Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den einzigen Punkt der Tagesordnung auf:
Regierungserklärung des Bundeskanzlers
mit anschließender Aussprache
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
heutige Aussprache nach der Regierungserklärung neun
Stunden, morgen ebenfalls neun Stunden und am Donnerstag drei Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland,
Gerhard Schröder.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen haben am 22. September von den Wählerinnen und Wählern
den Auftrag zur weiteren sozialen und ökologischen Erneuerung unseres Landes erhalten.
({0})
- Das mag Ihnen komisch vorkommen; aber es war so.
({1})
Ich habe schon gelegentlich feststellen müssen, dass Sie
das vielleicht ein bisschen anders erwartet hatten. Aber
nehmen Sie zur Kenntnis: Sie saßen auf der Oppositionsseite, Sie sitzen da und Sie werden da sitzen bleiben.
({2})
Wir haben den Auftrag, Gemeinsinn und Verantwortungsbereitschaft zu stärken, Solidität, aber auch Solidarität zu organisieren und diesen Auftrag werden wir erfüllen. Die Menschen in Deutschland wissen, dass wir in
wirtschaftlich schwierigen Zeiten leben. Sie wissen um
die Gefahren durch den internationalen Terrorismus; sie
wissen um die Gefahren durch regionale Konflikte - alles
Gefahren, die unsere innere Sicherheit, aber auch unseren
wirtschaftlichen Wohlstand bedrohen; sie wissen, dass
uns der veränderte Altersaufbau unserer Bevölkerung und
der Wandel im Erwerbsleben zu weit reichenden Veränderungen bei den Systemen der sozialen Sicherung, zu Sparsamkeit, zu höherer Effizienz und zu größerer Gerechtigkeit zwingen.
Aber die Menschen in Deutschland haben sich ausdrücklich nicht dafür entschieden, den Sozialstaat abzuschaffen, wahllos Leistungen zu kürzen
({3})
oder gar die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zurückzudrehen.
({4})
Sie haben der neuen Regierung eben nicht den Auftrag erteilt, die Interessen von Gruppen und Verbänden über das
Gemeinwohl zu stellen.
({5})
Wir wissen um den Wählerauftrag und deshalb übernehmen wir Verantwortung für das Ganze.
({6})
Die Entwicklung der internationalen Finanz- und
Aktienmärkte, die Zurückhaltung von Konsumenten und
Investoren in allen großen Volkswirtschaften, eine anhaltende Unsicherheit auf den Rohstoff- und Energiemärkten
durch die explosive Lage im Nahen Osten, das alles gibt
wenig Anlass zu der Hoffnung auf eine kurzfristige Besserung der Weltwirtschaft. Deshalb kommt es für uns darauf an, im Inland die Kräfte für Wachstum und Erneuerung zu stärken.
Dabei stehen die klassischen Instrumente, um den
Konsum und die Investitionstätigkeit durch Subventionen, durch Finanzspritzen zu stimulieren, nicht mehr zur
Verfügung; denn diese Instrumente können in einer Zeit
der fortschreitenden wirtschaftlichen Verflechtung keine
Wirkung entfalten.
Die bereits beschlossene nächste Stufe der Steuerreform, die wir zur Beseitigung der nicht vorhersehbaren
Flutschäden um ein Jahr verschieben mussten, tritt mit
ihren bedeutenden Entlastungseffekten im Jahr 2004 in
Kraft. Weitere Entlastungen werden folgen. Sie sind für
2005 bereits beschlossen und werden die Wachstumskräfte in Deutschland stärken.
({7})
Gerade weil die Politik der abgestuften Steuersenkungen weiterverfolgt wird,
({8})
ist es nötig, einzelne Ausnahme- und Subventionstatbestände im Steuerrecht auf ihre Zweckmäßigkeit und auf
ihre Zielgenauigkeit hin zu überprüfen und gegebenenfalls auch abzuschaffen. Die in der Koalition vereinbarten
Einsparungen und Einschnitte sind in sich ausgewogen.
Sie dienen allein dem Ziel, neue Handlungsmöglichkeiten
für Zukunftsinvestitionen und damit für Wachstum und
Beschäftigung zu eröffnen.
({9})
Obenan stehen Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im
Bildungswesen. Wir müssen und wir werden die Qualität
von Bildung und Ausbildung deutlich verbessern und damit
die Lebenschancen insbesondere junger Menschen erhöhen.
({10})
Gegen vielfachen Widerstand werden wir die Familien
fördern und die Sozialsysteme reformieren,
({11})
ohne den Grundsatz der Solidarität preiszugeben.
({12})
Wir setzen einen Schwerpunkt öffentlicher Investitionen bei der Wiederherstellung und der weiteren Modernisierung der Infrastruktur in den neuen Bundesländern.
Damit stärken wir die innovativen Kräfte in der Wirtschaft, und zwar ganz gleich ob in kleinen, mittleren oder
großen Unternehmen.
({13})
Es geht uns darum, unsere Spitzenposition in der Forschung und bei der Anwendung neuer Technologien sowie bei der ökologischen Modernisierung zu halten und
sie, wo immer es geht, auszubauen.
({14})
Meine Damen und Herren, zur weiteren Konsolidierung der öffentlichen Haushalte gibt es keine vernünftige
Alternative. Wir brauchen Zukunftsinvestitionen statt Zinszahlungen. Wir dürfen heute also nicht das konsumieren,
was wir unseren Kindern und Enkeln als Zukunftschancen eröffnen wollen.
({15})
Wir brauchen und wir werden Spielräume im Etat schaffen, um Vorsorge für unsere Volkswirtschaft treffen zu
können, und werden bei Bedarf gezielt gegensteuern. Die
Bundesregierung hält an dem Ziel fest, bis 2006 einen
ausgeglichen Bundeshaushalt zu erreichen.
({16})
Dabei muss klar sein: Der Stabilitätspakt selbst steht
nicht zur Diskussion. Was wir aber brauchen, ist seine
konjunkturgerechte Ausgestaltung.
({17})
Gerade in der gegenwärtigen Situation muss es möglich
sein, die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen.
Erforderlich ist also mehr Flexibilität, um in konjunkturell schwierigen Zeiten gegensteuern zu können.
({18})
Angesichts der schwierigen weltwirtschaftlichen Lage,
die natürlich unmittelbare Auswirkungen auf die Konjunktur und das Wachstum in Deutschland hat, müssen
wir eines erkennen: Es ist jetzt nicht die Zeit, neue Forderungen zu stellen, ohne zu neuen Leistungen bereit zu
sein. Wer nur seine Ansprüche pflegt, der hat wirklich
noch nicht verstanden, worum es geht.
({19})
Wer soliden Wohlstand, nachhaltige Entwicklung und
neue Gerechtigkeit will, der wird Verständnis dafür aufbringen, dass man bei bestimmten staatlichen Leistungen
auch kürzer treten muss und dass auf das erreichte
Leistungsniveau des Staates und der Sozialversicherungen nicht fortwährend draufgesattelt werden kann.
({20})
Zur Reform und Erneuerung gehört auch, manche Ansprüche, Regelungen und Zuwendungen des deutschen
Wohlfahrtsstaates zur Disposition zu stellen. Manches,
was auf die Anfänge des Sozialstaates in der BismarckZeit zurückgeht und vielleicht noch vor 30, 40 oder
50 Jahren selbstverständlich und berechtigt gewesen sein
mag, hat heute seine Dringlichkeit und damit seine Berechtigung verloren.
Diese Bundesregierung, diese Koalition hat eine gelungene Mischung aus mehr wachstumsfördernden Investitionen des Staates,
({21})
intelligentem Sparen, mehr Steuerehrlichkeit und mehr
Steuergerechtigkeit vereinbart.
({22})
Wer in einer labilen konjunkturellen Situation noch
höhere Einsparungen des Staates fordert, der nimmt in
Kauf, dass die berechtigten Anliegen der Bürgerinnen und
Bürger Schaden nehmen.
({23})
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich
kann ja verstehen, dass Sie wegen der verlorenen Wahl
immer noch ein wenig sauer sind.
({24})
Wenn man in Ihre Gesichter schaut, merkt man es Ihnen
an. Ich kann das gut nachvollziehen. Sie alle haben sich
schon auf der Regierungsbank sitzen sehen und nun ist es
wieder nichts geworden. Wenn Sie so weitermachen, wird
es auch so bleiben; seien Sie sich dessen ganz sicher.
({25})
Wie man hört, sind Sie auf dem besten Wege, so weiterzumachen.
({26})
Zu der Politik, die wir vereinbart haben, gibt es keine
vernünftige, jedenfalls keine verantwortbare Alternative.
({27})
Ich sage es noch einmal: Wer in einer labilen konjunkturellen Situation noch höhere Einsparungen des Staates
fordert, der nimmt in Kauf, dass die berechtigten Anliegen der Bürgerinnen und Bürger ernsthaft Schaden nehmen. Theoretisch gibt es eine Alternative: Wir hätten, wie
es ja gelegentlich vorgeschlagen worden ist, über die beschlossenen und notwendigen Einsparungen - etwa bei
den konsumtiven Ausgaben und bei den Subventionen hinaus in allen Ressorts einen gleich hohen Prozentsatz
der Leistungen ersatzlos streichen können. Das wäre aber
das Gegenteil von sozialer Gerechtigkeit gewesen.
Wir brauchen vor allem Investitionen in Zukunftschancen; das werden wir organisieren. Wir wollen deshalb keinen Staat, der verarmt und damit handlungsunfähig wird.
({28})
Es bleibt dabei - das ist unsere gemeinsame Überzeugung -:
Einen solchen Nachtwächterstaat kann sich nur eine kleine
Minderheit von Mächtigen und Privilegierten leisten. Die
Mehrheit in unserem Land kann und will das nicht.
({29})
Die Mehrheit in unserem Land hat Anspruch auf einen
Staat, der Gemeinwohl befördert, Chancen eröffnet und
Gerechtigkeit organisiert. Gerechtigkeit ist nach unserer
Auffassung viel mehr als die Forderung, dass alle Opfer
bringen müssen. Mehr als auf die Verteilung knapper werdender öffentlicher Mittel kommt es heute auf die Verteilung von Chancen in unserer Gesellschaft an. Unsere politische Generation steht vor der historischen Aufgabe,
Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung zu definieren und sie politisch zu organisieren. Das ist der Grund,
warum wir die Menschen in Deutschland, auch diejenigen,
die in diesem Hause auf welcher Seite auch immer Politik
machen, zu einer Verantwortungspartnerschaft aufrufen.
({30})
Gemeinsam können wir die gewiss großen, aktuellen
Schwierigkeiten überwinden und weit über diese Legislaturperiode hinaus die Kräfte und das Können unseres Landes für ein in jeder Hinsicht reicheres Leben der heutigen
und der künftigen Generationen mobilisieren.
({31})
Vordringliche Aufgabe in der beginnenden Legislaturperiode ist nach unserer festen Überzeugung die Reform
der Arbeitsmärkte. Wir haben in Deutschland nicht nur
eine zu hohe Arbeitslosigkeit; wir haben auch zu viele
Überstunden, zu viel Schwarzarbeit und zu viele offene,
also nicht besetzte Stellen.
Mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission ist es gelungen, nach mehr als 30 Jahren fortwährender Diskussionen um Reformen auf dem Arbeitsmarkt ein schlüssiges Gesamtkonzept vorzulegen.
({32})
Diese Vorschläge, die wir ohne Abstriche umsetzen, werden die größte Arbeitsmarktreform seit Bestehen der Bundesrepublik bewirken. Ich denke, wir alle sollten die Gelegenheit nutzen, um Herrn Hartz und den Mitgliedern der
Kommission für ihre Arbeit zu danken, und darangehen,
die Ergebnisse umzusetzen.
({33})
Was wir mit dieser Reform erreichen werden, ist eben
nicht nur eine schnellere und effizientere Vermittlung von
Arbeitslosen in offene Stellen. Nein, wir eröffnen darüber
hinaus neue Beschäftigungsmöglichkeiten, vor allen Dingen in den Dienstleistungsberufen. Wir schaffen auch bei
geringem Eigenkapital neue Chancen auf Selbstständigkeit und Existenzgründung. Wir sorgen für neue Flexibilität durch die Einrichtung von Personal-Service-Agenturen und geben den Menschen die Chance, sich auf Zeit
beruflich zu bewähren. Vor allem Langzeitarbeitslose erhalten endlich wieder Gelegenheit, auf diese Weise in
Beschäftigung zu kommen.
({34})
Wir machen mit dieser Reform gerade bei den Dienstleistungen legale Arbeit attraktiv und verringern so die
Versuchung, Arbeitskraft illegal anzubieten. Damit keine
Missverständnisse aufkommen: Schwarzarbeit ist nach
unserer Auffassung kein Kavaliersdelikt, sondern ein
Missbrauch unserer Sozialsysteme. Diesen Missbrauch
müssen wir mit aller Konsequenz bekämpfen.
