiben und sich fragen werden: War der Irak nicht das Wahlkampfthema? In den Koalitionsvereinbarungen sucht man diesen Punkt vergeblich. Vom Kosovo, von Mazedonien und von Afghanistan ist zu lesen, aber vom Irak ist nicht mit einer Silbe die Rede. ({58}) Ich vermute, wenigstens der Außenminister hat Sie daran gehindert, Ihre Lügen in der Koalitionsvereinbarung auch noch in Schriftform zu fassen. ({59}) Wenn man sich anschaut, was in den letzten fünf Wochen passiert ist, dann drängt sich die Frage auf, was Sie wirklich wollen. Warum gehen Sie so vor? „Man erkennt nicht, wohin es eigentlich geht.“ ({60}) So klage nicht nur ich, so klagte auch der thüringische SPD-Landesvorsitzende Matschie am Wochenende. Wo der Mann Recht hat, hat er Recht; denn genau das ist das Problem dieses Bundeskanzlers. Man weiß nicht, wo es hingeht. Ich sage es mit meinen Worten: Herr Bundeskanzler, welchen Wert hat für Sie eigentlich der Gestaltungsanspruch der Politik gerade jetzt, also in, wie Sie so gerne betonen, unserer Zeit der Globalisierung? Sehen Sie überhaupt einen Gestaltungsanspruch oder sehen Sie in der Globalisierung immer nur einen imaginären Schuldigen? Ich sage: Gestaltung ist nicht punktuelles Handeln und nicht das Reagieren auf kurzfristige Ereignisse, neudeutsch auch Krisenmanagement genannt - selbst wenn auch das manchmal erforderlich ist. Ich meine eine Gestaltung, die dem Leben eine Richtung gibt und die Zusammenhänge herstellt. Ich glaube, dies ist die vornehmste Aufgabe der Politik. ({61}) Sie wollen, wie Sie gesagt haben, eine „rot-grüne Epoche“ beginnen. ({62}) „Epochen muss man begründen können.“ ({63}) - Hören Sie doch zu, Herr Stiegler! „Das ist mit diesen 90 Seiten Koalitionsvertrag nicht getan.“ - Auch das habe wiederum nicht ich, sondern das hat der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Erler im jüngsten „Spiegel“ gesagt. ({64}) Herr Erler, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl! Es gibt selbst in der SPD-Fraktion einen kleinen Hoffnungsschimmer. Es ist eben so: Ausrufen allein reicht nicht. Es macht die Sache fast noch schlimmer, weil ein ganz merkwürdiges und unsicheres Gefühl bleibt; es ist wie ein Pfeifen im Walde. Meine Damen und Herren, was ist Ihr Gestaltungsanspruch der Politik? Finanzminister Eichel hatte sich mit seinem Sparkurs beinahe ein Stück weit in die Herzen der Menschen eingegraben. Am Tag der Unterzeichnung der Koalitionsvereinbarung in der Neuen Nationalgalerie erklärte er aber dem staunenden deutschen Publikum, dass es mit dem Stabilitätspakt nun vorbei sei, dass man ihn irgendwie anders auslege und dass man ihn konjunkturbedingt interpretieren müsse. Er tut das Gegenteil von dem, was er vier Jahre lang versucht hat, den Menschen beizubringen; das zerstört die Politik. ({65}) Auf der einen Seite erhöhen Sie die Arbeitskosten durch steigende Sozialbeiträge für Rente und Gesundheit - das ist unstrittig - und auf der anderen Seite wollen Sie ebendiese Arbeitskosten über die 500-Euro-Jobs - dort halbherzig - und die Ich-AGs wieder heruntersubventionieren. Meine Damen und Herren, fördern Sie doch den gesamten deutschen Mittelstand - denn dann erhalten Sie mehr Arbeitsplätze -, ({66}) statt mit Ich-AGs und sonstigen Hilfskonstruktionen anzufangen! Das bringt Deutschland nicht weiter. ({67}) Und dann das viel gelobte Hartz-Konzept: Die Wirtschaftsweisen - das waren also nicht wir - haben die Erwartung, dass die Arbeitslosigkeit auf unter 2 Millionen sinken könnte, einhellig als schlicht und ergreifend „illusorisch“ bezeichnet. ({68}) Meine Damen und Herren, es ist ziemlich doll, dass der Superminister Clement - noch bevor er vereidigt war die Sachverständigen bezichtigte, dass sie keinen Sachverstand haben. So wird es nicht gehen. Sie werden die Statistik fälschen und versuchen, zu tricksen und zu täuschen; aber damit werden Sie keinem einzigen Menschen in Deutschland wirklich helfen. ({69}) Wir werden das zum Thema machen und Sie zur Rede stellen. ({70}) Auf der einen Seite wollen Sie, wie das vernünftig ist, die Menschen zu mehr Eigenverantwortung heranziehen, auf der anderen Seite bestrafen Sie aber diejenigen, die diese - auch ohne staatliche Förderung - wahrnehmen könnten, indem Sie die Beitragsbemessungsgrenze bei der Rente wieder hochsetzen und damit den Menschen die Möglichkeit nehmen, eine eigenständige private Vorsorge zu treffen. Das ist widersprüchlich und nachhaltig falsch. ({71}) Sie führen die Nachhaltigkeit groß im Munde. Deshalb ist es das Allerdollste, dass Sie mit der Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze heute Rentenansprüche begründen, von denen Sie wissen, dass Sie sie in der Zukunft niemals werden erfüllen können; das muss den Grünen im Herzen wirklich weh tun. ({72}) Das ist eine nachhaltige Täuschung, nicht mehr und nicht weniger. ({73}) Sie haben - das war durchaus richtig - in der vergangenen Legislaturperiode die Steuern auf einbehaltene Gewinne gesenkt, um die Investitionskraft zu stärken. Nun aber, wo die Unternehmen dadurch, dass ihre Investitionskraft gestärkt wurde, wieder an Wert gewinnen könnten, planen Sie, die Eigentümer durch die Besteuerung von Aktiengewinnen zu bestrafen. Wozu führt das? Das führt dazu, dass die Gewinne natürlich sofort einbehalten werden, dass nicht investiert wird, dass die Menschen nicht besser dastehen und dass die Eigentümerstrukturen wechseln, weil in anderen Ländern keine Steuern bezahlt werden müssen. ({74}) Deshalb hat Professor Sinn zu Recht gesagt: Alles, was Sie vorschlagen, ist Gas geben und zugleich bremsen. Ich warte auf den Tag, Herr Bundeskanzler, an dem Sie uns das als großer Autofreak einmal praktisch vormachen: bremsen und zugleich Gas geben. Das kann nach meinem technischen Sachverstand nur zu einem nachhaltigen Motorschaden führen. ({75}) Die Latte der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen. Der Bundesumweltminister reist heute nach Neu Delhi. Sie haben das Klimaschutzziel für 2005 auf ganz geschickte Art und Weise eliminiert. Was ist denn nun mit der Minderung des CO2-Ausstoßes um 25 Prozent bis zum Jahr 2005? Das Ziel taucht nicht mehr auf, weil es in Ihre Legislaturperiode fällt. Dafür haben Sie ein Ziel für 2020 formuliert - unter dem Vorbehalt, dass auch die anderen europäischen Staaten ihren Beitrag dazu leisten. Wir erwarten heute von Herrn Trittin, dass er uns genau sagt - ich persönlich habe mir oft Anschuldigungen anhören müssen -, welches Ziel Sie unterstützen und wie hoch die CO2-Minderung für das Jahr 2005 sein wird. Wir wollen wissen, welches das konkrete Ziel für diese Legislaturperiode ist. ({76}) Um Ihr widersprüchliches Verhalten noch einmal deutlich zu machen: Sie haben in der vergangenen Legislaturperiode das Erdgas von der Ökosteuer-Regelung ausdrücklich ausgenommen, weil es so umweltverträglich ist und weil Sie wollten, dass die Menschen dies als Anreiz begreifen, möglichst viel mit Erdgas zu heizen. ({77}) Nun tun das 15 Millionen Menschen in Deutschland. Was machen Sie? Als Dankeschön wird Erdgas mit der Ökosteuer belegt. ({78}) Das ist es, was die Menschen so missmutig stimmt. Herr Bundeskanzler, dieser Missmut ist auch nicht dadurch aus der Welt zu schaffen, dass Sie heute eine neue Maxime aufgestellt haben - sozusagen der Kennedy-Verschnitt aus Hannover. ({79}) Sie haben uns gesagt: Hören wir auf, immer nur zu fragen, was nicht geht; fragen wir uns, was jeder Einzelne dazu beitragen kann, dass es geht. ({80}) Nun muss ich Sie einmal fragen: Was ist „es“? ({81}) „Es“ ist nämlich im September 2001 die uneingeschränkte Solidarität mit den Amerikanern. Aber „es“ ist im September 2002 der deutsche Sonderweg in Bezug auf den Irak. „Es“ ist während der Flut der Gemeinsinn und die Hilfe. Aber „es“ ist am Tage der Unterschrift unter die Koalitionsvereinbarung, dass man allen, die spenden wollen, eines vor das Schienbein gibt und die Abzugsfähigkeit der Spenden streicht. So werden Sie die Dinge nicht regeln können. ({82}) Ihre Maxime ist in Wahrheit: Wer etwas leistet, wird vom Staat zusätzlich belastet. Wer mehr Verantwortung für sich oder andere übernehmen will, dem werden Steine in den Weg gelegt. Wer bereit ist, sich für eine sichere Zukunft und die notwendigen Veränderungen einzusetzen, der wird von der Regierung spätestens nach ein paar Monaten allein gelassen. - Deshalb, Herr Bundeskanzler, hätten Sie besser die Finger von Kennedy gelassen. Oder aber, Herr Bundeskanzler, Sie hätten ihn wirklich beim Wort genommen: Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern frage, was du für dein Land tun kannst. ({83}) Ich bin sicher: Viele Menschen würden gerne etwas tun. Aber die Menschen können nichts tun, wenn sie einen Koalitionsvertrag vorgelegt bekommen, der das Papier nicht wert ist, auf dem er geschrieben ist, und der schon gar nicht die Miete des Museums wert ist, in dem er abgeschlossen worden ist. ({84}) Weil hinter der Streichliste kein Konzept erkennbar ist, lässt sich jeder einzelne Punkt mit Aussicht auf Erfolg angreifen. Auch das stammt nicht von mir, sondern das hat gestern die „Süddeutsche Zeitung“ festgestellt. Was heute gesagt wird, ist morgen überholt. Was morgen gesagt wird, steht im Widerspruch zu dem, was vorher galt. Die Halbwertszeit Ihrer Aussagen wird immer kürzer. So regieren Sie zurzeit: im Hier und Jetzt, ohne ein Bewusstsein für das, was gestern war und was morgen kommt. Das ist das Schlimme. Ihr Kronprinz aus Niedersachsen, Herr Bundeskanzler, der voll auf Ihrer Linie liegt, hat es wieder einmal auf den Punkt gebracht. Gabriel sagte auf die Frage, warum Rot-Grün seine Vorhaben eigentlich nicht vor der Wahl offen gelegt hat: „Das hätten Sie wohl gerne gehabt.“ ({85}) Meine Damen und Herren, das ist das, was Sie in der Sozialdemokratie unter Politik verstehen. Politik braucht aber kein kurzfristiges Ereignismanagement, sondern sie muss mehr denn je gestalten können. ({86}) Denn es geht in der Tat um die Frage, wie wir aus Veränderungen Nutzen ziehen können. Deshalb ist es doch so fatal, dass der Bundeskanzler von Augenblick zu Augenblick lebt. Da ist es doch geradezu folgerichtig, dass er als Freund großer symbolischer Handlungen genau zu Beginn dieser Legislaturperiode die Grundsatzabteilung im Kanzleramt schließt. Politik ohne Grundsätze - das ist die Botschaft für diese Legislaturperiode. ({87}) Gebraucht wird aber das Gegenteil: Wir brauchen die Rückkehr des Politischen. ({88}) Darüber gäbe es Einvernehmen. Wir brauchen die Rückkehr des Politischen, nicht ein Verwalten des Augenblicks. Denn Politik hat die Aufgabe, Weichen zu stellen und - Richtungen zu geben - Veränderungen über den Tellerrand des Hier und Jetzt hinaus. ({89}) Das bedeutet auf der einen Seite die Fähigkeit zu Veränderungen auch gegen Stagnation und auf der anderen Seite das Setzen von Grenzen und Orientierungspunkten. ({90}) Es ist keine plumpe Machbarkeitsidee, sondern es geht darum, Maßstäbe zu setzen und Linien zu entwickeln, die über eine längere Zeit durchgehalten werden. ({91}) - Dass Sie so schreien, zeigt doch nur, wie schlecht es Ihnen geht. Wir von der CDU/CSU wollen ein Deutschland, das die Bürger ermuntert, füreinander einzustehen: ({92}) in der Ehe, in der Familie, im Ehrenamt, durch die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Wir meinen, dass die Voraussetzung dafür in einem transparenten, gerechten und einfachen Steuersystem besteht, das Sie bis heute nicht geschaffen haben. ({93}) Falls Sie der Meinung sind, Sie wollten das auch, muss man sich doch wundern, dass nicht nur der Bundeskanzler, sondern zehn, 20 oder 30 Leute an einer Koalitionsvereinbarung arbeiten und nicht merken, dass sie mit dem Streichen der Spendenabzugsfähigkeit für bestimmte Institutionen genau diesen Gemeinsinn zerstören. Dafür brauchen Sie erst die Bevölkerung und die Opposition. Das ist doch das Dilemma in diesem Lande. ({94}) Wir wollen ein Deutschland, das im internationalen Wettbewerb besteht und damit die Chancen der Globalisierung nutzt. Genau dafür brauchen wir die Stärkung der kleinen Einheiten, der Familien, aber vor allen Dingen auch der Kommunen und der Gebietskörperschaften. Diese brauchen keine Geschenke von oben, hier 10 000 Ganztagsschulen und dort ein paar Brosamen, ({95}) sondern sie brauchen langfristige Möglichkeiten, ihre Kommunen so zu entwickeln, wie es die Menschen wollen, und zwar inklusive Tagesbetreuung und Kindergärten. Die ordentliche finanzielle Ausstattung der Kommunen ist das Gebot der Stunde. ({96}) Wir wollen ein Deutschland, das Sicherheit im umfassenden Sinn garantiert: soziale Sicherheit, Sicherheit des Verbrauchers und Sicherheit im Inneren genauso wie im Äußeren. Deswegen brauchen wir eine Politik - der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen; er tut aber nichts dafür -, ({97}) die das Zusammenwachsen von innerer und äußerer Sicherheit besser bewältigt. Wir brauchen ein Sicherheitspaket III, damit endlich bestimmte Lücken geschlossen werden, die uns im Kampf gegen den Terrorismus behindern. Dazu enthält Ihre Koalitionsvereinbarung nur verschwommene Formulierungen, nichts Konkretes. ({98}) Herr Bundeskanzler, wir brauchen ein Zuwanderungsgesetz, durch das die Integration der bei uns lebenden ausländischen Bürgerinnen und Bürger verbessert wird. ({99}) Diese erfolgt vor Ort. Wir haben bisher nichts darüber gelesen, welche finanziellen Maßnahmen Sie auf den Weg bringen wollen, damit die Integration gelingen kann. Sie haben zwar pro forma von „Steuerung der Zuwanderung“ gesprochen. Aber Sie haben das Wort „Begrenzung der Zuwanderung“ nicht in den Mund genommen. Ich sage Ihnen: Bei Ihnen gibt es viel zu viele, die noch immer ihre multikulturellen Tagträume träumen und sich nicht um die eigentlichen Anliegen der Bürgerinnen und Bürger kümmern. ({100}) Wir wollen wie Sie ein verlässliches, zusammenwachsendes und klar geregeltes Europa. Wir begrüßen, wann immer es in die richtige Richtung geht, die Arbeit des EU-Konvents. Keine Frage, Herr Fischer, wir freuen uns über Ihren Sitz im Konvent. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, uns aber - wie neulich bei der Frage, wie Opposition und Regierung gut zusammenarbeiten könnten - großherzige Angebote machen, dann müsste es doch möglich sein, dass neben dem Bundesaußenminister auch wir von der Opposition einen Sitz in dem EU-Konvent für den ausgeschiedenen Bundestagsabgeordneten Meyer bekommen. Herr Schäuble wäre ein toller Partner für Herrn Fischer gewesen. Es wäre zum Wohle Deutschlands gewesen. Das hätte ich unter Großherzigkeit verstanden, Herr Bundeskanzler. ({101}) Wenn Sie in diesen Tagen über Europa sprechen, dann halte ich es für einen Fehler - ich würde es für einen besonders großen Fehler halten, wenn dies auch noch Teil eines Kompensationsgeschäfts wäre -, wenn Sie über den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sprechen. ({102}) Sie wissen doch, dass Ihre Kollegen von der FriedrichEbert-Stiftung genauso wie die von der KonradAdenauer-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung alle Hände voll damit zu tun haben, zu verhindern, dass sie nicht jahrzehntelang ins Gefängnis müssen. Ich sage Ihnen: Es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, an dem wir über den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sprechen sollten. Lassen Sie das sein! Das ist nicht zum Wohle der Europäischen Union. ({103}) Wir wollen ein Deutschland, das sich europäischer Tradition und Werte - ich sage ganz besonnen: gerade auch der christlich-abendländischen - bewusst ist. Deshalb brauchen wir eine Politik, die fest verwurzelt ist und sich gleichzeitig Neuem öffnet. Das ist dann eine Politik, die um die Bedeutung von Halt, Heimat und Orientierung der Menschen in Zeiten der Globalisierung weiß. Wie wichtig dies gerade auch für jüngere Menschen in unserem Land ist, hat noch einmal die Shell-Studie in diesem Jahr gezeigt. Wir wollen ein Deutschland, das selbstbewusst ist und das sein Licht nicht unter den Scheffel stellt. Aber dieses selbstbewusste Deutschland werden wir nur bekommen, wenn wir ein verlässlicher Partner sind. Verlässlichkeit ist die Voraussetzung dafür, dass wir Leadership in Partnership wirklich leben können. ({104}) Sie haben auf diesem Gebiet Vertrauen verspielt. Wir von der Opposition werden versuchen, es so weit wie möglich wiederzugewinnen. ({105}) Deshalb heißt die Rückkehr des Politischen, dass wir den Gestaltungsanspruch der Politik bei dem, was wir wollen, auch wieder zur Geltung bringen, dass die Menschen wissen, was sie von einer Regierung erwarten können, und zwar nicht nur von Montag bis Dienstag, sondern über vier Jahre bzw. - besser - über einen noch längeren Zeitraum. ({106}) Deshalb sage ich Ihnen - hören Sie noch einmal genau zu -: „Wir sind zurzeit dabei auszutesten, wo es beginnt, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und der deutschen Unternehmen zu gefährden.“ - Das sagte Herr Superminister Clement vorgestern bei „Sabine Christiansen“. Lassen wir uns dieses Wort „austesten“ wirklich einmal auf der Zunge zergehen: die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie als Versuchskaninchen von Rot-Grün. ({107}) Da kann ich nur sagen: Der Superminister wird zum Super-GAU für diese Bundesrepublik Deutschland. ({108}) Wenn Sie so viel schreien, muss man doch einfach einmal fragen: Haben Sie eigentlich verstanden, was Globalisierung ist? ({109}) Wissen Sie, dass Globalisierung eine permanente Wettbewerbssituation für jeden kleinen und großen deutschen Betrieb bedeutet? Wissen Sie, wie viele Betriebe sich in diesem Land mit der Absicht tragen, das Land zu verlassen, weil sie diese Koalitionsvereinbarung gelesen haben? Wenn Sie dann schon einen Supermann für Superwirtschaft aus dem angeblichen Superland holen und der als Erstes erklärt, dass er jetzt mal ein paar Versuchsballons startet, dann kann ich nur sagen: Sie haben nicht verstanden, wie ernst es um die Arbeitsplätze in dieser Bundesrepublik Deutschland steht. ({110}) Deshalb sage ich Ihnen: Wir stehen in diesem Parlament für Verlässlichkeit. Wir wissen, dass unsere Gesellschaft vor großen Herausforderungen steht. Und wir wissen, dass es wichtig ist, dass wir eine neue bürgerliche Gesellschaft in diesem Lande schaffen, ({111}) eine Gesellschaft, in der jeder Einzelne bereit ist, Initiative zu ergreifen und Verantwortung zu übernehmen. ({112}) Wir sind bereit, mit den Menschen genau in diesem Sinne einen Vertrag zu schließen, weil wir langfristig berechenbar sind. ({113}) - Hören Sie doch zu! Sie wollen doch immer wissen, wie wir unsere Oppositionszeit verstehen. ({114}) Wir verstehen uns als Wächter, nicht als Blockierer, und zwar als Wächter im Sinne der Menschen dieses Landes: im Bundestag, im Bundesrat und auf allen Ebenen, in denen wir Verantwortung haben, sei es als Regierung oder sei es als Opposition. Herr Bundeskanzler, Sie haben in der Debatte am 13. September, der letzten vor der Bundestagswahl, in der Ihnen eigenen bescheidenen Art dem Kanzlerkandidaten der Union, Edmund Stoiber, gesagt - ich wiederhole es wörtlich: „Sie wollen vielleicht Kanzler werden, aber Sie haben nicht die Fähigkeiten dazu.“ ({115}) Ich antworte Ihnen, und zwar im Lichte dessen, was Sie heute hier vorgetragen haben und was wir in den letzten Wochen gehört haben: ({116}) Sie, Herr Bundeskanzler, wollen vielleicht dieses Land irgendwie von Ereignis zu Ereignis bringen; aber die Fähigkeit, es zum Wohle der Menschen in diesem Land zu führen und die schöpferischen Kräfte in diesem Land zu wecken, haben Sie nicht. ({117}) Die haben Sie nicht, weil Sie keine Idee haben und weil Sie die Menschen in diesem Land nicht ernst nehmen. Und weil Sie die Menschen nicht ernst nehmen, wird die Union gebraucht, mehr denn je, CDU und CSU. Ich sage Ihnen: Wir nehmen genau diesen Auftrag - und dann auch noch mit Freude - an. Herzlichen Dank. ({118})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Franz Müntefering, SPDFraktion, das Wort. ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Start in eine Legislaturperiode ist immer die Gelegenheit, die politischen Ziele der kommenden Jahre zu markieren und auch die ersten konkreten Schritte festzulegen. Das hat der Herr Bundeskanzler auf der Grundlage der Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünen heute für die Regierung getan. ({0}) Wir 251 von der SPD werden in der Koalition mit den Grünen zusammen alles dafür tun, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder und diese Regierung gute Politik für unser Land machen können. Die Arbeit kann beginnen. ({1}) Das Wahlergebnis vom 22. September war knapp, aber klar. Die Mehrheit der Menschen hat Gerhard Schröder als Bundeskanzler gewollt und gewählt, auch bewusst die Koalition von SPD und Grünen gewählt. ({2}) Die Verlierer vom 22. September heißen Edmund Stoiber und Angela Merkel. ({3}) Die Opposition hat in der Demokratie eine wichtige Funktion - das wissen wir und das respektieren wir -, aber Herr Stoiber hat es vorgezogen, nicht im Deutschen Bundestag dabei zu sein und nun aus München Strippen zu ziehen. Ihnen, Frau Merkel, will ich sagen: Es macht keinen Sinn, dass Sie uns heute wieder Ihre verkorksten Wahlrezepte anbieten. Was Sie heute vorgelesen haben, war eine Rede aus der Wahlkampfzeit. ({4}) Sie hätten in der Zwischenzeit lesen sollen, was wir uns für diese Legislaturperiode vorgenommen haben. ({5}) Mit genau den Thesen, die Sie heute vorgetragen haben, sind Sie am 22. September gescheitert. Die Menschen wollen Ihre Politik nicht. Auch deshalb haben sie uns gewählt und uns das Vertrauen für die kommenden vier Jahre für die Regierung in Deutschland gegeben. ({6}) Sie, Frau Merkel, sind gut beraten, neu zu beginnen. Lassen Sie Ihre in der Wahl gescheiterten Positionen friedlich ruhen und denken Sie neu nach! Kümmern Sie sich vor allem um Ihre Selbstfindungskommission, von der man lesen konnte! Da haben die lange Zeit etwas zu tun, zum Beispiel in der Geschichte mit dem Tafelsilber. Klären Sie sicherheitshalber auch, ob die Herren Merz und Koch denn Ihre Helfer oder Ihre Helfershelfer sind! Schauen Sie, ob das mit den Referenten denn jetzt untereinander geklärt ist! ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen hier über Politik, nicht über die Neuroseprobleme von CDU/CSU sprechen. Es gibt schwerwiegende politische Herausforderungen in Deutschland - nur Ignoranten verdrängen das -, aber diese Probleme sind lösbar; nur Angsthasen leugnen das. Deutschland ist ein starkes Land mit großem Potenzial, mit tüchtigen Unternehmern und tüchtigen Unternehmerinnen, mit tüchtigen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, mit einer tragfähigen Infrastruktur, mit erstklassigen Forschungseinrichtungen und vielen Patenten, mit leistungsfähigen Schulen und Hochschulen, mit einem Wohlstand wie nie zuvor in der Geschichte, mit einem stabilen sozialstaatlichen Aufbau, mit Menschen, die zu Anstrengungen bereit sind - der Gegenwart und der Zukunftsfähigkeit wegen. Wir wissen: Es wird nicht leicht. Aber die deutschen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind voller Zuversicht in die Gestaltbarkeit der Dinge und der Zukunft. ({8}) Deutschland ist mit dieser Regierung auf gutem Weg. ({9}) Politik hat eine große Verantwortung, aber sie schafft nicht alles allein. Wir wollen Verantwortungspartnerschaft. Wir wollen die Koalition mit den Menschen in unserem Land. Dazu suchen wir das offene und, wo es nötig ist, auch streitige Gespräch um den richtigen Weg. Wir kehren nichts unter den Teppich. Wir machen deutlich, wo gemeinsame Anstrengungen erforderlich sind. Wir wollen den Dialog und den Kompromiss. Wir brauchen viele, die diesen Weg aktiv mitgehen, zum Beispiel in den Vereinen, in den Verbänden, in den Gewerkschaften, in den Kirchen, in den Initiativen und in den Gruppen. Es sind Millionen, die sich für die Gesellschaft aktiv und oft mit viel Einsatz von Zeit und mit ihrem wenigen Geld engagieren. Das ist der gesellschaftliche Kitt, der dazu beiträgt, Lebensqualität in den Städten und Dörfern zu garantieren. ({10}) Diejenigen, die sich zum Beispiel in den kleinen Sportvereinen engagieren, tun für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen unendlich viel. Diese Menschen haben Dank verdient und wir brauchen sie auch weiterhin. ({11}) Unser Land braucht auch das Engagement der Entscheidungsträger in der Wirtschaft. Die meisten dieser Entscheidungsträger werden akzeptieren, dass sie auf einige steuerliche Privilegien in Zukunft verzichten müssen, weil die Lage der Staatskasse und das Gemeinwohl das erfordern. Sie werden deswegen nicht arm und sie bleiben wettbewerbsfähig. Man konnte lesen - Frau Merkel zitierte das eben -, dass einige über die Verlagerung des Standorts ihres Unternehmens ins Ausland nachdenken. Diejenigen, die das tun, darf man daran erinnern, dass die Wirtschaft für die Menschen da ist und nicht umgekehrt. ({12}) Wer mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland über Jahrzehnte Erfolge erzielt und Reichtum erworben hat, der muss auch seine Verantwortung für die Menschen und Regionen in Deutschland sehen. Verehrte Bosse, so viel Patriotismus muss schon sein, dass man nicht wegläuft, wenn es im eigenen Land einmal anstrengend wird. ({13}) In diesen Tagen wird vieles gleichzeitig angemahnt mit Recht. Erstens. Die Konsolidierung des Haushalts muss weitergehen; die Neuverschuldung muss sinken. 2006 muss die Nettokreditaufnahme des Bundes bei null sein. Ich möchte Sie an das erinnern, was Sie uns 1998 hinterlassen haben: Das, was wir da geerbt haben, bedeutete, dass wir an jedem Tag in Bonn und dann in Berlin 220 Millionen DM Schuldzinsen zu zahlen hatten - nicht Schulden, sondern Zinsen für Schulden! Das darf so nicht weitergehen. Wir werden mit Hans Eichel dafür sorgen, dass die Nettokreditaufnahme sinkt; denn wir wollen unseren Kindern etwas anderes als Schuldscheine und Hypotheken vererben. Das bleibt das Ziel unserer Politik. ({14}) Zweitens. Es geht um die Investitionen des Bundes in Bildung, Forschung und Infrastruktur. Diese Investitionen müssen weitergehen, und zwar mit steigender Tendenz. In die Infrastruktur muss auch deshalb investiert werden, weil wir nicht von der Substanz leben dürfen. Übrigens, die Investitionen des Bundes sind im kommenden Jahr höher als je zuvor: ({15}) Sie liegen bei fast 29 Milliarden Euro. Drittens. Die Steuern müssen sinken. Das werden sie 2004 und 2005. Das entsprechende Gesetz ist beschlossen und gilt. Nach Ablauf von sechs Jahren werden wir den Eingangssteuersatz von 25,9 Prozent auf 15 Prozent und den Spitzensteuersatz ebenfalls deutlich gesenkt haben. Das ist eine steuerpolitische Großtat, von der Sie nur träumen können. Wir haben die Steuern gesenkt und wir werden das auch weiterhin tun. ({16}) Viertens. Die Lohnnebenkosten müssen sinken. Dafür zu sorgen ist besonders schwer, weil die Last in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit auf wenigen Schultern liegt. Wir werden die Entwicklung der Rentenversicherungs- und der Krankenversicherungsbeiträge sehr bald gesetzlich stabilisieren. Sie alle werden dann Gelegenheit haben, dafür zu stimmen und mit dafür zu sorgen, dass das, was wir alle miteinander wollen, nämlich stabile Lohnnebenkosten, erreicht wird. Man darf gespannt sein, ob diejenigen, die dem Grundsatz heute Beifall zollen, mitmachen, wenn es um die Umsetzung in konkrete Maßnahmen geht. ({17}) Zum Kapitel Lohnnebenkosten gehört auch, dass wir der illegalen Beschäftigung - der am schnellsten wachsenden Branche überhaupt - noch massiver als bisher den Kampf ansagen. Ein Bauunternehmer mit 20 Angestellten, für die er ordnungsgemäß Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge entrichtet, wird von solchen Bauunternehmern ausgetrickst, die durch Ausbeutung illegal Beschäftigter die Preise unterbieten. Es darf nicht so bleiben, dass die ehrlichen Unternehmer und die ehrlichen Arbeitnehmer in Deutschland die Dummen sind, während sich die anderen ins Fäustchen lachen. ({18}) Es verwundert schon, dass die Spitzen der Unternehmerverbände die Bundesregierung wegen der zu hohen Lohnnebenkosten attackieren, obwohl sich in ihren eigenen Reihen genau diejenigen befinden, die das System durch illegale Beschäftigung massiv unterlaufen. Die Verbände sollten sich um die schwarzen Schafe in ihren eigenen Reihen kümmern. Wenn sie das täten, dann wäre viel gewonnen. Die Verbände sollten zugeben, dass Kündigungsschutz für Arbeitnehmer und Flächentarife unverzichtbare Stabilisatoren unserer wirtschaftlichen Ordnung sind und bleiben müssen. ({19}) Konsolidierung des Haushalts, steigende Investitionsquote, sinkende Steuern, stabile Sozialversicherungsbeiträge - das alles bei den gegebenen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen gleichzeitig zu erreichen ist nicht leicht, aber möglich. Wir werden das schaffen. Dazu müssen alle einen Beitrag leisten, der ihren Möglichkeiten entspricht. Privilegien werden beschnitten, Ausgaben gekürzt, eine gerechte Verteilung der Lasten gesichert. Starke Schultern werden mehr zu tragen haben als schwächere, damit alle Chancen haben, die Chance auf Bildung und auf Beschäftigung ganz vorneweg. Deshalb machen wir diese Politik. ({20}) Zu dieser für die kommenden Jahre dominierenden Aufgabe gehört es auch, die Verkrustungen des Förderalismus in unserem Land aufzubrechen und wieder mehr Klarheit über Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Ländern einschließlich Gemeinden zu schaffen. Bürgernähe, Demokratie und moderne Verwaltung brauchen klare Regeln. Die Gemeindefinanzreform, die in Vorbereitung ist, wird uns dicht an dieses Thema heranführen. Es wäre gut, wenn jenseits der Tagesaktualitäten ein zielführendes Nachdenken über die Frage begänne, wie sich deutsche Politik in einem unbestrittenen förderalen System so organisiert, dass sie effizient und unkompliziert zeitgemäß wirken kann und neue Impulse möglich werden. Ich fordere keinen Konvent, aber doch einen zielgerichteten Dialog hierzu. Ich hoffe, dass sich keine Seite des Hauses diesem Dialog entzieht. ({21}) Unabhängig davon werden wir mit unserer Entscheidung vor allem zu Arbeitsmarkt-, Steuer- und Finanzpolitik jetzt die Basis für die großen politischen Projekte schaffen, die wir in dieser Legislaturperiode voranbringen wollen, die sich von dem Motto der Koalitionsvereinbarung „Erneuerung - Gerechtigkeit - Nachhaltigkeit“ ableiten. Ein Projekt heißt: Beschäftigung. Beschäftigung schafft Wachstum, Wachstum schafft Beschäftigung. Daran orientieren wir uns bei der Umsetzung der Hartz-Vorschläge und bei der Mittelstandsinitiative. Hartz nimmt den zentralen Gedanken auf, dass die Arbeit, die es in Deutschland gibt, von denen getan werden muss, die legalerweise in Deutschland sind. Wir können es uns nicht leisten, über 4 Millionen gezählte Arbeitslose, über 1 Million offene Stellen und wachsende illegale Beschäftigung zu akzeptieren. Vermittlung ist nicht alles - klar - aber gezieltere Vermittlung ist schon wichtig. Personal-Service-Agenturen, die Arbeitnehmer auf Zeit vermitteln, sie nicht in die Arbeitslosigkeit zurückfallen lassen, sondern sie sozial sichern und qualifizieren, werden nicht das ganze Problem lösen, aber doch zur Lösung beitragen. Kapital für Arbeit hilft den Arbeitgebern, die Arbeitslose dauerhaft einstellen, ihre Eigenkapitaldecke und ihre Investitionskraft zu stärken. Beschäftigung schaffen, Vermittlung verbessern, kundenfreundliche und effiziente Strukturen in der Arbeitsmarktpolitik schaffen, das will das Konzept Hartz. Mein Appell geht an das ganze Haus, als Gesetzgeber das rundum vernünftige Konzept Hartz schnell auf den Weg zu bringen. Sie werden in wenigen Tagen dazu alle miteinander Gelegenheit haben. ({22}) Es wird uns wichtige Schritte voranbringen und der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit dienen. Dazu gehört aber auch die Mittelstandsinitiative als weiterer zusätzlicher Impuls, der bald realisiert werden muss. Unser Land braucht mehr Unternehmerinnen und Unternehmer. In der Wissensgesellschaft sind mehr denn je Menschen gefragt, die den Mut haben, eigene unternehmerische Initiativen und Ideen zu verwirklichen, Verantwortung zu übernehmen und Arbeitsplätze zu schaffen. Wir werden deshalb mit einer neuen Gründerinitiative den Sprung in die berufliche Selbstständigkeit fördern und begleiten. Es geht um Beratung und Information, um Existenzgründerlehrstühle, um verbesserte Finanzierung. Dazu gehört auch, den unternehmerischen Generationswechsel zu erleichtern und den Berufszugang sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern. Wir werden im Handwerksbereich den eingeleiteten Liberalisierungsprozess fortführen und darauf hinwirken, dass das Handwerksrecht einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung der Schwarzarbeit erbringen kann. Wir wollen die erleichterte Betriebsübernahme durch langjährige Gesellen und Lockerung des Inhaberprinzips auch bei den Personengesellschaften. ({23}) Existenzgründer werden in den ersten vier Jahren von Beiträgen zur Industrie- und Handelskammer freigestellt. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau und die Deutsche Ausgleichsbank werden zu einem Förderinstitut zur Unterstützung der mittelständischen Wirtschaft mit dem Ziel kostengünstiger Förderinstrumente zusammengelegt. Die Umsetzung der Idee einer Mittelstandsinitiative ist eine der zentralen Punkte dieser Bundesregierung für die kommende Legislaturperiode. Das hat die volle Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion. ({24}) Ein Projekt heißt: Deutschland kinder- und familienfreundlicher machen. In den vergangenen vier Jahren haben wir in diesem Bereich viel aufgeholt. Es bleibt aber auch noch genug zu tun. Die Familien müssen selbst entscheiden, wie sie leben und wie sie ihr Leben organisieren wollen. Wir machen da niemandem Vorschriften. Die eine Lebensform ist genauso viel wert wie jede andere. Es ist aber offensichtlich, dass die unzureichenden Möglichkeiten für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ganz besonders junge Frauen und Mütter behindern. Das wollen wir ändern. Betreuungsangebote für die Kinder werden verbessert, bei den 0- bis 3-Jährigen im Krippenalter und bei den Grundschülern im Hortalter ist der Nachholbedarf besonders groß. Den Ausbau des Angebots an Ganztagsschulen und Krippenplätzen werden wir mit Bundesmitteln forcieren. Das ist gut für die Kinder, aber auch für die Eltern. Die in anderen Ländern gemachten Erfahrungen lehren: Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedeutet mehr Kinder, nicht weniger. Das bedeutet im Übrigen auch, das Können und die Kreativität der Frauen stärker als bisher in die Volkswirtschaft einzubeziehen. Eine Erwerbsquote von nur 60 Prozent bei den Frauen im Westen der Republik ist zu wenig. Es müssen noch mehr eine Chance bekommen. ({25}) Noch etwas zum Thema junge Frauen: Diese müssen mehr Chancen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien bekommen. Dass Studienplätze in diesem Bereich bisher überwiegend von jungen Männern besetzt werden, ist nicht gut. Frauen beherrschen das Thema und die Technik mindestens genauso gut wie die Männer. Wir wollen - das steht in unserer Koalitionsvereinbarung -, dass bis 2005 Frauen mindestens 40 Prozent der Studien- und Ausbildungsplätze in den IT-Berufen einnehmen. So konkret sieht bei uns die Schaffung von Chancengleichheit aus. Das werden wir auch durchsetzen. ({26}) Übrigens gibt es nicht nur bei Frauen auf dem Arbeitsmarkt Nachholbedarf, sondern generell auch bei älteren Menschen. Zu den Älteren zählen heute vielfach schon 50-Jährige und nicht selten noch Jüngere. Wir wollen mit entsprechenden Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt dafür sorgen, dass sich das ändert. 55-Jährige gehören nicht in den Vorruhestand. Sie gehören an die Arbeit und können das auch. ({27}) Dass in Deutschland das Arbeitsleben im Durchschnitt mit 21 Jahren beginnt und mit circa 59 Jahren endet, hat zu schlimmsten Verwerfungen in unserem Sozialstaat geführt. 38 Jahre Lebensarbeitszeit sind zu wenig. Wir werden daran arbeiten müssen, dass man ins Arbeitsleben früher hineinkommt und später aussteigt. Das offizielle Renteneintrittsalter von 65 Jahren muss nicht erhöht werden. Wer wie Herr Merz das fordert, redet Unsinn. Wer wirklich zu einem Invaliden wird, muss sozial abgesichert sein, egal wann er Invalide wird. Mit unseren Maßnahmen kommen wir aber auf ein faktisches Renteneintrittsalter von 62 oder 63 Jahren, nicht mehr wie bisher von 59 Jahren. In den sozialen Sicherungssystemen macht das einen riesigen Unterschied aus. Wir müssen die Trendwende in den kommenden Jahren schaffen. ({28}) Auch für die Betroffenen ist das übrigens wichtig. Die allermeisten wollen nicht mit 59 oder 55 oder 52 oder noch früher vom Arbeitsmarkt verdrängt werden; sie wollen arbeiten. Sie können das auch, sie haben Erfahrung, sie haben Wissen. Die Unternehmen in unserem Land müssten verrückt sein, wenn sie diese Altersklasse abschrieben. Diesen Menschen muss eine Chance im Leben und auf dem Arbeitsmarkt gegeben werden. ({29}) Damit hängt noch ein Weiteres zusammen: Ich höre von den Unternehmensverbänden, es fehlten Hunderttausende qualifizierterArbeitnehmer. Dazu sage ich: Erstens. Bilden Sie doch aus, Herr Rogowski und Herr Hundt. ({30}) Personalentwicklungspolitik ist doch auch Ihre Aufgabe. Zweitens. Vergessen Sie die Älteren nicht und versteigen Sie sich nicht auf Zuwanderung als einzige Möglichkeit. Gegen das, was die Kochs und Becksteins da erzählen, ist festzuhalten: Mit unserem Zuwanderungsgesetz wird Arbeitsmigration gelenkt und gesteuert und nicht ausgeweitet. Es wird kein Mandat für 100 000 Ingenieure in der Altersklasse zwischen 30 und 35 Jahren von irgendwo aus der Welt geben, während hier im Land Ingenieure und qualifizierte Facharbeiter, die älter als 45 Jahre sind, arbeitslos sind. Dafür werden wir sorgen. ({31}) Ein Projekt heißt: die Jungen an die Arbeit. Kluge Kommentatoren vermissen Visionen in unserer Koalitionsvereinbarung. Da steht aber: Kein junger Mensch darf nach der Schule in die Arbeitslosigkeit entlassen werden. Wenn das nicht ein Anspruch ist, vielleicht sogar eine Vision! Es ist nämlich das Schlimmste, was jungen Menschen passieren kann, dass sie in der Schule - erfolgreich oder weniger erfolgreich - pauken und nach der Schule die Perspektivlosigkeit folgt. Die jungen Menschen müssen die Chance haben, weiter zu lernen und zu studieren. Mehr von ihnen als bisher müssen studieren oder aber eine duale Ausbildung bekommen oder aber anderswie an Ausbildung oder Arbeitsfähigkeit herangeführt werden. Modulare Ausbildung wird dabei ein größeres Gewicht bekommen; denn eines ist klar: Wer 22 oder 25 Jahre alt ist und seinen Tag nie zu strukturieren brauchte, nie ordentlich zu lernen oder zu arbeiten brauchte, ist für den Arbeitsmarkt verloren. Politik und Wirtschaft, Städte und Arbeitsverwaltung sowie Schulen und Familien sind gefordert. Auch die 6 bis 8 Prozent der jungen Menschen, die die Schule ohne Abschluss verlassen, brauchen eine Chance, gerade sie. ({32}) Es wird auch deutlich, wie wichtig es ist, dass unsere Schulkinder die deutsche Sprache lernen, dass sie sie beherrschen. Diese Aufgabe beginnt im Vorschulalter und in der Integrationsförderung, aber auch in den Familien, gerade dort. ({33}) Ein Projekt heißt: ökologische Modernisierung. Die Naturkatastrophen rücken näher an die Zivilisation heran. Jahrhunderthochwasser sind wahrscheinlich gar keine Jahrhunderthochwasser mehr. Wir müssen noch massiver Klimaschutz betreiben und den Weg eines vernünftigen Energiemix gehen. ({34}) In der vergangenen Legislaturperiode haben wir im Deutschen Bundestag 17-mal über wichtige Umweltgesetze abgestimmt. Darunter waren die Gesetze zum Klimaschutz, zu erneuerbaren Energien, zur Nutzung von Sonne und Wind, zur Verstärkung der Kraft-Wärme-Kopplung. 15-mal haben CDU/CSU dagegen gestimmt. ({35}) Die Menschen in Deutschland waren gut beraten, dass sie auch an dieser Stelle uns und nicht dem selbst ernannten Umweltexperten Stoiber vertrauten. ({36}) Ein Projekt heißt: das Gesundheitswesen solidarisch organisieren und paritätisch finanzieren. Die gesetzliche Krankenversicherung ist das solidarischste System überhaupt. Sie kann nur funktionieren, wenn alle wissen: Viele müssen mehr einzahlen, als sie herausbekommen, damit einige, die darauf angewiesen sind, mehr an Sachleistung herausbekommen, als sie eingezahlt haben. So funktioniert das. Aber jeder kann betroffen sein, jeder kann hilfsbedürftig werden, kann auch schon in jungen Jahren auf qualifizierte medizinische Hilfe angewiesen sein. Das System kann gesichert werden, wenn alle Beteiligten mithelfen, seine Effizienz zu verbessern und da zu sparen, wo es ohne Einschränkung in der Qualität möglich ist. Darauf richten sich unsere Bemühungen um eine umfassende Gesundheitsreform. Im Vorgriff darauf wird es darum gehen, die Versicherungsbeiträge schnell zu stabilisieren. Ein Projekt heißt: lebendige Demokratie, offene Gesellschaft. Es gibt in unserer Gesellschaft Minderheiten unterschiedlichster Art. Sie alle können sich darauf verlassen: Solange Sozialdemokraten regieren, solange diese Koalition regiert, werden sie nicht ausgegrenzt, sondern akzeptiert. ({37}) Wir haben in den vergangenen Jahren in Deutschland viele böse Heimsuchungen durch Menschen erlebt, die Minderheiten beschimpft und drangsaliert haben, einige bis zum schlimmsten Exzess. Wir wollen in einem Land leben, in dem kein Mensch Angst haben muss, nur weil er anders ist als andere, und zwar unabhängig von seiner Hautfarbe, seiner Religion, seiner Herkunft, seiner Eigenart. Das wollen wir zusammen mit allen Gutwilligen erreichen: ein Land der guten Nachbarschaft sein nach innen und nach außen, ein Land ohne Bundesprüfstelle für Leitkultur. ({38}) Ein Projekt heißt: Deutschland, ein normales Land in Europa. Lange Zeit war Deutschland getrennt und wir Deutschen in West und in Ost lebten in einer besonderen Situation. Wir hatten einVaterland, aber wir lebten in zwei Welten. Unsere Situation war unnormal. Wie tief greifend die Entwicklung seit 1990 für unser Land und für uns als Deutsche in diesem Land sein würde, haben wir 1990 vielleicht noch nicht geahnt. Jetzt ist Deutschland ein normales Land in Europa mit Rechten und Pflichten und in der Verantwortung, seinen Beitrag für das Gelingen Europas zu leisten. Bundeskanzler Gerhard Schröder tut das, selbstbewusst die Interessen Deutschlands wahrend - das hat sich in den vergangenen Tagen nicht zum ersten Mal gezeigt -, aber auch darauf bedacht, dass Deutschland seinen Beitrag dazu leistet, dass dieses Europa weiter wachsen kann und eine Region des Friedens, der Demokratie und des Wohlstands bleibt. Die Bundesregierung hat dafür unsere Unterstützung. ({39}) Vor mehr als zehn Jahren meinten manche in Deutschland, die Zeit der Sozialdemokratie sei vorbei, sie habe nahezu alles erreicht. Diejenigen, die damals dieser Meinung waren, haben sich geirrt. Die Sozialdemokraten regieren heute. Wir werden dafür sorgen, dass sich dieses Land erneuert; denn die Erneuerung zu gestalten ist dringend notwendig in einer Zeit der Globalisierung, der Europäisierung, der tief greifenden demographischen Veränderung und der neuen Kulturtechniken. Wir sichern dabei soziale Gerechtigkeit. Denn das ist und bleibt der Kern sozialdemokratischer Politik: das Soziale und das Demokratische. Wir wissen, dass Politik heute nur gut sein kann, wenn sie auch morgen und übermorgen gut ist. Nachhaltigkeit ist für manche nur ein Modewort. Aber sie ist unverzichtbar. Deshalb gilt für unsere Politik in den kommenden vier Jahren und, wie wir hoffen, weit darüber hinaus, was über der Koalitionsvereinbarung steht, nämlich das Land zu erneuern, soziale Gerechtigkeit zu sichern und für Nachhaltigkeit zu sorgen. Wir wollen zusammen mit den Grünen Deutschland voranbringen. Wir nehmen uns viel vor. Wir werden es schaffen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({40})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Westerwelle, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Regierungserklärung in einer Geschäftsmäßigkeit abgegeben, die für die erste Regierungserklärung dieser Legislaturperiode wirklich bemerkenswert ist. ({0}) Sie haben den Text der Regierungserklärung, der Ihnen aufgeschrieben wurde und der selbst ohne Schwung ist, ohne Dynamik und ohne Temperament vorgetragen. ({1}) So kann man das Land nicht in Schwung bringen. ({2}) Diese Regierungserklärung war eine Regierungserklärung der babylonischen Sprachverwirrung. Als ich gestern Nacht diesen Text zum ersten Mal lesen konnte, den Sie heute im Stile eines Notars bis auf wenige Abweichungen eins zu eins verlesen haben, ist mir wie dem gesamten Bundestag heute ein Wort aufgefallen, das es verdient, noch einmal erwähnt zu werden: intelligentes Sparen. Herr Bundeskanzler, es ist zwar gut, dass Sie, wenn auch unbeabsichtigt, Ihren Wortwitz in Anbetracht der Erblast, die Schröder Schröder hinterlassen hat, nicht verloren haben. Aber man muss schon fragen: Was heißt eigentlich intelligentes Sparen? Intelligentes Sparen heißt für die Deutschen nichts anderes als höhere Steuern, höhere Abgaben, höhere Schulden und weicher Euro. Sie haben eine babylonische Sprachverwirrung vorgetragen, aber keine sachliche, vernünftige und konkrete Regierungserklärung. ({3}) Man muss im Detail nachlesen, was Sie im Koalitionsvertrag aufgeschrieben haben. Zunächst einmal haben Sie Ihren Koalitionsvertrag mit „Erneuerung - Gerechtigkeit - Nachhaltigkeit“ überschrieben. ({4}) Das sind ebenfalls drei Worte der babylonischen Sprachverwirrung. Denn nach rot-grüner Lesart heißen Erneuerung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit Folgendes: Erneuerung heißt bei Ihnen neue Steuern und neue Schulden. Gerechtigkeit heißt bei Ihnen: Alle haben die Chance, arbeitslos zu werden. Nachhaltigkeit heißt bei Ihnen: Solange Rot-Grün regiert, wird es auch so bleiben. ({5}) Deswegen ist es notwendig, dass wir auf das hinweisen, was Sie vor der Wahl gesagt haben und was Sie nach der Wahl sagen. Vor der Wahl haben Sie gesagt, die Steuern würden nicht erhöht. Nach der Wahl haben Sie allen mitteilen müssen, dass die Steuern natürlich erhöht werden. ({6}) Vor der Wahl haben Sie gesagt - auch das ist bemerkenswert -, die Abgaben würden nicht steigen. Mittlerweile wissen wir, dass alle Abgaben für die sozialen Sicherungssysteme steigen werden. Vor der Wahl haben Sie davon gesprochen, man dürfe keine Politik zulasten der Jungen machen und dementsprechend dürfe unser Land nicht mit neuen Schulden konfrontiert werden. Mittlerweile wissen wir, dass Sie die Schulden entgegen dem, was Sie sich für die nächsten Jahre vorgenommen hatten, deutlich erhöhen werden, und zwar schon nach jetzigem Stand vermutlich um weit mehr als 6 Milliarden Euro. Das ist ein falscher Weg der Regierung und das wird Ihnen zunehmend entgegengehalten. Wir haben in der letzten Woche bemerkenswerte Kronzeugen bekommen, die ich Ihrer Aufmerksamkeit empfehle. Nach Ihrer Lesart sind das ja die „Kettenhunde“ der Opposition. Die Repräsentanten großer Verbände, die am gesellschaftlichen Leben mitwirken, auf dem Bundesparteitag der SPD als Kettenhunde zu bezeichnen, allein das ist schon eine bemerkenswerte Wortwahl. ({7}) Es gibt übrigens einen weiteren Beitrag zur babylonischen Sprachverwirrung. Von Herrn Müntefering haben wir gerade Entsprechendes gehört. Er hat über Toleranz gegenüber Minderheiten gesprochen und festgestellt, dass sie notwendig ist. Aber als bei der Kanzlerwahl eine Stimme aus Ihren Reihen fehlte, haben Sie großspurig hinausposaunt: Wir werden den schuldigen Abweichler finden. ({8}) Das ist Ihr Parlamentsverständnis und Ihr Toleranzverständnis. Es ist ein politischer Treppenwitz, was Sie als politischer Wächter für Kultur hier einbringen. ({9}) Ich möchte für Sie aus dem Herbstgutachten der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, das letzte Woche veröffentlicht worden ist, zitieren. Dies muss aus unserer Sicht vorgetragen werden. Mögen Sie die führenden Wirtschaftsköpfe in unserem Lande auch Kettenhunde nennen; sie haben Ihnen die Wahrheit ins Stammbuch geschrieben. Wörtlich stand im Herbstgutachten der letzten Woche: Die Koalitionsvereinbarungen zur Anhebung von Steuern und Sozialabgaben sind das Gegenteil dessen, was wachstumspolitisch geboten ist. ... Auch hier hat sich die Politik in den vergangenen Jahren in die falsche Richtung bewegt. Aus meiner Sicht füge ich hinzu: All das, was Sie hier zur Wirtschafts-, Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik vorgetragen haben, ist exakt das Gegenteil von dem, was Deutschland braucht, damit es einen besseren Weg einschlagen kann. ({10}) Sie haben ja die Hartz-Kommission als Generallösungsmittel eingeführt, so als ob das der entscheidende Beitrag sei. In Wahrheit haben Sie dabei vergessen, dass Sie damit nur an den Symptomen kurieren werden. Als Herr Hartz im Sommer dieses Jahres das erste Mal mit seinem Konzept an die Öffentlichkeit gegangen ist, ({11}) da konnte man noch hoffen, dass aus „Hartz“ irgendwann einmal ein Bernstein wird. Mittlerweile haben wir feststellen können, dass durch die Intervention Ihrer Gewerkschaftsfunktionäre und Ihrer Regierungsmitglieder die notwendigen Strukturmaßnahmen, die seinerzeit von Hartz vorgeschlagen worden sind, weich gespült und ausgeblendet wurden. Der eigentliche Problempunkt ist: Sie drücken sich vor dem, was Deutschland wirklich braucht. Die Regierung geht den Weg der ungeplanten Planwirtschaft, anstatt den Weg der Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft zu gehen. Das wird Ihnen auf die Füße fallen. ({12}) Genauso wie Sie vor der Bundestagswahl zu all unseren Vorhaltungen gesagt haben, das sei Propaganda der Opposition, ({13}) sagen Sie jetzt vor der Hessenwahl und der Niedersachsenwahl wieder nicht die Wahrheit. Sie werden die Steuern nach der Hessen- und der Niedersachsenwahl weiter erhöhen. ({14}) Sie werden an die Mehrwertsteuer herangehen und den Bürgern noch kräftiger in die Tasche greifen. Deswegen werden wir in diesen beiden Landtagswahlkämpfen auf Folgendes aufmerksam machen: Wer sich diesem Abkassieren entgegenstellen will, wer eine Politik der wirtschaftlichen Vernunft will, der hat bei den beiden Landtagswahlen die Möglichkeit zu einer schnellen Revanche gegen Rot-Grün. ({15}) In der Wirtschafts-, in der Steuer- und in der Finanzpolitik gibt es keine Perspektive. ({16}) Man sollte sich einmal ansehen, mit welcher Flickschusterei Sie an die Steuersystematik herangegangen sind. Es macht schon fast Freude, sich die Details einmal anzuschauen. Wir erleben beispielsweise, dass die Umsatzbesteuerung der landwirtschaftlichen Vorprodukte erhöht wird. Bei der Landwirtschaft findet die Mehrwertsteuererhöhung jetzt schon statt, das haben Sie beschlossen. Davon ausgenommen sind die Futterzubereitung für Hunde und Katzen sowie Kuchen und Kauspielzeuge für Hunde und andere Tiere. Ich kann Ihnen sagen, wie so etwas zustande kommt. Ich habe da so eine Ahnung: Als Rote und Grüne am Koalitionstisch zusammengesessen sind, haben sie sich gesagt, die Bauern können wir strafen, sie haben uns nicht gewählt, aber unter den Katzenliebhabern könnte es noch ein paar Anhänger geben, deshalb können wir die Steuer nicht erhöhen. Das ist Ihre Steuer- und Abgabenpolitik ohne Sinn und Verstand, Herr Bundeskanzler. ({17}) Dann gibt es die Kettenhunde. Ich möchte Ihnen einen Kettenhund der Opposition vorstellen. ({18}) - Frau Kollegin, da Sie von den Grünen mit Ihrem Zwischenruf auf unser Spendenkonto in Nordrhein-Westfalen anspielen, möchte ich Ihnen Folgendes dazu sagen: Wissen Sie, was der Unterschied ist? Bei uns gibt es einen Vorgang, den wir aufklären, bei Ihnen kann man eine private Urlaubsreise auf Staatskosten nach Bangkok antreten und wird danach in die Regierung befördert. Das ist der Unterschied in unserem Moralverständnis. Wo ist denn Herr Schlauch? ({19}) Grüne als moralische Instanz? Das ist doch wohl ein Witz. Ich möchte jetzt auf die Kettenhunde der Opposition eingehen, denn das ist ein bemerkenswerter Punkt. ({20}) Ein Kettenhund der Opposition, der IG-BAU-Chef und SPD-Politiker Wiesehügel - er ist ein echter Kettenhund, er saß bisher für die Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag -, sagt zu dem, was Sie bei der Eigenheimzulage vorhaben, wörtlich: Finger weg von der Eigenheimzulage! Rot-Grün riskiert, zehntausende Jobs in der Baubranche wegzusparen. Normalverdiener verlieren die Möglichkeit, der Mietspirale zu entkommen und privates Wohneigentum zu bilden. So schnell fällt Ihr Lügengebäude zusammen, denn in Wahrheit machen Sie keine Politik für Familien. Was ist das für eine Familienpolitik, wenn man künftig ein Eigenheim nur noch mit Zulage bauen kann, wenn man sechs Kinder hat und in einen Neubau einziehen will? Das ist doch keine Familienpolitik. Wir müssen allen Familien mit Kindern helfen, wir müssen alle, die mit Kindern zusammenleben, finanziell entlasten. ({21}) Sie gehen den Weg der Bestrafung von Familien und Beziehern kleiner Einkommen. Entscheidend ist auch, dass Sie sich vor notwendigen Strukturreformen drücken. ({22}) Ich nenne in diesem Zusammenhang das Stichwort Hartz: Hartz immer wieder und überall, ({23}) als ob damit irgendjemandem geholfen wäre. Ich trage Ihnen das Zitat eines weiteren Kettenhundes der Opposition, des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt - der ist ein echter Kettenhund der Opposition -, vor. Er sagt in der „Zeit“: Die hartzschen Vorschläge vom Sommer dieses Jahres gehen in die richtige Richtung, aber sie betreffen höchstens ein Drittel der gebotenen Deregulierung des deutschen Arbeitsmarktes. ({24}) Im Bereich der Lohnfindung muss der flächendeckende Tarifvertrag verschwinden, dazu muss im Tarifvertragsgesetz die Verordnung der Allgemeinverbindlichkeit gestrichen ({25}) und im Betriebsverfassungsgesetz müssen jene Paragraphen abgeschafft werden, die es den Geschäftsleitungen und den Betriebsräten verbieten, Betriebsvereinbarungen über Löhne, Arbeitszeiten und Bedingungen abzuschließen. Herrgott, dieser Kettenhund der Opposition, Helmut Schmidt, hat so Recht, dass Sie endlich einmal auf ihn hören sollten. Sie werden mit Hartz ein bisschen an den Symptomen herumdoktern, wie Sie es bis jetzt auch gemacht haben, die Ursachen der Arbeitslosigkeit werden Sie jedoch nicht bekämpfen; denn die Ursache heißt: Arbeit in Deutschland wird durch zu hohe Steuern und Abgaben und zu viel Bürokratie zu teuer. ({26}) Sie stehen für mehr Steuern, für mehr Abgaben und für mehr Bürokratie. Das ist genau der Weg, der in Deutschland gestoppt werden muss. ({27}) Sie haben mittlerweile einige Beschlüsse gefasst. Ich habe sie gelesen und gebe zu, dass mir eine Passage auch deshalb besonders aufgefallen ist, weil sie ausgerechnet in der zweiten oder dritten Zeile auf der Seite 18 Ihres Koalitionsvertrags stand. Da ist Bemerkenswertes enthalten. ({28}) Dort schreiben Sie allen Ernstes nicht nur, dass Sie die Abgaben erhöhen wollen - vor der Wahl war dies alles nicht wahr -, sondern Sie schreiben auch hinein, dass Sie noch weiter an die Schwankungsreserve der Renten gehen wollen. Die Bürgerinnen und Bürger, die uns jetzt zuschauen, wissen vielleicht nicht, was sich dahinter versteckt. Ich möchte es ihnen sagen: Die Schwankungsreserve ist nichts anderes als der Notgroschen, den man für die Rente braucht. Mit Ihrer Politik gehen Sie an diesen Notgroschen der Rente. Sie verschulden die Rente. Dies ist eine Katastrophe für Deutschland und für die Rentnerinnen und Rentner. ({29}) Nun zu Bundesfinanzminister Hans Pinocchio Eichel, der vor der Wahl erzählt hat: Die 3 Prozent werden wir nicht reißen. - Ich saß gemeinsam mit Herrn Kollegen Merz und Ihnen wenige Wochen vor der Wahl in einer Fernsehsendung. Dort haben wir Ihnen gesagt: Sie werden natürlich die 3 Prozent reißen. ({30}) - Sie haben es gewusst und gesagt, dies sei alles Propaganda der Kettenhunde der Opposition. Mittlerweile kann man erkennen, dass Sie in der Tat den Wählern vorher die Unwahrheit gesagt haben. Deswegen sagen wir Ihnen, Herr Bundeskanzler: Bei einer flexiblen Auslegung der Stabilitätskriterien, von der Sie jetzt sprechen, bekommen Sie den Widerstand der Opposition zu spüren. Wir wollen einen Euro, der so stabil ist und bleibt, wie es die D-Mark war. Wir wollen keinen Euro nach dem Vorbild der italienischen Lira. Genau dahin geht aber Ihre Politik mittel- und langfristig, weil die anderen Länder nachmachen werden, was Deutschland und Frankreich an Verletzung der Kriterien vormachen. ({31}) Frau Kollegin Merkel hat in ihrer bemerkenswerten Rede zur Außenpolitik ({32}) - in ihrer außergewöhnlich bemerkenswerten Rede; dies hat Ihnen nicht gepasst, aber es muss einmal gesagt werden ({33}) schon vieles gesagt und ich will dazu nur zwei Sachen nachtragen: Ich glaube, es ist schon ein bemerkenswerter Vorgang, dass Sie vor einer Wahl mit der Angst vor einem Krieg, mit Antiamerikanismus Wahlkampf gemacht haben. Mit Antiamerikanismus und dem Schüren der Angst vor einem Krieg sind Sie an die Macht gekommen. Sie haben andere in der Öffentlichkeit mehr oder weniger als Kriegstreiber dargestellt. ({34}) Dies war schäbig. Mittlerweile sieht man auch, welchen Schaden Sie damit angerichtet haben. Sie haben jetzt den außenpolitischen Schaden wieder gutzumachen, den Sie angerichtet haben. Hierzu nenne ich das Beispiel Türkei. ({35}) Es ist doch schlechterdings unvorstellbar, dass man der Türkei jetzt mit konkreten Daten sagt: Ihr werdet demnächst Mitglied der Europäischen Union. Solange in türkischen Gefängnissen gefoltert wird, kann der Türkei doch nicht allen Ernstes durch solche unbedachten Äußerungen von Ihnen eine konkrete Beitrittsperspektive gegeben werden. ({36}) Wo ist denn Ihr Eintreten für Menschenrechte geblieben? Nun ein letzter und entscheidender Punkt: Zur Bundeswehr haben Sie gesagt, was alles getan werden muss, und Sie haben der Bundeswehr für ihre Aufgabenerfüllung gedankt. Dies ist wohl wahr. Aber über das rhetorische Bekenntnis zur Bundeswehr sind Sie nie hinausgekommen. Vor der Wahl hieß es - von Herrn Struck initiiert -: Soldaten für Schröder. Nach der Wahl heißt es: Schröder gegen Soldaten. Sie kürzen weiter und weiten gleichzeitig die Aufgaben der Bundeswehr aus. Dies ist nicht in Ordnung. ({37}) Herr Bundeskanzler, Sie haben in Richtung der Opposition gesagt: Sie saßen da, Sie sitzen da und Sie werden da sitzen bleiben. Ich sage Ihnen: Sie saßen da, Sie sitzen da, aber Sie werden da so gemütlich nicht sitzen bleiben. Dies werden Ihnen die nächsten beiden Landtagswahlen und einige danach noch zeigen. Die Leute haben gemerkt, dass Sie mit Lug und Trug, mit der Vorspiegelung falscher Tatsachen zu Ihrer knappen Mehrheit gelangt sind, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({38})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat der Kollege Fischer, Bundesminister des Auswärtigen, Bündnis 90/Die Grünen.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Westerwelle, von Sprachverwirrung konnte ich bei Ihnen nichts feststellen; Sie sprachen deutsch. Aber ich frage mich: In welcher Realität sind Sie eigentlich zu Hause, wenn Sie hier der Bundesregierung und der Koalition Lug und Trug vorwerfen? Das sagt einer der Hauptprotagonisten des Projekts 18, ({0}) das sagt ausgerechnet derjenige, der hier meinte, mit einer Politik vorankommen zu können, die sich nicht zu schade war, Antisemitismus und antisemitische Stimmungen zu mobilisieren. ({1}) Von so jemandem wird Wahrheit und Klarheit eingefordert. Es rentiert sich eigentlich nicht, auf diese Rede weiter einzugehen. Allerdings lohnt es sich, etwas zu der Frage der politischen Kultur in diesem Lande zu sagen. Das werden Sie nicht hinbekommen, Herr Westerwelle, indem Sie sagen, Möllemann sei der allein Verantwortliche; die FDP und der Vorsitzende der FDP hätten mit der Strategie des kalkulierten Wahnsinns, wie die „FAZ“ es genannt hat, nichts zu tun. Ich werde nie das nette und kesse Sprüchlein - dafür sind Sie ja immer gut - vergessen, das Sie damals auf dem FDP-Parteitag in der Auseinandersetzung mit Herrn Möllemann formuliert haben: Auf allem, was da dampft und segelt, gibt’s einen, der die Sache regelt, und das bin ich, Guido Westerwelle. ({2}) Aber es rentiert sich nicht, weiter darauf einzugehen. Die entscheidende Frage ist die Herausforderung, vor der unser Land, vor der wir tatsächlich stehen. Frau Merkel, Sie sind vorhin noch einmal auf die Bundestagswahlen zu sprechen gekommen. Mir wird, nachdem ich Ihrer Rede zugehört habe, sehr klar, warum Sie diese Wahlen verloren haben. ({3}) Die Opposition kann die Regierung in der jetzigen Situation kritisieren; das verstehe ich wohl. Das ist Ihre Pflicht, die Sie freudig erfüllen. - Das „freudig“ streichen wir, das ist natürlich nicht wahr, das wissen Sie so gut wie ich; Sie würden lieber auf der Regierungsbank sitzen. Aber Sie haben die Wahlen verloren, weil Sie in Ihrer Rede wie im Wahlkampf nicht die alternativen Vorstellungen der Union, was in diesem Land konkret anders gemacht werden soll, dargestellt haben. ({4}) Sie haben keine eigene Antwort gebracht - von Herrn Westerwelle rede ich da gar nicht -, weder auf die Frage der gerechten Gestaltung der Globalisierung und Deutschlands Rolle in diesem Zusammenhang noch auf die Krise der Weltwirtschaft. Sie können die Regierung trefflich kritisieren; aber Sie können nicht ignorieren, dass es kein Spezifikum der bundesrepublikanischen Wirtschaft ist, sondern im gesamten EU-Raum, in den Vereinigten Staaten und in Japan so ist, dass wir mit einer krisenhaften Entwicklung der Weltwirtschaft rechnen müssen. Sie haben dazu nichts gesagt. Mich würde einmal interessieren, wie die Antwort der Union darauf ist. Wenn wir Wachstumszahlen zwischen 0,2 und 0,6 Prozent schreiben, können wir dann noch dieselben Antworten geben wie bei Wachstumszahlen über 1 Prozent, 2 Prozent oder gar 3 Prozent? Ich behaupte, seriöse Politik kann das nicht. Von der Opposition muss man verlangen können, dass sie sich hierzu äußert. ({5}) Schließlich zu der Frage - das werden wir im außenpolitischen Teil noch etwas ausführlicher zu debattieren haben - der terroristischen Bedrohung. In diesem Zusammenhang wünsche ich mir eine Aussprache darüber, ob der Irak in der Tat das zentrale Problem ist, ob wir angesichts des 11. September letzten Jahres, angesichts von Djerba, angesichts von Bali oder auch angesichts des jüngsten tschetschenischen Terrors wirklich gut beraten sind, hier eine Prioritätenveränderung vorzunehmen. Ich meine, nein. Der Terrorismus ist die große strategische Bedrohung für uns. Aber den Antworten darauf muss im Sinne des Bundeskanzlers ein umfassender Sicherheitsbegriff zugrunde liegen; man darf hier nicht versuchen, durch Lippenbekenntnisse einen innenpolitischen Vorteil zu erlangen. Auch dazu haben Sie bis zur Stunde keine Antwort gegeben. ({6}) Stattdessen haben Sie, Frau Merkel - das sollten Sie ruhig weiterhin machen -, aus Ihrer Rede eine Fragestunde gemacht, in der Sie Fragen an die Bundesregierung gestellt haben. Das fand ich sehr bemerkenswert. Das heißt, Sie nehmen die Oppositionsrolle an; die Opposition fragt und die Regierung muss darauf antworten. Aber das wird zur Gestaltung der Zukunft unseres Landes nicht reichen. Die Koalition hat hier eine klare Position. Wir müssen Erneuerung, Wachstum, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit für unser Land erreichen. In der gegenwärtigen negativen wirtschaftlichen Entwicklung werden die Probleme und Schwachstellen in unserem Wirtschaftssystem und unserem Sozialsystem, die wir seit langem mit uns herumschleppen, offen gelegt. Deswegen müssen wir sie anpacken. Es hätte mich gefreut, wenn Sie mit Blick auf die Wirtschaftskrise etwas zu Ihren alternativen Konzepten gesagt hätten. Was sind denn die konkreten Antworten in dieser Situation? Wie geht die Union denn mit der Tatsache um, dass es allein im Bundeshaushalt - von den anderen staatlichen Ebenen rede ich erst gar nicht - ein Defizit von annähernd 14 Milliarden Euro gibt? Wie soll dieses Loch denn geschlossen werden? Denkt die Union an Steuererhöhungen? Ist das ihr Konzept? Oder spricht sie von Einsparungen? In diesem Fall würde es uns interessieren, wo sie Einsparungsalternativen sieht. Die Koalition hat hierzu ihre Vorstellungen klar auf den Tisch gelegt. Oder ist die Union vielleicht für Leistungskürzungen? Dann sollten Sie, Frau Merkel, hier im Deutschen Bundestag sagen, dass Sie zum Beispiel die Renten kürzen wollen und wenn, in welcher Größenordnung. ({7}) Eine solche Diskussion macht nur dann Sinn, wenn wir konkret werden. Die Koalition ist konkret geworden. Als erste unmittelbare Reaktion auf den Koalitionsvertrag erleben wir jetzt, dass alle Interessengruppen aufschreien. Das ist in einer Demokratie aber auch völlig legitim. Als ich von den Koalitionsverhandlungen nach Hause ging, begegnete ich einem Apotheker. Er hielt mich an und sagte mir: Das könnt ihr doch nicht allen Ernstes beschließen. Ich fragte ihn: Was? Er antwortete nur: Das, was ihr in eurem Vorschaltgesetz vorhabt. Ich habe ihn gefragt, was wir denn genau vorhätten. Es stellte sich heraus: Er hat jahrelang die Legende geglaubt, dass es Windfall-Profite für die deutsche Pharmaindustrie geben soll. Deswegen dürften wir nicht den Handel über Internet einführen und hätten am Forschungsstandort Deutschland höhere Preise. Sieht man sich die Situation in anderen Ländern an, so stellt man aber fest, dass an den Forschungsstandorten Großbritannien, Japan und USA kräftig geforscht wird, teilweise auch von deutschen Unternehmen in Größenordnungen, die beachtlich sind. Ich höre aber nicht, dass dort die Preise höher sind. Deswegen frage ich Sie ganz konkret: Wird die Union etwas gegen die Freigabe des Internethandels einwenden? Haben Sie etwas dagegen, dass zum Beispiel das Verbot des Mehrfacheigentums an Apotheken angegangen wird? Oder ich frage Sie nach dem Monopol der Kassenärztlichen Vereinigungen. Man lernt hier ja einiges. Wollen wir dieses Monopol tatsächlich infrage stellen? Soll die Wahlfreiheit von Kassenpatienten - hier spricht ein Kassenpatient - auch in Zukunft in den Händen der Kassenärztlichen Vereinigungen bleiben oder wollen wir darüber hinausgehen und direkte Beziehungen zwischen Ärzten und den Kassen ermöglichen, um somit kostengünstigere Strukturen zu schaffen? Das sind Fragen, auf die wir uns auch von Ihnen Antworten wünschen würden. Wir hätten heute gerne die Position der Opposition gehört. ({8}) Ich komme nun zu der entscheidenden Problematik, mit der wir es zu tun haben. Reden wir also nicht darum herum. Der Bundeskanzler hat zu Recht auf den 9. November 1989 hingewiesen. Die deutsche Einheit ist ein großes Glück für unser Land. Aber es ist zugleich eine langfristige Herausforderung, die Folgen von Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und vier Jahrzehnten deutscher Teilung zu überwinden. Dass die bundesrepublikanische Volkswirtschaft diese großen Herausforderungen stemmen kann, zeigt, wie stark sie tatsächlich ist. Doch es führt umgekehrt kein Weg daran vorbei, zu begreifen, was der Aufbau Ost, der eine langfristige Herausforderung darstellt, die nur die Bundesrepublik Deutschland im EU-Wirtschaftsraum hat, tatsächlich bedeutet. Für diese Herausforderung sind wir dankbar. Aber wir müssen doch auch begreifen, dass deswegen diese ganzen Schlusslicht-Debatten hinken. Bedeutende Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die 1 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts durch Transfers von Brüssel bekommen und gleichzeitig meinen, uns Ratschläge geben zu können, sollten das angesichts dieser Sondersituation, in der wir uns befinden, besser sein lassen. Wir werden die Erneuerung anpacken, wissend, dass wir mit dem Zusammenwachsen unseres Landes eine Sonderherausforderung langfristiger Natur zu stemmen haben. Das werden wir schaffen. Das versprechen wir den Menschen in den neuen Bundesländern. ({9}) Ich komme auf Hartz zu sprechen. Was ist das Problem des deutschen Arbeitsmarktes? Es wird immer so schön darüber geredet und gesagt, der Arbeitsmarkt sei zu stark reguliert. Wir haben nicht nur hinsichtlich der Debatte über den Arbeitsmarkt, sondern auch im Zusammenhang mit unserem Steuersystem die Erfahrung gemacht, dass alle sagen, wir brauchten den Abbau von Subventionen im Steuersystem. Aber wehe, man geht einen konkreten Punkt an: Dann kommt eine Interessengruppe und sagt, das sei eine Steuererhöhung. Natürlich ist der Abbau von Subventionen keine Steuersenkung. Für denjenigen, der die Subvention bekommt, ob es nun ein halber Mehrwertsteuersatz ist oder ein Fördersteuersatz, wirkt der Abbau natürlich belastend. Aber das ist mehr oder weniger die Konsequenz eines solchen Abbaus staatlicher Leistungen. Wir haben die Erfahrung gemacht - das galt heute auch für Frau Merkel -, dass Sie sich hinstellen und sagen, einerseits würden wir zu wenig an Subventionen abbauen, andererseits würden unsere Maßnahmen aber höhere Belastungen für die Menschen bedeuten. Sie müssen schon sagen, wie Sie es gerne hätten, gnädige Frau. ({10}) Ich komme zurück zu Hartz. Der entscheidende Punkt ist: Der Arbeitsmarkt ist bei uns in der Bundesrepublik Deutschland so gestaltet, dass bei einem Wachstum von etwa 2 Prozent und mehr eingestellt wird. Bei unseren Nachbarländern, die früher notwendige Reformen angepackt haben, wurde diese Eintrittsschwelle des Wiedereinstellens gesenkt. Genau um diese Aufgabe wird es in Zukunft gehen. Ich sage Ihnen: Die Reform des Arbeitsmarktes ist für die Koalition der strategische Ansatzpunkt, um die Systeme der sozialen Sicherung zu erneuern und zu entlasten, um unseren Sozialstaat neu zu gestalten und um die Wettbewerbsfähigkeit wiederzugewinnen. Ich möchte Ihnen jetzt kurz erläutern, worin der strategische Ansatz liegt: Gegenwärtig ist die Situation so, dass es aufgrund des konjunkturellen Wegbrechens der Weltwirtschaft ab dem Frühsommer des letzten Jahres trotz der Zuzahlung über die Ökosteuer - etwa bei den Rentenversicherungen und dem Staatsanteil - zu einer Überwölbung gekommen ist, sodass die Arbeitslosigkeit die Reformen, die wir angepackt haben, aufzufressen droht oder bereits aufgefressen hat. ({11}) - Herr Merz, es ist überhaupt kein Unfug, dass es aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit zu höheren Belastungen kommt - Sie können das pro Hunderttausend sogar quantifizieren - und dass diese Belastungen entsprechend negativ wirken. ({12}) - Entschuldigung, das Wegbrechen der Konjunktur im Frühjahr letzten Jahres - - Die Bundestagswahlen sind jetzt doch vorbei. ({13}) Selbst von einem Weltökonomen wie Ihnen kann jetzt, nach den Bundestagswahlen, doch anerkannt werden, dass die Bundesrepublik Deutschland bezogen auf die Wachstumszahlen in der EU nicht mehr Schlusslicht ist, sondern dass wir uns mit unseren niedrigen Wachstumszahlen im unteren Mittelfeld bewegen. Das kann doch auch der Weltökonom Merz nicht abstreiten. ({14}) - Ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie sich so aufregen. ({15}) - Ich verstehe es wirklich nicht. ({16}) Insofern kann ich an diesem Punkt nur sagen: Der entscheidende strategische Ansatz ist, dass wir die Einstellungsschwelle durch diese Reformen am Arbeitsmarkt nach unten senken. ({17}) Meines Erachtens hat das Hartz-Konzept hierzu drei wesentliche Elemente. Uns würden die Argumente interessieren, die Sie diesen entgegenzusetzen haben. Als Erstes schaffen wir mit der Umsetzung des HartzKonzeptes sozusagen ein Arbeitslosengeld Teil 2. Damit werden wir eine Entlastung des kommunalen Bereichs ermöglichen und somit die Investitionsmöglichkeiten gerade auf der kommunalen Ebene erhöhen. Mit der Möglichkeit, von der Arbeitslosigkeit leichter in die Selbstständigkeit zu kommen, bieten wir - zweitens - gleichzeitig nicht nur Anreize zur Aufnahme von Arbeit, sondern wir schaffen vor allen Dingen ein Stück weit auch die Möglichkeit, legale Arbeit wieder aufzunehmen. Das ist in vielen Bereichen von entscheidender Bedeutung. Der dritte und wichtigste Punkt in diesem Zusammenhang wird das Förderprogramm in Verbindung mit der Reform der Bundesanstalt für Arbeit sein. Wir müssen die Leiharbeit ausweiten. Damit schaffen wir die Möglichkeit eines flexibleren Arbeitsmarktes, wodurch die Einstellungsschwelle insgesamt nach unten gebracht werden kann. Für uns ist das der erste und zentrale Schritt. Ich denke, das ist ein wichtiger Schritt, den Sie nicht kleinreden können, und ein wichtiger und entscheidender Ansatz. ({18}) Ich habe es vorhin, bezogen auf die Gesundheitsreform, schon gesagt: Ich bin wirklich gespannt, wie Ihre Interessenvertretung im Parlament - wenn die Vorschläge im Zusammenhang mit dem Vorschaltgesetz auf dem Tisch liegen - zum Tragen kommt. ({19}) Ich bin gespannt, ob Sie im Interesse des Allgemeinwohls handeln oder ob Sie gruppenspezifische Interessen vertreten werden. ({20}) Dasselbe gilt für den Bürokratieabbau. Ich würde gerne noch den Punkt Zuwanderung ansprechen. Amerika wird, bezogen auf die wirtschaftliche Entwicklung, unter vielen Gesichtspunkten immer als großes Vorbild hingestellt. Damit ich nicht missverstanden werde: Ich behaupte gar nicht, dass wir Amerika kopieren können. Der kulturelle und der historische Hintergrund im Europa der Nationalstaaten ist nämlich anders. Die Zuwanderung ist aber einer der wesentlichen dynamischen Wachstumsfaktoren der amerikanischen Volkswirtschaft. Das wollen wir nicht vergessen. Mit Ihrer im Grunde genommen reaktionären Position meinen Sie gegenwärtig bei den Menschen in diesem Land Stimmungen und Ängste mobilisieren und gegen das Zuwanderungsgesetz polemisieren zu können. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wenn das Ihre Position ist, dann haben Sie mit Wachstum und Zukunftsfähigkeit in unserem Land wirklich nicht viel zu tun; genau damit sind Sie gescheitert. ({21}) Ein weiterer Punkt. Neben der strukturellen Erneuerung, neben der Konsolidierung, neben dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ist die Frage der strategischen Zukunftsinvestitionen von entscheidender Bedeutung. Diese strategischen Zukunftsinvestitionen betreffen vor allen Dingen den ökologischen Bereich. Damit führen wir fort, was wir in den ersten vier Jahren angepackt haben. Die ökologische Erneuerung ist wichtig, weil jetzt klar wird, dass wir es beim Klimaschutz nicht mit einem theoretischen Problem zu tun haben. Gleichzeitig müssen wir neue Beschäftigungsfelder erschließen. Das heißt, wir müssen Klimaschutz auch unter beschäftigungspolitischen und wettbewerblichen Gesichtspunkten für den Standort Deutschland als unternehmerisches Problem anpacken. Genau das tun wir mit der Umsetzung der Koalitionsvereinbarung. ({22}) Die ökologische Erneuerung ist für uns im Verkehrsbereich und im Energiebereich von zentraler Bedeutung. Genau damit werden wir auch fortfahren. Noch wichtiger ist angesichts der demographischen Entwicklung, aber auch eines veränderten Rollenverständnisses gerade junger Frauen - dieses Thema ist Ihnen im Wahlkampf um die Ohren geflogen, deswegen führen Sie die Strategiedebatte vor allen Dingen an diesem Punkt -, dass die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf in Deutschland nicht mehr allein bei den jungen Frauen abgeladen wird, wie es bis heute die Realität ist. Das haben wir klipp und klar gesagt. ({23}) Deswegen werden wir für Kinder von null bis drei Jahren einen flächendeckenden Versorgungsgrad von 20 Prozent in der Bundesrepublik Deutschland durchsetzen. Der Bund lässt sich hier in die Pflicht nehmen. Wir werden einen solchen Versorgungsgrad gesetzlich festschreiben. Dieses Gesetz wird hier im Bundestag beschlossen werden. Das ist der Einstieg in ein kinderfreundliches Deutschland, in dem es nicht mehr darum geht, diesen Bereich zu privatisieren und an einem antiquierten Rollen80 verständnis von Frauen festzuhalten. Wir wollen vielmehr Ja zu Kindern und gleichzeitig Ja zu Beruf und Karriere vor allen Dingen für junge Frauen sagen, damit es für diese in Zukunft einfacher wird. ({24}) Das ist nur einer der Punkte; denn es soll weitergehen. Das Gesetz betreffend die Betreuung von Kindern zwischen drei und sechs Jahren existiert bereits. Wir wollen aber auch den Bereich der Vorschule, das Heranführen an die Schule angehen. Dabei ist die Frage, ob die notwendigen Deutschkenntnisse vorhanden sind, für die volle Partizipation von entscheidender Bedeutung. Anschließend wollen wir das Thema Ganztagsschule anpacken. All das halte ich für die entscheidende gesellschaftliche Reform. Zukunftsfähigkeit macht sich an der Frage eines kinderfreundlichen Deutschlands fest. Zusammen mit der strategischen Zukunftsinvestition, der ökologischen Erneuerung, den Strukturerneuerungen, die wir angegangen sind und noch angehen werden, der Reform im Bereich des Arbeitsmarktes, der Rente und der Gesundheit sowie einer weiteren Konsolidierung ist dies das Programm, für das die Koalition konkret steht. Das meinen wir mit Erneuerung, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Das ist die Politik, die wir für unser Land in den kommenden vier Jahren umsetzen wollen. ({25}) Frau Merkel, Sie haben es uns heute - jenseits Ihrer Angriffe - bei den Alternativen einfach gemacht. ({26}) In dem Streit zwischen Regierung und Opposition, sosehr ich ihn auch liebe und sosehr ich es auch liebe, zuzuspitzen - das gehört dazu -, muss eine Alternative aufgezeigt werden. Wenn die Grundanalyse richtig ist - von dem Befund gehen auch Sie aus, Frau Merkel -, ({27}) dass wir es in der Tat national wie international mit einer sehr fordernden Situation zu tun haben, dann wird die demokratische Auseinandersetzung vor allen Dingen um die Alternativen stattfinden müssen. ({28}) - Herr Glos, dazu kann ich Ihnen nur sagen: An Alternativen - insofern sind Sie über die Wahlnacht noch nicht hinausgekommen - haben Sie zum Programm der Koalition bis heute nichts geboten. ({29}) Ich sage: Unser Land ist dringend erneuerungsbedürftig. Dafür haben wir den Auftrag. Sie haben den Auftrag, sich in der Opposition zu erneuern. Dafür müssen Sie aber noch kräftig zulegen, Frau Merkel. ({30})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesaußenminister, ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum eigentlich Sie in dieser Debatte zur Wirtschaftspolitik sprechen und kein einziger Vertreter Ihrer Fraktion, der doppelten Doppelspitze der Grünen, hier sprechen darf. ({0}) Aber das ist ein anderes Thema. Ich möchte Ihnen, weil Sie morgen auf einer Auslandsreise sein werden und weil ich dazu auch mehrere Zwischenrufe gemacht habe, auf einen Ihrer Punkte kurz erwidern und Ihnen zu dem, was Sie zum Thema Weltwirtschaft behauptet haben, etwas sagen. Herr Fischer, Sie und die Regierung werden in diesen Wochen nicht mit den Problemen der Weltwirtschaft konfrontiert, sondern Sie sind mit den Versäumnissen der rot-grünen Wirtschafts- und Finanzpolitik der letzten vier Jahre konfrontiert. Das ist die Wahrheit. ({1}) Sie können sich nicht mehr mit allen möglichen Entwicklungen herausreden. Wir haben Ihnen vier Jahre lang in diesem Parlament vorausgesagt, dass Sie mit der Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung das Schlusslicht in der Europäischen Union werden und dass Sie das Wachstum in diesem Lande zerstören. Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass das, was wir gesagt haben, richtig ist, dann ist es das Gutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute in der letzten Woche gewesen. Diese haben Ihnen gesagt, dass allein die Politik der rot-grünen Bundesregierung uns im nächsten Jahr 0,5 Prozent Wachstum kosten wird. Das Problem - ich wiederhole es - hat einen Namen. Das Problem ist nicht die Weltwirtschaft, der Name des Problems ist Rot-Grün. Herr Fischer, dazu hätten Sie heute etwas sagen müssen, statt die Opposition und unsere Fraktionsvorsitzende in einer geradezu unflätigen Art und Weise zu beschimpfen, wie Sie es getan haben. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zur Erwiderung erhält der Kollege Fischer das Wort. ({0})

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Merz, ich enthalte mich jetzt jeder Polemik, ({0}) warum Sie meinen, ich hätte die Opposition unflätig beschimpft. Lassen wir das! Für mich geht es um etwas anderes. Sie können doch nicht alle strukturellen Verwerfungen in der Versicherungslandschaft - die gibt es nicht nur bei uns, sondern im gesamten EU-Raum - und im Banken- und Finanzsystem - ich könnte Ihnen da nicht nur Banken, die in rotgrün regierten Ländern zu Hause sind, nennen, sondern auch welche in tiefschwarz regierten Ländern -, wenn Sie seriös bleiben wollen, Herr Merz, ({1}) bei der rot-grünen Bundesregierung abladen. ({2}) - Ich versuche jetzt, eine Antwort auf Herrn Merz und nicht auf Herrn Glos zu geben. Ich kann Ihnen nur sagen: Sie können doch den Zusammenbruch des Neuen Marktes nicht bei der Bundesregierung oder bei der Bayerischen Staatsregierung abladen. All diese Dinge, über die ich spreche, hängen doch zusammen, Herr Kollege Merz. Ich nehme an, das würden Sie, wenn wir in Ruhe und nicht polemisch darüber diskutieren würden, jenseits der Fehler, die Sie uns vorwerfen, sofort konzedieren. Sie können doch nicht abstreiten, dass das Platzen der Spekulationsblase in den Vereinigten Staaten Konsequenzen hat zum Beispiel für den Neuen Markt, für den ganzen Nemax-Bereich, der heute faktisch nicht mehr existiert, und für die Bereiche, in denen in diesem Zusammenhang Überkapazitäten aufgebaut wurden, zum Beispiel im Medienbereich und im Banken- und Finanzsystem. Ich nenne jetzt nur einige Bereiche. Das können Sie, wenn Sie als Ökonom seriös bleiben wollen, nicht allen Ernstes bei der Bundesregierung abladen. Das habe ich angesprochen. Wenn wir uns darauf verständigen können, dann harre ich Ihrer alternativen Vorschläge. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Ernst Bahr für die SPD-Fraktion. ({0})

Ernst Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002620, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich Herrn Westerwelle höre, dann muss ich mich nicht wundern, dass wir bei der Bundestagswahl so gut abgeschnitten haben. Über manche Späße im Sommer konnte man ja vielleicht noch schmunzeln, aber über die Art und Weise und den Inhalt der heutigen Rede wird mancher Zuschauer am Fernsehschirm nur den Kopf geschüttelt haben. ({0}) Ich muss wirklich sagen: Wenn man so miteinander umgeht, dann muss man sich nicht wundern, wenn die Wähler von der Wahl bestimmter Parteien Abstand nehmen. Wir haben gerade gehört, wir könnten Schwierigkeiten nicht bewältigen. Dann sollten diejenigen, die die Schwierigkeiten verursacht haben und uns 1998 einen Scherbenhaufen hinterlassen haben, einmal gucken, was sie alles angerichtet haben. Sich heute hinzustellen und so zu tun, als hätten wir in vier Jahren das aufräumen können, was in 16 Jahren kaputtgemacht wurde, das ist ein bisschen zu einfach. ({1}) Die rot-grüne Koalition wird ihre Arbeit in der 15. Wahlperiode fortsetzen. Dazu haben die Wählerinnen und Wähler in den neuen Bundesländern einen wichtigen und wesentlichen Beitrag geleistet. Sicherlich haben viele von diesen Wählerinnen und Wählern Herrn Stoiber als Bundeskanzler verhindern wollen, und zwar nicht weil er ein Bayer ist - Bayern sind schließlich sympathische Menschen -, sondern weil er als Person und in der Sache nicht überzeugen konnte. Ich möchte erst gar nicht auf die untauglichen Konzepte und das dazugehörige Kompetenzteam eingehen. Nein, die Menschen in Ostdeutschland haben nicht vergessen, wie sich Herr Stoiber in der Vergangenheit gegen eine Politik für Ostdeutschland gestellt hat und wie er das noch heute tut; ({2}) denn Herr Stoiber klagt bis heute gegen den Risikostrukturausgleich für die neuen Bundesländer. Ich denke, das ist deutlich genug wahrgenommen worden. ({3}) Ich sehe unseren Wahlerfolg im Osten zu einem großen Teil mit dem Vertrauen begründet, das die Menschen von Rostock bis Suhl, von Magdeburg bis Frankfurt ({4}) in unsere Politik setzen. Das Vertrauen, das uns in der Bundestagswahl 1998 geschenkt worden ist, haben wir gerechtfertigt, und das trotz der schwierigen Bedingungen, unter denen wir damals unsere Regierungsarbeit aufnehmen mussten. Ich erinnere unter anderem an die hohe Staatsverschuldung, die uns täglich so viele Zinsen kostet, wie manche Landkreise in Ostdeutschland in einem ganzen Jahr nicht zur Verfügung haben. Ich erinnere an den Reformstau, den uns die Vorgängerregierung hinterlassen hat und den wir zu einem großen Teil erfolgreich aufgelöst haben, und an die neuen Aufgaben mit internationaler Verantwortung, denen wir uns stellen mussten. All dies sind Schwierigkeiten, die wir in der Regierungsarbeit mit bewältigen mussten. Wenn uns also die Wählerinnen und Wähler in Ostdeutschland am 22. September in so hohem Maße gewählt haben, dann deshalb, weil sie - zu Recht - erfahren haben, dass die jetzige Bundesregierung mit großen Herausforderungen fertig wird. ({5}) Das gilt insbesondere auch für den Aufbau Ost. Aufgrund der verfehlten Förderpolitik der alten Bundesregierung zu Beginn der 90er-Jahre entstand ein weit überdimensionierter Bausektor, der die Wirtschaftsstruktur verzerrte und die Dynamik der wirtschaftlichen Ent82 wicklung in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre deutlich bremste. Dieses Problem wirkt noch heute nach. Wir haben mit der Regierungsübernahme 1998 gegengesteuert, ({6}) indem wir die Reformen in Ostdeutschland auf zwei wesentliche Handlungsfelder ausgerichtet haben: erstens die Sicherung der finanziellen Grundlagen für den Aufbau Ost und zweitens die Modernisierung der Förderinstrumente. Durch unsere Konsolidierung des Bundeshaushalts haben wir die finanzpolitische Handlungsfähigkeit des Staates wiederhergestellt und gestärkt sowie die finanziellen Grundlagen für den Aufbau Ost geschaffen. Nur so konnten wir eine Anschlussregelung für den Solidarpakt II ab 2004 durchsetzen und das Fördervolumen für den wirtschaftlichen Aufbau Ost verstärken. ({7}) Diese Politik werden wir nun mit modifizierten Schwerpunkten fortsetzen; denn wir haben dafür die Stimmen in den neuen Bundesländern bekommen. Wir haben die Politik für Ostdeutschland auf die Zukunft der Menschen in den neuen Bundesländern hin orientiert und mit dem Solidaritätspakt II auf solide Füße gestellt. ({8}) Damit ist Planungssicherheit bis 2019 gegeben. Im Koalitionsvertrag werden die soliden Grundlinien von 1998 fortgeschrieben. Auf dieser Basis gestalten wir weiter unsere Politik. Wer Politik für Ostdeutschland gestalten will - das haben wir frühzeitig erkannt -, muss Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen als integralen Bestandteil der Politik für Deutschland begreifen und gestalten. ({9}) Die Aufgabe einer jeden Bundesregierung liegt darin, die Entwicklung der neuen Bundesländer nicht als Selbstzweck, sondern als eine Aufgabe zu begreifen, Deutschland als Ganzes zu einem starken und verlässlichen Partner in der Welt zu entwickeln. Das tun wir mit unserer Politik für Ostdeutschland. Uns Ostdeutschen geht es nicht um den Nachbau West, sondern um eine Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft, mit der wir einen Beitrag für ein starkes, solidarisches Deutschland leisten. Dafür haben wir in den vergangenen vier Jahren Bedingungen geschaffen, die wir jetzt verbessern und den neuen Verhältnissen anpassen wollen. Deshalb sieht der Koalitionsvertrag für den Aufbau Ost folgende Schwerpunkte vor: die Förderung von Investitionen und Mittelstand. Der gewerbliche Mittelstand als Kernstück der ostdeutschen Wirtschaft wird weiterhin unsere besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung erfahren. Die Fortsetzung der Investitionsförderung, die Existenzgründerinitiative, die Bestandspflege und die Schaffung von Pilotregionen für integrierte Entwicklung in den Bereichen Innovation, Investition, Infrastruktur und Ansiedlungsförderung sind Instrumente dafür. Investitionen in Ausbildung und Forschung sind Zukunftsinvestitionen. Erfolgreiche Programme wie „InnoRegio“ und „Regionale Wachstumskerne“ werden fortgesetzt. Der Aufbau wissenschaftlicher Kompetenzzentren und die finanzielle Förderung der Hochschulbibliotheken sind ebenso wichtige Maßnahmen für eine gute Wirtschaftsentwicklung wie der Ausbildungsaustausch. Ausbildungsfähigkeit und Ausbildungsbereitschaft der kleineren und mittleren Unternehmen müssen erhalten und gefördert werden, um die jungen Menschen in eine betriebliche Erstausbildung zu bringen. Die Kommunen benötigen eine leistungsfähige Infrastruktur. Ein gut ausgebautes Verkehrssystem ist eine entscheidende Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Wir wollen, dass der neue Bundesverkehrswegeplan 2003 einen klaren Schwerpunkt Ostdeutschland enthält. ({10}) Der Stadtumbau Ost und die ungebundene Finanzzuweisung der Mittel aus dem Investitionsgesetz werden fortgesetzt. Eine tragfähige Altschuldenregelung ist für die Entwicklung der kommunalen Infrastruktur unverzichtbar. Wir schaffen Arbeit und neue Qualifikation. Damit die Vorschläge der Hartz-Kommission auch in den neuen Bundesländern ihre Wirkung voll entfalten können, sollen die Personal-Service-Agenturen in Ostdeutschland beschleunigt aufgebaut und das Programm „Kapital für Arbeit“ auf die betrieblichen Verhältnisse in den neuen Ländern ausgerichtet werden. Mit einem JUMP-plus-Programm soll den Jugendlichen nach der Erstausbildung eine Brücke in den Arbeitsmarkt gebaut werden. ({11}) Die Bundesregierung beginnt im Jahr 2003 mit dem Wettbewerb „Die Jugend bleibt“, mit dem innovative und kreative Jugendprojekte sowie Beispiele für die Gestaltung des Lebens- und Wohnumfeldes junger Menschen ausgezeichnet werden. Für die zweite besonders betroffene Gruppe, die älteren Langzeitarbeitslosen, werden wir das Programm „AQTIV plus“ starten. In den künftigen Tarifverhandlungen von Bund, Ländern und Gemeinden mit den Gewerkschaften wollen wir eine differenzierte Stufenregelung zur Angleichung der Einkommen im öffentlichen Dienst in Ost und West bis 2007 umsetzen. Landwirtschaft, Natur und Tourismus sind wichtige Wirtschaftsbereiche in Ostdeutschland. Für die ostdeutsche Landwirtschaft ist die Altschuldenfrage das letzte ungelöste Vereinigungsproblem. Wir werden ein Gesetz zur abschließenden Lösung der Altschuldenregelung vorlegen, wobei die wirtschaftliche Situation der einzelnen Unternehmen berücksichtigt wird. Die Gesundheitsversorgung ist ein wichtiger Beitrag für die Lebensqualität in den neuen Ländern. Wir setzen uns für den Erhalt des Risikostrukturausgleichs der gesetzlichen Krankenkassen ein. Es müssen Anreize für Haus- und Fachärzte geschaffen werden, sich in unterversorgten Regionen der neuen Länder niederzulassen. Dabei stehen die Kassenärztlichen Vereinigungen mit in der Verantwortung. ({12}) Ernst Bahr ({13}) Ernst Bahr ({14}) Die EU-Osterweiterung bietet vielfältige Chancen für Ostdeutschland, sich zu einer europäischen Verbindungsregion zu entwickeln. Wir werden deshalb grenzüberschreitende Kooperationen von Betrieben, Hochschulen, Vereinen und Kommunen mit Osteuropa besonders fördern und in der Wissenschaftskomponente stärkere Akzente in den Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie in der Informatik setzen. Die Opfer des SED-Regimes haben weiterhin unsere besondere Aufmerksamkeit. Die Bundesregierung hat in der vergangenen Wahlperiode wichtige Initiativen ergriffen, um eine Besserstellung der SED-Opfer zu erreichen. Wir wollen dafür sorgen, dass Menschen, die für Demokratie gekämpft haben, nicht vergessen werden. ({15}) Sie sehen, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns kritisch mit unserer Arbeit in den vergangenen vier Jahren auseinander gesetzt, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen in Ostdeutschland genauestens analysiert und die Anregungen aus der Bevölkerung aufgegriffen. Das, was wir bisher erreicht haben, kann sich sehen lassen. Aber es sind noch viele Aufgaben und Probleme in Ostdeutschland zu lösen. Wir werden unsere Arbeit für eine gute Entwicklung in den neuen Ländern fortsetzen. Wie gut wir in dieser Arbeit vorangekommen sind, zeigt sich auch in unserer Beteiligung als Ostdeutsche an der Verantwortung für ganz Deutschland, zum Beispiel durch Kanzleramtsminister Rolf Schwanitz, dem ich an dieser Stelle für seine erfolgreiche Arbeit und sein Engagement für Ostdeutschland recht herzlich danken möchte, ({16}) oder den neuen Bau- und Verkehrsminister Manfred Stolpe, der mit seinen Erfahrungen aus seiner Arbeit in Brandenburg nun für ganz Deutschland arbeiten wird, oder die Parlamentarischen Staatssekretärinnen und Staatssekretäre Gerald Thalheim, Ditmar Staffelt, Iris Gleicke, Christoph Matschie und Christel Riemann-Hanewinckel, die ebenfalls in gesamtdeutscher Verantwortung stehen. ({17}) Ihnen allen wünsche ich viel Glück und Erfolg für ihre Arbeit. Den Menschen in den alten Bundesländern sage ich an dieser Stelle ein recht herzliches Dankeschön für ihre Solidarität und ihre Unterstützung für Ostdeutschland. ({18}) Wir werden diese Hilfsbereitschaft noch eine Weile benötigen, um zu einer sich selbst tragenden Entwicklung in Ostdeutschland zu kommen. Dafür werden wir Ostdeutsche uns noch stärker als bisher engagieren und unsere Arbeit intensiv fortsetzen. Herzlichen Dank. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat der Kollege Michael Glos, CDU/CSUFraktion. ({0})

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, vielen Dank für die Gelegenheit, hier zu sprechen. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Dr. med. h. c. Fischer ist wohl nicht im Raum. ({1}) Herr Fischer, Sie haben es derzeit schwer. Sie sind gleichzeitig Fraktionsvorsitzender, Parteivorsitzender, Außenminister und offensichtlich auch noch Chefökonom. Ich darf Ihnen und den Grünen ein paar ökonomische Ratschläge geben. Die Frau Höhn hat ja gesagt: Das Problem ist, dass bei den Grünen die Parteivorsitzenden zu schlecht bezahlt werden; deswegen läuft das Ganze nicht. Bezahlen Sie Ihre Leute ordentlich, dann müssen Sie nicht alles selbst machen und dann sind Sie hier auch nicht so laut und aufgeregt, wie Sie es gerade waren. ({2}) Das „Handelsblatt“ hat heute geschrieben: „Stimmungstief vor Schröders Rede.“ Was die allerdings morgen schreiben, Herr Bundeskanzler, weiß ich nicht. ({3}) Ich bin nicht sicher, dass die Stimmung bei uns im Land und insbesondere in der Wirtschaft danach steigt. Ihr Vorvorvorgänger Willy Brandt wurde einmal Willy Wolke genannt, weil er sich immer so unbestimmt ausgedrückt hat. Sie müssten Gerhard Nebel heißen, ({4}) weil das, was in Ihrer Regierungserklärung steht, ungeheuer nebulös ist. Wir haben geglaubt, dass sich heute alle Widersprüche aus den Koalitionsvereinbarungen ein Stück auflösen, aber die Nebel sind geblieben. Die Neuauflage der rot-grünen Koalition verspricht nichts Gutes für Deutschland. Ihr Programm ist mutlos. Ihre Mannschaft ist - das erkennt man, wenn man da hinüberschaut - kraftlos. ({5}) Die Zukunftsperspektiven für Deutschland sind dadurch trostlos. ({6}) Sie treten mit dem Anspruch an, eine Koalition der Erneuerung zu sein. In Wirklichkeit ist es eine Koalition des Weiterwurstelns. Sie setzen für die Zukunft weiter auf Mangelverwaltung. Es ist Flickschusterei. Der Konkurs wird verschoben, nicht verhindert. Vor allem spürt man das an den Reaktionen der Betroffenen. Die Konsumenten und die Investoren sind verunsichert. Der Wirtschaftsstandort Deutschland wird leider weiter beschädigt. Das Vertrauen in unsere wirtschaftliche Zukunft wird leider nicht geweckt. In der heutigen Zeit des Wandels - es ist Aufgabe einer Regierung, den Wandel zu gestalten - und der Unsicherheit erwarten die Menschen Stabilität und Sicherheit. Sie aber verbreiten - insbesondere dann, wenn das ein Hü und Hott ist, wenn das eine Echternacher Springprozession ist: zwei Schritte vor, ein Schritt zurück das Gefühl von Stillstand und Verunsicherung. Herr Riester hat lange vor der Wahl von der größten Rentenreform in der deutschen Geschichte gesprochen. Zwei Jahre später ist alles Makulatur. Die Schwankungsreserve - das ist vorhin vom Kollegen Westerwelle noch einmal richtig gesagt worden -, die eiserne Reserve, der Notgroschen der Rentner wird angetastet und ausgegeben. Vor der Wahl ließ sich Herr Eichel als selbst ernannter Obersparminister der Nation feiern. Er hat sich als Autor einer Jahrhundertsteuerreform bezeichnet. Heute meldet er Rekorddefizite im öffentlichen Haushalt und in den Sozialversicherungssystemen. Die konjunkturellen Aussichten, die Lage der Staatsfinanzen und die sozialen Sicherungssysteme waren vor der Wahl im Lot und sind nach der Wahl im Eimer. Herr Eichel ließ verlauten, zusätzliche Konsolidierungsmaßnahmen seien nicht notwendig, das finanziell Erforderliche sei in der Haushalts- und Finanzplanung längst enthalten. Sie, Herr Bundeskanzler, haben gesagt: Keine höheren Steuern. Das war eines der bekannten schröderschen Machtworte, die eine sehr geringe Verfallszeit haben. ({7}) Heute wissen wir, was dabei herauskommt, wenn Sie als SPD-Chef und Bundeskanzler die Wahrheit zur Chefsache machen. Die rot-grüne Koalition handelt nach der Devise: Was juckt mich mein Geschwätz von gestern? Lügen haben bekanntlich kurze Beine. Es wird bald heißen: Noch kürzer sind dem Schröder seine. ({8}) Aber vergessen Sie nicht: Lügen haben kurze Beine und Wähler haben ein langes Gedächtnis. Wir sind in der Tat in einer schwierigen ökonomischen Situation. Die Bilanzfälschungen in der Wirtschaft - ich erinnere insbesondere an diejenigen in der US-Wirtschaft; ich bin aber nicht sicher, ob in Deutschland nicht zum Teil das Gleiche passiert ist - haben die Aktienkurse in den Keller gedrückt. Man hat die Telekom angezeigt, um zu klären, ob die Bilanzen der Telekom richtig waren. Die Telekom ist ein gutes Beispiel dafür, wie man das Vertrauen der Anleger nachdrücklich schädigen kann. Durch ein solches Vorgehen wird vor allen Dingen immer wieder das Vertrauen der Menschen in die in der Politik Handelnden geschädigt. Das, was bei der Telekom geschehen ist, geht auf Ihr Konto, Herr Bundeskanzler. ({9}) Was wir in den Sommermonaten erlebt haben, war der größte Wählerbetrug in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. ({10}) Als ich das zum ersten Mal gesagt habe, hat mich die Talkmasterin Sandra Maischberger - sie kann einen sehr eindringlich anschauen; Sie kennen sie, Herr Bundeskanzler -, gefragt: Herr Glos, wollen Sie den Vorwurf des Betruges nicht zurücknehmen? - Daraufhin habe ich einmal nachsehen lassen, wie im Strafgesetzbuch der Tatbestand des Betrugs definiert wird. ({11}) - Herr Tauss passen Sie auf: Erst muss man jemanden täuschen. Dadurch muss sich der Getäuschte im Irrtum befinden und daraus muss Schaden entstehen. Wenn das geschehen ist, dann ist der Tatbestand des Betruges erfüllt. Dies alles ist geschehen. ({12}) Die Menschen sind vor der Wahl über die wirkliche Lage getäuscht worden. Sie haben aus diesem Irrtum heraus dieser Regierung noch einmal das Vertrauen geschenkt und ihr zu einer knappen Mehrheit verholfen. Jetzt ist Deutschland geschädigt, und zwar nachdrücklich. ({13}) Herr Gabriel - er wurde heute schon einmal zitiert - hat gesagt: „Die Wahrheit vor der Wahl, das hätten Sie wohl gerne gehabt.“ Er ist ein würdiger Nachfolger von Ihnen, Herr Bundeskanzler, und er war offensichtlich Ihr Lehrling, als Sie in Niedersachsen regiert haben. ({14}) Er tritt in Ihre Fußstapfen, genauso wie Herr Müntefering heute in die großen Fußstapfen von Herrn Stiegler getreten ist. ({15}) Das war an Ihrer Rede zu merken, Herr Müntefering. RotGrün bekennt sich zum Prinzip der Nachhaltigkeit. In den Täuschungsmanövern sind Sie allerdings sehr nachhaltig und das beschädigt die politische Kultur im Land. ({16}) Es ist schlimm genug, dass die Kultur in unserem Land, dem Land der Dichter und Denker, dem Land von Goethe und Schiller, schon so beschädigt ist, dass Dieter Bohlen der Star der Buchmesse ist. Aber das bewegt sich auf einer Linie mit dem Verhalten der Deutschen bei der Kanzlerwahl. Es ist folgerichtig, dass aus dem einen das andere entsteht. Da lobe ich mir den ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, der die Devise ausgegeben hat: Deutschland braucht Wahrheit und Klarheit. Die Antwort von Rot-Grün war: Machterhalt um jeden Preis. Ich weiß nicht, ob er diesen Preis wirklich wert war. ({17}) Herr Eichel wird in das „Guinnessbuch der Rekorde“ eingehen. Eine so gelungene Selbstdemontage als Finanzminister hat es noch nie gegeben. Das ist eine Blamage für unser Land. Wir müssten Deutschland eigentlich in Absurdistan umbenennen. ({18}) In der Weitsicht war Hans Guck-in-die-Luft dem Eichel weit überlegen. ({19}) Die Koalitionsvereinbarungen sind voller Widersprüche. Dem deutschen Steuerbürger - also einer Person in diesem Land, die so dumm ist, überhaupt Steuern zu zahlen, da sie nicht alles schwarz macht - misstraut man zutiefst. Man will das Bankgeheimnis aufheben, man will den gläsernen Steuerbürger. Von ihm wird man wahrscheinlich die biometrischen Daten aufnehmen, die man bei potenziellen Terroristen nicht im Pass haben will. ({20}) Ich finde das schon eine ungeheure Widersprüchlichkeit, meine sehr verehrten Damen und Herren. Für alle ökonomischen Fehlhandlungen zahlt die so genannte Neue, aber auch die alte Mitte die Zeche, und zwar ganz brutal. Hans Eichel wurde nach kurzer Zeit vom eisernen zum blanken Hans. Sein großspuriges Versprechen eines ausgeglichenen Gesamthaushalts für 2006 war so viel wert wie Ihr Versprechen heute, Herr Müntefering, für 2006. Der Herr Bundeskanzler hat es heute in seiner Regierungserklärung ebenfalls versprochen. Was besonders schlimm ist: Die Defizitobergrenze von Maastricht wurde verfehlt, unser Land ist zum Gespött in Europa geworden. Deutschland braucht inzwischen nicht nur einen blauen, sondern einen dunkelblauen Brief. Der Stabilitätspakt ist geschaffen worden, weil man den Südländern misstraute. Man meinte, die Italiener und andere würden die Stabilitätskriterien nicht einhalten. Inzwischen sind die Deutschen diejenigen, die den blauen Brief in Empfang nehmen müssen. Ich finde es schlimm, wenn die Regeln für die neue Währung, die man sich selbst gegeben hat, einfach niedergerissen werden. Die Menschen haben dem Euro vertraut, weil wir gesagt haben, er wird so sicher und stabil wie die Mark werden. Ich kann Sie nur davor warnen, über diese Dinge einfach hinwegzugehen. ({21}) 3 Prozent bedeuten einen Spielraum von 60 Milliarden Euro, den man in den öffentlichen Gesamthaushalten hat. Das ist kein Pappenstiel, daraus lässt sich allerhand machen. Einfach an die Obergrenze heranzugehen und sie zu überschreiten halte ich für falsch. ({22}) Wir befinden uns dadurch am Rande einer länger anhaltenden Rezession und das sollte Ihnen Sorgen machen. Die „Süddeutsche Zeitung“, die es inzwischen wahrscheinlich bereut - wenn es die Zeitung nicht bereuen kann, weil sie ja nur ein Stück Papier ist, dann werden es der Verlag, die Herausgeber, die Eigentümer bereuen; denn dort klopft jetzt Bodo Hombach an die Tür -, hat Rot-Grün herbeigeschrieben und die ökonomischen Folgen müssen jetzt auch ein Stück getragen werden. Jedenfalls ist das, was im Wirtschaftsteil steht, oft richtig. Darin stand unlängst: Offensichtlich ist allenthalben die große Verunsicherung und neuerdings der blanke Zorn über eine die Bedürfnisse der Unternehmen missachtende Berliner Wirtschaftspolitik. Dieser Zorn ist real und nicht konstruiert, er ist keine Erfindung von Opposition oder Wirtschaftsjournalisten, keine Kampagne. Die Wut der Wirtschaft signalisiert eine sinkende Loyalität. Die Folgen reichen weit: von der sinkenden Bereitschaft auszubilden über ein nachlassendes gesellschaftliches Engagement bis hin zu wildester Steuergestaltung und womöglich einem regelrechten Investitionsstreik. So weit Marc Beise in der „Süddeutschen Zeitung“. Vorhin hat der Herr Minister des Äußersten gesagt ({23}) - Entschuldigung, Herr Minister -, die Finanzmärkte befinden sich in einer Krise. Das ist richtig. Der Einzelhandel bekommt die nachlassende Kaufkraft zu spüren und auch die Verunsicherung der Verbraucher. Das Handwerk hat allein in den letzten drei Monaten über 300 000 Arbeitsplätze abbauen müssen. Und es fällt keinem Handwerker leicht, jemanden zu entlassen; ganz bestimmt nicht, da ist etwas Herzblut dabei. Die Talfahrt der Bauwirtschaft hält an und wird sich durch das geplante Zusammenstreichen der Eigenheimzulage noch beschleunigen. Herr Fischer, übrigens haben Sie in einer Diskussionsrunde vor der Wahl noch die Opposition bezichtigt, sie wolle die Eigenheimzulage streichen. ({24}) Das Gegenteil ist wahr. ({25}) Diese Zulage wird von Ihnen jetzt kalt gestrichen, was Sie vorher in Ihrer Art der Wählertäuschung und -verunsicherung uns unterstellt haben. In der gesamten verarbeitenden Industrie ist die Stimmung miserabel. Die Ampeln stehen auf Arbeitsplatzabbau. Wer in dieser Situation auf massive Steuererhöhungen, steigende Sozialbeiträge und zusätzliche Schulden setzt, der verschärft die Krise. Das alles ist Gift für Konjunktur und Wachstum. ({26}) Bei aller Ungewissheit über Prognosen ist eines gewiss: Mit einer derart schwachen Wirtschaftsdynamik kann keine grundlegende Wende auf dem Arbeitsmarkt erreicht werden, Hartz hin, Hartz her. Das wird sich als eine große Seifenblase erweisen. ({27}) Wenn Sie schon unserem wirtschaftlichen Sachverstand nicht trauen, dann glauben Sie wenigstens den von Ihnen selbst berufenen Gutachtern aus den Wirtschaftsforschungsinstituten. Das sind inzwischen ja nicht mehr die, die während der Regierungszeit von Helmut Kohl berufen worden sind. Die sagen in ihrem Herbstgutachten: Alle Pläne der Wirtschaftspolitik in den kommenden Jahren müssen daran gemessen werden, ob sie dazu beitragen, die Probleme des geringen Wachstums und der geringen Beschäftigungsdynamik zu lösen ... Die Koalitionsvereinbarungen zur Anhebung von Steuern und Sozialabgaben sind das Gegenteil dessen, was wachstumspolitisch geboten ist. Man kann das Ganze auch volkstümlich ausdrücken - ich denke dabei vor allen Dingen an die Leute draußen, die gerne den Ketchup-Song hören -, denn in der Gerd-Show heißt es dort: Was du heute kannst versprechen, darfst du morgen wieder brechen. Drum hol’ ich mir jetzt jeden einzelnen Geldschein, euer Pulver, eure Kohle, euer Sparschwein. So sieht es die Bevölkerung draußen. Deswegen wird dieser Song ein großer Hit werden. ({28}) Im Zeitalter der Globalisierung und der Konkurrenz um Finanzströme ist es ganz besonders wichtig, unseren Finanzmarkt in Ordnung zu halten. Nun hat sich Joseph Fischer, zurzeit, wie wir sehen, gleichzeitig Bundesaußenminister, Fraktionsvorsitzender und amtierender Parteivorsitzender der Grünen, ({29}) vorhin auch ein wenig über die Aktienmärkte, auch den in Amerika, verbreitet. Der Zusammenbruch geschah in erster Linie an der deutschen Börse. Der Dow-Jones-Index ist längst nicht so stark gesunken wie der DAX. Auch in Europa sind die Aktienkurse im Durchschnitt nicht so stark wie in Deutschland gesunken. Das ist die Wahrheit. ({30}) - Selbstverständlich nicht. Ich bin dabei sehr gut gefahren. Das bisschen, was ich hatte, habe ich blitzartig verkauft, als Rot-Grün begonnen hat zu regieren. ({31}) Die alten Lehren kenne ich noch. Ich habe auch noch die Bücher des alten Bankiers Fürstenberg gelesen, der gesagt hat - die Geschehnisse unter Rot-Grün haben ihm wieder einmal Recht gegeben -: Aktionäre sind dumm und frech - dumm, weil sie anderen Leuten ihr Geld geben, und frech, weil sie dafür auch noch Dividende wollen. ({32}) Jetzt sage ich Ihnen etwas, was viel ernster ist: Man kann Vertrauen ungeheuer schnell zerstören. Es ist aber ungeheuer schwierig, Vertrauen wieder aufzubauen. Ein zerstörter Kölner Dom wäre leichter aufzubauen als zerstörtes Vertrauen. Ihre Vorhaben, nämlich die Gewinne aus der Veräußerung von Wertpapieren und Immobilien unbeschränkt zu versteuern, ({33}) der Lebensversicherung in die Kasse zu greifen, die vermögenswirksamen Leistungen in Aktien und Wertpapierfonds zu besteuern, all diese Steuerpläne schaffen kein Vertrauen in unseren Kapitalmarkt, sondern werden die Krise leider noch verstärken. In Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, geben Sie auch auf andere Schicksalsfragen der Nation wenig Antworten. Die Unterfinanzierung der Bundeswehr wird offensichtlich festgeschrieben. ({34}) Bundesverteidigungsminister Struck hat den Fehler gemacht, dass er sich nicht vom ersten Tag an dagegen gewehrt hat. Jetzt wird sein Etat weiter gekürzt. Das hat er nun davon. Die Bundeswehr ist unsere Armee. Wir sind stolz auf sie. Aber auch die Frage, wie es weitergehen soll, ob es eine Freiwilligenarmee wird oder ob die Wehrpflicht bleibt, ist noch nicht endgültig entschieden worden, sondern diese Entscheidung wurde vertagt. Die NATO-Partner fragen sich, was eigentlich von uns zu halten ist, wenn überall so viel Beliebigkeit Platz greift. Über den Aufbau Ost haben wir vorhin eine mitreißende Rede gehört. Herr Präsident, Sie haben sie dankenswerterweise vorher halten lassen. Ich freue mich darüber, denn so brauche ich nichts dazu zu sagen. Die frühere Chefsache ist also inzwischen zu einer Rolle rückwärts geworden. Bezüglich der inneren Sicherheit finden sich nur Leerformeln. Von dem, was wir wirklich bräuchten, steht nichts in der Koalitionsvereinbarung, auch nicht die von

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Sexualstraftäter, also Kinderschänder, gehören weggesperrt, und zwar für immer. Dafür hat er sehr viel Beifall bekommen, aber er hat davon in der Koalitionsvereinbarung nichts durchgesetzt. ({0}) Auch bei der Umweltpolitik herrscht Fehlanzeige. Stattdessen wird Erdgas stärker besteuert. Die Bauern kommen nur noch als Kostenfaktor im Zusammenhang mit der EU vor. Es finden sich keine Worte über den ländlichen Raum und all das, was an der Landwirtschaft hängt. In der Außenpolitik hat man aus dem Schüren von Kriegsangst kurzfristig Kapital zu schlagen versucht. Das ist richtig. Jetzt folgt für den Herrn Bundeskanzler der Gang nach Canossa, wobei Canossa in diesem Fall irgendwo bei Washington liegt. Morgen macht ja der Bundesaußenminister bereits einen Probegang. ({1}) Ich kann Ihnen sagen: Heinrich IV. hat sich in Canossa wohler gefühlt, als Sie sich in den USA fühlen müssen. Jetzt glauben Sie, Sie könnten die Vereinigten Staaten von Amerika damit beruhigen, dass Sie für eine möglichst schnelle Aufnahme der Türkei in die Europäische Union kämpfen. Ich halte von einer Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union nichts. ({2}) Nicht, dass ich missverstanden werde: Selbstverständlich wollen wir eine gute Partnerschaft mit der Türkei innerhalb der NATO; auch brauchen wir gute Handelsbeziehungen mit der Türkei. Nur können wir ihre Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union nicht gebrauchen. Auch die damit verbundene Freizügigkeit von Anatolien nach Deutschland hin in beliebigem Maße können wir nicht gebrauchen. ({3}) Wir können auch kein Land als Vollmitglied in der Europäischen Union gebrauchen, dessen Wirtschaftsleistung nur ungefähr 20 Prozent des Durchschnitts der Wirtschaftsleistung der übrigen EU-Staaten beträgt und das eine Inflationsrate von 50 Prozent hat. Wenn man jetzt glaubt, dass man mit der Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union irgendjemandem einen Gefallen tun kann - nicht einmal den Türken selbst könnte man damit einen Gefallen tun -, dann ist man schief gewickelt. Auch der zweite Anlauf von Rot-Grün erfolgt im Rückwärtsgang. Mit dem, was in den Koalitionsvereinbarungen steht und was wir heute hier gehört haben, lässt sich die Zukunft nicht gewinnen. Abraham Lincoln hat gesagt, man könne nicht die Schwachen stärken, indem man die Starken schwäche. Genau das ist aber Ihr Programm. ({4}) Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung. Ich weiß nicht, ob der Herr Bundeskanzler noch hier im Plenarsaal ist. ({5}) Wenn er nicht mehr hier ist, dann hat er aber genug Kettenhunde hier, um sein Wort zu gebrauchen, die ihm das, was ich jetzt bemerken will, weitersagen können. Ich bin schon der Meinung und möchte ihm das gern ins Stammbuch schreiben: „Hochmut kommt vor dem Fall.“ ({6}) Der Hochmut, mit dem Sie sich heute gegenüber der Opposition verhalten, wird sich - da bin ich ganz sicher rächen. Hören Sie damit auf, diejenigen, die Verantwortung tragen für Unternehmungen und damit für die Arbeitsplätze von Millionen von Menschen, als Kettenhunde zu beschimpfen! ({7}) Das sind nicht Kettenhunde der Opposition. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn das alles nur dieser Bundesregierung schadete, dann könnte es uns egal sein; dann könnten wir darüber sogar noch Schadenfreude empfinden. Aber es schadet unserem Land, der Bundesrepublik Deutschland, in schwieriger Zeit. Für dieses Land werden wir auch aus der Opposition heraus arbeiten. Herzlichen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Sabine Bätzing von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Sabine Bätzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man heute die Redebeiträge der Opposition hört, dann könnte man glauben, dass die Opposition noch mitten im Wahlkampf steht. Wie vor dem 22. September sind die Vertreter der Opposition auch jetzt nur dabei, das Land zu zerreden, Innovationen zu behindern, Stillstand zu produzieren und zu demotivieren. ({0}) Das alles sind Dinge, die wir nicht brauchen. ({1}) Ich möchte lieber noch einmal auf die Koalitionsvereinbarungen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingehen, die eines ganz deutlich zeigen: Deutschland hat eine starke Regierung, die den Mut und die Entschlossenheit besitzt, die vor uns stehenden Herausforderungen anzugehen. Wir können dabei auf den beachtlichen Leistungen in der vorangegangenen Wahlperiode aufbauen. Der Stillstand, der unsere Republik viel zu lange gelähmt hat, ist beendet. ({2}) Gerade als Vertreterin der jungen Generation bin ich dafür sehr dankbar. ({3}) Rot-Grün hat mit der Erneuerung begonnen und wir werden sie nun fortsetzen. Im Koalitionsvertrag steht klar und deutlich, was wir in dieser Legislaturperiode umsetzen wollen. Wir werden die notwendigen Reformen - ich meine Reformen im positiven Sinne - konsequent fortsetzen. Da gibt es viel zu tun. Die Lasten, die damit notwendigerweise verbunden sind, müssen wir heute tragen, damit unsere Kinder und Enkel in Zukunft Handlungsspielräume und Perspektiven haben. ({4}) Ich danke daher im Namen der jüngeren Generation Hans Eichel für sein finanzpolitisches Kurshalten auch in gefährlichem Fahrwasser. ({5}) - Es ist so. - Es ist uns klar, dass noch manche Klippe zu umschiffen sein wird. Aber auch das werden wir schaffen. Ich möchte nun einige Bereiche nennen, die wir weiter voranbringen werden. Die Förderung von Familien mit Kindern muss ausgebaut und auf noch solidere Grundlagen gestellt werden als bisher. ({6}) Wir wollen dafür kämpfen, dass Kinder kein Armutsrisiko sind. Fast 30 Prozent der Familien mit drei Kindern fallen leider heute noch unter die Armutsgrenze. Das sind 30 Prozent zu viel. Denn wir alle wissen, dass Kinder aus besonders einkommensschwachen Familien einen schlechteren Start ins Leben haben. Sie haben keine großen Chancen. Genau das wollen wir ändern. Als ehemalige Sachbearbeiterin im Sozialamt weiß ich, wovon ich rede. Ich weiß auch, wohin ein solcher Fehlstart im Leben führen kann. ({7}) Der Koalitionsvertrag enthält darum konkrete Maßnahmen, mit denen Familien mit Kindern und allein erziehende Mütter und Väter weiter unterstützt werden sollen. Ich nenne in diesem Zusammenhang die 10 000 zusätzlichen Ganztagsschulen sowie den Ausbau der Betreuung von Kindern unter drei Jahren, bei der wir die Kommunen ab 2004 jährlich mit 1,5 Milliarden Euro unterstützen werden. ({8}) Sie sehen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird zunehmend Realität. Wir setzen damit die erfolgreiche Politik aus der letzten Legislaturperiode fort. Familien mit Kindern bekommen bereits heute jährlich insgesamt 13 Milliarden Euro mehr als vor vier Jahren. ({9}) Auch durch die Flexibilisierung der Elternzeit und durch den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit sind wir diesem Ziel ein Stück näher gekommen. Denn wir können es uns nicht leisten - das wollen wir auch nicht -, auf hervorragend ausgebildete Frauen, die sich an Universitäten, Fachhochschulen und Berufsschulen bewiesen haben, zu verzichten. Es ist der richtige Weg, gerade die Kreativität der Frauen für unsere wirtschaftliche Entwicklung stärker zu nutzen. ({10}) Aber unsere wichtigste Zukunftsressource ist die Bildung. Wir brauchen keine PISA-Studie, um klar zu erkennen, dass wir in diesem Bereich noch besser werden müssen. Die laufende Diskussion um länderübergreifende Standards im Bildungsbereich halte ich für den richtigen Weg. Mein Dank geht an Edelgard Bulmahn; denn sie hat sich in beispielhafter Weise um die Reform des Bildungswesens verdient gemacht. ({11}) Ich sage: Der neue Wind in der Bildungspolitik kann uns nur gut tun. Zusammenarbeit und Vertrauen zwischen den Generationen wollen wir auch in Zukunft fördern. Daher gilt für Kinder und Jugendliche, dass wir gemeinsam mit ihnen die Zukunftschancen unserer Gesellschaft entwickeln wollen. Wir wollen, dass jeder Jugendliche, der will und kann, eine Ausbildung erhält. Die Sicherung des Ausbildungsplatzangebots hat eindeutig Priorität. Dabei bauen wir allerdings auch auf die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Denn Mitmachen ist Voraussetzung für einen Erfolg in diesem Bereich. An der Verbesserung der sozialen und beruflichen Integration von jungen Menschen liegt uns viel. Wir müssen daher die jungen Menschen ernst nehmen und wir müssen ihnen vor allen Dingen zuhören. Wir wollen den Jugendlichen eine Balance aus Schutz und Freiräumen bieten, die sie zur persönlichen Entwicklung brauchen. Ich wünsche mir, dass wir, wenn wir dies beachten, wieder mehr junge Menschen für Politik interessieren. ({12}) Meine Damen und Herren, die Akzeptanz unserer Politik beruht auf einem einfachen Wort: Solidarität. Solidarität ist ein Grundwert, eine Richtschnur, an der wir uns messen lassen wollen. Dass wir sie völlig zu Recht auch von denjenigen einfordern, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen, ist doch wohl klar. Denn Solidarität beweist sich in schwierigen Zeiten. Sie ist keine Einbahnstraße und schon gar keine Schönwetterallee. Die Abwanderung junger, gesunder und gut verdienender Beitragszahler in die private Krankenversicherung hat ein Ausmaß erreicht, das die Beitragsstabilität der gesetzlichen Krankenkassen ernsthaft bedroht. Wir aber wollen keine Zweiklassenmedizin, sondern eine klasse Medizin. ({13}) Zu der sollen alle unabhängig von ihrem Einkommen den gleichen Zugang haben. Deshalb sage ich: Aus der Solidarität sollte man sich nicht so leicht verabschieden können. Nur wenn alle Generationen und alle Einkommensgruppen an einem Strang ziehen, können wir die vor uns liegenden Aufgaben auch bewältigen. Dies hat schon sehr früh ein Mensch erkannt, der in meinem Wahlkreis Neuwied/Altenkirchen lebte - Sie alle kennen ihn sicherlich -: ({14}) - Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Herr Meyer. Von ihm stammt die Maxime: „Einer für alle, alle für einen.“ In unserer Geschichte gibt es genug Erfahrungen, die beweisen: Solidarität ist nicht angestaubt. Solidarität ist Zukunftsfähigkeit. ({15}) Noch ein Wort zur Hartz-Kommission. In den nächsten Wochen und Monaten werden wir die größte Arbeitsmarktreform in der Geschichte dieses Landes umsetzen. Herr Glos, wir versprechen Ihnen: Sie wird keine Seifenblase sein, die irgendwann platzen wird. ({16}) Denn wir können es nicht oft genug sagen: Das Konzept der Hartz-Kommission ist genau das, was unser Land jetzt braucht. Deshalb handeln wir. Wir werden dieses Konzept umsetzen. Meine Damen und Herren, dies ist ein Appell an Sie alle: Lassen Sie uns in den kommenden Jahren keinen Wettstreit im Miesmachen und Nörgeln austragen! ({17}) Das Land hat dafür keine Zeit. Lassen Sie uns gemeinsam die notwendigen Entscheidungen treffen, vor die wir gestellt sind - und dies mit Mut und Konsequenz! Lassen Sie uns vor allem den Menschen beweisen, dass wir keine Lobbyrepublik sind, sondern uns den Aufgaben stellen, zu deren Bewältigung wir gewählt worden sind. Unser Wählerauftrag ist klar: Die Menschen haben uns das Vertrauen ausgesprochen, weil wir das bessere Konzept für die Zukunft unseres Landes haben. Die Wählerinnen und Wähler können sich darauf verlassen: Wir schaffen gemeinsam ein modernes Deutschland. Herzlichen Dank. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Bätzing, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, die Sie als neues Mitglied dieses Hauses zum denkbar frühesten Zeitpunkt haben halten können. ({0}) Ich bitte schon jetzt die zahlreichen weiteren neuen Kolleginnen und Kollegen um Verständnis dafür, dass vermutlich nicht alle in der 21-stündigen Aussprache zur Regierungserklärung zu Wort kommen können. Als Nächstes erteile ich dem Kollegen Scholz für die SPD-Fraktion das Wort.