({35})
Bei allem geht es mit dieser Reform nicht um eine
falsch verstandene Öffnung der Arbeitsmärkte durch bedenkenlose Beschneidung von Arbeitnehmerrechten. Uns
geht es um die Eröffnung neuer Möglichkeiten. Die Vorschläge der Hartz-Kommission und die Beschlüsse der
Bundesregierung, die dort erarbeiteten Ergebnisse unverwässert umzusetzen, demonstrieren auch etwas, das weit
über die dringlichen Reformen auf dem Arbeitsmarkt hinausweist: Hier ist gezeigt worden, dass auch in vermachteten, teilweise verkrusteten Strukturen die nötigen Veränderungen möglich und politisch machbar sind, jedenfalls
dann, wenn alle Beteiligten ihre Kraft zur gemeinsamen
Verantwortung in die Waagschale werfen.
({36})
Aus diesem großen Reformprojekt können wir eine
zentrale Botschaft herauslesen, die auch die Maxime in
den vor uns liegenden Regierungsjahren sein wird und
- das füge ich hinzu - sein muss: Es geht nicht darum,
immer nur zu fragen, was nicht geht. Es geht vielmehr darum, zu fragen, was jede und jeder Einzelne von uns dazu
beitragen kann, dass es geht.
({37})
Die Bundesregierung tritt ihr neues Mandat mit dem
festen Willen an, unser Land weiter zu erneuern. Innovationen, wie wir sie uns vorgenommen haben, brauchen gewiss Geduld und gelegentlich einen langen Atem. Auch
wenn der Weg der Reformen mitunter beschwerlich ist wir werden nicht nachlassen.
In der Koalitionsvereinbarung sind für viele Bereiche
wichtige Schritte benannt. Gelegentlich sind es erst bescheidene Schritte. Ich meine aber, in allen Punkten ist
festzustellen, dass die Richtung stimmt.
Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode die
Voraussetzungen für eine Politik der Gerechtigkeit, der
Erneuerung und der Nachhaltigkeit geschaffen. In den
nächsten vier Jahren werden wir diese Politik weiterhin
konsequent in die Wirklichkeit des Alltags umsetzen.
Denn das ist der Maßstab unserer Politik: Sie hat sich im
Alltag der Menschen zu bewähren.
({38})
Vieles von dem, was wir bereits begonnen haben oder
womit wir jetzt beginnen, weist über die nächsten vier
Jahre hinaus. Manches bei den Veränderungen an den Sozialsystemen, an der Finanzstruktur und bei der Entfaltung neuer Wirtschaftskraft wird erst nach einiger Zeit
vollends zur Wirkung kommen. Unsere große Chance ist
es, die Gestaltung des gesamten Jahrzehnts in Angriff zu
nehmen und damit die Frage zu beantworten, wie im Zeitalter der Globalisierung und strukturellen Veränderungen
des Wirtschaftens und des Arbeitens Gerechtigkeit hergestellt bzw. gesichert werden kann. Deshalb begreifen wir
es als unsere vordringliche Aufgabe, Deutschland zu einem wirklich kinderfreundlichen Land zu machen,
({39})
und zwar zu einem Land, in dem Kinder so gut betreut
werden, dass sie beim Spielen lernen können und beim
Lernen das Spielen nicht vergessen müssen.
({40})
Meine Damen und Herren, wir werden erreichen, dass
Frauen wirkliche Wahlfreiheit zwischen Familie und
Beruf haben.
({41})
Wir werden erreichen, dass das Großziehen von Kindern
eben nicht als Last oder gar als Risiko empfunden wird.
Wir werden die Bedingungen dafür schaffen, dass Kindererziehung als selbstverständlicher und glücklicher Abschnitt eines erfüllten Lebens erfahren werden kann.
({42})
Wir wollen also ein Land sein, das seinen Kindern alle
Möglichkeiten einräumt, in einer sicheren Umwelt mit gesunden und bezahlbaren Lebensmitteln aufzuwachsen,
und das allen eine erstklassige Bildung und Ausbildung
garantiert.
({43})
Allein dafür stellen wir in den nächsten vier Jahren 4 Milliarden Euro für die Einrichtung von 10 000 neuen Ganztagsschulen zur Verfügung.
({44})
Damit wollen wir mithelfen, dass Deutschland in zehn
Jahren wieder zu den führenden Bildungsnationen zählt.
Genauso wenig, wie der Zugang zu erstklassigen Bildungsangeboten vom Geldbeutel der Eltern abhängen
darf, dürfen Bildungschancen vom Wohnort bestimmt
sein.
({45})
Wir werden daher gemeinsam mit den Ländern einen Kern
von nationalen Bildungs- und Leistungsstandards erarbeiten. Den Schulen schließlich müssen wir mehr Autonomie
gewähren und sie zu mehr Wettbewerb und Eigenverantwortlichkeit herausfordern.
({46})
Für Kinder bis zum Alter von drei Jahren werden wir
eine gesetzliche Betreuungsquote von 20 Prozent errei54
chen. Dies finanzieren wir über die Entlastung der Kommunen durch die Reformen am Arbeitsmarkt.
({47})
Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Gerechtigkeit und
Zukunftsinvestitionen erreicht werden können, wenn unsere Politik ganzheitlich auf diese Ziele ausgerichtet wird.
({48})
Wir werden unsere rechtsstaatliche Demokratie stärken und weiter ausbauen. Die demokratische Teilhabe
werden wir entwickeln und fördern. Deshalb halten wir an
unserem Ziel fest, Volksinitiative, Volksbegehren und
Volksentscheid auf Bundesebene einzuführen.
({49})
Wir setzen auf eine umfassende Politik der Integration
gegen jede Ausgrenzung sozialer, ethnischer, religiöser
oder kultureller Gruppen und Minderheiten.
({50})
Dabei verstehen wir unter Integration weder die zwanghafte Angleichung noch die Akzeptanz von Parallelgesellschaften. Integration heißt für uns vollkommene Teilhabe an den Chancen, aber natürlich auch an den Pflichten
unseres Gemeinwesens. Eine gesteuerte Zuwanderung
wird die Zukunftschancen aller Menschen in Deutschland
erhöhen und denjenigen, die zu uns kommen, weil sie zu
uns kommen dürfen, eine sichere Lebensperspektive bieten. Dazu gehört das Angebot, aber auch die Verpflichtung
zur Integration.
({51})
Von entscheidender Bedeutung ist dabei auch die nachholende Integration der Ausländerinnen und Ausländer,
die bei uns leben. Zugleich werden wir die Ausreisepflicht
für die Nichtbleibeberechtigten konsequent durchsetzen.
({52})
Wir werden mit einer umfassenden Integrationspolitik
nicht zuletzt die Versäumnisse früherer Jahrzehnte korrigieren.
({53})
Unser Ziel ist, ein Land zu schaffen, in dem der
Mensch wirklich im Mittelpunkt aller gesellschaftlichen
und politischen Entscheidungen steht. Das ist auch ein
Grund dafür, dass wir den Verbraucherschutz über die
Lebensmittelsicherheit hinaus stärken und eine moderne
Familienpolitik fortsetzen, damit die Menschen leben
können, wie sie leben wollen, anstatt sich vorschreiben zu
lassen, wie sie leben sollen.
Vergessen wir aber auch nicht: Mehr Wachstum und
mehr Produktion bedeuten nicht automatisch mehr Freiheit für den Einzelnen. Für uns ist Lebensqualität mehr
als Lebensstandard, mehr als Konsum oder Einkommensniveau. Lebensqualität umfasst die ganze Vielfalt des Lebens der Menschen in unserem Land, hat also sehr viel mit
Freiheit zu tun, und zwar Freiheit von Angst und Not. Das
heißt aber auch Freiheit zur Verwirklichung ganz persönlicher Lebensentwürfe. Dies ist deswegen so, weil wir Freiheit eben nicht auf Gewerbefreiheit reduzieren.
({54})
Freiheit heißt für uns, dass jede und jeder Einzelne die
Chance auf ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben hat.
Wir wollen ein Land sein, das seine Spitzenstellung im
Umwelt- und Klimaschutz sowie in Forschung und Technologie behauptet und weiter ausbaut.
({55})
Wir schaffen auf diese Weise einen neuen Zusammenhalt,
der auf Freiheit, auf Selbstbestimmung und auf Nachbarschaft gründet. Wir wollen einen neuen Gemeinsinn und
einen Staat, der öffentliche Güter wie Gesundheit, Sicherheit und Mobilität bereitstellt, ohne in das private Leben
der Menschen hineinzuregieren. Deshalb brauchen wir
nicht einfach weniger oder mehr Staat, sondern vor allem
einen effizienten, an den Interessen und Bedürfnissen der
Bürgerinnen und Bürger orientierten Staat, der in der
Wirtschafts- und in der Gesellschaftspolitik wichtige und
vor allem richtige Impulse gibt.
({56})
Um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, aber
auch der Unternehmen in die Zukunft unseres Landes zu
stärken sowie die Binnennachfrage und die Investitionen
anzukurbeln, brauchen wir eine Wirtschafts- und eine Arbeitsmarktpolitik aus einem Guss. Diese Politik steht auf
fünf Säulen: strategische Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur für die Familien und zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie für die
ökologische Erneuerung unseres Landes, Fortsetzung der
Haushaltskonsolidierung und Einsparungen bei den konsumtiven Staatsausgaben und den Subventionen, nachhaltige Entlastung der Menschen von Steuern und Abgaben,
({57})
Strukturreformen am Arbeitsmarkt, bei Rente und Gesundheit, um die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfähig zu machen und, wo immer es geht, die Lohnnebenkosten zu senken,
({58})
und Abbau unnötiger Bürokratie.
Deutschland ist ein Land mit einem großartigen wirtschaftlichen Potenzial und enormen eigenen Wachstumskräften. Unsere Position auf den Weltmärkten im Export,
das Qualifikationsniveau unserer Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die Vielzahl der bei uns entwickelten Verfahren und Patente und die gute Infrastruktur sind Stärken,
die wir weiterentwickeln müssen und werden, um auch in
Zeiten ungünstiger Weltkonjunktur bestehen zu können.
Wir wollen eine neue Kultur der Selbstständigkeit und
einen neuen Aufschwung bei den Existenz- und Unternehmensgründungen.
({59})
Dazu bündeln wir die Mittelstandsförderung. Wer sich
aus der Arbeitslosigkeit heraus selbstständig machen will
und kann, den werden wir dabei unterstützen.
({60})
In den ostdeutschen Bundesländern werden wir in den
Inno-Regio-Prozess durch weiterentwickelte Fördermaßnahmen zur Gründung neuer Unternehmen eingreifen und
ihn ergänzen. Wir werden die Entwicklung eines neuen
Mittelstandes im Dienstleistungssektor fördern und die
Existenzbedingungen kleiner Dienstleistungsbetriebe
systematisch verbessern.
Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan werden wir
Aufbau Ost und Ausbau West gleichermaßen voranbringen. Wir werden die Planung von Bauvorhaben vereinfachen und auf diese Weise Investitionen beschleunigen.
Auf der Grundlage des Solidarpakts II, der bis ins Jahr 2019
Planungssicherheit gewährt, werden wir die Wirtschaftsentwicklung in den ostdeutschen Bundesländern vorantreiben. Ostdeutschland muss besser in die überregionale und
internationale Arbeitsteilung eingebunden werden.
({61})
Besonderes Augenmerk legen wir dabei auch auf die Förderung von Direktinvestitionen in den ostdeutschen Ländern und Regionen.
({62})
Es bedarf nicht erst jener grausamen terroristischen
Bedrohung, deren Aktualität uns auch in diesen Tagen
ständig vor Augen geführt wird, um zu erkennen: Sicherheit ist in unserer einen Welt längst nicht mehr mit nationalen Maßnahmen allein, sondern nur durch internationale Zusammenarbeit zu gewährleisten.
({63})
Aber auch im nationalen Maßstab, in unserer eigenen Gesellschaft, ist Sicherheit eben nicht allein Sache von Polizei, Justiz oder Militär. Die Bundesregierung hat schon
frühzeitig national und international einen erweiterten Sicherheitsbegriff definiert und dafür geworben. Dazu gehört die Sicherheit von Leib und Leben vor Krieg und Kriminalität, keine Frage, aber eben auch die materielle,
soziale und kulturelle Sicherheit, eben zur Vergewisserung der eigenen Identität, und nicht zuletzt die Sicherheit
des Rechts und die Absicherung gegen Krankheit und andere Lebensrisiken.
({64})
Wir sind davon überzeugt: Erst eine Gesellschaft, die in
dieser Weise umfassend Sicherheit bereitstellen kann, ist
fähig zu guter Nachbarschaft und zu friedlicher Zusammenarbeit nach außen, aber eben auch zu den notwendigen Veränderungsmaßnahmen nach innen.