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben eine interessante Rede von Frau Merkel gehört, ({0}) in der sie uns manches über längerfristige Linien gesagt hat. Sie hat festgestellt, es sei dringend erforderlich, dass man die langen Linien bzw. die Grundsätze der Politik erkennen könne. Weil sie dann doch an einer Stelle konkret werden wollte, ist sie auf diese Grundsätze genauer eingegangen. Man brauche nämlich Beamte im Bundeskanzleramt, die für Grundsätze zuständig seien. Das war ihr Vorschlag für die zukünftige Grundsatzabteilung, die die langen Linien angehen soll. ({1}) Meine Damen und Herren, es geht doch um etwas Wesentlicheres als diesen Hinweis. Dass dieser so einfach möglich war, lag daran, dass es in der Tat in der Rede keinen einzigen Vorschlag für die Regierung unseres Landes und dazu, wie es weitergehen soll, gegeben hat. ({2}) In den letzten Tagen geistert immer wieder ein Thema durch die Medien, das auch hier gern zitiert wird und missverstanden werden kann: Es wird Mut zu einer langfristigen Strategie gefordert. Ich halte das für richtig. Wir brauchen Mut, nur mit Mut haben wir eine Chance, unser Land zu regieren. Wenn sonntags eine Rede über die richtige Politik gehalten wird, wissen auch alle, was Mut ist. Man kann zum Beispiel sagen: Wir müssen dazu beitragen, dass die Steuersätze in unserem Land sinken und dass Steuerschlupflöcher gestopft und Subventionen gestrichen werden. Niemals mit irgendeiner Relevanz für die CDU/CSU-Fraktion, aber doch immer wieder in Zeitungen veröffentlicht, hat zum Beispiel der Kollege Uldall, der jetzt in Hamburg Senator sein darf, Vorschläge zu gestaffelten Steuersätzen gemacht. Sämtliche Schlupflöcher und Subventionen, die wir jetzt streichen, waren dabei längst gestrichen. Wenn aber der Mut konkret gefordert wird, dann ist alles anders. Dann melden sich nämlich all diejenigen, die vorher Vorschläge gemacht haben, zu Wort und fordern: Dieses Steuerschlupfloch, diese Subvention und diese Einzelregelung sollen aufrecht erhalten bleiben. Dass man sich dabei sehr lächerlich machen kann, hat uns Frau Merkel vorgemacht. Sie hat sich nämlich in der Geschichte der Bundesrepublik jetzt damit hervorgetan, dass sie den halben Mehrwertsteuersatz für Schnittblumen verteidigt hat. Ich glaube, solche Forderungen zeigen letztlich, wie die Subventionsbekämpfung bei Ihnen konkret aussieht. ({3}) Ich glaube, es ist richtig, dass wir ein Konzept vorgelegt haben, in dem weitere Steuersenkungen enthalten sind. In den Jahren 2004 und 2005 werden 29 Milliarden Euro an die Bürgerinnen und Bürger zurückgegeben. ({4}) Diese Einnahmen fehlen in den Kassen von Bund, Ländern und Gemeinden und deshalb ist es auch richtig, weitere Schlupflöcher zu stopfen. Eines dieser Schlupflöcher hat bei Ihnen im Wahlkampf eine große Rolle gespielt. Zum Beispiel hat Herr Merz gesagt, es kann nicht sein, dass die Kapitalgesellschaften in Deutschland im Saldo mehr Steuern erstattet bekommen als sie zahlen. Von Herrn Stoiber ist im Wahlkampf, teilweise mit zitternder Stimme, immer wieder erwähnt worden, dass es dringend notwendig sei, die Ausfälle bei der Körperschaftsteuer zu bekämpfen. Dazu hat er etwas Ähnliches wie Herr Merz gesagt. Nun gehen wir das an - das ist ein ganz wichtiger Teil des Subventionsabbaus und des Stopfens von Steuerschlupflöchern -, indem wir sicherstellen, dass Unternehmen und Körperschaften, die Gewinne machen, auch Steuern zahlen. Das ist gut so, dem sollten auch Sie zustimmen. ({5}) Tatsächlich sind Sie in dieser Frage aber sehr leise geworden. Sie kommen gar nicht mehr darauf zurück, sondern erwähnen nur noch die Schnittblumen und den Mehrwertsteuersatz, der für diese angehoben werden soll. ({6}) Das ist gewissermaßen die Kontinuität Ihrer Gedanken vor und nach der Wahl. Deshalb: Es gibt ganz andere, die die Wähler getäuscht haben; denn wer die CDU gewählt hat, könnte gedacht haben, jetzt geht es den großen Konzernen endlich an den Kragen. Tatsächlich aber wollen Sie das, was wir jetzt vorhaben, gar nicht unterstützen. Meine Damen und Herren, es ist wichtig, sich darüber zu unterhalten, dass es die mutlosen Mutigen gibt. Die mutlosen Mutigen sind diejenigen, die immer sagen, was man eigentlich tun müsste, aber die Sätze nicht zu Ende sprechen. Sätze, die nicht zu Ende gesprochen werden, sind beispielsweise: Man braucht auf dem Arbeitsmarkt endlich einen Aufbruch, der Verkrustungen beseitigt; wir müssen etwas bei der Rente tun, damit die Beiträge nicht weiter steigen; auch bei der Gesundheitspolitik ist das erforderlich, hier muss etwas getan werden, damit wir mit dem Geld besser auskommen. Die Fragen aber, die weder Frau Merkel noch Herr Glos, noch jemand anders beantwortet, lauten: Was soll man tun? Hier setzen Sie ein bisschen darauf, dass Ihre eigentlichen Freunde wissen, was Sie tun wollen, und viele es nicht wissen und glauben, Sie machen etwas Vernünftiges. Denn tatsächlich haben Sie ganz konkrete Vorstellungen, die Sie auch nennen könnten, aber Sie nennen sie nicht. Soll es so sein, dass wir bei medizinischen Leistungen Kürzungen durchführen und sagen, diese gibt es nicht mehr? Ist das mutig? Ist das richtig? Wenn Sie das für richtig halten, müssen Sie auch den Mut haben, das zu sagen, statt Ihre Sätze unvollendet zu lassen und dann, wenn Sie sich mit der Regierung und dem Konzept des Koalitionsvertrags auseinander setzen, den Eindruck zu erwecken, als hätten Sie ein Konzept vorzuschlagen. Zur Rente könnten Sie sagen, Sie wollen erreichen, dass es nicht zu solchen Beitragssteigerungen kommt, wie sie jetzt anstehen. Dies haben Sie aber nicht getan. Vielmehr bleiben Sie nach dem halben Satz stecken. Sie sind mutlos, weil Sie keine Alternativen benennen. ({7}) Das Gleiche machen Sie bezüglich unseres Arbeitsmarktes. Dazu bringen Sie auch immer nur den Vorschlag, dass die Verkrustungen aufgebrochen werden sollen. Interessant wäre es, von Ihnen einmal zu hören, was dies denn ist, ob Sie etwa den seit Anfang der 50er-Jahre in Deutschland bestehenden Kündigungsschutz abschaffen, halb abschaffen oder viertel abschaffen wollen. Viele Ihrer Freunde glauben, dass Sie genau dies wollen. Viele sollen es aber offenbar nicht hören und deshalb bleiben Sie mutlos und sagen es nicht. Ihnen fehlt bei Ihrer Kritik an der Regierungserklärung also wirklich der Mut. ({8}) Ich will Ihnen sagen, welches jetzt und in den nächsten vier Jahren bei der Diskussion über die Regierungsarbeit Ihr großes Problem sein wird. Ihr Problem wird sein, dass Sie keine Alternativen benennen. Dies ist auch der Grund dafür, warum Sie die Wahl nicht gewonnen haben. Tatsächlich befinden wir uns in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage und es ist schwierig für eine Regierung, wiedergewählt zu werden, wenn sich die Arbeitslosigkeit so entwickelt, wie sie das in den letzten Jahren getan hat. Herr Stoiber hat immer wieder gesagt, das Arbeitslosigkeitsproblem sei groß - was übrigens so ist -, er hat aber immer wieder vergessen, irgendeinen Vorschlag zu machen, von dem irgendjemand hätte annehmen können, er hätte eine Idee, wie dies geändert werden sollte. ({9}) Deshalb haben die Menschen gesagt: Der Stoiber kann es auf jeden Fall nicht besser. Den wählen wir nicht. ({10}) Wenn Sie so weitermachen, wird man bei den Wahlen, die demnächst anstehen, und auch in vier Jahren sagen: Die CDU/CSU kann nur sagen, das ist aber schlimm, sie kann aber nicht sagen, was man tun soll. Sie als Opposition brauchen aber den Mut, sich zu konkreten Konzepten zu bekennen. Dazu fordere ich Sie auf. ({11}) Meine Damen und Herren, in der Familienpolitik haben Sie ein ähnliches Problem. Was Sie dabei falsch machen, grenzt schon ans Dramatische. Ich erinnere mich sehr genau daran, dass sich ein früherer Generalsekretär Ihrer Partei darum bemüht hat, aufzuzeigen, dass Sie bei der Familienpolitik ein Defizit haben. Das war Ihr Herr Geißler. Er ist daran gehindert worden. Dann haben Sie 1998 die Wahl verloren. Ich erinnere mich noch ganz genau an alle Wahlanalysen, die Sie gemacht haben. Eigentlich haben Sie gesagt: Hätten wir doch zehn Jahre früher auf den Geißler gehört. Wir haben ein Defizit in der Familienpolitik. Niemand glaubt uns da mehr was. Konsequenz gab es keine. Nun war die Bundestagswahl. Sie haben die Analysen der Meinungsforschungsinstitute gelesen. Darin stand schon wieder das Gleiche. Dann durfte sich Frau Reiche kurzfristig profilieren. Jetzt haben Sie die Wahl verloren und haben gemeinsam analysiert: Wir haben die Wahl verloren, weil wir in der Familienpolitik ein nicht mehr zeitgemäßes Profil haben. Und was ist? - Frau Reiche ist abgemeldet und Sie kritisieren die Politik der Bundesregierung aus dem gleichen Blickwinkel wie seit 1950. Ich glaube, dies ist Ihr Problem. ({12}) Ich warne Sie auch: Retten Sie sich nicht mit den Formeln, von denen Sie glauben, dass Sie damit von der einen Tür zur nächsten kommen. Ihre Formel lautet immer, wir wollten den Menschen etwas vorschreiben, wir wollten ihnen zum Beispiel vorschreiben, dass sie arbeiten müssen. Das ist eigentlich das Einzige, was Ihnen zur Familienpolitik einfällt. Dabei ist dies nicht das Problem unserer Gesellschaft. Wir haben eine Gesellschaft, in der es für Familien, in denen beide Partner berufstätig sein wollen, so schwierig ist wie in kaum einem anderen Land in Europa, dies zu organisieren, weil wir weniger Ganztagsbetreuungsplätze und weniger Ganztagsschulen als zum Beispiel Frankreich haben. ({13}) Deshalb sage ich Ihnen: Sie haben ein großes Problem. Wenn Sie sich politisch nicht bewegen, werden Sie es auch nicht lösen können. Sie haben die Lufthoheit über den Kinderbetten verloren. Solange das der Fall ist, werden Sie keine Wahl in Deutschland gewinnen können. ({14}) Ich will noch etwas zum Thema Irak sagen, das Sie angesprochen haben, und zwar auch, weil Frau Merkel gesagt hat, wir würden jetzt etwas anderes sagen als vor der Wahl. ({15}) Das hat eigentlich niemand verstanden, denn wir machen genau das, was wir vor der Wahl angekündigt haben. Die Bundesrepublik Deutschland bleibt bei ihrer Haltung, nämlich dass wir sagen: Es wird keine deutsche Beteiligung an einem Krieg im Irak geben. Dies ist unsere Aussage und bei der bleibt es. ({16}) Es empfiehlt sich, dass Sie einen weiteren Punkt diskutieren, nämlich das Jahrhundert, in dem wir leben. Das Thema Außenpolitik hatte im 19. Jahrhundert sicherlich eine andere Bedeutung als in diesem. Sicherlich wäre es im Jahre 1895 ein interessanter Beitrag gewesen, wenn jemand gesagt hätte: Es kann nicht sein, dass wir hier über die Frage, was Deutschland tun soll, diskutieren; das gehört nicht ins Parlament und ist auch keine Sache des Volkes, sondern das muss der Außenminister heimlich in irgendwelchen Kabinetten beschließen. ({17}) Aber auch heute gingen eigentlich alle Vorwürfe, die Sie der Bundesregierung und dem Bundeskanzler gemacht haben, in die Richtung, dass die Frage von Krieg und Frieden nicht vom Volk entschieden oder vom Deutschen Bundestag breit diskutiert werden könne; ({18}) sie gehöre in die Kabinette und geheimen diplomatischen Zirkel. Das ist nicht richtig! ({19}) Ich glaube, Sie müssen lernen, dass Deutschland über diese Frage diskutieren muss. Es gibt ein Vorbild, das ich Ihnen zur Nachahmung empfehle, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika; ({20}) denn in den Vereinigten Staaten von Amerika wird das, was wir hier nicht bereden dürfen, allerorten öffentlich diskutiert. ({21}) Wenn Sie einen Fernsehsender einschalten, können Sie all die Fragen, über die wir hier nicht diskutieren sollen, in Senats- und Kongressausschüssen breit diskutiert finden. ({22}) So ist es richtig. Der Unterschied zwischen den beiden Staaten ist: Die Vereinigten Staaten von Amerika sind seit 200 Jahren eine Demokratie, wir haben erst seit 50 Jahren das Glück. Außerdem hat sich Deutschland 1999 im Kosovo das erste Mal als ein demokratischer Staat an einem Krieg beteiligt. Deshalb haben viele noch keine Argumentationsmuster und nicht die Fähigkeit zur Diskussion über Richtig und Falsch bei diesem Thema. Sie brauchen einen demokratischen Impuls in der Debatte über Außenpolitik. Das würde Ihnen nützen und die Sache glaubwürdiger machen. Schönen Dank. ({23})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, fraktionslos.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf den Pressefassungen von Regierungserklärungen heißt es stets: Es gilt das gesprochene Wort. Das ist im heutigen Falle besonders angebracht; denn was vom geschriebenen Wort - ich meine den Koalitionsvertrag 92 demnächst wirklich noch gilt, das wissen wir nicht, leider auch nicht nach der heutigen Rede des Bundeskanzlers. ({0}) Frau Merkel hat sich vorhin beschwert, sie fühle sich ge- oder enttäuscht. Dazu kann ich nur sagen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, für so naiv hätte ich sie nicht gehalten. Wir, das heißt die „PDS im Bundestag“, legen zur Bewertung ein übersichtliches Maß an. Unsere Fragen lauten schlicht und nachvollziehbar: Zielt das durch SPD und Bündnis 90/Die Grünen Verabredete auf mehr soziale Gerechtigkeit oder nicht? Zielt es auf eine militärfreie Außenpolitik oder nicht? Zielt es auf eine bürgerrechtliche Innenpolitik oder nicht? Zielt es auf eine nachhaltige Umweltpolitik oder nicht? Zielt es auf eine wirksame Politik für die neuen Bundesländer oder nicht? Sollten Sie in diese Richtungen agieren, dann können Sie mit unserer Zustimmung rechnen. Wenn ich allerdings den Koalitionsvertrag und die heutige Regierungserklärung wäge, dann stelle ich fest, dass Sie überwiegend mit unserem Nein rechnen müssen. In diesem Zusammenhang möchte ich auch etwas anderes klarstellen: Der Abstand der rot-grünen Politik zu dem, was die CDU/CSU will, ist viel geringer, als die Lautstärke, mit der die Opposition zur Rechten heute Weh und Ach geklagt hat, vermuten lässt. ({1}) Am klarsten zeigt sich das wohl, wenn es um die Minimierung der Massenarbeitslosigkeit geht. Beide großen Blöcke des Bundestages verbreiten die Mär von den bösen Lohnnebenkosten, beide großen Blöcke des Bundestages beten den Götzen Wirtschaftswachstum an und beide großen Blöcke des Bundestages stellen letztendlich Betroffene an den Pranger. Das ist nicht modern, das ist unterwürfig. Das sind Ergebenheitsadressen gegenüber globalen Interessen des großen Kapitals; es ist also keine wirkliche Politik. Sie alle wissen, dass es nicht reicht, hier und da ein Steuerschlupfloch zu stopfen oder die eine oder andere Subvention infrage zu stellen. Das alles muss sein, reicht aber nicht aus. Die PDS fordert grundsätzlich ein Umsteuern, politisch und finanziell. Nun will ich hier nicht über die Tobinsteuer reden, sondern nur über die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Den besten Beleg, wie es bei Rot-Grün zugeht, liefert ihr neuer Superminister Clement. Als er noch Landesminister war - das war noch vor wenigen Tagen -, sprach er sich heftig für die Vermögensteuer aus. Nun ist Herr Clement die Bundes-Treppe hinaufgefallen und prompt spricht er dagegen. Die Nagelprobe wird es für Sie im Bundesrat geben: Rot-Rot in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern wollen die Vermögensteuer. ({2}) Ich bin gespannt, wie sich die anderen Bundesländer verhalten werden, und füge hinzu: Die Abstinenz der Bundesregierung in dieser Frage ist nicht klug; sie ist einfach abwiegelnd und feige. Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zu den neuen Bundesländern. Vor zwei Jahren hat der Bundestagspräsident gemahnt, der Osten stehe auf der Kippe. Seither hat sich nicht wirklich etwas zum Besseren gewendet. ({3}) Wir wissen doch alle: Die Vorschläge der viel gepriesenen Hartz-Kommission wären, wenn sie denn eins zu eins umgesetzt würden, pures Gift für den Osten. Dies wären sie aber nicht nur für den Osten, sondern auch für strukturschwache Regionen im Westen, zum Beispiel Oberfranken. Ich vermute, dass Herr Minister Stolpe einen ganz großen Erwartungsdruck im neuen Amt spüren wird. Bislang habe ich von ihm aber nur eine einzige Botschaft gehört und die hieß: Für den Aufbau Ost werden keine Mittel gestrichen. Eine solche Aussage ist für einen bestellten Hoffnungsträger arg wenig bis gar nichts. ({4}) Lassen Sie mich zum Schluss noch ein aktuelles Problem ansprechen, und zwar die Zusage des Kanzlers und des Außenministers, die Bundesrepublik werde sich nicht an einem Irak-Krieg beteiligen. Wenn dieses Nein konsequent sein soll, dann schließt das auch logistische Hilfen aus. Dann verbietet es sich, hoheitliche Rechte der Bundesrepublik an die USA abzutreten. ({5}) Dann erwarte ich eine klare Ansage, dass für Rot-Grün das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mehr gilt als ein konstruierter NATO-Bündnisfall. Der Bundeskanzler ist in seiner Regierungserklärung auch auf den EU-Konvent eingegangen. Die PDS begrüßt es, dass Europa hier aus seinem Schattendasein herauskommt. Ich finde, es soll aber nicht nur, wie der Bundeskanzler heute gesagt hat, ein Europa der Bürger, sondern auch der Bürgerinnen werden. Dazu gehört auch, dass zur europäischen Verfassung 2004 eine Volksabstimmung stattfindet. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen nun zu den Bereichen Europa, Außen- und Sicherheitspolitik, Entwicklungspolitik und Menschenrechte. Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir hier heute über die Zukunft der Außen- und Sicherheitspolitik sprechen, dann handelt es sich, wie ich denke, um eine der ganz großen Herausforderungen, mit denen wir in den kommenden vier Jahren konfrontiert werden. Wir haben es dabei auf der Grundlage der Kontinuität deutscher Außen- und Sicherheitspolitik einerseits mit der Fortsetzung der großen Linien, auf denen die Außenpolitik unseres Landes basiert, zu tun; andererseits müssen wir uns den neuen Herausforderungen, vor allen Dingen aber auch den neuen Bedrohungen stellen. Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede Folgendes unterstreichen: Für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ist es konstitutiv, dass die großen Grundlinien fortgeführt werden. Das bedeutet die Einbindung unseres Landes in den europäischen Integrationsprozess, der in den vor uns liegenden zwei Jahren in der Tat vor großen Herausforderungen steht, die Einbindung in das Transatlantische Bündnis sowie die Pflege des Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten von Amerika und unser auf der historisch-moralischen Verantwortung für unsere Geschichte gründendes Sonderverhältnis zu Israel. Das sind die drei wesentlichen Grundlinien, die die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch unsere Interessenlage bestimmen. Gleichzeitig haben wir es seit dem 11. September letzten Jahres mit einer Situation zu tun, in der wir in der Tat vor einer neuen strategischen Bedrohung unserer Sicherheit stehen, nämlich dem internationalen Terrorismus. Zuerst und vor allen Dingen möchte ich Ihr Augenmerk darauf lenken, dass diese Bedrohung nicht von selbst wieder verschwinden wird. Diese Bedrohung bedarf gewiss einer festen und, wo es notwendig ist, auch militärischen, polizeilichen und geheimdienstlichen Antwort; denn den Terrorismus wird man nicht durch Gespräche besiegen können. Das gilt vor allem für den neuen Totalitarismus, nämlich den islamistischen Terrorismus eines Osama Bin Laden, der den Massenmord, den Tod zum Programm für sich erhoben hat. Diesen wird man niederkämpfen und besiegen müssen. Gleichzeitig können wir erkennen, dass bei dieser Gefahr vier Elemente verknüpft werden. Wenn diese zusammentreffen, bedeutet dies in der Tat eine strategische Bedrohung, die man nicht unterschätzen darf. Ich möchte dies vor allen Dingen am pakistanisch-indischen Konflikt festmachen, weil wir dort diese neue strategische Bedrohung sehr klar erkennen können: Der Konflikt um Kaschmir ist exemplarisch für die zukünftige Sicherheitsbedrohung. Bei diesem finden wir das Element des religiösen Konfliktes; in der europäischen Geistesgeschichte und politischen Geschichte gab es dieses im 16. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Religionskriege. Wir finden das Element der nationalistischen Konfrontation zwischen Nachbarn, also ein Element aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wir finden das Element der Nuklearisierung, der Massenvernichtungsmittel, also ein Element aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Schließlich finden wir ein Element aus dem beginnenden 21. Jahrhundert, nämlich den Terrorismus. Das ist die neue Herausforderung, mit der wir es zu tun haben. Ich habe hier den indisch-pakistanischen Konflikt erwähnt. Die Spur führt direkt zu einem Regionalkonflikt, der seit der Gründung von Indien und Pakistan nicht gelöst wurde, nämlich zu dem Konflikt um Kaschmir. Damit komme ich nicht nur zur Frage, wie wir dieser terroristischen Gefahr in unserer großen Nachbarregion zwischen dem Atlantik und dem Pazifik, der arabischislamischen Welt, begegnen können, sondern gleichzeitig auch zu einer Antwort. Diese Antwort muss aus drei Elementen bestehen: Erstens. Dem Terrorismus muss mit den notwendigen Machtmitteln aktiv entgegengetreten werden. Diese Machtmittel sind aber in den wenigsten Fällen militärischer Natur; sie sind im Wesentlichen polizeilicher und geheimdienstlicher Natur und gründen auf Ermittlungstätigkeiten, die gleichzeitig eine internationale Allianz notwendig machen. Zweitens müssen Regionalkonflikte gelöst werden. Die Regionalkonflikte bergen in sich die große Gefahr, dass sie eskalieren. Diese politische Lösung von Regionalkonflikten ist die entscheidende Voraussetzung, um den Nährboden für Terrorismus trockenzulegen. Drittens. Im Wesentlichen sind es junge Gesellschaften. Diesen müssen wir nicht nur in einem geistigen Dialog begegnen, sondern wir müssen ihnen auch eine kulturelle und geistige Antwort sowie eine ökonomische und politische Perspektive geben. Auf eine umfassende Sicherheitsbedrohung müssen wir mit einer umfassenden Sicherheitsantwort reagieren. Dialog heißt für mich, dass wir nicht nur freundliche Dinge sagen, sondern dass wir auf den Punkt kommen: Lässt sich etwa die Konvention der Menschenrechte mit der Scharia vereinbaren? Diese Frage führt zum Kern des Problems. ({0}) Wenn das alles richtig ist und wenn das die Gefahren sind, wenn es also richtig ist, dass der Status quo am 11. September so erschüttert wurde, dass wir nicht mehr mit ihm leben können, wenn es richtig ist, dass die Lösung von Regionalkonflikten dabei eine essenzielle Voraussetzung ist, und wenn es richtig ist, dass wir verhindern müssen, dass Massenvernichtungsmittel in die Hände von Terroristen geraten, dann - darin liegt die Differenz zur Einschätzung in den USA - frage ich mich allerdings, um es ganz diplomatisch zu formulieren, ob die Prioritätensetzung bezüglich des Irak tatsächlich Sinn macht. Ich komme nämlich zu völlig anderen Konsequenzen. ({1}) Das ist meine große Sorge, die ich der amerikanischen Seite im Übrigen nicht erst während des Bundestagswahlkampfs, sondern bereits während meines ersten Besuchs nach dem 11. September, nämlich am 19. September, mitgeteilt habe. Ich bin nicht der Meinung und glaube nicht daran - unter Partnern muss man das offen aussprechen -, dass diese Prioritätensetzung mit Blick auf das gemeinsam erkannte Bedrohungsszenario richtig ist. Das ist der entscheidende Punkt. ({2}) - Doch, das ist die Kernfrage. ({3}) - Reden Sie sich nicht mit den UN heraus, so wichtig das auch ist. Aber wir müssen Acht geben, dass unsere gute Absicht am Ende keine falschen Konsequenzen nach sich zieht, die die Terrorismusgefahr vergrößern könnten. ({4}) Wir haben es mit einer gefährlichen Region zu tun, bei der ich mir, Herr Kollege Gerhardt, nicht sicher bin, ob die Mehrheit im amerikanischen Kongress und die Mehrheit des amerikanischen Volkes wirklich bereit sind - die USA haben die nötigen Mittel, dort einzugreifen -, dort über Jahre oder vielleicht sogar Jahrzehnte auszuharren, um nach einem Regimewechsel eine neue Nation aufzubauen. Die Konsequenzen, die in dieser Region eintreten würden, wenn die USA nicht dauerhaft vor Ort blieben, möchte ich Ihnen nicht ausmalen. - Das sind unsere Gründe. Darüber werden wir morgen zum wiederholten Male mit unseren amerikanischen Partnern sprechen. Unser Verständnis von Partnerschaft ist, dass man dann, wenn es Differenzen gibt, diese unter frei gewählten, demokratischen Regierungen offen anspricht. Das hat nichts mit einem Gang nach Canossa zu tun. Wir haben ein anderes Verständnis von Bündnis. ({5}) Die zweite große Herausforderung, vor der wir stehen, ist Europa. Die Erweiterung wird konkret. Bei allem, was man am letzten Gipfel im Einzelnen kritisieren mag, bleibt es doch eine Tatsache, dass die Tür definitiv geöffnet wurde. Das heißt, wir werden in Kopenhagen darüber entscheiden, zehn neue Mitglieder aufzunehmen. Das ist ein historischer Schritt, an dem nicht nur diese Bundesregierung, sondern gerade auch die Vorgängerregierung gearbeitet hat, insbesondere der heute dem Haus nicht mehr angehörende damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, den ich deshalb, weil er sich hierbei bleibende Verdienste erworben hat, noch einmal erwähnen möchte. Wir vergeben uns überhaupt nichts, wenn wir an diesen Kontinuitäten festhalten. Für mich aber ist entscheidend, dass damit ein historischer Schritt zum Zusammenführen Europas stattfindet, wie es ihn in der Neuzeit noch nicht gegeben hat. Wenn der Gründungskonsens der war, ein Europa zu schaffen, in dem Nationalismus keine Chance mehr hat, dann ist dieser Schritt, der jetzt in Kopenhagen gemacht wird, ein konsequenter Schritt. ({6}) Dies aber macht notwendig, dass wir die EU der 25 und mehr neu gründen. Diese Neugründung findet im Verfassungskonvent statt. Dieser Verfassungskonvent geht auf eine Initiative dieser Bundesregierung zurück. Dazu kann ich nur sagen: Der Vorschlag, den gestern Giscard als Rahmen gemacht hat, ist ein Vorschlag, der wirklich alle Diskussionen und eine vorurteilsfreie Prüfung verdient. Seien wir doch ehrlich: Hätten wir vor zwei Jahren gedacht, dass wir heute in der Europäischen Union nicht nur am Vorabend der Erweiterung um zehn neue Mitgliedstaaten stehen, sondern gleichzeitig auch die erste Grobstruktur einer europäischen Verfassung auf dem Tisch haben? - Keiner von Ihnen. Das meine ich gar nicht parteipolitisch, Frau Kollegin Merkel. Es wurde gefordert. Aber wir haben es gemacht. ({7}) - Ich habe den Konvent nicht gewollt? ({8}) Sie meinen also, ich hätte den Konvent nicht gewollt. Ich dachte, der Privatmann Fischer habe eine Rede an der Humboldt-Universität gehalten, die zum Konvent geführt habe. ({9}) Diese Initiative haben wir als Bundesregierung gemacht. Ich streite mich gerne mit Ihnen, aber doch nicht über Dinge, die selbstverständlich sind. ({10}) Wir brauchen diese Neugründung Europas. Ich möchte nicht in die Details gehen. Aber für uns - der Bundeskanzler hat das heute in seiner Rede gesagt - ist ganz entscheidend: Im institutionellen Dreieck müssen Kommission, Europäisches Parlament und Rat, wenn es zu Fortentwicklungen kommt - und es muss zu Fortentwicklungen kommen -, gleichgewichtig sein. Was wir nicht wollen, ist ein Rückfall in die Intergouvernementalisierung. Das heißt für uns ganz klar: Wir wollen eine Stärkung der Kommission und eine Klärung der Verantwortlichkeiten zwischen nationaler und integrierter Ebene. Auch wollen wir in diesem Rahmen eine Stärkung des Europäischen Parlaments. Das ist für uns Grundlage unserer Arbeit. Daran werden wir die anderen Vorschläge entsprechend messen. ({11}) Ganz entscheidend wird es aber darauf ankommen, dass wir in diesem Bereich einen deutsch-französischen Konsens erzielen. Wenn er erreicht wird - daran arbeiten wir; das hat das letzte Zusammentreffen des Europäischen Rates gezeigt -, dann wird diese europäische Zukunft in der Tat gestaltet werden können, und zwar nicht unter Ausschluss, sondern unter Einbeziehung der anderen Mitgliedstaaten. ({12}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aus aktuellem Anlass eine Frage kurz im Zusammenhang mit Russland und Tschetschenien ansprechen. Jeder, der meint, er habe dafür eine einfache Antwort, irrt. Ich kann nur davor warnen, die territoriale Integrität der Russischen Föderation infrage zu stellen. Ich meine zwar nicht, dass dies jemand tut; aber wir haben es schließlich mit einer separatistischen Bewegung zu tun. Was ein weiteres Aufbrechen der Russischen Föderation hinsichtlich der Entstehung von Gewalt und Instabilität hieße, muss ich nicht weiter ausführen. Umgekehrt aber entwickelt sich Russland hin zur Demokratie. Die Menschen in Tschetschenien sind russische Bürgerinnen und Bürger und haben Menschenrechte. Diese Menschenrechte müssen in einer Demokratie beachtet werden. Das ist für mich der entscheidende Punkt. ({13}) Ich warne jedoch vor den tschetschenischen Terroristen - mir liegen entsprechende Informationen vor; ein Teil davon ist auch dem einen oder anderen Kollegen bekannt -, die ebenfalls grausamste Menschenrechtsverletzungen begehen. Wenn aber Russland ein demokratischer Rechtsstaat ist, dann muss er die Grundlagen demokratischer Rechtsstaatlichkeit auch und gerade gegenüber unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern, gegenüber den russischen Staatsbürgern der Russischen Föderation in Tschetschenien zum Tragen bringen. Deswegen befinden wir uns in der schwierigen Situation, einerseits Russland als Partner zu haben und diese Partnerschaft fortzuentwickeln, andererseits aber der russischen Seite zu vermitteln, dass Demokratien auch unter schwierigsten Bedingungen an die eigenen Grundregeln und Rechtsstaatsprinzipien gebunden sind. Das macht unseren Umgang mit Tschetschenien bzw. mit der russischen Politik in Tschetschenien aus. Ich kann von dieser Stelle aus nur nochmals an die Verantwortlichen in Russland appellieren, endlich eine politische Lösung herbeizuführen. ({14}) Wer die Geschichte des Kaukasus und Tschetscheniens kennt, weiß, dass dort mit Gewalt letztendlich keine Lösung herbeizuführen ist, sondern dass sie nur zu immer weiteren Blutbädern führen würde. Deswegen ist eine politische Lösung notwendig. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch eines ansprechen. Die Türkei ist direkter Nachbar dieser Krisenregion. Sie ist auch direkter Nachbar der Region, über die ich vorhin gesprochen habe. Es ist abwegig zu meinen wer unsere Position kennt, weiß, dass es abwegig ist -, wir würden als überzeugte Europäer aus Gefälligkeit - deswegen spreche ich es an, Herr Kollege Schäuble; nehmen Sie jedes Wort so, wie es es sage - zum jetzigen Zeitpunkt die Tür öffnen. Wir haben die in Helsinki gefassten Beschlüsse nicht aus Gefälligkeit gegenüber den USA gefasst. Wenn ich in den USA bin - ich würde mich freuen, wenn andere dies genauso tun würden -, führe ich das immer an, um es den amerikanischen Gesprächspartnern zu verdeutlichen. Im Übrigen ist auch an die Kosten zu denken. Gerade der jüngst gefundene deutsch-französische Kompromiss im Zusammenhang mit der Agrarpolitik zeigt, dass das alles nicht kostenneutral zu bekommen ist. Das mache ich den amerikanischen Gesprächspartnern klar. Das ist sehr wichtig. ({15}) - Auf der einen Seite wird gesagt, der deutsch-französische Motor solle laufen - ich frage Sie, was es zum Beispiel Helmut Kohl gekostet hat, diesen Motor immer am Laufen zu halten -, und auf der anderen Seite fragen Sie jetzt: „Haben Sie das auch schon gemerkt?“ - So ist das mit der Opposition. Sie müssen sich aber entscheiden. ({16}) Ich komme zu einem anderen Punkt. Hinsichtlich der Türkei haben wir möglicherweise eine Kontroverse, nicht aber in der Frage, ob wir eine Gefälligkeitsentscheidung zugunsten der USA treffen. Wir haben keine Gefälligkeit zu erbringen. Wir sind gute Partner in der Operation Enduring Freedom im Kampf gegen den Terror. Wir sind uns einig in der Umsetzung der einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrats im Zusammenhang mit dem Irak. Wir sind uns nicht einig in der Bewertung einer Militäraktion. In dieser Frage sind wir unterschiedlicher Meinung und wir werden uns an einer Militäraktion nicht beteiligen. Aber die EU-Mitgliedschaft der Türkei ist eine völlig andere Frage. Ich frage die Union umgekehrt: Sie wissen so gut wie ich, Herr Schäuble, dass Sie, wenn Sie der Türkei die Tür zur Mitgliedschaft verschließen, damit für die zivilen Kräfte in der Türkei und für die Modernisierer seit Kemal Atatürk die Tür schließen; denn Modernisierung in der Türkei bedeutet Orientierung an Europa. Wir wissen, dass die Türkei ein schwieriger Partner ist und dass sie heute die Kopenhagener Kriterien noch nicht erfüllt. Ich bin mir auch nicht sicher, ob die Türkei dann, wenn sie eines Tages diese Kriterien erfüllt, bereit sein wird, den Souveränitätsverzicht zu leisten, den eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union bedeutet und der notwendig ist, um in der Europäischen Union voll integriert zu sein. Aber in einem bin ich mir sicher: Wenn wir das, was Sie wollen, machen würden, dann würden sich die Nationalisten und die Islamisten in der Türkei die Hände reiben. Das wäre das Ende der Modernisierung. Darin bin ich mir sicher. Das und nichts anderes macht unsere Position und die des Bundeskanzlers aus. ({17}) Ich bestreite überhaupt nicht - niemand tut das -, dass es sich bei der Türkei um einen schwierigen Partner handelt. Aber die Schwierigkeiten mit der Türkei wird man nicht durch Wegsehen oder durch einfache Antworten beseitigen können. Denn wenn meine Analyse der strategischen Bedrohung Europas und damit auch unseres Landes durch den islamistischen Terrorismus richtig ist, dann stellt sich die Frage: Gelingt eine laizistische, also weltliche, Modernisierung der Türkei, eines der größten islamischen Länder, auf demokratischer und rechtsstaatlicher Grundlage? Diese Frage ist wichtiger als viele Diskussionen, die wir gegenwärtig im Zusammenhang mit militärischen Optionen bezüglich eines anderen Landes führen; denn wenn es gelänge, die Türkei zu modernisieren, dann hieße das, eine Antwort auf die Frage nach der strategischen Sicherheit der gesamten Region zu geben. ({18}) Für diese Politik steht die jetzige Bundesregierung in der Außen- und Sicherheitspolitik. Ich kann Ihnen nur versichern: Gründend auf den Kontinuitäten, die wir vorgefunden haben, werden wir uns den neuen Herausforderungen stellen und dafür sorgen, dass Deutschland seinen Beitrag in einem zusammenwachsenden Europa, aber auch in einem sich verändernden, gestärkten atlantischen Bündnis leisten wird. Ich danke Ihnen. ({19})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist Dr. Wolfgang Schäuble, CDU/ CSU-Fraktion.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesaußenminister, Sie sind geübt, wenn es darum geht, von den eigentlichen Problemen abzulenken. ({0}) - Darauf komme ich noch zu sprechen. Lassen Sie mich wenigstens zwei Sätze im Zusammenhang sagen, bevor Sie dazwischenrufen. Das eigentliche Problem ist doch nicht, dass man nicht darüber reden kann, welches die angemessene Antwort auf die terroristische Bedrohung ist, dass man mit den Vereinigten Staaten von Amerika nicht darüber reden kann, welches die richtige Politik ist, und dass es unterschiedliche Meinungen gibt. Sie entwerfen ja ein Zerrbild von den Vereinigten Staaten von Amerika. Das eigentliche Problem der letzten Monate ist doch vielmehr Folgendes gewesen - ich lese Ihnen einmal vor, was KleineBrockhoff und Thumann in der Ausgabe der „Zeit“, die in der Woche nach der Bundestagswahl erschienen ist, unter der Überschrift „Das Gift der Gerd-Show“ geschrieben haben; die Autoren sind auch sicherlich keine Kettenhunde -: Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hat eine große Volkspartei Wahlkampf mit kernig antiamerikanischen Parolen geführt. Zum ersten Mal seit 1945 hat ein Bundeskanzler amerikanische Politiker angegriffen und dafür auf den Marktplätzen tosenden Beifall erhalten. Zum ersten Mal hat eine deutsche Ministerin den amerikanischen Präsidenten - wie verklausuliert auch immer - mit Adolf Hitler verglichen. Das ist das Problem gewesen. ({1}) Es geht auch nicht um die Frage, ob der Irak die richtige Priorität ist. Darüber kann man diskutieren. Das Problem ist vielmehr, dass wir, wenn wir den Gefahren des 21. Jahrhunderts, denen wir durch neue Formen der Bedrohung ausgesetzt sind - asymmetrische Kriegsführung und Terrorismus klingen in meinen Ohren wie eine halbe Privatveranstaltung; die asymmetrische Kriegsführung ist angesichts der Tatsache, dass sich alles miteinander vermischt, viel komplizierter geworden -, begegnen wollen, unsere Bemühungen um die internationale Solidarität, und zwar sowohl um die atlantische als auch um die europäische, verstärken müssen. Darauf sind wir auf Gedeih und Verderb angewiesen. Deswegen geht es nicht um Meinungsfreiheit - die braucht man gegenüber den Amerikanern nicht zu verteidigen -, sondern um europäische Geschlossenheit, atlantische Solidarität und die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen. Diese haben Sie schwer geschädigt und das war der Fehler. ({2}) Daran können Sie nicht vorbeireden. In vielem sind wir ja gar nicht unterschiedlicher Meinung. Über die Einzelheiten wird man in den kommenden Jahren weiter diskutieren. In den Diskussionen wird es darum gehen, wie wir ein großes und starkes, ein handlungsfähiges, ein effizienteres Europa zustande bringen, wie wir die Rolle Europas in globaler Verantwortung, in atlantischer Partnerschaft stärken, sodass europäisches Engagement keine Alternative zu atlantischer Solidarität ist, weil wir die atlantische Partnerschaft nur wirkungskräftig erhalten werden, wenn das Ungleichgewicht zwischen dem amerikanischen Teil und dem europäischen Teil nicht immer größer wird, wenn die Europäer einen stärkeren Beitrag leisten, mehr mit einer Stimme sprechen, mehr Fähigkeiten haben. Das alles ist richtig. Aber in den letzten Monaten haben Sie Europa in der entscheidenden Frage handlungsunfähig gemacht, indem Sie Europa durch Ihren Alleingang blockiert haben. ({3}) Es geht nicht um unterschiedliche Meinungen. Die Christlich-Demokratische Union, CDU und CSU haben in diesem Wahlkampf vom ersten Tag an gesagt: Wir treten dafür ein - das ist nicht die Position aller Amerikaner -, dass wir nur auf der Grundlage von Beschlüssen der Vereinten Nationen und nur im Rahmen von Beschlüssen der Vereinten Nationen handeln. Aber Sie haben gesagt: Was immer auch die Vereinten Nationen beschließen, wir jedenfalls werden uns nicht beteiligen. ({4}) Das war der Alleingang, die Isolierung Deutschlands, und das war ein Fehler. ({5}) Dafür zahlen wir einen erheblichen Preis. Zunächst einmal haben Sie im Wahlkampf natürlich Ihre eigenen Anhänger getäuscht. Wir werden das noch sehen, Fortsetzung folgt in diesem Theater. Das Mandat Enduring Freedom wird zum 15. November verlängert werden müssen. Dann wird Ihr Verharmlosungsmanöver, für das es sehr gute Gründe gibt, aber man muss es so nennen, deutlich werden. Es täuscht die Menschen in unserem Lande über den Ernst der Lage. Wenn Sie von Afghanistan reden, sprechen Sie immer nur von dem Beitrag, den die Bundeswehr aufgrund der Beschlüsse, die auf dem Petersberg gefasst wurden, leistet. Sie reden überhaupt nicht über den Beitrag, den die Soldaten der Bundeswehr - KSK heißt die Einheit - im Rahmen des Mandats von Enduring Freedom leisten. Sie tun so, als wären Sicherheitspolitik und Kampf gegen den Terrorismus nur eine Art von Friedensarbeit und polizeilicher Tätigkeit. Nein, es ist ein hochgefährlicher Beitrag, den die Soldaten der Bundeswehr leisten. ({6}) Das muss ausgesprochen werden, sonst wird der Dank unehrlich. Wir unterstützen den Dank und haben großen Respekt, aber wir sind dagegen, die Bevölkerung über die wirkliche Bedrohung und die wirklichen Gefahren zu täuschen. ({7}) Mit dem, was Sie zum Problem Tschetschenien gesagt haben, stimmen wir weitgehend überein. Das ist ja überhaupt in vielem so, Herr Bundesaußenminister. Sie haben die lange Linie der Kontinuität deutscher Außen- und Sicherheitspolitik erwähnt, die von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl gut gewesen ist. Wir haben Sie in der vergangenen Legislaturperiode in den Grundfragen von Außen- und Sicherheitspolitik mehr unterstützt als die Regierungsparteien. Sie konnten sich auf die Opposition eher verlassen als auf Ihre eigenen Reihen. Das ist doch die Wahrheit. ({8}) Aber Sie haben diese Gemeinsamkeit im Wahlkampf einseitig verraten. Auch das ist die Wahrheit. Wenn Sie zu dieser Gemeinsamkeit zurückkehren, werden wir unsere Verantwortung weiterhin wahrnehmen. Aber es bleibt dabei, dass Sie aus reinen Wahlkampfinteressen die Grundlinien, die Verantwortung, die Kontinuität deutscher Außen- und Sicherheitspolitik in diesem Wahlkampf verraten haben. Dafür zahlen wir einen hohen Preis. Zum Thema Tschetschenien gehört für mich schon, dass man sagt: Es braucht politische Lösungen und Russland muss auf dem Weg zum Westen und zur Demokratie diese Anforderungen für sich gelten lassen. Man muss übrigens hinzufügen: Solch schreckliche Erfahrungen wie die der letzten Tage machen uns im Westen gelegentlich ein bisschen weniger selbstsicher. Wir müssen vielleicht erkennen, dass wir Fragen, die wir bei Problemen an andere stellen, gelegentlich mit den Augen anderer sehen und auch für uns gelten lassen müssen. Wir brauchen also in jedem Fall politische Lösungen und repressive Maßnahmen zugleich. Das andere muss aber auch klar sein: Was immer die politischen Konflikte auf dieser Welt sein mögen, es geht nicht an, dass unschuldige unbeteiligte Menschen, ob im World Trade Center in New York oder im Theater in Moskau, von irgendwelchen Irregeleiteten getötet oder als Geiseln genommen werden. Die Welt muss zusammenstehen, um so etwas zu unterbinden. ({9}) Da darf es keine Alleingänge geben; denn damit schwächen wir die internationale Gemeinschaft, die Gemeinschaft der zivilisierten Welt. Da lag Ihr Fehler. ({10}) - Sie schwächen die Vereinten Nationen, wenn Sie sagen: Was immer auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschließt - wir machen jedenfalls nicht mit. Der deutsche Weg, von dem der Außenminister jetzt nach der Wahl sagt „Vergessen Sie es!“ - vor der Wahl hat der Bundeskanzler den deutschen Weg gepredigt -, ist nichts anderes als das Wiederaufleben des alten „Ohne mich“Standpunkts aus der Frühzeit der Bundesrepublik Deutschland. ({11}) Sie haben gefährliche Ressentiments angesprochen, Herr Bundeskanzler. Sie werden dafür einen hohen Preis bezahlen. Die Geister, die man ruft, wird man oft nicht wieder los. Das ist nicht nur beim „Zauberlehrling“ so. ({12}) - Wir werden sehen. Der Herr stellvertretende Fraktionsvorsitzende Ströbele hat in der vergangenen Woche schon in einer bemerkenswerten Weise zwischen den einzelnen Bundeswehreinsätzen unterschieden. All das wird uns begleiten. Ich will Ihnen zu dem Thema Türkei Folgendes sagen: Wir haben schon den Verdacht, dass die Veränderung der Position, was die Mitgliedschaft der Türkei anbetrifft - das klang in den Äußerungen des Bundeskanzlers vor der Wahl ganz anders als in der letzten Woche -, ein Teil des Preises ist, den man bezahlen muss. Ich will Ihnen deshalb sagen, was unsere Meinung in Sachen Türkei war und noch immer ist. Wir haben ein großes Interesse daran, dass die Türkei untrennbarer Bestandteil des Westens bleibt. ({13}) - Natürlich, Frau Roth; da ist überhaupt kein Unterschied; ich stelle gerade unsere Position dar. Dass die Türkei in einer möglichst engen Beziehung zu Europa bleiben soll, ist völlig unstreitig. Unsere Vorstellung von dem, was die Europäische Union ist und noch werden soll, ist die einer handlungsfähigen politischen Einheit auf der Grundlage gemeinsamer Identität; denn freiheitliche Organisation bekommt man nicht ohne eine hinreichende Grundlage an Identität, Zusammengehörigkeit und gemeinsamen Werten. Unsere Vorstellung von der Europäischen Union - dazu gibt es unterschiedliche Meinungen in Deutschland und auch unter unseren Partnern in Europa - ist die einer politischen Identität der Europäischen Union. ({14}) Das heißt dann aber auch, dass man genauer prüfen muss, ob diese Europäische Union nicht auch Grenzen braucht, ob man für solche Länder, die zum Teil zu Europa gehören, zum Teil aber eben auch nicht - Russland ist ein solches Land; Sie haben mich ausgelacht, als ich vor ein paar Jahren die Parallele gezogen habe; heute lacht niemand mehr -, in deren Interesse - auch die Türkei braucht ihre eigene Identität für ihre Stabilität und ihre Zukunftschancen - nicht besser eigene Formen der Zugehörigkeit zu Europa vereinbart. - Das ist unsere Position. Das ist nicht Türzuschlagen, sondern das ist der bessere Weg. ({15}) Die Europäische Union und auch schon die Europäischen Gemeinschaften haben, wenn ich es richtig weiß, der Türkei seit 1964, also seit 38 Jahren - das waren nicht immer Sie, Herr Bundeskanzler Schröder, und Ihre Regierung; es waren auch schon andere -, die Perspektive einer vollen Mitgliedschaft in der Europäischen Union angeboten. ({16}) - Ja, 1964. So lang ist das her. - Deswegen sage ich: Die Lösung, von der ich rede, können wir nicht der Türkei oktroyieren. Wir sollten offen und ehrlich und im Hinblick auf das gemeinsame Ziel mit der Türkei darüber sprechen, ob das nicht im gemeinsamen Interesse der bessere Weg ist. Das ist ehrlicher, als eine Debatte zu führen, bei der es im Grunde nur nach dem Motto geht: Jetzt ist die Bundesregierung dafür - in der Hoffnung, dass in Kopenhagen genügend andere dagegen sein werden, damit nichts vorankommt. Die Türkei hat doch längst begriffen, dass ihr immer die Wurst hingehalten und dann wieder weggezogen wird. So darf man mit der Türkei nicht umgehen. ({17}) Herr Bundeskanzler, ich glaube im Übrigen, dass über Ihre Regierungserklärung schon deswegen wenig zu sagen ist, weil sie wenig enthalten hat. Ich habe mir immer wieder die Frage gestellt: Was machen Sie aus diesem nichts sagenden Koalitionsvertrag in Ihrer heutigen Regierungserklärung? Sie sind mit Ihrer Regierungserklärung wirklich noch unter dem Niveau des Koalitionsvertrages geblieben. ({18}) Es war wirklich nichtssagend. Was überhaupt gefehlt hat - ich glaube, das wird wichtiger werden -, war, den Menschen in unserem Lande zu erklären, wie wichtig es ist, dass wir außenpolitische Verantwortung, außenpolitische Interessen, sicherheitspolitische Interessen und Risiken ernst nehmen. Wenn wir den Menschen einreden: „Wir haben so viele Probleme, dass wir uns nicht auch noch um andere kümmern können; denn wir haben mit uns selbst schon genug zu tun“, dann werden wir die Reformkräfte in unserer Gesellschaft nicht stärken. Ein Volk, das zu Introvertiertheit neigt, weil es glaubt, es habe so viele eigene Sorgen, dass es sich nicht auch noch um die der anderen kümmern könne, und weil es glaubt, dass die Bedrohung nicht so groß werde, wenn es sich in der Nische verstecke, wird eher Besitzstände verteidigen. Wir müssen aber mehr Besitzstände auf den Prüfstand stellen. Ich hätte mir deshalb in Ihrer Regierungserklärung eine realistische Bedrohungsanalyse gewünscht. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie darstellen, worin deutsche Interessen und deutsche Verantwortung eigentlich bestehen und was im Zusammenwirken zwischen Außenpolitik, Entwicklungspolitik und Sicherheitspolitik notwendig ist, damit wir, unsere Kinder und unsere Enkel in sicherem Frieden leben können. Der jetzige Friede ist nämlich bedroht; der Terrorismus bedroht auch uns. Wir leisten nicht nur Solidarität mit den Amerikanern - darauf weisen Sie zur Begründung von Enduring Freedom gelegentlich hin -, sondern wir nehmen auch unsere eigenen Interessen, unsere eigene Verantwortung wahr. Das muss gesagt werden. ({19}) Sie werden ganz schnell erkennen, dass die Art, wie Sie mit der Bundeswehr umgehen, völlig unverantwortlich ist. ({20}) Auch das will ich Ihnen schon an dieser Stelle sagen. Verehrter Herr Struck, als Sie Verteidigungsminister wurden, haben Sie erst einmal nur Wahlkampf gemacht. Ihre Verantwortung als Verteidigungsminister haben Sie erst nach der Wahl entdeckt. Sie werden die Probleme der Bundeswehr noch nicht einmal im Ansatz lösen können, wenn Sie den Weg fortsetzen, der Bundeswehr immer mehr Aufgaben aufzubürden, auch wenn Sie mittlerweile den Weizsäcker-Bericht, in dem von einer realistischen Bedrohungsanalyse die Rede war, entdeckt haben, was Sie zumindest verbal zum Ausdruck bringen. Ein Preis, den wir für Ihre antiamerikanischen Entgleisungen zahlen müssen, ist, dass Sie das deutsche Engagement in der afghanischen Hauptstadt, in Kabul, durch Übernahme der Führung der internationalen Schutztruppe stärken wollen. Das würde uns noch teurer zu stehen kommen. Es stellt sich übrigens die Frage, worin, was die Sicherheit anbetrifft, die höchste Priorität besteht. Sie haben kein Wort zum NATO-Gipfel in Prag gesagt. Was ist eigentlich mit dem amerikanischen Vorschlag im Hinblick auf eine schnelle Eingreiftruppe? Wollen Sie Deutschland - Frau Merkel hat Sie das gefragt auch auf dem NATO-Gipfel in die Isolierung führen? Was ist eigentlich mit der Umsetzung des richtigen Beschlusses von Helsinki? Ich denke an die europäische Sicherheitskomponente und die 60 000 Mann. Für nichts ist die finanzielle Grundlage da. ({21}) Jetzt wird der Bundeswehr die halbe Milliarde Euro schon wieder entzogen, die ihr aufgrund der Steuererhöhungen, die Sie nach dem 11. September 2001 beschlossen haben, zukommen sollten. So wird die Bundeswehr ihre Aufgaben nicht erfüllen können. So werden wir unserer Verantwortung gegenüber den Soldaten und gegenüber der Zukunft zu wenig gerecht. ({22}) Sie haben von den Leitlinien der deutschen Außenpolitik gesprochen. Wir haben diese Leitlinien in den Jahren, in denen wir in der Opposition waren, mitgetragen. Wir werden das auch weiterhin tun. Diese Regierung hat im Zweifel ohne jede Verantwortung und gewissenlos die Interessen der Bundesrepublik Deutschland den Wahlkampfgesichtspunkten untergeordnet. ({23}) - So war der Wahlkampf. Ich könnte Ihnen stundenlang entsprechende Zitate vorlesen. ({24}) Wir werden die Alternative zu einer solchen Regierung sein, eine Alternative der Verlässlichkeit und der Berechenbarkeit. Wir haben in der Endphase der Regierung Schmidt gegen die Linke atlantisches Engagement und Solidarität vertreten. Die Menschen in unserem Lande und unsere Partner in der Welt können sich darauf verlassen, dass die CDU auch in der Endphase der Regierung Schröder die Alternative bleiben wird, die für Verlässlichkeit und Berechenbarkeit steht. ({25})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Gernot Erler, SPD-Fraktion.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Internationale Politik ist nicht mehr etwas Fernes, von der Innenpolitik Abgetrenntes. Internationale Politik hat Auswirkungen auf unser Alltagsleben, sie dringt regelrecht in unsere Lebenswelt ein. Das haben wir mehr als bisher nach dem 11. September, bei den Vorgängen auf Djerba, in Bali und jetzt bei der Tragödie in Moskau erfahren. Dies hat uns gelehrt: Globalisierung spielt sich nicht nur auf den Finanzmärkten und in der Ökonomie ab; Globalisierung heißt auch: Kein Konflikt auf dieser Welt ist mehr so fern, dass er uns unberührt lässt. Jeder Konflikt kommt in irgendeiner Weise bei uns an, kann unsere Sicherheit beeinträchtigen, kann uns sogar zu einem anderen Leben zwingen. Die Trennung von Innen- und Außenwelt wird tendenziell gegenstandslos. Sie hebt sich von allein auf. In den nächsten vier Jahren wird viel davon abhängen, ob wir in unserem Denken und Handeln mit dieser Entwicklung Schritt halten. Herr Kollege Schäuble, es tut mir Leid, dies sagen zu müssen: Mit dem Auskippen eines Zettelkastens, in dem nur die Schablonen des Wahlkampfs enthalten sind, werden Sie diesem Anspruch von Politik wirklich nicht gerecht. ({0}) Wir, die SPD-Bundestagsfraktion und die Koalition, werden uns der Aufgabe stellen, die Innovationsforderung über die Gesellschaftspolitik hinaus auch für die internationale Politik zu stellen, und zeigen, dass wir dieser Herausforderung gerecht werden. Hier fangen wir nicht bei Null an. In den letzten Jahren hat es in Europa bereits wichtige Lernprozesse gegeben. So wissen wir, dass Europa in der Praxis eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik braucht und auch Instrumente, sowohl zivile als auch militärische, um diese Politik umzusetzen. Mit Trauer und Zorn blicken wir darauf zurück, dass Europa nicht imstande war, in den der 90er-Jahren vier blutige Kriege auf europäischem Boden zu verhindern. Aber Europa hat die Kraft zu einer umfassenden Integrationsstrategie entwickelt: mit dem Instrument des Stabilitätspakts für Südosteuropa und mit der Stabilisierungsund Assoziierungsstrategie gegenüber den Ländern, die bisher nicht an dem europäischen Integrationsprozess teilgenommen haben. Im Fall Mazedoniens gelang schließlich erstmals die Verhinderung einer weiteren blutigen Katastrophe in unserer Nachbarschaft. Das war der Erfolg einer Präventionspolitik, die primär auf Diplomatie, auf Verhandlungen, aber ohne Ausschluss einer Sicherheitskomponente, setzte. Wir haben in der letzten Woche darüber gesprochen. Herr Kollege Schäuble, wenn ich Sie noch einmal ansprechen darf: Ich habe, ehrlich gesagt, nicht begriffen, warum letzte Woche vier Kollegen aus Ihren Reihen mit Nein gestimmt und sich sechs der Stimme enthalten haben, als es darum ging, diese wichtige und erfolgreiche Mission fortzusetzen. ({1}) Mitten in den Erfolg einer regionalen Prävention, wie sie in Mazedonien stattgefunden hat, platzte dann der 11. September 2001. Dies war ein Schock nicht nur wegen der Zahl der Opfer, sondern auch, weil die bisherigen Antworten für diese Herausforderung neuer Dimensionen offensichtlich ungeeignet waren. So waren die 13 Monate nach dem 11. September ein neuer, schwieriger Lernprozess für uns alle. Ich behaupte, dass sich bei der Beantwortung der Herausforderungen der Nach-SeptemberWelt allmählich so etwas wie ein europäisches Modell für eine neue internationale Politik herausstellt, durchaus in Parallele zu jenem europäischen Gesellschaftsmodell, von dem heute Vormittag der Bundeskanzler gesprochen hat. Das Nachdenken über ein solches europäisches Modell ermöglicht uns auch eine bessere Einordnung bestimmter aktueller Dissenspunkte in der internationalen Politik. Ich bin sicher, hinter dem internationalen Ringen darüber, ob es richtig ist, jetzt mit militärischen Mitteln das Regime Saddam Hussein zu beseitigen, steckt mehr als eine unterschiedliche Bewertung in einer Einzelfrage. Hier geht es letztlich um die Grundausrichtung der internationalen Politik in der Nach-September-Welt. Dabei gibt es viele transatlantische Gemeinsamkeiten - ich begrüße das -, aber eben auch einige besondere europäische Ansätze, für die wir werben und die es in unseren Augen wert sind, diskutiert zu werden. Ich sehe in diesem Zusammenhang fünf wichtige Komponenten des europäischen Modells: Als Erstes ist die Notwendigkeit der weiteren unmittelbaren Verfolgung der Mitglieder von Terrornetzwerken zu nennen. Es hat hier ja Erfolge gegeben, auch militärische. Wir müssen aber feststellen: Die Netzwerke sind immer noch handlungsfähig. Wichtige Führer wie Bin Laden und Mullah Omar sind immer noch nicht gefasst. Deswe100 gen haben im europäischen Modell die Aufrechterhaltung und Stärkung der großen politischen Koalition gegen den Terrorismus höchste Priorität. Diese ist, Herr Schäuble, eben nicht nur eine transatlantische Veranstaltung, sondern bezieht ihre Wirksamkeit gerade daraus, dass die große Mehrheit der arabischen und moslemisch geprägten Staaten daran teilnimmt. ({2}) Es ist notwendig, die Arbeitsfähigkeit dieser großen Koalition zu erhalten. Weiterhin brauchen wir die Zusammenarbeit der Polizei und der Dienste und auch militärische Zusammenarbeit. Jede Gefährdung dieser Koalition, egal wodurch, gefährdet auch den Erfolg im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Die zweite Komponente, die ich hier nennen möchte, kann man mit dem Stichwort „Testfall Afghanistan“ beschreiben. Afghanistan ist ein exemplarischer Fall. Afghanistan entscheidet darüber, ob wir bei den Menschen Vertrauen gewinnen, die gegen Taliban und al-Qaida aufgestanden sind. ({3}) Das deutsche Engagement in Form von humanitärer Hilfe, beim Post-Taliban-Prozess in Form der PetersbergKonferenz und jetzt vor Ort beim Wiederaufbau, beim Bau von Schulen, bei der Schaffung von Voraussetzungen für Gleichberechtigung, beim Bau einer Polizeiakademie und bei der dort schon angelaufenen Ausbildung von Polizisten, das finanzielle und militärische Engagement bei ISAF - all das machen wir nicht planlos, sondern dahinter steckt die Überzeugung, dass wir diesen Testfall gewinnen müssen. Dahinter steht die Einsicht, dass das richtig ist, was uns an dieser Stelle hier Kofi Annan, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, über nachhaltige Friedensstrategien, über „sustainable peace“, gesagt hat. Afghanistan ist der Testfall. Deswegen hat es aus unserer Sicht oberste Priorität, diese Mission zum Erfolg zu führen. ({4}) Die dritte Komponente besteht in der neuen Einsicht, welche Bedeutung regionalen Konflikten zukommt. Joschka Fischer hat hier schon über den Nahen Osten gesprochen. Bin Laden hat sich ja immer auf die Demütigung der Palästinenser bezogen, wenn er irgendeine Legitimation für sein Handeln anführen wollte. Der KaschmirKonflikt ist erwähnt worden. Man könnte hinzufügen, dass uns in den letzten Tagen noch einmal in Erinnerung gebracht und deutlich gemacht worden ist, welche Gefahren von dem ungelösten Tschetschenien-Konflikt ausgehen. Aber all diese Konflikte sind doch nicht nur auf terroristische Gewalt zurückzuführen, sondern aus ihnen gehen auch zu allem bereite terroristische Potenziale hervor. Deshalb muss es oberste Priorität in der internationalen Politik sein, diese regionalen Konflikte zu analysieren und zu lösen. Es dürfen nicht neue Schauplätze eröffnet werden, sondern dort muss mit dem Kampf gegen den Terrorismus angefangen werden. ({5}) Die vierte Komponente des europäischen Modells stellt die Einsicht dar, welche bedeutende Rolle der regionalen Stabilität zukommt. In Amerika sind Forscher zu der Erkenntnis gekommen, dass „failing states“, „failed states“ und No-go-Areas - das heißt, das Verschwinden von staatlicher Autorität auf großen Teilen unseres Globusses - die Privatisierung von Gewaltanwendung und Rechtlosigkeit zur Folge haben und im Grunde genommen die Voraussetzung für die Entwicklung von Terrorismus darstellen. Deswegen ist ein solches Verschwinden von staatlicher Kontrolle schon aus sicherheitspolitischen Gründen nicht hinnehmbar. Die Antwort muss doch sein, dass wir uns mehr bei der Etablierung von Stabilitätsregimen engagieren. Wir haben unsere Erfahrungen damit auf dem Balkan gemacht; ich habe den Stabilitätspakt schon angesprochen. Das Gleiche ist notwendig in der Region Afghanistan, in der Region Kaukasus, in Zentralasien und ganz besonders in Afrika. Wir haben doch nicht vergessen, was 1993 in Somalia passiert ist. „Restore Hope“ hieß die Mission dort. Dann, ganz plötzlich, nach einigen Verlusten, zog sich nicht nur Amerika, sondern die ganze westliche Welt zurück. Heute ist das genau eine solche Region eines „failing state“ und wir wissen ganz genau, dass dort die gefährlichsten Entwicklungen ablaufen. Deswegen wird ja auch darüber diskutiert, dort militärisch zu intervenieren. Das zeigt, welche Bedeutung regionale Stabilitätsregime im Kampf gegen den Terrorismus haben. Schließlich die fünfte Komponente: Kampf um eine gerechtere Weltordnung. Dort wo die Verteilung von Lebenschancen und materiellen Gütern zu Verbitterung, Demütigung und Marginalisierung führt, entstehen Biotope für Extremismus und Terrorismus. In der langen Linie bekommen Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit dadurch eine ganz andere Bedeutung. Sie werden zu einem zentralen Instrument der internationalen Sicherheitspolitik. Das ist die Bedeutung auch der Festlegung in unserem Regierungsprogramm auf die Fortsetzung der Antiarmutspolitik, der Entschuldungspolitik, der Politik gegen Seuchen, besonders der Ausbreitung von Aids in Afrika, und der Festlegung auf das Ziel von 0,33 Prozent bis zum Jahre 2006, die der Bundeskanzler heute noch einmal bestätigt hat. Das wird die SPD-Bundestagsfraktion wegen des genannten Zusammenhangs sehr aufmerksam und sehr engagiert begleiten. ({6}) Das ist übrigens auch immer mehr europäische Politik und ein wesentliches Element dieses europäischen Modells. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese fünf Komponenten weisen in der Tat einen Weg über vier Jahre hinaus, einen Weg, der uns von der regionalen Prävention zu der Notwendigkeit des Aufbaus einer globalen, strukturellen Prävention führen wird, und zwar im Sinne einer Gesamtstrategie in der Nach-September-Welt. Das ist ein großer Anspruch, ein großes Ziel. Man kann auch sagen: Das ist eine Vision. Aber am Anfang eines neuen vierjährigen Auftrags ist wohl auch die Gelegenheit, einmal über so etwas zu reden. Wann denn eigentlich sonst? Über dieses Politikmodell, über diese Gesamtstrategie wollen wir auch mit denen reden, die andere Modelle, andere Visionen haben. Transatlantische Partnerschaft kann nicht heißen, dass der Schwächere irgendwann doch dem Stärkeren nachgibt, ohne überzeugt zu sein. Transatlantische Partnerschaft kann nicht heißen, dass alle schon aufatmen, wenn erwachsene Menschen mit anderen erwachsenen Menschen erwachsen umgehen, indem sie sich, wenn sie sich begegnen, wieder die Hand geben. Transatlantische Partnerschaft, wenn sie den Anspruch auf Verantwortungspartnerschaft überzeugend vorbringen will, heißt, dass wir über unterschiedliche Politikmodelle, unterschiedliche Vorstellungen von einer stabilen und Sicherheit produzierenden Weltordnung ernsthaft diskutieren vor dem Hintergrund beiderseitig pluralistischer Gesellschaften - das gilt zum Glück für Amerika wie auch für Europa -, und zwar mit dem Ziel, das, was Konsens ist, auszuweiten und zur Grundlage gemeinsamen Handelns zu machen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt, FDP-Fraktion.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion und auch ich selbst diskutieren gerne über umfassende Sicherheitsbegriffe und über die Traditionslinien deutscher Außenpolitik. Wir teilen auch die Auffassung in Bezug auf die detaillierte Schilderung der Elemente des Kaschmir-Konflikts, die der Außenminister hier genannt hat. Ich habe ferner Teilen der Rede des Kollegen Erler mit Vergnügen zugehört. Allerdings frage ich mich, wieso bei dieser Einschätzung und angesichts der Kompliziertheit der internationalen Lage sowie der Notwendigkeit, die Situation umfassend zu beurteilen, ausgerechnet der deutsche Bundeskanzler im Wahlkampf vom „deutschen Weg“ gesprochen hat. Das ist unbegreiflich. ({0}) Das ist auch intellektuell unbegreiflich. Was ist der „deutsche Weg“ angesichts der internationalen Zusammenhänge, der Aufgaben der Nation-Bildung, der regionalen Sicherheitsstrukturen, die wir herausbilden müssen, sowie des Kommunikationsangebots, das die Europäische Union anderen weltweit unterbreitet? Vom „deutschen Weg“ zu reden ist absurd. Eine Opposition, die ernst genommen werden will, muss darauf zurückkommen. Die Rede vom „deutschen Weg“, der vor der Wahl angeboten, auf Marktplätzen allen verkauft und vom Außenminister fünf Minuten nach der Wahl mit dem Hinweis „Forget it“ wieder eingesackt wurde, ist der größte außen- und sicherheitspolitische Wahlbetrug, den sich eine Bundesregierung in der Geschichte des Landes je erlaubt hat. ({1}) Herr Kollege Erler und Herr Außenminister Fischer, wir wollen nicht um folgende Tatsache herumreden - wir werden uns in den entsprechenden parlamentarischen Debatten ja wiedersehen -: Sie haben bis heute die IrakFrage nicht abschließend und klar beantwortet. ({2}) Wenn Saddam Hussein am Ende Inspektoren nicht ins Land lässt, wenn Beweise vorgelegt werden, dass er Massenvernichtungswaffen entwickelt, und wenn sich die Weltgemeinschaft mit Sicherheitsratsbeschluss, also mit Zustimmung Frankreichs, Russlands, Chinas und anderer, entschließt, dagegen vorzugehen und vorgehen zu müssen, um Menschen zu schützen, werden Sie eines Tages gezwungen sein - das sage ich Ihnen voraus -, im deutschen Parlament vorzutragen, dass wir doch nicht umhinkommen - wenn wir schon nicht Soldaten entsenden -, Logistik und medizinische Hilfsmaßnahmen anzubieten. ({3}) Natürlich würden wir die Spürpanzer zum Schutz der amerikanischen Soldaten in Kuwait belassen. Sie wissen das. Sie wissen auch - das wussten Sie schon vor der Wahl -, dass Sie eines Tages ein solches Eingeständnis möglicherweise würden machen müssen. Mit dem, was Sie getan haben, schädigen Sie die Glaubwürdigkeit der deutschen Außenpolitik in einem unerträglich hohen Maß. Das muss einfach angesprochen werden. ({4}) Ein zweiter Sachverhalt. Herr Außenminister, natürlich freuen wir uns alle, dass jetzt das Tor zu einem Akt der Wiedervereinigung Europas aufgestoßen wird. Wir wissen, dass das nicht kostenlos zu haben ist. Ich möchte ein kleines Plädoyer für ein Mindestmaß an Handwerkszeug in der Politik halten. Dass das deutsch-französische Verhältnis als europapolitischer Motor in den letzten Jahren geradezu ausgefallen war, konnten Sie vor niemandem verbergen. Unterlassen Sie es daher bitte, die Tatsache als Großtat zu feiern, dass sich der Bundeskanzler bei dem Kompromiss zur Agrarpolitik mit dem französischen Präsidenten bei den realen Ausgaben und Obergrenzen in einer Höhe von 6 Milliarden Euro - und das mit steigender Tendenz - vertan hat. Da hilft auch der Hinweis auf den Dolmetscher nicht. Damit können Sie Ihre Koalitionsvereinbarung zur Agrarpolitik vergessen. Die Umstellung wird nicht gelingen, weil sie nicht finanzierbar sein wird. Diese Vorgänge lassen schlicht und einfach das notwendige Handwerkszeug vermissen. Sie gehen in ein Gespräch und verwechseln eine Summe von 6 Milliarden Euro, eine Summe, die ab 2007 eine steigende Tendenz aufweisen wird. ({5}) Ich weise deshalb darauf hin, weil wir uns die Verbesserung des deutsch-französischen Verhältnisses so nicht vorgestellt haben. Das ist ein äußeres Zeichen eines inneren Zustandes. Sie bereiten sich nicht mehr anständig auf solche Gespräche vor. Sie nehmen sich zu wenig Zeit, mit den französischen Nachbarn zu sprechen. ({6}) Wir haben das schon in der außenpolitischen Debatte erlebt, was den Irak betraf. Sie bereiten die Gipfel nicht vernünftig vor. Das ist nicht der erste Vorgang dieser Art. Der Berliner Gipfel sollte sich mit Finanzierungsfragen und der Gipfel von Nizza mit Entscheidungsabläufen und Mehrheitsentscheidungen beschäftigen. Der Konvent muss nun die notwendigen Reparaturarbeiten übernehmen. Jetzt passiert es zum dritten Mal, dass europäische Entscheidungen von Ihnen nicht in ausreichendem Maße vorbereitet wurden. Uns reicht es nicht, dass Sie uns von weiten Reisen berichten, oder über internationale Zusammenhänge der Außenpolitik informieren. Sie müssen das kleine Einmaleins auch umsetzen. In der Europapolitik verlangen wir dieses Mindestmaß. ({7}) Ein dritter Gesichtspunkt. Kollege Schäuble hat schon danach gefragt, wie man den Aufbau einer eigenen europäischen sicherheits- und verteidigungspolitischen Kapazität klar finanziert. Ich sage dazu ganz einfach: Das Mindestmaß ist, dass man seine Hausaufgaben macht. Dazu möchte ich Ihnen Ihre Koalitionsvereinbarung zur Bundeswehr vorlesen: Aufgaben, Struktur, Ausrüstung und Mittel der Bundeswehr werden wieder in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht. Das Wort „wieder“ ist gut. ({8}) Dann heißt es später - diesen Satz hätten Sie sich sparen können -: Die mittelfristige Finanzplanung bleibt die Grundlage für die Planungen der Bundeswehr. Das können Sie nicht miteinander in Einklang bringen. Ein weiterer Satz: Hierbei werden die Vorschläge ... der WeizsäckerKommission die Richtschnur bilden. Die waren es schon bisher nicht; denn es wurde gar nicht abgewartet, bis die Weizsäcker-Kommission einen Vorschlag gemacht hat. Der damalige Bundesverteidigungsminister Scharping hat ja eigene Vorschläge gemacht. Die werden im Folgenden genannt. Sie schreiben: Nach der weitgehenden Umsetzung der im Jahr 2000 eingeleiteten Bundeswehrreform ... muss erneut überprüft werden, ob weitere Strukturanpassungen oder Änderungen bei der Wehrverfassung notwendig sind ... Selten ist ein solches Durcheinander in wenigen Sätzen hintereinander in eine Koalitionsvereinbarung geschrieben worden. ({9}) Nichts von alldem gilt. Sie machen Ihre Hausaufgaben nicht. Sie finanzieren die Bundeswehr nicht, stehen aber vor weit größeren Aufgaben als in der Vergangenheit. Sie geben keinen Hinweis auf einen deutschen Beitrag in Bezug auf die Finanzierung. Wissen Sie, was die deutsche Außenpolitik immer ausgezeichnet und damit auch stabil und verlässlich gemacht hat? - Sie war glaubwürdig. Dies war sie zunächst bei Konrad Adenauer. Sie war in der großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger, der als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses über viele Jahre Erfahrungen gesammelt hatte, glaubwürdig. Auch in unserer Koalition unter Willy Brandt war sie glaubwürdig. Sie hatte klare Ziele. Da gab es auch Rückschläge; aber man wusste, worauf man hinauswollte. Auch unter Helmut Kohl war sie glaubwürdig. Beim jetzigen Bundeskanzler vermisse ich jedes außenpolitisch klare Prinzip. ({10}) Deshalb war die Regierungserklärung, wie sie war: Er ist für alles gut, aber dann geradezu für nichts. Mir ist die Beliebigkeit der Außenpolitik in Deutschland ein Gräuel. Dagegen wehren wir uns. ({11}) Herr Außenminister Fischer, es geht doch nicht um die Frage, wie wir die Türkei bewerten. Auch wir wissen, dass wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, um dieses Land modernisierungsbereit zu halten, um alle europäischen Verbindungsstränge in die Türkei zu bewahren und um die türkische Gesellschaft schrittweise in die Moderne zu führen - und dies nicht nur auf der Ebene der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite. Alle Erfahrungen, die wir seit den 60er-Jahren ({12}) mit der Türkei gemacht haben, beruhen auf falschen Versprechungen, die in der Türkei immer wieder große Frustrationen ausgelöst haben. Deshalb täte jede deutsche Bundesregierung gut daran, nicht mit weiteren falschen Versprechungen auf den EU-Gipfel nach Kopenhagen am Ende dieses Jahres zu reisen. ({13}) Die Wahrheit ist, dass es nicht reicht, wenn die Türkei eine neue Verfassung und neue Gesetze beschließt. Entscheidend ist die Gesellschaft, die hinter den Gesetzen steht und die Verfassung lebt. Die geschriebene Verfassung allein reicht nicht aus. Es ist einfach wahr, dass die Türkei heute noch nicht für einen Beitrittsprozess reif ist bzw. dafür, zu Beitrittsverhandlungen eingeladen zu werden. Wenn das so ist, dann muss man das auch sagen. Wenn man anders verfährt und meint, wir Deutsche seien aufgefordert, einen besonderen Beitrag zu leisten, um die strategischen Interessen unserer amerikanischen Verbündeten zu beachten, dann wird sich das für uns sehr nachteilig auswirken, weil wir alle wissen, dass ein Beitritt der Türkei in den nächsten Jahren nicht vollzogen werden kann. Die türkische Gesellschaft wird, auch durch das Votum Deutschlands, ein weiteres Mal enttäuscht werden. Damit wird der Türkei überhaupt nicht geholfen. Deshalb kommen wir an folgenden Kernpunkten nicht vorbei: Welche europäische Sicherheitspolitik machen wir wirklich? Wie finanzieren wir die Elemente der Osterweiterung tatsächlich? Welche ehrliche Antwort geben wir der Türkei? Wie bringen wir das Verhältnis zwischen Deutschland und Amerika wieder in Ordnung? Und zuallerletzt: Was macht der Bundeskanzler, wenn am Ende eines Prozesses im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen alle unsere Verbündeten, Großbritannien bzw. die übrige Europäische Union, nicht darum herumkommen, der Völkergemeinschaft ein Vorgehen gegenüber Saddam Hussein, das auch Zwangsmittel einschließt, zu empfehlen? Dann erneut zu sagen: „Daran nehmen wir nicht teil“ schlägt allem ins Gesicht, was der Bundeskanzler selbst in der Regierungserklärung bezüglich unserer eigenen Sicherheit vorgetragen hat. Wir können nicht nur immer von anderen Sicherheit für uns erwarten, wir müssen manchmal auch unangenehme Konsequenzen ziehen, um Sicherheit für alle mit anzubieten. ({14}) Wir werden uns in dieser Debatte wiedersehen; ich sage sie Ihnen fast schon voraus. Dann wird die deutsche Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen, dass alles Schall und Rauch war, was vom Bundeskanzler im Wahlkampf gesagt worden ist. Darauf muss hier hingewiesen werden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Angelica Schwall-Düren, SPD-Fraktion.

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute, zu Beginn der 15. Legislaturperiode, befindet sich die Europäische Union an einem entscheidenden Wendepunkt ihrer Geschichte. Die Einigung Europas und damit die endgültige Überwindung der künstlichen Teilung des Kontinents als Folge des Zweiten Weltkrieges ist in greifbare Nähe gerückt. Gleichzeitig stellt die aktuelle internationale Lage - dazu haben wir heute schon einiges gehört - die Europäische Union vor große neue Herausforderungen nach innen und außen. Die EU ist heute der entscheidende Handlungsrahmen für eine aktive und an demokratischen Grundwerten orientierte Gestaltung der Globalisierung. Nur im EUKontext kann es gelingen, die Herausforderungen der Globalisierung für das europäische Gesellschafts- und Sozialmodell erfolgreich zu meistern. ({0}) Drei große Aufgaben hat die EU in den kommenden Jahren zu bewältigen: Sie muss auf dem Weg der europäischen Einigung voranschreiten, sie muss ihre Handlungsfähigkeit erhalten und erweitern und sie muss ein Europa der Bürger werden. Die Europäische Union ist ein einzigartiges Erfolgsmodell der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hätten unsere Großeltern und Eltern je davon zu träumen gewagt, dass ein durch Hass, Krieg und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zerrissener Kontinent ein Modell der Verständigung und Zusammenarbeit entwickeln kann, wie es mit der EU und ihren Vorläuferorganisationen gelungen ist? Wir haben heute ein Modell der friedlichen und konstruktiven Lösung von Interessenkonflikten, ein Modell, das zunächst den Gründungsmitgliedern und dann den im Laufe der Jahre hinzugekommenen Ländern Wachstum, Wohlstand und soziale Sicherheit beschert hat, ein Modell, das keineswegs zu einer Nivellierung unserer Gesellschaften geführt, sondern den Reichtum der Unterschiedlichkeit bewahrt hat, insbesondere auch die kulturelle Vielfalt. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist nun die Chance gegeben, Europas Wiedervereinigungsprozess weiter voranzubringen. Der Gipfel in Kopenhagen wird die Entscheidung bringen, dass zehn Länder in die Europäische Union aufgenommen werden. Weitere können in der Zukunft dazukommen. Lassen Sie mich deshalb in diesem Zusammenhang auf die Türkei zu sprechen kommen. Die in diesem Land angepackten Reformen, Herr Schäuble und Herr Gerhardt, belegen, dass die Heranführungsstrategie der Union ihre Früchte trägt. ({1}) Deshalb macht es Sinn, dass der Türkei in Kopenhagen ein weiteres positives Signal gegeben wird, dergestalt, dass das Land bei Fortführung des Reformprozesses in absehbarer Zeit damit rechnen kann, ein Datum für den Beginn von Verhandlungen genannt zu bekommen. Meine Damen und Herren, wir alle wissen: Die EUOsterweiterung stößt bei manchen Bürgerinnen und Bürgern noch auf Vorbehalte. Was aber viel zu oft vergessen wird, sind die enormen Chancen, die mit der Erweiterung der Europäischen Union verbunden sind. Das ist einerseits die weitere Ausdehnung des Raums des Rechts, der Sicherheit und der Freiheit in Europa und das ist andererseits der zu erwartende Wohlstandsmehrwert, bei dem wir letztlich alle durch höhere Wachstumsraten und Einkommen profitieren. Deutschland profitiert übrigens ganz besonders von der EU-Erweiterung. Diesen Prozess zu unterstützen ist die erklärte Absicht der SPD-Fraktion. ({2}) Nicht erst die Aussicht, zehn weitere Länder in die Europäische Union aufnehmen zu können, hat deutlich gemacht, dass die Strukturen der EU optimiert werden müssen. Nur eine handlungsfähige Gemeinschaft wird in der Lage sein, die großen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen im Zeitalter der Globalisierung zu meistern. Ich nenne Ihnen nur die Stichworte Kosovo-Konflikt, 11. September 2001, Hochwasserkatastrophe dieses Som104 mers, hohe Arbeitslosigkeit in vielen europäischen Ländern, Flüchtlingsproblematik und internationale Kriminalität. Schon daran wird deutlich, dass wir eine gemeinschaftliche Politik in den Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik, der Klimaschutzpolitik sowie der Sozial- und Rechtspolitik brauchen. Diese Herausforderungen sind aber mit den hergebrachten Gemeinschaftsmechanismen auf Dauer nicht zu bewältigen. Deshalb haben die europäischen Staats- und Regierungschefs am 15. Dezember 2001 mit der Erklärung von Laeken - nicht zuletzt als Ergebnis der entschiedenen Initiative der Bundesregierung - den Grundstein für den umfassendsten und ambitioniertesten Reformprozess seit Gründung der Europäischen Gemeinschaften gelegt. Für uns ist dabei besonders wichtig, dass erstmals in der Geschichte der europäischen Integration Parlamentarier aus den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament im Konvent von Anfang an maßgeblich an dem großen Reformprojekt einer europäischen Verfassung beteiligt sind. Wie ernst unser Bundeskanzler diese Arbeit nimmt, ergibt sich schon allein aus der Entsendung des Außenministers in den Konvent. Gestern nun hat der Präsident des europäischen Verfassungskonvents, Valéry Giscard d’Estaing, den ersten Verfassungsentwurf vorgelegt. Nun gilt es, mit diesem Entwurf zu arbeiten. Mit der Bundesregierung will die Fraktion darauf hinarbeiten, dass die Ausübung europäischer Macht demokratischer, transparenter und effizienter wird. Dabei müssen das Prinzip der Gewaltenteilung besser durchgesetzt und die demokratische Verantwortlichkeit auf europäischer Ebene erhöht werden. Dies schließt die Bindung der EU-Organe an die Charta der Grundrechte ein. Darüber gibt es inzwischen eine große europäische Einigkeit. Die Reform der EU muss dazu beitragen, dass Europa eine Gemeinschaft der Bürger wird. Europa muss ein Gesicht bekommen. Europa muss mit Namen verbunden werden. Aber eine entsprechende Konstruktion wie zum Beispiel die Einsetzung eines EU-Präsidenten darf nicht zu einer Schwächung der EU-Kommission oder des Parlaments führen. Vielmehr müssen die demokratische Legitimation gestärkt und die Transparenz der Entscheidungen erhöht werden. ({3}) Dazu ist eine Stärkung des EU-Parlaments unabdingbar. Gerade weil wir eine stärkere Vergemeinschaftung wollen, muss das Europäische Parlament mehr Befugnisse bekommen. Die Musik spielt mehr und mehr in Europa. Immer mehr Politikfelder werden auf der europäischen Ebene vorgeprägt oder entschieden werden. Ich kann hier heute nur wenige davon ansprechen. Ich will beispielhaft den Ansatz der EU-Kommission nennen, die zweite Säule der Agrarpolitik für Maßnahmen der ländlichen Entwicklung zu stärken und eine integrierte ländliche Entwicklung voranzubringen. Dies wird von uns ausdrücklich begrüßt und unterstützt. Durch die baldige Erweiterung der Europäischen Union werden politische Stabilität und wirtschaftliches Wachstum in weitere Länder Ost- und Mitteleuropas exportiert. Das europäische Sozialmodell muss dabei erhalten und ausgebaut werden. Die Europäische Union muss weiter an den in Lissabon vereinbarten Zielen zur Erhöhung der Beschäftigungsquote bis hin zur Vollbeschäftigung festhalten und Europa zu einer der wachstumsstärksten Regionen der Welt machen. Zur Erreichung dieses Zieles ist aber ein Gleichgewicht zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik erforderlich. Günter Verheugen hat in Brüssel den Erweiterungsprozess vorangebracht, Michaele Schreyer steht für die Finanzierbarkeit der europäischen Aufgaben. Denn eine solide Haushaltspolitik ist nicht nur im nationalen Rahmen nötig. Wenn man in Europa ein Gleichgewicht zwischen starker Wirtschafts- und Sozialpolitik erreichen will, bedarf es einer soliden Finanzbasis. Mit großer Erleichterung ist deshalb in vielen Ländern die Nachricht aufgenommen worden, dass sich Bundeskanzler Gerhard Schröder und Staatspräsident Jacques Chirac auf eine Grundlage für die Finanzierung der EUAgrarpolitik über das Jahr 2006 hinaus geeinigt haben. Die Interessenlage konnte dabei nicht unterschiedlicher sein: Neumitglieder, zu denen das agrarpolitisch wichtige Land Polen gehört, möchten die gleichen Leistungen bekommen, wie sie die Altmitglieder der EU erhalten. Länder wie Frankreich, die überdurchschnittlich von den Direktzahlungen profitieren, möchten keine Reduzierung der Leistungen hinnehmen. Nettozahler wie Deutschland wehren sich gegen eine Steigerung der Beitragslast. Deshalb möchte ich Bundeskanzler Schröder ausdrücklich dafür danken, dass er mit dem französischen Staatspräsidenten einen Kompromiss gefunden hat, der das Beitrittsverfahren weiter voranbringt. ({4}) Herr Gerhardt, jeder weiß, dass Kompromisse die Eigenart haben, dass keine Seite ihre Position zu 100 Prozent durchsetzen kann. ({5}) Deshalb möchte ich die polnische Zeitung „Gazeta Wyborcza“ zitieren, die das Ergebnis des Gipfeltreffens als eine „Lektion des europäischen Realismus“ charakterisiert hat. Herr Gerhardt, deutsche und französische Politiker, der französische Staatspräsident und der deutsche Bundeskanzler treffen sich so häufig wie nie in der Geschichte zuvor. ({6}) Deshalb können wir davon ausgehen, dass der deutschfranzösische Motor, wie in der Vergangenheit und wie es in diesem Augenblick bewiesen worden ist, auch in Zukunft gut funktionieren wird. In Kopenhagen kann jetzt der nächste entscheidende Schritt für die Erweiterung der EU vollzogen werden. Der Konvent wird bis Sommer 2003 die entscheidende Vorarbeit für die Reform der Institutionen leisten. Europa ist unsere Zukunft. Diese Zukunft ist gestaltbar. Europa hat keine andere Zukunft als die des Dialogs und der Einbindung in die europäische Aufklärung. Alles andere führt zur Destabilisierung. Die rot-grüne Koalition packt die vor uns liegenden Aufgaben für ein friedliches, soziales und nachhaltiges Europa an. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Peter Hintze, CDU/CSUFraktion. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn es eine Lehre aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gibt, dann ist es die, dass Deutschland jede Form eines deutschen Sonderweges schadet und dass es der europäische Weg ist, der unseren Interessen dient. ({0}) Der Bundesaußenminister ist erfreulicherweise noch unter uns. Wir haben heute auch eine neue Form des grünen Sonderweges kennen gelernt. Das ganze Plenum war gespannt auf die zwei klugen Kolleginnen, die die Grünen zu Fraktionssprecherinnen gewählt haben; aber Herr Fischer hat beschlossen, alle Debattenbeiträge selber zu leisten. Ich hoffe im Interesse des Hauses, dass das in Zukunft nicht so weitergeht. ({1}) Für eine erfolgreiche Europapolitik gibt es zwei Grundregeln. Europa kommt voran, wenn Deutschland und Frankreich zusammenwirken. Ich finde es gut - das will ich in dieser Debatte zum Ausdruck bringen -, dass es gelungen ist, beim jüngsten Gipfel Deutschland und Frankreich zusammenzuführen, dass 13 Staaten der Europäischen Union diesem gemeinsamen Weg gefolgt sind und damit den Weg zur Erweiterung frei gemacht haben. Wir haben unser Versprechen gegenüber den jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas einlösen und damit den Raum wirtschaftlicher Prosperität und politischer Stabilität ausweiten können. Herr Außenminister, ich stehe nicht an zu sagen, dass es gelungen ist, ein Stück der politischen Kontinuität zurückzugewinnen, die in den letzten Jahren verloren zu gehen drohte. Der Bundeskanzler ließ sich allerdings für eine Vereinbarung feiern, die es so gar nicht gibt. ({2}) Der Außenminister hatte empört und nervös auf der Regierungsbank reagiert, als FDP-Fraktionsführer Gerhardt darauf zu Recht hinwies. Es geht mir nicht nur um diese 6 Milliarden Euro pro anno - das ergibt mit insgesamt über 40 Milliarden Euro eine riesige Summe zusätzlich für die nächste Finanzierungsperiode -, kläglich ist doch vielmehr, eine solche Verhandlungspanne auf die Dolmetscher zu schieben. Das ist die dämlichste Ausrede, die ich je in der europäischen Politik gehört habe. ({3}) - Jetzt bleiben Sie aber mal entspannt. ({4}) Das wäre aber noch hinnehmbar, wenn der von uns im Ergebnis begrüßte Gipfel nicht lediglich die Steine aus dem Weg geräumt hätte, die nicht zuletzt von deutschen Verhandlungsfehlern beim Berliner Gipfel 1999 herrühren. Das, was wir jetzt mühsam repariert haben, ist durch Verhandlungsfehler entstanden, die sich diese Bundesregierung in der Vergangenheit geleistet hat. ({5}) Ich bin geneigt, Sie trotz guter Freundschaft zu ihm gegenüber dem Kollegen Pflüger in einem kleinen Punkt etwas in Schutz zu nehmen. ({6}) Es ist richtig, dass Sie bei den Arbeiten zur Europäischen Verfassung zu denjenigen gehört haben, die unsere Ideen aufgegriffen und gesagt haben, dass hier die nationalen Parlamentarier ranmüssten. Das haben wir im Europaausschuss immer gefordert. Sie haben das irgendwann zu Ihrer eigenen Sache gemacht. Aber warum ist es denn zu diesem Konvent überhaupt gekommen? Doch deshalb, weil die Regierungen, auch diese Regierung, gescheitert sind und sich mit Nizza einen grandiosen Fehlschlag geleistet haben. ({7}) Man kann unter solcher Führung Europa nicht mehr den Regierungen überlassen. Das müssen - ich greife ein Wort von Gerd Müller auf - wir Parlamentarier mit in die Hand nehmen, damit es gut wird. ({8}) Die zweite Grundregel für ein Gelingen in Europa, gegen die Sie allerdings noch verstoßen, ist der faire Umgang mit den kleinen Mitgliedstaaten. Es war immer das deutsche Erfolgsrezept, dass die Europapolitik nicht von den Großen monopolisiert wurde, sondern dass die Großen und die Kleinen im fairen Miteinander Dinge regelten. Hier hat sich die Regierung schwer versündigt. Wenn nun also der Stabilitätspakt unter maßgeblicher Beteiligung Deutschlands zur Auflösung freigegeben wird, dann ist das ein Affront nicht zuletzt gegen die kleinen Mitgliedstaaten, die unter großen Anstrengungen ihre Aufgaben gemacht haben und die die Stabilitätskriterien, die wir gefordert haben, eingehalten haben. Von diesen Stabilitätskriterien sagen wir nun, sie seien nicht mehr so wichtig. Das ist ein Fehler dieser Bundesregierung, lieber Herr Fischer. ({9}) Es ist wichtig, dass die Staaten, die neu hinzukommen werden und mit denen wir unser Schicksal teilen wollen, erkennen, dass hier Fairness herrscht. Da Sie etwas lächeln - ich möchte das harte Wort „grinsen“ vermeiden -, möchte ich Folgendes sagen: Es ist auch ein persönlicher Fehler von Ihnen, Herr Fischer, dass Ungarn und Tschechien im Vertrag von Nizza weniger Sitze im Europäischen Parlament zugesprochen bekommen haben, als ihnen nach der Bevölkerungszahl zustehen. Wir von der Union erwarten, dass diese Ungerechtigkeit bei den Beitrittsverträgen korrigiert wird. Ungarn und Tschechien müssen genauso fair behandelt werden wie Portugal, Belgien und andere Staaten in Westeuropa. Wir werden unsere Zukunft nur dann gemeinsam bewältigen, wenn wir fair miteinander starten. ({10}) Friedbert Pflüger wird gleich in seinem Beitrag das Thema des Terrorismus genauer beleuchten. Aus europäischer Sicht will ich nur einen Punkt dazu sagen. Es ist auffällig -, dies geht mir in der öffentlichen Kommentierung zu stark unter - dass die Terroristen gerade zu einem Zeitpunkt in Moskau zuschlugen, in dem sich die politische Führung in Russland klar an die Seite Europas und Amerikas stellte. Deswegen muss auch hier Klarheit herrschen: Auf diesem Weg an der Seite Europas und Amerikas braucht auch Russland unsere Solidarität. ({11}) Uns allen fiel ein Stein vom Herzen, als die Ergebnisse des zweiten irischen Referendums bekannt wurden. Ich möchte uns alle aber dazu auffordern, diese Reaktion in Irland ernst zu nehmen. Das Projekt Europa wird dann gut, wenn es uns gelingt, die Bevölkerungen mitzunehmen. Es ist nicht nur ein Projekt der politischen Führungen und der Regierungen und es ist auch nicht allein ein Projekt der Parlamente. Es ist ein Projekt der Bevölkerungen in Europa; wir wollen sie mitnehmen. Es ist ausgesprochen wichtig, dass wir mit der Art und Weise, wie wir debattieren und öffentlich dafür eintreten, dokumentieren, dass wir auch die Menschen in unseren Ländern mitnehmen. ({12}) Dazu, dass die Bevölkerung mitgenommen werden muss, gehören auch einige neuralgische Themen. Ich komme hier noch einmal auf das Thema Türkei zu sprechen. Nachdem die Regierung ihre Absicht erklärt hat, die europafreundlichen Kräfte in der Türkei zu unterstützen, was ja akzeptabel ist ({13}) - Frau Roth, ich möchte das entwickeln -, hat die Regierung eine ganze Reihe von Fehlern gemacht. Sie ist, ohne dass die entsprechenden Kriterien erfüllt waren, Schritte gegangen, die es gerade den europaorientierten Kräften in der Türkei schwerer machen, die Dinge, die wir in Europa brauchen, auch tatsächlich einzufordern. ({14}) Es ist ein schwerwiegender Fehler, wenn wir von den Menschenrechtskriterien und den politischen Kriterien absehen. Wir werden den islamischen Fundamentalismus nicht dadurch eindämmen, dass wir die Kriterien herabsetzen. Liebe Freunde, meine Damen und Herren, nur ein klares Festhalten an unserer Werteordnung kann uns tatsächlich zum Erfolg führen. ({15}) Frau Merkel hat es heute Morgen kurz angesprochen; Sie haben mit Unverstand reagiert. Der Bundesaußenminister weiß doch, dass der Oberstaatsanwalt in Ankara mit dem Vorwurf der Spionage und einer Strafandrohung von acht bis 15 Jahren gegen Vertreter politischer Stiftungen ermittelt. Das muss hier doch einmal ausgesprochen werden. Zu einem solchen Zeitpunkt, in dem die Erfüllung der klaren Kopenhagener Kriterien - übrigens nicht nur der politischen, sondern auch der wirtschaftlichen - in weiter Ferne liegt, kann man doch keinen Termin vergeben. Es ist gerade einmal eineinhalb Jahre her, dass die Türkei eine der größten Währungskrisen in der Geschichte Europas und Asiens hinter sich gebracht hat. Auch auf diese Fragen müssen wir achten. Wolfgang Schäuble hat heute schon dazu gesprochen. Ich habe allerdings eine Theorie, die sich an die von Wolfgang Schäuble anschließt: Es ist nicht allein der Blick auf Amerika - es gibt außenpolitische Interessen; das ist zu verstehen -, sondern es ist möglicherweise auch der Blick auf die eigene, sich erweiternde Wählerschaft, die das europäische Interesse und die klaren Kriterien zurückstehen lassen. ({16}) Das halte ich für kein verantwortliches Handeln vonseiten der Regierung. Sie haben das Interesse unseres Landes und das der Europäischen Union wahrzunehmen. ({17}) Dazu gehört die klare Einhaltung der Kriterien und der Verträge. ({18}) Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz auf den Konvent und den Verfassungsvertrag kommen. ({19}) Die Regierung hat das bisher ja recht lieblos behandelt. Peter Glotz, ein kluger Mann, war selbst erstaunt, dass er benannt wurde. Jetzt wurde er durch Herrn Fischer ersetzt. Wir hoffen, dass in das, was die Regierung in diesen großen und wichtigen Fragen will, jetzt etwas mehr Klarheit kommt. Der Kanzler ist nicht mehr da. Er hat aber von diesem Pult aus angekündigt, er werde die Europazuständigkeit ins Kanzleramt holen. Allerdings erschöpft sich die ganze Geschichte in der Ernennung eines Gruppenleiters zum Abteilungsleiter. Das ist ein kleiner Teilerfolg des Herrn Bundesaußenministers, der damals in der Debatte schon freundlich gelächelt hatte; der Kanzler hätte mal genauer hinschauen sollen. Wichtiger ist jetzt aber, was in der Sache herauskommt. Ich will zwei Punkte nennen. Der Bundeskanzler hat jetzt sein großes Interesse - so hat es der Regierungssprecher verkündet - an einem Präsidenten des Europäischen Rates, der für mehrere Jahre gewählt wird, entdeckt. Dazu können wir nur sagen: Damit käme es zu einem Gegeneinander der Institutionen, was Europa bremsen und hemmen würde. Wir brauchen nicht mehr Institutionen. Wir brauchen eine klare Abgrenzung zwischen den Institutionen. Das ist der erste Punkt. ({20}) Der zweite Punkt. Im Himmel herrscht mehr Freude über einen Sünder, der umkehrt, als über 99 Gerechte. Der Bundesaußenminister hat gestern bei seinem Vortrag im Konvent Ziele vertreten, die wir lange gefordert haben: klare Kompetenzabgrenzung, klare Gewaltenteilung. Wenn Sie durch Ihre Arbeit und Ihr Tun beweisen, dass Sie zu den Grundlinien, die Sie am Anfang Ihrer Rede beschworen haben, zurückkehren wollen, dann können wir das nur begrüßen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Hintze, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Redezeit ist zu Ende. Es gäbe noch viel zu sagen, zum Beispiel zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Kollege Schmidt und andere werden das machen. Wir jedenfalls freuen uns auf spannende, kritische und konstruktive Jahre. Dort, wo Sie gute Arbeit leisten, werden Sie unsere Unterstützung haben. Dort, wo Sie von dem abweichen, was Sie hier selbst proklamieren, werden Sie uns kritisch erleben. Schönen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner in der Debatte ist Rudolf Bindig, SPD-Fraktion.

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Schutz und die Förderung der Menschenrechte sind auch in der 15. Legislaturperiode politische Leitlinie der Koalition. Dies gilt nach innen und nach außen. Da Menschenrechtspolitik eine Querschnittsaufgabe ist, ist es nur konsequent, wenn Menschenrechte in der Koalitionsvereinbarung in verschiedenen Politikfeldern angesprochen werden: in der Sozialpolitik, der Frauenpolitik, der Rechts- und Innenpolitik sowie an zahlreichen Stellen im Bereich der Außenpolitik, vor allem unter dem Stichwort gerechte Globalisierung. In der letzten Legislaturperiode wurde der Politikbereich Menschenrechte mit der Bildung eines eigenständigen Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, der Schaffung der Stelle eines Menschenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt und der Einrichtung des Deutschen Instituts für Menschenrechte erheblich gestärkt. Die neuen Instrumente haben erfolgreich dazu beigetragen, dass menschenrechtliches Denken und Handeln in Politik und Gesellschaft gefördert wurden. In dieser Legislaturperiode soll die Menschenrechtspolitik weiter gefestigt und größtmögliche Kohärenz zwischen den einzelnen Politikbereichen hergestellt werden. Dies soll durch einen intensiven Austausch mit den im Forum Menschenrechte zusammengeschlossenen Nichtregierungsorganisationen geschehen. Die weitere Verrechtlichung der menschenrechtlichen Grundlagen der internationalen Beziehungen ist uns ein wichtiges Anliegen. Deshalb wollen wir noch ausstehende Konventionen und Zusatzprotokolle im Menschenrechtsbereich ratifizieren sowie bestehende Vorbehalte und Einschränkungen zurücknehmen. Wir treten dafür ein, die Kontrollgremien der internationalen Pakte zu stärken, um die völkerrechtliche Verbindlichkeit und Wirksamkeit dieser Instrumente auszubauen. Wie schon in den letzten Jahren wollen wir den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg stärken. Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Kindern gehören leider immer noch zum weltweiten Alltag. Auf ihre Rechte wollen wir deshalb besonderes Augenmerk legen. Weitere Schwerpunktthemen der Menschenrechtspolitik der 15. Legislaturperiode werden die stärkere Beachtung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte im Rahmen der Globalisierung sein. Die größte Herausforderung stellt sich für die Menschenrechtspolitik dort, wo in Krisen-, Konflikt- und Kriegssituationen die elementaren Menschenrechte verletzt und missachtet werden. Im Rahmen des größeren Europas ist dies zurzeit der Tschetschenien-Konflikt. Der russisch-tschetschenische Konflikt war im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit in letzter Zeit zurückgedrängt worden. Durch die brutale Geiselnahme durch tschetschenische Terroristen und den tragischen Ausgang der Beendigung der Geiselnahme mit weit über hundert Opfern haben sich die Tschetschenen gewissermaßen gewaltsam zurückgemeldet. Die Spirale der Gewalt im Tschetschenien-Konflikt hat sich um eine schreckliche Windung weitergedreht. Zu den täglichen Opfern auf allen Seiten in Tschetschenien selbst kommen jetzt in Moskau die Opfer der Geiselnahme im Rahmen der Beendigung dieses Terroraktes hinzu. Wer politische Ansätze finden will, um Einfluss darauf zu nehmen, wie die Spirale der Gewalt in Tschetschenien durchbrochen werden kann, muss Be108 zugsfelder, Ursachen und Hintergründe des Konflikts sorgfältig analysieren. ({0}) Einfache Muster einer undifferenzierten Anschuldigung entsprechen nicht der Lage. Weder die offizielle russische Sprachregelung, dass es sich beim TschetschenienKonflikt allein um eine Ausprägung des internationalen Terrorismus handelt, wie er sich in New York und Bali ausgetobt hat, noch die Erklärung auf der anderen Seite, dass es sich hauptsächlich um den Freiheitskampf eines unterdrückten Volkes handele, wird dem Problem auch nur annähernd gerecht. Schon die Auflistung der Akteure auf tschetschenischer Seite belegt dies. Da gibt es die in den Untergrund gedrängten Repräsentanten eines Ikscheria ebenso wie Clanführer als Kriegsherren, organisierte Kriminelle und religiös motivierte Terroristen mit Verbindungen zu weltweit operierenden Netzwerken. Wer alle diese Akteure pauschal als internationale Terroristen radikalislamistischer Prägung abstempelt, verbaut sich politische Strategien zur Eindämmung und Lösung dieses Konflikts. ({1}) Hierbei muss man genau sein. Man kann nicht zwischen einem fürchterlichen Terrorismus, der völlig inakzeptabel ist, und einem weniger fürchterlichen Terrorismus, der vielleicht begründet sein kann, unterscheiden. Terrorismus ist und bleibt Terrorismus. ({2}) Wer ihn bekämpfen will, muss aber die verschiedenen Hintergründe und Nährböden kennen, um wirksam agieren zu können. Der Tschetschenien-Konflikt reicht in seinen Ursachen Jahrhunderte zurück und ist nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Entstehen der Russischen Föderation durch das Streben der Tschechenen nach Unabhängigkeit in eine neue Dimension eingetreten. Es ist in erster Linie ein lokaler bzw. regionaler Konflikt, den es schon lange vor dem Entstehen des internationalen Terrorismus islamisch-fundamentalistischer Ausprägung gab. Wenn einige tschetschenische Akteure auch Verbindungslinien zu international operierenden terroristischen Netzwerken haben, so rechtfertigt dies nicht, den Tschetschenien-Konflikt nur unter diesem Aspekt zu sehen. Radikaler islamischer Fanatismus ist nicht das alleinige Motiv. Triebkraft vieler Tschetschenen, die nie streng gläubige Muslime waren und es auch heute nicht sind, ist der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben in ihrer eigenständigen Kultur und Tradition. Fakt in Tschetschenien ist - dies muss die internationale Gemeinschaft auf den Plan rufen -, dass der Tschetschenien-Konflikt in Kürze in seinen vierten Winter geht und weiterhin zahlreiche Opfer sowohl in der Zivilbevölkerung als auch bei russischen Sicherheitskräften fordert. Die Ereignisse der letzten Monate haben gezeigt, dass sich der Konflikt nicht mit Gewalt austreten lässt. ({3}) Deshalb müssen neue Initiativen ergriffen werden, um die russische Regierung davon zu überzeugen, ohne Vorbedingungen Verhandlungen mit dem Ziel aufzunehmen, die Gewalt zu beenden und eine politische Lösung herbeizuführen. ({4}) Dabei müssen auf tschetschenischer Seite jene Personen einbezogen werden, die von den Tschetschenen als legitime Sachwalter ihrer Anliegen angesehen werden. Aus meiner Erfahrung im Rahmen des Europarates und aus vielen Gesprächen komme ich zu dem Schluss, dass der gewählte Präsident Tschetscheniens, Aslan Maschadow, eine so einflussreiche Person in der Region ist, dass es ohne Verhandlungen keine politische Lösung geben wird. ({5}) Wenn es die Zielsetzung des Europarates ist, im großeuropäischen Rahmen ein Gebiet der Demokratie, der Geltung des Rechts und der Menschenrechte zu schaffen, so kann Europa nicht weiter akzeptieren, dass im Tschetschenien-Konflikt täglich von allen Seiten die Menschenrechte massiv verletzt werden. Nach dem Geiseldrama scheint sich die russische Haltung sogar verhärtet zu haben. Im Rahmen der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik der EU, im Rahmen der OSZE und/oder im Rahmen des Europarates müssen die Regierungen - und zwar in der Tat die Regierungen und nicht nur die Parlamente dieser Institutionen - ihre Anstrengungen intensivieren, Russland davon zu überzeugen, dass dieser Konflikt einer politischen Lösung bedarf. Auch Russland sollte aus seiner Interessenlage heraus internationale Mitwirkung bzw. Bemühungen - wie soll ich es nennen? - akzeptieren. Je mehr die russische Staatsführung darauf beharrt, dass sie hauptsächlich bzw. ausschließlich mit einer Form des internationalen Terrorismus konfrontiert ist, desto mehr müsste sie eigentlich bereit sein, im Rahmen internationaler Zusammenarbeit dagegen vorzugehen. Umgekehrt gilt: Je mehr Russland darauf besteht, dass es sich weitgehend um eine innere Angelegenheit handelt, desto deutlicher bringt es damit zum Ausdruck, dass der Einfluss des internationalen Terrorismus eben doch geringer ist als behauptet. Faktisch wird damit eingestanden, dass der Konflikt und das Geschehen in Tschetschenien in erheblichem Umfang auch regionale, nationalistische und historische Ursachen hat. Ein letzter Blick auf einen innenpolitischen Aspekt dieses Problemkreises: Auch in Deutschland leben Tschetschenen. Angesichts der Berichterstattung und der Ereignisse in der letzten Zeit ist die Gefahr groß, dass sie alle in die terroristische Ecke gestellt werden. Ich warne davor. ({6}) Viele von ihnen sind hier, weil sie vor den Übergriffen russischer Sicherheitskräfte oder lokaler Banden geflüchtet sind oder weil sie in Filtrationslagern gefoltert worden sind. Andere haben sich der russischen Armee entzogen, weil sie nicht auf die eigenen Leute schießen wollten. Diese Menschen sind Opfer und keine Täter. In dieser angespannten Lage darf es keine ausländerrechtliche Rückführung von Tschetschenen nach Russland geben. Auch eine inländische Fluchtalternative in Russland ist derzeit nicht gegeben. ({7}) Wir müssen uns immer wieder aufs Neue daran erinnern, dass wir über dem Kampf gegen den Terrorismus nicht den Schutz der Menschenrechte sowie unsere humanitären Aufgaben in Deutschland vergessen. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer, FDP-Fraktion.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Erler hat zu Beginn seiner Ausführungen gesagt, dass die internationale Politik nichts Fernes mehr sei, dass die klassische Trennung von Innen- und Außenpolitik in unserem heutigen politischen Leben gar nicht mehr so aufrechtzuerhalten sei, wie es einmal gewesen sei. Wir haben allerdings bisher in diesem Hohen Hause - das gilt für die gesamte Bundesrepublik Deutschland eines vermieden, nämlich die internationale Politik, insbesondere die Außenpolitik, nur noch zum Markt der Innenpolitik oder zur Funktionsgröße innenpolitischen Taktierens zu machen. Das hat sich durch die Bundestagswahl 2002 geändert. Das bedauere ich sehr. ({0}) Es gibt ein paar Konstanten deutscher Außenpolitik der letzten 50 Jahre, mit denen wir sehr gut gefahren sind und die bisher noch keine Bundesregierung infrage gestellt hatte, und zwar weder vorsätzlich noch fahrlässig. Die jetzige Bundesregierung hat es getan. Sie hat Kernelemente des außenpolitischen Konsenses auf dem Wahlkampfaltar geopfert. Dazu gehört unter anderem ein starkes Engagement für den Multilateralismus, und zwar sowohl im Hinblick auf Systeme kooperativer Sicherheit wie die UNO und die OSZE als auch im Hinblick auf Systeme kollektiver Verteidigung wie die NATO. Das gilt erst recht für die europäische Integration, die in den letzten Jahrzehnten eine so große Blüte erreicht hat. Zu diesen Kernelementen gehören des Weiteren die konsequente Entnationalisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik durch tiefe Integration, das besondere Bemühen um das Vertrauen der kleineren Partner in den Verbünden, ein enges und vertrauensvolles Verhältnis zu Frankreich als notwendige Bedingung für jeglichen Fortschritt in der Europäischen Union und - last, but not least - eine auf Vertrauen und gemeinsame Werte gegründete Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Manchmal sind diese Elemente gewiss nicht leicht auszubalancieren. Das erfordert im besten Sinne des Wortes Staatskunst. Genau daran hat es in den letzten Jahren und vor allen Dingen in den letzten Monaten in dramatischer Weise gefehlt. ({1}) Sonst stünde nicht die Glaubwürdigkeit unseres UN-Engagements in Zweifel. Sie steht aber in Zweifel, wenn der deutsche Bundeskanzler von vornherein mögliche Sicherheitsratsresolutionen als für die deutschen Entscheidungen auf nationaler Ebene irrelevant erklärt. Sonst würden unsere Partner nicht die Frage stellen, ob sich hinter dem Begriff des deutschen Weges nicht doch eine Renationalisierung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik verbirgt. Sonst würden wir nicht mit Verblüffung und Empörung vor der Tatsache stehen, dass das deutsch-französische wie das deutsch-amerikanische Verhältnis gleichermaßen einen historischen Tiefpunkt erleben. Meine Damen und Herren, es gehört zum Imperativ deutscher Außenpolitik, dass sich eine Bundesregierung nie in eine Situation manövrieren darf, wo sie zwischen Europa und den USA, zwischen transatlantischer Bindung und europäischer Integration, zwischen Washington und Paris wählen muss. Die Kollegen im britischen Unterhaus und in der französischen Nationalversammlung werden in der Frage, ob ihnen die NATO oder die EU, ob die transatlantische Bindung oder europäische Integration wichtiger ist, zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, aber sie werden klare Prioritäten ausdrücken. Wir Deutschen dürfen es uns niemals leisten, uns überhaupt in eine Situation zu bringen, diese Frage beantworten zu müssen. Aber der Trick kann ja nicht darin bestehen bzw. das Problem nicht dadurch als gelöst gelten, dass am Ende das Verhältnis mit beiden Partnern gleichermaßen schlecht ist. Genau das haben wir hier aber festzustellen. Deswegen ist der Befund der aktuellen Europa- und Außenpolitik fatal: ({2}) Die Verletzungen sind tief. Die Verletzungen, die insbesondere in den Vereinigten Staaten entstanden sind, nicht nur bei der Regierung, sondern auch bei den Menschen, werden in Deutschland nicht überschätzt, sondern noch gewaltig unterschätzt. Es wird unterschätzt, dass das deutsch-amerikanische Verhältnis immer auch eine ganz starke emotionale Komponente gehabt hat, und das hat insbesondere etwas mit dieser Stadt, mit Berlin, zu tun. Man macht einen Riesenfehler, wenn man das übersieht. Am schlimmsten war wahrscheinlich bei all diesen verbalen Entgleisungen, dass man unsere amerikanischen Partner in die Ecke von Abenteurern gerückt und diesen Begriff auch benutzt hat. Meine Damen und Herren, das übersieht die ausgesprochen ernste und kontroverse Debatte, die in den Vereinigten Staaten zum Beispiel zur Irak-Frage geführt wird. Ich wünsche mir manchmal, auch in der Medienwelt in Deutschland würden wir eine solche kontroverse tief gehende Debatte führen, wie das in den Vereinigten Staaten der Fall ist. Das hat tiefe Verwundung hinterlassen und das persönliche Verhältnis weitgehend zerstört. Ich fürchte, selbst wenn der Bundes110 kanzler jetzt auf die Idee käme, wieder einmal dort anzurufen, er würde schon bei der Telefonzentrale scheitern. ({3}) Meine Damen und Herren, wir fangen an, Preise zu zahlen; das ist bereits gesagt worden. Selbst wenn es diese ominöse Liste im formalen Sinne nicht gibt, ist gleichwohl klar: Die Bundesrepublik Deutschland wird auf anderen Gebieten als auf denen, die jetzt im Wahlkampf diskutiert worden sind, Preise zahlen müssen. Das beginnt mit der Irak-Frage - insbesondere in der Zeit nach einer möglichen Intervention -, setzt sich fort in der Frage der Lead-Funktion in Afghanistan, die uns dort sehr, sehr lange binden kann, und gilt auch für die Türkei-Frage, auf die verschiedene Kolleginnen und Kollegen hier eingegangen sind. Meine Damen und Herren, in dieser Situation außenpolitischer Irritationen schlimmster Art stehen wir vor dem NATO-Gipfel in Prag. Dieser NATO-Gipfel in Prag ist eben keineswegs in allererster Linie ein Erweiterungsgipfel - die Entscheidungen sind im Wesentlichen abgefrühstückt -, sondern in Prag werden die Vereinigten Staaten versuchen, ihre militärstrategischen Neuorientierungen eines Präventivschlages ({4}) und einer Abkehr vom unbedingten Gewaltmonopol der Vereinten Nationen auch in der NATO durchzusetzen. Die Amerikaner stellen in dem Zusammenhang manche wohl berechtigte Frage, aber wir als Europäer und speziell als Deutsche müssen uns fragen, ob wir uns eigentlich schon intellektuell in die Lage versetzt haben, auf diese Fragen tatsächlich auch Antworten zu geben, und ob wir bereit sind, mit den Amerikanern über gemeinsame Antworten zu debattieren. In Prag werden möglicherweise schon recht weit gehende Festlegungen geschaffen. Die Bundesregierung hat noch nicht einmal angefangen, das überhaupt intern zu durchdenken, ({5}) geschweige denn gemeinsam mit unseren Partnern in Europa. Sie, Herr Kollege Struck, drohen die erforderliche Strategiediskussion vollkommen zu verschlafen und laufen Gefahr, unser Engagement mit KSK in Afghanistan vor unserer deutschen Bevölkerung verheimlichen zu wollen. ({6}) Meine Damen und Herren, mir graut jedenfalls vor der Vorstellung, dass wir Europäer und vor allem wir Deutschen in Prag den USA nur deshalb hinterherlaufen müssen, weil wir es uns nicht leisten können, unsere eigenen Vorstellungen gegenüber Washington vorzubringen. Das Irritationspotenzial zwischen Europäern und Amerikanern ist gewaltig. Das beginnt bei der Zukunft der WTO und anderen Handelsfragen und reicht über den Internationalen Strafgerichtshof und die Raketenabwehr bis zur Rolle der Vereinten Nationen. Vergleichbar schwierig war nach meiner Einschätzung nur die Situation Ende der 80er-Jahre, als wir über amerikanische Kurzstreckenatomraketen in Europa und in Deutschland diskutiert haben. Bei allen, zum Teil riesigen Differenzen ist der Gesprächsfaden damals aber niemals abgerissen. Das wäre HansDietrich Genscher oder Helmut Kohl niemals passiert. Heute ist das der Fall. Da nützt dann auch der Besuch des Außenministers nicht viel. Die Telefonleitung zwischen dem Kanzleramt und dem Weißen Haus muss wieder hergestellt werden. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Peter Struck.

Dr. Peter Struck (Minister:in)

Politiker ID: 11002278

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erlauben Sie, dass ich zunächst auf den Beitrag des Kollegen Schäuble eingehe. Dieser Beitrag, Herr Kollege Schäuble, zeichnete sich durch eine Mischung von Halbwahrheiten und Verdrehungen aus. ({0}) Das bin ich von Ihnen nicht anders gewohnt. Ich will das auch belegen. Herr Kollege Schäuble, wenn Sie behaupten, die Diskussion über die Lead-Funktion bei ISAF, die wir begonnen haben - wir werden das Parlament darum bitten, dem Regierungsbeschluss zu folgen -, habe etwas mit dem Irak zu tun, dann sagen Sie bewusst die Unwahrheit. Ich bin im Juli in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages vereidigt worden. ({1}) - Hören Sie doch einmal zu, Herr Schäuble! ({2}) Am nächsten Tag bin ich in Kabul gewesen und habe dort mit den türkischen und den anderen Kollegen die Debatte darüber begonnen, wer denn wohl Nachfolgenation für die Türkei werden würde. Da war vom Irak überhaupt noch nicht die Rede. Es ist schon brutal, wie Sie hier versuchen, das in Zusammenhang mit einer militärischen Intervention im Irak zu setzen. Das ist aber typisch für Sie. ({3}) Sie behaupten auch, wir würden nicht über die Arbeit der Kommandospezialkräfte informieren. Fragen Sie doch bitte einmal Ihre Kollegen, die im Verteidigungsausschuss Verantwortung getragen haben! ({4}) - Schütteln Sie nicht den Kopf! ({5}) - Ich ärgere mich darüber. Herr Schäuble sagt bewusst die Unwahrheit oder er weiß nicht, wovon er redet. ({6}) Im Verteidigungsausschuss sitzen Kollegen, Herr Kollege Schäuble, denen ich genau berichtet habe, was die circa 100 Soldaten der Kommandospezialkräfte in Afghanistan, in Kabul tun. Ich habe die Sprecherinnen und Sprecher der Fraktionen darüber informiert und ich werde das auch weiter tun. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass diese Soldaten eine höchst gefährliche Mission ausüben. Aber ich stehe zu dieser Mission. Wir werden im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Operation Enduring Freedom auch wieder über den Einsatz dieser Soldaten zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus beschließen. Dann haben Sie gesagt, Herr Kollege Schäuble, ich müsse mir 500 Millionen wegnehmen lassen und solle Ihnen einmal darlegen, wie ich die Verteidigungsausgaben bestreiten wolle. Diese Zahl von 500 Millionen, Herr Schäuble, ist falsch. Sie unterstellen einfach etwas und erklären: Damit kommen Sie nicht zurecht. - Wir werden - das garantiere ich Ihnen - die Haushaltsprobleme lösen. ({7}) Herr Kollege Schäuble, ich werde dem Parlament im Zusammenhang mit dem Haushalt 2003 und der mittelfristigen Finanzplanung genau das vorschlagen, was zur Umsetzung der Koalitionsvereinbarung notwendig ist, nämlich eine solide mittelfristige Finanzplanung. Natürlich werde ich manche Großprojekte auf den Prüfstand stellen. Es ist überhaupt gar keine Frage, dass wir uns überlegen müssen, ob die Situation, in der solche Großprojekte - zum Teil vor Jahren, noch in der Verantwortung der Vorgängerregierung - beschlossen worden sind, heute noch so gegeben ist und ob wir bestimmte Waffensysteme in diesem Umfang brauchen. Das ist eine höchst vernünftige Entscheidung. Wir müssen uns doch an den neuen Aufgaben der Bundeswehr und dürfen uns nicht an den Aufgaben der Bundeswehr von vor zehn oder 20 Jahren ausrichten. ({8}) Nun noch ein Wort zu Ihnen, Herr Schäuble, und dann soll es auch gut sein. Was Herr Stoiber im Wahlkampf zum Thema Irak gesagt hat, ging weit über das hinaus, was Sie uns gerade vorgeworfen haben. ({9}) Er hat über Überflugrechte und dergleichen geredet. Davon wollen wir heute überhaupt nicht sprechen; sonst würde es ganz bitter für Sie. Nun zum Kollegen Schmidt. Ich gratuliere Ihnen, Herr Schmidt, herzlich zu Ihrer neuen Funktion, die Sie in Ihrer Arbeitsgruppe als Nachfolger von Paul Breuer wahrnehmen, ({10}) und wünsche mir eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen genauso wie mit dem Kollegen Nachtwei, dem Kollegen Rainer Arnold und natürlich auch dem neuen Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses, Reinhold Robbe. ({11}) Das bedeutet übrigens auch, dass ich nicht nur die Mitglieder des Verteidigungsausschusses, sondern sämtliche Abgeordneten des Parlaments, die daran interessiert sind, zu erfahren, was unsere Soldatinnen und Soldaten bei ihren schwierigen Auslandseinsätzen tun - über diese Einsätze werden wir neu entscheiden müssen; im Kabinett wird in der nächsten Woche erneut über Enduring Freedom entschieden; Mitte November wird im Parlament darüber abgestimmt; danach müssen wir im Zusammenhang mit Afghanistan über ISAF einen Beschluss fassen -, herzlich dazu einlade, sich mithilfe des Verteidigungsministeriums, mithilfe der Parlamentarischen Staatssekretäre und mit meiner Hilfe vor Ort ein Bild von deren Arbeit zu machen. Wenn das geschähe, dann würde vieles von dem, was man nicht ganz genau weiß und was man mit bestimmten Verdächtigungen belegt, wirklich aus der Welt sein und würde jeder anerkennen: Das, was die deutschen Soldaten dort tun, verdient höchsten Respekt und höchste Anerkennung. ({12}) Herr Kollege Schmidt, in der „Windsheimer Zeitung“ vom 25. Oktober 2002 haben Sie erklärt, Sie wären jetzt Schattenminister der Verteidigung, wenn es in Deutschland so wie in England ein Schattenministerium gäbe. Wollen wir einmal sehen, ob mehr „Schatten“ oder mehr „Minister“ herauskommt. Wie gesagt, versuchen wir einmal, gut zusammenzuarbeiten. ({13}) Ich will angesichts der Kürze der Zeit, die für die heutige Diskussion über Verteidigung vereinbart worden ist, nur noch einige Anmerkungen machen. Herr Kollege Hoyer, Sie haben sich zu Prag geäußert. Ich möchte wissen, wie Sie dazu kommen, die Behauptung aufzustellen, die Bundesregierung bereite sich auf Prag nicht vor. ({14}) Woher wissen Sie das eigentlich? Wir müssen unsere Vorarbeiten zunächst einmal in der Regierung leisten. Herr Kollege Hoyer, ich muss Sie nicht fragen, was ich da zur Erweiterung der NATO vorschlagen werde. Dass es in Prag vor allen Dingen um die NATO-Erweiterung geht, das wissen Sie. Dass wir diesbezüglich, bis auf zwei Länder, keine Probleme haben werden, das versteht sich von selbst. Aber wir reden auch über die neuen Initiativen des NATO-Generalsekretärs und wir reden über eine Initiative meines Kollegen Rumsfeld, nämlich über die so genannte NATO-Response-Force. Sie haben danach gefragt und ich will Ihnen Ihre Frage beantworten. Die Initiative von Donald Rumsfeld, eingebracht auf einer Verteidigungsministertagung in Warschau, an der, wie man allenthalben erfahren konnte, auch ich teilgenommen habe, war überraschend. Donald Rumsfeld hat uns vorgeschlagen, eine NATO-Response-Force mit 21 000 Mann und einer Bereitschaftszeit von sieben Tagen zu installieren. Dieser Vorschlag von Rumsfeld ist aber noch nicht konkretisiert worden. Die Konkretisierung erfolgt jetzt peu à peu. Herr Schäuble, darüber wird in Prag nicht entschieden werden. Das wäre auch nicht möglich, weil wir in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik - Sie haben es selbst angesprochen - die so genannten Helsinki-Headline-Goals beschlossen haben, das heißt - das wissen auch Sie -: Wir wollen eine eigene europäische Eingreiftruppe installieren. Deutschland soll sich an einer solchen Truppe mit maximal 32 000 Soldaten beteiligen. Ich will Ihnen dazu nur Folgendes sagen: Ich halte es für sehr vernünftig, dass man, bevor man auf eine Initiative der Amerikaner eingeht, zunächst einmal prüft, ob das, was wir in der europäischen Sicherheitspolitik verabredet haben, kompatibel mit dem ist, was Donald Rumsfeld und andere wollen. ({15}) Herr Schäuble, da wägen wir noch ab. Vielleicht können wir uns in einem Punkte treffen: Es macht keinen Sinn, zwei parallele Eingreiftruppen für nahezu den gleichen Zweck mit jeweils einem deutschen Kontingent zu installieren. Das ist nicht machbar. Ich will noch etwas zu den internationalen Einsätzen, gerade zum ISAF-Mandat, dessen Verlängerung demnächst ansteht, sagen. Ich habe mich mit meinem niederländischen Amtskollegen darauf geeinigt, dass wir die Lead-Funktion übernehmen. Ich will dem Parlament Folgendes nicht vorenthalten: Das wird bedeuten, dass die Anzahl der deutschen Soldaten, die jetzt für ISAF in Kabul tätig sind, erhöht werden muss. Das hängt insbesondere damit zusammen, dass wir von der Türkei, der jetzigen Lead Nation, den Betrieb und die Bewachung des Flughafens in Kabul übernehmen müssen, was höchst personalintensiv ist. Die Übernahme der Lead-Funktion ist sehr vernünftig: Deutschland ist das Land, das, was Auslandseinsätze angeht, nach den Amerikanern weltweit das größte Kontingent stellt. Zum Thema Deutschland/Amerika will ich Ihnen noch Folgendes sagen: Natürlich gibt es auf der anderen Seite Irritationen. Wir müssen uns nicht vorwerfen lassen, im Kampf gegen den internationalen Terrorismus oder beim Aufbau Afghanistans nicht das Nötige getan zu haben - ganz im Gegenteil, meine Damen und Herren. ({16}) Das wissen die Amerikaner auch. Es wird sich alles normalisieren, auch meine Begegnungen mit meinem amerikanischen Amtskollegen. ({17}) Das alles wird so laufen, dass Sie nachher sagen: Na wunderbar, die Verhältnisse haben sich entwickelt. Ich möchte zum Schluss auf Folgendes hinweisen: Es gibt verteidigungspolitische Richtlinien, die aus dem Jahre 1992 stammen, vom Kollegen Rühe damals festgelegt. Das ist jetzt zehn Jahre her und in diesen zehn Jahren hat sich viel verändert. Wir haben fast 10 000 Soldaten im Einsatz. Wir geben für den Auslandseinsatz der deutschen Soldaten 1,7 Milliarden Euro aus. Vor vier Jahren waren es nur 170 Millionen. Natürlich gibt es auch eine andere Bedrohungsanalyse. Davon ist heute in dieser Debatte schon die Rede gewesen. Deshalb werde ich dem Parlament gegebenenfalls im März oder April nach Abschluss der Diskussion mit dem Generalinspekteur und den Inspekteuren der Teilstreitkräfte neue verteidigungspolitische Richtlinien vorlegen, die ich für das Haus erarbeiten will, weil ich glaube, dass sich die Bundeswehr auf eine andere Situation einstellen muss, als wir sie noch vor zehn Jahren hatten. Ich setze nicht nur auf eine freundliche Zusammenarbeit mit meiner eigenen Fraktion - davon gehe ich aus; das ist eine Selbstverständlichkeit - oder dem grünen Partner, sondern auch auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit Ihnen von der CDU/CSU und der FDP. Vielen Dank. ({18})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Verteidigungsminister, das Angebot der guten, der fairen Zusammenarbeit wiederhole ich gerne auch von unserer Seite. Wir alle wissen, dass die Bundeswehr ein Organismus ist, der aus Menschen besteht, die zwar, wie man dem Löchel-Bericht und anderen Berichten entnehmen kann, langsam, aber nachhaltig das Vertrauen in ihre politische Führung verloren haben, dass sie aber unter der Bereitschaft, ihr Leben einzusetzen, politische und militärische Aufträge für uns erfüllen, bei denen sie nicht den Eindruck haben sollten, hier werde über ihren Kopf hinweg entschieden und eigentlich würden ihre Interessen überhaupt nicht berücksichtigt. Heute Vormittag war bereits die Rede davon, dass in der Regierungserklärung darüber überhaupt kein Wort verloren worden ist. Das finde ich bedauerlich. Es reicht eben nicht - um einen kleinen Nachtrag zu machen, Herr Struck -, zu Bier und großer Party etwa 50 000 Soldaten einzuladen und ihnen einen Dank abstatten zu wollen, der eigentlich nur camoufliert, dass man mit ihnen Wahlkampf machen will. Die Soldaten haben nicht vergessen und wir haben auch nicht vergessen, dass Sie versucht haben, die Bundeswehr parteipolitisch zu instrumentalisieren. Das darf nicht durchgehen und darüber werden wir noch reden müssen. Halbwahrheiten und Verdrehungen, die Sie genannt haben, sind in keiner Weise geäußert worden. Natürlich ist das Thema: Die Not ist groß; wie kommen wir um die notwendigen Canossa-Gänge herum? Herr Fischer ist jetzt gerade auf einem unterwegs. Wie kommen wir wieder ins Gespräch mit den Amerikanern, die wir im eigenen Interesse brauchen? Was können wir ihnen Christian Schmidt ({0}) anbieten, das so verpackt ist, dass die rot-grüne Koalition und die ihr anhängenden Bürgerinnen und Bürger gar nicht merken, dass wir etwas tun müssen, was wir eigentlich nach eigenem Reden nicht tun wollen? Das ist übrigens auch der Punkt, der heute früh angesprochen worden ist. Natürlich werden Sie zum Thema Irak mehr tun müssen und Sie wissen, dass Sie mehr tun müssen als das, was während des Wahlkampfes auf den Plätzen vom Bundeskanzler dargelegt und von vielen anderen nachgesprochen worden ist. Machen Sie sich keine Sorgen: Wir werden bei der Frage der Stationierung, vom Kanzlerkandidaten angefangen bis zu jedem einzelnen Mitglied der CDU/CSUBundestagsfraktion, wenn es zur Entscheidung über die Frage kommt, welche alliierten Streitkräfte unseren Grund und Boden benutzen dürfen, treu zum Bündnis stehen und verlässlich sein, so wie dies immer gewesen ist. ({1}) Ob das bei Ihnen der Fall sein wird, das weiß ich nicht. Irgendwie habe ich bei Ihrem Beitrag, Herr Struck, den Eindruck gewonnen - darüber müssen wir wohl in einer eigenen Debatte, die vor Prag stattfinden sollte, noch einmal reden -, dass Sie die Ernsthaftigkeit des Problems, dass es nämlich um die Zukunft der NATO geht - das wird nicht nur in Washington so gesehen -, nicht spüren. Sie haben übrigens die DCI-Initiative von 1999 etwas mit der nun von Rumsfeld vorgeschlagenen Response Force vermischt. Dabei handelt es sich um ganz verschiedene Dinge. Sie können nicht die Headline Goals der ESVP in Form von 60 000 Soldaten, die 2003 einsatzbereit sein sollen, aber faktisch nur auf dem Papier stehen - General Schubert wartet noch immer auf die Einsatzbereitschaft dieser Truppe -, realisieren und dann diese Einheiten den Amerikanern anbieten. Nein, Rumsfeld will doch die Probe aufs Exempel machen. Hinter den 21 000 Soldaten, die Rumsfeld für die Response Force will, steckt doch - das wissen Sie genauso gut wie ich - im Kern die politische Frage, ob die NATO als Bündnis noch in der Lage ist, militärisch an vorderer Front im Antiterroreinsatz zu reagieren oder nicht. Wenn Sie darauf mit der Antwort reagieren: „Sehr geehrter Herr Rumsfeld, wir diskutieren gerade darüber, Herr Solana bastelt mit den Türken und den Griechen am Zustandekommen einer europäischen Eingreiftruppe und schaut, ob das Berlin plus-Abkommen umgesetzt werden kann“, dann wird uns die NATO mittelfristig um die Ohren fliegen. ({2}) Sie wird kaputtgehen, und zwar entgegen unserem eigenen Interesse. Die Axiome der Außen- und Sicherheitspolitik, dass das Bündnis des freien Westens ein Stabilitätsanker ist und jetzt auch Verpflichtungen über die früheren Begrenzungen hinaus bestehen, gelten nämlich nach wie vor. Das hat auch Senator Lugar 1993, wie ich glaube, bei seiner Rede im Budapester Parlament gesagt: NATO will go out of area or out of business - die NATO muss sich engagieren oder sie wird aus dem Geschäft herausfallen. Es darf nicht dazu kommen - die Gefahr sehe ich -, dass die Sicherheitspolitik nachlässig auf der Basis eines Laisser-faire-Denkens behandelt wird. Aus diesem Desinteresse könnte die Gefahr entstehen, dass wir so alleine dastehen, dass der Begriff vom deutschen Weg, mit dem Herr Schröder gezündelt hat, auf einmal zur Realität wird, weil keiner mehr da ist, der mit uns Bündnisse schließen will. Diese Frage steht auf der Tagesordnung, nichts anderes. ({3}) Kommen wir noch einmal auf die Situation in Afghanistan zurück. Wir alle hier im Hause wissen - aber nicht jeder draußen unterscheidet genau -, dass es zum einen die Mission Enduring Freedom zur Terrorbekämpfung gibt, an der das KSK, das Kommando Spezialkräfte, mit circa 100 Mann teilnimmt. Ich bedanke mich ausdrücklich auch im Namen des Kollegen Breuer, dass Sie hierzu Informationen gegeben haben. In diesem Punkt unterscheiden Sie sich sehr lobenswert von Ihrem Vorgänger. Von dem hätten wir nämlich überhaupt nichts erfahren. In der nächsten Zeit ist aber nicht nur eine offene Informationspolitik über Enduring Freedom, sondern auch über die Probleme, die sich bei der anderen Mission in Afghanistan, bei ISAF, deren Führung Sie der Bundeswehr anvertrauen wollen, ergeben, erforderlich. Wenn man in solch eine Sache mit mehr Engagement hineingeht, muss man auch wissen, wie man wieder herauskommt. Bisher war das gerade einmal einigermaßen darzustellen. Wenn aber die Amerikaner ihr Engagement, dessen Schwerpunkt bei der Operation Enduring Freedom liegt, in andere Wetterecken dieser Welt verlagern, dann darf es nicht dazu kommen - darüber müssen wir schon sehr intensiv reden -, dass Soldaten der deutschen Bundeswehr und von Alliierten, die in und um Kabul stehen, im Falle einer Zunahme der Spannungen auf sich alleine gestellt sind. ({4}) Sie wissen sehr genau, warum ich das so sehr betone. Der letzten schriftlichen Unterrichtung des Parlaments entnehme ich, dass es erst vor kurzem wieder eine gefährliche Situation gegeben hat, von der auch unsere Soldaten hätten betroffen sein können. Gott sei Dank ist nichts passiert und es wird sicherlich viel getan, um solche Gefahren zu verhindern. Sie sind aber nicht auszuschließen und es ist zu befürchten, dass mit einer Exponierung der Bundeswehr die Gefahren auch für sie steigen. Das wird in Zusammenhang mit der Verlängerung von Enduring Freedom und von ISAF zu behandeln sein. Damit komme ich zu einem weiteren Punkt grundsätzlicher Art, den wir heute schon ansprechen sollten. Der Kollege Schäuble hat das bereits dargelegt. In diesem Punkt herrscht bei uns die tiefste Enttäuschung über Ihren Koalitionsvertrag. Über die vielen Prosateile des Koalitionsvertrages kann man hinweglesen, aber wir stellen auch fest, dass etwas nicht darin steht. Meiner Meinung nach hätten wir bei diesem Punkt im Rahmen eines kon114 struktiven Dialogs feststellen können, was da getan werden muss. Bei dem Punkt handelt es sich um die innere und äußere Sicherheit als Ganzes. Ich habe noch in Erinnerung, wie Alterspräsident Schily zur Eröffnung der 15. Wahlperiode des Deutschen Bundestages auf die insoweit bestehenden Gefährdungen hingewiesen hat, und Herr Fischer hat gerade auch noch einmal Djerba und alles andere heruntergebetet. Die Frage lautet, wie sich Gefährdungen, die vermeintlich die innere Sicherheit betreffen, aber faktisch Angriffe von außen sind - Stichwort: asymmetrische Konflikte -, in einer Strukturreform der Bundeswehr niederschlagen können. Davon haben wir nichts gehört bzw. gelesen. Wir sind gerne bereit, über diese Frage im Zusammenhang mit den verteidigungspolitischen Leitlinien, die Sie vorlegen wollen, zu sprechen, weil wir sie für sehr wichtig halten. Wir wissen, dass hierbei viele Hindernisse zu überwinden sind. Das geht bis hin zu der Frage, was angesichts der deutschen Tradition und der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland an Fragezeichen dahinter steht. Jedenfalls bin ich fest davon überzeugt, dass eine Strukturreform, wenn Sie sie jetzt wieder ansetzen, weil die erste nicht finanziert war und weil auch die zweite drangegeben worden ist, nur eine Camouflage für nicht vorhandenes Geld und für Kürzungen ist, wenn Sie solche Fragen nicht anpacken. Ich sage hier ausdrücklich: Bei diesen Fragen, bei denen Sie natürlich in ganz entscheidendem Maße auch die Länder brauchen, werden Sie auf eine kritische, konstruktive Arbeit und auf Initiativen von uns rechnen können. ({5}) Wir werden Sie daran messen, wie Sie diese Initiativen dann auch finanziell umzusetzen in der Lage sind. In der Koalitionsvereinbarung haben Sie sehr intensiv auch Herrn von Weizsäcker genannt. Mit Genehmigung der Frau Präsidentin möchte ich aus der Koalitionsvereinbarung kurz zitieren.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich muss Sie auf die abgelaufene Redezeit hinweisen. Wenn es ein ganz kurzes Zitat ist, dann erlaube ich das.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nur einen Satz aus der Nr. 256 - Ich zitiere -: Für den Übergang - der Reform, welcher Reform auch immer werden zusätzliche Mittel gebraucht ({0}). Nur so kann die Reform erfolgreich angegangen werden. Das wird das Dilemma Ihrer nächsten Jahre sein. ({1}) Ich hoffe, dass es nicht das Dilemma der Sicherheit Deutschlands wird. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Für eine Kurzintervention erhält jetzt der Abgeordnete Dr. Peter Struck das Wort. ({0})

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu dieser Kurzintervention hat mich der Beitrag des Kollegen Schmidt veranlasst. Herr Schäuble hat das auch schon angesprochen. Beide haben mir vorgeworfen, im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe Wahlkampf gemacht zu haben. Ich möchte darauf hinweisen - das müsste eigentlich auch Ihnen bekannt sein -, dass dieser Einsatz bei der Flutkatastrophe an der Elbe der größte war, den die Bundeswehr je durchgeführt hat, und zwar höchst erfolgreich, meine Damen und Herren. Das weiß man ja wohl. ({0}) Dass in einer solchen Situation der zuständige Minister bei den Soldaten sein muss, gehört sich auch. ({1}) Herr Kollege, was hätten Sie wohl gesagt, wenn ich nicht dorthin gefahren wäre, sondern am Schreibtisch sitzen geblieben wäre? Sie hätten gesagt, dass ich es noch nicht einmal für nötig halte, meine Soldaten zu besuchen. Nehmen Sie endlich diesen Unsinn aus der Welt! ({2})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege und Namensvetter Schmidt, Sie haben mal wieder nicht Recht. Ich habe es nicht nur akzeptiert, sondern eindeutig bejaht, dass der Einsatz der Bundeswehr bei dieser Flutkatastrophe - wie auch bei anderen Naturkatastrophen - eine äußerst wichtige, lobenswerte und erfolgreiche Aktion war. Das ist überhaupt keine Frage. Wir brauchen nicht darüber zu streiten, dass der Verteidigungsminister vor Ort sein muss. Aber diesen Punkt habe ich nicht gemeint. ({0}) - Nein. Es stellt sich allerdings die Frage, was man aus dem Einsatz der Bundeswehr macht. Dabei geht es zum einen um die Frage, wie die Feier für die Soldaten gestaltet wird und wo sie stattfindet. Zum anderen geht es - da gibt es einen mittelbaren Zusammenhang mit der Flutkatastrophe; diesen Punkt habe ich gemeint - um die Initiative Christian Schmidt ({1}) Christian Schmidt ({2}) „Soldaten für Schröder“. Das war der eigentliche Sündenfall. ({3}) Es geht um die Frage, wie man vor einer Wahl mit der Bundeswehr umgeht. Sie haben kurz vor der Wahl den Versuch der SPD zugelassen - Herr Müntefering hat Sie darin unterstützt -, die Bundeswehrsoldaten vor den Wahlkampfkarren zu spannen. Das muss schärfstens kritisiert werden; das darf es nicht geben. In diesem Punkt haben Sie die Fürsorgepflicht für Ihre Soldaten nicht richtig wahrgenommen. Bei dieser Einschätzung bleibe ich. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried Nachtwei.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Anfang dieser Legislaturperiode stehen wieder Entscheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr an, genauso wie zu Beginn der vorherigen Legislaturperiode, als es nämlich um die Androhung von Luftangriffen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ging. Damals - das wissen wir alle - war diese Entscheidung in diesem Haus und in der Gesellschaft heiß umstritten. Damals war die Befürchtung verbreitet, dass damit ein Präzedenzfall im Hinblick auf das Verhältnis zu den Vereinten Nationen geschaffen werde. Diese Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet. Wir haben uns bemüht, aus dem Kosovo-Konflikt und aus dem Kosovo-Krieg die angemessenen friedens- und sicherheitspolitischen Lehren zu ziehen. Dies zeigt sich deutlich zu Beginn dieser Legislaturperiode. Die Verlängerung des Mazedonien-Mandats in der vorigen Woche stand - darauf wurde ausdrücklich hingewiesen - im Kontext umfassender Politik einer wirksamen Krisenvorbeugung. Die bevorstehenden Entscheidungen zur weiteren Beteiligung an Enduring Freedom und an der ISAF-Schutztruppe in Kabul sollen der Gewalteindämmung und Gefahrenabwehr dienen. In der Koalitionsvereinbarung stellen wir eindeutig klar: Zweck von Kriseneinsätzen der Bundeswehr ist nicht eine militärische Konfliktlösung; denn das wäre illusionär. Ihr Zweck ist, zur Gewaltverhütung beizutragen und Stabilisierungs- und Friedensprozesse dort zu unterstützen, wo zivile Beobachter und Vermittler, wo Polizisten nicht mehr ausreichen. Der Rahmen von Kriseneinsätzen ist die Charta der Vereinten Nationen, ist das Völkerrecht und eine Politik gemeinsamer und kooperativer Sicherheit. Diese Grundhaltung kontrastiert mit Bestrebungen, über eine „präventive Selbstverteidigung“ das allgemeine Gewaltverbot der UN-Charta zu unterlaufen. Die Absage der Bundesregierung an einen Krieg zum Sturz des irakischen Regimes ist die logische Konsequenz aus dieser Grundhaltung. ({0}) Die Bundeswehr soll wirksam und verantwortlich zur internationalen Sicherheit beitragen können. Dafür ist zumindest Folgendes unabdingbar: Friedenseinsätze und Kriegsverhütung brauchen einen ausgewogenen Mix an zivilen, polizeilichen, politischen und militärischen Fähigkeiten. Die rot-grüne Bundesregierung baut nun - so steht es im Koalitionsvertrag - das in diesem Jahr gegründete Zentrum für Internationale Friedenseinsätze zu einer vollwertigen Entsendeorganisation aus. Das heißt, wir bemühen uns, die zivilen Säulen von Friedensmissionen der Vereinten Nationen, der OSZE usw. entsprechend zu stärken. Wir haben uns zum anderen vorgenommen, einen ressortübergreifenden Aktionsplan im Hinblick auf Krisenprävention auszuarbeiten, was bedeutet, dass wir die verschiedenen notwendigen Fähigkeiten in diesem Bereich systematisch aufbauen und entwickeln wollen. Was hat das mit der Bundeswehr zu tun? Nur wenn wir diese Fähigkeiten vernünftig entwickelt haben, kommen wir aus Kriseneinsätzen wieder heraus. Das ist schlichtweg die Konsequenz. Die Bundeswehrreform, das heißt die Befähigung der Bundeswehr zur Bewältigung neuer Aufgaben, ist nicht nur fortzusetzen, sondern ausdrücklich auch weiterzuentwickeln; so haben wir es in der Koalitionsvereinbarung formuliert. An die Lösung dieser Aufgaben geht Rot-Grün mit Klarheit über die Zielsetzung der Bundeswehrreform und mit - so formuliere ich diplomatisch - gewachsenem Realismus. Dabei sind für uns die Vorschläge der Weizsäcker-Kommission die Richtschnur. Eine notwendige Modernisierung ist nur mit einer deutlichen Senkung des Personalumfangs zu realisieren. Das ist die offensichtliche Konsequenz. ({1}) Sehr geehrter Herr Minister, lieber Kollege Struck, am 25. Juli dieses Jahres wurden Sie zum Minister vereidigt. Manche Gratulanten der Oppositionsfraktionen dachten damals an eine Befristung Ihrer Amtszeit. Wir sind ausdrücklich froh, dass Sie Minister geblieben sind. Ich bin mir sicher, dass Sie Ihre Verantwortung mit sicherheitspolitischer Klarheit und mit Realismus wahrnehmen. Dabei wünschen wir Ihnen eine glückliche Hand und hoffen auf eine gute Zusammenarbeit. Danke. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Friedbert Pflüger. ({0})

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister Struck, noch ein Wort zu Ihrer Kurzintervention soeben. Wahlkampf haben Sie wirklich gemacht. ({0}) Soweit ich mich erinnern kann, hat es noch nie einen Verteidigungsminister gegeben, der selbst - und das in der kurzen Zeit vor der Wahl, in der er das Amt innehatte eine solche Initiative wie „Soldaten für die SPD“ vorgestellt hat. Es ist falsch, Parteipolitik in die Bundeswehr, zu unseren Soldaten zu tragen. Das haben wir kritisiert, Herr Bundesverteidigungsminister. ({1}) Wir beschäftigen uns heute in der Tat nicht mehr mit dem Wahlkampf, ({2}) sondern mit den großen Bedrohungen, denen wir gegenüberstehen. Eine Bedrohungsanalyse habe ich weder vom Bundeskanzler heute Morgen in der Regierungserklärung vernommen noch in der Koalitionsvereinbarung gefunden. Wenn man die Koalitionsvereinbarung liest, dann stellt man fest, dass Sie fast so tun, als müsse man nur ein bisschen Konfliktprävention machen und Friedensmissionen unterstützen. Aber dass wir in einer sehr gefährlichen Welt leben, nehmen Sie nicht zur Kenntnis. Kofi Annan hat die Weltgemeinschaft zur Einheit im Kampf gegen den internationalen Terrorismus aufgerufen. Kofi Annan sagt: Alles, woran wir glauben, ist heute bedroht, Respekt vor menschlichem Leben, Gerechtigkeit, Toleranz, Pluralismus und Demokratie. Meine Damen und Herren, der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat mehr von den Bedrohungen verstanden, als es der Bundeskanzler heute bei sich hat erkennen lassen. Das ist ein großes Problem, vor dem wir stehen. ({3}) New York und Washington am 11. September, Djerba, Bali, Moskau, der Anschlag auf den französischen Tanker Limburg und viele Anschläge, die gerade noch verhindert werden konnten, sind eine weltweite Herausforderung. Die internationale Antiterrorallianz kämpft in Afghanistan und am Horn von Afrika. Überall auf der Welt gibt es diese neue Form der Bedrohung, ja man kann sagen, das Ganze ist eine neuartige Form von weltweitem Krieg, in dem wir uns befinden. Davon lesen wir bei Ihnen nichts. Sicher, die Art der Anschläge weist natürlich Unterschiede auf. Es gibt regional völlig unterschiedliche Punkte, an denen islamistische Extremisten ansetzen. So werden Lebensumstände wie Armut, Unterdrückung und Unabhängigkeitsbestrebungen, beispielsweise in Tschetschenien, ausgenutzt, ausgebeutet und aufgeblasen. Vor allem junge Menschen, die aufgrund der Globalisierung nach Orientierung und Würde suchen, die in Not und Armut leben, werden aufgeheizt, missbraucht und zu Selbstmordattentätern ausgebildet. Das ist die Lage, die wir zurzeit überall auf der Welt erleben. Das ist kein Angriff gegen Amerika, das ist ein Angriff gegen uns alle, gegen unsere Form des Zusammenlebens, gegen unsere Kultur und gegen die Art von Demokratie, die wir seit einigen Jahrhunderten erleben. Das ist das Problem, dem wir gegenüberstehen. Dazu hätten wir gern heute etwas von Ihnen gehört. ({4}) Niemand kann diesem Konflikt dadurch ausweichen, dass man nicht darüber redet oder ihn verharmlost. Wir leben nicht auf einer Insel der Glückseligen. Hier in Deutschland hat es bereits Tote gegeben. Ein 16-jähriger Junge aus Lübeck ist mit seiner Familie nach Tunesien gefahren. Als er nach Hause kam, waren sein Bruder, seine Mutter und seine Großmutter tot. Er selbst lebt schwer verletzt weiter. Meine Damen und Herren, der Terrorismus ist hier bei uns, er ist nicht etwas für ferne Länder. Wir Deutsche sind bereits betroffen und deswegen ist er eine fundamentale Herausforderung für uns alle. Das BKA, so berichtet der „Spiegel“ in seiner jetzigen Ausgabe, hält Deutschland inzwischen annähernd für so gefährdet wie die USA. Unser Land, bisher nur Vorbereitungsraum für Terroranschläge, sei inzwischen auch ein mögliches Ziel von Anschlägen. Deutschland, so das BKA, werde direkt von al-Qaida bedroht. Wir hätten gern Auskunft von der Bundesregierung darüber, ob sie mit der Einschätzung des BKA übereinstimmt, ob wir wirklich unmittelbar bedroht werden. Denn das ist eine völlig andere Dimension als die, die uns in den schönfärberischen Berichten untergejubelt wird. Geradezu apokalyptisch würde diese Gefahr des Terrorismus werden, wenn er in den Besitz von Massenvernichtungswaffen käme. Wer die barbarischen Terrorakte vom 11. September zu verantworten hat, dem ist jedes Mittel recht, auch der Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Schauen wir einmal nach Russland: In den vergangenen zehn Jahren wurden in Russland nach offiziellen Angaben 29 Diebstähle von Kernmaterial aufgedeckt. Im Dezember 1995 verschwanden in Tscheljabinsk 18,5 Kilogramm und im März 2001 in Krasnojarsk 3,6 Kilogramm hoch angereichertes Uran. Der russische DumaAbgeordnete Mitrochim erklärt dazu: In Russland und in anderen GUS-Staaten gibt es einen schwarzen Markt, auf dem sie Kernsprengstoff überall kaufen können. Auch die al-Qaida ist dazu in der Lage, über gut bezahlte Agenten in russischen Atomanlagen an waffenfähiges Uran oder Plutonium zu kommen. Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und nuklearem Know-how ist unsere Realität. Wir wissen, dass sich Saddam Hussein das zum Ziel erklärt hat. Das ist keine Vermutung, nichts, was konservative Kettenhunde sagen. Es ist das Wissen unserer Dienste, dass er A-, B- und C-Waffen haben will. Können wir ausschließen, dass er sie in Kürze hat und auch benutzt? Vielleicht war es doch ein Fehler, dass der Herr Bundesaußenminister vorhin gesagt hat: Na ja, ob Irak die richtige Priorität sei? Doch, meine Damen und Herren! Hier sitzt ein Diktator, ein Tyrann, den Enzensberger bereits 1991 als den Nachfolger Hitlers bezeichnet hat, der sich diese Waffen besorgt, der bereit ist, sie anzuwenden und sie bereits gegen sein eigenes Volk angewendet hat. Dann erklärt Herr Fischer, diesem Bereich müsse nicht die Priorität unserer Außenpolitik eingeräumt werden. Welcher Bereich unserer Außenpolitik besitzt denn höhere Priorität, als diesen Wahnsinnigen bei dem Versuch zu stoppen, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu kommen? ({5}) Alexander Kwasniewski, der polnische Präsident, hat - wie ich glaube - Recht, wenn er sagt: Die Bedrohung durch Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen ist real. Wir wollen eine neue, scharfe UN-Resolution, die nicht nur Inspektionen, sondern die Vernichtung dieser Waffen erzwingt und Militärschläge erlaubt, wenn Saddam trickst. Dies ist die Meinung der Polen, der Franzosen und sogar der Saudis. Sie alle sagen: Wenn es eine UN-Resolution gibt, unterstützen wir die Amerikaner und die Weltgemeinschaft bei dem Versuch, Saddam zu entwaffnen. Dies sagen selbst die Saudis, nur die deutsche Bundesregierung nicht. Nur Rot-Grün sagt: Wir auf gar keinen Fall. Die Amerikaner hat nicht verletzt - das habe ich in den Gesprächen immer wieder gemerkt, Herr Müntefering -, dass wir eine andere Meinung haben. Der Kollege Schäuble hat darauf hingewiesen. Dies haben sie auch in ihrem eigenen Kongress erlebt, wo sie sehr ernsthaft gestritten haben. Die Amerikaner hat nicht verletzt, dass wir gesagt haben: Wir wollen keine Soldaten schicken. Sie haben uns auch gar nicht danach gefragt. Sie haben auch gar nicht nach Geld gefragt. Verletzt hat sie, dass wir ihnen nicht einmal ein Minimum an politischer Solidarität und moralischer Unterstützung geben. Dies ist und bleibt ein Skandal. Sie werden es schwer haben, den dadurch angerichteten Schaden in den nächsten Wochen und Monaten zu reparieren. ({6}) Es bleibt die große Aufgabe der deutschen Politik, über die selbst gewählte Isolation, den Vertrauensverlust und den Gewichtsverlust hinwegzukommen. ({7}) - Dies sind keine Wahnvorstellungen, Frau Sager. Reden Sie doch einmal mit den Amerikanern. ({8}) Die Nagelprobe dafür ist der nächste NATO-Gipfel. Wir werden sehen, wie sich die Bundesregierung dort verhält. Neben der Erweiterung der NATO, die wir sehr begrüßen, kommt es auf diesem NATO-Gipfel darauf an, dass wir zwei Dinge miteinander vereinbaren: Die Bereitschaft, gegen die eben beschriebene terroristische Bedrohung, gegen die Hersteller von Massenvernichtungswaffen mit allen polizeilichen, geheimdienstlichen und militärischen Mitteln vorzugehen und uns dabei nicht auszuklinken und abzukoppeln, sondern Teil der Weltgemeinschaft zu sein, ist die eine Säule unserer Sicherheitspolitik. Die andere Säule unserer Sicherheitspolitik, die aber nur eine von zwei Säulen ist, ist die Lösung von regionalen Konflikten. Dies beinhaltet den kulturellen Dialog mit den Moslems überall auf der Welt, die durch ihre Weltreligion natürlich große Leistungen für die Welt vollbracht haben, die aber extremistische Ränder haben, die im Moment stärker werden. Ich glaube aber zutiefst, dass die Religion als solche zum Dialog bereit ist. Wir müssen unsere Märkte öffnen. Wir müssen Entwicklungsprojekte durchführen sowie die Demokratie fördern. Auch eines ist wahr: Nicht jeder, der gegen Terrorismus ist, ist auch unser Freund. Es gibt Länder, die gegen den Terrorismus sind, aber trotzdem wenig für die Demokratie in ihrem Land tun. Auch hier müssen wir zu unseren Werten und Überzeugungen stehen. Beides ist notwendig: Demokratieförderung und Kulturdialog zusammen mit einer Öffnung der Märkte, mit Hilfe, um Armut und Würdelosigkeit zu überwinden. Dies alles geht umso besser, je mehr wir bereit sind, zusammen mit anderen - nie alleine - militärische, polizeiliche und geheimdienstliche Verantwortung zu tragen. ({9}) Mein letzter Gedanke: Jimmy Carter hat den Friedensnobelpreis bekommen. Ich glaube, in diesem Fall kann ich für das ganze Haus sprechen und dem früheren amerikanischen Präsidenten zu diesem Friedensnobelpreis herzlich gratulieren. ({10}) Jimmy Carter hat diesen Preis durch seinen lebenslangen Einsatz für den Frieden wirklich verdient. ({11}) Aber Jimmy Carter war nie jemand, der gesagt hat: Frieden um jeden Preis. Für ihn bestand der Kern der Friedensbotschaft aus einem würdigen Leben und der Einhaltung der Menschenrechte. Der Friede macht nur Sinn, wenn die Menschen auch Freiheit haben. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Pflüger, jetzt haben Sie weit überzogen. Ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Uns für die Freiheit und für den Frieden einzusetzen, darauf kommt es an. Dem fühlen wir uns als Union verpflichtet. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhold Robbe.