Die demographische Entwicklung unserer Bevölkerung etwa kann nicht ohne Auswirkung auf die Struktur
unserer Systeme der sozialen Sicherung bleiben. Medizinischer Fortschritt und gestiegene Lebensqualität haben
unsere Gesellschaft erfreulich verändert, die Lebenserwartungen der Menschen verlängert und immer mehr
Krankheiten therapierbar gemacht. Doch wenn ein immer
kleinerer Teil der Gesellschaft die Beiträge für die Kassen
aufbringen muss, deren Leistungen im Gesundheitswesen und bei der Altersversorgung von einem immer
größeren Teil in Anspruch genommen werden, dann bedroht das auf Dauer die Funktionsfähigkeit der Solidargemeinschaft.
({65})
Die Bundesregierung setzt alles daran, das hohe Niveau der medizinischen Versorgung, das es in unserem
Land Gott sei Dank gibt, zu sichern und - das ist das Entscheidende - für jede und für jeden zugänglich zu halten.
({66})
Wir werden dieses leistungsfähige Gesundheitswesen
dann und nur dann auch für das Wohlergehen aller Menschen nutzen können, wenn wir die Strukturen verändern,
die Systeme öffnen und in hohem Maße vorhandene Effizienzreserven auch wirklich nutzen.
Wir wollen keine Zweiklassenmedizin und mit uns
wird es sie nicht geben.
({67})
Was wir aber brauchen und was wir schaffen werden, sind
mehr Verantwortung und mehr Wettbewerb im System,
eine Stärkung der Prävention und mehr Zusammenarbeit
zwischen Kassen, Patienten, Ärzten, Krankenhäusern und
Gesundheitszentren.
({68})
Die Rolle der Patienten werden wir durch mehr Rechte
und verbesserte Schutzvorkehrungen stärken. Wir wollen
mündige Patienten, die aktiv an der Vorsorge und der
Pflege ihrer Gesundheit teilnehmen.
In der Rentenpolitik haben wir mit der zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge begonnen, das Sicherungssystem wirklich zukunftstauglich zu machen. Den
Weg zu mehr Eigenverantwortung und mehr Wettbewerb,
den wir mit der Errichtung der zweiten Säule in der Altersvorsorge eingeschlagen haben, werden wir fortsetzen,
um so auf Dauer die Renten sicherer zu machen und die
Beiträge bezahlbar zu halten.
({69})
Sowohl die Gesundheits- als auch die Altersversorgung werden wir nach dem Muster reformieren, mit dem
wir in der Hartz-Kommission Blockaden beseitigt und
neue Wege eröffnet haben. Im Gesundheitswesen erwarten wir von allen Beteiligten die unbedingte Orientierung
an den gemeinsamen Zielen: der Bereitstellung des medizinisch Notwendigen, dem effizienten Einsatz der Mittel
und der Entlastung bei den Arbeitskosten. Dabei folgen
wir dem Grundsatz: „Soziale Sicherheit durch Solidarität
und Verantwortung“ heißt auch in diesen Bereichen: fördern, aber die Betroffenen auch fordern.
Neben der sozialen Sicherheit ist die innere Sicherheit
ein wesentliches Fundament unserer Gesellschaft und
eine wesentliche Bedingung unserer Freiheit. Wir haben
deshalb stets betont, dass es keinen Widerspruch zwischen Sicherheit auf der einen Seite und Bürgerrechten
auf der anderen Seite geben kann und geben darf.
({70})
Wir verstehen Sicherheit als ein elementares Bürgerrecht.
({71})
So verstandene Sicherheit ist nur durch das Zusammenspiel dreier Schlüsselelemente zu gewährleisten: einer effizienten, gut ausgerüsteten und bürgernahen Polizei, entwickeltem Bürgersinn und aktiver Zivilcourage
sowie einer unabhängigen Justiz in einem starken Rechtsstaat. Diesem Konzept bleibt die Bundesregierung verpflichtet.
Im Kampf gegen das organisierte Verbrechen werden
wir auf der Basis der europäischen Beschlüsse die Zusammenarbeit weiter verbessern. Im Strafprozess stärken
wir die Rechte der Verbrechensopfer. Die Strafvorschriften gegen sexuellen Missbrauch, insbesondere von Kindern, werden wir fortentwickeln.
Parallel dazu setzen wir die Reformen in der Gesellschaftspolitik fort. Die Gleichstellung und die gleiche
Berücksichtigung von Frauen und Männern setzen wir für
den Bereich der Bundesregierung als durchgängiges Leitprinzip durch.
({72})
Auf die völlig neue Bedrohungssituation nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 haben wir umfassend und schnell reagiert. Bis Mitte der Legislaturperiode
werden wir die Antiterrorgesetzgebung den Erfordernissen weiter anpassen. Moderne Methoden zur Identitätsfeststellung und zur Aufklärung von Straftaten werden wir weiterentwickeln und selbstverständlich nutzen.
Der erweiterte Sicherheitsbegriff ist auch Leitmotiv
der Bundesregierung in der Außen-, in der Sicherheitsund in der Entwicklungspolitik. Wir setzen die Politik der
guten Nachbarschaft fort und kommen unserer Verantwortung nach, die sich aus Deutschlands politischer und
geographischer Lage im Herzen Europas, aus der Partnerschaft im Altantischen Bündnis und aus der Wertegemeinschaft für Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und
Gerechtigkeit ergibt.
Die außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen lassen sich an zwei Daten anschaulich festmachen:
Durch den 9. November 1989 hat sich Deutschlands Rolle
in der Welt langfristig gewandelt und der 11. September 2001 hat die Sicherheit in der Welt insgesamt dramatisch verändert. Mir liegt daran, dass Folgendes immer
wieder deutlich wird: Deutschland ist heute mit fast
10 000 Soldatinnen und Soldaten nach den Vereinigten
Staaten von Amerika der größte Truppensteller, was internationale Einsätze angeht. Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus, der - was wir gerade in diesen Tagen wieder spüren - längst nicht gewonnen ist, wird uns
auch weiterhin ebenso substanzielles Engagement abfordern wie unsere langfristig eingegangenen Sicherheitsund Aufbauverpflichtungen, etwa auf dem Balkan, aber
auch in Afghanistan.
Gleichzeitig befindet sich die Bundeswehr im größten
Reformprozess ihrer Geschichte, der sie für ihre komplexen Aufgaben von heute und morgen tauglicher als in der
Vergangenheit machen soll. Die Bundesregierung - mir
liegt daran, das hier deutlich zu machen - dankt den Soldatinnen und Soldaten ausdrücklich für ihr großes professionelles Engagement unter diesen enormen Belastungen.
({73})
Völlig zu Recht genießen unsere Soldatinnen und Soldaten das große Vertrauen der Menschen, für die sie, ob in
Kabul, in Bosnien-Herzegowina oder in Mazedonien, im
Kosovo oder in Georgien, immer auch Hoffnung auf Frieden und auf Sicherheit verkörpern. Welch glückhafter
Wandel in der deutschen Geschichte!
({74})
Die Fortsetzung der Reform unserer Streitkräfte setzt
voraus, dass wir das Gesamtspektrum der Aufgaben der
Bundeswehr unter heutigen sicherheitspolitischen Bedingungen analysieren und bereit sind, die daraus notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Dies erfordert auch eine
umfassende Prüfung dessen, was wir unter diesen neuen
Bedingungen an materieller Ausrüstung und an Personal
wirklich benötigen. Bis Ende der Legislaturperiode werden wir überprüfen, ob über das beschlossene und ins
Werk Gesetzte hinaus weitere Strukturanpassungen oder
gar eine Änderung der Wehrverfassung nötig sind.
({75})
Auch wenn wir infolge unserer wiedererlangten staatlichen Einheit und der damit erlangten vollen Souveränität
wiederholt unsere nunmehr selbstverständliche Bereitschaft unter Beweis gestellt haben und stellen, gegebenenfalls unseren militärischen Beitrag für Frieden und
Sicherheit zu leisten, ist sich die Bundesregierung jedoch
bewusst: Sicherheit ist heute weniger denn je mit militärischen Mitteln, geschweige denn mit militärischen Mitteln
allein herzustellen.
({76})
Wer Sicherheit schaffen und aufrechterhalten will, der
muss - das ist klar - einerseits Gewalt entschieden bekämpfen, andererseits aber auch das Umfeld befrieden, in
dem Gewalt entsteht, und zwar durch präventive Konfliktregelung, durch Schaffung sozialer und ökologischer
Sicherheit, durch ökonomische Zusammenarbeit und
durch das Eintreten für Menschen- und auch für Minderheitenrechte.
({77})
Einer solchen präventiven und umfassend ansetzenden
Außen- und Sicherheitsrepublik bleibt die Bundesregierung verpflichtet.
Wir haben nicht erst durch die Attentate von New York,
Washington, Djerba, Bali und zuletzt Moskau schmerzlich erfahren müssen, dass die Modernisierungs- und Verflechtungsprozesse unserer heutigen Welt weder zwangsläufig friedlich verlaufen noch automatisch zu mehr
Freiheit und Demokratie führen. Umso größer ist unsere
Verpflichtung, den Prozess der Globalisierung nicht nur
anzunehmen, sondern ihn auch aktiv politisch zu gestalten.
({78})
Sicherheit setzt gerade bei beschleunigten, aber ungleichzeitigen Entwicklungen voraus, dass wir uns ständig
um Interessenausgleich und auch um eine gerechtere Verteilung der Globalisierungsgewinne bemühen. Wir werden unter den Bedingungen einer enger zusammengerückten Welt keine Sicherheit erreichen, wenn wir Unrecht,
Unterdrückung und Unterentwicklung weiter gären lassen.
({79})
Gegen die neue Gefahr einer privatisierten Gewalt von
Kriegsherren, Kriminellen und Terroristen setzen wir internationale Allianzen gegen Terrorismus und gegen Unfreiheit. Wir wollen die Stärkung von Gewaltmonopolen
durch starke, legitimierte internationale Organisationen,
allen voran die Vereinten Nationen.
({80})
Dies werden wir auch durch unsere Mitarbeit im Weltsicherheitsrat und den Vorsitz, den Deutschland dort turnusgemäß übernehmen wird, bekräftigen.
Die Bundesregierung tritt in ihrer internationalen Verantwortung dafür ein, dass mit der Globalisierung der
Märkte eine Globalisierung der Menschenrechte und der
sozialen Sicherheit einhergeht.
({81})
In diesem Sinne haben wir uns zuletzt auf dem Weltnachhaltigkeitsgipfel in Johannesburg
({82})
für konsequente Armutsbekämpfung, Öffnung der Weltmärkte sowie eine weltweite Anstrengung für Klimaschutz und ökologische Energienutzung engagiert.
({83})
Die Finanzierungsbasis für die Entwicklung haben wir
festgeschrieben; wir werden bis zum Jahr 2006 das Ziel
einer Quote von 0,33 Prozent für die Entwicklungsarbeit
umsetzen.
({84})
Deutschlands Platz bei der Durchsetzung universeller
Werte unter Wahrnehmung unserer internationalen Verantwortung bleibt durch die feste Verankerung in unseren
Bündnissen, unsere Rolle in der Europäischen Union und
unsere Freundschaft zu den Vereinigten Staaten von Amerika bestimmt.
({85})
Unsere transatlantischen Beziehungen, die auf der Solidarität freiheitlicher Demokratien und auf unserer tief
empfundenen Dankbarkeit für das Engagement der Vereinigten Staaten beim Sieg über die Nazibarbarei und bei
der Wiederherstellung von Freiheit und Demokratie beruhen, sind von strategischer Bedeutung und von prinzipiellem Rang.
({86})
Diese Beziehungen finden ihren Ausdruck in einer Vielzahl von politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und zivilgesellschaftlichen Kontakten und Freundschaften.
Dies schließt aber unterschiedliche Bewertungen in ökonomischen und politischen Fragen nicht aus.
({87})
Wo es sie gibt, werden sie sachlich und im Geiste freundschaftlicher Zusammenarbeit ausgetragen.
({88})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat immer deutlich gemacht, dass Deutschland die Prioritäten bei
der Bekämpfung des internationalen Terrorismus im fortgesetzten Engagement bei Enduring Freedom und in der Fortsetzung und Stärkung internationaler Koalitionen gegen den
Terror sieht. Wir wissen, dass gerade der Nahe und Mittlere Osten dringend Hoffnung auf greifbare Fortschritte in
Richtung eines dauerhaften und gerechten Friedens brauchen. In diesem Sinne hat sich die Bundesregierung intensiv für ein Ende der tödlichen Spirale von Terror und Gewalt
in Israel und in Palästina eingesetzt. Mit unseren europäischen und amerikanischen Partnern sind wir uns einig, dass
Frieden im Nahen Osten nur durch ein Ende der Gewalt und
die Ermöglichung eines Zusammenlebens von Israelis und
Palästinensern in zwei eigenständigen, anerkannten Staaten
mit sicheren Grenzen erreicht werden kann.