Reinhold Robbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will nicht auf all die Stichworte eingehen, die unmittelbar mit dem im Zusammenhang standen, was sich im Wahlkampf abgespielt hat. Aber eine Bemerkung, sehr verehrter Herr Kollege Pflüger, sei mir doch erlaubt. Ich glaube, bei all dem, was, auch hier in diesem Hohen Hause und in dieser Debatte, an Übertreibungen hingenommen werden kann, darf eines nicht hingenommen werden: dass - Sie haben das mehr oder weniger direkt zum Ausdruck gebracht - diesem Verteidigungsminister und dieser Bundesregierung ein unsolidarisches Verhalten gegenüber unserem wichtigsten Bündnispartner, den Vereinigten Staaten von Amerika, unterstellt wird. ({0}) Deswegen erscheint es mir, bei allem Verständnis auch für Aufgeregtheiten, angemessen und erforderlich, das an dieser Stelle zurückzuweisen. Erst vor wenigen Wochen konnten wir alle zusammen hier in Berlin den zwölften Jahrestag der Wiedervereinigung feiern. Der 3. Oktober steht aber nicht nur als symbolisches Datum für den Fall der Mauer und für die friedliche Revolution in der damaligen DDR. Der 3. Oktober steht auch für den Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks und für eine vollkommen veränderte sicherheitspolitische Lage in der Welt. Vor zwölf Jahren hat niemand in diesem Hohen Hause und in unserem Land auch nur andeutungsweise ahnen können, mit welchen Krisenherden wir es heute zu tun haben. Weder die Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien noch der schlimmste Terroranschlag in der Nachkriegsgeschichte am 11. September vergangenen Jahres mit all den Folgen waren vor zwölf Jahren absehbar. Wenn man sich einmal vor Augen führt, welche Konsequenzen in der Sicherheitspolitik die Krisenherde bei uns und unseren Bündnispartnern hatten, stellt man fest, dass wir es heute nicht nur mit ganz neuen politischen und militärischen Sichtweisen zu tun haben. Nein, ich wage zu behaupten, dass im öffentlichen Bewusstsein noch gar nicht richtig realisiert wurde, dass wir in Deutschland aufgrund der neuen Verantwortung einen regelrechten Quantensprung in der Sicherheitspolitik vollzogen haben. ({1}) Nichts ist mehr so, wie es war. Deutschland hat sich von der reinen Landesverteidigung verabschiedet und internationale Verantwortung übernommen. Die Welt ist enger zusammengewachsen. Die internationalen Erwartungshaltungen gegenüber Deutschland sind gewachsen. Heute befinden wir uns auf einem Weg, von dem zurzeit noch niemand genau weiß, wie er mittelfristig und langfristig exakt verlaufen wird. Aber eines steht trotz unvermeidlicher Differenzen im Detail und trotz gewisser tagespolitischer Aufgeregtheiten unumstößlich fest: Wir sind ein verlässlicher und solidarischer Partner in Europa und in der Welt. Unsere Außen- und Sicherheitspolitik ist aktive Friedenspolitik. ({2}) Wir stehen zu unseren Bündnisverpflichtungen und im Zweifelsfalle immer auf der Seite derer, die von Vertreibung, Verfolgung oder Schlimmerem bedroht werden. Hierbei verkennen wir nicht die Grenzen unserer Möglichkeiten, die sich naturgemäß auch an unseren verfassungsrechtlichen Auflagen und an den militärischen Fähigkeiten unserer Bundeswehr festmachen. Dazu hat sich der Verteidigungsminister heute und auch in der Vergangenheit umfassend geäußert, ein Verteidigungsminister im Übrigen - dieser Hinweis sei mir an dieser Stelle erlaubt -, der seinen Job ausgesprochen gut macht, kompetent, führungsstark, umsichtig und sensibel. ({3}) Die konsequente Fortsetzung des eingeschlagenen Reformweges für die Bundeswehr ist Grundvoraussetzung für die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands. Die außerordentlich komplizierte und schwierige internationale Lage lässt auf absehbare Zeit keine Entlastung für das deutsche Engagement und die Einsätze der Bundeswehr erwarten. Die Anforderungen an Deutschland und seine Streitkräfte sind und bleiben hoch. Wir haben eine Pflicht zur Solidarität, zur Wahrnehmung von Verantwortung und zur Unterstützung derer, die auf uns bauen. Mit jedem Fortschritt bei der Umsetzung der Reform der Bundeswehr werden wir besser in der Lage sein, das zu leisten, was von ihr in Deutschland, in der NATO, in der Europäischen Union, in den Vereinten Nationen und seitens unserer Partner und Freunde in aller Welt zu Recht erwartet wird, nämlich deutsche Politik für Frieden und Sicherheit wirksam und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen. ({4}) Die aktuelle sicherheitspolitische Agenda steht weiterhin stark im Zeichen des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus; verschiedene Redner sind in dieser Debatte schon ausführlich darauf eingegangen. Der schreckliche Anschlag in Moskau hat uns dies erneut mehr als deutlich vor Augen geführt. Auch die Lage im Nahen Osten und in anderen Krisenherden dieser Welt ist alles andere als hoffnungsvoll. Der Prozess der Anpassung der Außen- und Sicherheitspolitik an diese neue Gefährdungslage ist noch lange nicht abgeschlossen. Für die Bundeswehr bedeutet die vielfältige Beteiligung an Enduring Freedom und ihre Schlüsselrolle bei dem ISAFAuftrag - zusammen sind hier übrigens über 2 700 Soldaten im Einsatz - eine große Herausforderung und bringt ganz neue Belastungen mit sich. Die Stabilisierung Südosteuropas bleibt ein Schwerpunkt der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Deshalb ist die Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und in Mazedonien auch weiterhin gefordert, und zwar wahrscheinlich noch über viele Jahre hinweg. Meine Damen und Herren, hinzuweisen ist aber auch auf die Tatsache, dass die Bundeswehr bei ihren Einsätzen im Ausland an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit gestoßen ist. Deutschland stellt weltweit nach den USA das größte Truppenkontingent für internationale Einsätze, noch weit vor England und Frankreich. Der Bundeskanzler hat heute Morgen übrigens sehr deutlich darauf hingewiesen. Noch 1998 haben wir 178 Millionen Euro hierfür aufgewendet, jetzt im Jahre 2002 sind es bereits mehr als 1,7 Milliarden Euro. All dies muss in der aktuellen innenpolitischen Diskussion und bei der Konsultation mit unseren Partnern eine Rolle spielen. Wenn die Beziehungen zwischen der NATO und der Europäischen Union auch institutionell endgültig ausgestaltet sind, wird dies die europäische Handlungsfähigkeit erheblich stärken. Auch bei uns in Deutschland hat der 11. September 2001 die Anpassung unserer Sicherheits- und Friedenspolitik an die veränderten Bedingungen beschleunigt. Als diese Regierung im September 1998 Verantwortung übernahm, war die Bundeswehr mit rund 2 800 Soldaten in Bosnien und in Georgien engagiert, um den Frieden zu sichern. Inzwischen sind es rund 10 000 Soldaten, die die Bundeswehr für multinationale Einsätze stellt. So sind deutsche Soldaten als Teil von ISAF in Afghanistan und darüber hinaus in vielfältiger Weise innerhalb und außerhalb Europas militärisch im Kampf gegen den Terror engagiert. Die Bundeswehr ist hierdurch mehr denn je zu einer Armee im Einsatz geworden. Sie steht dabei im Dienst einer deutschen Politik für Frieden und Sicherheit, die umfassend angelegt und konsequent auf Interessenausgleich und Zusammenarbeit im europäischen, transatlantischen und globalen Rahmen ausgerichtet ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen uns, wie dies Bundeskanzler Gerhard Schröder am 11. Oktober vergangenen Jahres im Bundestag erklärt hat, in neuer Weise der internationalen Verantwortung stellen. Der deutsche Beitrag muss hierbei aber an unseren politischen und militärischen Möglichkeiten gemessen werden. Die Einsätze der Bundeswehr haben trotz der hohen Professionalität unserer Soldaten und Soldatinnen und trotz der großen Anerkennung bestätigt: Die Bundeswehr verfügt noch nicht über alle erforderlichen und angemessenen Fähigkeiten für das gesamte neue Aufgabenspektrum. Der Wandel zu einer Armee im Einsatz muss in den nächsten vier Jahren weiter mit Nachdruck vorangetrieben werden. Die laufende Reform ist der Schlüssel dazu. Die Reform ist deshalb auf gutem Wege, weil sich die Menschen in der Bundeswehr ihre Ziele und Inhalte zu Eigen gemacht haben. Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist heute auch ein geeigneter Anlass, um gerade den Soldatinnen und Soldaten ganz herzlich zu danken. ({5}) Vor diesem Hintergrund - ich komme sofort zum Schluss, Frau Präsidentin - muss uns, wie ich glaube, um die Sicherheit unserer Grenzen, um die internationalen Verpflichtungen Deutschlands gegenüber unseren Partnern und auch um die Zukunftsfähigkeit der deutschen Bundeswehr nicht bange sein. In diesem Sinne bedanke ich mich. Ich freue mich auf meine neue Aufgabe als Vorsitzender des Fachausschusses. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Legislaturperiode wollen wir die Entwicklungspolitik, wie wir dies in der letzten Legislaturperiode begonnen haben, zu einem zentralen Baustein für globale Zukunfts- und Friedenssicherung weiterentwickeln. Wir stehen unter dem Leitbild der gerechten Globalisierung und wir steigern die Mittel für die Entwicklungsfinanzierung; das hat der Bundeskanzler in seiner Rede heute noch einmal deutlich gemacht. Als Zwischenziel zur Verwirklichung des 0,7-Prozent-Ziels wollen wir bis zum Jahr 2006 die 0,33-Prozent-Quote für die Entwicklungszusammenarbeit umsetzen und im Übrigen in den internationalen Finanzinstitutionen andere Finanzierungsinstrumente, wie Nutzungsentgelte oder auch Devisentransaktionssteuern, prüfen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schade, dass sich manche der Debatte hier entziehen. ({1}) In dieser Diskussion ist immer wieder deutlich geworden, wie wichtig eine verantwortliche Regierungsführung auch mit Blick auf die Länder der so genannten Dritten Welt, also auf die Entwicklungsländer, ist. Wir verlangen von ihnen eine Beteiligung der Bevölkerung an Entscheidungen und wir verlangen von ihnen Rechtsstaatlichkeit. Wir müssen aber auch dazu beitragen, dass die Kriterien, die an die Entwicklungsländer angelegt werden, auch an die internationalen Entscheidungsmechanismen angelegt werden. Hier gibt es noch viel zu tun. Ich möchte Ihnen das sagen, was ich immer schon gesagt habe: Der UN-Sicherheitsrat spiegelt keineswegs die Verhältnisse wider, wie sie sich Ende des letzten Jahrhunderts und auch jetzt in der Welt entwickelt haben. Es gibt noch viel zu reformieren und viele Notwendigkeiten für eine bessere Repräsentanz. ({2}) In der heutigen Diskussion - das möchte ich an dieser Stelle auch ansprechen - ist viel von Amerika die Rede gewesen. Ich möchte aber daran erinnern, dass Amerika nicht nur aus dem Norden, sondern auch aus dem Süden besteht. In den letzten Tagen gab es eine wichtige Entscheidung. In Brasilien, dem zentralen Land in Lateinamerika, ist ein neuer Präsident, Luiz Inácio da Silva, gewählt worden. An dieser Stelle möchte ich ihm zu seiner Wahl gratulieren ({3}) und ihm zusagen, dass wir die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Unterstützung seiner Politik fortsetzen werden, so wie wir das gegenüber Brasilien bisher auch getan haben. Er hat besonders darauf hingewiesen, dass er die Armutsbekämpfung im eigenen Land in den Mittelpunkt stellen wird. Der Erfolg des neuen brasilianischen Präsidenten kann von zentraler Bedeutung für ganz Lateinamerika sein; denn in fast allen Ländern Lateinamerikas gab es immer die Hoffnung und Erwartung, dass die Verankerung der Demokratie mit deutlichen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritten für die breite Masse der Bevölkerung einhergehen werde. Gerade das ist für die Stabilisierung von Demokratie und auch für die Situation der Armen wichtig. Deshalb ist es eine sehr wichtige Entwicklung, die wir entsprechend fördern wollen. Es ist schade, dass ich den Kollegen Pflüger jetzt nicht entdecken kann. Er hat ja über die Frage gesprochen, wo Ursachen für Terrorismus zu finden sind. An dieser Stelle will ich sagen: Kofi Annan hat betont, wie wichtig es ist - wir betonen es ebenfalls; es ist ein Schwerpunkt -, dazu beizutragen, dass die Ziele der internationalen Gemeinschaft, die weltweite Armut bis zum Jahr 2015 drastisch zu reduzieren und dafür zu sorgen, dass alle Kinder die Chance haben, bis zum 14. Lebensjahr in die Schule zu gehen, erreicht werden. ({4}) Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, den Koran-Schulen entgegenzuwirken und dazu beizutragen, dass die Mädchen eine Chance haben. Dafür investieren wir Finanzmittel. Ein besonderer Schwerpunkt wird daher die Eröffnung des Zugangs von Kindern zu Bildung und Ausbildung sein. Ich möchte an dieser Stelle den Punkt aufgreifen, der eine große Rolle gespielt hat. Es gibt weiterhin gewalttätige Gruppierungen und terroristische Banden, die abscheuliche Verbrechen verüben. Ich zitiere aber den amerikanischen Politikwissenschaftler Benjamin Barber, der in der sicherlich nicht des Linksradikalismus zu bezichtigenden Zeitung „Welt am Sonntag“ kürzlich erklärt hat: „Armut und Hoffnungslosigkeit schaffen eine Umgebung für Terror.“ Seine Folgerung lautet:„Wir müssen die Welt verändern und verbessern.“ Diese Aufgabe dürfen wir in der Diskussion über die Frage, wo und wann Militär eingesetzt werden soll, nicht vergessen. Ich bin erstaunt, dass diese Perspektive, über die wir uns doch immer einig waren, in dieser Debatte fehlt. ({5}) Ich habe während des Bundestagswahlkampfes viele Diskussionen zur Irak-Frage geführt. Erstens. Ich verbitte mir die Unterstellung, dabei sei Antiamerikanismus praktiziert worden. ({6}) Zweitens. Die Leute, die da auf den Plätzen standen, hatten keine antiamerikanischen Ressentiments, sondern sie wollten dort stehen und sich engagieren, weil sie ein Signal für Frieden und Prävention und gegen Krieg setzen wollten. Das ist doch eine wunderbare Motivation, aus der heraus sich Menschen engagieren. Das sollte hier nicht diffamiert werden. ({7}) Wir brauchen Investition in Prävention, nicht in Krieg. Und ich habe die ganze Debatte über zugehört. Ich bin doch erstaunt: Es wird wirklich mit doppelter Elle gemessen. Nordkorea hat eingestanden, Massenvernichtungswaffen entwickelt zu haben. Dieses schlimme, widerwärtige Regime aus Altstalinisten hat mehrfach gegen internationale Verträge und Verpflichtungen verstoßen. Aber die USA wie auch die internationale Gemeinschaft sind insgesamt der Auffassung, dass massiver politischer und wirtschaftlicher Druck gegenüber Nordkorea notwendig ist, und engagieren sich für politische Lösungen. Warum soll das mit Blick auf den Nahen Osten und den Irak nicht möglich sein, um zu erreichen, dass die Waffeninspekteure ins Land gelassen werden und damit ein Krieg verhindert werden kann? Diese Frage stellt sich doch jeder. Wir müssen uns dafür engagieren, dass ein Krieg verhindert wird. Hier wird immer nach Visionen gefragt. Statt hoch gefährlicher Konzeptionen von „preemtive strike“,wie sie die US-Regierung ersinnt, sollte endlich die atomare Abrüstung auch von den Ländern begonnen werden, die selber über Atomwaffen verfügen. Das ist die richtige Konsequenz und Schlussfolgerung. ({8}) Entwicklungszusammenarbeit in ihren vielen Bereichen ist eben Friedenspolitik. Sie legt eine erweiterte Sicherheitspolitik zugrunde. Ich nenne nur stichwortartig den Versuch, den Transfer von Kleinwaffen zu verhindern, die Reform der Sicherheitssektoren von Entwicklungsländern, den Aufbau des Zivilen Friedensdienstes, den wir deutlich aufstocken und ausweiten wollen. Das macht deutlich, mit welcher Perspektive wir Entwicklungszusammenarbeit praktizieren. Lassen Sie mich zum Schluss zwei Schritte in Richtung auf eine gerechte Weltwirtschaftsordnung und für eine gerechte Globalisierung nennen. Der eine Schritt ist die Fortsetzung der Entschuldung. Mittlerweile gibt es im Rahmen der Entschuldung der ärmsten Entwicklungsländer 26 Entwicklungsländer, die ihre Entscheidungen zur Entschuldung erhalten und Entschuldungsentlastung erfahren haben. Aber von den Betroffenen haben bisher ganze sechs Entwicklungsländer ihren endgültigen Schlusspunkt zur vollen Entschuldung erhalten. Der Grund liegt darin, dass sie durch die weltwirtschaftliche Entwicklung doppelt bestraft werden: zum einen deshalb, weil sie schon jetzt unter der weltwirtschaftlichen Entwicklung leiden, und zum anderen, weil sie nicht imstande sind, den Programmen und Forderungen des IWF zur Erreichung der makroökonomischen Stabilität nachzukommen. Damit diese Entwicklungsländer den Completion Point, den Schlusspunkt der Entschuldung wirklich erreichen, treten wir dafür ein - das ist die Position der Bundesregierung -, dass diesen Ländern gegenüber flexibel reagiert wird und dass notfalls auch weitere finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit die volle Entschuldung dieser Länder beschlossen und erreicht werden kann. ({9}) Zweitens. Das konkrete Ziel, das wir mit anderen Partnern in dieser Legislaturperiode erreichen wollen, ist das Insolvenzverfahren für hoch verschuldete Staaten, zumal Entwicklungsländer. Das ist ein Vorschlag, der von Anne Krueger vom Internationalen Währungsfonds und übrigens auch von vielen Nichtregierungsorganisationen stammt. Ich möchte an dieser Stelle begründen, warum es sich dabei um eine wichtige Entscheidung im Interesse der Entwicklungsländer handelt. Zum einen kann durch die disziplinierende Wirkung eines solchen Insolvenzverfahrens dazu beigetragen werden, dass kein Schuldenüberhang entsteht. Zum anderen würde die Mehrheitsentscheidung der Gläubiger im Rahmen eines Insolvenzverfahrens verhindern, dass einzelne Gläubiger ein Umschuldungsverfahren blockieren können. Das klingt zwar einfach, aber das SichHinziehen von Umschuldungsverhandlungen mit Entwicklungsländern bedeutet in vielen Fällen die Agonie der wirtschaftlichen Entwicklung zulasten der armen Bevölkerungsschichten. Deshalb ist ein Insolvenzverfahren auch ein Schritt, um zu verhindern, dass sich die enormen sozialen Kosten von Finanzkrisen in den Entwicklungsländern auf diese Art und Weise auswirken. Es ist ein Schritt zur Verbesserung der Situation der betreffenden Länder. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Der Bundeskanzler hat es heute Morgen bereits angesprochen: Angesichts all der Aufgaben sind wir, jenseits von einzelnen Problemen und einzelnen unterschiedlichen Auffassungen, sicherlich einer Meinung, dass ein Engagement in diese Richtung notwendig ist, wenn wir in Zukunft eine gerechte und friedliche Welt verwirklichen wollen. Ich bitte alle um Zusammenarbeit und biete ausdrücklich - wie wir es schon immer getan haben - die weitere Zusammenarbeit im Rahmen der Entwicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft an. Derzeit gibt es bereits 800 solcher Initiativen; diese Zahl wollen wir noch erhöhen. Ich biete aber auch die Zusammenarbeit mit den Kirchen, den Nichtregierungsorganisationen, den Gewerkschaften und selbstverständlich mit allen Fraktionen dieses Hohen Hauses an. Ich danke Ihnen. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Ruck. ({0})

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit dem beginnen, mit dem die Ministerin aufgehört hat, nämlich damit, worin wir uns einig sind. Auch für die Union ist die Entwicklungspolitik ein zentrales Element zur Bewältigung weltweiter Zukunftsaufgaben. Sie ist ein entscheidendes Medium, um eine internationale Ordnungspolitik, die wirklich nachhaltig und zukunftsfähig ist, und weltweit menschenwürdige Lebensbedingungen durchzusetzen und um den weltweiten Schutz und die Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen zu sichern. Es trifft in der Tat zu, dass die Globalisierung auch für die Entwicklungsländer sowohl Chancen als auch Risiken mit sich bringt. Es ist nicht zu übersehen, dass viele Länder in diesem Zusammenhang große Schwierigkeiten haben, ihre wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Herausforderungen adäquat anzunehmen. Wir müssen auch erkennen, dass diese Probleme in der Tat auf uns durchschlagen. Spätestens die Terroranschläge vom 11. September und die anschließende Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus haben gezeigt, dass Sicherheit, Wachstum und Wohlstand auch bei uns letztlich davon abhängen, welche Perspektiven die Menschen in ärmeren Ländern des Ostens und des Südens für sich und ihre Zukunft sehen. Deshalb wird das, was wir vor Jahrzehnten in Deutschland als Entwicklungshilfe karitativ und bescheiden begonnen haben, zu einer immer wichtiger werdenden Zukunftsaufgabe für unser eigenes Land sowie für unsere Kinder und Enkel: eine Politik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung zur Abwehr von Gefahren, zur Eindämmung sozialer Zeitbomben und zur weltweiten Gestaltung von Strukturen, die Stabilität, Frieden und Prosperität weltweit sichern können. Wir brauchen deshalb auf nationaler wie auf internationaler Ebene - ich möchte jetzt gar nicht so sehr von der Rolle sprechen, die die Vereinigten Staaten hier und da spielen, sondern von den Hausaufgaben, die Sie hätten machen müssen - eine koordinierte, effiziente und kohärente Entwicklungspolitik. Davon sind wir leider nach vier Jahren Rot-Grün weiter denn je entfernt. ({0}) Frau Ministerin, Ihr Optimismus in allen Ehren, aber in Wahrheit ist aus dem Aufwärtstrend zum Beispiel im Haushalt des BMZ nichts geworden. Im Gegenteil: Im Jahr 2002 steht Ihr Haushalt wesentlich ärmer da als 1998. Daran wird sich auch im nächsten Jahr nichts ändern; denn im Vergleich zu 2002 wurde Ihr Haushalt für 2003 erneut um 51 Millionen Euro abgespeckt. Die Durchführungsorganisationen der Entwicklungspolitik bekla122 gen ja inzwischen ganz unverhohlen, dass ihnen die Handlungsunfähigkeit drohe. Die finanzielle Misere wird noch durch den von Ihnen verschuldeten Trend verschärft, mehr Geld aus dem nationalen in den internationalen Verfügungsbereich und hin zu den multilateralen Entwicklungsorganisationen zu verlagern. Das sind oft Institutionen, die nicht gerade durch Koordinationsbereitschaft und Effizienz glänzen. Um es auf den Punkt zu bringen: Deutschland ist zwar finanziell nach wie vor ein Riese, wird aber im Einflussbereich immer mehr zu einem Zwerg. Das ist leider auch für die EU und die Weltbank eine traurige Entwicklung. ({1}) Wir kritisieren auch, dass Sie trotz zurückgehender Haushaltsmittel praktisch auf jede neue Initiative aufspringen und jeden neuen Sondertopf im internationalen Bereich unterstützen. Wir kritisieren dabei nicht, dass Sie dafür sorgen, dass sich Deutschland an Programmen zur Bekämpfung der Armut, an Kaukasus- und Afrika-Initiativen oder an Programmen zur Bekämpfung von Aids beteiligt. Wir kritisieren vielmehr, dass Sie zur Verzettelung der deutschen Entwicklungspolitik beitragen, dass Sie ihr damit die Schlagkraft nehmen, dass Sie dem eigenen Ministerium die Koordinations- und Führungsrolle immer schwerer machen und dass Sie Etikettenschwindel betreiben; denn alle groß angekündigten Aktionen sind entweder wie die Schuldeninitiative in Wirklichkeit stecken geblieben oder wie die Kaukasus-Initiative völlig unterfinanziert, oder stehen nur auf dem Papier. Vor eineinhalb Jahren haben Sie zum Beispiel einen Plan zur Umsetzung des Armutsbekämpfungsprogramms angekündigt. Auf den warten wir bis heute. Die negative Folge ist, dass Sie für die Entwicklungspolitik unerfüllbare Erwartungen wecken, dass Sie Enttäuschungen provozieren und dass Sie die tatsächlich möglichen Erfolge im Sand verlaufen lassen. Es wundert daher niemanden, dass die jüngste Überprüfung der deutschen Entwicklungspolitik durch die OECD zu einem ernüchternden Ergebnis kommt: verkrustet, veraltet und unflexibel. Erfolge in der Entwicklungspolitik erreicht man eben nicht nur durch Show und Medienwirksamkeit, sondern vor allem durch eine klare und langfristig angelegte Linie, eine klare Kompetenzverteilung und eine konsequente Arbeit inklusive der Bündelung der Kräfte. Einer der größten Schwachpunkte der Entwicklungspolitik der rot-grünen Bundesregierung war das Desinteresse des deutschen Außenministers an entwicklungspolitischen Fragen wie auch an denen der internationalen Umweltpolitik. Wenn die Entwicklungspolitik nicht die Rückendeckung der Außenpolitik hat, dann ist sie zum Scheitern verurteilt, ({2}) wenn man zum Beispiel nur an die Forderung des ganzen Hauses denkt, die Verantwortung der Entwicklungsländer für ihre eigene Entwicklung einzufordern. Die Union bietet der Regierungskoalition auch auf diesem Gebiet eine kritische, aber konstruktive Begleitung an, vor allem wenn es darum geht, die Effizienz zu steigern und erfolgreich Schwerpunkte zu setzen. Das gilt für den Bereich der Gefahrenabwehr genauso wie für die zentrale Aufgabe einer langfristig angelegten weltweiten Politik der Zukunftssicherung. Das heißt vor allem, die Globalisierung in vernünftige Bahnen zu lenken, sodass sie auch zum Positiven für Entwicklungs- und Schwellenländer ausfällt. Es bedeutet für uns gerade auch den Einsatz für die internationale soziale Marktwirtschaft. Dieses Eintreten muss man wirklich mit Leben erfüllen, zum Beispiel mit sozialen und ökologischen Mindeststandards in den WTO-Runden, durch die Stärkung von Bildung und Ausbildung und durch das Eintreten und die Unterstützung beim Aufbau handlungsfähiger staatlicher Strukturen, aber auch - das wirkt beim wirklichen Angehen von tief greifenden Reformen - in der internationalen Szene.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Ruck, achten Sie bitte auf die Zeit.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl. Es bedeutet außerdem eine wesentlich stärkere Unterstützung der Entwicklungspolitik durch die Außenpolitik und den Bundeskanzler. Wir werden die Grundzüge unserer Politik für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in den Debatten des Hauses einbringen und dabei auch die bisherigen Positionen rot-grüner Politik auf den Prüfstand stellen, ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Ruck, Sie sind jetzt zwei Minuten über die Zeit. Jetzt können Sie nicht mehr allzu viel sagen.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- aber nicht nur wohlfeile Erklärungen im Koalitionspapier, sondern das, was Sie wirklich umsetzen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Frau Staatssekretärin Uschi Eid.

Ursula Eid-Simon (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000454

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Koalitionsvertrag schreibt das, was wir vor vier Jahren in der Entwicklungspolitik begonnen haben, konsequent fort. Wir machen im Zeitalter der Globalisierung Politik auf gleicher Augenhöhe mit den Entwicklungsländern für mehr Gerechtigkeit in der Welt. Wir machen eine Politik, die die Chancen zur Teilhabe am wirtschaftlichen, technischen, gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt für alle Staaten verwirklichen will. Wenn ich von Fortschritt spreche, meine ich immer auch den FortDr. Christian Ruck schritt der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit; denn Demokratie erst garantiert die Teilhabe der Menschen und Rechtsstaatlichkeit erst fördert den Schutz der Menschenrechte. ({0}) Wir haben diese Politik auf den großen internationalen Konferenzen der vergangenen Jahre erfolgreich vertreten. Die Ziele Bekämpfung der Armut, gerechte Verteilung der Süßwasserreserven, nachhaltige Entwicklung und Schutz der Umwelt, gemeinschaftliche Finanzierung der großen Entwicklungsaufgaben und gerechte Gestaltung des Welthandels sind gemeinsam mit den Entwicklungsländern erarbeitet und verhandelt worden. Sie wurden nicht erkauft und nicht aufgezwungen. Deshalb sind sie so bedeutsam. Sie spiegeln den Kompromiss unserer unterschiedlichen, häufig sehr gegensätzlichen Interessen wider und sind deshalb für alle Seiten bindend. Ich muss in aller Klarheit auch sagen: Unsere Interessen sind nicht immer identisch mit den Interessen der Entwicklungsländer. Ich möchte hier nur an die Weigerung vieler Entwicklungsländer in Johannesburg erinnern, eine Energiewende mit dem Ziel der Ausweitung erneuerbarer Energien global einzuläuten. Auch die Interessen der Entwicklungsländer untereinander sind nicht immer gleich und deswegen liegt es in der Natur der Sache, dass wir nicht grundsätzlich die Interessenvertreter der Entwicklungsländer sind. Das heißt aber: Wir wollen sie in die Lage versetzen, ihre Interessen selbst formulieren und auch umsetzen zu können. Denn nur wenn diese Staaten selbst Verantwortung übernehmen, werden wir gemeinsame, nachhaltig wirksame Entwicklungsziele auch erreichen. Deshalb investieren wir in der Entwicklungskooperation in ihre Fähigkeiten, bei internationalen Verhandlungen ihre wichtige Rolle zu spielen. Deshalb investieren wir in ihre Fähigkeiten, ihre inneren wie zwischenstaatlichen oder regionalen Konflikte mit friedlichen Mitteln beizulegen. Deshalb unterstützen wir ihre Bestrebungen zur regionalen Integration und deshalb fördern wir ihre Potenziale zur Integration in den Weltmarkt. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsame Ziele haben und Politik auf gleicher Augenhöhe machen, das heißt auch, anzuerkennen, dass unsere Beziehungen bislang nicht auf Chancengleichheit beruhen, dass Entwicklungsländer auf der einen Seite große nationale Probleme mit schwachen Institutionen, geringem Vertrauen in die eigene Wirtschaft, fehlender Rechtsstaatlichkeit, Klientelismus und Korruption haben, andererseits aber strukturell in den internationalen Beziehungen benachteiligt sind und dass ihre Bestrebungen, Fortschritte zu erzielen, häufig durch Entscheidungen bei uns konterkariert werden. Stichworte dazu sind zum Beispiel Agrarsubventionen und Markthindernisse. Unsere bisherige Regierungsarbeit und der neue Koalitionsvertrag beweisen: Wir sind uns dieser Ungleichheit bewusst und wir werden weiter daran arbeiten, gerade diese strukturellen Ungleichheiten abzubauen. Deshalb werden wir Doha zu einer Entwicklungsrunde machen. Den Marktzugang werden wir erleichtern. Wir werden die Entschuldungspolitik vorantreiben. ({2}) Ich sehe drei zentrale politische Herausforderungen für die Zukunft. Wir werden diese zusammen mit den Entwicklungsländern lösen, und zwar partnerschaftlich und in vollem Respekt füreinander, um zu verhindern, dass es in der Globalisierung zu einer gefährlichen Spaltung zwischen Nord und Süd kommt. Ich kann diese Herausforderungen aus Zeitgründen jetzt nur benennen - ich hätte sie gern etwas ausgeführt und hätte auch gern dargelegt, was wir zu tun gedenken -: erstens der fortschreitende Fundamentalismus, zweitens die Frage der Ressourcengerechtigkeit, also die Frage der gleichberechtigten Nutzung von Ressourcen, und drittens die fortschreitende Umweltzerstörung. Um diese Aufgaben in Angriff zu nehmen, ist diese rot-grüne Regierung bestens gerüstet. Herr Ruck, das wurde uns durch das DAC, den Entwicklungsausschuss der OECD, auch international bescheinigt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir uns aber keine Illusionen. Viele Entwicklungsländer haben andere Prioritäten. Wir werden viel Überzeugungsarbeit leisten und auch Nachteilsausgleiche schaffen müssen, um die gerade skizzierten Ziele zu erreichen. Gelingen wird uns das aber, wie ich bereits gesagt habe, nur mit einer Politik auf gleicher Augenhöhe, also in echter Partnerschaft. Dabei haben wir uns in den vergangenen vier Jahren viel Vertrauen bei den Entwicklungspartnern erworben. Das ist unser Kapital für die kommenden vier Jahre und dieses Kapital werden wir nutzen, damit mehr Menschen in den Entwicklungsländern in Afrika, Asien und Lateinamerika bessere Chancen bekommen und in Würde leben können. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen Sie sich vor, das Dubrowka-Theater stünde nicht in Moskau, sondern in Bagdad. Stellen Sie sich vor, Kurden hätten 700 Geiseln genommen und mit dem Tod der Geiseln gedroht, wenn nicht endlich die Verfolgung von Kurden beendet werden würde. Stellen Sie sich vor, Saddam Hussein hätte Nervengas in das Theater geleitet, um die Geiselnehmer unschädlich zu machen. Wie lange hätte es Ihrer Meinung nach gedauert, bis der amerikanische Präsident seinen Krieg begonnen hätte? Tage? Stunden? Warum dürfen bestimmte Staaten Nervengas produzieren und andere nicht? Die Antwort ist einfach. Man ist der Meinung, dass in den so genannten zivilisierten Staaten der Einsatz von Massenvernichtungswaffen faktisch nicht möglich ist - einmal weil die demokratischen Gre124 mien eine solche Entscheidung nicht mittragen würden und zum anderen weil die Hemmschwelle in den so genannten zivilisierten Staaten für einen Einsatz von Gas viel zu hoch wäre. Den Einsatz von Nervengas traut man nur unberechenbaren Diktatoren wie Saddam Hussein zu, der ja bekanntlich mit Gas unschuldige Kinder und Frauen getötet hat. Doch nun haben wir eine neue Situation. Es gibt Menschen, die nur noch Terroristen genannt werden. Sie leben auf der ganzen Welt und haben angeblich ein gigantisches Netzwerk gebildet. Doch die Tschetschenen brauchen kein internationales Netzwerk, um zu sehen, dass ihr Land in Trümmer gelegt wird, und die Palästinenser brauchen kein internationales Netzwerk, um zu sehen, dass ihr Recht auf einen eigenen Staat mit Füßen getreten wird. Offensichtlich hat die Allmacht einiger weniger Staaten zur Ohnmacht bei vielen Menschen in der ganzen Welt geführt. Die Zahl derjenigen, die sich gegen die Allmacht gewaltsam zur Wehr setzen, nimmt zu und das ist eine reale Gefahr für uns alle. Die betroffenen Staaten reagieren mit Stärke und jeder Staat hat jetzt offensichtlich das Recht, Menschen zu Terroristen zu erklären und damit Völkerrecht sowie nationales Recht außer Kraft zu setzen. Aber offensichtlich haben auch einige wenige Staaten das Recht, andere Staaten als terroristisch zu bezeichnen und damit einen Krieg zu rechtfertigen. Der Bundeskanzler hat vor der Wahl versprochen, dass Deutschland an einem Krieg gegen den Irak nicht teilnehmen wird. Er hat es heute in der Regierungserklärung bekräftigt. Das wurde von vielen Menschen als mutig und aufrichtig empfunden und dafür wurde der Bundeskanzler auch im Osten gewählt. Aus dem Wahlversprechen ist ein Wählerauftrag geworden. Letzten Sonnabend demonstrierten viele Menschen auf der ganzen Welt gegen einen drohenden Irak-Krieg. Allein in Washington waren es 200 000 Menschen. Auch in Berlin wurde demonstriert; allerdings waren es hier bedeutend weniger Menschen. Die „Frankfurter Rundschau“ kommentierte das begrenzte Engagement in Berlin mit dem Gefühl vieler Menschen, dass sie mit der Friedensforderung bei der Bundesregierung offene Türen einrennten. Doch ist das wirklich so? Tut diese Bundesregierung alles, um einen Krieg gegen den Irak zu verhindern? ({0}) Vor der Wahl, am 29. August, erklärte Verteidigungsminister Struck noch, dass er die Spürpanzer der Bundeswehr aus Kuwait abziehen wolle. Letzte Woche war zu hören, dass die deutschen Spürpanzer in Kuwait bleiben sollen. Fängt die Bundesregierung etwa an, in dieser Frage zu wackeln? ({1}) Die Bundesregierung soll aus der Sicht der PDS nicht nur nicht am Irak-Krieg teilnehmen, sondern sie soll auch dazu beitragen, dass dieser Krieg erst gar nicht stattfindet. ({2}) Einige Instrumente - das ist von meiner Kollegin Petra Pau heute schon angesprochen worden - hat die Bundesregierung in der Hand. Offensichtlich wird das deutsche Hoheitsgebiet von US-Streitkräften als Militärbasis genutzt, um die logistischen Vorbereitungen für einen IrakKrieg zu treffen. Doch dafür gibt es keine Rechtsgrundlage. Ich bin der Auffassung, dass die Bundesregierung von der US-Regierung Auskunft über ihre Aktivitäten vom deutschen Territorium aus verlangen muss. ({3}) Wenn sich herausstellen sollte, dass Deutschland als Rollfeld für den Irak-Krieg dienen soll, dann muss die Bundesregierung der US-Regierung die Nutzung dieser Basen sowie die Überflugrechte verweigern, so wie es übrigens der damalige Kanzlerkandidat Stoiber an einem Tag im Wahlkampf gefordert hat, um es am nächsten Tag sofort zu dementieren. Es ist notwendig, dass diese Regierung beweist, dass deutsche Außenpolitik Friedenspolitik ist und dass sie alle Mittel dafür einsetzt, diesen Beweis anzutreten. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Themenbereich nicht vor. Wir kommen jetzt zu den Bereichen Innen, Recht und Kultur. Das Wort zur Eröffnung der Debatte hat die Frau Bundesministerin Zypries.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In diesen Tagen jährt sich zum 40. Mal eine der großen Bewährungsproben unserer Demokratie, die „Spiegel“Affäre. Es war, wie wir wissen, eine bestandene Probe, die zu unserem demokratischen Selbstverständnis viel beigetragen hat. Damals, 1962, konnte ein Bundesminister noch beschönigend sagen, die Verhaftung des „Spiegel“Redakteurs Conrad Ahlers sei halt „etwas außerhalb der Legalität“ erfolgt. Heute nehmen wir - und gerade auch diese Regierungskoalition - die Bindung der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht und die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung sehr ernst. Denn das Grundgesetz ist eine gute Verfassung, die sich bewährt hat. Zu den maßgeblichen Prinzipien dieser Verfassung und zu den Fundamenten der lebendigen Demokratie zählen die in der Menschenwürde wurzelnde Gleichheit aller, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Freiheit der Meinung und der Kunst, die Freiheit, sich zu versammeln und Vereinigungen zu bilden. Das Grundgesetz ist dabei nicht wertneutral. Es ist auf den Wert der Menschenwürde und die daraus folgenden Grundsätze individueller Selbstbestimmung und gleicher Freiheit gegründet. Vermittelt dadurch schützt es auch die Autonomie der verschiedenen Teile unserer Gesellschaft wie der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Kunst. Hier geht es nicht nur um den rein technischen Bauplan einer komplexen Gesellschaft, sondern vielmehr um ein zukunftsfähiges Erfogsrezept: Durch diese Strukturen insbesondere ermöglicht die Verfassung ein friedliches Zusammenleben in Deutschland. Mir ist dieser Gedanke ganz besonders wichtig, denn in Zukunft werden wir immer mehr und immer verschiedenere Lebensstile, Überzeugungen, Religionen und Traditionen auf deutschem Boden haben, die miteinander leben. Dass dies friedlich geschieht, setzt eines voraus: die Bereitschaft, andere so leben zu lassen, wie sie es für richtig halten oder gewohnt sind, soweit sie dabei im Rahmen der gesetzlichen Grenzen bleiben, versteht sich. Diese Bereitschaft muss allerdings nicht nur da sein, wenn einem der Lebensstil des anderen egal ist; das ist keine Leistung. Eine Leistung ist es erst dann, wenn einem die Verschiedenheit nicht egal ist, wenn wir also Toleranz üben und die Unterschiedlichkeit quasi ertragen müssen. ({0}) Toleranz ist eine Frage der inneren Einstellung. Die Rechtsordnung kann niemanden zur Toleranz zwingen, sie kann aber den Boden dafür bereiten. Ein Beispiel: Das vom Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform bestätigte Gesetz über die Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaften ermöglicht den Partnern, rechtsverbindlich füreinander einzustehen. Gleichzeitig stärkt es aber auch die Toleranz in unserer Gesellschaft gegenüber anderen Lebensformen. ({1}) Diese Politik steht in der Tradition unseres Grundgesetzes; denn das lässt die Gegensätze und die Vielfalt zu und schützt sie grundrechtlich. Wer von Mehrheitsauffassungen abweicht, muss keine Unterdrückung befürchten. Es ist also auch nicht nötig, Gewalt zu ergreifen, um seinen Vorstellungen entsprechend leben zu können. Das Grundgesetz lehnt Gewalt deshalb ab. Unsere Verfassung ist - in der Sprache unserer Zeit - ein echtes Antigewaltprojekt. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wussten nach den bitteren Erfahrungen mit der Gewaltherrschaft des Dritten Reiches: Freiheit im Leben miteinander ist die beste Gewaltvorbeugung. Eine unserer wesentlichen Aufgaben wird es deshalb auch künftig sein, die Grundrechte so wenig wie möglich zu beschneiden. ({2}) Freilich: Es kann sich nicht auf seine Freiheit berufen, wer anderen nicht ihre Freiheit gönnt. Gewaltanwendung zur Durchsetzung der eigenen Vorstellungen oder Überzeugungen ist unter keinen Umständen rechtfertigungsfähig. Gewalt muss vom Staat - notfalls mit all seinen Machtmitteln - unterbunden werden, zum Beispiel mit der Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes. Dieses Gesetz stärkt die Rechte und die Stellung Schwächerer und ihren Schutz vor Gewalt im familiären Nahbereich. Und es wirkt: In Nordrhein-Westfalen hat die Polizei in knapp fünf Monaten in mehr als 1 000 Fällen prügelnde Ehemänner der Wohnung verwiesen und ihnen die Rückkehr verboten. Meine Damen und Herren, wir müssen konstatieren, dass auch in unserer Gesellschaft die Gewaltbereitschaft wächst. Das ist eine große Bedrohung des von der Verfassung angestrebten friedlichen Zusammenlebens. Dieser Bedrohung müssen wir uns entschlossen stellen, und zwar nicht erst, wenn der Gewaltausbruch bereits passiert ist, sondern bereits deutlich vorher. ({3}) Dies allerdings kann der Staat allein nicht leisten. Wir brauchen im Elternhaus, in der Schule, in Vereinen und Verbänden eine Erziehung zur Toleranz. Junge Leute müssen lernen, die Meinung anderer zu respektieren und sich im Rahmen der demokratisch vorgesehenen Spielregeln miteinander auseinander zu setzen. Sie müssen lernen, tolerant zu sein und die Verschiedenheit zu akzeptieren. ({4}) Nicht zuletzt deshalb hat die Bundesregierung das Bündnis für Demokratie und Toleranz ins Leben gerufen und deshalb werden wir das Deutsche Forum für Kriminalprävention noch stärker in seiner Arbeit unterstützen. Was wir damit erreichen wollen, darf aber auch nicht an anderer Stelle konterkariert werden. Deshalb wird die Bundesregierung hart gegen Gewaltverherrlichungen, gegen die Propagierung von Gewalt oder die Anleitung zu Gewaltanwendungen vorgehen. ({5}) Das schließt Initiativen zur Änderung des Strafrechts ein. Denn das Strafrecht als klares Zeichen für die Grenzen der Gewalt ist auch und gerade dort wichtig, wo in der Gesellschaft elementare Wertebindungen ihre Bindungskraft verlieren. Wir müssen insbesondere auch die Strafvorschriften gegen sexuellen Missbrauch von Kindern, Jugendlichen und widerstandsunfähigen Personen fortentwickeln. Auch durch die Strafandrohung in diesen Fällen muss deutlich werden, dass solche Taten an den Menschen, die sich am wenigsten wehren können, zu den abscheulichsten Verbrechen überhaupt gehören. ({6}) Wir werden deshalb unter anderem schon den Strafrahmen für die Grundtatbestände des sexuellen Missbrauchs von Kindern von Vergehen zu Verbrechen heraufstufen. Auch die psychische sexuelle Gewalt wird nicht länger straflos bleiben. In Zukunft macht sich auch derjenige in einem früheren Stadium als bisher strafbar, der auf Kinder einwirkt, damit ein Kind sexuelle Handlungen vornimmt. Auch die Wegseher und die Profiteure sollen künftig nicht mehr ungeschoren davonkommen. ({7}) Wer diese Taten nicht anzeigt, wer sie belohnt oder billigt, wird sich in Zukunft vor dem Strafrichter wiederfinden. Wir werden auch gegen jede Form der Verbreitung von Kinderpornographie mit dem gesamten Arsenal der strafprozessualen Möglichkeiten vorgehen. ({8}) Insoweit steht auch der Katalog des § 100 a StPO auf dem Prüfstand. Gleich der erste Untertitel der Koalitionsvereinbarung lautet nicht von ungefähr: Für ein wirtschaftlich starkes, soziales und ökologisches Deutschland. Die Wirtschaft ist im Justizministerium insoweit betroffen, als die dringend gebotene Reform des Aktienrechtes dort angesiedelt ist. Dabei geht es nicht etwa um technische Details, für die sich dann nur die Buchprüfer begeistern können. Die Verhinderung von falschen Bilanzen und der Anlegerschutz allgemein bewahrt viele tausend Menschen vor dem Verlust ihrer Ersparnisse und erhält Arbeitsplätze. ({9}) Deshalb liegt dieses Problem gerade uns Sozialdemokraten besonders am Herzen. Ganz klar gesagt: Bei allen Fragen, wie etwa der persönlichen Haftung von Vorständen und Aufsichtsräten, geht es darum, den guten Ruf der unzähligen redlichen Akteure unserer Wirtschaft vor den schwarzen Schafen zu schützen. ({10}) Gerade die spektakulären Bilanzskandale auf dem USamerikanischen Markt haben es uns drastisch vor Augen geführt: Bereits einer oder wenige Chefmanager mit krimineller Energie können das Vertrauen ganzer Märkte zerstören. Meine Vorgängerin im Amt, Frau Professor Dr. Herta Däubler-Gmelin, hat die Lösung der Probleme auf der Grundlage der Arbeiten einer hochkarätig besetzten Kommission in Angriff genommen. Nicht nur bei diesem Thema hat sie Zeichen gesetzt und wichtige rechtspolitische Vorhaben vorangebracht. Dafür möchte ich mich auch an dieser Stelle bedanken. ({11}) Ich werde den Anlegerschutz weiter forcieren. Unser Motto dabei wird sein: so schnell wie möglich, aber auch so solide wie nötig. Viele wichtige Diskussionen werden wir dabei zu berücksichtigen haben. Unter anderem hat sich der Deutsche Juristentag im September in Berlin mit diesen Fragen auseinander gesetzt und dazu einen umfangreichen Bericht veröffentlicht. Wir werden in dieser Legislaturperiode auch das Zehnpunkteprogramm zur Stärkung der Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes, das die letzte Bundesregierung bereits beschlossen hat, umsetzen. Ganz wichtig ist des Weiteren die Reform des Versicherungsvertragsgesetzes, das inzwischen bereits 130 Jahre alt ist. Dabei geht es unter anderem um die Behandlung von Gentests, um Überschussbeteiligungen in der Lebensversicherung und um Altersrückstellungen in der privaten Krankenversicherung. Wir werden das Urheberrecht in der Informationsgesellschaft anpassen. Dabei muss die Vielfalt unserer Kultur und der faire Umgang zwischen Urhebern und Verwertern gewährleistet bleiben bzw. werden. Ich meine, auch im Reich des Internet dürfen Autoren und andere Künstler nicht dem Raubrittertum ausgeliefert werden. Natürlich werden wir die Reform des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb anfassen. Auch hier drängt die Zeit. Wir wollen ein vollständig neues, schlankes und faires Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vorlegen, das den redlichen Wettbewerber genauso schützt wie den Verbraucher. Meine Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, dass wir uns über die skizzierten allgemeinen Grundlagen relativ schnell werden verständigen können. Über die konkreten Konsequenzen, die sich in den nächsten vier Jahren daraus ergeben, werden wir sicherlich nicht immer einer Meinung sein. Insoweit freue ich mich auf eine sachliche und konstruktive Diskussion. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Norbert Röttgen.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Zypries, als rechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion möchte ich Ihnen zunächst zu Ihrem neuen Amt gratulieren. Wir wünschen Ihnen persönlich Glück in und Freude an diesem Amt. Das möchte ich auch übertragen auf unseren Kollegen mit dem neuen Amt, Herrn Alfred Hartenbach. Wir haben - das muss ich gleich einschränkend hinzufügen - nicht die Absicht, diese Freude wirklich aktiv zu fördern, ({0}) aber persönlich wollen wir Ihnen das gern gönnen. Wir bieten Ihnen statt Freude eine faire Auseinandersetzung an. Wir sind bereit zur Zusammenarbeit, zur Gemeinsamkeit dort, wo wir der Auffassung sind, dass die Lösung von Problemen, die wir gemeinsam erkennen, der Gemeinsamkeit bedarf. ({1}) Auch das möchte ich gleich zu Beginn hier betonen. Wir appellieren gleichzeitig an Sie - anderenfalls würde eine schlechte Tradition der letzten vier Jahre fortgesetzt -, in der Rechtspolitik nicht nur Ihre Mehrheit zu exekutieren, auf Mehrheit zu setzen, sondern gerade auf dem Gebiet der Rechtspolitik der Auseinandersetzung um das bessere Argument auch dann, wenn es von der Minderheit im Parlament kommt, nicht auszuweichen, sich dieser Auseinandersetzung zu stellen. Die rot-grüne Rechtspolitik der vergangenen Legislaturperiode hat mit der Proklamierung großer Projekte begonnen und in Kraftlosigkeit geendet, ({2}) gemessen an Ihren eigenen Maßstäben, weil Sie Ihre eigenen Projekte nicht realisiert haben. ({3}) - Ich komme gleich noch darauf. - Diese Kraftlosigkeit hat sich in dem Koalitionsvertrag fortgesetzt. Auch in Ihrer heutigen Antrittsrede habe ich keine Idee von Rechtspolitik gehört. ({4}) Es war eine Aufzählung einzelner Baustellen und die Rede war in ihrer Allgemeinheit für mich enttäuschend. Aber das Entscheidende ist, dass kein roter Faden, kein rot-grüner Faden, keine Idee, keine Konzeption da war. ({5}) Jetzt sind Sie an der Macht, haben die Posten und ich frage Sie, wozu Sie sie gebrauchen wollen, meine Damen und Herren. ({6}) Wir hätten erwartet, dass eine neue Ministerin mit einer Eröffnungsbilanz startet. Das wäre auch Ihre Chance gewesen, dass Sie all die Projekte, die liegen geblieben sind, Ihre eigenen Projekte, bilanzieren. ({7}) In der letzten Sitzungswoche der vergangenen Legislaturperiode ist die Beratung des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes vertagt worden. Die 120 000 Anwälte in diesem Lande warten seit acht Jahren darauf. ({8}) Auch im Koalitionsvertrag jetzt findet sich dazu keine Aussage. Es ist liegen geblieben, und auch jetzt hören wir von Ihnen dazu keine Aussage. ({9}) - Lassen Sie mich bitte ausreden. Es gehört zur Diskussion, dass man auch zuhört. Sie hätten heute die Chance gehabt, die Diskussion in Ihrem Arbeitskreis „Kommunalfinanzen“ über den Vorschlag, alle Freiberufler - damit auch die selbstständigen Anwälte - der Gewerbesteuer zu unterziehen, zu beenden. Ich fordere Sie auf, klarzustellen, dass die rot-grüne Koalition das nicht will. Wir lehnen die konkreten Vorschläge, die Freiberufler unter die Gewerbesteuer fallen zu lassen, ab. ({10}) Liegen geblieben ist die Biopatent-Richtlinie. Die Umsetzungsfrist ist abgelaufen. Die Bundesrepublik Deutschland kommt der Pflicht, gesetzgeberisch tätig zu werden, in einem wichtigen Bereich nicht nach, nämlich im Bereich des Schutzes biotechnologischer Erfindungen, also der Patentierbarkeit menschlicher Gene und menschlicher Gensequenzen. Das ist eine Grundsatzfrage, weil es darum geht, die ethischen Grenzen von freier Forschungstätigkeit rechtlich festzulegen. Sie haben dieses Thema nicht einmal erwähnt. Sie haben auch nicht den Reparaturbedarf Ihrer eigenen Politik erwähnt. Wie ist denn die Wirkung der Zivilprozessreform, bei der wir das Schlimmste haben verhindern können? Es gibt Überlastung und mehr Bürokratisierung. Im Bereich des Schuldrechts gibt es allemal Reparaturbedarf rot-grüner Rechtspolitik. ({11}) Wir möchten diese Debatte nutzen - damit komme ich zum entscheidenden Punkt -, um unsere Leitlinien von Rechtspolitik darzustellen. Rechtspolitik darf sich nicht verstehen als das Schräubchendrehen an irgendwelchen Stellen. Sie muss vielmehr aus einem Guss sein. Wir haben im Wesentlichen zwei Leitlinien, an denen wir die Rechtspolitik messen, eine für den Bereich der Gesellschaft und eine für den Bereich des Staates. In dem Bereich der Gesellschaft drückt sich unsere Leitlinie in der Auffassung aus, dass das Recht Freiheit sichern soll. Das ist die Aufgabe des Rechts in der Gesellschaft. Ich werde gleich etwas dazu sagen, wie es um diesen Maßstab bestellt ist. Im staatlichen Bereich geht es nach unserer Auffassung um die Wiederherstellung staatlicher Entscheidungsfähigkeit, die die einzelnen Ebenen von der Gemeinde bis zur Europäischen Union in unterschiedlicher Weise verloren haben. Was ist damit gemeint, dass das Recht die Freiheit sichern soll? Nach unserer Auffassung liegt das Problem darin, dass der Anspruch des Rechts, Freiheit zu sichern, unter einer doppelten Störung leidet. Einerseits haben wir in vielen Lebensbereichen eine freiheitsbeschränkende Überregulierung. Der Staat tut zu viel; er beschränkt die Eigeninitiative und den Gemeinsinn der Bürger. Er erdrosselt sozusagen die Freiheit. Andererseits gibt es eine Inaktivität des Staates gerade in den Bereichen, wo die Bürger überfordert sind und wo sie des staatlichen Schutzes bedürfen. Dort handelt der Staat nicht. ({12}) - Ich komme dieser Aufforderung, Beispiele zu nennen, sehr gerne nach. Ich will zunächst ein Beispiel für die Überregulierung nennen. Natürlich ist die Therapie Deregulierung. Das ist nicht sehr originell, sondern die mangelhafte Deregulierung ist die Beschreibung des Problems. Wir haben erwartet, dass Sie Vorschläge liefern. Wie wollen Sie des permanenten und unbegrenzten Wachstums staatlicher Regulierung Herr werden? ({13}) Wir schlagen vor - ich will dazu sagen, dass wir es nur gemeinsam schaffen können -, dass es eine institutionalisierte Gesetzesfolgenabschätzung im Gesetzgebungsverfahren gibt. Die Rubrik „Folgekosten“, unter der meist „keine“ steht, reicht nicht aus. Wir plädieren ferner für eine Befristung von Gesetzen. Warum soll ein Gesetz immer für alle Ewigkeit wirksam sein? ({14}) Warum soll man nicht nach beispielsweise drei Jahren ein Gesetz unter dem Gesichtspunkt bewerten, ob es sich bewährt hat? ({15}) - Hören Sie einfach zu! Sie können nachher Ihre Vorschläge machen. Das ist doch viel sinnvoller. Wir brauchen weiterhin eine Veränderung im Selbstverständnis des Bundesjustizministeriums und der Bundesjustizministerin. Wenn Sie sich als eine Justizministerin verstehen sollten, die nur für die Justizpolitik im engeren Sinne zuständig ist, dann werden wir dieses Problem der mangelhaften Deregulierung nicht in den Begriff bekommen. Wenn Sie der Auffassung sind, dass Sie allein für die Justizpolitik zuständig sind und dass Arbeitsrecht im Arbeitsministerium, Familienrecht im Familienministerium und Umweltrecht im Umweltministerium gemacht wird, wenn Sie nicht verstehen, dass es die Aufgabe der Rechtspolitik ist, sich um die Rechtsordnung als Ganzes, um die Konsistenz der Regelungen und um die Beschränkung der Rechtsmasse zu sorgen, dann werden Sie an Ihrer Aufgabe scheitern. ({16}) Wir fordern Sie daher auf, Ihr Amt als eine Koordinierungsstelle für die Gesetzgebung in den Ministerien und nicht als eine periphere Tätigkeit zu verstehen. Diese Rolle muss es geben! Wenn Sie nach vier Jahren nicht nur auf die neuen Gesetze, die durch Rot-Grün verabschiedet worden sind, stolz sind, sondern auch bilanzierend auflisten, welche Gesetze Sie verhindert haben, dann werden Sie wahrscheinlich mit unserem Beifall rechnen können. Wir haben keinen Mangel an Gesetzen, sondern brauchen die Beschränkung der gesetzgeberischen Tätigkeit. ({17}) In anderen Bereichen haben wir das glatte Gegenteil: gesetzgeberische Inaktivität. Es hat im Bundesjustizministerium in den letzten vier Jahren einen Ausnahmebereich im Hinblick auf gesetzgeberische Tätigkeit gegeben: Das war die innere Sicherheit. ({18}) Dort ist kategorisch nichts passiert. Dies betrifft die Massenalltagskriminalität, etwa Graffiti - Eigentumsverletzungen, ({19}) und beispielsweise die Jugendkriminalität. Über 30 Prozent der Tatverdächtigen sind unter 21 Jahre alt. ({20}) Gleichzeitig haben wir ein mangelhaftes Jugendstrafrecht, von dem einige Experten sagen, es sei verfassungswidrig, wie wenig gemacht worden sei. Wir müssen den Jugendlichen klar machen: Es gibt eine Grenze, wenn sie kriminell werden. Darum halten wir es für falsch, in der Praxis auf junge Erwachsene, auf 18- bis 21-Jährige, regelmäßig das Jugendstrafrecht anzuwenden und nicht das Erwachsenenstrafrecht. ({21}) Wir müssen die jungen Erwachsenen, auch wenn sie kriminell werden, ernst nehmen und ihnen sagen, wo die Grenzen sind. Dies muss deutlich werden. ({22}) Wir brauchen eine Umkehrung dieses Verhältnisses. Aber dann müssen wir uns um die Jugendlichen auch kümmern. Therapieangebote werden benötigt. Es ist Aufgabe des Staates, sich darum zu kümmern. Auch dort kommen Sie Ihrer Aufgabe nicht nach. Es reicht nicht, allgemein zu reden. Hier ist konkrete Arbeit zu tun. Ich komme zu den Bereichen Kronzeugenregelung und nachträgliche Sicherungsverwahrung. Hier ist ein eklatantes Versagen, eine Inaktivität der rot-grünen Bundesregierung zu verzeichnen. ({23}) Diese beiden Bereiche sind keine, von denen man sagen kann, dass sie toll sind. Es sind keine Hurra-Themen, sondern Kompromissthemen. Kronzeugenregelung heißt: Der individuelle Täter erhält nicht die volle Strafe, die ihm für sein Verbrechen eigentlich gebührt. Es ist ein rechtsstaatlicher Kompromiss, dass er ohne Strafe oder mit Strafmilderung ausgeht, weil er andere Verbrechen verhindert oder zur Aufklärung anderer Taten beiträgt. Auch Sie von der SPD wollen dies. Sie sind aber eine politische Geisel Ihres grünen Koalitionspartners. ({24}) Emanzipieren Sie sich! Machen Sie von der großen Mehrheit in diesem Haus Gebrauch! Wir bzw. 90 Prozent des Hauses wollen die Kronzeugenregelung. Wegen Ihres Partners kommt es nicht dazu. Auch die von Ihnen benannten Experten im Rechtsausschuss haben ausgeführt, dass wir die Kronzeugenregelung brauchen, um in die Strukturen der organisierten Kriminalität eindringen zu können. Reden Sie nicht nur allgemein von der Bekämpfung der organisierten Kriminalität! Handeln Sie! Sie haben es vier Jahre lang nicht getan. ({25}) Die gleiche Situation besteht beim Thema nachträgliche Sicherungsverwahrung. Ich sage es ganz ruhig, obwohl hier meiner Meinung nach eine unerträgliche Lücke im Schutzsystem des Staates besteht. ({26}) Wir reden über den Fall, dass ein Sexualstraftäter zwar wegen eines Verbrechens verurteilt worden ist, bei der Verurteilung aber nicht erkannt wurde, dass dieser Straftäter krank ist, und sich die krankhafte Veranlagung dieses Täters erst während der Haft herausstellt. Während der Haft sagen die Therapeuten also: Der Täter ist krank und aufgrund seiner Krankheit gefährlich. - In diesem Fall besteht bis auf den heutigen Tag keine strafrechtliche Möglichkeit, ({27}) diesen Verbrecher in eine psychiatrische Klinik einzuweisen. Die brutale Wahrheit in unserem Land ist, dass dieser Täter erst noch einmal ein Verbrechen begehen muss, bevor es nach jetzigem Recht die Möglichkeit gibt, ihn abzuurteilen und einzuweisen. ({28}) Sie leisten sich in diesem Bereich eine unerträgliche Lücke. Sie muss geschlossen werden. ({29}) Es ist unverantwortlich, dies nicht zu tun. ({30}) Am unverantwortlichsten ist der Bundeskanzler. Jedes Mal, wenn ein schlimmes Verbrechen geschieht, kommen markige, martialische Worte: Wegschließen, und zwar für immer! - Das ist die Terminologie Ihres Bundeskanzlers. Das ist aus drei Gründen unverantwortlich: Erstens täuscht er die Bevölkerung, indem er so tut, als ob der Staat etwas unternimmt. In Wahrheit tut der Staat nichts. Zweitens ist dies Stimmungsmache und kein rationales Verhalten. Drittens gibt es auch eine Verantwortung gegenüber den Tätern. ({31}) Auch Täter sind Menschen. Auch bei Tätern kann man nicht von Wegschließen sprechen und ihnen keine Lebensperspektive geben. Wer Stimmung macht und gleichzeitig nichts tut, handelt unverantwortlich. An dieser Stelle müssen Sie handeln! ({32})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Wiefelspütz? ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gern.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Wiefelspütz, Ihnen gratulieren wir auf diesem Wege herzlich.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Sie sprachen gerade von Stimmungsmache, was ich bemerkenswert finde. Haben Sie eigentlich zur Kenntnis genommen, dass Sie für Ihre Position hier im Parlament nicht einmal ansatzweise in die Nähe einer Mehrheit gekommen sind, dass Sie eine Minderheitsposition vertreten, und zwar nicht nur hier im Parlament, sondern auch im rechtswissenschaftlichen Bereich? Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Kernthese vieler, die darüber debattieren - die Literatur ist voll davon -, lautet: Die äußerste Grenze dessen, was wir rechtsstaatlich machen dürfen - darüber ist auch im Parlament sehr intensiv diskutiert worden -, ist die vorbehaltene Sicherungsverwahrung, die wir, Rot-Grün, am Ende der letzten Wahlperiode auf Initiative des Bundeskanzlers, der uns, wenn Sie so wollen, einen Arbeitsauftrag erteilt hat, durchgesetzt haben. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es in der Tat nicht um Stimmungsmache, sondern um eine sorgfältige Abwägung der widerstreitenden Interessen - und das immer im Rahmen strikter Rechtsstaatlichkeit - geht? ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin bereit, die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. Tatsache ist, dass wir für unsere Position in diesem Hause keine Mehrheit haben. Das wird uns aber nicht davon abbringen, dafür zu streiten und uns dafür einzusetzen, dass diese Lücke zum Schutz von Kindern und Frauen geschlossen wird. ({0}) Wir streiten für unsere Position in der Erwartung, eine Mehrheit zu bekommen. Ich nehme zur Kenntnis, dass diese Frage rechtswissenschaftlich - wie im Grunde fast alle Fragen - eine umstrittene Frage ist. Hier gibt es keine Mehr- oder Minderheit. - Herr Kollege Wiefelspütz, ich beantworte noch Ihre Frage; bitte bleiben Sie stehen. Die betroffenen Richter - reden Sie einmal mit dem Richterbund - befürworten diese Maßnahme aus der tagtäglichen Erfahrung in ganz großer Mehrheit. ({1}) Die Praktiker befürworten sie in großer Mehrheit; vielleicht nehmen Sie sie nicht zur Kenntnis. Nun eine letzte Bemerkung zu Ihrer Vorbehaltslösung. Die Vorbehaltslösung, zu der Sie sich in letzter Sekunde in der letzten Legislaturperiode bereit erklärt haben, ({2}) ist Ausdruck dafür, dass Sie es nicht mehr durchgehalten haben, gar nichts zu tun und jede Aktivität zu verweigern. Deshalb sind wir ganz guter Dinge, dass wir noch zu einer Lösung kommen werden. Die Vorbehaltslösung ist die schlechteste Lösung von allen. ({3}) Sie bietet erstens natürlich nicht die Möglichkeit der Rückwirkung. Für Täter, die bereits einsitzen, wirkt diese Lösung nicht. Hier gilt weiterhin das Gefährdungspotenzial, das Sie bestätigt haben, indem Sie etwas getan haben. Sie sagen doch: Es muss diese Möglichkeit geben. Mit Ihrer Lösung schließen Sie diejenigen aus, die bereits verurteilt worden sind. Dieses Risiko gehen Sie ganz offensichtlich ein. Ich halte es zweitens rechtsstaatlich - ich habe schon die Grundrechte von Tätern angesprochen - und verfassungsrechtlich für hoch problematisch, wenn der Staat einem Bürger sagt, du bist vielleicht krank, du bist vielleicht gefährlich, du wirst vielleicht in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen, aber wir wissen es noch nicht. Reden Sie einmal mit den Praktikern in den Gerichten. Wie soll der Richter den Vorbehalt handhaben? Er sagt, ich habe keine Gewissheit darüber, dass er gefährlich ist, wie soll ich denn eine Prognose machen? Das führt dann vielleicht zur Zurückhaltung und es kommt nicht zum Vorbehalt. Damit ist auch die Möglichkeit ausgeschlossen, die Sicherungsverwahrung anzuordnen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich glaube, die Frage ist jetzt ausreichend beantwortet. Herr Wiefelspütz, Sie können sich gern setzen. Herr Röttgen, Sie haben mit der Beantwortung Ihre Redezeit reichlich strecken können.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, es gibt nur ein Instrument: Geben Sie Ihren politischen, auch koalitionspolitisch bedingten und dort zum Teil ideologischen Widerstand auf! Tun Sie etwas für den Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen, krankhaften Sexualstraftätern! ({0}) Ich komme zu einer weiteren Leitlinie: die Wiederherstellung staatlicher Entscheidungsfähigkeit in unserem Land. Wir haben sie weitgehend eingebüßt. Ich fange bei den Gemeinden an, die - egal ob rot, rot-grünoder CDU-geführt - finanziell ausgezehrt sind. Die Gemeinden in Deutschland haben nicht mehr die finanzielle Basis, um ihre Aufgaben der gemeindlichen Selbstverwaltung ausüben zu können. Darum brauchen wir eine Gemeindefinanzreform, die aber nicht darin bestehen kann, dass wir die Steuerlast erhöhen. Vielmehr müssen wir über eine andere Verteilung des Rechts, Steuern zu erheben, reden. Dafür setzen wir uns ein. Wir setzen uns für eine Reform des Föderalismus ein, also der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern, die wir brauchen. Unser Föderalismus ist in schlechter Verfassung. Nach unseren Vorstellungen sollen die Bundesländer Gestaltungsmacht zurückerhalten und Blockademacht abgeben. Wir brauchen neue Zuständigkeiten. ({1}) Die Erfahrungen mit dem Blockadeexzess, den Sie nach dem Motto „zuerst das Parteiwohl, dann die Staatsräson“ betrieben haben, ({2}) sprechen sicherlich auch für diese Reform. ({3}) Auf Ihrer Seite hat es bewiesenermaßen die Bereitschaft gegeben, den Föderalismus zu parteipolitischen Zwecken zu missbrauchen. Weil mir die Zeit wegläuft, komme ich zu einem letzten Thema, der Europapolitik.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Aber nur eine letzte Bemerkung!

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Letzte Bemerkung: Die europäische Dimension des Rechts ist in Ihrer Rede auch nicht vorgekommen. Deshalb muss ich leider zu der Schlussfolgerung kommen, dass diese Antrittsrede in ihrer Allgemeinheit enttäuschend war und die konkreten Probleme nicht angesprochen hat. Gott sei Dank gibt es aber eine christdemokratische und christsoziale Alternative. Die werden wir Ihnen immer wieder vorhalten. ({0}) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim Hacker.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Röttgen, Sie haben Ihre Rede mit schönen Freundlichkeiten begonnen. Dies hat jedoch nicht lange angehalten, sondern Sie glitten ab in eine platte Agitation. Ich finde, das lässt für die nächsten vier Jahre, die vor uns liegen, nichts Gutes ahnen. Ich hätte schon gedacht, dass wir - auch im Rechtsausschuss - jetzt einen neuen Start suchen, um dort in einer konstruktiven Art und Weise an den Problemen zu arbeiten, die vor uns liegen, ({0}) statt in dieser populistischen Art und Weise miteinander zu streiten. ({1}) Ich glaube, Herr Röttgen, Sie haben den 22. September noch nicht richtig verarbeitet. Daran können Sie noch ein wenig arbeiten. ({2}) Dann können wir vielleicht auch hier im Plenum und im Rechtsausschuss auf einer anderen Ebene arbeiten, sodass am Ende auch etwas herauskommt. ({3}) Ich lade Sie dazu ein, Herr Röttgen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, hinter uns liegt eine Legislaturperiode, für die Rot-Grün eine erfolgreiche Reformpolitik im Bereich der Innen- und Rechtspolitik vorweisen kann. Die SPD-Bundestagsfraktion will diesen Weg gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen weitergehen und das werden wir auch tun. Schreckliche Ereignisse und die Ausbreitung des internationalen Terrorismus, für den die Anschläge des 11. September 2001 stehen, haben auch auf die deutsche Politik Auswirkungen gehabt. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben gehandelt. Wir haben uns den Herausforderungen gestellt und wir haben überlegt gehandelt. Wir haben den Gruppierungen, von denen Terror und Gewalt ausgehen, den Kampf angesagt und gleichzeitig erklärt, dass - soweit es geht - die politischen und ökonomischen Wurzeln, aus denen sich Gewalt, Hass und Terror in diese Welt ergießen, beseitigt werden müssen. Hierfür und für den Wiederaufbau ehemaliger Krisengebiete wendet die Bundesrepublik Deutschland enorme finanzielle und materielle Mittel auf. Die Koalition wird ihre erfolgreiche Politik zur Wahrung der inneren Sicherheit fortsetzen. Dies gilt für die Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität ebenso wie für die Bekämpfung der Alltagskriminalität. Der europäische Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts muss entsprechend den Beschlüssen von Tampere ausgebaut werden. Das umfasst auch die weitere Harmonisierung der europäischen Flüchtlings- und Einwanderungspolitik. Die Zuwanderung in die Europäische Union muss sinnvoll gesteuert werden und die europäische Polizeibehörde Europol soll zu einer mit Ermittlungsbefugnissen ausgestatteten Gemeinschaftseinrichtung ausgebaut werden. Die bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität wird verstärkt werden. Wir meinen, dass Sicherheit und der Schutz vor Übergriffen, vor Verbrechen und Terror, ein Grundrecht für alle Bürgerinnen und Bürger ist. Dafür, dies zu garantieren, ist die Politik verantwortlich. Die Förderung von Toleranz, die Achtung von Minderheiten und ihrer Rechte sowie die Ermöglichung von Selbstbestimmung der Menschen sind Leitziele unserer Politik. Wir handeln danach. Wir gestalten Einwanderung, schützen Flüchtlinge und fördern Integration. Wir werden das Zuwanderungsgesetz im Sinne seiner Zielstellung zügig umsetzen. ({4}) Dabei sind wir uns der breiten Zustimmung und Unterstützung aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen wie den Gewerkschaften, den Arbeitgeberverbänden und den Kirchen sicher. ({5}) Sie, meine Damen und Herren von der Union, sollten endlich - das sage ich hier mit Nachdruck - Ihre Blockadehaltung gegenüber einer modernen Zuwanderungspolitik aufgeben. ({6}) Was haben wir mit dem Zuwanderungsgesetz beabsichtigt und verwirklicht? Entscheidende Elemente sind einerseits die Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung, andererseits der humanitäre Schutz, die Integration, die Beschleunigung von Asylverfahren und - auch das gehört dazu - die verbesserte Durchsetzung von Ausreisepflichten. Darüber hinaus ist für uns die nachholende Integration von in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten eine wichtige Frage. Unsere Integrationspolitik ist Querschnittspolitik. Dazu gehört auch ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht. Wir werden die Anstrengungen fortsetzen, mit einer umfassenden Integrationspolitik die Fehler und Versäumnisse der so genannten Gastarbeiterära zu korrigieren. Die Instrumentalisierung des Themas durch die CDU im hessischen Wahlkampf war beispiellos und unerträglich. Sie haben mit dumpfen Gefühlen gespielt und bewusst Unwahrheiten verbreitet. Das darf sich nicht wiederholen. ({7}) Ich fordere die Opposition an dieser Stelle auf: Unterstützen Sie unsere Politik, eine Politik des inneren Friedens in Deutschland. Zur Abwehr von Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus werden wir Handlungs- und Vorbeugungsstrategien für Toleranz und gegen Gewalt weiter ausbauen. Wir werden die Korruption verstärkt bekämpfen. Die Zielsetzung, die wir mit der Gesetzesinitiative zur Einrichtung eines Korruptionsregisters verbinden, verfolgen wir weiter und prüfen im Übrigen weitere konkrete Maßnahmen, die sich aus der Korruptionsrichtlinie der Bundesregierung ergeben. Wir wollen auch die demokratische Teilhabe der Bevölkerung an unserem demokratischen Gemeinwesen fördern. Wir werden unser Ziel weiterverfolgen, Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene auf der Basis des Gesetzentwurfes aus der 14. Legislaturperiode einzuführen. ({8}) Wir werden prüfen, wie der gesetzliche Rahmen für die Freiwilligenarbeit weiterentwickelt und verbessert werden kann und wie Initiativen zur Verbesserung des freiwilligen Engagements in der Gesellschaft auf eine breitere Grundlage gestellt werden können. Bürgerschaftliches Engagement ist für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft unverzichtbar. Wir wollen deshalb auch in Zukunft die Vielfalt dieses Engagements unterstützen. Dazu wollen wir die Ergebnisse aus der Arbeit der Enquete-Kommission „Bürgerschaftliches Engagement“ aufgreifen und damit die Erwartung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sowie der Verbände und Vereine erfüllen, dass der Analyse konkrete Taten folgen. Das soll in den nächsten vier Jahren geschehen. ({9}) Ich spreche hier ein weiteres Thema an, das nicht nur uns, sondern auch die breite Bevölkerung interessiert, nämlich den Sport. Dieses Thema spielt nicht nur am Wochenende eine Rolle. Wir können hier im Hohen Haus dazu einiges vorweisen. Wir wollen in diesem Bereich ganz konkrete Punkte nennen, an deren Umsetzung wir nach vier Jahren gemessen werden können. Die Regierungskoalition wird den Leistungssport weiterhin auf hohem Niveau fördern. Das schließt die Förderung des Spitzensports durch die Bundeswehr und den Bundesgrenzschutz - oder wie immer der Bundesgrenzschutz später einmal benannt werden wird, Herr Minister - ein. Ebenso stärken wir den Behindertensport. Für mich ist auch wichtig, dass der Goldene Plan Ost verlängert wird. Damit wird sich die Sportstättensituation für den Breitensport in den neuen Ländern weiter verbessern. Darüber hinaus sind natürlich auch die neuen Länder aufgefordert, mit Finanzmitteln des Solidarpaktes II verstärkt Sportstätten zu modernisieren. Ich spreche das hier auch mit Blick auf die Länderbank ganz bewusst an; denn so können wir auch in diesem Bereich, der für uns ebenfalls wichtig ist, einen aktiven Beitrag zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland leisten. ({10}) Die Dopingbekämpfung werden wir auf hohem Niveau fortführen. Die Zahl der Dopingkontrollen soll erhöht werden. Die Nationale Doping-Agentur wird ihre Arbeit in Kürze aufnehmen. Meine Damen und Herren, ich spreche nun zu einem Themenbereich, den Herr Röttgen hier sehr kritisch beleuchtet hat. Ich komme - das wird Sie nicht wundern zu einem ganz anderen Ergebnis. Die Bundesregierung und die beiden Fraktionen können im Bereich der Rechtspolitik für die 14. Legislaturperiode nämlich eine gute Bilanz vorlegen. ({11}) Wir können Reformergebnisse vorweisen, die sich wirklich sehen lassen können. Diese will ich, Herr Röttgen, meine Damen und Herren von der Union, mit Blick auf die Uhr ganz kurz zusammenfassen: Wir haben die Hilfe für Schwächere in der Gesellschaft, insbesondere für Opfer von Gewalt, Kriminalität und Rechtsextremismus durch das Gewaltschutzgesetz verstärkt. Wir haben die Toleranz gegenüber anderen Lebensformen gestärkt und Diskriminierungen abgebaut. Ich verweise insbesondere auf die Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Partner. Das war eine wichtige Gesetzgebung. Ich bitte Sie, auf diesem Weg mitzugehen. Wir haben die Modernisierung von zentralen Rechtsgebieten, wie des Zivilprozesses, des Schuld- und des Aktienrechts, im Auge gehabt. Durch die Modernisierungen, die wir vorgenommen haben, haben wir erreicht, dass die Regelungen transparenter und für die Beteiligten verständlicher gestaltet wurden. Wir haben die europäische Zusammenarbeit im Rechtsbereich weiterentwickelt, eine wichtige Aufgabe, die in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird. Herr Röttgen, Sie haben Recht. ({12}) - Was Recht ist, muss Recht bleiben. - In der letzten Legislaturperiode ist es nicht gelungen, die BRAGO zu novellieren. ({13}) Das besondere Problem der unterschiedlichen Gebührensätze ist uns allen bekannt. Ich spreche hier insbesondere für die Kollegen im Rechtsbereich. Wir alle wissen aber auch - das haben Sie an dieser Stelle allerdings nicht angesprochen -, dass da ein inhaltlicher Zusammenhang zum Justizkostengesetz besteht. Ich will, ohne das Ganze auszuweiten, zwei Punkte ansprechen, die aus meiner Sicht sehr wichtig sind und geklärt werden müssen, wenn wir zu einer Novellierung kommen wollen. Herr Funke, ich schaue dabei auch in Ihre Richtung. Zum einen müssen wir zu einem Konsens mit den Ländern kommen. Wir alle wissen, dass dieses Gesetz durch den Bundesrat muss. Wenn wir eine Regelung vorlegen, die im Bundesrat nicht die Chance auf Annahme hat - Herr Funke, ich schaue noch einmal in Ihre Richtung -, dann ist unsere Mühe umsonst. Die Länder müssen also in die Konsensfindung eingebunden werden. Wir müssen eine Regelung vorlegen, die die Chance hat, im Bundesrat akzeptiert zu werden. Zum anderen müssen die Vorschläge solide sein und dürfen nicht von vornherein darauf angelegt sein, dass sie ins Leere laufen. Mein Vorwurf geht in die Richtung der FDP, Herr Funke. Sie hatten Vorschläge unterbreitet, die im Bundesrat keine Chance gehabt hätten. Wir wären mit dieser Initiative gescheitert. ({14}) Ziehen wir aber nun einen Strich darunter, die 14. Legislaturperiode ist schließlich zu Ende; wird sind jetzt in der 15. ({15}) - Wir haben einen Teil der Gebührenangleichung schon durchgeführt. Das scheinen Sie nicht zu wissen. - Ich halte fest: Die Gebührenangleichung in der BRAGO speziell für die neuen Länder bleibt ein zu lösendes Problem. Die SPD-Bundestagsfraktion signalisiert Gesprächs- und Lösungsbereitschaft. Dazu werden wir stehen. Wir bitten aber, fundierte Gespräche zu führen und Vorschläge zu unterbreiten, die am Ende die Chance haben, im Gesetzblatt abgedruckt zu werden. Für den Bereich der Justizpolitik gilt: Rot-Grün bleibt dem Ziel treu, Deutschland weiter zu modernisieren und fit für den internationalen Wettbewerb zu machen. Der Schutz der Bürgerrechte ist und bleibt zentrales Thema unserer Justizpolitik. ({16}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme am Ende meiner Rede auf zwei Punkte zu sprechen, die insbesondere aus der Sicht der neuen Länder eine Rolle spielen, die uns im Rechtsausschuss schon seit vielen Jahren beschäftigen und die hier aus historischer Verantwortung heraus noch einmal angesprochen werden sollten. Der eine Punkt betrifft die Frage, wie wir mit den Opfern der SED-Diktatur umgehen. Wir haben festgestellt, dass das, was die damalige Regierung vorgelegt hatte, fehlerhafte Gesetze zur Beseitigung von SED-Unrecht und zur Rehabilitierung waren. In der letzten Legislaturperiode haben wir die Zusagen eingelöst, die wir den Opferverbänden gegeben haben. Wir haben eine Novellierung in Kraft gesetzt, durch die die Opfer des SEDRegimes deutlich besser gestellt worden sind. Dafür haben wir einen Betrag von mehreren Millionen zur Verfügung gestellt. Das betrifft sowohl die Opfer des SED-Regimes als auch die Lösung von offenen Problemen auf dem Gebiet des Kriegsfolgenrechts. ({17}) - Herr Büttner, zu Ihnen sage ich: Die Vorschläge, die Sie jetzt, zwölf Jahre nach der deutschen Einheit, bringen, hätten Sie zwei Jahre nach der deutschen Einheit bringen können. ({18}) Ich frage Sie: Warum haben Sie die 1994 nicht gebracht? Warum haben Sie die auch 1996 nicht gebracht? Sie bringen hier wieder - das ist eine unerträgliche Kombination das AAÜG-Problem mit den Entschädigungsleistungen für die SED-Opfer in Verbindung. Das ist rechtsstaatlich nicht haltbar. Lassen Sie es; das gehört nicht zusammen. Sie hätten das längst - 1994 oder auch 1996 - regeln können. Sie wissen genau, dass die Systematik der Entschädigung der Opfer von staatlicher Gewalt und auch der Entschädigung der Opfer des Dritten Reiches in eine schwere Schieflage gekommen wäre, wenn wir Ihre Vorschläge aufgegriffen hätten. Allein deswegen konnten wir sie nicht aufgreifen. Ich bitte Sie: Kommen Sie von dem Populismus ab, den Betroffenen wenige Wochen vor der Bundestagswahl Vorschläge zu unterbreiten, die Sie jahrelang - fast ein Jahrzehnt lang - nicht verfolgt haben. ({19}) Dieses Problem stellt sich in umgedrehter Weise allerdings auch bei der Novellierung des Stasi-UnterlagenGesetzes. Ich muss an dieser Stelle noch einmal daran erinnern, dass es eine Koalition der Vernunft und Verantwortung gab. Herr Büttner, diese haben Sie aufgegeben. ({20})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Hacker, ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss, Herr Vorsitzender. - Sie haben einen Eiertanz vollführt. Ich bin froh, dass wir am Ende - auch unter Mitwirkung der FDP - noch eine Novellierung erreicht haben. An die Adresse der Union sage ich: So kann es nicht weitergehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit der deutschen Einheit haben wir viel erreicht. Der Wähler hat RotGrün erneut die Mehrheit im Deutschen Bundestag verschafft. Wir stellen uns dieser Verantwortung. Ich lade insbesondere Sie von der Union, aber auch Sie von der FDP ein, im Rechts- und im Innenausschuss in dem Sinne, wie es die Bundesministerin angeboten hat, Lösungen sachgerecht und problemorientiert zu diskutieren. Schlagen Sie die ausgestreckte Hand bitte nicht aus. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Rainer Funke von der FDPFraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, als rechtspolitischer Sprecher der FDP beglückwünsche ich Sie zunächst herzlich. Dieser Glückwunsch geht natürlich auch an die Adresse des Kollegen Alfred Hartenbach. Wir freuen uns, mit Ihnen gemeinsam an der deutschen Rechtsordnung arbeiten zu können. Ich sichere Ihnen zu, dass wir gemeinsam versuchen werden, die vor uns liegenden Probleme im rechtspolitischen Bereich konstruktiv zu lösen. ({0}) Wenn man die Koalitionsvereinbarung liest oder heute die Regierungserklärung gehört hat, könnte man zunächst glauben, dass nach Auffassung der Koalitionsfraktionen Rechtspolitik in dieser Legislaturperiode gar nicht stattzufinden braucht. Sie, Frau Ministerin, haben das eben etwas dezidierter ausgeführt. Allerdings haben auch Sie sich sehr im Allgemeinen gehalten. Das war auch gut so; denn man kann heute nicht alle Probleme lösen. Es war auch angenehm, dass die Debatte nicht in einem verletzenden, wie es sonst üblich war, sondern in einem angemessenen Ton geführt wurde. ({1}) Meine Damen und Herren, wir müssen natürlich eine ganze Reihe von Gesetzesinitiativen aufgreifen, die zum Teil - zum Beispiel von Ihrer Kollegin Frau von Renesse in einem interfraktionellen Arbeitskreis aufgenommen worden sind. Ich spreche jetzt vom Betreuungsrecht. Ich meine, wir sind es der Kollegin von Renesse schuldig, dass wir an diesem Betreuungsrecht weiter arbeiten. Wir benötigen nämlich auch im Interesse der Länder ein praktikables Betreuungsrecht. ({2}) Das ist eine Sache, die bislang noch nicht erwähnt worden ist. Deswegen versuche ich, es in die Debatte einzuführen. Dasselbe gilt für die Neuordnung des Strafsanktionensystems. Sie wissen, dass auch diese Frage liegen geblieben ist. Wir hatten schon in der 13. Legislaturperiode eine Kommission eingesetzt, die in der letzten Legislaturperiode gearbeitet hat. Die Beschlüsse dieser Kommission müssen wir jetzt umsetzen. ({3}) - Sicherlich nicht alle. Aber wir müssen sie miteinander diskutieren. Dasselbe gilt für viele Fragen des Jugendstrafrechts. Auch Fragen des Wirtschafts- und Zivilrechts werden im Koalitionsabkommen überhaupt nicht behandelt, obwohl sie aufgrund europäischer Vorgaben und auslaufender Gesetze - ich erinnere zum Beispiel an das Bilanzrecht des HGB - unbedingt angegangen werden müssen. Dazu zählt im Übrigen auch das Urheberrecht. Dazu gibt es eine Reihe von europäischen Richtlinien, die unter anderem wegen der Digitalisierung umgesetzt werden müssen. Ich habe das Bilanzrecht erwähnt, das nicht nur, wie Sie es ausgedrückt haben, die Bilanzbuchhalter erfreuen soll, sondern das Fragen der internationalen Wettbewerbsordnung enthält. Diese Fragen müssen wir aufnehmen, weil die entsprechenden Gesetze am 31. Dezember 2004 auslaufen. Wir brauchen eine gewisse Vorlaufzeit. Deswegen eilt es etwas. Dasselbe gilt für die Novellierung des Versicherungsvertragsgesetzes. Daran hat eine Kommission unter Professor Niederleithinger gearbeitet. Ich glaube, dass davon vieles übernommen werden kann. Gleiches lässt sich über die Kommissionsarbeit zum Corporate Governance, also zur Novellierung des Aktienrechtes, sagen, die weit gediehen ist. Dies sollten wir genauso wie die Vorschläge zum Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb und zum Markenrecht alsbald umsetzen. All das ist bislang im Koalitionsabkommen nicht enthalten und kam in der Regierungserklärung nicht vor. Da muss kräftig nachgebessert werden. Im Übrigen ist weiterhin das Thema der Anwaltsgebühren aktuell. Wir können den Anwälten nach acht Jahren Stillstand, also keinerlei Gebührenerhöhung, nicht immer versprechen, etwas zu machen, wie es die vorangegangene Ministerin getan hat, und sie dann auflaufen lassen. ({4}) Die Anwälte fühlen sich im wahrsten Sinne verraten und verkauft. Das darf man nicht machen. ({5}) - Ich kenne das Gesetz. Danach rechne ich genau wie Sie, Kollege Ströbele, ab. Aber dass es nicht ausreichend ist, das wissen Sie ganz genau. Es müssen strukturelle und auch lineare Verbesserungen vorgenommen werden. ({6}) Dasselbe gilt im Übrigen natürlich auch für das Rechtsberatungsgesetz. Wir können das Rechtsberatungsgesetz, das ja ein Verbraucherschutzgesetz ist - es ist kein Schutzgesetz für die Rechtsanwälte -, nicht so ohne weiteres verändern, wie Sie sich das offensichtlich in Ihrer Koalitionsvereinbarung vorgestellt haben. Das ist wohl auf Wunsch der Grünen aufgenommen worden. Dies halte ich für falsch. Wir müssen an die Verbraucher denken. Die Verbraucher dürfen nicht von Leuten rechtlich beraten werden, die davon nichts verstehen. ({7}) In der Rechtspolitik haben wir also reichlich zu tun. Die Regierung sollte bald erkennen lassen, in welche Richtung sie denkt und was konkret geschehen soll. Wir sind bereit, konstruktiv mitzuarbeiten und den Dialog zu suchen. Wir hoffen sehr, dass in die Rechtspolitik und in den Rechtsausschuss im Interesse unserer Rechtsordnung, die insgesamt wirklich verteidigungswert ist, wieder Kollegialität, Herr Kollege Hartenbach, und Sachlichkeit zurückkehren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jerzy Montag vom Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir zu Beginn kurz einige persönliche Worte. Dies ist meine erste Rede im Deutschen Bundestag und ich verhehle nicht, dass mich dieser für mich einmalige und erstmalige Vorgang tief berührt. Es war mir wahrlich nicht in die Wiege gelegt worden, einmal als frei gewählter Abgeordneter für ein demokratisches Deutschland zu stehen. Meine Eltern und nur wenige meiner Familie haben durch Zufall und Glück das schlimmste Unrechtsregime, das je von Deutschland ausgegangen ist, überlebt. Deshalb gilt in diesem Moment mein erster Gedanke ihnen. Für mich und sicherlich für uns alle gilt es, die besten Lehren, die Deutschland aus seiner dunklen Vergangenheit ziehen konnte, nämlich die unbedingte Achtung der Menschenrechte und die Errichtung eines Rechtsstaats, zu verteidigen, zu festigen und auszubauen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir diskutieren nach der Regierungserklärung des Bundeskanzlers jetzt die Innen-, Rechts- und Kulturpolitik. Ich halte es für richtig, auch von der Kultur des Rechts zu sprechen. In einem Rechtsstaat hat niemand das Recht, sich über das Recht zu stellen. Das gilt auch für Prominente, welcher Sparte auch immer, und auch für die so genannten besser Betuchten. Weder Ruhm noch Geld entbinden von der Bindung an das Recht. Dies gilt aber auch und, wie ich meine, vor allem für uns, die Politikerinnen und Politiker auf allen Ebenen der Politik. Es gilt selbstverständlich für gemeine Rechtsbrecher und auch für selbst ernannte Erlöser und Befreier. Es gilt aber auch für die Staatsdiener in den Bereichen der Exekutive, die das Recht zu schützen haben. Vor Recht und Gesetz müssen alle gleich sein. ({1}) Aber auch die Gesetzgebung selbst - und damit wir, die sie gestalten - darf sich nicht über das Recht stellen. Die Grundrechte und die Menschenrechte bestimmen, welche Gesetze und Verordnungen in diesem guten Sinne Recht oder eben Unrecht sind. Wir Grüne wollen in der 15. Legislaturperiode des Bundestags einer solchen Kultur des Rechts Gestalt und Kraft geben. War die Rechtspolitik in den vergangenen vier Jahren noch da und dort von der Abwehr von Beschädigungen einer solchen Kultur des Rechts bestimmt, so wollen wir Grüne in den nächsten vier Jahren die Rechte der Bürgerinnen und Bürger und die Menschenrechte aller in Deutschland lebenden Menschen festigen und ausbauen. ({2}) Wir werden damit einen Beitrag zu einer Kultur des Rechts in Deutschland leisten. Herr Röttgen, Sie haben in Ihrem Beitrag ausgeführt, dass Sie in Zukunft zum Beispiel gern die Gesetzesfolgenabschätzung und auch die Befristung von Gesetzen diskutieren würden. Ich persönlich meine dazu, das ist ein guter Gedanke, der aber der CDU/CSU bzw. der Opposition in vielen Jahrzehnten der Gesetzgebung nie eingefallen ist. ({3}) Sie haben es sich von uns abgeschaut. Es ist auch ein gutes Vorhaben. Wir werden in Zukunft noch über die Befristung von Gesetzen und die Gesetzesfolgenabschätzung diskutieren können. ({4}) Meine Damen und Herren, das Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft für homosexuelle Paare stellt die konkrete Bekämpfung von Diskriminierung dar. Das Bundesverfassungsgericht hat uns mit seiner Entscheidung in dieser Richtung in vollem Umfang Recht gegeben. Jetzt wollen wir dieses Gesetz weiterentwickeln und auch den Schutz von Menschen in nicht ehelichen Lebensgemeinschaften verbessern; ({5}) denn wir Grünen wollen die Menschen schützen und stärken, ({6}) die Verantwortung füreinander und für Kinder übernehmen. Wir wollen den Menschen nicht vorschreiben, wie sie dies zu machen haben. Aber wir wollen sie fördern, wenn sie es machen. Wir wollen außerdem ein Gentestgesetz schaffen, das die Autonomie der Menschen über ihre Gendaten, die ein integraler Bestandteil ihrer Persönlichkeit sind, wahrt, Diskriminierungen aufgrund genetischer Dispositionen unterbindet, ein Recht auf Nichtwissen anerkennt und Zugriffe von Dritten auf Gendaten ausschließt. Wir werden des Weiteren den gesetzlichen Schutz vor Diskriminierungen im Alltag weiter ausbauen; denn niemand soll wegen seines Geschlechts, seiner Herkunft, seiner Religion und Weltanschauung im öffentlichen Raum benachteiligt werden. ({7}) Die Korruption - Herr Kollege Hacker hat dies schon angesprochen - wollen wir verstärkt bekämpfen. Union und FDP haben in der letzten Wahlperiode im Bundesrat die Schaffung eines Korruptionsregisters blockiert. Wir wollen es in einem zweiten Anlauf einbringen. ({8}) Unternehmen, die wegen Korruption von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen werden, dürfen zumindest auf längere Zeit keine zweite Chance erhalten; denn auch Korruption, Bestechung und Untreue sind keine Kavaliersdelikte. ({9}) - Aber, Herr Kollege, sie müssen nachgewiesen sein. Von einem Verdacht habe ich nicht gesprochen. Ich hoffe, dass Sie das so gehört haben. ({10}) Herr Kollege Röttgen hat in seiner Rede beklagt, dass das Schuldrecht und die Reform der Zivilprozessordnung schon wieder nachzubessern seien. Ich erkenne durchaus an, dass es sinnvoll ist, eine Überprüfung nach einiger Zeit vorzunehmen. Ich schlage aber vor, dass auch Sie von der Opposition dem großen Reformwerk des Schuldrechts und der Zivilprozessordnung eine Zeit der Bewährung einräumen. ({11}) Wir können nach vier oder acht Jahren immer noch darüber diskutieren, ob das eine oder andere nicht noch einmal verbessert werden kann. Wir wollen nach dem Zivilverfahren auch den Strafprozess modernisieren. Er soll bürgernäher, schneller und effektiver werden. Aber wir werden dabei die verfassungsmäßigen Rechte der Beschuldigten, ({12}) ihrer Verteidiger sowie auch die der Nebenkläger, der Opfer und ihrer Vertreter nicht zur Disposition stellen. ({13}) Bereits in der letzten Legislaturperiode wurden in der Koalition Eckpunkte einer Reform der Strafprozessordnung verabredet. Ich finde, diese stellen eine gute Grundlage dar. Wir Grünen werden weitergehende Vorschläge in die Diskussion über die Reform der Strafprozessordnung einbringen. Ich wollte eigentlich zur Kronzeugenregelung nichts sagen; denn sie ist nicht verabredet. Aber nachdem schon Vorredner darauf eingegangen sind, will ich es doch tun. Wenn hinter dem Rücken des Gerichts für bestimmte Aussagen, die nicht überprüft sind und die manchmal nicht überprüft werden können, Zusagen auf Straferlass gemacht werden, dann ist dies ein schlechter Deal und hat in einem rechtsstaatlichen Verfahren nichts zu suchen. ({14}) Wenn dies unter Kronzeugenregelung verstanden wird, ({15}) dann können wir uns sicherlich darauf einigen, dass wir das nicht wollen. ({16}) Was wir wollen, steht in der Koalitionsvereinbarung. Wir wollen die Strafmilderungsgründe in § 46 StGB in denjenigen Fällen erweitern, in denen Täter für das Gericht nachweisbar zur Aufklärung beigetragen haben. ({17}) - Das ist heutige Praxis. Sie haben völlig Recht. Deswegen haben wir festgelegt, dass wir die Möglichkeiten der Strafminderung erweitern wollen. Dies ist für uns keine Kronzeugenregelung. ({18}) Das, was wir von Rot-Grün gemeinsam festgelegt haben, können wir ja alle gemeinsam angehen. ({19}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen ermöglicht eine moderne, den Grundrechten verpflichtete Rechtspolitik. Wir Grünen werden die darin liegenden Chancen nutzen. Durch uns und unsere Politik ist die Gesellschaft offener und toleranter geworden. Rechtsstaatlichkeit und Selbstbestimmung in Verantwortung - dies ist unser Weg und diesen Weg werden wir fortsetzen. Ich danke Ihnen. ({20})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Montag, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede in diesem Hause. ({0}) Das Wort hat jetzt Bundesminister Otto Schily für die Bundesregierung.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! In einer solchen Debatte steht uns allen nur eine begrenzte Redezeit zur Verfügung. Deshalb ist es nicht möglich, hier alle Aspekte der Innenpolitik zu beleuchten und alle Aufgabenbereiche zu erörtern. Ich werde mich daher auf einige wenige wesentliche Elemente beschränken müssen. Innenpolitik als Bestandteil der allgemeinen Sicherheitspolitik muss sich - das muss man mit Sorge und mit großem Ernst sagen - auf sehr schwierige und gefahrvolle Jahre einstellen. Die Bedrohung durch den internationalen islamistisch-fundamentalistischen Terrorismus - das ist eine realistische Einschätzung - hat zugenommen. Das entspricht der Lagebeurteilung unserer Sicherheitsinstitutionen ebenso wie der unserer engsten Verbündeten. Wir sehen die breite Blutspur des Terrors, dem zahllose Menschen, darunter viele Kinder und Jugendliche, zum Opfer gefallen sind, und wir müssen leider voraussehen, dass sich der Terror fortsetzen wird. Wir sind mit einem weltweiten Terrorismus konfrontiert, dessen Todesbesessenheit, dessen Menschenverachtung und dessen Brutalität uns mit Entsetzen und mit Abscheu erfüllen. Dieser Terrorismus verkörpert die zum Äußersten getriebene Menschenfeindschaft und Lebensverachtung, die Verachtung fremden und des eigenen Lebens. Dieser Terrorismus entspringt einem in gotteslästerlichen Wahnsinn abgeirrten Weltbild. Dieser Terrorismus ist der Feind aller menschlichen Grundwerte. ({0}) Das entbindet uns sicherlich nicht von der Verpflichtung, uns auch mit der Frage auseinander zu setzen, wie Menschen in den Sog von Hass und Menschenverachtung geraten sind. Präventive Politik muss immer auch darauf gerichtet sein, Menschen gegen Anwandlungen von Hass und Extremismus, der schlimmstenfalls in Terrorismus umschlägt, zu immunisieren. Meine Damen und Herren, New York, Daressalam, Bali, Djerba und Moskau - es waren stets so genannte weiche Ziele, die sich die Terroristen für ihre Mordtaten ausgesucht haben. Das Ausmaß der Bedrohung hat damit eine Größenordnung angenommen, die uns vor bisher nie gekannte Probleme stellt. Das Ausmaß der Bedrohung beschreibt aber zugleich die Größenordnung unserer gemeinsamen Verantwortung. Wir müssen auf der einen Seite alles Menschenmögliche tun, um uns gegen eine solche Bedrohung zu schützen, dürfen uns aber auf der anderen Seite nicht in Panik treiben lassen und erst recht niemanden in Panik treiben. ({1}) Unbestreitbar haben wir durchaus Erfolge in der Bekämpfung des internationalen Terrorismus erzielt. Der Polizei in Bund und Ländern, den Anklagebehörden, den Verfassungsschutzämtern in Bund und Ländern und dem Auslandsnachrichtendienst verdanken wir beachtliche Fortschritte bei der Ermittlung und Ahndung terroristischer Straftaten ebenso wie die Aufdeckung terroristischer Strukturen. Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der genannten Sicherheitsinstitutionen spreche ich dafür meinen herzlichen Dank und meine Anerkennung aus. ({2}) Wir wissen, dass die Bekämpfung des internationalen Terrorismus nicht im nationalen Rahmen, sondern nur in enger und vertrauensvoller internationaler Zusammenarbeit erfolgreich sein kann. Deshalb hat die Bundesregierung in den zurückliegenden Jahren stets auf die internationale Zusammenarbeit, insbesondere mit den engsten Verbündeten, mit den Vereinigten Staaten von Amerika und mit den EU-Mitgliedstaaten, besonderen Wert gelegt. Besonders bewährt hat sich die freundschaftliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Sicherheitsinstitutionen der USA, sowohl bei den Ermittlungsaufgaben als auch in der Abstimmung und Kooperation bei umfassenden präventiven Maßnahmen. Diese Zusammenarbeit wird von beiden Seiten übereinstimmend als ausgezeichnet bewertet. Meine Gespräche, die ich vor wenigen Tagen in Washington und zuvor in Kopenhagen mit dem Attorney General, meinem Freund John Ashcroft, geführt habe, haben dies noch einmal bestätigt. Wir werden diese Zusammenarbeit weiter intensivieren. Aus diesem Grunde werde ich in Kürze noch einmal nach Washington reisen, um mich zusammen mit meiner Kollegin Zypries um die Lösung bestimmter Detailprobleme zu kümmern. Die Erfolge, die wir bei der Aufklärung und im Rahmen von Ermittlungen erzielt haben, stehen im Übrigen in einem engen Zusammenhang mit den erweiterten Befugnissen, die wir den Sicherheitsbehörden in der vergangenen Legislaturperiode verschafft haben. Wir werden im Laufe dieser Legislaturperiode aber unvoreingenommen zu prüfen haben, ob es an der einen oder anderen Stelle Korrektur- und Justierungsbedarf gibt. Übrigens, Herr Kollege Röttgen: Wir haben einige Gesetze schon als befristet geltende Gesetze ausgestaltet. Der Ratschlag kommt also ein bisschen zu spät. ({3}) Darüber wird hier im Parlament ebenso wie im Kreis der Länderinnen- und -justizminister zu reden sein. Wer immer konstruktive Vorschläge entwickelt, wird uns willkommen sein. Wir werden sie vorurteilsfrei prüfen. Ich bitte Sie, die Diskussion so zu führen, dass wir den Streit nicht um des Streites willen inszenieren. Gerade in den Fragen der inneren Sicherheit gibt es eine gemeinsame Verantwortung. Das war in der Vergangenheit so und das sollte auch in der Zukunft so sein. Dass wir in der Innenministerkonferenz nur im Konsens entscheiden, ist Ausdruck einer solchen vernünftigen Politik. Wenn Sie, Herr Kollege Röttgen, für sich in Anspruch nehmen, das bessere Argument zu haben, sollten wir es vorurteilsfrei prüfen, wenn Sie es denn haben, aber Sie sollten genauso auf das Argument auf der Seite der Regierungskoalition hören, wenn das das bessere ist. ({4}) Wenn wir in dieser Weise miteinander umgehen, dann wäre es zum Besten unseres Volkes. Ungeachtet der Erfolge der Sicherheitsinstitutionen ist es ferner geboten, deren Strukturen und Arbeitszusammenhänge darauf zu überprüfen, ob und auf welche Weise Effizienzsteigerungen möglich sind. Das gilt insbesondere für die Voraufklärung in manchen Bereichen, in denen wir aufgrund bestimmter Schwierigkeiten, die den Experten durchaus geläufig sind, noch nicht das haben zustande bringen können, was wir erreichen wollten. Damit eine solche Arbeit erfolgreich sein kann, werde ich auch in Zukunft strikt darauf achten, dass unsere Sicherheitsinstitutionen mit angemessenen finanziellen Ressourcen ausgestattet sind und dass bestimmte Anpassungen, beispielsweise die Stellenstruktur im Bundesgrenzschutz und hoffentlich in der künftigen Bundespolizei, vorgenommen werden, damit sie ihren Aufgaben gerecht werden können. Effizienzsteigerungen gilt es auch im Allgemeinen zu erreichen. Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode mit der Modernisierung der Verwaltung begonnen. Auf diesem Gebiet haben wir durchaus Erfolge erzielt; aber wir sind sicherlich noch nicht am Ende angelangt. Das gilt sowohl für das Projekt „Bund-Online 2005“ und für den Bürokratieabbau. Die eingeleitete Politik muss entschlossen fortgesetzt werden. Auch dazu sage ich Ihnen: Wenn Sie, die Abgeordneten der Oppositionsfraktionen, vernünftige Vorschläge haben, dann werden wir sie gerne zur Kenntnis nehmen und prüfen. ({5}) Aber wenn - „wenn“ muss betont werden - der Vorschlag nur darin besteht, wieder eine große Kommission ins Leben zu rufen, wie wir es schon in früheren Jahren erlebt haben - ich habe den Vorschlag von Herrn Ministerpräsident Stoiber gelesen -, dann wird sich das Vorhaben des Bürokratieabbaus wieder in einer Kommission verirren und der Bürokratieabbau wird nicht vorankommen. ({6}) Es kann an dieser Stelle mit einer Kommission also nicht sein Bewenden haben. Gegen Kommissionen ist im Prinzip nichts einzuwenden. ({7}) - Natürlich nicht. Sie können die Einrichtung einer Kommission doch nicht immer dann für richtig halten, wenn Sie es vorschlagen, während Sie deren Einrichtung für falsch halten, wenn wir es wollen. ({8}) In dieser Weise kann man mit diesen Fragen nicht umgehen. Wir werden - auch das hat übrigens einen Bezug zur Sicherheitspolitik - unsere Integrationspolitik entschlossen voranbringen. Wir haben mit dem Zuwanderungsgesetz dafür eine gute Grundlage geschaffen. ({9}) Ich bin dafür dankbar, dass sich mittlerweile, seitdem der Wahltag vorüber ist, auch die Länder an den Maßnahmen, die zur Anwendung dieses Gesetzes erforderlich sind - Rechtsverordnungen, Durchführungsverordnungen -, konstruktiv beteiligen. Ich hoffe, dass auch die Opposition im Deutschen Bundestag die gleiche konstruktive Haltung einnehmen wird. ({10}) Innen- und Sicherheitspolitik sind heute insbesondere in die europäischen Zusammenhänge eingebettet. Ich bin darüber froh, dass die Bundesregierung immer an der Spitze der europäischen Entwicklung mitarbeitet. Das gilt sowohl für die Konferenz der Innen- und Justizminister der Europäischen Union wie auch für die Arbeit an der europäischen Verfassung. Gerade wir, die beiden Verfassungsminister, Frau Kollegin Zypries und ich, werden uns in die Arbeit des EU-Konvents sehr aktiv einbringen. ({11}) Von Europa als einem Raum der Freiheit und des Rechts war heute schon die Rede; davon sollte man auch weiterhin sprechen. Europa ist eine Wertegemeinschaft, die auch den Begriff, den der Kollege Montag eben angesprochen hat, umfasst. Ich bin ihm sehr dankbar dafür, dass er diesen Begriff verwendet hat. Mein Freund Leoluca Orlando, der frühere Bürgermeister von Palermo, der Erfahrungen mit der Bekämpfung der Mafia gemacht hat, hat gesagt: Die Mafia haben wir zurückgedrängt auf der Grundlage einer Kultur des Rechtes. Auch wir werden den Kampf gegen die organisierte Kriminalität, gegen den Terrorismus auf der Basis der Kultur des Rechts gewinnen. Deshalb müssen wir auch daran arbeiten, dass sich diese Kultur des Rechts, aber auch die allgemeine Wertegemeinschaft so darstellt, dass sie eine wehrhafte Wertegesellschaft gegenüber den Anfechtungen des internationalen Terrorismus ist. Ob das wirklich von Erfolg gekrönt ist, hängt auch davon ab, wie wir uns zueinander verhalten: ob dies einmündet in eine Kultur des Respekts, der Achtung vor unseren Institutionen, vor unseren Werten und vor dem jeweils anderen, dem man gegenübersteht. Frau Kollegin Merkel, verstehen Sie es als eine Bitte des Kirchenministers: Ich glaube, die Achtung vor dem Evangelium sollte so weit gehen, dass wir das JohannesEvangelium nicht für parteipolitische Polemik missbrauchen. ({12}) - Entschuldigen Sie, dass ich das sage. Ich habe es ganz freundlich als eine Bitte formuliert. Überlegen Sie sich einen Moment lang, ob das ein guter Einstieg in Ihre heutige Rede war, Frau Merkel! ({13}) Ich bin nicht dagegen, dass Polemik stattfindet. Ich selber kann, wie Sie wissen, auch damit umgehen, wenn es Not tut. Ich glaube allerdings, dass wir gut daran tun, sowohl was die religiösen Überzeugungen als auch was die staatlichen und die gesellschaftlichen Institutionen angeht, damit so umzugehen, dass sie keinen Schaden nehmen. Wenn uns das nicht gelingt - das alles mögen Sie ja lächerlich finden -, wird dort eine Einbruchstelle für fanatische Extremisten und Terroristen entstehen. ({14}) Ich sagen Ihnen das in allem Ernst. Das ist auch eine Frage des Umgangs im Parlament. Niemals, meine Damen und Herren, darf die politische Gegnerschaft in Feindseligkeit umschlagen. Das ist jedenfalls meine Überzeugung. Ich hoffe, dass wir uns auf dieser Basis auseinander setzen können. Vielen Dank. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Schily, weite Teile Ihrer Rede waren gut, und Sie haben auch Applaus von unserer Fraktion bekommen. Aber die letzten zwei Minuten waren in jeder Form inakzeptabel. ({0}) Ihre Kritik an unserer Fraktionsvorsitzenden ist völlig neben der Sache, und wer im Glashaus sitzt, der sollte nicht mit Steinen werfen. Es gibt nämlich auch das Gebot: Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten. Wenn Sie noch einmal ein Flugblatt zum Thema „Zuwanderung“ herausbringen, sollten Sie sich wenigstens in der Nähe der Wahrheit befinden und nicht Volksverdummung betreiben, dazu noch auf Kosten des Steuerzahlers. ({1}) Vermutlich hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch keine einzige Koalitionsvereinbarung gegeben, die so massiv kritisiert worden ist wie die rot-grüne Koalitionsvereinbarung in dieser Wahlperiode. Die öffentliche Kritik hat sich im Wesentlichen auf Wirtschafts-, Finanzund Arbeitsmarktpolitik konzentriert, aber der Bereich Innen- und Rechtspolitik ist genauso enttäuschend, ja deprimierend wie der Rest der Koalitionsvereinbarung. ({2}) Frau Zypris, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Berufung zur Bundesministerin der Justiz. ({3}) Wir alle hoffen, dass Sie stets kluge, vernünftige und richtige Entscheidungen treffen. Im Klartext: Wir alle hoffen, dass Sie die Politik Ihrer Vorgängerin nicht fortsetzen. Wenn das so ist, haben Sie unsere Unterstützung. Dann bieten wir Ihnen eine faire Zusammenarbeit an. ({4}) Herr Kollege Schily, bei Ihnen fällt mir das schon ein bisschen schwerer; das werden Sie sicherlich verstehen. ({5}) Aber ich gratuliere Ihnen ebenso zu Ihrer Wiederernennung zum Bundesminister des Innern. Sie wissen aus der vergangenen Legislaturperiode, dass wir Sie immer dann unterstützen, wenn Sie Entscheidungen treffen, die den Interessen des Landes wirklich dienen. Aber wir haben aus der Erfahrung begründete Zweifel daran, dass Sie den Willen und die Kraft haben, in der Koalition diejenigen Entscheidungen durchzusetzen, die notwendig sind, beispielsweise wenn es darum geht, die Bevölkerung wirksamer vor Kriminalität und Terrorismus zu schützen. ({6}) Vieles von dem, was Sie nach dem 11. September 2001 gesagt haben, und auch vieles von dem, was Sie gerade von dieser Stelle aus gesagt haben, haben wir schon immer für richtig gehalten und sind dafür heftigst kritisiert worden, nicht nur, aber auch von Ihren sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen. Entscheidend ist aber nicht, Herr Schily, was Sie sagen, sondern entscheidend ist, was Sie machen, was Sie politisch durchsetzen und nicht durchsetzen in Ihrer Koalition. ({7}) Unübersehbar ist, dass sich Rot-Grün in vielen Punkten nicht hat einigen können. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre ist davon auszugehen, dass sich das in dieser Wahlperiode nicht ändern wird. Die Politik der ruhigen Hand war in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik unverantwortlich. Beim Thema der inneren Sicherheit ist sie es nicht minder. ({8}) Nicht nur, dass die Koalition nicht das tut, was dringend getan werden müsste; zumindest in einigen Bereichen geschieht genau das Gegenteil dessen, was notwendig ist. Beispiel Bürokratieabbau: Wir haben in Deutschland eine Regelungsdichte, die weltweit einzigartig ist, etwa im Steuerrecht. 70 Prozent der steuerrechtlichen Literatur, die in der Welt erscheint, ist in deutscher Sprache. Die zehn Gebote bestehen aus 283 Wörtern. ({9}) § 19 a des Einkommensteuergesetzes besteht aus 437 Wörtern und gewährt einen Steuervorteil pro Jahr von maximal 80 Euro. Blicken wir zurück auf die rot-grüne Koalitionsvereinbarung des Jahres 1998. Ich zitiere wörtlich: Wir wollen einen effizienten und bürgerfreundlichen Staat. Deswegen werden wir die Bürokratie abbauen ... ({10}) - Wir kommen gleich zur Praxis, Herr Tauss. Dann werden Sie viel leiser sein, als Sie sonst hier immer dröhnend in Liegestuhlhaltung das Parlament bereichern. Weiter heißt es: Die neue Bundesregierung wird die Bundesverwaltung modernisieren; dazu wird eine besondere Stabsstelle unter Leitung des BMI eingerichtet, die die dafür geltenden Verfahrensabläufe und Rechtsvorschriften überprüfen und vereinfachen sowie die Regelungsdichte verringern soll. Das waren die Verheißungen des Jahres 1998. Jetzt kommen wir zur Praxis. Ergebnis nach vierjährigem rotgrünen „Bürokratieabbau“: Im Jahr 2002 haben wir 391 Gesetze und sage und schreibe 973 Rechtsverordnungen mehr als vor vier Jahren. ({11}) Das dürfte der weltweit einzigartige Versuch sein, durch 1 364 neue Gesetze eine Verringerung der Regelungsdichte herbeizuführen. ({12}) Herr Schily, jetzt versprechen Sie schon wieder einen Abbau von Bürokratie. Das können wir vor dem Hintergrund der Erfahrungen in den letzten vier gemeinsamen Jahren mit allen Bürgern in diesem Lande nur als Drohung verstehen. Vieles in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung ist ja auch nebulös und völlig inhaltsleer. Da heißt es unter anderem: Die Alltagskriminalität werden wir konsequent bekämpfen. - Das ist prima. Wir wollen aber gern wissen, wie. ({13}) Wenn Sie den Worten Taten folgen lassen, dann haben Sie uns an Ihrer Seite. ({14}) Wir wollen aber wissen, wie die Bekämpfung ganz konkret aussieht. Sind Sie dafür, dass wir die Graffiti-Schmierereien, ({15}) eine Landplage zwischen Flensburg und Mittenwald mit vielen 100 Millionen Euro Schaden jedes Jahr an Gebäuden und öffentlichen Verkehrsmitteln, endlich konsequent als Sachbeschädigung strafrechtlich ahnden oder wollen Sie das nicht? ({16}) Sie haben in der vergangenen Wahlperiode alle entsprechenden Initiativen der Union abgelehnt. Sie haben die Alltagskriminalität nicht konsequent bekämpft, sondern Sie haben sie konsequent bagatellisiert. Dabei werden wir nicht mitmachen. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({17}) An anderer Stelle gibt uns die Koalition echte Rätsel auf. Beispiel: Einführung biometrischer Daten in Ausweisen. In der Vereinbarung sprechen Sie von einer Weiterentwicklung moderner Methoden der Biometrie zur Identitätssicherung, ohne dass dem gesamten Text auch nur andeutungsweise zu entnehmen ist, was das heißen soll. Werden jetzt fälschungssichere Pässe mit biometrischen Daten eingeführt, ja oder nein? Wird es fälschungssichere Personalausweise mit biometrischen Daten geben, ja oder nein? Ist irgendjemand hier der Auffassung, dass durch die Einführung biometrischer Daten in Ausweispapieren irgendein Bürgerrecht tangiert wird? Ist jemand ernsthaft der Auffassung, dass es ein Bürgerrecht auf leicht fälschbare Ausweispapiere gibt? Das kann doch niemand ernsthaft meinen. ({18}) Tatsache ist: Sie nehmen dieses Thema auf, weil der Innenminister zutreffenderweise der Auffassung ist, dass die Fälschungssicherheit erhöht werden müsste. Tatsache ist aber auch, dass sich die Koalition darauf nicht einigen kann. - Herr Kollege Schily, Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Bosbach, das Wort zu einer Zwischenfrage erteilt aber immer noch der amtierende Präsident. ({0}) Herr Kollege Schily, bitte schön.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Bosbach, Sie sprechen die Fälschungssicherheit an. Ich glaube, Sie machen einen Fehler, indem Sie zwei Dinge vermischen. Identifizierung und Fälschungssicherheit sind zwei Paar Schuhe. ({0}) Ist Ihnen bekannt, dass heutzutage in Deutschland Pässe hergestellt werden, die praktisch fälschungssicher sind? ({1})

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ist das die Frage? ({0})

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich frage, ob Ihnen das bekannt ist. ({0})

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schily, ist Ihnen bekannt, dass Sie sich vor wenigen Monaten mit Ihrem eigenen Personalausweis und Ihrem eigenen Fingerabdruck darin in der Öffentlichkeit so lange haben fotografieren lassen, bis die Bevölkerung geglaubt hat, das habe der Bundestag wirklich beschlossen? ({0}) Sie sind in allen deutschen Medien mit zwei Bildern präsent, nämlich mit dem Bild von Ihrem eigenen Personalausweis mit falschem Geburtsdatum ({1}) und mit dem Bild, für das Sie sich einen riesigen Helm aufgesetzt und einen Schlagstock in die Hand genommen haben, um damit zu demonstrieren, dass das Ihr Beitrag zu mehr innerer Sicherheit in Deutschland sei. Ihnen, Herr Schily, nehme ich es sogar ab, dass Sie der Auffassung sind, was ja auch richtig ist, dass die Ausweispapiere so fälschungssicher wie möglich gemacht werden sollten. Welches biometrische Merkmal in die Ausweispapiere aufgenommen wird, ist dann eine zweite Frage. Wir wissen aber auch, dass Sie weder den Willen noch die Kraft haben, das, was notwendig ist, mit dieser Truppe hier im Deutschen Bundestag durchzusetzen. Das ist die Wahrheit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Bosbach, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Tauss.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Bosbach, ist Ihnen bekannt, dass der Deutsche Bundestag über sein Büro für Technikfolgenabschätzung ein Gutachten zum Thema Biometrie in Auftrag gegeben hat, das zum Inhalt hat, dass es zu biometrischen Systemen noch erhebliche technische Fragestellungen gibt, dass es noch kein biometrisches System gibt, das, zumindest über viele Jahre hinweg, bereits als sicher angesehen werden kann? Halten nicht auch Sie es für sinnvoll, dass man vor der Realisierung Ihrer Forderungen zumindest über die technischen Grundlagen nachdenken sollte, über die man reden will? Ich meine, das sollte man auch von jemandem verlangen, der nicht Forschungspolitiker ist. - Stimmen Sie mir darin zu? ({0})

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Tauss, ich betrachte Ihre Fragestellung als heftige Kritik an dem Innenminister, ({0}) der sich Ihrer Meinung nach - ({1}) - Entschuldigung, Herr Kollege Tauss. Sie fragen, ich antworte und jetzt müssen Sie die Antwort tapfer hinnehmen. ({2}) Ich entnehme Ihrer Fragestellung, dass sich der Bundesinnenminister nach Ihrer Auffassung voreilig mit seinen biometrischen Daten ({3}) in seinem eigenen Personalausweis hat fotografieren lassen. ({4}) Herr Tauss, ich will es ganz kurz machen. Sie haben nach dem 11. September gesagt: Das werden wir einführen. ({5}) Sie haben hier zwar gesetzliche Änderungen beschlossen. Diese haben aber nichts anderes zum Inhalt als die Aussage, dass es demnächst durch ein neues Gesetz eingeführt werden könnte, weil Sie sich auf die Einführung selber in der Koalition nicht haben einigen können. - Ende der Durchsage zu diesem Thema. ({6}) Es gibt eine weitere Kuriosität, über die ebenfalls gerade gesprochen worden ist: die Kronzeugenregelung. Am gleichen Tag, als Sie, Herr Schily, der staunenden Öffentlichkeit erklärt haben, dass Sie in der Koalition eine Kronzeugenregelung beschlossen haben, hat der Außenminister Fischer für die Grünen gesagt, dass Sie keine Kronzeugenregelung beschlossen haben. Es gibt folgende Möglichkeiten: Schily hat Recht; dann kann Fischer nicht Recht haben. Oder Fischer hat Recht; dann kann Schily nicht Recht haben. Ausgeschlossen ist, dass beide gleichzeitig Recht haben. Wir haben keine Kronzeugenregelung, sondern bestenfalls die Wiederholung einer Selbstverständlichkeit in Bezug auf die Strafzumessung, Herr Kollege Montag, nämlich dass das Verhalten des Täters nach der Tat bei der Strafzumessung zu berücksichtigen ist. ({7}) Wir sind leider - das ist ein ernstes Thema - insbesondere bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität und des internationalen Terrorismus auch auf Aussagen von Täterzeugen angewiesen. ({8}) Wenn wir es mit ethnisch geschlossenen Tätergruppen zu tun haben, dann können wir dort nicht mit verdeckten Ermittlern operieren. ({9}) In diesem Fall gibt es leider Verbrechen, die wir nicht aufklären und bei denen wir die Täter nicht überführen können, wenn wir nicht Angaben von Täterzeugen haben, ({10}) die zum Teil ihr Leben riskieren, wenn sie aus der Szene aussteigen und gegen ihre ehemaligen Mittäter aussagen. Wenn sich jemand beim Bundeskriminalamt, beim Verfassungsschutz oder wo auch immer meldet, um unter Lebensgefahr auszupacken, dann braucht er eine neue Identität. Außerdem fragt er sich, was er davon hat. ({11}) - Jetzt fehlt nur noch die Aussage „Don’t leave your baggage unattended!“. ({12}) Dann sagen Sie zu diesem Täterzeugen, Herr Montag: Wenn Sie gegen Ihre ehemaligen Mittäter aussagen, dann kann es sein, dass die Strafzumessung möglicherweise milder ausfällt. - Glauben Sie ernsthaft, dass bei dieser Regelung ein Schwerverbrecher aussteigt? ({13}) - Ich sage zu ihm das, was wir in der Vergangenheit schon oftmals gesagt haben. Wenn er auspackt und wenn seine Aussage dazu beiträgt, Verbrechen aufzuklären, Verbrecher zu überführen und vor allen Dingen neue schwere und schwerste Straftaten zu verhindern, dann muss er wissen, dass ihm keine langjährige Haftstrafe droht und dass wir ihn schützen. ({14}) Ich sagen Ihnen, auch wenn Sie es nicht verstehen: Das ist kein schmutziger Deal mit Mördern, sondern dieses Vorgehen hilft, Menschenleben zu retten. ({15}) Immerhin gibt es in der Koalitionsvereinbarung eine Kehrtwende zu etwas mehr Ehrlichkeit. Über dem Gesetz zur Zuwanderung steht „Steuerung und Begrenzung“. Dieses Begriffspaar haben Sie aufgegeben. In der Koalitionsvereinbarung heißt es jetzt „Gestaltung der Einwanderung“. Das ist offensichtlich etwas anderes. Gemeint ist die Ausweitung der ohnehin schon großen Zuwanderung nach Deutschland. ({16}) Am 1. Januar wird vorbehaltlich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe das neue Zuwanderungsgesetz in Kraft treten, soweit es nicht schon in einigen Teilen in Kraft getreten ist. Am 1. Januar wird der Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer aus Nicht-EU-Staaten aufgehoben, und zwar generell und nicht nur für hoch qualifizierte Arbeitnehmer. Eingeführt wurde der Anwerbestopp von Willy Brandt bei einer Arbeitslosenquote von 1,2 Prozent und bei einer Ausländerarbeitslosenquote von 0,8 Prozent. Sie heben heute bei einer Arbeitslosenquote von knapp 10 Prozent und einer Ausländerarbeitslosenquote von knapp 20 Prozent diesen Anwerbestopp auf. Wir haben eine dramatische Situation auf dem Arbeitsmarkt: Es gibt 4 Millionen Arbeitslose und 1,5 Millionen in der stillen Reserve - Tendenz steigend -, nicht nur aus saisonalen Gründen, sondern auch wegen der völlig verfehlten Wirtschaftspolitik. Lieber Herr Minister Schily, wir begehen mit der generellen Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Nicht-EU-Staaten einen kapitalen Fehler. ({17}) Solange wir eine derart dramatische Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben, muss die Weiterqualifizierung, Umschulung und Vermittlung von inländischen Arbeitslosen Vorrang haben vor einer weiteren Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt. ({18}) Das hat mit Ausländerfeindlichkeit überhaupt nichts zu tun. ({19}) Zu meinem letzten Punkt, der für uns im Moment angesichts der fürchterlichen Verbrechen in den letzten Monaten ein ganz wichtiger, entscheidender Punkt ist: dem zum besseren Schutz der Bevölkerung, insbesondere unserer Kinder, vor Sexualstraftaten und Sexualstraftätern. ({20}) - Dies genügt nicht. Jeder einzelne Fall, Frau Griefahn, ist ein Fall zu viel. Wenn Sie hier angesichts der polizeilichen Kriminalstatistik in Deutschland, in der von 14 000 bis 15 000 sexuell missbrauchten Kindern ausgegangen wird, sagen, diese Zahl habe abgenommen, so ist Ihre Feststellung eine glatte Unverschämtheit für alle Opfer. ({21}) - Nein, nein. Wir wollen, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern strafrechtlich endlich als das behandelt und bezeichnet wird, was er ist: als ein Verbrechen und nicht nur als ein Vergehen. ({22}) Wir wollen die DNA-Analyse konsequent anwenden, ({23}) und zwar bei jedem Delikt mit sexuellem Bezug, weil wir den Tätern sagen wollen: Wenn ihr noch einmal eine Straftat begeht, dann bekommen wir euch. - Denn die Gefahr, dass der Täter entdeckt und überführt wird, ist das, was den Täter abschreckt - und nicht die abstrakte Strafandrohung. ({24}) Herr Präsident, ich komme gleich zum Schluss. - Obwohl Sie hier die vorbehaltene Sicherungsverwahrung, die Sie in der letzten Wahlperiode fünf vor zwölf eingeführt haben, preisen, wissen Sie genau: Kein einziger Straftäter, der jetzt in Haft sitzt, wird von dieser Regelung tangiert. Diese Regelung gilt nur für die Zukunft. Obwohl Sie das wissen, täuschen Sie in der Bevölkerung vor, das getan zu haben, was in Deutschland zum besseren Schutz insbesondere von Kindern getan werden müsste. Diese Koalition hat nicht die Kraft, die Bevölkerung wirksamer vor Kriminalität zu schützen. ({25})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich halte heute als neue Abgeordnete meine erste Rede im Bundestag. ({0}) Ich muss feststellen: Ich bedauere es, dass ich nur eine Redezeit von zehn Minuten habe. Es ist mir gar nicht möglich, die vielen Verdrehungen und Verfälschungen, die in den Reden aus den Reihen der CDU/CSU, vor allem im letzten Redebeitrag, vorkamen, richtig zu stellen. Dafür braucht man nicht zehn Minuten, sondern zehn Stunden. ({1}) Lassen Sie mich zu Beginn auf zwei Dinge eingehen, die wiederholt in sehr unterschiedlichen Nuancen angesprochen worden sind. Beide Dinge halte ich persönlich für nicht akzeptabel. Sie haben den Grünen in der Auseinandersetzung um die Rechtspolitik vorgeworfen - das sage ich vor dem Hintergrund des Geiseldramas in Moskau, das mich sehr betroffen gemacht hat; ich denke, Sie genauso -, wir hätten die SPD bei der Innen- und Rechtspolitik als Geisel genommen. Ich halte es für einen falschen Sprachgebrauch bzw. für eine politische Entgleisung, so zu argumentieren. ({2}) Ich möchte noch eines klarstellen: Ich halte es nicht für angemessen, hier die zweite, die kleinere Regierungspartei als Truppe zu bezeichnen. ({3}) Meine Damen und Herren, wenn Sie diesen Stil einführen wollen, werden wir darauf antworten, denn auch wir beherrschen dieses Spiel. Ich möchte heute zu Beginn der Auseinandersetzung den Appell an Sie richten: Lassen Sie uns doch die Auseinandersetzung über fachliche Konzepte suchen und lassen Sie uns in fachlicher und sachlicher Art argumentieren. Ich will überhaupt nicht verhehlen - Sie haben Unterschiede zwischen SPD und Grünen angesprochen -, dass es nicht immer leicht ist, in Koalitionsvereinbarungen zu Ergebnissen zu kommen. Ich denke, den kritischen Beobachtern ist nicht verborgen geblieben, dass es diese Unterschiede auch zwischen SPD und Grünen gibt. Natürlich werden in den Auseinandersetzungen manchmal kulturelle Werte unterschiedlich gewichtet. Es ist aber gerade der Erfolg dieser rot-grünen Bundesregierung, dass es uns in der vergangenen Legislaturperiode und jetzt zum zweiten Mal gelungen ist, den Sicherheitsaspekt, den wir als Grüne genauso ernst nehmen wie jede andere demokratische Partei hier im Raum, und den Aspekt der Bürgerrechte, der immer ein Minderheitenaspekt ist, zu einer gemeinsamen Politik zusammenzufassen. ({4}) Das ist der Erfolg der rot-grünen Bundesregierung und wir sind fest entschlossen, diese Politik, die keinen Gegensatz mehr zwischen Sicherheit und Bürgerrechten sieht, in den nächsten vier Jahren fortzusetzen. Das große Projekt dieser Legislaturperiode - das wurde bereits angesprochen - ist die Umsetzung des Zuwanderungsgesetzes. Ich hege die große Hoffnung, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung berücksichtigt, welch wichtiges gesellschaftspolitisches Vorhaben das ist. Wir verhandeln im Moment über die Verordnung zum Zuwanderungsgesetz. Wir als Grüne legen auf zwei Punkte einen besonderen Wert. Zum einen wollen wir - ich denke, das ist vernünftig - angesichts der angespannten finanziellen Situation nicht nur des Bundes, sondern auch der Länder und Kommunen vernünftige Regelungen in der Frage des Zugangs zum Arbeitsmarkt. In diesem Punkt verstehe ich Ihre Argumentation überhaupt nicht. Gehen Sie doch zu Herrn Koch nach Hessen und fragen Sie ihn, warum gerade er - er war nicht der Erste, er war nach seinem Kollegen aus Bayern der Zweite - beim Bundesinnenminister beantragt hat, in bestimmten Fällen Ausnahmeregelungen vom Anwerbestopp zu veranlassen. Das gehört zur Ehrlichkeit in dieser Debatte dazu. Der Anwerbestopp existiert seit vielen Jahren nicht mehr. Wir haben mittlerweile mehr Ausnahmen vom Anwerbestopp, als Rot-Grün an Zugängen zum Arbeitsmarkt im Zuwanderungsgesetz zulassen will. ({5}) Angesprochen wurde auch die Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus. Auch in dieser Frage wird es Ihnen einfach nicht gelingen, eine Trennung zwischen Rot-Grün herbeizureden. Ich denke, dass alle Fraktionen hier in diesem Hause die Sicherheit der Bevölkerung vor terroristischen Angriffen sehr ernst nehmen. Ich habe mir Ihr 100-Tage-Programm sehr genau angesehen. Ich glaube nicht, dass es ein Beitrag zu mehr Sicherheit ist, wenn Sie nach wie vor den Vorschlag machen, die Bundeswehr im Innern einzusetzen. Ich habe den Eindruck, dass unsere Polizei und unsere Sicherheitsbehörden sehr wohl in der Lage sind, eine gute Arbeit zu leisten, und im internationalen Vergleich gut dastehen. Wir brauchen im Innern die Bundeswehr nicht. Diese Auseinandersetzung - ich erinnere mich noch daran, ich war damals noch sehr jung - haben wir bereits bei den Notstandsgesetzen geführt. Zum Glück hat die 68er-Bewegung schon damals gewonnen. Ich denke, dass wir hier keine Neuauflage dieser Debatte brauchen. ({6}) Die Trennung von Polizei und Armee ist im Grundgesetz verankert. Dies soll auch in Zukunft so bleiben. Ich denke, dies ist gut so. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung festgelegt, dass wir die Sicherheitsgesetze evaluieren wollen. Evaluieren heißt für uns nicht, den Wettlauf fortzuführen, der darin besteht: Die CDU fordert mehr Befugnisse für die Polizei; der Innenminister fühlt sich unter Druck gesetzt, vielleicht vom Kanzler, vielleicht von wahltaktischen Fragen in der Innenpolitik, und will keine Flanke eröffnen. ({7}) Ich möchte bei der Evaluierung der Sicherheitsgesetze, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern zwei Fragen öffentlich beantworten. Wir treffen hier die Entscheidung, dass wir in individuelle Freiheitsrechte eingreifen, weil wir der Auffassung sind, dass dies erforderlich ist, um die Sicherheit in unserem Land zu gewährleisten. Ich möchte in jedem einzelnen Punkt, und zwar in einer fachlichen Debatte, nicht in einer polemischen Debatte, wie sie hier geführt worden ist, nachgewiesen bekommen, ({8}) ob diese Eingriffe tatsächlich zum Ziel führen, ob sie erforderlich, geeignet und verhältnismäßig sind. ({9}) Dies werden die Prüfkriterien sein. Darüber hinaus werden wir Ansätze einbringen - wir haben dies in den Koalitionsvereinbarungen festgelegt -, um in dieser Auseinandersetzung nicht nur die Polizei, sondern auch die Demokratie zu stärken. Wir setzen eben nicht nur wie Sie von der Opposition auf einen starken Staat. Wir setzen auf eine starke Zivilgesellschaft. Deswegen haben wir ein Informationsfreiheitsgesetz, mehr Transparenz in der Gesellschaft, mehr Zugang für die Bürgerinnen und Bürger zu Informationen vereinbart, damit sie als selbstbewusste und eigenständige Bürgerinnen und Bürger ihren Beitrag zu mehr Sicherheit und Demokratie leisten. Ich sehe an der Uhr, dass meine Zeit so gut wie abgelaufen ist. ({10}) Lassen Sie mich noch ganz kurz einen Punkt, der mir ebenso wichtig ist, ansprechen: Wir übernehmen auch Verantwortung für die Vergangenheit. Es ist uns ein großes Anliegen, die Arbeit der Birthler-Behörde fortzusetzen. Ich möchte Sie hier bitten - wie dies zuvor schon jemand von der SPD gemacht hat -: Lassen Sie uns hier zu einem parteiübergreifenden Konsens zurückkommen. Lassen Sie uns eine große Koalition aus allen Fraktionen bilden, damit die Aufarbeitung der Stasivergangenheit wieder aufleben kann ({11}) und damit dieses Gerede über den Schlussstrich beendet werden kann. Meine Damen und Herren, ich sehe jetzt: Hier leuchtet der Präsident. ({12}) Ich muss meine Rede beenden. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freue mich auf einen konstruktiven Streit im Innenausschuss und hier im Hause. Danke schön. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Stokar von Neuforn, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede hier in diesem Hause. ({0}) Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Max Stadler von der FDP-Fraktion das Wort.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte in der Debatte kurz auf den Beitrag des Kollegen Hacker von der SPD zurückblenden. Ich will nicht Wortklauberei betreiben; aber Herrn Hacker ist eine Formulierung unterlaufen, bei der ich hellhörig geworden bin, weil sie in ähnlicher Weise immer wieder gebraucht wird. Er hat, wenn ich es richtig mitbekommen habe, davon gesprochen, dass das Sicherheitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger ein Grundrecht sei. Das heißt, das Grundrecht auf Sicherheit, von dem Minister Schily so oft spricht, ist hier noch ausgedehnt worden auf ein Grundrecht auf Sicherheitsgefühl. Ich greife das aus einem Grund auf: um deutlich zu machen, dass wir als Liberale hier einen ganz konservativen Ansatz haben. Es gibt kein Grundrecht auf Sicherheit, aber es gibt die Pflicht des Staates, die innere Sicherheit zu gewährleisten. Dazu brauchen seine Institutionen, dazu brauchen Polizei, Justiz und auch die Geheimdienste Eingriffsbefugnisse. Bei diesen Eingriffen sind sie aber an die Grundrechte gebunden und stoßen an die durch die Grundrechte gezogenen Grenzen. Da, wo die Grundrechte ausnahmsweise eine Einschränkung erfahren müssen, gilt aber immer noch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Das ist unser Grundprinzip, mit dem wir die Politik von Innenminister Schily in den vergangenen vier Jahren kritisch und konstruktiv begleitet haben. ({0}) Das hat dazu geführt, dass wir, auch wegen des für das Parlament unwürdigen Verfahrens, zum Beispiel das so genannte Sicherheitspaket Schily II abgelehnt haben, weil wir uns bei den dafür notwendigen Abwägungen hier im Hause oft sehr alleine gelassen fühlten. Ich nenne nur ein Beispiel, das jetzt in Hamburg wieder aktuell geworden ist. Wenn es darum geht, in die Berufsgeheimnisse von Rechtsanwälten, Steuerberatern, Geistlichen oder auch Journalisten einzugreifen, dann sind diese Abwägungen sehr sorgsam vorzunehmen. Da haben wir oft weder, wie man es bei unserem konservativen Ansatz erwarten würde, von der Union noch von den Grünen oder der SPD hinreichend Unterstützung erhalten. Deswegen sage ich, Herr Minister Schily: Wir haben Sie kritisch, aber auch konstruktiv begleitet. Es gab äußerst wichtige Gesetzesvorhaben in der letzten Legislaturperiode. Ich nenne noch einmal die Zwangsarbeiterentschädigung, bei der wir sehr wohl unseren Anteil an der Gesetzgebung hatten, sowie das Staatsangehörigkeitsrecht und das Zuwanderungsgesetz, zu deren Umsetzung wir über Rheinland-Pfalz unseren Beitrag geleistet haben. ({1}) Ich sage es bewusst, Herr Kollege Bosbach, weil Sie der deutschen Öffentlichkeit in Ihrer ansonsten brillant formulierten Rede hier leider eines verschwiegen haben: Das Zuwanderungsgesetz sieht nach wie vor den Vorrang der inländischen Arbeitnehmer vor. ({2}) Das bedeutet, es wird niemand von seinem Arbeitsplatz verdrängt. Die FDP hätte über Rheinland-Pfalz doch nicht einem Gesetz zugestimmt, das in unvernünftiger Weise zusätzliche Zuwanderung zugelassen hätte, die der deutsche Arbeitsmarkt nicht vertragen würde. Hier gibt es die Vorrangprüfung als entscheidendes Instrumentarium. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Stadler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bosbach?