({89})
Eine solche Lösung muss auf dem Verhandlungsweg gefunden werden.
Um die Gefahr, die von Massenvernichtungswaffen
ausgeht, zu mindern, haben wir unsere technischen, personellen und sachlichen Mittel angeboten und werden die
Mission der VN-Waffeninspektoren im Irak mit allen
Kräften, die wir haben, unterstützen.
({90})
Die Region und die gesamte Welt brauchen genaue
Kenntnis über die Waffenpotenziale des Regimes im Irak.
Wir brauchen die Gewissheit, dass die dortigen Massenvernichtungswaffen vollständig abgerüstet werden.
({91})
Über den Weg zu diesem Ziel hat die Bundesregierung
frühzeitig ihre Auffassung und auch ihre Besorgnisse zum
Ausdruck gebracht.
Die zwischenzeitliche Entwicklung und die internationale Diskussion vor allen Dingen im Weltsicherheitsrat
zeigen, dass die Chance besteht, eine militärische Konfrontation am Golf doch noch zu vermeiden. Ich bekräftige
in diesem Zusammenhang unsere Haltung, dass wir auf
unbeschränktem Zugang der Waffeninspektoren zu den
Arsenalen Saddam Husseins beharren. Angesichts der bedrohlichen Lage im Nahen Osten und der Notwendigkeit,
den Kampf gegen den internationalen Terrorismus auf
möglichst breiter Grundlage zu führen und ihn dann zu gewinnen, setzt die Bundesregierung auf die Ausschöpfung
aller Möglichkeiten von internationalen Inspektionen.
Gegenüber dem Irak und anderen Gefahrenherden
müssen eine konsequente Politik der Abrüstung und internationale Kontrollen vorrangiges Ziel bleiben. Das ist
einer der Gründe, warum wir immer gesagt haben - das
gilt nach wie vor -, dass wir uns an einer militärischen Intervention im Irak nicht beteiligen werden.
({92})
Meine Damen und Herren, unsere Politik für Frieden,
Menschenrechte und Sicherheit ist und bleibt eine Politik
in Europa, für Europa und als Folge dessen auch von Europa aus. Wir setzen die Politik der freundschaftlichen
Partnerschaft mit Russland in gemeinsamer Verantwortung fort. Wir unterstreichen unsere Solidarität mit der
russischen Bevölkerung angesichts brutaler Terroranschläge wie zuletzt in Moskau. Gleichzeitig setzen wir auf
eine politische Lösung der Konflikte in Tschetschenien
und in der gesamten Kaukasusregion.
({93})
Dies ist auch zentrale Forderung der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, die zu stärken
und auszubauen unser Ziel ist.
Ende der vergangenen Woche ist es dem Europäischen
Rat in Brüssel gelungen, eine tragfähige Grundlage für die
Erweiterung der Europäischen Union zu schaffen. Damit kann das zentrale europäische Projekt am Anfang dieses Jahrhunderts, nämlich die endgültige Überwindung
der schmerzlichen Teilung Europas, erfolgreich abgeschlossen werden.
({94})
Wir haben gewusst, dass wir diese historische Chance nur
nutzen können, wenn sich die Mitgliedstaaten im Europa
der Fünfzehn vor dem Ende der Beitrittsverhandlungen,
also noch in diesem Jahr, auf ein belastbares finanzielles
Konzept vor allem bei der Agrarfinanzierung einigen. Mit
dem Brüsseler Kompromiss, vor allem auch durch die Zusammenarbeit mit unseren französischen Freunden, ist ein
Ergebnis erzielt worden, das den Erfordernissen der Begrenzung der Agrarkosten in der erweiterten Europäischen Union Rechnung trägt,
({95})
das die historische Tragweite der Entscheidung, um die es
geht, aber nie aus den Augen gelassen hat. Zusammen mit
unseren Partnern sind wir der gemeinsamen Verantwortung vor der europäischen Geschichte gerecht geworden
und haben die Grundlagen dafür gelegt, dass nun auch in
Europa zusammenwachsen kann, was zusammengehört.
({96})
Wir werden nunmehr beim europäischen Gipfel im Dezember in Kopenhagen die Beitrittsverhandlungen mit
zehn mittel- und osteuropäischen Ländern abschließen.
Dabei wissen wir: Gerade uns Deutschen bieten sich mit
der Vertiefung und der Erweiterung der Europäischen
Union großartige politische wie ökonomische Möglichkeiten.
Wir wissen: Die Geschichte der Einigung Europas ist
eine Erfolgsgeschichte. Der Prozess der wirtschaftlichen
Integration mit der Herstellung des größten Binnenmarkts
der Welt und der Einführung einer gemeinsamen
Währung hat nicht zuletzt dazu beigetragen, Nationalismen in Europa klein zu halten oder sie zu überwinden.
({97})
Aber, meine Damen und Herren, unser Europa zeichnet
sich durch mehr aus als durch wirtschaftliche Stärke, Leistungsfähigkeit, Erfindergeist und Arbeitsfleiß. Europa, das
ja nie geographisch, sondern immer politisch definiert
war, steht nach unserer Auffassung für eine ganz spezifische Kultur und auch Lebensform. In Europa, unserem
Europa, hat sich ein eigenes, auch einzigartiges Zivilisations- und Gesellschaftsmodell durchgesetzt, das auf dem
Gedanken der europäischen Aufklärung fußt und auf Teilhabe aller Menschen als Triebkraft für seine Entwicklung
setzt. Dieses Europa, das so mühevoll aus seiner blutigen
Vergangenheit zur freiheitlichen und friedlichen Gegenwart und Zukunft gefunden hat, ist eine echte Wertegemeinschaft geworden.
({98})
Das europäische Modell der Verbindung aus Eigeninitiative und Gemeinsinn, aus Individualität und Solidarität,
hat sich bewährt. Wir, die Deutschen, haben unseren Beitrag dazu geleistet. Es ist ein Modell, das sich auch in Zeiten der Globalisierung durchsetzen kann und ohne dass wir
es exportieren können oder wollen, auch vielen anderen
Entwicklungschancen bietet. Die Europäische Union ist
die Antwort der Völker auf Krieg und Zerstörung. Sie ist
unsere Antwort auf die Globalisierung und auch auf die
Herausforderung durch Instabilität und durch Terrorismus.
({99})
Allerdings hat sich in der vergangenen Zeit das eigentliche Problem in der Konstruktion der Europäischen
Union zunehmend bemerkbar gemacht. Ich meine vor allem die Zuordnung der Verantwortlichkeiten. Wir müssen
dafür Sorge tragen - das ist in dieser Legislaturperiode
möglich -, dass die Europäische Union auch mit 25 oder
gar mehr Mitgliedstaaten politisch führbar bleibt. Unser
Ziel ist eine starke und handlungsfähige, eine verständlich
organisierte und demokratisch legitimierte Europäische
Union, die sich durch Transparenz und Bürgernähe auszeichnet.
({100})
Dieses Ziel wollen wir bis zur Regierungskonferenz im
Jahr 2004 erreichen. Mit der in Nizza beschlossenen
Grundrechte-Charta liegt bereits ein wichtiges Element
für eine künftige europäische Verfassung vor. Was wir darüber hinaus zur Komplettierung der europäischen Verfassung benötigen, wird im Konvent unter Vorsitz von
Giscard d’ Estaing beraten.
Die Bundesregierung unterstützt die Arbeit des Konvents mit allen Kräften. Wir werden daran mitwirken, einen Verfassungsentwurf zu präsentieren. Er muss beinhalten: eine eindeutigere Abgrenzung der Kompetenzen
zwischen den Mitgliedstaaten auf der einen Seite und der
Europäischen Union auf der anderen Seite; die Schaffung
einer starken und zugleich auch politisch verantwortlichen Kommission, deren Präsident vom Europäischen
Parlament zu wählen ist; ein in seinen Rechten deutlich
gestärktes Europäisches Parlament, die Reform des Rates,
der grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit entscheiden
soll, sowie eine verbesserte Zusammenarbeit der Gemeinschaft in Fragen der inneren und der äußeren Sicherheit. Die bevorstehenden historischen Weichenstellungen
wie auch die Arbeiten an der europäischen Verfassung
werden wir in enger Abstimmung mit unseren französischen Freunden betreiben.
({101})
Wir haben in Brüssel gesehen, dass wir ohne ein gemeinsames deutsch-französisches Vorgehen - auch wenn
gelegentlich schmerzhafte Kompromisse gemacht werden
müssen - ein Europa der Bürger, dessen Nutzen aus Vertiefung und Erweiterung allen Europäern zugute kommen
soll, nicht werden schaffen können.
Wir wollen eine neue Kultur der Selbstständigkeit
und der geteilten Verantwortung. Deshalb fördern wir die
weitere Stärkung der freiheitlichen und sozialen Bürgergesellschaft. Ich will allerdings deutlich machen: Wir
wollen die Zivilgesellschaft nicht deshalb stärken, damit
sich der Staat aus seinen originären Aufgaben zurückziehen kann.
({102})
Es ist gewiss richtig, dass der Staat nicht die Bereiche organisieren soll, in denen es die Gesellschaft besser kann.
Deshalb brauchen wir weniger Bürokratie und weniger
Obrigkeitsdenken, aber nicht unbedingt weniger Staat.
Ebenso klar ist: Der allgegenwärtige Wohlfahrtsstaat,
der den Menschen die Entscheidungen abnimmt und sie
durch immer mehr Bevormundung zu ihrem Glück zwingen will, ist nicht nur unbezahlbar, er ist am Ende auch
ineffizient und inhuman.
({103})
Deshalb fördern wir die Eigenverantwortung und die
Kräfte zur Selbstorganisation unserer Gesellschaft. Vor
allem die vielen Tausend ehrenamtlich und freiwillig Tätigen in kulturellen und sozialen Projekten sowie in Projekten des Sports brauchen größere Gestaltungsräume.
Wir fördern diese Verantwortung für das Gemeinwohl
nicht nur, wir fordern sie auch.
({104})
Der Reichtum und die Kreativität unseres Landes werden wesentlich bestimmt durch großartige kulturelle
Leistungen und Angebote. Die Bundesregierung hat bereits in der vergangenen Legislaturperiode begonnen, den
Dialog mit Künstlern, Intellektuellen und Kulturschaffenden wieder aufzunehmen. Das Amt des Beauftragten für
Kultur und Medien hat sich als segensreich erwiesen, und
zwar nicht nur für die Kultur, sondern auch für unser
ganzes Land und unsere Gesellschaft.
({105})
Mir liegt daran, dass deutlich wird: Für die Bundesregierung ist Kultur nicht einfach eine angenehme Nebensache im Leben der Menschen. Wir wissen vielmehr,
dass Sicherheit, Identität und die Fähigkeit zur friedlichen
Nachbarschaft in erheblichem Maße kulturelle Errungenschaften sind. Wir wissen, dass Kunst und Kultur wesentliche Bausteine für eine Gesellschaft der Partnerschaft
und auch für eine Gesellschaft der Gerechtigkeit sind.
An diesem Ziel richten wir unsere Kulturpolitik aus - im
Innern, aber auch im Rahmen der auswärtigen Beziehungen.
({106})
Die Aufgabe ist klar: Um die Erneuerung Deutschlands
voranzutreiben und die wirtschaftlichen Probleme zu
meistern, um neue Chancen zu eröffnen und neue Gerechtigkeit zu organisieren, brauchen wir das Mitwirken
aller auf allen Ebenen. Wir brauchen eine neue Selbstverantwortung und auch eine neue unternehmerische Verantwortung. Wir stehen vor großen Reformen auf den Arbeitsmärkten sowie bei Bildung und Ausbildung und
auch - wir wissen, dass dies manchen schmerzen wird in unserem Sozialsystem.
Dabei setzen wir auf die vielen Tausend Frauen und
Männer, die in diesen Bereichen engagiert tätig sind. Sie
sind die eigentlichen Vorantreiber des Wandels. Wir werden, wo immer es geht, den Konsens mit den volkswirtschaftlichen Akteuren, den Bürgern und den gesellschaftlichen Gruppen suchen.
Aber genauso klar muss sein: Wir lassen am Primat
der Politik nicht rütteln.
({107})
Bei aller Bereitschaft zum Dialog - dies wird ja gelegentlich als Vorwurf konstruiert - und aller Bereitschaft
zum Konsens muss am Ende die Politik, das heißt die
Bundesregierung und ihre parlamentarische Mehrheit, die
notwendigen Entscheidungen treffen - und sie wird es
tun.