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, obwohl ich in der Erwartung derselben schon jetzt 20 Sekunden wertvoller Redezeit verloren habe.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die werden Ihnen aber nicht abgezogen. Bitte schön, Herr Bosbach.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Max, bist du bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich erstens nicht gesagt habe, dass mit dem Gesetz beabsichtigt sei bzw. dass das Gesetz die unbeabsichtigte Nebenfolge habe, Arbeitsplatzbesitzer von ihrem Arbeitsplatz zu verdrängen, sondern dass ich gesagt habe, dass ich angesichts der dramatischen Situation auf dem Arbeitsmarkt keinerlei Begründung dafür kenne, warum wir den deutschen Arbeitsmarkt ab dem 1. Januar unter Aufhebung des Anwerbestopps für ausländische Arbeitnehmer aus Nicht-EU-Staaten generell öffnen sollten, und dass die Weiterqualifizierung und Umschulung Vorrang haben sollen? ({0}) Zweitens. Bist du mit mir der Auffassung, dass folgende Rechnung nicht aufgehen kann: „Mehr Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt beim weltweiten Wettbewerb um die klügsten Köpfe und zusätzliche Maßnahmen aus humanitären Gründen haben im Ergebnis eine Reduzierung der Zuwanderung nach Deutschland zur Folge“?

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Wolfgang Bosbach, in der öffentlichen Diskussion geht es doch um folgende entscheidende Frage: Ist es bei einem angespannten Arbeitsmarkt mit 4 Millionen Arbeitslosen überhaupt noch sinnvoll, über Zuwanderung nach Deutschland zu reden? Wir wissen ganz genau, dass dies zwar auf den ersten Blick perplex erscheint, dass aber der Arbeitsmarkt in Deutschland gespalten ist, dass es gerade dem Mittelstand trotz aller Bemühungen nicht gelingt, Facharbeiterstellen zu besetzen. Wir alle sind uns darüber einig, dass die Qualifizierung der eigenen Arbeitskräfte, eine Bildungspolitik für die eigene Jugend und die bessere Vereinbarkeit von Familie und Arbeitsleben Vorrang haben müssen. Das steht außer Streit. ({0}) Der Streit geht doch nur darum, ob es nicht ein Instrumentarium geben muss, damit das, was sowieso praktiziert wird, wie zum Beispiel auch von unionsregierten Ländern wie etwa Bayern, nun gesetzlich geregelt wird. Es bestehen nämlich schon jetzt Ausnahmeverordnungen für bestimmte berufliche Bereiche und für bestimmte Regionen, in denen nachgewiesenermaßen Bedarf besteht, der nicht befriedigt werden kann - nur darum geht es -, in denen Wachstumschancen für die deutsche Wirtschaft verloren gehen und in denen wir dadurch, dass wir nicht tätig werden, Arbeitsplätze vernichten. ({1}) Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, ob wir in diesen Segmenten weiterhin mit Ausnahmeverordnungen arbeiten wollen, so wie das Bayern mit der Anwerbung von Krankenschwestern aus Kroatien und Pflegekräften aus der Slowakei macht, oder ob wir endlich zu einem ganzheitlichen System mit einer gesetzlichen Regelung kommen wollen, die das Problem insgesamt angeht. Deswegen hat die FDP über Rheinland-Pfalz dieser gesetzlichen Steuerungsmöglichkeit zugestimmt. ({2}) Ich darf nun an die sehr bemerkenswerten Ausführungen des Kollegen Montag in seiner ersten Rede anknüp146 fen und möchte ohne Besserwisserei einen Punkt ergänzen. Gesetzesfolgenabschätzung und Befristung von Gesetzen sind nicht so neu, wie man das nach Ihrem Beitrag denken möchte. Sie werden damit vielleicht noch Verdruss haben; denn die alte Koalition von CDU/CSU und FDP hat 1998 zum Beispiel die umstrittene Regelung über verdachtsunabhängige Kontrollen eingeführt. Diese war aber befristet. Es wird jetzt Ihre Aufgabe sein, sich darüber zu einigen, ob diese Regelung weiterhin so bestehen bleiben soll oder ob Sie sie auslaufen lassen wollen. Da bin ich neugierig. Aus der Koalitionsvereinbarung kann man leider nicht erkennen, ob wir in der gewohnten Weise kritisch, aber konstruktiv mit Ihnen zusammenarbeiten können, Herr Minister Schily, oder ob der kritische Faktor überwiegen muss. Denn die Koalitionsvereinbarung enthält so viele Unverbindlichkeiten und Prüfaufträge, so genannte Evaluationen, dass man heute überhaupt noch nicht sagen kann, was Sie wirklich in der Innenpolitik machen werden. Deswegen muss ich diesen Vorbehalt formulieren. Am Ende, Herr Minister Schily, gestatten Sie mir eine kleine Bezugnahme auf die jüngste Zeit, obwohl die Themen ansonsten äußerst ernst sind. Für mich gab es zwei große Überraschungen. Die erste Überraschung war der Wahlsieg von Rot-Grün, nicht wegen Ihrer Politik, Herr Minister, sondern vor allem wegen der Finanz- und Arbeitsmarktpolitik. Zum Zweiten habe ich mich gefragt - bitte verzeihen Sie mir diese kleine Abschweifung vom eigentlichen Thema -, wie Sie es geschafft haben, Herr Minister Schily, dass Gianna Nannini Sie als Schlagzeuger in einer Rockband verpflichten will. Wenn wir dies auch noch erfahren, dann könnte es sein, dass die weitere Zusammenarbeit doch wieder konstruktiv wird und nicht so kritisch, wie es nach der Koalitionsvereinbarung jetzt den Anschein hat. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Koschyk von der CDU/CSU-Fraktion.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Stadler, wir sind darüber nicht so gut informiert wie Sie, aber vielleicht kann uns bei einer der ersten Sitzungen im Innenausschuss der Minister Antwort darauf geben, wie es sich mit dieser möglichen neuen Berufskarriere als Schlagzeuger verhält. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Kontrastreicher hätte der Zwiespalt in der Innenpolitik zwischen Rot und Grün heute nicht ausfallen können: Wir haben uns zuerst die in weiten Teilen von großem Ernst getragene und aus unserer Sicht zustimmungsfähige Rede des Innenministers angehört und sind dann sehr aufmerksam der ersten Rede der Frau Kollegin Stokar von Neuforn gefolgt. Auch der Blick in die Koalitionsvereinbarung macht diese Ambivalenz deutlich. Da ist für jeden etwas dabei. Die Grünen kommen auf ihre Kosten, indem in der Innenpolitik die gesellschaftspolitischen Themen nach vorne geschoben werden. Ich nenne nur Ausgestaltung der Zuwanderung, Drogenpolitik, Antidiskriminierungsgesetz und ({0}) Informationsfreiheitsgesetz. ({1}) - Herr Ströbele ruft schon „Gut so!“. Von all diesen Dingen hat man in der Rede des Bundesinnenministers aber nichts gehört. ({2}) Er hat zu Recht davon gesprochen, dass wir uns in der Innenpolitik als Bestandteil der allgemeinen Sicherheitspolitik auf schwere Jahre einstellen müssen. Herr Bundesinnenminister, da bei den Grünen Zuwanderungsbegrenzung, Terrorismusbekämpfung und innere Sicherheit allenfalls Fußnoten der Innenpolitik sind, muss man sich fragen, ob Sie für all das, was Sie mit großem Ernst zur Terrorismusbekämpfung und zur Verstärkung der Anstrengungen für die innere Sicherheit hier gesagt haben, wirklich die Unterstützung Ihres grünen Koalitionspartners haben. ({3}) Nach Ihrer Rede und nach der Rede von Frau Stokar von Neuforn, auf die ich im Einzelnen noch zurückkommen will, müssen wir uns schon fragen, wer die Musik in der Innenpolitik in Deutschland macht: ({4}) Sie, Herr Minister, oder Herr Ströbele und seine neue Kollegin, die beim Thema Evaluierung der Terrorismusgesetze schon angedeutet hat, dass sie hier scheinbar ganz anderer Auffassung ist als Sie. Herr Minister, wir sehen sehr wohl einen Widerspruch. Es ist zwar richtig, dass Sie am 15. Oktober auf der EU-Innenministerkonferenz gefordert haben, dass das Thema Terrorismusbekämpfung auf die Tagesordnung der EU kommt. Es ist aber doch unverkennbar, dass Sie in Ihren Ausführungen von der EU Dinge gefordert haben, die Sie in den beiden Antiterrorgesetzen in Deutschland - also innerstaatlich - nicht verwirklicht haben. Wir glauben, dass die Koalitionsvereinbarung vor allem im Bereich der elementaren Themen der Innenpolitik - Zuwanderungsbegrenzung, Zuwanderungssteuerung, Terrorismusbekämpfung und mehr innere Sicherheit - nicht die richtigen Antworten auf die wirklichen Herausforderungen gibt. ({5}) Herr Minister Schily, Sie haben die Gefahr, die vom Terrorismus auch für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land ausgeht, sehr drastisch beschrieben. Der Terrorismus ist grausame Realität unseres Lebens geworden. Er hat weltweite Ziele und trifft, wie Djerba, Moskau, Bali und auch der 11. September gezeigt haben, auch deutsche Mitbürgerinnen und Mitbürger. Der stellvertretende Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter Klaus Jansen, ein Experte aus dem Bundeskriminalamt, hat zur Bedrohungslage in Deutschland vor kurzem in der „FAZ“ gesagt, dass es in Deutschland nicht nur eine abstrakte Gefahr von Terroranschlägen gebe. Jansen sagte in der „FAZ“ wörtlich: Ich glaube nicht, dass die deutsche Öffentlichkeit derzeit vollständig von der politischen Führung über die bevorstehenden Gefahren unterrichtet wird. Solche in der Öffentlichkeit von sicherheitspolitischen Praktikern gemachten Aussagen müssen uns doch zu denken geben. Welche Brisanz die Bekämpfung des internationalen Terrorismus vor allem auch in Deutschland besitzt, haben vor kurzem die Verhaftungen des Marokkaners Mzoudi, der zu der Hamburger Zelle um Mohammed Atta enge Beziehungen unterhalten und sie logistisch unterstützt haben soll, und des Jemeniten Ramzi Binalshibh gezeigt. Wir müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass gerade Deutschland im Zentrum der Ermittlungen im Zuge der Anschläge des 11. September steht. Drei der vier in den USA entführten Flugzeuge wurden von Selbstmordpiloten gesteuert, die lange Zeit in Deutschland gelebt haben. Samuel Huntington hat erst vor kurzem in der „Zeit“ festgestellt: Im 21. Jahrhundert hat die Ära der muslimischen Kriege begonnen. Mancher mag das für überzogen halten. Sicherlich gibt es verschiedene Ursachen für die Gefahr, die auch unserem Land und der internationalen Gemeinschaft durch den islamischen Fundamentalismus droht. Auch wenn wir immer wieder die Notwendigkeit eines Dialogs mit dem Islam beschwören und wir diese Aufgabe auch leisten müssen, so müssen wir doch zur Kenntnis nehmen, dass es auch im islamischen Fundamentalismus ausgesprochene Feindseligkeit gegenüber spezifisch westlichen Ideen gibt - wie Individualismus, Liberalismus, Konstitutionalismus, Demokratie, Menschenrechten sowie Gleichheit von Gruppen und Geschlechtern. Feindseligkeit gibt es auch - das haben mich viele, mich bestürzende Aussagen gelehrt - gegenüber dem christlich-jüdischen Wertekanon. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass aus dieser Aggression der Nährboden für Gewalt und Terror entsteht. Die Praxis in den letzten Monaten hat deutlich gemacht, dass Ihre Antiterrorpakete I und II gravierende Sicherheitslücken haben. Ihre Antiterrorpakete sind mehr von der Hoffnung geprägt, die latente Gefahr möge niemals Wirklichkeit werden. Sie verkennt, dass Deutschland nicht nur Ruheraum, sondern Operationsraum ist und im Visier des internationalen Terrorismus steht. ({6}) Herr Minister, Sie haben vorhin zu Recht gesagt, dass das Ausmaß der Größenordnung der terroristischen Gefahr in Deutschland das Maß unserer gemeinsamen Verantwortung beschreibt. Deshalb bieten wir Ihnen an und wir appellieren an Sie: Lassen Sie uns noch einmal darüber sprechen, ob nicht die aus unserer Sicht bestehenden Sicherheitslücken in den beiden Antiterrorpaketen durch die Vorschläge, die die Union unterbreitet hat, geschlossen werden können. Es gibt durchaus einen Unterschied zwischen dem, was Sie zu der Evaluierung des Antiterrorpakets II meinen und was die Kollegin von den Grünen dazu gesagt hat. Sie haben von Korrektur- und Justierungsbedarf im Sinne von möglichen Verbesserungen gesprochen, während die Kollegin von den Grünen gesagt hat: Wir wollen nicht länger, dass der Innenminister den Wettlauf gegen die Opposition gewinnen muss, die ihn in dieser Frage unter Druck setzt. ({7}) Herr Minister, warten Sie mit dieser Evaluierung nicht zwei Jahre! Überlegen Sie jetzt, was getan werden muss! Setzen Sie sich mit unseren Vorschlägen konstruktiv auseinander! Die Politik, die die Kollegin von den Grünen angedeutet hat und die klar erkennen lässt, dass es eher um Aufweichung und die Wiederabschaffung einiger dieser Teile des aus unserer Sicht unzureichenden Antiterrorpaketes II geht, wird auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen. Für uns ist ein zentraler Punkt der Verbesserung, dass die Einreise gewaltbereiter Extremisten nach Deutschland verhindert wird bzw., sofern sie bereits in unserem Land sind, die Voraussetzungen geschaffen werden, um diese Personen leichter auszuweisen und abzuschieben. ({8}) Ich kann weitere Punkte nennen. Wenn der Innenausschuss seine Arbeit wieder aufgenommen hat, können wir unsere Vorschläge Punkt für Punkt diskutieren. Dabei können Sie, Herr Minister, deutlich machen, wo Sie unsere Vorschläge für nicht praktikabel halten. Aber dass seinerzeit viele unserer Vorschläge bei der Behandlung im Bundestagsinnenausschuss einfach abgelehnt worden sind, ({9}) können wir bis heute nicht verstehen. Wir meinen, wir brauchen eine Erweiterung der Verbotsmöglichkeiten für islamistisch-extremistische Vereine. Wir brauchen die Strafbarkeit der Unterstützung solcher Vereine. ({10}) - Herr Tauss, darüber lacht man nicht. ({11}) - Ich komme gleich auf das Thema Verbotsverfahren, al-Aksa und Kalifatsstaat. Aber wenn wir über solch ernste Themen reden, sollten Sie dies nicht lächerlich machen, Herr Tauss. ({12}) Ich darf weitere Punkte nennen. Wir brauchen - ich sage es noch einmal - die Strafbarkeit der Unterstützung und der Werbung für ausländische terroristische Vereinigungen. Über das Thema biometrische Daten hat der Kollege Bosbach bereits gesprochen. Wir brauchen auch Versagungsgründe für Visa und Aufenthaltsgenehmigungen bei Terrorismus- und Extremismusverdacht. Wir brauchen die Erfassung und Speicherung der Daten hinsichtlich ethnischer und religiöser Zugehörigkeit auch im Ausländerzentralregister. Wir brauchen im Einbürgerungsverfahren und bei der Erteilung von Aufenthaltsrechten eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz. Sowohl der Kollege Röttgen als auch der Kollege Bosbach haben schon über eine sinnvolle Ausgestaltung der Kronzeugenregelung gesprochen. Wir sehen sehr wohl - auch durchaus selbstkritisch -, an welchen Stellen die seinerzeit von uns eingeführte Kronzeugenregelung nicht dem entsprach, was aus rechtsstaatlichen Gründen wünschenswert gewesen wäre. Ich meine aber, dass man auch und gerade unter der terroristischen Bedrohung über eine vernünftig auszugestaltende Kronzeugenregelung reden müsste. Wir meinen, dass es auch im operativen Bereich notwendig ist, die Maßnahmen von Polizei und Verfassungsschutz zu verbessern. In diesem Zusammenhang sind Rasterfahndungen und Beobachtungen islamistischer Bestrebungen durch den Verfassungsschutz des Bundes und der Länder zu nennen. Herr Minister, Sie haben im Zusammenhang mit den Sicherheitsbehörden unseres Landes den Diensten gedankt. Auch darin stimmen wir Ihnen zu. Aber uns ist doch die grundsätzliche Skepsis und Ablehnung Ihres grünen Koalitionspartners gegenüber den Geheimdiensten bekannt. Angesichts dessen, was Herr Ströbele immer wieder lauthals zu diesem Thema von sich gegeben hat, befürchten wir, dass bei der im Koalitionsvertrag angekündigten Überprüfung von Aufgaben, Struktur, Effektivität, Befugnissen und Kontrolle der Geheimdienste eine Schwächung der Dienste erfolgt. Das hielten wir für unverantwortlich und das würde auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen. ({13}) Jetzt komme ich dazu, was Sie in der Koalitionsvereinbarung zu dem Thema „Weitere Erleichterungen im Staatsangehörigkeitsrecht“ angekündigt haben, Herr Minister. ({14}) Wir meinen, dass aufgrund der bisherigen Erkenntnisse bei der Terrorismusbekämpfung über weitere Erleichterungen im Staatsangehörigkeitsrecht noch einmal nachgedacht werden müsste. Ich will an dieser Stelle nicht darüber sprechen, dass hinsichtlich des Anstiegs der Zahl der Einbürgerungen im Jahr 1999 um 30 Prozent davon auszugehen ist, dass fast die Hälfte der neu eingebürgerten Ausländer noch ihren alten Pass besitzt und somit entgegen der offiziellen Darstellung der Bundesregierung quasi eine doppelte Staatsangehörigkeit hat. Ich will auch nicht darüber sprechen, dass man manchmal vermuten könnte, dass Sie sich durch weitere Erleichterungen im Staatsangehörigkeitsrecht neue Wählerschichten erschließen möchten. ({15}) Ich meine aber, Herr Minister, dass Ihnen das, was ich gerade ausgeführt habe, sicherlich bei den verschiedenen Verfahren zu denken gegeben hat, wenn Sie ehrlich sind. Denn Sie haben schon bei den Verbotsverfahren die Folgen der Reformen im Staatsangehörigkeitsrecht zu spüren bekommen. Im Zusammenhang mit dem Verbot des Spendensammelvereins al-Aksa hat die „taz“ Anfang Oktober berichtet, dass dieser Verein für sich nicht mehr gelten lassen wollte, dass er in Deutschland ein von Ausländern getragener Verein ist, weil viele der Aktionisten inzwischen eingebürgert sind. ({16}) - Deshalb lassen Sie uns doch gemeinsam darüber nachdenken, Herr Minister, dass es nicht das richtige Signal ist, über weitere Erleichterungen bei der Einbürgerung ohne Regelanfrage nachzudenken. Schließlich mussten Sie sowohl beim al-Aksa-Verfahren als auch beim Verbotsverfahren im Zusammenhang mit dem Kalifatsstaat zur Kenntnis nehmen, dass eine Reihe der Aktivisten eben keine Ausländer, sondern eingebürgert sind. Ich meine, wir müssen auch eine Diskussion über die gesellschaftspolitische Dimension des Terrorismus führen. Wir müssen uns schon fragen, wie viel Unterschiedlichkeit ein Land verträgt, wie viel Gemeinsamkeit ein Land braucht, um seine innere Bindungskraft und seine Widerstandsfähigkeit gegenüber extremistischen Strömungen nicht zu verlieren, und ob wir nicht von Neuem damit beginnen könnten, ohne ideologische Verbrämung ({17}) die Gefährdungen für die innere Sicherheit unseres Landes auch im Zusammenhang mit einer ungesteuerten Zuwanderung zu sehen. ({18}) - Ich sage das so deutlich: auch nach den bisherigen Erfahrungen einer ungesteuerten Zuwanderung. Herr Minister, Ihnen ist doch sicherlich auch die Entscheidung des Vorsitzenden des zuständigen Gerichts bekannt, der den Kalifen von Köln verurteilt hat. Der Richter hat sich in der Urteilsbegründung zutiefst erschüttert gezeigt über das Ausmaß der in Deutschland entstandenen, gegen unsere Verfassung, gegen die Demokratie und gegen unseren Wertekanon gerichtete Parallelgesellschaft, die sich hinter dem Kalifen von Köln und dem Kalifatsstaat verborgen hat. ({19}) Darum, dass wir, wenn wir solche Gefahren erkennen, entschiedener handeln, dass noch einmal über eine Nachbesserung der Antiterrorpakete nachgedacht wird und dass mit der Evaluierung nicht zwei Jahre gewartet wird, möchte ich Sie, Herr Minister, namens meiner Fraktion im Sinne einer konstruktiven Zusammenarbeit, wie Sie sie angeboten haben, bitten. Herr Minister, das Thema ist zwar zu ernst. Dennoch möchte ich wie der Kollege Stadler mit einer etwas scherzhaft gemeinten Bemerkung enden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, Herr Kollege Koschyk, Sie haben Ihre Redezeit bereits überschritten.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir helfen Ihnen gegenüber allen Größeren. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Silke Stokar von Neuforn.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Koschyk, im Zusammenhang mit der Evaluierung der Sicherheitsgesetze haben Sie mich unter Nennung meines Namens - ich vermute: bewusst - falsch zitiert und wiedergegeben. Ich möchte das richtig stellen. Ich habe vorhin deutlich gesagt, welches Ziel wir mit der Evaluierung verfolgen: Wir werden untersuchen, ob die verabschiedeten Gesetze und die damit verbundenen Befugnisse in jedem Einzelfall geeignet sind, das Ziel der Terrorismusbekämpfung - auch dieses habe ich vorhin genannt; das ist ein gemeinsames Ziel von Rot-Grün; ich sage das, damit hier keine Unklarheiten entstehen - zu erreichen. Wir werden uns das von den Diensten und vom Bundesinnenministerium an der Praxis erläutern lassen. Selbstverständlich werden wir auch klären, ob die Gesetze verhältnismäßig sind. Dies ist ein ganz normaler Vorgang. Ihre Darstellung dessen, was ich gesagt haben soll, weicht weit von dem ab, was ich in meiner ersten Rede in diesem Hohen Hause tatsächlich gesagt habe. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Koschyk, wollen Sie erwidern? ({0}) Für die Bundesregierung hat jetzt das Wort die Frau Staatsministerin Dr. Christina Weiss. ({1})

Not found (Gast)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begreife Kultur als ein Regelwerk des Füreinanders und des Miteinanders. Sie umgrenzt das Feld der Auseinandersetzung einer Gesellschaft mit ihren Traditionen und Wurzeln, ihren Werten, ihren Zielen, ihren Konflikten und natürlich ihren Visionen, den zukünftigen Pfaden der Entwicklung. Kultur prägt die Lebensentwürfe der Individuen und bildet zugleich den Nährboden ihrer Realisierung. Sie umfasst außerdem das Selbstbewusstsein einer Gesellschaft und eines Staates. Sie definiert die Verhältnisse des Umgangs miteinander sowie die von Gerechtigkeit und Verantwortung. ({0}) Wenn der Staat die Kultur vernachlässigt, dann vergeht er sich an seiner eigenen Zukunft; denn er nimmt sich die kreative Kraft der Visionen, der Utopien. Ich zögere nicht, diese großen Begriffe hier einzuführen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Es geht mir nicht primär - jedenfalls nicht heute - um die Frage des Geldbetrages, den die öffentliche Hand für die Kultur aufbringt, auch wenn ich gleich zu Beginn meiner Amtszeit durchaus mit fiskalischen Dingen konfrontiert war. Es geht mir heute vielmehr um die Haltung gegenüber den Künsten, um die Wertschätzung dessen, was Künstlerinnen und Künstler zum Gemeinwohl beitragen. ({1}) Die Künste sind ein Spezialfall der Kultur, das Kraftfeld der Kreativität in einer Kultur. In der Begegnung mit den Künsten lernen wir, unsere Subjektivität, das heißt unsere innere Vielfalt, unsere geistige Unabhängigkeit auf der Basis der Gewissheit kultureller Identität, auszuprägen. Die Künste erschließen Grundlegendes, aber nicht Selbstverständliches. Sie trainieren die Wahrnehmungsfähigkeit, sie schulen die emotionale Intelligenz ebenso wie das Vermögen, über plurale Weltsichten nachzudenken. Künstler erkunden Grenzbereiche, sie zeigen Grenzen auf und überschreiten sie zugleich. Die Ergebnisse dieser Grundlagenforschung präsentieren sie als ein Angebot an die Sinne, ein Angebot, das im Übrigen bei jedem Wahrnehmungsakt neu und anders ergriffen werden kann. Kunst stellt immer wieder neue Beziehungen her zwischen Optionen der Wahrnehmung und Formen der Reaktion. Die Künste ermöglichen und erfordern auf diese Weise eine Art von Kommunikation, wie sie für unsere Gesellschaft einmalig ist. Diese Art von Kommunikation eröffnet uns neue Denkräume, neue Erfahrungsmöglichkeiten. Kunst ist das Labor für die Energien der Fantasie, des freien, sich selbst reflektierenden Denkens. Das Regelwerk des Miteinanders, meine Damen und Herren, gründet sich nicht zuletzt auf dieses Denken. Nun bin ich nicht nur die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur, sondern auch für Medien. Hier soll eine Anmerkung genügen: Die Medien nehmen innerhalb des eben skizzierten Kontextes eine Doppelstellung ein. Sie sind einerseits Teil der Kultur, auch in dem Sinne, dass sie wesentlich zur Ausbildung von Subjektivität beitragen, andererseits vermitteln sie Ausprägungen von Kultur. Damit ist eines der Spannungsfelder benannt, innerhalb dessen wir uns mit den Medien und damit natürlich mit uns selbst auseinander setzen müssen. Was folgt aus diesen Überlegungen für mein Amtsverständnis? Ich möchte es so beschreiben: Regelwerke, nicht nur juristische, sind auf Anwältinnen und Anwälte angewiesen, damit sie ausgelegt werden und in Kraft bleiben können. In diesem Sinne sehe ich mich als Anwältin für die Kultur. Zum Spektrum meiner „Anwaltspraxis“ gehört in erster Linie dreierlei: das Moderieren, das Repräsentieren - auch verstanden als Vertretung von Interessen und ebenso „Missionieren“, das heißt das Werben, verstanden als Vermitteln von Kunst und Kultur und dem, was sie uns als Möglichkeitssinn eröffnen. Dass mich bei der Verfolgung dieser Mission der Wirklichkeitssinn nicht verlässt und verlassen wird, dessen bin ich mir sicher, auch dank der Bindung meines Amtes an dieses Haus. Ich sprach von einem Regelwerk des Miteinanders. Beziehen möchte ich diese Leitideen auch ganz praktisch auf die Kooperation mit anderen Ressorts. Kulturpolitik muss ressortübergreifend gedacht werden - ich könnte auch sagen: grenzübergreifend. ({2}) Beziehen möchte ich die genannten Ideen vor allem auch auf die Arbeit mit Ihnen hier im Parlament, im Ausschuss für Kultur und Medien und in den anderen Ausschüssen des Deutschen Bundestages. Es geht mir um eine Kultur des miteinander Debattierens, aber auch des miteinander Entwickelns. Ich bin gespannt darauf, mich mit Ihnen auseinander zu setzen und - davon gehe ich einfach aus - zu verständigen. Verständigung suchen wir über Grundsätzliches, aber auch über sehr konkrete kultur- und medienpolitische Fragen. Lassen Sie uns aber in jedem Fall gemeinsam der Kultur, der geistigen Orientierung unserer Gesellschaft, etwas mehr Gewicht verleihen! Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Lammert von der CDU/CSU-Fraktion.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Beginn des rot-grünen Projekts ist die Kulturpolitik eine besonders auffällige, aber keine besonders starke Seite dieser Bundesregierung. ({0}) Dem ersten Beauftragten der Bundesregierung war das Amt nicht wichtig genug, um der Versuchung zu widerstehen, bei der erstbesten Gelegenheit in einen scheinbar noch interessanteren Spitzenjob in der Medienwirtschaft zu wechseln. ({1}) Sein Nachfolger war dem Bundeskanzler nicht wichtig genug, um in dem Bundesland, aus dem er selbst kommt, in Niedersachsen, eine Regelung mit der staatlichen Hochschule, von der jener beurlaubt war, zur Sicherung einer späteren Laufbahn als Hochschullehrer sicherzustellen. Nun Christina Weiss. Ich begrüße Sie herzlich, Frau Weiss. Ich wünsche Ihnen eine glückliche Hand, insbesondere aber die Hartnäckigkeit und das Durchsetzungsvermögen, die Sie in einer Koalition brauchen werden, die sich seit Jahren mit Ankündigungen sehr viel leichter tut als mit der tatsächlichen Stärkung des Stellenwerts von Kunst und Kultur. ({2}) Bei der sprichwörtlichen kulturpolitischen Feinfühligkeit des Bundesfinanzministers werden Sie genug Schwierigkeiten haben, den höchst bescheidenen Anteil Ihres Teilressorts am Bundeshaushalt aufrechtzuerhalten, der in der Zeit Ihrer Amtsvorgänger übrigens von überschaubaren 0,4 Prozent auf ganze 0,3 Prozent des Bundeshaushalts gesunken ist - bei gleichzeitiger Ankündigung eines dramatischen Anstiegs des Stellenwerts von Kunst und Kultur. Der Blick in die Koalitionsvereinbarung ist ebenso ernüchternd wie die heutige Regierungserklärung. Das gilt sowohl mit Blick auf die nationale Kulturpolitik als auch - vielleicht in noch stärkerem Maß - mit Blick auf die auswärtige Kulturpolitik. Heute Morgen haben wir dazu zwei, vielleicht drei Sätze gehört - einer so belanglos wie der andere. Gerhard Schröder hat hier heute Morgen vorgetragen, die Kulturpolitik sei für diese Bundesregierung nicht einfach eine angenehme Nebensache. ({3}) Nach dem, was er nicht vorgetragen hat, und nach dem, was auch in der Koalitionsvereinbarung dazu nicht zu finden ist, muss man befürchten: nicht einmal das. Wer in der Koalitionsvereinbarung unter dem Stichwort „Kunst und Kultur“ nachschaut, findet eine Ansammlung von deprimierend einfallslosen und lustlosen Formulierungen zu diesem Gegenstand. ({4}) Was in dieser Koalitionsvereinbarung neu ist, ist nicht richtig, und was richtig ist, ist nicht neu. Leider, Frau Weiss, haben wir auch von Ihnen außer einigen völlig unstreitigen Allgemeinplätzen über den Stellenwert von Kunst und Kultur heute nichts dazu gehört, was Sie denn an konkreten Vorhaben für diese Legislaturperiode in Ihr Amt übernehmen wollen. ({5}) Nun gibt es eine auf den ersten Blick aufregende, jedenfalls elektrisierende Vokabel, die man in den wenigen Sätzen zur Kunst- und Kulturförderung in der Koalitionsvereinbarung nur schwerlich übersehen kann, und das ist die Prüfung auf die künftige Kulturverträglichkeit der eigenen Politik, die Klausel zur Kulturverträglichkeit, mit deren Überwachung offenkundig die Beauftragte der Bundesregierung ausdrücklich ausgestattet werden soll. ({6}) Was von dieser Kulturverträglichkeitsklausel zu halten ist, haben wir mit einer nun wirklich erstaunlichen Geschwindigkeit in den wenigen Tagen zwischen dem Abschluss der Koalitionsvereinbarung und den ersten Ankündigungen des Bundesfinanzministers erlebt. Während es in der Vereinbarung der Koalition noch lautet - ich zitiere - „Wir werden auch in Zukunft die Vielfalt des Engagements von Bürgerinnen und Bürgern in Vereinen ... nach Kräften unterstützen“, hat der Finanzminister einen Tag nach dem Abschluss dieser Koalitionsvereinbarung erklärt, ({7}) was er sich unter einer tatkräftigen Unterstützung des Engagements von Bürgerinnen und Bürgern in Vereinen vorstellt: Er beabsichtigt die Streichung der Abzugsfähigkeit von Spenden von Unternehmen für gemeinnützige Organisationen und Verbände. Dies war ein Anschlag auf das bürgerschaftliche Engagement in unserem Land. ({8}) Die Umsetzung Ihres Vorhabens wäre die mutwillige Zerstörung der finanziellen Grundlagen ehrenamtlichen Engagements in Hunderttausenden von gemeinnützigen Vereinen, Verbänden und Organisationen gewesen. Ihr Plan war ein ganz unglaublicher steuerrechtlicher Salto mortale nach unserer gemeinsamen Kraftanstrengung zur Novellierung des Stiftungsrechts und nach der Ermutigung ehrenamtlichen Engagements durch eine famose, grandiose Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, die mindestens in dieser Zielsetzung völlig einig war. ({9}) Im Übrigen war es auch eine schwer verständliche haushaltspolitische Dummheit; denn die auf diesem Wege bestenfalls zu erreichenden zusätzlichen Steuereinnahmen stehen in überhaupt keinem Verhältnis zu den sicher entgangenen Einnahmen der Vereine und Verbände, die diese Mittel dringend benötigen. ({10}) Was es im Übrigen mit der Ermutigung bürgerschaftlichen Engagements zu tun haben soll, dass eigennützige Sponsorentätigkeiten steuerlich berücksichtigt werden können, gemeinnützige Aktivitäten dagegen nicht, das bliebe das große Geheimnis einer rot-grünen Koalition. ({11}) - Verehrter Herr Kollege Tauss, es würde uns etwas fehlen, wenn nicht auch diese Rede hauptsächlich durch Ihre Zwischenrufe bei gelegentlichen Interventionen des gemeldeten Redners gekennzeichnet würde. ({12}) Aber ich will mindestens zu Ihrer vorübergehenden Beruhigung gerne Folgendes einräumen: Ich gehe ausdrücklich davon aus, dass kein Kulturpolitiker sowohl der roten wie der grünen Fraktion an den Formulierungen der Koalitionsvereinbarung und schon gar nicht an den Absichten des Finanzministers beteiligt war. Das strahlende Lächeln des Kollegen Barthel bestätigt diese freundliche Vermutung. Dies entlastet in der Tat die Kulturpolitiker; aber es zeigt den tatsächlichen Stellenwert von Kultur und Medien in dieser rot-grünen Koalition. ({13}) Verehrte Frau Weiss, Sie treten ein Amt an, das mittlerweile, nach anfänglichem Streit, insbesondere zwischen Bund und Ländern, mehr als zwischen den Parteien, als Ausdruck der Verantwortung des Bundes für die Förderung von Kunst und Kultur - neben der Verantwortung der Länder und Kommunen - als allgemein anerkannt gelten kann. ({14}) Sie werden im Deutschen Bundestag auf einen Ausschuss für Kultur und Medien treffen, in dem das gemeinsame Bemühen um die Förderung von Kunst und Kultur noch ausgeprägter als die Wahrnehmung der jeweiligen Rolle von Regierung und Opposition ist. Das soll, soweit es an uns liegt, so bleiben. Sie werden eine breite Unterstützung im Übrigen dringend brauchen. Ich sage Ihnen heute für die CDU/ CSU-Fraktion gerne zu: Sie werden sie auch bekommen, jedenfalls dann - allerdings auch nur dann -, wenn es nicht nur um Allgemeinplätze, sondern auch um konkrete Maßnahmen, um die Förderung von Kunst und nicht um die Selbstinszenierung von Politik geht. Es muss sich allerdings vieles ändern, damit manches besser werden kann. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Monika Griefahn, SPD-Fraktion.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Frau Staatsministerin, herzlich willkommen! Lieber Herr Lammert, Sie haben die Kulturverträglichkeitsprüfung besonders erwähnt. Ich kann nur sagen: An diesem Begriff und an der Tatsache, dass Sie die Hälfte Ihrer Redezeit dazu benutzt haben, darzustellen, was hätte sein können, zeigt sich, dass unsere Kulturverträglichkeitsprüfung funktioniert. ({0}) Denn wir haben Einspruch erhoben. Ich kenne die gute Praxis der Umweltverträglichkeitsprüfung: Wenn die Umweltpolitiker gesagt haben: „So geht das aber nicht; das ist nicht verträglich“, und gegen eine Sache angegangen sind, um sie zu korrigieren, dann war das ein gutes Zeichen, dann war das Ausdruck der Bewältigung einer Querschnittsaufgabe, wie sie nun auch die Ministerin und wir, die Ausschussmitglieder, zu erfüllen haben. ({1}) - Wir können das Problem gemeinsam in bewährter Manier lösen. Die letzten vier Jahre haben gezeigt, Herr Dr. Lammert, wie erfolgreich Kulturpolitik des Bundes sein kann. Die Regierungskoalition hat 1998 einen mutigen und innovativen Schritt getan, indem sie das Amt des Staatsministers für Kultur und Medien eingerichtet hat. Die ersten beiden Amtsinhaber - Michael Naumann und Julian Nida-Rümelin - haben, jeder auf seine Art, gemeinsam mit uns, dem Parlament, in vier Jahren sehr viel geschafft und angestoßen. Wir haben nämlich fast die gesamte Koalitionsvereinbarung vom letzten Mal abgearbeitet - das wissen Sie auch -: das Stiftungsrecht, ein neues Gedenkstättenkonzept, viele Dinge wie zum Beispiel der Hauptstadtkulturvertrag, die Förderung der Buchpreisbindung usw. Ich meine, wir brauchen uns nicht sagen zu lassen, dass wir nichts gemacht hätten. ({2}) Die Kulturpolitik des Bundes hat Impulse gegeben und auch Debatten auf Länderebene und kommunaler Ebene belebt. Das ist ein wichtiger Punkt; denn dort war die Kultur sozusagen noch mehr weggebrochen. Sie hat ferner die Stärke Deutschlands sichtbar gemacht: kulturelle Vielfalt in vielen Orten, von der Oper bis zur Soziokultur, von München über die Lüneburger Heide bis nach Berlin. Um diese Vielfalt und diese vielen Orte beneiden uns andere Länder sehr. Deutschland ist noch immer - bei allen Sparmaßnahmen - eines der in diesem Bereich bestausgestatteten Länder. Dafür werden wir weiter und, wie ich meine, auch gemeinsam kämpfen. Das heißt, dass wir die Prozesse in den Kommunen besonders begleiten werden, natürlich auch in Berlin. Das wird eine unserer Aufgaben jetzt im Ausschuss sein. ({3}) Unser Ziel am Anfang dieser neuen Legislaturperiode ist es, die erfolgreiche Politik für Künstler und Kunst fortzusetzen sowie den Dialog der Kulturen nach innen und außen weiterzuführen. Kultur ist essenzieller Ausdruck der Gesellschaft, in der sie entsteht, in der sie wirkt und sich weiterentwickelt. Kultur ist, wie es im Koalitionsvertrag steht, „Voraussetzung einer offenen, gerechten und zukunftsfähigen Gesellschaft“. ({4}) Kulturpolitik ist damit auch Gesellschaftspolitik par excellence, und Kulturpolitik hat damit viel größere und tiefere Wirkungen, als ordnungspolitische Initiativen allein sie erzielen könnten. Deshalb ist Kulturpolitik untrennbar mit gesellschaftlichem, mit zivilem Engagement verbunden und ohne sie überhaupt nicht denkbar. Deshalb wollen wir sie weiter fördern. Deshalb ist die Steuerabzugsfähigkeit von Spenden ein wichtiger, zentraler Punkt genauso wie das Stiftungsrecht, zu dessen Zustandekommen wir gemeinsam beigetragen haben. Dialogfähigkeit der Kulturen nach innen und außen ist auch Grundlage von Demokratie. Dabei helfen gerade Künste: Musik, Literatur, Theater, Film und zunehmend neue Medien und die Vermengung der verschiedenen Ebenen in neuen Medien. ({5}) Deswegen werden wir besonders alle diese Verschränkungen unterstützen und darauf schauen, dass das in der Welt präsent ist. Wenn wir diese offene und gerechte Gesellschaft haben wollen, sind unsere internationalen Kulturbeziehungen und die auswärtige Kulturpolitik ein zentraler Bestandteil davon. Deshalb ist der viel zitierte Dialog der Kulturen ein Teil von Krisenprävention und wird immer wichtiger in den internationalen Beziehungen, auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Das sehen wir immer wieder; wir müssen auch immer wieder dafür kämpfen. So erleben wir es gerade in Afghanistan, wo unsere aktiven Bemühungen, zum Beispiel Mädchenschulen einzurichten oder Goethe-Institute wieder einzurichten, von vielen Seiten stark torpediert werden; denn dort gibt es Kräfte, die Mädchenschulen wieder schließen wollen. Es ist ein ganz wichtiger Punkt unserer Außen-, Bildungsund Kulturpolitik, dies voranzutreiben und damit auch Menschenrechte und die Fähigkeit, gleichberechtigt miteinander zu leben, zu vermitteln. ({6}) Aber es gibt nicht nur die Goethe-Institute und die deutschen Schulen, auf die ich noch komme, sondern auch die Deutsche Welle, die einen wichtigen Beitrag zur Demokratisierung, zum zivilgesellschaftlichen Wiederaufbau in Afghanistan leistet. Das betrifft zum Beispiel die Unterstützung beim Aufbau des Fernsehens mit Programmen in Dari und Paschtu. Auch das sind ganz praktische Möglichkeiten, den Dialog der Kulturen zu fördern, Demokratisierung und Menschenrechte voranzubringen. Auch das wird eine wichtige Aufgabe sein, für die wir uns aktiv einsetzen müssen, für die wir immer wieder werben müssen. Denn das sind die Dinge, die tatsächlich nachhaltig da wirken, wo wir als Deutsche vor Ort vertreten sind und Beziehungen zu den Menschen in anderen Ländern knüpfen. ({7}) Deshalb ist die Neuformulierung des Deutsche-Welle-Gesetzes ein wichtiger Punkt in dieser Legislaturperiode, um den Programmauftrag neu zu formulieren. Neben der Präsentation von Deutschland im Ausland stellen sich auch die Fragen des Kriseninterventionsradius, aber eben auch der Dialogstruktur, die ganz wichtig ist. Ganz nebenbei, Herr Koschyk hat sich immer sehr für die deutsche Sprache eingesetzt. Auch das ist ein wichtiger Punkt, der dabei mitvermittelt wird. Wichtig sind auch die deutschen Auslandsschulen. Sie sind Orte, an denen der Bezug zu Deutschland und seiner Kultur früh hergestellt wird. Hier entsteht Bindung an unser Land und die Schüler und Schülerinnen in den deutschen Schulen - ob sie nun aus Deutschland kommen oder aus dem jeweiligen Gastland - sind Botschafter für Deutschland. Sie sind Botschafter für die Werte und für die Normen, über die wir gerade hinsichtlich der Innenpolitik diskutiert haben: Menschenrechte, Demokratisierung und Gleichberechtigung. Dies alles sind Ziele, die wir versuchen zu erreichen. Dafür haben wir in diesem und im nächsten Jahr zusätzliche Gelder vorgesehen, die wir einsetzen wollen. Wir müssen mit den Ländern - auch dabei ist wieder die Kooperation der Länder notwendig - darüber diskutieren, wie wir vor Ort die Standards organisieren. Das ist natürlich ein wichtiger Punkt, damit nicht auf einmal die Länder die Anerkennung von Abschlüssen infrage stellen, ({8}) sondern damit wir weiterhin die Möglichkeit haben, auch bei größerem Anteil von örtlichen Schülern und ortsansässigen Kräften, die Abschlüsse zu gewährleisten. Die Wahrnehmung Deutschlands als Kultur- und Wirtschaftsnation - ganz klar beides - ist das Entscheidende und der Punkt, von dem aus wir agieren müssen. Dazu gehört zum Beispiel - auch das werden wir in dieser Legislaturperiode vorlegen - ein novelliertes Filmförderungsgesetz. Hier geht es darum, den europäischen Film und damit auch den deutschen Film als Kulturgut zu bewahren, ihn zu exportieren und als Teil von Europa zu präsentieren. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den wir auch mit der Buchpreisbindung deutlich gemacht haben. Literatur, Bücher und eben auch Filme sind nicht nur Wirtschafts-, sondern auch Kulturgüter. Das ist ein Punkt, den wir deutlich machen müssen. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kollegin Griefahn, Sie haben Ihre Redezeit überzogen. Kommen Sie bitte zum Ende.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja gut, ich komme zum Schluss. - Das heißt, wir haben eine Menge zu tun. ({0}) Wir haben schon viel gemacht. Aber wir existieren erst seit vier Jahren, Sie haben das vorher nicht gemacht. ({1}) Ich wünsche mir, dass Sie auch weiterhin im Ausschuss so aktiv und kooperativ mit uns zusammenarbeiten und mit der Ministerin all diese Dinge auf den Weg bringen. Ich wünsche uns eine wirklich konstruktive Zeit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Der Herr Kollege Otto ist schon da und hat das Wort.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. Liebe Frau Weiss, auch die Liberalen gratulieren Ihnen herzlich zur Übernahme des Amtes und bieten Ihnen unsere konstruktive Zusammenarbeit an. Der Kollege Funke aus Hamburg hat uns von Ihrem segensreichen Wirken in Hamburg erzählt. Wir hoffen, dass es Ihnen hier in Berlin genauso gelingen wird. Offen gesagt haben wir das Gefühl, dass Sie den Rückhalt und die Unterstützung des Parlaments als Parteilose, die über kein Parlamentsmandat verfügt, brauchen. Jedenfalls fällt es auf, dass von Ihren Wünschen, die Sie in Ihren Berufungsverhandlungen mit dem Bundeskanzler geäußert haben, kein einziger erfüllt worden ist. Insbesondere haben Sie keine Zuständigkeit für die GoetheInstitute und die auswärtige Kulturpolitik erhalten. Sie haben nicht die Zuständigkeit für den Denkmalschutz erhalten und zu meinem großen Bedauern auch keine einheitliche Zuständigkeit für die Medienpolitik bekommen. Viel schlimmer noch, die aktuellen Koalitionsbeschlüsse im Koalitionsvertrag fördern nicht die Kultur, sondern sie schwächen sie. Da gab es den, wie Sie, Frau Weiss, sagten, unglücklichen Plan, die Spendenabzugsmöglichkeiten nach § 9 Körperschaftsteuergesetz zu streichen. ({0}) Der Plan ist jetzt erst einmal zurückgestellt. Warten wir den 2. Februar 2003 ab. Aber ich frage mich: Welcher Geist steckt hinter einer solchen Überlegung? Es ist jedenfalls kein Beitrag zu einer Zivilgesellschaft, wenn Spenden an gemeinnützige Organisationen bestraft werden, während - Kollege Lammert hat schon darauf hingewiesen - die eigennützigen Sponsoringbeiträge weiterhin steuerlich abgesetzt werden können. ({1}) Glaubt denn irgendjemand, dass man Spender und Mäzene mit solch abenteuerlichen Plänen motivieren kann, mehr als bisher für Kunst und Kultur zu leisten? Was wir brauchen, sind bessere steuerliche Rahmenbedingungen, nicht schlechtere und schon gar keine Verunsicherung der potenziellen Spender. Ich möchte mich aber hauptsächlich einem anderen Thema zuwenden. Ich empfinde es geradezu als Katastrophe für Kunst und Kultur, insbesondere für den Kunsthandel, dass es einen weiteren Plan unseres Pinocchio Eichel gibt, der nicht zurückgezogen, sondern beschlossen worden ist. Auf Seite 71 des Koalitionsvertrages findet sich folgender salbungsvolle Satz: Der Mehrwertsteuersatz im Kulturbereich muss erhalten bleiben. Die linke Hand, die Kulturhand, weiß offensichtlich nicht, was die rechte Hand, die Steuerhand, tut; denn auf Seite 19 desselben Papiers steht scheinheilig Folgendes: Wir werden den Abbau ungerechtfertigter ... Steuervergünstigungen konsequent fortführen. Was bedeutet das, meine Damen und Herren? Inzwischen wissen wir es. Der ermäßigte Umsatzsteuersatz für Kunst- und Sammlungsgegenstände soll von bisher 7 Prozent auf 16 Prozent angehoben werden. ({2}) - Ja, vorbehaltlich der Kulturverträglichkeit. - Meine Damen und Herren, das ist die Logik des Koalitionsvertrages. Ich möchte einmal sehen, was dabei herauskommt. Das eine, Frau Kollegin Griefahn, konnten Sie herausschießen, das andere offensichtlich noch nicht. Dem Kunsthandel wird an der einen Stelle versprochen, dass der ermäßigte Steuersatz erhalten bleibt - daraufhin sind die meisten der Händler beruhigt -, und einige Seiten vorher wird in demselben Papier das Gegenteil festgelegt. ({3}) Das Finanzministerium, unser Freund Eichel, beziffert die Steuermehreinnahmen aus der genannten Mehrwertsteuererhöhung bis zum Jahre 2006 locker auf 200 Millionen Euro. Mehr, meine Damen und Herren, können Sie dem Kunsthandel und den Künstlern in Deutschland wirklich nicht schaden. Frau Weiss, Sie sagten, entscheidend sei die Haltung und Wertschätzung gegenüber Künstlern. Ich frage mich in der Tat, welche Haltung und Wertschätzung gegenüber Künstlern dadurch zum Ausdruck kommt. ({4}) Frau Weiss, die liberale Opposition möchte Sie gern unterstützen. Wenn Sie gegen diese kultur- und kunstfeindlichen Pläne vorgehen, dann werden Sie uns an Ihrer Seite finden. Gestatten Sie mir abschließend noch eine kurze Anregung. Frau Weiss, Sie tragen den Titel einer Staatsministerin für Kultur und Medien. Ihr Hauptinteresse liegt angesichts Ihrer bisherigen Tätigkeit sicherlich im Bereich der Kultur. Bedenken Sie aber bitte, dass der weit größere Reformbedarf in der Medienpolitik liegt. Wir brauchen dringend eine umfassende Reform der Medien- und Kommunikationsordnung. Das bisherige Regelungs- und Zuständigkeitsdickicht ist antiquiert und muss geliftet werden. ({5}) Nehmen Sie sich auch dieses überfälligen Reformprojekts an. Auf eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen! Wir freuen uns darauf. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Günter Nooke von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort. Jörg Tauss [SPD]: Das ist der neue Kulturmi- nister!)

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst, Frau Staatsministerin, auch von mir als Sprecher für Kultur und Medien herzlichen Glückwunsch zum Amtsantritt. Sie treten ein Amt an, das mit einer großen Hypothek belastet ist. Die Erwartungen der einschlägigen Szene sind umso größer. Leider wurde das Amt von den bisherigen Inhabern ein bisschen als Durchlauferhitzer verstanden oder - besser gesagt - missverstanden. Das hat dem Amt nicht gutgetan. Ich kann nur hoffen, dass Sie das besser machen und die Kultur im Rahmen Ihrer Amtsausführung mit größerer Verlässlichkeit fördern. Das Wichtigste ist doch, dass wir hier für dieses Land arbeiten und dass das, im Gegensatz zu Ihren Vorgängern, als ehrenvolle Aufgabe angesehen wird. Bei Herrn Naumann und Herrn Nida-Rümelin kritisiere ich nicht den Mangel an Engagement, aber was Ihren Vorgängern doch nachgesagt werden muss, ist etwas, was auch mit Kultur zu tun hat, nämlich ein Mangel an Patriotismus, ({0}) für den man sich gerade als für Kultur Verantwortlicher in Deutschland wohl nicht schämen sollte. Das Angebot der konstruktiven Mitarbeit vonseiten der Opposition will auch ich Ihnen hier machen. Ich tue das umso lieber, wenn Sie sich die Anträge und Vorschläge der Union zu Eigen machen, in denen wir uns bemühen werden, die überzeugenderen Lösungen anzubieten, wie wir das schon in den vergangenen vier Jahren gemacht haben. Unter den vielen nicht ganz zu Ende gedachten, wenig überzeugenden und von vornherein korrekturbedürftigen Papieren zur Kulturpolitik der Koalitionsfraktionen, mit denen Sie sich in den vergangenen Jahren auch im Ausschuss für Kultur und Medien beschäftigten, gehört der Koalitionsvertrag nun wirklich zu den schwächsten Texten. Mein Eindruck, dass diese Worte zur Kultur eine Sammlung von Selbstverständlichkeiten, Wünschen und kostenlosen Versprechungen an die Klientel sind, wurde durch das, was Sie hier gesagt haben und was der Bundeskanzler heute Vormittag gesagt hat, leider bestätigt. Das wäre nach den vielen Enttäuschungen dieser Art mit einem eben noch vertretbaren Maß an Gleichmut hinnehmbar. Wenn sich aber schon knapp 24 Stunden nach der Unterzeichnung herausstellt, dass Ihre Ministerkollegen - vor allem der Finanzminister - den Text ohnehin nur als unverbindliche Empfehlung ansehen und sich ihn eben nicht zu Eigen machen, dann muss schon die Ernsthaftigkeit der Aussagen, die Sie hier treffen und die Sie zu Papier gebracht haben, infrage gestellt werden. Hans-Joachim Otto ({1}) Ich will einmal eine Aussage, die den Mehrwertsteuersatz im Kulturbereich betrifft, zitieren: Der Mehrwertsteuersatz ... muss erhalten bleiben. Was heißt denn das? An wen richtet sich eigentlich das Wort „muss“? Diese Forderung klingt wie eine Selbstverpflichtung. Dass sie aber wie ein frommer Wunsch behandelt wird, dürften die Kulturpolitiker leidvoll bemerkt haben, und zwar schneller, als sie es selbst wahrhaben wollten. Über die Spendenabzugsfähigkeit haben wir gerade gesprochen. Die Erfindung der Kulturverträglichkeitsklausel ist übrigens auch nur solch ein kostenloses Versprechen, und dazu noch eines, das die Kulturszene selber einlösen muss. Nicht einmal die Prüfung wird bezahlt; Sie lassen sie durch den Protest der Öffentlichkeit auch noch die Öffentlichkeit und die Klientel selber machen. ({2}) Schöner hätte der operative Nutzen dieser Klausel kaum demonstriert werden können. Weder das Papier noch der bisherige Umgang der Koalitionäre damit geben ein Zeichen an die Kultur, das sie vielleicht am nötigsten braucht, nämlich ein Zeichen der Verlässlichkeit. Wenn es der Politik schon nicht möglich ist, „Probleme mit Geld zuzukleistern“, wie Sie gesagt haben, dann sollten Sie vor allem eines vermeiden, nämlich neue Probleme durch Unzuverlässigkeit zu verursachen. Kultur braucht vor allem Verlässlichkeit. Im Koalitionsvertrag wird festgestellt, dass Kultur immer wichtiger werde. Das ist schön gesagt und leicht geschrieben, und man hat den Eindruck, dass hinter der Formulierung der naive Glaube steckt, dass sich bei so großer Wichtigkeit bei allen die Einsicht einstellt, an der finanziellen Ausstattung nicht mehr weiter zu kürzen. Aber auch dazu gibt es kein Wort von Ihnen. Sie haben nicht einmal die Themen aufgezählt - Frau Griefahn hat das immerhin getan -, geschweige denn gesagt, wie viel Sie wo tun wollen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen aber weiter und in wachsendem Maße auseinander; denn es stehen auch im Haushalt 2003 weniger Mittel für Kultur zur Verfügung, und das bei nun angekündigtem größeren Engagement, zum Beispiel bei den Stätten des Weltkulturerbes und in Berlin. Über das Engagement des Bundes in der Hauptstadt heißt es, es werde erhalten und ausgebaut. So mutig das Reden vom Ausbau auch erscheinen mag: Wir hätten es - das ist hier schon mehrfach gesagt worden - gern etwas genauer gewusst. Zum anderen übersieht die Formulierung, dass es in erster Linie an der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Bund und Land mangelt; denn der Hauptstadtkulturvertrag genügt aus einer ganzen Reihe von Gründen nicht den Ansprüchen, die Berlin - als Bundeshauptstadt wie als Land - und der Bund zu Recht stellen. Wir werden im kommenden Jahr über die Neufassung dieses Hauptstadtkulturvertrages reden müssen. Weitere Beunruhigung entsteht auch, wenn der Koalitionsvertrag vorsieht, dass sich der Bund aus der kulturellen Filmförderung verabschieden will, indem er die Kompetenzen an die Filmförderungsanstalt abgibt. Das ist eine Idee, wie sie unnötiger und unsinniger kaum sein könnte. Sie gehört in die Kategorie „Probleme, die die Welt nicht braucht“, könnte man sagen. Besonders bizarr wirkt es, dass die bedachte Filmförderungsanstalt das Geschenk überhaupt nicht haben will. All die anderen Dinge will ich gar nicht aufzählen. Der schwache Punkt dieser Koalitionsvereinbarung - das will ich hier nur noch einmal zusammenfassend sagen - ist: Es fehlt an belastbaren, konkreten Aussagen zur Kulturförderung für die nächsten Jahre. Einen anderen Punkt möchte ich auch noch ansprechen. Sie haben hier fernab der Wirklichkeit auch philosophische Dinge besprochen und uns gebeten, die Anbindung an die Realität zu organisieren. Doch Kultur - da sind wir uns einig - hat nicht nur mit Geld zu tun. Insofern will ich diesen Faden gerne aufnehmen. Es ist nämlich auch über eine Aufgabe zu reden, die im Koalitionsvertrag nicht erwähnt wird, die aber uns als Kultur- und Medienpolitiker beschäftigen muss und künftig auch stärker beschäftigen wird. Die Medien - die alten wie die neuen - sind nicht nur ein wachsender Wirtschaftsfaktor. Vielmehr haben sie auch einen großen Anteil an der kulturellen Entwicklung und an der gesellschaftlichen und auch nationalen Identität. Ob bewusst oder unbewusst, beabsichtigt oder unbeabsichtigt tragen sie dazu bei, das zu erzeugen, was jeder Einzelne als sein Bild von der Welt bezeichnet. Presse und elektronische Medien vermitteln das, was die Gesellschaft als Realität annimmt. Mit diesem Phänomen haben wir uns viel stärker als bisher auseinander zu setzen. Denn die Wirklichkeit wird über Medien wahrgenommen, ohne dass diese uns Instrumente überlassen, mit denen ein Wahrheitsgehalt festgestellt werden könnte. Wir können also nur annehmen, dass das, was uns vermittelt wird, die Realität ist. Sicherer können wir nur werden, wenn wir Kompetenz haben, wenn wir gelernt haben, mit Fiktion und Realität gleichermaßen kritisch umzugehen. Mir geht es in diesem Zusammenhang deshalb um zweierlei: Erstens muss auch die Kultur- und Medienpolitik deutlicher als bisher die Bedeutung der Medienkompetenz in den Vordergrund stellen und zum selbstverständlichen Bestandteil der kulturellen Bildung machen. Zweitens müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, was es für unser Bewusstsein bedeutet, dass Fiktion zur Realität wird, wie zum Beispiel beim Terroranschlag auf das World Trade Center geschehen, das als Science-Fiction vorformuliert existierte. Dabei geht es nicht nur um das Bewusstsein des Einzelnen, sondern auch darum, das Bewusstsein einer Nation zu bilden, wie der Film „Baader“ von Christopher Roth im Sommer dieses Jahres exemplarisch gezeigt hat. Fiktion und Wirklichkeit, Imitation und Tatsachen werden hier in einer unschlüssigen Halbdistanz ununterscheidbar. Je besser die Erfindungen in das linke Klischee passen, desto leichter ist Glaubwürdigkeit herzustellen. Das Tragen eines T-Shirts mit RAF-Symbolen ist nicht länger politisch, Herr Umweltminister. Es ist nur noch in oder out. Politik wird zum Zitat, Klassenkampf zum Kult: „Prada Meinhof“. Ich glaube, auch darüber lohnt es sich zu sprechen. Die RAF war davon überzeugt, Geschichte machen zu können, ein Geschäft, das die Medien mittlerweile souverän und gut beherrschen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Nooke, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. - Der Weg von den wirklichen Ereignissen zur historischen Kolportage ist kürzer geworden. Bei der Kolportage geht es nicht mehr um historisch-kritische Reflexion oder gar um die politische Wahrheit. Die jüngste Zeitgeschichte wird aus dem historischen Kontext gelöst. In diesem Zusammenhang wird es besonders wichtig sein, darüber zu diskutieren, wie wir im Rahmen der Erinnerungs- und Gedenkstättenkultur mit der Interpretation der NS- und der SED-Diktatur umgehen. Ich würde mir wünschen, dass sich der Bund engagiert, wenn es zum Beispiel am 9. November darum geht, hier in Berlin den Weg zu einer Mauergedenkstätte einzuschlagen und diesen Tag als einen zu entdecken, der nicht nur das Land Berlin, sondern auch uns auf Bundesebene betrifft.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Ende kommen.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl, Herr Präsident, ich komme zum Schluss und sage: Es wäre gut, wenn wir uns gemeinsam darüber verständigten, dass es in der Kulturpolitik richtig ist zu sagen - dieser Satz hat ja im Vorfeld dieser Debatte eine gewisse Rolle gespielt -: Es ist Zeit für Taten und nicht nur für schöne Worte. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Weitere Wortmeldungen zu diesen Themenbereichen liegen nicht vor. Wir kommen damit zum Themenbereich Umwelt. Das Wort hat Bundesminister Jürgen Trittin.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir zum Auftakt der 15. Wahlperiode über die Umweltpolitik in den nächsten vier Jahren sprechen, dann wird Ihnen einiges bekannt vorkommen. ({0}) Selbstverständlich wollen wir den Weg, den wir beispielsweise mit dem Ausstieg aus der Atomenergie eingeschlagen haben, fortsetzen. ({1}) Wir werden in diesen vier Jahren das Ende der Transporte in die Wiederaufarbeitung organisieren. Die Kraftwerke in Stade und Obrigheim werden vom Netz gehen. Dies alles dürfte uns weiter in unseren Debatten begleiten. Wenn Sie den Koalitionsvertrag und das dort festgelegte Programm anschauen, dann werden Sie etwas Neues finden. In Kap. V der Koalitionsvereinbarung finden Sie im Hinblick auf die Umwelt-, Verkehrs- und Energiepolitik erstmalig im Kern zusammengefasst, was wir unter einer nachhaltigen Politik verstehen: Wir wollen Umweltpolitik nicht auf technischen Umweltschutz beschränken, sondern ganz bewusst auch die Aspekte der Verkehrsund Energiepolitik einordnen. ({2}) - Ja, es ist die Agrarpolitik. Nein, Entschuldigung, Uli, ich nehme es zurück.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Der junge Kollege ist noch etwas heftig.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Er ist aber nicht der Erste, dem das passiert ist. Meine Damen und Herren, ich möchte zu drei Dingen etwas sagen. Erstmalig sind wir im Bereich der ökologischen Finanzreform nicht nur darangegangen, stärker für Gerechtigkeit beim Abbau von Subventionen zu sorgen, sondern wir haben darüber hinaus auch ökologische Signale gesetzt. Ist es wirklich sinnvoll, dass beispielsweise bei der Besteuerung mit Umsatzsteuer das Fliegen besser gestellt wird als der Erwerb von Nahrungsmitteln? Während für den Erwerb von Nahrungsmitteln nur der halbe Mehrwertsteuersatz galt, musste beim Fliegen bisher gar keine Mehrwertsteuer gezahlt werden. Dies war insbesondere im Vergleich zu einem anderen Verkehrsträger, nämlich der Bahn, unvernünftig, weil das ökologisch vorteilhafte Verkehrsmittel höher besteuert wurde als das ökologisch unzweifelhaft nachteiligere. Das korrigieren wir mit unserem Ansatz. ({0}) Ich frage die Kommunalpolitiker, ob es in Zeiten knapper Kassen wirklich sinnvoll gewesen ist, diejenigen, die Wohneigentum aus dem Bestand erworben haben - das ist verkehrs-, kommunal- und auch steuerpolitisch vernünftig gewesen -, für dieses vernünftige Verhalten zu bestrafen, indem sie nur die halbe Eigenheimzulage erhielten, während diejenigen, die auf der grünen Wiese neu gebaut haben, die volle Eigenheimzulage bekamen. Auch hier haben wir in der Koalitionsvereinbarung gezeigt, wie man auch in der Steuerpolitik umweltpolitisch umsteuern kann. ({1}) Ich will ein drittes Beispiel nennen. Wir wollen das fortsetzen, was wir mit dem Erneuerbare-EnergienGesetz auf den Weg gebracht haben. Wir wollen für die Offshore-Windanlagen in den nächsten Jahren ein großes Ausbauprogramm auflegen und den Weg zur ökologischen Modernisierung der Energiepolitik fortsetzen. Wir wollen das aber nicht nur in Deutschland machen - deswegen haben wir das Marktanreizprogramm für die erneuerbaren Energien vor die Klammern gezogen -, sondern wir wollen das auch international unterstützen. Das ist der Grund, warum wir uns dazu verpflichtet haben, nicht nur eine große Konferenz zu erneuerbaren Energien in den nächsten Jahren durchzuführen, sondern auch eine halbe Milliarde Euro allein dafür in die Hand zu nehmen, dass erneuerbare Energien in den Entwicklungsländern eine Zukunftschance erhalten. So packen wir drei Dinge zusammen: Armutsbekämpfung, Klimaschutz und ein Stück Standortpolitik für eine wachsende Branche in Deutschland. ({2}) Eine letzte Bemerkung: Ich wünsche mir für die nächste Klimakonferenz vom gesamten Haus die Unterstützung, die wir beim Kioto-Protokoll erfahren haben. Wir stehen am Vorabend der Konferenz in Neu-Delhi vor der Situation, dass wir darüber neu verhandeln müssen, wie es weitergehen wird, wenn die erste Verpflichtungsperiode 2012 endet. Schon jetzt beginnen die Ansagen für die Zeit danach. Wir haben mit der Koalitionsvereinbarung ein international klares Signal gesetzt: Deutschland will weiter seiner Rolle als Vorreiter beim Klimaschutz gerecht werden. Wir sind bereit, wenn andere diesen Weg mitgehen - Vorreiter heißt nämlich nicht Stellvertreter -, bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Das heißt, wir werden das, was wir bisher erbracht haben, faktisch noch einmal verdoppeln. Unser Angebot zur Klimaschutzpolitik ist: Wir wollen international gemeinsam mit den Europäern, mit den Industrieländern und - ich füge hinzu - auch mit bestimmten Schwellenländern ein entsprechendes Signal setzen. Ich würde mich freuen, wenn wir dieses Haus jenseits allen Streites, den wir immer wieder in dieser Frage haben werden, lieber Kollege Lippold, auf dem Weg des Klimaschutzes und der gemeinsamen Zielsetzung für die Bundesrepublik Deutschland auch weiterhin so gemeinsam vertreten können, wie wir das zum Beispiel beim Kioto-Protokoll gemacht haben. Ich glaube, an dieser Stelle können wir auf das, was wir gemeinsam erreicht haben, stolz sein. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSUFraktion, das Wort. ({0})