({108})
Die Frage, ob unser Land politisch geführt oder mächtigen Interessengruppen überlassen wird, ist entscheidend
für unsere Zukunft.
({109})
Eine Gesellschaft, deren Regierung nicht für die Nutzung
aller Chancen und für den gleichen Zugang zu den Chancen sorgt, wird unter den Fliehkräften der Globalisierung
von innen in Schwierigkeiten kommen, wenn nicht gar
zusammenbrechen.
Für Zusammenhalt und Wohlergehen der Gesellschaft
in Zeiten äußerer Risiken, in Zeiten äußerer Unsicherheiten und in Zeiten tief greifender innerer Veränderungen zu
sorgen, das verstehen wir als die zentrale Aufgabe dieser
Regierung in den nächsten vier Jahren. Das Ziel unseres
Weges ist klar: ein Leben reicher an Chancen, reicher an
Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitsformen, reicher an
Dienstleistungen und Märkten, reicher an Zukunftshoffnungen sowie an Kultur und Sicherheit, aber durchaus
auch reicher an Einkommen und Vermögen für alle.
({110})
Gemeinsam werden wir dieses Ziel erreichen und gemeinsam werden wir damit für uns und unsere Kinder
eine lebenswerte Zukunft schaffen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({111})
Ich erteile das Wort der Kollegin Angela Merkel, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, beim Zuhören, insbesondere bei
der letzten Passage Ihrer Regierungserklärung, in der Sie
so salbungsvoll die hehren Ziele Ihrer Politik - ein Leben
reicher an Chancen, reicher an Arbeitsmöglichkeiten,
reicher an Zukunftshoffnungen, reicher an Einkommen -,
die wir - so haben Sie gesagt - gemeinsam erreichen werden, aufgelistet haben, kam mir ein Satz aus dem Johannesevangelium in den Sinn: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“
({0})
Ich füge hinzu: Ihre Wahrnehmung der Realität, Herr
Bundeskanzler, und Ihre Regierungserklärung sind auch
nicht von dieser Welt.
({1})
Eigentlich war man mehr als eine Stunde lang versucht,
den Satz herauszubrüllen: Die Wahrheit ist konkret, Genosse! - Das haben wir vermisst, Herr Bundeskanzler.
({2})
Sie haben manches Problem durchaus richtig beschrieben. Aber man konnte bei mancher Problembeschreibung
Ihnen und denjenigen, die Ihnen zugehört haben, förmlich
ansehen, dass sie sich dabei ziemlich schlecht fühlen.
Denn Lyrik ist nötig. Ich frage Sie: Wen wollen Sie diesmal zum Schuldigen stempeln?
Die Probleme von heute können Sie eben nicht mehr
der imaginären Erblast von 16 Jahren Helmut Kohl in die
Schuhe schieben.
({3})
Sie spüren es und Sie haben es die ganze Zeit gespürt.
Das, Herr Bundeskanzler, lastet auf Ihrer Rede. Sie wissen, es gibt eine Erblast und Sie tragen schwer daran, aber
es ist Ihre eigene Erblast, die rot-grüne Erblast, die
Deutschland bremst und Wachstum unmöglich macht.
({4})
Die Staatskassen wollen sich partout nicht füllen, die
Löcher werden täglich größer. Die Rentenversicherung
verlangt mehr Beiträge und gibt weniger Sicherheit, das
Gesundheitssystem schluckt das Geld wie ein Pillensüchtiger die Pillen. Daran werden auch die Ankündigungen
eines Vorschalt- oder Nachschaltgesetzes nichts ändern,
das wird so bleiben.
Herr Bundeskanzler, das Schlimmste ist: Die Arbeitslosigkeit sinkt nicht, sondern wird weiter steigen. Dabei
geht es nicht um irgendeine Zahl, um 4 Millionen oder
4,5 Millionen in diesem Winter; nein, hier geht es um
Menschen, um Familien, um das Selbstwertgefühl dieser
Menschen, um Hoffnungen, um Verletzungen, um Enttäuschungen, um richtige menschliche Schicksale. Es ist
keine nackte Zahl und deshalb sage ich Ihnen: Keines dieser konkreten Schicksale hat in den letzten 65 Minuten in
diesem Saal eine Rolle gespielt und das werfen wir Ihnen
vor.
({5})
Man hätte sich gewünscht, dass Sie nach der mit Ach
und Krach gerade einmal so gewonnenen Bundestagswahl diesmal richtig durchstarten.
({6})
Der Titel Ihres Koalitionsvertrags ist durchaus viel versprechend. „Erneuerung - Gerechtigkeit - Nachhaltigkeit“ - das ist Ihr Angebot an die Gesellschaft.
({7})
Sie wollen das mit einem Kabinett, das insgesamt an
Lebensalter auf 800 Jahre kommt, durchsetzen. Ich würde
sagen: So alt waren Aufbruch und Erneuerung selten in
Deutschland.
({8})
Aber wenn man sich einmal die Mühe macht, die darin
enthaltenen Absichtserklärungen zu verstehen und mit
dem zu vergleichen, was Ihre Regierung heute, in den Tagen vor und in den Tagen nach der Wahl gesagt hat,
kommt es noch schlimmer. Herr Bundeskanzler, es kann
nur ein einziges Urteil geben: Dies ist ein Koalitionsvertrag der Enttäuschung, es ist ein Koalitionsvertrag der
Täuschung und es ist ein Koalitionsvertrag der Vertuschung. Dies werden wir auch weiterhin beim Namen
nennen.
({9})
Man weiß ja auch schon, was jetzt kommt: Wahlkampf
fortsetzen, schlechte Verlierer, CDU-Staat beenden, Kettenhunde loslassen, Helfershelfer und so weiter und so
fort.
({10})
Aber damit bekommen Sie nicht einmal mehr die Treuesten der Treuen in Ihren eigenen Reihen hinter dem Ofen
hervorgelockt.
({11})
Die deutsche Öffentlichkeit fällt auf so etwas schon
lange nicht mehr herein. Dies alles bestätigt nur den Eindruck, dass Ihnen diese knapp gewonnene Wahl ziemlich
in den Knochen steckt. Sie haben heute schon Angst vor
der Quittung, die Sie in Niedersachen und Hessen bekommen werden.
({12})
Wir werden es den Menschen auch immer wieder sagen.
({13})
Sie zeigen an diesen Stellen auch schon Verfolgungswahn. Aber nicht wir haben Ihnen Verfolgungswahn vorgeworfen, sondern die „Süddeutsche Zeitung“, die Sie
wahrscheinlich noch nicht zu den Kettenhunden des konservativen Lagers zählen können, Herr Bundeskanzler.
({14})
Dass Ihr Koalitionsvertrag ein Vertrag der Täuschung
und Vertuschung ist, belegen einige Zitate:
Steuererhöhungen sind in der jetzigen konjunkturellen Situation ökonomisch unsinnig und deswegen
ziehen wir sie auch nicht in Betracht.
Gerhard Schröder in der ARD am 26. Juli 2002.
({15})
Wir halten die Rentenbeiträge langfristig stabil.
Gerhard Schröder in der „Frankfurter Rundschau“ am
18. Juni 2002.
({16})
Ich bin sicher, wir kriegen keinen blauen Brief aus
Brüssel.
Herr Eichel am 17. September 2002, fünf Tage vor der
Wahl, in der ARD-Sendung mit dem schönen Titel „Ihre
Wahl 2002“.
({17})
Meine Damen und Herren, ich erspare Ihnen, dies alles
auf die Waagschale zu legen. Ich nenne hier nur das Beispiel Eichel: Von einer Neuverschuldung in Höhe von
2,5 Prozent war am Tag vor der Wahl die Rede, von
2,9 Prozent am Tag nach der Wahl und 14 Tage später war
von einem blauen Brief aus Brüssel die Rede. Inzwischen
ist er froh, wenn er ihn bekommt und vonseiten der Kommissare in Brüssel nicht noch mehr draufgepackt wird.
Das ist die Wahrheit.
({18})
Die Wahrheit ist so konkret, dass man sagen kann: Jede
Familie in diesem Lande wird draufzahlen. Die Menschen
kommt die Wahl buchstäblich teuer zu stehen. 200 Euro im
Monat beträgt die Mehrbelastung für jede deutsche Durchschnittsfamilie mit zwei Kindern und 30 000 Euro Einkommen.
({19})
Zur Kürzung der Eigenheimzulage:
({20})
- Richtig, Herr Schmidt, man weiß nicht, was am Ende
kommt. Dies ist das Einzige, was bei Ihnen Gültigkeit hat.
({21})
Ich füge nur noch hinzu: Es ist gut, dass es uns gibt,
({22})
sonst wüssten die Leute nicht, was kommt. Wenn sie nur
Sie hätten, würde es ganz schlimm kommen.
({23})
Nun zur Eigenheimzulage: Hören Sie sich einmal Ihre
Abgeordnete Margrit Wetzel aus Stade an. Sie sagt: Die
Streichung der Eigenheimzulage ist ein Schlag ins Gesicht der deutschen Bauwirtschaft.
({24})
- Wo Sozialdemokraten Recht haben, haben sie Recht.
({25})
Sie begreifen doch gar nicht, was Sie den Menschen
antun! Wissen Sie, was dies für eine Familie bedeutet, die
ein Haus bauen will? Sie weiß, dass sie ohne diese Förderung bei der Bank - dies ist doch der entscheidende
Punkt - nicht mehr kreditfähig ist.
({26})
Riesige Bauunternehmen machen heute mit Fertigteilhäusern Dumpingangebote und zerstören so die kleinen
Baubetriebe vor Ort. Herr Stolpe, hier frage ich Sie: Was
tun Sie mit solchen Plänen eigentlich für die Bauwirtschaft im Osten?
({27})
Dem Stichwort Eigenheimzulage kann man hinzufügen: Gassteuer, Tabaksteuer, Steuerreform verschoben,
höhere Rentenbeiträge und höhere Krankenkassenbeiträge. Dies zusammen macht die Mehrbelastung in Höhe
von 200 Euro pro Familie und Monat aus.
({28})
Dann behaupten Sie, Ihre Maßnahmen seien nicht nur
notwendig, sondern gerecht und maßvoll und träfen vor
allem diejenigen, die noch mehr tragen können.
({29})
Schauen Sie sich doch einmal an, was das in Wahrheit bedeutet. Es trifft alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in diesem Lande, es trifft alle Autofahrer und insbesondere die Pendler. Es trifft die, die Lebensmittel einkaufen,
denn sie sind von der Erhöhung der Preise der landwirtschaftlichen Vorprodukte betroffen. Es trifft die Leistungsträger - das sind die Facharbeiter, die Gesellen, diejenigen, die Überstunden machen in diesem Lande -, weil
Sie die Beitragsbemessungsgrenze erhöhen.
({30})
Es trifft die Mieter in diesem Lande, es trifft die, die für
ihre Altersvorsorge Wertpapiere gekauft haben, und es
trifft natürlich wie immer - weil die Sie nicht wählen ganz besonders die Bauern; das ist schon fast Routine.
({31})
Man muss doch wirklich einmal fragen dürfen: Was ist
an diesen Belastungen eigentlich gerecht? Wo ist die Balance, von der Sie bei diesen Belastungen so gerne sprechen?
({32})
Besteht schon deshalb eine Balance und ein Gleichgewicht, weil alle in diesem Lande gemeinsam am Boden
liegen? Das kann doch nicht die Balance sein, die Sie meinen.
({33})
Deshalb heißt die schlichte Schlussfolgerung: RotGrün macht arm
({34})
und, noch schlimmer, Rot-Grün bietet den Menschen
überhaupt keine Aussicht in Bezug auf die Frage, wie in
diesem Lande Wachstum und damit wieder mehr Beschäftigung entstehen können.
({35})
Wirklich schlimm an Ihrer Politik ist, dass Sie wissen,
dass die Lage der öffentlichen Haushalte viel schlechter
ist, als Sie uns heute sagen.
({36})
Deshalb werden Sie uns, vor allen Dingen nach dem
2. Februar, scheibchen- und tröpfchenweise weitere
Maßnahmen zumuten. Darum frage ich heute schon einmal vorsorglich: Was haben Sie mit dem Ehegattensplitting vor?
({37})
Was soll mit dem Sparerfreibetrag geschehen? Was wird
aus der Entfernungspauschale? Verändert sich an der
Mehrwertsteuer noch mehr? Beabsichtigen Sie, die Lebensversicherungen noch stärker zu belasten? Es ist doch
kein Zufall, dass das alles in den Koalitionsgesprächen
aufgetaucht und anschließend wieder in der Schublade
verschwunden ist.
Deshalb sagen wir Ihnen sehr bewusst: Wir verlangen
im Namen der Bürger dieses Landes,
({38})
dass Sie uns heute und diese Woche hier reinen Wein in
Bezug auf das einschenken, was Sie in den nächsten Monaten vorhaben.
({39})
Es ist ganz klar: Sie, die Sie dort sitzen, sind keine Regierung der Erneuerung, sondern eine Regierung der Verteuerung.
({40})
Oskar Lafontaine hatte doch Recht:
({41})
Nicht der Mut wächst, Herr Bundeskanzler, sondern die Wut
der Menschen in diesem Lande über diese Art der Politik.
({42})
Herr Bundeskanzler, man möchte es mit einem Ihrer
Lieblingsworte kommentieren: Wie Sie mit den Menschen in diesem Lande umgehen, das ist schlicht und ergreifend unanständig.
({43})
Unanständig ist das, was Sie machen,
({44})
und unanständig ist vor allen Dingen das Brechen von
Versprechen.
Ich möchte auf die Debatte vom 13. September 2002
hier in diesem Hause zurückkommen. Ich habe mich damals gar nicht lange mit den vielen gebrochenen Versprechen in der Arbeitsmarkt-, Gesundheitspolitik usw. aufgehalten,
({45})
sondern ich habe Ihnen nur eines gesagt: Die größte Täuschung der Nachkriegszeit ist Ihre Haltung im Zusammenhang mit einem militärischen Einsatz gegen den Irak.
({46})
Es hat sich jetzt erwiesen, dass meine Aussage richtig war.
({47})
Ihre Haltung war und ist der größte Betrug am deutschen
Wähler in der Nachkriegsgeschichte. Vor der Wahl gab es
nur ein einziges Wort: Nein. Nein zur UN, nein zum Verbleib der ABC-Panzer in Kuwait, nein zu Sanktionen.
({48})
Nach der Wahl besitzt der Bundesaußenminister die
Dreistigkeit, einer englischen Zeitung auf die Frage, was
mit dem so genannten deutschen Weg sei, zu antworten,
er könne natürlich nicht für den Kanzler sprechen, aber:
Forget it! - Auf Deutsch: Vergesst es!
Das ist es, was Sie hoffen und wovon Sie ausgehen.
({49})
Für wie dumm halten Sie eigentlich die deutsche Bevölkerung? Die Menschen werden das nicht vergessen.
({50})
Die Wahrheit und die Politik sind - Herr Schmidt, da
können Sie so viel schreien, wie Sie wollen - eben nicht
so einfach.
({51})
Wie steht es denn mit der Beantwortung der vielen konkreten Fragen, die sich ergeben? Wie wird sich die Bundesregierung verhalten? Ist sie bereit, sich an einer
UN-Peacekeeping-Maßnahme nach einer militärischen
Auseinandersetzung mit dem Irak zu beteiligen? Zu welchen Hilfsmaßnahmen wäre sie bereit, wenn der Irak Israel
angreift? Was machen die ABC-Spürpanzer in Kuwait im
Falle eines militärischen Konfliktes? Würden deutsche
Soldaten Hilfe für die verwundeten US-Soldaten leisten?
Würde die Bundesregierung dem NATO-Mitglied Türkei
militärisch zu Hilfe kommen, wenn sie vom Irak angegriffen würde? Wie verhält sich die Bundesregierung bei
einer Abstimmung über eine Resolution des UN-Sicherheitsrates nach dem 1. Januar?
({52})
Wollen Sie alleine mit Syrien mit Nein stimmen? Diese
Fragen interessieren uns. Wir wollen sie beantwortet haben. Auf eine Antwort warten wir schon lange.
({53})
Herr Bundeskanzler, Sie haben es bis heute nicht geschafft, unser nationales Interesse zu definieren. Deshalb
sage ich Ihnen für die CDU und die CSU: Wir alle wollen
keinen Krieg.
({54})
Das habe ich schon damals deutlich gemacht und tue es
jetzt wieder. Wann immer Konflikte diplomatisch oder
politisch gelöst werden können, sollte in dieser Beziehung
nichts unversucht gelassen werden.
Eine kurze Anmerkung zum Wochenende sei mir in
diesem Zusammenhang gestattet. Wir alle sind gegen terroristische Angriffe. Ich hätte mir deswegen von Ihnen,
Herr Bundeskanzler, schon gewünscht, Sie hätten dem
russischen Präsidenten Putin mit aller Klarheit deutlich
gemacht, dass wir mit Nachdruck erwarten, dass auch politische Anstrengungen in Tschetschenien unternommen
werden. Das wurde versäumt.
({55})
CDU und CSU sind bereit, die von der UN erwarteten
Beschlüsse gegen den Irak zu unterstützen. Wir sind im
Übrigen der Auffassung, dass die französischen Ansätze
hierfür eine gute Grundlage bieten.
Ich komme zu einem Punkt, zu dem Sie auch nicht
Stellung genommen haben, der aber schon im November
aktuell wird. CDU und CSU erwarten, dass sich die Bundesregierung auf dem NATO-Gipfel in Prag, auf dem
das Thema Irak mit Sicherheit zur Sprache kommen wird,
nicht aus dem Kreis der Verbündeten stiehlt, sondern sich
für eine gemeinsame Position der NATO-Mitgliedstaaten
einsetzt.
({56})
Ich möchte nicht erleben - das sage ich für die Union -,
dass Norwegen, Ungarn und Polen auf der Seite der Amerikaner sind und wir nicht. Deutschland hat Freundschaften. Diese Freundschaften sind an Werte gebunden und
müssen in einem Bündnis etwas zählen.
({57})
Das alles sage ich mit Blick auf die Zukunft. Wir ahnen
doch schon, wie es ablaufen wird, wenn es Weihnachten
wird, der Januar kommt und die Wahlen in Niedersachen
und in Hessen vor der Tür stehen. Sie werden in Hessen die
alten Plakate aus dem Jahr 1991 auspacken, auf denen
steht: Kein Blut für Öl. - Ich kann Ihnen sagen: Genau das
wird nicht funktionieren, weil sich die Menschen im Lande
ziemlich erstaunt die Augen reiben und sich fragen werden:
War der Irak nicht das Wahlkampfthema? In den Koalitionsvereinbarungen sucht man diesen Punkt vergeblich. Vom
Kosovo, von Mazedonien und von Afghanistan ist zu lesen,
aber vom Irak ist nicht mit einer Silbe die Rede.
({58})
Ich vermute, wenigstens der Außenminister hat Sie daran
gehindert, Ihre Lügen in der Koalitionsvereinbarung auch
noch in Schriftform zu fassen.
({59})
Wenn man sich anschaut, was in den letzten fünf Wochen passiert ist, dann drängt sich die Frage auf, was Sie
wirklich wollen. Warum gehen Sie so vor? „Man erkennt
nicht, wohin es eigentlich geht.“
({60})
So klage nicht nur ich, so klagte auch der thüringische
SPD-Landesvorsitzende Matschie am Wochenende.
Wo der Mann Recht hat, hat er Recht; denn genau das
ist das Problem dieses Bundeskanzlers. Man weiß nicht,
wo es hingeht. Ich sage es mit meinen Worten: Herr Bundeskanzler, welchen Wert hat für Sie eigentlich der Gestaltungsanspruch der Politik gerade jetzt, also in, wie Sie
so gerne betonen, unserer Zeit der Globalisierung? Sehen
Sie überhaupt einen Gestaltungsanspruch oder sehen Sie
in der Globalisierung immer nur einen imaginären Schuldigen?
Ich sage: Gestaltung ist nicht punktuelles Handeln und
nicht das Reagieren auf kurzfristige Ereignisse, neudeutsch auch Krisenmanagement genannt - selbst wenn
auch das manchmal erforderlich ist. Ich meine eine Gestaltung, die dem Leben eine Richtung gibt und die Zusammenhänge herstellt. Ich glaube, dies ist die vornehmste Aufgabe der Politik.
({61})
Sie wollen, wie Sie gesagt haben, eine „rot-grüne Epoche“ beginnen.
({62})
„Epochen muss man begründen können.“
({63})
- Hören Sie doch zu, Herr Stiegler! „Das ist mit diesen
90 Seiten Koalitionsvertrag nicht getan.“ - Auch das habe
wiederum nicht ich, sondern das hat der stellvertretende
Fraktionsvorsitzende Erler im jüngsten „Spiegel“ gesagt.
({64})
Herr Erler, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl! Es
gibt selbst in der SPD-Fraktion einen kleinen Hoffnungsschimmer. Es ist eben so: Ausrufen allein reicht nicht. Es
macht die Sache fast noch schlimmer, weil ein ganz
merkwürdiges und unsicheres Gefühl bleibt; es ist wie ein
Pfeifen im Walde.
Meine Damen und Herren, was ist Ihr Gestaltungsanspruch der Politik? Finanzminister Eichel hatte sich mit
seinem Sparkurs beinahe ein Stück weit in die Herzen der
Menschen eingegraben. Am Tag der Unterzeichnung der
Koalitionsvereinbarung in der Neuen Nationalgalerie erklärte er aber dem staunenden deutschen Publikum, dass
es mit dem Stabilitätspakt nun vorbei sei, dass man ihn
irgendwie anders auslege und dass man ihn konjunkturbedingt interpretieren müsse. Er tut das Gegenteil von
dem, was er vier Jahre lang versucht hat, den Menschen
beizubringen; das zerstört die Politik.
({65})
Auf der einen Seite erhöhen Sie die Arbeitskosten
durch steigende Sozialbeiträge für Rente und Gesundheit
- das ist unstrittig - und auf der anderen Seite wollen Sie
ebendiese Arbeitskosten über die 500-Euro-Jobs - dort
halbherzig - und die Ich-AGs wieder heruntersubventionieren. Meine Damen und Herren, fördern Sie doch den
gesamten deutschen Mittelstand - denn dann erhalten Sie
mehr Arbeitsplätze -,
({66})
statt mit Ich-AGs und sonstigen Hilfskonstruktionen anzufangen! Das bringt Deutschland nicht weiter.
({67})
Und dann das viel gelobte Hartz-Konzept: Die Wirtschaftsweisen - das waren also nicht wir - haben die Erwartung, dass die Arbeitslosigkeit auf unter 2 Millionen
sinken könnte, einhellig als schlicht und ergreifend „illusorisch“ bezeichnet.
({68})
Meine Damen und Herren, es ist ziemlich doll, dass der
Superminister Clement - noch bevor er vereidigt war die Sachverständigen bezichtigte, dass sie keinen Sachverstand haben. So wird es nicht gehen. Sie werden die
Statistik fälschen und versuchen, zu tricksen und zu täuschen; aber damit werden Sie keinem einzigen Menschen
in Deutschland wirklich helfen.
({69})
Wir werden das zum Thema machen und Sie zur Rede
stellen.
({70})
Auf der einen Seite wollen Sie, wie das vernünftig ist,
die Menschen zu mehr Eigenverantwortung heranziehen,
auf der anderen Seite bestrafen Sie aber diejenigen, die
diese - auch ohne staatliche Förderung - wahrnehmen
könnten, indem Sie die Beitragsbemessungsgrenze bei der
Rente wieder hochsetzen und damit den Menschen die
Möglichkeit nehmen, eine eigenständige private Vorsorge
zu treffen. Das ist widersprüchlich und nachhaltig falsch.
({71})
Sie führen die Nachhaltigkeit groß im Munde. Deshalb
ist es das Allerdollste, dass Sie mit der Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze heute Rentenansprüche begründen, von denen Sie wissen, dass Sie sie in der Zukunft niemals werden erfüllen können; das muss den Grünen im
Herzen wirklich weh tun.
({72})
Das ist eine nachhaltige Täuschung, nicht mehr und nicht
weniger.
({73})
Sie haben - das war durchaus richtig - in der vergangenen Legislaturperiode die Steuern auf einbehaltene Gewinne gesenkt, um die Investitionskraft zu stärken. Nun
aber, wo die Unternehmen dadurch, dass ihre Investitionskraft gestärkt wurde, wieder an Wert gewinnen könnten,
planen Sie, die Eigentümer durch die Besteuerung von
Aktiengewinnen zu bestrafen. Wozu führt das? Das führt
dazu, dass die Gewinne natürlich sofort einbehalten werden, dass nicht investiert wird, dass die Menschen nicht
besser dastehen und dass die Eigentümerstrukturen wechseln, weil in anderen Ländern keine Steuern bezahlt werden müssen.
({74})
Deshalb hat Professor Sinn zu Recht gesagt: Alles, was
Sie vorschlagen, ist Gas geben und zugleich bremsen. Ich
warte auf den Tag, Herr Bundeskanzler, an dem Sie uns
das als großer Autofreak einmal praktisch vormachen:
bremsen und zugleich Gas geben. Das kann nach meinem
technischen Sachverstand nur zu einem nachhaltigen Motorschaden führen.
({75})
Die Latte der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen.