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es hätte euch etwas gefehlt, oder? Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesminister, Sie haben Kioto zu Recht angesprochen. Ich komme gleich im Detail darauf zu sprechen, aber einleitend muss etwas gesagt werden: Ich kann Ihnen nicht ankreiden, dass Sie hier wenig gesagt haben, weil Ihre Redezeit hier offensichtlich begrenzt war. Es wäre unfair, dies zu tun. ({0}) Wir werden eine Reihe von anderen Positionen später miteinander ausmachen müssen. Ihr Bundeskanzler hatte heute eigentlich hinreichend Zeit, ({1}) etwas zur Umwelt zu sagen. Aber außer einer beiläufigen - ich würde fast sagen: abfälligen - Bemerkung zum Umweltschutz hat er überhaupt nichts dazu gesagt. ({2}) Diese Thema ist von ihm systematisch nicht beachtet worden, was dafür spricht, Herr Bundesminister, dass Sie bei diesem Bundeskanzler nicht die Unterstützung haben, die Sie brauchen, um international wirklich durchstoßen zu können. Darauf kommt es aber letztendlich an. ({3}) Sie können sicher sein, Herr Minister, dass wir Ihnen für das, was auf der Konferenz in Delhi anzustreben ist, genauso Rückendeckung zusagen, wie wir dies seinerzeit für Kioto gemacht haben, weil wir konstruktive Kritik und keine negative Kritik üben. Der Sachverhalt ist aber der, dass man sich hier mit der Klimaschutzpolitik der Bundesregierung auseinandersetzen muss. Wie sieht diese aus? Sachverhalt ist doch - ich komme auf Versäumnisse in Ihrer Koalitionsvereinbarung später noch detailliert zu sprechen -, dass Sie bei den vergangenen Konferenzen immer mit dem Minderungsziel von minus 25 Prozent bis 2005 durch die Gegend gezogen sind, welches wir aufgestellt haben, dass Sie gleichzeitig mit der Minderungsrate, die wir bei Kohlendioxidemissionen für Sie erreicht hatten, überall Eindruck geschunden haben und jetzt unter Ihrer Regentschaft, wo Ihre Politik zu wirken anfängt, die Kohlendioxidemissionen steigen, Herr Minister. ({4}) Dies müsste Sie eigentlich nachdenklich machen, aber nicht nur nachdenklich, sondern dies müsste Sie auch wesentlich selbstkritischer machen. Wenn Ihre Politik wirklich so erfolgreich wäre, wie Sie tun und Sie dies in Nebensätzen immer wieder sagen, würden die Kohlendioxidemissionen doch nicht wieder steigen. Ich könnte dies ja noch verstehen, wenn wir eine boomende Wirtschaft hätten, die aus allen Nähten kracht, weil die Produktion läuft, die Leute sich des Lebens freuen, das Leben genießen und dabei die Emissionen steigen. Sie aber sind doch gar nicht in der Lage, die Wirtschaft boomen zu lassen. Die katastrophale Lage der Wirtschaft und am Arbeitsmarkt, die Abnahme von Beschäftigung und die Zunahme von Arbeitslosigkeit sind doch alles Faktoren, die eigentlich dazu beitragen, dass die Emissionen sinken und nicht steigen. Trotz dieses Trends schaffen Sie es nicht, die Emissionen weiter sinken zu lassen, das, was wir auf den Weg gebracht haben, deutlich weiter nach vorn zu schieben. Deshalb verstehe ich auch, Herr Trittin, dass sich eine explizite Formulierung des 25-Prozent-Ziels, das Sie bis zum Jahre 2005 erreichen wollen, nicht in Ihrer Koalitionsvereinbarung findet. Dies haben Sie ganz schamhaft unter den Tisch fallen lassen. ({5}) Da hilft auch nicht das Ablenkungsmanöver, dass Sie in fernen 20 Jahren um 40 Prozent reduziert haben wollen. In 20 Jahren, Herr Minister, sind die Dinge alle gegessen. ({6}) Den vernünftigen Einstieg brauchen wir jetzt. Mit Blick auf Delhi muss man aber sagen, dass das, was wir bis zum Jahre 2005 erreichen wollen, die Basis ist. Wenn ich den ersten Teil des Gebäudes nicht ordentlich baue, brauche ich mir über die erste Etage keine Gedanken mehr zu machen. Das Fundament und das Erdgeschoss müssen richtig gebaut sein. Dies verpassen Sie im Moment aber. Sie schlampen in der Grundfrage der Reduktion der Kohlendioxidemissionen. Auch bei den anderen Klimagasen haben Sie nicht zugelegt. Dies heißt also: Fehlanzeige auf der ganzen Linie. Dies finde ich bedauerlich, denn wer draußen wirken will - und das wollen Sie in Delhi -, der muss zu Hause Erfolge vorzeigen, wie Sie früher immer richtig gesagt haben. Dies können Sie aber vor dem Hintergrund, wie ich ihn gerade skizziert habe, nicht. ({7}) Ich sage ganz offen, Herr Minister, dass es vor diesem Hintergrund schwer ist, andere zu überzeugen. Es ist notwendig, dass in Delhi jetzt weitere möglichst konkrete Vorentscheidungen fallen, wie es über das Jahr 2012 hinaus weitergehen soll. Es wäre ausgesprochen wichtig, dass wir in dieser Richtung jetzt klar von Ihnen hören, wo in Zukunft die Minderung liegen soll, wie Sie sich insbesondere die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern und den Schwellenländern vorstellen. Wir müssen den Entwicklungsländern einen Zuwachs an Energieverbrauch gönnen; ich glaube, das ist unstrittig. Bei dem Verbrauch, den wir haben, können wir andere nicht von der Verbesserung ihres Lebensstandards abhalten. Auf der anderen Seite ist unbestreitbar notwendig - ich bitte Sie, sich dafür einzusetzen -, dass wir die Schwellenländer in Delhi mit ins Boot bekommen; denn ohne die Schwellenländer werden wir das Klimaproblem, das ich für das gravierendste Umweltproblem überhaupt halte, nicht lösen können. Da ist jetzt Ihr Geschick gefragt. Ich habe manchmal das Gefühl, dass Sie jenseits der Kernenergiediskussion zu Hause nicht den nötigen Nachdruck auf internationale Verhandlungen legen und dieses Thema nicht entsprechend vertreten. Deshalb appelliere ich an Sie, Ihre Strategie und Ihre Vorgehensweise zu ändern. Genauso erwarte ich von Ihnen, dass Sie in Zukunft im europäischen Umweltschutz mehr Engagement zeigen, statt bei den gelegentlichen Umweltschutzvorstößen aus Europa bundesrepublikanisch noch draufzulegen und unsere Wettbewerbsfähigkeit zu verschlechtern. ({8}) Eine der Grundlinien, die wir vertreten, ist, den Umweltschutz mit einer vernünftigen Wirtschaftspolitik und einer Politik, die arbeitsmarkt- und arbeitsplatzorientiert ist, zu verbinden. ({9}) Herr Trittin, was Sie gerade in Sachen Eigenheimzulage gesagt haben, ist in dieser Frage völlig kontraproduktiv. Ich sage es einmal so: Auch Ihre Baupolitiker schwelgen ja immer in der Vorstellung, dass man jungen Familien mehr Wohnraum zu vernünftigen Preisen usw. anbieten muss. Aber jetzt an der Eigenheimzulage so herumzubasteln, wie Sie es tun, ist falsch, vor allem wegen der negativen Folgen. Unsere Vorstellungen im Klimaschutzbereich waren ganz klar. Ich bedaure, dass wir sie jetzt nicht umsetzen können. Der Punkt ist, dass im Altbaubestand, wo in Bezug auf die Klimapolitik das erheblichste Potenzial für die Reduktion von Kohlendioxidemissionen liegt, mit steuerlichen Anreizen gearbeitet werden muss. Wir haben da ganz klare Vorstellungen entwickelt. Ich habe diese Passage mit den steuerlichen Zuschüssen oder steuerlichen Anreizen jetzt bei Ihnen wiederentdeckt, Herr Trittin. Ich sage Ihnen zu: Wenn Sie zu dem Thema steuerliche Anreize dynamisch etwas wirklich Profundes mit entsprechender Stoßkraft vorlegen, werden wir Sie unterstützen. Das ist gar keine Frage; denn das wäre produktiv in dem Sinne, dass mit einer Maßnahme sowohl Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werden könnten und gleichzeitig etwas für den Umweltschutz getan würde. Das ist eine Politik, wie ich sie mir vorstelle. ({10}) Aber das haben Sie nur schwach angedeutet. ({11}) Dr. Klaus W. Lippold ({12}) Dr. Klaus W. Lippold ({13}) Diese Positionen müssten bei Ihnen besser dargestellt sein, sonst ergeht es Ihnen in dieser Frage so wie bei den nationalen Nachhaltigkeitsstrategien. Die entsprechenden Zielsetzungen haben Sie schon in die letzte Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben, aber nichts ist passiert. Sie wollten - auch das steht in der Koalitionsvereinbarung von 1998 - ein Umweltgesetzbuch, aber nichts ist passiert. ({14}) Sie wollten die Novelle der Sommersmogverordnung, Sie wollten die Novelle der Verpackungsverordnung, aber nichts ist passiert. Alles steht de facto wieder in der Vereinbarung; manches haben Sie zwischenzeitlich auch wieder vergessen. ({15}) Das ist ein Punkt, den wir Ihnen nicht durchgehen lassen: dass Sie von Mal zu Mal die gleichen Positionen bringen, die Sie schon in grauer Vorzeit realisieren wollten, und die Eiszeittiger, die Sie ausgraben, als völlig neue, lebende Objekte verkaufen wollen. So geht das nicht. Da muss wirklich etwas Neues kommen. ({16}) Wir werden uns, Herr Trittin, wie ich das sehe, in Zukunft auch kritisch über die Instrumente auseinander setzen. Wir meinen, dass wir marktwirtschaftliche Power nutzen müssen, um den Umweltschutz voranzubringen, national wie international. Die Selbstverpflichtung, die Sie langsam anfingen mitzutragen, findet sich in der neuen Koalitionsvereinbarung jetzt nur noch sehr oberflächlich. Sie haben die Verhandlungen in Brüssel über die handelbaren CO2-Emissionen mit solcher Nachlässigkeit geführt, dass das Instrument der Selbstverpflichtung gefährdet ist. Das ist falsch, Herr Minister, so können wir das nicht angehen. ({17}) So können wir nichts umsetzen. Dann haben Sie die salvatorische Klausel aufgenommen, dass die EU das Ganze so abschließen soll, dass Selbstverpflichtung möglich bleiben könnte - Konjunktiv! -, nicht möglich bleiben muss. Diese Positionen lassen wir Ihnen so nicht durchgehen, Herr Minister, denn sie sind in Brüssel nicht mit dem Nachdruck verhandelt worden, wie sie hätten verhandelt werden müssen. Hier komme ich wieder auf die Querbeziehung zurück. Wenn ein Emissions Trading eingeführt wird, das die Arbeitsplätze in großen Teilen der Chemie und anderer Industrie nachhaltig gefährdet, dann werden wir Ihnen die Verantwortung dafür nicht abnehmen, sondern ganz klar sagen: Die Arbeitsplatzvernichter sitzen auf der Regierungsbank und auf der linken Seite des Parlaments. ({18}) Die Nachlässigkeit, mit der Sie diese Dinge gestrickt haben, werden Sie noch aufzuarbeiten haben. Andere Länder wie die Niederlande oder England haben hier ganz anders vorgebaut, als Sie das getan haben. Ich meine, das muss deutlich angesprochen werden. Das geht nicht anders. Hier gibt es noch Punkte, über die diskutiert werden muss. Sie haben über die Energiewende gesprochen. Ich sage dazu nur so viel, da Kollege Paziorek noch näher auf die Frage der regenerativen Energien eingehen wird: Wir brauchen regenerative Energien. Sie unterstellen uns immer zu Unrecht, dass wir diese nicht wollten. Wir brauchen aber wettbewerbsfähige regenerative Energien und nicht regenerative Energien um jeden Preis. Wir brauchen angepasste regenerative Energien und nicht Windkraftwerke an Standorten, an denen die Windgeschwindigkeit 0,1 Meter pro Sekunde beträgt und dadurch die Subventionsdauer verlängert wird. Das kann es doch wohl nicht sein. In dieser Frage werden wir uns auseinander setzen müssen. ({19}) Wenn Sie das Ganze so angehen wollen, dann zitiere ich Altminister Müller, den ehemaligen Wirtschaftsminister, den schon jetzt keiner mehr kennt. Ich habe ihm damals gesagt, Schröder würde ihn nicht wieder berufen. Das ist auch so gekommen und ich verstehe auch, warum. Aber ob derjenige, der neu gekommen ist, besser ist, darüber werden wir noch nachdenken müssen. Er ist nämlich aus Nordrhein-Westfalen weggegangen, bevor man erkennen konnte, was er dort alles nicht geleistet hat. Der Bundeskanzler ist aus Niedersachsen weggegangen, bevor ihn das Übel, das er dort angerichtet hat, eingeholt hat. Zurück zur Thematik. In diesem Punkt werden wir, wenn Sie das so angehen, das gewünschte Ziel nicht erreichen. Eine Energieversorgung ohne Kernenergie nur mit regenerativen Energien schafft Zusatzkosten in der Größenordnung von 250 Milliarden Euro für die nächsten Jahre. Angesichts des Etats, den Ihr Finanzminister hier vorlegt und angesichts der Perspektiven, die er hier entwickelt hat, können wir das vergessen. Ich sage ganz deutlich: So wird das nicht funktionieren, wenn wir eine vernünftige Finanzpolitik auf der einen Seite und eine vernünftige Klimaschutzpolitik auf der anderen Seite machen wollen. Also: Der Ausstieg aus der Kernenergie wird - das können Sie nicht ändern - teuer im Klimaschutz bezahlt werden. Dabei wird natürlich auch deutlich, dass Ihr Instrument der Ökosteuer schlussendlich über die ganzen Jahre hinweg nichts bewirkt hat. ({20}) Sie haben abkassiert, aber sie selbst hat kein ökologisches Ziel erreicht und hat zum Erreichen eines ökologischen Zieles nichts beigetragen. ({21}) - Darüber könnten wir gerne im Detail diskutieren. Horst Kubatschka [SPD]: Da gehen Sie ganz schön ein!) Ich sage Ihnen aber, dass wir - unterfüttert bis hin zum Sachverständigenrat - deutlich machen können, dass dies so nicht läuft. ({22}) Unsere Strategie wird eine andere sein. Wir setzen auf marktwirtschaftliche Instrumente. ({23}) Wir setzen auf Selbstverpflichtungen. Wir setzen auf steuerliche Anreize, nicht auf ein Abkassieren durch die Ökosteuer. Wir wollen sicherstellen, dass europäisch im Gleichklang marschiert wird, dass wir nicht alles alleine tragen, sondern dass die anderen die ökologische Verantwortung wesentlich stärker mit tragen. Das Gleiche wollen wir auch auf internationaler Ebene. Auch in dieser Frage sind wir wesentlich flexibler. Hier gibt es noch Instrumente, die wir gemeinschaftlich diskutieren müssen. Ihnen, Herr Minister, wünsche ich trotzdem guten Erfolg in Delhi. Wir werden kritisch betrachten, was Sie dort erreicht haben. Ich wünsche Ihnen einen guten Flug. ({24})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Ulrike Mehl, SPDFraktion.

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich Sie, Herr Lippold, hier höre, kriege ich gleich Heimatgefühle. Wir sind wieder mittendrin, Ihre Rede war wie immer laut, dafür aber weitgehend substanzlos. ({0}) Sie haben hier lange geredet und haben uns erzählt, was Sie alles zu kritisieren haben. Aber Aussagen darüber, was Ihre Ziele sind und wie Sie die erreichen wollen, fehlten. Aber Sie haben ja noch vier Jahre Zeit. ({1}) In dieser Zeit können Sie noch viele Reden halten. Ich kann es in einem Satz zusammenfassen: Die rot-grüne Koalition hat in den letzten vier Jahren eine erfolgreiche Umweltpolitik gemacht. Genau das werden wir fortsetzen. Das können Sie sich gerne ansehen. ({2}) Wir haben in unserer Politik die Menschen und die Umwelt in das Zentrum der Arbeit gestellt. Deswegen freue ich mich sehr, dass ein wichtiger Grundstein gelegt worden ist. Durch die Politik der Bundesregierung haben wir nämlich eine Nachhaltigkeitsstrategie, die wir in den nächsten Jahren umsetzen werden. Sie enthält sehr viele einzelne Punkte, an denen Sie sich gerne noch aufreiben können. Natürlich bleiben wichtige Fragen offen. Sie selber haben es ja 16 Jahre nicht geschafft, wichtige Probleme zu lösen. Dann können Sie nicht erwarten, dass wir diese Probleme in vier Jahren lösen. Es werden noch viele Fragen zu beantworten sein, um eine dauerhafte Generationengerechtigkeit und die Erhaltung von Lebensqualität zu erreichen. Ich will fünf Punkte nennen - es wären viel mehr zu nennen, aber Sie können das im Koalitionsvertrag ja auch selbst nachlesen -: Erstens. In Johannesburg ist wieder deutlich geworden, dass eine nachhaltige Entwicklung überhaupt kein Selbstläufer ist. Wir müssen vielmehr alle Vertragsstaaten und letztendlich auch die Entwicklungsländer dazu bringen, dass sie die selbst eingegangenen Verpflichtungen auch tatsächlich erfüllen. Es besteht Einigkeit darüber, dass diese Verpflichtungen notwendig sind. Allerdings werden diese eben nur bruchstückhaft umgesetzt. Dies ist in dem Aktionsplan von Johannesburg - darin geht es um den Zugang zu Wasser, um eine angemessene Abwasserentsorgung, um eine weltweite Energiewende usw. - klar gesagt worden. Die Bundesregierung hat sehr schnell gehandelt und bereits entsprechende Mittel, die in den nächsten fünf Jahren für diese Themenbereiche zur Verfügung gestellt werden sollen, zugesagt. Wir werden die uns angehenden Punkte in der nationalen Umweltpolitik natürlich ebenfalls schnellstmöglich umsetzen. Wir haben eine Vorreiterrolle im Klimaschutz und werden selbstverständlich mit Druck daran arbeiten, dass das auch zukünftig so bleibt. Die aktuelle Situation fordert zum Handeln. Das heißt, dass das Kioto-Protokoll endlich in Kraft gesetzt werden muss. Wir haben das Unsere dazu beigetragen. Das heißt aber, dass auch auf internationaler Ebene weiterhin eine kräftige Überzeugungsarbeit geleistet werden muss; denn letztendlich kann man mittel- und langfristig nicht darauf verzichten, dass die USA und auch Australien, Länder, die sehr zögerlich mit dem Thema umgehen, mit ins Boot kommen. So ärgerlich es ist, wie die amerikanische Regierung bisher mit dem Thema umgegangen ist: Man kann es nichts links liegen lassen, sondern es muss Überzeugungsarbeit geleistet werden. ({3}) Bei genauerem Hinsehen stellen sich auch in Europa die erreichten Fortschritte als sehr unterschiedlich dar. Das Wissen darum, dass ein Klimawandel eingesetzt hat, ist vorhanden. In den letzten Tagen konnten wir in den Zeitungen wieder lesen, was die letzten Stürme - so wie andere vorhergehende auch - alleine die Allianz-Versicherung gekostet haben, nämlich 18 Millionen Euro. Dass also auch ökonomische Folgen daraus entstehen, ist jedem klar; es ist augenscheinlich geworden. Deswegen muss bei uns im Lande das Ziel lauten, das Begonnene ohne Abstriche weiterzuführen und die europäischen Dr. Klaus W. Lippold ({4}) Partnerländer aufzufordern, ihre Beiträge dazu zu leisten. Wir sind nicht der Stellvertreter für andere europäische Länder. Alle müssen ihre Verpflichtungen erfüllen. Es ist sicherlich richtig, dies auch von unserer Seite aus anzumahnen. Zweitens. In der Energiepolitik - diese wurde eben schon mehrfach angesprochen - bleibt der Ausbau der erneuerbaren Energien natürlich unser zentrales politisches Vorhaben; denn langfristig ist nur eine Energieversorgung auf der Grundlage erneuerbarer Energien auch zukunftsfähig. ({5}) Deswegen werden wir die Politik der letzten vier Jahre fortsetzen. Sie können natürlich viel darüber reden, dass dieses oder jenes nicht funktioniert hat. Eines ist aber klar: Wir haben erreicht, dass der Anteil der erneuerbaren Energien an unserer Stromversorgung bereits über 50 Prozent zugenommen hat. Allein die Windkraft hat sich verdreifacht; die Photovoltaik boomt. Es sind Zigtausende von Arbeitsplätzen entstanden. Sie können noch so viel drumherumreden: In diesem Zukunftsbereich werden Arbeitsplätze geschaffen und Innovationen in den neuen Technologien gefördert. Durch ihn verschaffen wir uns eine Vorreiterstellung in dieser Technologie. Darüber hinaus wird in diesem Bereich der Umwelt- und Klimaschutz gefördert. Deswegen werden wir an diesem Thema mit Macht weiterarbeiten. ({6}) Ich komme zu den Subventionen. Herr Lippold, Sie haben eben angedeutet, dass das alles zu teuer sei. Dazu will ich nur einen kleinen Zahlenvergleich bringen: Durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz wurden letztes Jahr Zahlungen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro fällig. Das bedeutete eine monatliche Belastung pro Haushalt von 3,25 Euro und entsprach etwa den Kosten eines Weizenbieres oder eines vergleichbaren Getränks. Bei aller Lust am Streit denke ich, dass uns der Aufbau einer nachhaltigen Energieversorgung diesen Betrag wert sein sollte. ({7}) Drittens. Wir werden uns in dieser Legislaturperiode natürlich auch mit der Kehrseite unserer Produkte befassen müssen, nämlich mit dem gesamten Komplex Abfallwirtschaft. Dabei ist es wichtig, dass in einer modernen Abfallwirtschaft nicht nur Feuer gespeist werden, sondern dass ganz am Anfang der Diskussion die Produktverantwortung steht. Vor uns liegt unter anderem die Umsetzung der europäischen Elektronikschrottverordnung, für die wir eine ökologisch und ökonomisch tragfähige Umsetzung brauchen, die sowohl für die private als auch die öffentlichrechtliche Entsorgungswirtschaft akzeptabel ist. Daneben gibt es als wesentlichen Punkt das Setzen von Standards, die für alle vergleichbar sind, für die Verbrennung von Abfällen, egal wo sie verbrannt werden, und für die Verwertung. Das heißt unter anderem, dass Brennstoffe aus Müll dringend standardisiert werden müssen. Über all dem steht natürlich die Abfallvermeidung an vorderster Stelle. Nicht zu vergessen: Das ist der erste Schritt der Abfalldiskussion. Das werden wir fortsetzen. Das Thema Dosenpfand bzw. das Einwegverpackungspfand bei Getränkeverpackungen haben wir hinreichend diskutiert. Ich glaube nicht, dass wir darüber weiter diskutieren müssen. Am 1. Januar 2003 tritt diese Verordnung in Kraft. Die Produktverantwortung ist für die Abfallpolitik Leitmotiv. Das gilt unter anderem für das Thema Klärschlamm in der Landwirtschaft, das wir in Kürze angehen werden. Dazu gibt es sicherlich einiges zu diskutieren. Ich finde, dass der Sachverständigenrat für Umweltfragen dazu bemerkenswerte Vorschläge gemacht hat, Vorschläge, wie die Umwelt geschont und die Klärschlammproblematik einer Lösung zugeführt werden kann. Viertens. In diesem Sommer gab es - das ist schon viel erwähnt worden - die so genannte Jahrhundertflut, wobei ich meine Probleme mit dem Begriff Jahrhundertflut habe. Ich glaube, dass die Flut in diesem Jahrhundert nicht die letzte gewesen sein wird. Damit ist aber wohl jedem vor Augen geführt worden, dass in der Flusspolitik insgesamt dringend neue Konzepte angepackt werden müssen. Damit haben wir bereits begonnen. Im Koalitionsvertrag ist deutlich festgehalten worden, dass sich die Technik den Flüssen anzupassen hat und nicht umgekehrt. Ich glaube, das ist der richtige Weg. ({8}) Im Übrigen hat auch die Wasserrahmenrichtlinie mit ihren Ansätzen, die wir bereits umgesetzt haben, gezeigt, dass Flüsse als Gesamtsystem betrachtet werden müssen und nicht nur partiell darüber nachgedacht werden darf, was wo ausgebaut werden kann. Wir haben aufgrund der Hochwasserkatastrophe, aber auch im Sinne des Naturschutzes ganz klar gesagt, dass zum Beispiel ein Ausbau der Elbe und der Donau nicht infrage kommt. Dazu würde ich gerne einmal Ihre Konzepte sehen; denn Sie haben insbesondere bei der Donau, als wir den Antrag in der letzten Legislaturperiode durchgesetzt haben, aus allen Rohren mächtig dagegen geschossen. Deswegen ist Ihre Glaubwürdigkeit auf diesem Gebiet mit einem dicken Fragezeichen zu versehen. ({9}) Zum Thema Naturschutz - fünftens - kann ich noch anfügen, dass dazu in der letzten Legislaturperiode von uns sehr viel umgesetzt worden ist. Damit ist aber noch nicht alles erledigt. Wir werden den Naturschutz weiter stärken. Wir werden dafür sorgen, dass die Umsetzung der Übertragung der 100 000 Hektar ökologisch wertvoller Flächen in den neuen Bundesländern zügig vorankommt. Wir werden dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die Sicherung des so genannten grünen Bandes legen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Mehl, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin bereits am Ende angekommen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wie schön.

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir haben uns in dieser Legislaturperiode durchaus nicht weniger vorgenommen als in der letzten. Ich glaube, dass Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen in der Opposition, sehr viel mit uns zu tun haben werden. Wir werden in vier Jahren ein weiteres positives Ergebnis der Umweltpolitik verkünden und abschließen können. Schönen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Birgit Homburger, FDP-Fraktion, das Wort.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag zur Umweltpolitik. Herr Minister Trittin, der Sachverständigenrat hat Ihnen nach der letzten Legislaturperiode ins Stammbuch geschrieben, dass er über die Umweltpolitik enttäuscht ist, weil es eine einseitige Konzentration auf Themen gab. Er hat Ihnen eine inhaltliche Dürftigkeit bescheinigt. Die erste Reaktion der Umweltverbände auf diese Vereinbarung zeigt die gleiche Enttäuschung. Ich habe mit Spannung erwartet, ob Ihre Ausführungen heute über das hinausgehen würden, was in blumigen Formulierungen im Koalitionsvertrag steht. Ich meine, dass sie keine Perspektive und kein Konzept enthalten. Deswegen wird das Gewurstel in diesem Bereich sicherlich in den nächsten vier Jahren so weitergehen. ({0}) Sie haben die Konferenz zu den regenerativen Energien sehr stark herausgestellt, Herr Minister. Wir können Ihnen versichern, dass wir das Vorhaben sehr unterstützen und dass wir ebenfalls erkennen, welche Möglichkeiten gerade auch auf internationaler Ebene in der Förderung von regenerativen Energien liegen. Ich möchte aber gerne von Ihnen die Frage beantwortet bekommen, warum Sie die Chancen, die das Kioto-Protokoll mit den so genannten Clean Development Mechanism in diesem Bereich längst bietet, für Deutschland bisher nicht genutzt haben. Wir haben das mehrfach gefordert. Warum haben Sie das verhindert? Sie haben alle unsere Anträge abgelehnt. Sie bekommen zwar unsere Unterstützung, aber wir erwarten von Ihnen, dass Sie endlich auch über das, was Sie schriftlich formuliert haben, hinausgehen. ({1}) Zum Erneuerbare-Energien-Gesetz hat der Kollege Lippold von der CDU/CSU schon einiges gesagt. Ich möchte an dieser Stelle nur darauf hinweisen, dass wir vonseiten der FDP-Fraktion ein eigenes Fördermodell vorgelegt haben. Wir sind gerne bereit, in diese Auseinandersetzung einzusteigen. Wir wollen die Förderung regenerativer Energien, aber wir wollen, dass sie auf eine wirtschaftlich sinnvolle Weise organisiert wird. Und dabei gibt es Spielraum. ({2}) Es ist schon bezeichnend, dass der Bundeskanzler in seiner einstündigen Regierungserklärung heute Vormittag kein Wort über die Umweltpolitik verloren hat. Damit hat Herr Schröder programmatisch das bestätigt, was wir schon die ganze Zeit vermutet haben: Rot-Grün hat die Umweltpolitik abgeschrieben. Die Bankrotterklärung Ihrer Regierung in der Umweltpolitik ist symptomatisch in der Klimapolitik zu sehen. In diesem Bereich ist fraktionsübergreifend ein Ziel beschlossen worden, für das wir uns immer eingesetzt haben, nämlich die CO2-Emissionen bis 2005 um 25 Prozent zu verringern. Im Wahlkampf haben Sie plötzlich nur noch vom europäischen Ziel geredet. Inzwischen reden Sie von keinem der beiden Ziele mehr. Sie reden weder vom nationalen noch vom europäischen Ziel. Jetzt reden Sie blumig darüber, dass Sie bis 2020 eine Verringerung um 40 Prozent erreichen wollen, und knüpfen das an völlig utopische Bedingungen, die andere nicht erfüllen werden. Sie sind völlig unglaubwürdig, weil Sie sich von dem Klimaschutzziel, das wir alle gemeinsam mit getragen haben, verabschiedet haben. ({3}) Die EU wird in den nächsten Wochen den Emissionshandel beschließen. In diesem Zusammenhang muss man sich auch fragen, was Sie eigentlich getan haben, um Deutschland darauf vorzubereiten. - Sie haben nichts getan. Herr Schröder meint, wir brauchten das nicht. Ihr früherer Wirtschaftsminister meint auch, wir brauchten das nicht. Und Ihr neuer Superminister Clement hat ausgeführt, es sei wichtig, dass die Wirtschaftlichkeit der heimischen Stromerzeugung nicht durch unkalkulierbare Belastungen aus dem Emissionshandel gefährdet werde. Insofern muss ich Ihnen entgegenhalten: Warum haben Sie sich eigentlich nicht um die europäische Vereinbarung gekümmert? Nachdem inzwischen in Europa sozusagen der Käse gegessen ist, schreiben Sie in Ihre Koalitionsvereinbarung, welche Bedingungen notwendig sind, um den Emissionshandel in einer vernünftigen Weise in Deutschland einzuführen. Das zeigt einmal mehr, dass im Vergleich mit dieser Bundesregierung die Schnecke ein Torpedo ist, Herr Minister. ({4}) Wenn ich Ihnen zugute halte, dass Sie den Emissionshandel nie wollten, dann lassen Sie uns einen Blick auf den Atomausstieg werfen, den Sie schließlich immer zum Ziel hatten. Was steht dazu in Ihrer glorreichen Vereinbarung? - Nichts anderes als das, was ohnehin bereits gesetzlich geregelt ist. Hinzu kommt, dass Sie in einer Situation, in der es zum ersten Mal darauf ankommt, Ihr grünes Prestigeprojekt durchzuziehen, umfallen. Ich nenne nur das Stichwort zwei Jahre Laufzeitverlängerung für das Kernkraftwerk Obrigheim, Herr Minister. Das ist Ihre Art von Glaubwürdigkeit in der Umweltpolitik. ({5}) Es wird systematisch abkassiert. Dabei bleibt es auch in dieser Legislaturperiode. Entgegen allen Beteuerungen steigt die Ökosteuer zum 1. Januar. Hinzu kommt, dass Ihr Versprechen, dass mit der Ökosteuer eine Stabilisierung oder sogar die Senkung der Rentenbeiträge verbunden sei, nicht stimmt. Auch das mussten Sie zwischenzeitlich zugeben. Sie liegen in allen Punkten völlig daneben. Das setzen Sie in dieser Legislaturperiode genauso fort. Sie haben aus der letzten Legislaturperiode nichts gelernt. ({6}) Zum Hochwasserschutz: Es gab in der Wahlkampfzeit - die Kollegin Mehl hat das bereits angesprochen - eine Flusskonferenz, die ich mit großem Interesse verfolgt habe. Das Bundesverkehrsministerium sagt, dass diese Konferenz nicht ordentlich vorbereitet gewesen sei. Was muss ich feststellen? Genau auf diese Konferenz wird in der Koalitionsvereinbarung Bezug genommen. Wir brauchen im Hochwasserbereich eine internationale Zusammenarbeit. ({7}) Die Anrainerstaaten müssen aufgerufen werden, sich an einen Tisch zu setzen. Nur so können wir gemeinsame Konzepte über die großen Flussläufe hinaus entwerfen. Das ist das, was wir von Ihnen erwarten, Herr Minister Trittin. ({8}) Ich möchte eine letzte Bemerkung zur Abfallpolitik machen. Es kann ja wohl nicht wahr sein, was ich dazu in der Koalitionsvereinbarung gelesen habe. Dort wird das Zwangspfand ausdrücklich bekräftigt, während die viel wichtigere und eigentlich unumgängliche Novelle zur Verpackungsverordnung erst gar nicht erwähnt wird. ({9}) In der letzten Legislaturperiode haben Sie wenigstens noch in Ihre Koalitionsvereinbarung geschrieben, dass Sie das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz novellieren wollen. Auf eine solche Novelle wartet die Wirtschaft in diesem Bereich dringend, weil sie weiß, dass sie notwendig ist.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Homburger, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Erwägen Sie das zumindest.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, ich erwäge das zu Ihren Gunsten. ({0}) Ich möchte nur noch Folgendes sagen: Die Branche erwartet diese Novelle. Tatsächlich wird diese Novelle noch nicht einmal mehr angesprochen. Sie wollen das bisherige Chaos über den Verordnungsweg fortsetzen. ({1}) Das ist der deutschen Umweltpolitik nicht angemessen. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun kommen Sie aber zum Schluss.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Jetzt kommt mein letzter Satz, Herr Präsident. ({0}) Wir haben in der letzten Legislaturperiode feststellen müssen - wie es auch der Sachverständigenrat getan hat -, dass auf dem Papier mehr steht, als tatsächlich geschehen ist. Sie haben daraus Konsequenzen gezogen. Ich stelle fest, dass die jetzige Koalitionsvereinbarung dazu nichts mehr enthält. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Müller, SPD-Fraktion.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Die Hochwasserkatastrophe vor einiger Zeit hat schlagartig deutlich gemacht, wie wichtig die ökologische Modernisierung ist. Interessanterweise hat die Öffentlichkeit so reagiert, wie sie reagieren musste. Sie standen auf einmal als eine Partei ohne Kompetenzen in den Umweltfragen da. Sie haben auf einmal ein schwarzes Loch gehabt. Das war die Wirklichkeit. Jetzt tun Sie so, als ob Sie Vorreiter der Umweltpolitik wären. Das glaubt Ihnen niemand, und zwar vor allen Dingen deshalb, weil Sie - um ein Beispiel zu nennen bei den 18 klimaschutzrelevanten Maßnahmen der letzten Legislaturperiode nicht einmal Ja gesagt haben. ({0}) - Sie haben im Bundestag nicht einmal Ja gesagt. Die Union hat zwar im Bundesrat zweimal zugestimmt. Aber hier haben Sie 18-mal Nein gesagt. Das ist die Wirklichkeit. Im Übrigen muss ich Ihnen, Frau Homburger, sagen, dass das, was Sie gesagt haben, überhaupt nicht zusammenpasst. Sie haben gesagt, dass alles, was Herr Trittin in der Atompolitik mache - diese Politik betreibt nicht Herr Trittin allein, sondern die Koalition -, völlig unproblematisch sei. Warum haben Sie dann diese Politik bekämpft? ({1}) - Sie haben doch vorhin behauptet, dass es sich bei dem Ganzen nur um ein Auslaufen handle. Demnach sei das alles nicht problematisch. ({2}) Warum haben Sie dann aber unsere Atompolitik bekämpft? Ich sage Ihnen, warum Sie sie bekämpft haben: Sie haben in der Umweltpolitik und insbesondere bei der ökologischen Modernisierung nichts zu bieten, weil Sie immer dann, wenn es darauf ankommt, umfallen und weil Sie zusammen mit den anderen Umweltpolitikern in Ihrer Fraktion in Wahrheit isoliert sind. Das ist die Wirklichkeit. ({3}) - Das ist keine Fehleinschätzung, sondern leider die Wirklichkeit. Interessanterweise hat das Ergebnis der Bundestagswahl gezeigt - das war einer der wesentlichen Punkte -, dass die Bevölkerung genau das begriffen hat. Wir müssen trotzdem über das, was im Sommer geschehen ist, weiter diskutieren; denn die letzte Flutkatastrophe hat wie kaum ein anderes Ereignis gezeigt, dass Umweltpolitik kein Schönwetterereignis sein darf. Wir wissen, dass sich der Energiehaushalt in den letzten Jahren weiter dramatisch verschlechtert hat. Wir wissen auch, dass im Wasserkreislauf dramatische Verschiebungen stattfinden. Deshalb können wir bei dem Hochwasser nicht von einem singulären Ereignis ausgehen. Im Gegenteil, alle zentralen Faktoren im Wasserkreislauf - sei es die Gletscherbildung, sei es die Verdunstung, seien es die Veränderung der ozeanischen Prozesse und auch das Abflussregime von Flüssen - verändern sich in einer Weise, die es erforderlich macht, dass wir noch sehr viel mehr handeln müssen, als wir das bisher schon tun. Wir kommen an diesem Punkt nicht vorbei und deshalb muss und wird die ökologische Modernisierung Markenzeichen dieser Regierung bleiben. ({4}) Aber ich will hinzufügen: Wir werden die ökologische Modernisierung erweitern. Im Kern - auch da besteht ein Unterschied zur Opposition - geht es für mich nicht mehr um traditionelle Umweltpolitik im klassischen Sinne. Vielmehr ist das, was wir machen müssen, Mitweltpolitik. Wenn ich den Bundeskanzler richtig verstanden habe, vor allem in seinen Ausführungen zur Zivilisierung der Weltgesellschaft, war das für mich im klassischen Sinne Mitweltpolitik. ({5}) - Doch, das hat er heute gesagt. Ich habe eben übrigens sowieso den Eindruck gehabt, dass die PISA-Schwäche bei Ihnen ziemlich durchschlägt; ({6}) denn die Koalitionsvereinbarung haben Sie nicht richtig gelesen. Sonst hätten Sie beispielsweise zum Thema Abfall genauso wie zu anderen Punkten andere Schlussfolgerungen ziehen müssen. Meine Damen und Herren, ich glaube, der eigentliche Punkt ist: Wir müssen die ökologische Modernisierung konzeptionell erweitern. Ich will hier einen zentralen Punkt herausstellen, der für uns ganz wichtig sein wird, nämlich die Frage der Verbindung von Arbeit und Umwelt. Wenn es so ist, dass sich die Bundesrepublik als Exportland vor allem durch eine ungeheuer hohe Arbeitsproduktivität auszeichnet, dann kommen wir an der Tatsache nicht vorbei, dass Arbeit immer häufiger durch Technik ersetzt wird und es deshalb immer schwieriger wird, das Beschäftigungsproblem auf diesem Weg zu lösen. Wir kommen aus dieser Produktivitätsfalle nur heraus, wenn wir die Produktivität sehr viel stärker auf den ebenso wichtigen - kostenmäßig sogar sehr viel größeren - Faktor der Energie- und Ressourcenproduktivität lenken. Es wird dazu keine Alternative geben. ({7}) Ich würde das in einem historischen Bild so sehen: Das 19. Jahrhundert war vor allem das Jahrhundert der Ausbeutung des Faktors Arbeit. Im 20. Jahrhundert haben wir das Beschäftigungsproblem zum Teil durch die Ausbeutung der Natur entschärft. Im 21. Jahrhundert erleben wir, dass sowohl die Umweltzerstörung fortgesetzt als auch der Faktor Arbeit durch die technologische Entwicklung verdrängt wird. Wir kommen nicht daran vorbei, die Energie- und Ressourcenproduktivität als die Strategie zur Verbindung von Arbeit und Umwelt im 21. Jahrhundert zu begreifen. Das ist das Markenzeichen, das wir wollen. Es ist auch eine Vision, um beispielsweise durch hohe Energie- und Ressourcenproduktivität dazu beizutragen, dass die Ressourcen der Erde nicht mehr so ausgeplündert werden, dass die Kosten für die Umweltbelastungen geringer werden, dass wir die natürlichen Lebensgrundlagen schonen und dass wir vor allem mehr Arbeitsintensität schaffen; denn ökologische Lösungen sind in der Regel arbeitsintensive Lösungen. Sie verlangen nämlich sehr viel mehr menschliche Kreativität und Dienstleistung. Und das ist der richtige Ansatz. ({8}) Wir wollen ein Zukunftsmodell entwickeln. Es geht dabei nicht mehr nur um einen verengten Umweltschutzansatz. Der neue Ansatz ist aus meiner Sicht ganz wichtig für die von mir angesprochene Zivilisierung der Weltgesellschaft. Wie Sie wissen, hat Francis Fukuyama, der Wissenschaftsjournalist und Professor der John-Hopkins-Universität, mit seiner These vom Ende der Geschichte einen Streit ausgelöst. Seine zentrale These ist, dass die Menschheit nach dem Zusammenbruch der bipolaren Welt sozusagen in der Mischung aus liberaler Gesellschaft und liberalem Kapitalismus das Ende der Geschichte gefunden hat. Meines Erachtens hat er in einer völligen Fehlinterpretation von Hegel die Alternativlosigkeit mit der Konfliktlosigkeit verwechselt und liegt deshalb schief. Aber bei allem, was wir im letzten Jahr erlebt haben, beispielsweise mit der Entfaltung neuer Gewalt am Michael Müller ({9}) Michael Müller ({10}) 11. September, beispielsweise mit den wachsenden Protesten gegen die Form der Globalisierung, beispielsweise mit dem völlig unzureichenden Vorankommen einer globalen Umweltpolitik - was leider ja auch in Johannesburg deutlich wurde -, kann man nicht von der Alternativlosigkeit einer unilateralen ökonomischen Welt reden. Das wäre sozusagen die Selbstaufgabe der Politik. Der ökologische Ansatz ist unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit gerade deshalb so interessant, weil er im Kern auf eine Welt der Vielfalt und der Demokratien hinausläuft. ({11}) Nachhaltigkeit - das ist der interessante Punkt - funktioniert nur mit mehr Demokratie und Vielfalt. Nachhaltigkeit schafft einen Ansatz, um sehr viel stärker wieder spezifische Lösungen, die kulturellen Potenziale einer Gesellschaft und die technologischen Fähigkeiten für unterschiedliche Lösungen zu entfalten. Nachhaltigkeit ist die richtige Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung. Die Alternative, eine globale Weltregierung, will ich nicht. Aus meiner Sicht ist sie bürgerfern, technokratisch und letztlich nicht in der Lage, die Fähigkeiten, die wir vor allem für dezentrale Lösungen, also für sehr effiziente Lösungen vor Ort, brauchen, zu entfalten. Es gibt, glaube ich, eine Riesenchance für das europäische Modell, wenn Nachhaltigkeit zum Maßstab unserer Reformpolitik wird. Das ist eine Vision, die wir übrigens auch in unsere Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben haben. Ich will das wie folgt zusammenfassen: Aus meiner Sicht geht es heute eben nicht um ein paar Detailkorrekturen. Wir sind am Beginn eines ganz neuen, sehr schwierigen und auch sehr unsicheren Weges. Deshalb plädiere ich sehr dafür - ich sage das in alle Richtungen -, damit aufzuhören, über die Herausforderungen zum Teil so kleinkariert zu reden, wie wir das oft tun. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind so gewaltig, dass wir aus meiner Sicht eine offene, kreative und vor allem auch intellektuell redliche Auseinandersetzung über Lösungsstrategien brauchen. ({12}) Wir diskutieren hier zum Teil nur rückwärts gewandt und rechthaberisch. Das darf man bei diesen Themen nicht. Ich glaube, dass die Nachhaltigkeit im Kern der Versuch war - angestoßen insbesondere durch die Arbeiten von Olof Palme, von Willy Brandt und von Gro Harlem Brundtland -, auf der einen Seite die eigenständigen Kulturen, die eigenständigen Inhalte von Gesellschaftsmodellen zu bewahren, sie aber auf der anderen Seite gleichzeitig mit dem zu verbinden, was heute notwendig ist, nämlich dem Berücksichtigen globaler Anforderungen. Ich sage Ihnen: Diese Chance ist eine große Chance für unser Land. Wir werden die großen Herausforderungen nur bewältigen, wenn wir eine Vision haben, wenn wir eine große Idee davon haben, wo es hingeht, damit die Menschen wissen: Es ist das bessere, das gute Leben im Sinne von Adorno, das wir anstreben. Deshalb, meine Damen und Herren: Wir wollen eine Politik der Nachhaltigkeit betreiben. Wir können über einzelne Instrumente streiten, Sie können uns auch kritisieren, wenn wir in der einen oder anderen Frage vielleicht einmal falsch liegen, aber an dieser Grundlinie lassen wir nicht rütteln. Ich bin sicher: Wir werden diese Aufgabe besser erfüllen, als Sie das je können. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Peter Paziorek, CDU/CSUFraktion, das Wort.

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Müller, es war sehr interessant, was Sie zum Schluss angesprochen haben. ({0}) Aber ich hatte auch den Eindruck, dass Sie den untauglichen Versuch unternommen haben, von all den Schwächen in Ihrer Umweltpolitik in den letzten vier Jahren abzulenken und vor allem von einer konkreten Diskussion darüber, was Sie in der Koalitionsvereinbarung nebulös und oberflächlich formuliert haben. ({1}) - Herr Müller, zunächst zur Klimaschutzpolitik. Da haben Sie in den letzten vier Jahren ({2}) - zu dem Vorwärtsgewandten komme ich noch - einen Abbau um zusätzlich 3 Prozent gegenüber 15 Prozent aus der Zeit der CDU/CSU-FDP-Regierung erreicht. In der letzten Koalitionsvereinbarung haben Sie festgelegt, dass Sie ein neues Gesetz zur Kreislaufwirtschaft und zur Abfallwirtschaft in Deutschland vorlegen wollen. ({3}) Das Gesetz haben Sie in der letzten Legislaturperiode nicht vorgelegt. Sie haben gekniffen, obwohl Sie das vereinbart hatten. Sie haben in der Koalitionsvereinbarung vor vier Jahren festgelegt, ein Fluglärmschutzgesetz vorzulegen. Diesbezüglich hat sich Herr Trittin mit Herrn Bodewig gestritten. Herr Trittin hat sich nicht durchgesetzt. Das Fluglärmschutzgesetz ist in der Versenkung verschwunden. Sie haben in der letzten Koalitionsvereinbarung festgelegt, ein Konzept zur so genannten Entsiegelung des Bodens vorzulegen. Wir warten bis heute auf dieses Konzept. Herr Müller, ich wollte all das gar nicht schildern. Ich hatte es schon gestrichen. ({4}) Nur, als Sie gerade anfingen, großartig zu philosophieren - ich bin gern bereit, mit Ihnen bei Stiftungen über diese Themen zu diskutieren -, habe ich das wieder hervorgekramt. Philosophisch hört sich das alles großartig an, in der konkreten Formulierung der Aufgaben in der Umweltpolitik aber haben Sie in den letzten vier Jahren versagt. ({5}) Sie werden auch bei der Umsetzung der neuen Koalitionsvereinbarung versagen. Sie hatten zum Beispiel angekündigt, ein Umweltgesetzbuch vorzulegen. Sie sind gescheitert, ({6}) weil Sie angeblich die wasserrechtlichen Kompetenzen nicht haben. Sie haben das Vorhaben jetzt wieder eingebaut. Ich will nur sagen: groß angekündigt, nichts erreicht. Ich kann durchaus verstehen, dass die „Berliner Zeitung“ heute getitelt hat: „Koalition sucht klaren Kurs“. Das bezog sich auf die Wirtschafts- und auf die Sozialpolitik. Nach der Koalitionsvereinbarung und nach dem, was Sie, Herr Müller, gerade gesagt haben, kann ich nur feststellen: Es ist klar, dass das nicht nur für die Wirtschafts- und für die Sozialpolitik gilt, sondern leider auch für die Umweltpolitik in Deutschland. Das liegt an der schlechten Koalitionsvereinbarung, die Sie getroffen haben. ({7}) Es ist offenkundig: Nachdem aus Ihrer Sicht das große Thema Atomausstieg - eigentlich ist es kein Atomausstieg; aber ich übernehme einmal Ihr Vokabular - erledigt ist, kommt nun die große umweltpolitische Leere; deshalb werden Sie nebulös. Sie sprechen in der Koalitionsvereinbarung davon, dass die Ökoeffizienz die Jobmaschine von morgen ist. ({8}) Ich habe mir gedacht: Großartig! Jetzt bin ich einmal gespannt, wie ihr für Ökoeffizienz sorgen wollt. In einem zentralen Satz der Koalitionsvereinbarung steht, dass Sie Netzwerke fördern wollen, um Ihr Ziel zu erreichen. Ist das denn alles, was Ihnen zu diesem Thema einfällt? ({9}) Was dort steht, ist doch nur Romanformuliererei. Ihre ganze Umweltpolitik enthält nichts Konkretes. Des Weiteren sprechen Sie - das haben Sie, Herr Müller, und auch Minister Trittin heute Abend getan - von der ökologischen Modernisierung. Wer einmal konkret überprüft, was Sie darunter verstehen, der wundert sich, wie wenig konkret Ihre Politik ist. Es ist auch darauf hingewiesen worden - ich glaube, es waren Frau Mehl und der Minister -, in der Koalitionsvereinbarung sei das Ziel der Energieeinsparung festgelegt. In der Koalitionsvereinbarung steht: Zur Fortentwicklung der Energieeinsparung im Gebäudebereich werden ein Förderprogramm zur Errichtung von Passivhäusern mit - jetzt kommt eine sensationelle Zahl 30 000 Wohneinheiten ({10}) und ein Anschlussprogramm zur energetischen Modernisierung des Gebäudebestandes aufgelegt, das anstelle von zinsvergünstigten Krediten Zuschüsse oder Sonderabschreibungen beinhaltet. Das hatten wir doch schon einmal. Das ist beim letzten Mal doch schon einmal gescheitert. ({11}) Dieses Programm ist doch gar nicht erfolgreich gewesen. Es war verdammt kompliziert. Mittlerweile haben Sie daraus natürlich gelernt und wollen es verbessern. Warum haben Sie denn nicht in die Koalitionsvereinbarung geschrieben, wie Sie das machen wollen? Ich kann Ihnen sagen: Ihnen ist dazu bis heute Abend nichts Neues eingefallen. Sie argumentieren nebulös, nur um von den tatsächlich vorhandenen schwarzen Löchern Ihrer Umweltpolitik abzulenken. Aus diesem Grunde wird es natürlich notwendig sein, in den nächsten vier Jahren ganz konkrete Fragen zu stellen, zum Beispiel: Wie soll es in der Klimaschutz- und Energiepolitik weitergehen? Wie sehen Ihre Konzepte für eine nachhaltige Energiepolitik wirklich aus? Sie sprechen die erneuerbaren Energien an. Ich sage noch einmal ganz deutlich - ich will das fortsetzen, was der Kollege Lippold hier angesprochen hat -: Sie werden die Union immer an Ihrer Seite finden, wenn es darum geht, die erneuerbaren Energien sinnvoll zu fördern. Bei all den Problemen, die wir in der Klimaschutzpolitik haben, sind auch wir der Ansicht, dass es darauf ankommen wird, die erneuerbaren Energien als eine wesentliche Säule unserer Energie- und Klimaschutzpolitik auszubauen. Deshalb sind auch wir dafür, darüber nachzudenken, im Rahmen des EEG die Offshoreförderung zeitlich zu verlängern. Darüber werden wir uns höchstwahrscheinlich einigen. Wir sind nicht prinzipiell gegen die Anwendung der Windkraft; allerdings fragen wir uns, ob es richtig war - Sie haben das in den letzten vier Jahren gemacht -, mit - aus unserer Sicht - überzogenen Fördersätzen zu versuchen, an ungeeigneten Standorten im Binnenland Windkraftanlagen anzusiedeln. Sie haben dabei die Proteste der Bevölkerung ignoriert. Am schlimmsten war, dass Sie überhaupt keine Rücksicht darauf genommen haben, dass es an vielen Stellen zu großen Konflikten mit dem Naturschutz und dem Landschaftsschutz gekommen ist. ({12}) Sie als Umweltpolitiker haben diese Sichtweise einfach vernachlässigt. Das ist keine gute und sinnvolle Art und Weise, die Nutzung erneuerbarer Energien zu fördern. Es gibt im Rahmen erneuerbarer Energien Alternativen: Biomasse und Biogas. Man kann Biomasse- und Biogasanlagen landschaftsgerecht bauen. Man kann dadurch der Landwirtschaft helfen, wie Sie es im Zuge der Förderung der Nutzung der Windkraft wollten. Man muss feststellen, dass Sie die Anreizförderung im letzten Jahr gestrichen haben. Seitdem Sie diese Streichung im letzten Jahr durchgeführt haben, ist das Wirtschaften mit Biomasse- und Biogasanlagen nicht mehr rentabel. Jetzt liegen Förderanträge und Baugenehmigungsanträge auf Halde, weil die Antragsteller sagen: Wir können das, was wir vorhatten, nur deswegen nicht mehr realisieren, weil Rot-Grün die Förderung gestrichen hat. Vor diesem Hintergrund müssen Sie doch unsere Skepsis verstehen, die sich darin ausdrückt, dass wir sagen: Sie formulieren immer alles nebulös; aber wenn es darum geht, Biomasse- und Biogasanlagen ganz konkret zu fördern, dann tauchen Sie ab. Ihre Politik war sogar gegen diese Anlagen gerichtet. Das war unverantwortlich, weil Sie damit nicht dafür gesorgt haben, dass zum Beispiel auch in interessanten Naturräumen erneuerbare Energien gefördert werden. Sie waren bei der Förderung erneuerbarer Energien ideologisch einseitig ausgerichtet. Eine solche Haltung lehnen wir ab. ({13}) Sie reden immer so groß von Nachhaltigkeit. Herr Müller, Ihre Rede enthielt einen interessanten Ansatz. Sie wissen, dass ich mit Ihnen über prinzipielle Fragen der Nachhaltigkeit immer sehr gerne diskutiere. Jetzt tun Sie so, als ob wir im Bundestag wirklich darüber diskutieren müssen. Schauen Sie sich doch einmal den Gang der Beratung des Berichts des Rats für Nachhaltigkeitsfragen in der letzten Legislaturperiode an. Die Beratung ist doch vollständig am Parlament und an seinem Umweltausschuss vorbeigegangen. Uns wurde vom zuständigen Staatsminister gesagt, es müsse erst einmal auf der Staatssekretärebene ein Papier zusammengebastelt werden, dann könne man darüber diskutieren. ({14}) Wo war denn Ihr Versuch, Nachhaltigkeit ins Plenum zu bringen und die große öffentliche Diskussion zu diesem Thema zu führen? Sie sind dieser Diskussion ausgewichen und wundern sich danach, dass Ihre Politik nicht dazu geführt hat, dass der Begriff der Nachhaltigkeit ein wesentlicher Begriff auch unserer Umwelt- und Sozialpolitik geworden ist. Sie haben in dieser Frage versagt und wir können nur sagen: Man sollte nicht die großen Reden schwingen, sondern dafür sorgen, dass wir hier im Plenum über diese wesentlichen Fragen diskutieren. Das wäre ein wichtiger Ansatz zur Nachhaltigkeit. ({15}) Wenn Sie davon sprechen, dass wir im Naturschutz weitermachen müssen, stimmen wir zu. Nur sage ich wie bei der Nachhaltigkeit: Über die Zielvorstellungen sind wir uns gar nicht so uneins. Aber eines ist doch klar: Sie meinen, Naturschutzpolitik könne im heutigen Zeitalter nur hoheitlich, von oben gemacht werden. Sie meinen, Naturschutzpolitik solle nicht mehr auf Instrumente zurückgreifen, die sich in vielen Regionen unseres Landes bewährt haben, etwa das Kooperationsprinzip: mit den Nutzern tatsächlich reden, freiwillige Vereinbarungen schließen. In den letzten Tagen sind Pressemeldungen von mehreren interessierten Verbänden erschienen - nicht aus der Landwirtschaft, sondern zum Beispiel von der Wasserwirtschaft. Es wird dafür geworben, eine Allianz zwischen Wasserwirtschaft, Umweltschutz und Landwirtschaft zustande zu bringen. Wenn ich sehe, wie es bei Ihnen, Herr Göppel, in Bayern läuft und wie es bei mir in Westfalen läuft, dass wir vor Ort diese Allianzen haben, frage ich mich: Wo ist denn dieser wesentliche Grundsatz bei Ihnen in der Koalitionsvereinbarung? Warum sagen Sie nicht, wir wollen das Kooperationsprinzip im Naturschutzbereich stärken, wir wollen die Allianzen stärken, wir wollen die Menschen mitnehmen? Nein, Ihre Koalitionsvereinbarung ist immer noch geprägt von einem hoheitlichen, obrigkeitsstaatlichen Ansatz. Und dann wundern Sie sich, wenn die Leute vor Ort sagen, wir fühlen uns überfahren. Sie schaden den Prinzipien, und deshalb sage ich: Schon vom Ansatz her ist Ihre Koalitionsvereinbarung falsch, meine Damen und Herren. ({16}) Zur Frage der verantwortungsbewussten Politik: Es ist sehr schade, dass Sie wieder nicht den Mut hatten, zum Bereich Endlager und Entsorgung eine klare Aussage zu treffen, unabhängig davon, wer nun die friedliche Nutzung der Kernenergie in Deutschland eingeführt hat, ob es Sozialdemokraten oder Christdemokraten waren. Wir alle waren in den 60er-Jahren begeistert davon. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung. ({17}) - Die Grünen gab es damals als politische Kraft noch nicht, Frau Hustedt. - Wir müssen uns jetzt darum kümmern, wohin mit dem so genannten Atommüll. ({18}) Wenn ich mir vor Augen führe, wie Sie sich in den letzten vier Jahren um eine klare Standortaussage gedrückt haben und jetzt wieder nebulös formulieren, kann ich nur sagen: Bei Ihnen scheint wiederum die Verantwortungslosigkeit um sich zu greifen. Auch das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({19}) Deshalb zum Schluss: Meine Damen und Herren, Sie haben in den letzten Jahren Ihre Koalitionsvereinbarung nicht sauber abgearbeitet. Warum sollen wir davon ausgehen, dass Sie es jetzt besser machen? Es spricht, da Sie jetzt wieder vieles nebulös formuliert haben, alles dafür, dass Sie wieder wegtauchen werden. Die Bundesregierung hat mit der Koalitionsvereinbarung der sie tragenden Parteien zur Umweltpolitik die Chance vertan, die Wei168 chen für eine wirklich nachhaltige Umweltpolitik in Deutschland zu stellen. Das, was Sie sich in der Koalitionsvereinbarung umweltpolitisch vorgenommen haben, lässt leider keine klare Handschrift erkennen, hat leider große Textlücken und wird den Umweltschutz in Deutschland leider nicht voranbringen. Vielen Dank. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist mir leider nicht vergönnt, all das abzuräumen, was uns in langen Redezeiten aufgetischt wurde, vor allem das, was Sie, Herr Paziorek, gesagt haben. Ich kann also nur das eine oder andere aufgreifen. ({0}) Ich hatte mir für heute vorgenommen, zu Beginn einer neuen Legislaturperiode mir selber, der Regierung, den Koalitionsfraktionen, aber auch der Opposition einige grundsätzliche und auch kritische Fragen zur Orientierung in der Politik zu stellen. Für mich stellen sich folgende Fragen: Erstens. Haben wir auf die wirklich großen Herausforderungen, auf die globalen Herausforderungen mit unseren Politikansätzen die richtige Antwort? Zweitens. Wie schaffen wir es, das allgemeine Konzept der Nachhaltigkeit und des integrierten ökologischen Ansatzes konkret zu machen? Drittens. Schaffen wir es, eine mehr bürgerfreundliche und bürgerbeteiligungsorientierte Umweltpolitik zu machen? Viertens. Ist unser Ansatz strategisch geradlinig oder widersprüchlich? Ich sage dies bewusst nicht nur als Herausforderung an die Regierung, sondern diese Fragen muss sich auch die Opposition stellen. Man kann hier nicht nur von der Regierung einen klaren Kurs fordern. Man muss diese Maßstäbe dann auch bei sich selber anlegen und seinen Standpunkt einhalten. Einerseits wirft man uns vor, wir wären nicht radikal genug, und andererseits sagt man zu unseren Vorschlägen zur Reduktion des CO2-Verbrauchs, sie seien viel zu radikal und würden die Wirtschaft und bestimmte Gruppen schädigen Diese Widersprüchlichkeit halten Sie konsequent durch. Ich finde, diese paradoxe Logik ist nur schwer erträglich. ({1}) Sie haben - jetzt werde ich konkret - die große Herausforderung Klimaschutz genannt. Das haben Sie zu Recht als wichtiges Thema angesprochen. Wir haben es im Koalitionsvertrag ganz vornean gestellt. In diesem Bereich haben wir sehr konkrete Vorschläge gemacht. Sie haben Recht, nicht in allen Punkten ist der Koalitionsvertrag konkret. Aber in manchen Punkten ist er sehr konkret: Im Hinblick auf Energiepolitik und Klimaschutz haben wir klare Ziele und Vorschläge. Das ist weit konkreter als das, was Sie von der Opposition in den letzten vier Jahren produziert haben. ({2}) Sie müssen einmal zur Kenntnis nehmen - auch die große Volkspartei FDP muss dies tun -: Sie sind immer sehr großzügig mit Kritik. Aber wenn man Sie nach Ihren konkreten Plänen und Gegenkonzepten fragt, dann werden Sie sehr allgemein. ({3}) Sie jammern zum Beispiel, indem Sie sagen, wir würden jetzt von dem CO2-Minderungsziel von minus 25 Prozent Abstriche machen. Aber bitte schön, wo sind denn Ihre Vorschläge? Warum sagen Sie nicht, dass Sie ein konkretes Konzept haben? Fehlanzeige! Wo sind Ihre langfristigen Orientierungen? Wir haben uns zu dem ambitionierten Ziel von minus 40 Prozent und auf EU-Niveau von minus 30 Prozent durchgerungen. Das ist ein wirklich ambitioniertes Ziel angesichts der EU-Erweiterung. ({4}) Sie sind jetzt aufgefordert, einmal zu sagen, wie man dahinkommt. ({5}) Sie dürfen nicht nur jammern, wir hätten keine präzisen Ziele. Sie selber haben nämlich keine. ({6}) Im Übrigen haben Sie den Vertrag nicht genau gelesen. Es wird ausdrücklich das Klimaschutzprogramm aus dem Jahre 2000 betont, in dem das 25-Prozent-Ziel steht. Frau Homburger und Herr Lippold haben davon gesprochen, der Kanzler habe nicht viel zur Ökologie und zur Nachhaltigkeit gesagt. ({7}) Das stimmt übrigens nicht. Haben Sie einmal registriert, wie viel Frau Merkel zu dem Thema gesagt hat? Einen Satz. Da würde ich an Ihrer Stelle den Mund nicht so voll nehmen. ({8}) Kommen wir zum Thema Hochwasser. Sie haben es auch angesprochen. Wir setzen dieses Regierungsprogramm mit den Ländern und mit den Kommunen um. Das wird uns viel Arbeit kosten. Dazu müssen wir harte Ziele formulieren und schwierige Wege gehen, etwa wenn man Gewerbegebiete in Talauen nicht mehr realisieren möchte. Da werden wir auf allen Ebenen gemeinsam kämpfen müssen. Das ist ein Feld, auf dem wir uns klar zu einem konkreten Konzept bekannt haben und nicht nur allgemein herumschwadroniert haben. Sie haben zu Recht den Bodenschutz angesprochen. Die Senkung des Boden- und Flächenverbrauchs ist ein wichtiges Ziel. Das stand schon im letzten Koalitionsvertrag. Das ist übrigens ein schwieriges Ziel. Wer ist der Erste, der sagt, es gehe nicht? Stichwort Eigenheimzulage. Das waren Sie! Unser Vorschlag ist ökologisch begründet, weil es nicht klug ist, dass man Eigenheime auf der grünen Wiese mehr fördert als die Sanierung von Eigenheimen in der Stadt. Wir setzen das gleich. Schon kommt wieder das Argument: Aber das schadet dem Häuslebau. Wenn man ökologisch argumentiert und wenn man in diesem Bereich wirklich etwas erreichen möchte, dann muss man diesen Weg auch beschreiten. ({9}) Sie haben uns vorgeworfen, wir hätten im Bereich Lärmschutz nichts getan. Sie haben Recht, wir sind mit diesem Versuch gescheitert. Wir haben dieses Thema aber wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Aber seien Sie einmal ehrlich: Das Fluglärmgesetz wird alle Länder betreffen. Da wird man nur erfolgreich sein, wenn auch Sie und Ihre Länderregierungen mitmachen. Da können Sie nicht einfach sagen: Nichts erreicht. Da muss man Sie schon fragen: Was haben Sie unternommen und was werden Sie unternehmen, um ein Fluglärmgesetz hinzubekommen? Auch das ist eine große Herausforderung, der wir uns stellen. Der Präsident zeigt mir an, dass ich zum Schluss kommen muss. Ich kann leider viele Punkte nicht mehr abarbeiten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Sie sind der letzte Redner und Sie haben noch so viele Zettel.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich überblättere daher viele Seiten und fasse zusammen. Man kann von einem Koalitionsvertrag nicht erwarten, dass er ganz detailliert alles abarbeitet. Er kann nur einen Rahmen abstecken. Das leistet er. Das Ziel ist nachhaltige Entwicklung und Gerechtigkeit. Ökologische Prinzipien haben sich im ganzen Koalitionsvertrag durchgesetzt. Der Koalitionsvertrag enthält ein Leitbild für die Umweltpolitik und für die Politik insgesamt. Insofern könnte man auch sagen: Das Konzept ist zukunftsorientiert. Wenn Sie, Herr Präsident, gestatten, zum Schluss noch ein nettes Zitat aus der hohen Literatur, nämlich von Victor Hugo: Die Zukunft hat viele Namen. Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare. Für die Furchtsamen ist sie das Unbekannte. Für die Tapferen ist sie die Chance. Lassen Sie uns die Chance nutzen! ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das war doch ein schönes Wort zur Nacht. Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestags auf morgen, Mittwoch, den 30. Oktober, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.