Der Bundesumweltminister reist heute nach Neu Delhi.
Sie haben das Klimaschutzziel für 2005 auf ganz geschickte Art und Weise eliminiert. Was ist denn nun mit der
Minderung des CO2-Ausstoßes um 25 Prozent bis zum
Jahr 2005? Das Ziel taucht nicht mehr auf, weil es in Ihre
Legislaturperiode fällt. Dafür haben Sie ein Ziel für 2020
formuliert - unter dem Vorbehalt, dass auch die anderen europäischen Staaten ihren Beitrag dazu leisten. Wir erwarten
heute von Herrn Trittin, dass er uns genau sagt - ich persönlich habe mir oft Anschuldigungen anhören müssen -,
welches Ziel Sie unterstützen und wie hoch die CO2-Minderung für das Jahr 2005 sein wird. Wir wollen wissen,
welches das konkrete Ziel für diese Legislaturperiode ist.
({76})
Um Ihr widersprüchliches Verhalten noch einmal deutlich zu machen: Sie haben in der vergangenen Legislaturperiode das Erdgas von der Ökosteuer-Regelung ausdrücklich ausgenommen, weil es so umweltverträglich ist
und weil Sie wollten, dass die Menschen dies als Anreiz
begreifen, möglichst viel mit Erdgas zu heizen.
({77})
Nun tun das 15 Millionen Menschen in Deutschland. Was
machen Sie? Als Dankeschön wird Erdgas mit der Ökosteuer belegt.
({78})
Das ist es, was die Menschen so missmutig stimmt.
Herr Bundeskanzler, dieser Missmut ist auch nicht dadurch aus der Welt zu schaffen, dass Sie heute eine neue
Maxime aufgestellt haben - sozusagen der Kennedy-Verschnitt aus Hannover.
({79})
Sie haben uns gesagt: Hören wir auf, immer nur zu fragen,
was nicht geht; fragen wir uns, was jeder Einzelne dazu
beitragen kann, dass es geht.
({80})
Nun muss ich Sie einmal fragen: Was ist „es“?
({81})
„Es“ ist nämlich im September 2001 die uneingeschränkte Solidarität mit den Amerikanern. Aber „es“ ist
im September 2002 der deutsche Sonderweg in Bezug auf
den Irak. „Es“ ist während der Flut der Gemeinsinn und
die Hilfe. Aber „es“ ist am Tage der Unterschrift unter die
Koalitionsvereinbarung, dass man allen, die spenden wollen, eines vor das Schienbein gibt und die Abzugsfähigkeit der Spenden streicht. So werden Sie die Dinge nicht
regeln können.
({82})
Ihre Maxime ist in Wahrheit: Wer etwas leistet, wird
vom Staat zusätzlich belastet. Wer mehr Verantwortung
für sich oder andere übernehmen will, dem werden
Steine in den Weg gelegt. Wer bereit ist, sich für eine sichere Zukunft und die notwendigen Veränderungen einzusetzen, der wird von der Regierung spätestens nach
ein paar Monaten allein gelassen. - Deshalb, Herr Bundeskanzler, hätten Sie besser die Finger von Kennedy
gelassen. Oder aber, Herr Bundeskanzler, Sie hätten ihn
wirklich beim Wort genommen: Frage nicht, was dein
Land für dich tun kann, sondern frage, was du für dein
Land tun kannst.
({83})
Ich bin sicher: Viele Menschen würden gerne etwas
tun. Aber die Menschen können nichts tun, wenn sie einen
Koalitionsvertrag vorgelegt bekommen, der das Papier
nicht wert ist, auf dem er geschrieben ist, und der schon
gar nicht die Miete des Museums wert ist, in dem er abgeschlossen worden ist.
({84})
Weil hinter der Streichliste kein Konzept erkennbar
ist, lässt sich jeder einzelne Punkt mit Aussicht auf
Erfolg angreifen.
Auch das stammt nicht von mir, sondern das hat gestern
die „Süddeutsche Zeitung“ festgestellt.
Was heute gesagt wird, ist morgen überholt. Was morgen gesagt wird, steht im Widerspruch zu dem, was vorher galt. Die Halbwertszeit Ihrer Aussagen wird immer
kürzer. So regieren Sie zurzeit: im Hier und Jetzt, ohne ein
Bewusstsein für das, was gestern war und was morgen
kommt. Das ist das Schlimme.
Ihr Kronprinz aus Niedersachsen, Herr Bundeskanzler, der voll auf Ihrer Linie liegt, hat es wieder einmal
auf den Punkt gebracht. Gabriel sagte auf die Frage,
warum Rot-Grün seine Vorhaben eigentlich nicht vor
der Wahl offen gelegt hat: „Das hätten Sie wohl gerne
gehabt.“
({85})
Meine Damen und Herren, das ist das, was Sie in der
Sozialdemokratie unter Politik verstehen. Politik braucht
aber kein kurzfristiges Ereignismanagement, sondern sie
muss mehr denn je gestalten können.
({86})
Denn es geht in der Tat um die Frage, wie wir aus Veränderungen Nutzen ziehen können. Deshalb ist es doch so
fatal, dass der Bundeskanzler von Augenblick zu Augenblick lebt. Da ist es doch geradezu folgerichtig, dass er als
Freund großer symbolischer Handlungen genau zu Beginn dieser Legislaturperiode die Grundsatzabteilung im
Kanzleramt schließt. Politik ohne Grundsätze - das ist die
Botschaft für diese Legislaturperiode.
({87})
Gebraucht wird aber das Gegenteil: Wir brauchen die
Rückkehr des Politischen.
({88})
Darüber gäbe es Einvernehmen. Wir brauchen die Rückkehr des Politischen, nicht ein Verwalten des Augenblicks. Denn Politik hat die Aufgabe, Weichen zu stellen
und - Richtungen zu geben - Veränderungen über den
Tellerrand des Hier und Jetzt hinaus.
({89})
Das bedeutet auf der einen Seite die Fähigkeit zu Veränderungen auch gegen Stagnation und auf der anderen
Seite das Setzen von Grenzen und Orientierungspunkten.
({90})
Es ist keine plumpe Machbarkeitsidee, sondern es geht
darum, Maßstäbe zu setzen und Linien zu entwickeln, die
über eine längere Zeit durchgehalten werden.
({91})
- Dass Sie so schreien, zeigt doch nur, wie schlecht es Ihnen geht.
Wir von der CDU/CSU wollen ein Deutschland, das
die Bürger ermuntert, füreinander einzustehen:
({92})
in der Ehe, in der Familie, im Ehrenamt, durch die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Wir meinen, dass die Voraussetzung dafür in einem transparenten, gerechten und
einfachen Steuersystem besteht, das Sie bis heute nicht
geschaffen haben.
({93})
Falls Sie der Meinung sind, Sie wollten das auch, muss
man sich doch wundern, dass nicht nur der Bundeskanzler, sondern zehn, 20 oder 30 Leute an einer Koalitionsvereinbarung arbeiten und nicht merken, dass sie mit dem
Streichen der Spendenabzugsfähigkeit für bestimmte Institutionen genau diesen Gemeinsinn zerstören. Dafür
brauchen Sie erst die Bevölkerung und die Opposition.
Das ist doch das Dilemma in diesem Lande.
({94})
Wir wollen ein Deutschland, das im internationalen
Wettbewerb besteht und damit die Chancen der Globalisierung nutzt. Genau dafür brauchen wir die Stärkung der kleinen Einheiten, der Familien, aber vor allen Dingen auch der
Kommunen und der Gebietskörperschaften. Diese brauchen
keine Geschenke von oben, hier 10 000 Ganztagsschulen
und dort ein paar Brosamen,
({95})
sondern sie brauchen langfristige Möglichkeiten, ihre
Kommunen so zu entwickeln, wie es die Menschen wollen, und zwar inklusive Tagesbetreuung und Kindergärten. Die ordentliche finanzielle Ausstattung der Kommunen ist das Gebot der Stunde.
({96})
Wir wollen ein Deutschland, das Sicherheit im umfassenden Sinn garantiert: soziale Sicherheit, Sicherheit des
Verbrauchers und Sicherheit im Inneren genauso wie
im Äußeren. Deswegen brauchen wir eine Politik - der
Bundeskanzler hat darauf hingewiesen; er tut aber nichts
dafür -,
({97})
die das Zusammenwachsen von innerer und äußerer
Sicherheit besser bewältigt. Wir brauchen ein Sicherheitspaket III, damit endlich bestimmte Lücken geschlossen
werden, die uns im Kampf gegen den Terrorismus behindern. Dazu enthält Ihre Koalitionsvereinbarung nur verschwommene Formulierungen, nichts Konkretes.
({98})
Herr Bundeskanzler, wir brauchen ein Zuwanderungsgesetz, durch das die Integration der bei uns lebenden ausländischen Bürgerinnen und Bürger verbessert
wird.
({99})
Diese erfolgt vor Ort. Wir haben bisher nichts darüber gelesen, welche finanziellen Maßnahmen Sie auf den Weg
bringen wollen, damit die Integration gelingen kann. Sie
haben zwar pro forma von „Steuerung der Zuwanderung“
gesprochen. Aber Sie haben das Wort „Begrenzung der
Zuwanderung“ nicht in den Mund genommen. Ich sage
Ihnen: Bei Ihnen gibt es viel zu viele, die noch immer ihre
multikulturellen Tagträume träumen und sich nicht um die
eigentlichen Anliegen der Bürgerinnen und Bürger kümmern.
({100})
Wir wollen wie Sie ein verlässliches, zusammenwachsendes und klar geregeltes Europa. Wir begrüßen, wann
immer es in die richtige Richtung geht, die Arbeit des
EU-Konvents. Keine Frage, Herr Fischer, wir freuen uns
über Ihren Sitz im Konvent. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, uns aber - wie neulich bei der Frage, wie Opposition
und Regierung gut zusammenarbeiten könnten - großherzige Angebote machen, dann müsste es doch möglich
sein, dass neben dem Bundesaußenminister auch wir von
der Opposition einen Sitz in dem EU-Konvent für den
ausgeschiedenen Bundestagsabgeordneten Meyer bekommen. Herr Schäuble wäre ein toller Partner für Herrn
Fischer gewesen. Es wäre zum Wohle Deutschlands gewesen. Das hätte ich unter Großherzigkeit verstanden,
Herr Bundeskanzler.
({101})
Wenn Sie in diesen Tagen über Europa sprechen, dann
halte ich es für einen Fehler - ich würde es für einen besonders großen Fehler halten, wenn dies auch noch Teil
eines Kompensationsgeschäfts wäre -, wenn Sie über den
Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sprechen.
({102})
Sie wissen doch, dass Ihre Kollegen von der FriedrichEbert-Stiftung genauso wie die von der KonradAdenauer-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung alle
Hände voll damit zu tun haben, zu verhindern, dass sie
nicht jahrzehntelang ins Gefängnis müssen. Ich sage Ihnen: Es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, an dem wir über den
Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sprechen sollten. Lassen Sie das sein! Das ist nicht zum Wohle der Europäischen Union.
({103})
Wir wollen ein Deutschland, das sich europäischer Tradition und Werte - ich sage ganz besonnen: gerade auch
der christlich-abendländischen - bewusst ist. Deshalb
brauchen wir eine Politik, die fest verwurzelt ist und sich
gleichzeitig Neuem öffnet. Das ist dann eine Politik, die
um die Bedeutung von Halt, Heimat und Orientierung der
Menschen in Zeiten der Globalisierung weiß. Wie wichtig dies gerade auch für jüngere Menschen in unserem
Land ist, hat noch einmal die Shell-Studie in diesem Jahr
gezeigt.
Wir wollen ein Deutschland, das selbstbewusst ist und
das sein Licht nicht unter den Scheffel stellt. Aber dieses
selbstbewusste Deutschland werden wir nur bekommen,
wenn wir ein verlässlicher Partner sind. Verlässlichkeit ist
die Voraussetzung dafür, dass wir Leadership in Partnership wirklich leben können.
({104})
Sie haben auf diesem Gebiet Vertrauen verspielt. Wir von
der Opposition werden versuchen, es so weit wie möglich
wiederzugewinnen.
({105})
Deshalb heißt die Rückkehr des Politischen, dass wir
den Gestaltungsanspruch der Politik bei dem, was wir
wollen, auch wieder zur Geltung bringen, dass die Menschen wissen, was sie von einer Regierung erwarten können, und zwar nicht nur von Montag bis Dienstag, sondern
über vier Jahre bzw. - besser - über einen noch längeren
Zeitraum.
({106})
Deshalb sage ich Ihnen - hören Sie noch einmal genau zu -:
„Wir sind zurzeit dabei auszutesten, wo es beginnt, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und der deutschen
Unternehmen zu gefährden.“ - Das sagte Herr Superminister Clement vorgestern bei „Sabine Christiansen“. Lassen
wir uns dieses Wort „austesten“ wirklich einmal auf der
Zunge zergehen: die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie als Versuchskaninchen von Rot-Grün.
({107})
Da kann ich nur sagen: Der Superminister wird zum Super-GAU für diese Bundesrepublik Deutschland.
({108})
Wenn Sie so viel schreien, muss man doch einfach einmal
fragen: Haben Sie eigentlich verstanden, was Globalisierung ist?
({109})
Wissen Sie, dass Globalisierung eine permanente Wettbewerbssituation für jeden kleinen und großen deutschen
Betrieb bedeutet? Wissen Sie, wie viele Betriebe sich in
diesem Land mit der Absicht tragen, das Land zu verlassen, weil sie diese Koalitionsvereinbarung gelesen haben?
Wenn Sie dann schon einen Supermann für Superwirtschaft aus dem angeblichen Superland holen und der als
Erstes erklärt, dass er jetzt mal ein paar Versuchsballons
startet, dann kann ich nur sagen: Sie haben nicht verstanden, wie ernst es um die Arbeitsplätze in dieser Bundesrepublik Deutschland steht.
({110})
Deshalb sage ich Ihnen: Wir stehen in diesem Parlament für Verlässlichkeit. Wir wissen, dass unsere Gesellschaft vor großen Herausforderungen steht. Und wir wissen, dass es wichtig ist, dass wir eine neue bürgerliche
Gesellschaft in diesem Lande schaffen,
({111})
eine Gesellschaft, in der jeder Einzelne bereit ist, Initiative zu ergreifen und Verantwortung zu übernehmen.
({112})
Wir sind bereit, mit den Menschen genau in diesem Sinne
einen Vertrag zu schließen, weil wir langfristig berechenbar sind.
({113})
- Hören Sie doch zu! Sie wollen doch immer wissen, wie
wir unsere Oppositionszeit verstehen.
({114})
Wir verstehen uns als Wächter, nicht als Blockierer, und
zwar als Wächter im Sinne der Menschen dieses Landes:
im Bundestag, im Bundesrat und auf allen Ebenen, in denen wir Verantwortung haben, sei es als Regierung oder
sei es als Opposition.
Herr Bundeskanzler, Sie haben in der Debatte am
13. September, der letzten vor der Bundestagswahl, in der
Ihnen eigenen bescheidenen Art dem Kanzlerkandidaten
der Union, Edmund Stoiber, gesagt - ich wiederhole es
wörtlich: „Sie wollen vielleicht Kanzler werden, aber Sie
haben nicht die Fähigkeiten dazu.“
({115})
Ich antworte Ihnen, und zwar im Lichte dessen, was Sie
heute hier vorgetragen haben und was wir in den letzten
Wochen gehört haben:
({116})
Sie, Herr Bundeskanzler, wollen vielleicht dieses Land irgendwie von Ereignis zu Ereignis bringen; aber die Fähigkeit, es zum Wohle der Menschen in diesem Land zu
führen und die schöpferischen Kräfte in diesem Land zu
wecken, haben Sie nicht.
({117})
Die haben Sie nicht, weil Sie keine Idee haben und weil
Sie die Menschen in diesem Land nicht ernst nehmen.
Und weil Sie die Menschen nicht ernst nehmen, wird die
Union gebraucht, mehr denn je, CDU und CSU. Ich sage
Ihnen: Wir nehmen genau diesen Auftrag - und dann auch
noch mit Freude - an.
Herzlichen Dank.
({118})
Ich erteile dem Kollegen Franz Müntefering, SPDFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Start in eine Legislaturperiode ist immer die Gelegenheit, die politischen Ziele der kommenden Jahre zu
markieren und auch die ersten konkreten Schritte festzulegen. Das hat der Herr Bundeskanzler auf der Grundlage
der Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünen heute
für die Regierung getan.
({0})
Wir 251 von der SPD werden in der Koalition mit den
Grünen zusammen alles dafür tun, dass Bundeskanzler
Gerhard Schröder und diese Regierung gute Politik für
unser Land machen können. Die Arbeit kann beginnen.
({1})
Das Wahlergebnis vom 22. September war knapp, aber
klar. Die Mehrheit der Menschen hat Gerhard Schröder
als Bundeskanzler gewollt und gewählt, auch bewusst die
Koalition von SPD und Grünen gewählt.
({2})
Die Verlierer vom 22. September heißen Edmund Stoiber
und Angela Merkel.
({3})
Die Opposition hat in der Demokratie eine wichtige Funktion - das wissen wir und das respektieren wir -, aber Herr
Stoiber hat es vorgezogen, nicht im Deutschen Bundestag
dabei zu sein und nun aus München Strippen zu ziehen.
Ihnen, Frau Merkel, will ich sagen: Es macht keinen
Sinn, dass Sie uns heute wieder Ihre verkorksten Wahlrezepte anbieten. Was Sie heute vorgelesen haben, war eine
Rede aus der Wahlkampfzeit.
({4})
Sie hätten in der Zwischenzeit lesen sollen, was wir uns
für diese Legislaturperiode vorgenommen haben.
({5})
Mit genau den Thesen, die Sie heute vorgetragen haben,
sind Sie am 22. September gescheitert. Die Menschen
wollen Ihre Politik nicht. Auch deshalb haben sie uns gewählt und uns das Vertrauen für die kommenden vier
Jahre für die Regierung in Deutschland gegeben.
({6})
Sie, Frau Merkel, sind gut beraten, neu zu beginnen.
Lassen Sie Ihre in der Wahl gescheiterten Positionen
friedlich ruhen und denken Sie neu nach! Kümmern Sie
sich vor allem um Ihre Selbstfindungskommission, von
der man lesen konnte! Da haben die lange Zeit etwas zu
tun, zum Beispiel in der Geschichte mit dem Tafelsilber.
Klären Sie sicherheitshalber auch, ob die Herren Merz
und Koch denn Ihre Helfer oder Ihre Helfershelfer sind!
Schauen Sie, ob das mit den Referenten denn jetzt untereinander geklärt ist!
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen hier über
Politik, nicht über die Neuroseprobleme von CDU/CSU
sprechen. Es gibt schwerwiegende politische Herausforderungen in Deutschland - nur Ignoranten verdrängen
das -, aber diese Probleme sind lösbar; nur Angsthasen
leugnen das. Deutschland ist ein starkes Land mit großem
Potenzial, mit tüchtigen Unternehmern und tüchtigen Unternehmerinnen, mit tüchtigen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, mit einer tragfähigen Infrastruktur, mit
erstklassigen Forschungseinrichtungen und vielen Patenten, mit leistungsfähigen Schulen und Hochschulen, mit
einem Wohlstand wie nie zuvor in der Geschichte, mit einem stabilen sozialstaatlichen Aufbau, mit Menschen, die
zu Anstrengungen bereit sind - der Gegenwart und der
Zukunftsfähigkeit wegen.
Wir wissen: Es wird nicht leicht. Aber die deutschen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind voller Zuversicht in die Gestaltbarkeit der Dinge und der Zukunft.
({8})
Deutschland ist mit dieser Regierung auf gutem Weg.
({9})
Politik hat eine große Verantwortung, aber sie schafft
nicht alles allein. Wir wollen Verantwortungspartnerschaft. Wir wollen die Koalition mit den Menschen in unserem Land. Dazu suchen wir das offene und, wo es nötig
ist, auch streitige Gespräch um den richtigen Weg. Wir
kehren nichts unter den Teppich. Wir machen deutlich, wo
gemeinsame Anstrengungen erforderlich sind. Wir wollen
den Dialog und den Kompromiss.
Wir brauchen viele, die diesen Weg aktiv mitgehen,
zum Beispiel in den Vereinen, in den Verbänden, in den
Gewerkschaften, in den Kirchen, in den Initiativen und in
den Gruppen. Es sind Millionen, die sich für die Gesellschaft aktiv und oft mit viel Einsatz von Zeit und mit
ihrem wenigen Geld engagieren. Das ist der gesellschaftliche Kitt, der dazu beiträgt, Lebensqualität in den Städten und Dörfern zu garantieren.
({10})
Diejenigen, die sich zum Beispiel in den kleinen Sportvereinen engagieren, tun für die Entwicklung der Kinder
und Jugendlichen unendlich viel. Diese Menschen haben
Dank verdient und wir brauchen sie auch weiterhin.
({11})
Unser Land braucht auch das Engagement der Entscheidungsträger in der Wirtschaft. Die meisten dieser
Entscheidungsträger werden akzeptieren, dass sie auf einige steuerliche Privilegien in Zukunft verzichten müssen, weil die Lage der Staatskasse und das Gemeinwohl
das erfordern. Sie werden deswegen nicht arm und sie
bleiben wettbewerbsfähig. Man konnte lesen - Frau
Merkel zitierte das eben -, dass einige über die Verlagerung des Standorts ihres Unternehmens ins Ausland nachdenken. Diejenigen, die das tun, darf man daran erinnern,
dass die Wirtschaft für die Menschen da ist und nicht umgekehrt.
({12})
Wer mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in
Deutschland über Jahrzehnte Erfolge erzielt und Reichtum erworben hat, der muss auch seine Verantwortung für
die Menschen und Regionen in Deutschland sehen. Verehrte Bosse, so viel Patriotismus muss schon sein, dass
man nicht wegläuft, wenn es im eigenen Land einmal anstrengend wird.
({13})
In diesen Tagen wird vieles gleichzeitig angemahnt mit Recht.
Erstens. Die Konsolidierung des Haushalts muss weitergehen; die Neuverschuldung muss sinken. 2006 muss
die Nettokreditaufnahme des Bundes bei null sein. Ich
möchte Sie an das erinnern, was Sie uns 1998 hinterlassen
haben: Das, was wir da geerbt haben, bedeutete, dass wir
an jedem Tag in Bonn und dann in Berlin 220 Millionen DM Schuldzinsen zu zahlen hatten - nicht Schulden,
sondern Zinsen für Schulden! Das darf so nicht weitergehen. Wir werden mit Hans Eichel dafür sorgen, dass
die Nettokreditaufnahme sinkt; denn wir wollen unseren
Kindern etwas anderes als Schuldscheine und Hypotheken vererben. Das bleibt das Ziel unserer Politik.
({14})
Zweitens. Es geht um die Investitionen des Bundes in
Bildung, Forschung und Infrastruktur. Diese Investitionen müssen weitergehen, und zwar mit steigender Tendenz. In die Infrastruktur muss auch deshalb investiert
werden, weil wir nicht von der Substanz leben dürfen.
Übrigens, die Investitionen des Bundes sind im kommenden Jahr höher als je zuvor:
({15})
Sie liegen bei fast 29 Milliarden Euro.
Drittens. Die Steuern müssen sinken. Das werden sie
2004 und 2005. Das entsprechende Gesetz ist beschlossen
und gilt. Nach Ablauf von sechs Jahren werden wir den
Eingangssteuersatz von 25,9 Prozent auf 15 Prozent und
den Spitzensteuersatz ebenfalls deutlich gesenkt haben.
Das ist eine steuerpolitische Großtat, von der Sie nur träumen können. Wir haben die Steuern gesenkt und wir werden das auch weiterhin tun.
({16})
Viertens. Die Lohnnebenkosten müssen sinken. Dafür
zu sorgen ist besonders schwer, weil die Last in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit auf wenigen Schultern liegt. Wir werden die Entwicklung der Rentenversicherungs- und der
Krankenversicherungsbeiträge sehr bald gesetzlich stabilisieren. Sie alle werden dann Gelegenheit haben, dafür zu
stimmen und mit dafür zu sorgen, dass das, was wir alle
miteinander wollen, nämlich stabile Lohnnebenkosten, erreicht wird. Man darf gespannt sein, ob diejenigen, die
dem Grundsatz heute Beifall zollen, mitmachen, wenn es
um die Umsetzung in konkrete Maßnahmen geht.
({17})
Zum Kapitel Lohnnebenkosten gehört auch, dass wir
der illegalen Beschäftigung - der am schnellsten wachsenden Branche überhaupt - noch massiver als bisher den
Kampf ansagen. Ein Bauunternehmer mit 20 Angestellten, für die er ordnungsgemäß Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge entrichtet, wird von solchen Bauunternehmern ausgetrickst, die durch Ausbeutung illegal
Beschäftigter die Preise unterbieten. Es darf nicht so bleiben, dass die ehrlichen Unternehmer und die ehrlichen Arbeitnehmer in Deutschland die Dummen sind, während
sich die anderen ins Fäustchen lachen.
({18})
Es verwundert schon, dass die Spitzen der Unternehmerverbände die Bundesregierung wegen der zu hohen
Lohnnebenkosten attackieren, obwohl sich in ihren eigenen Reihen genau diejenigen befinden, die das System
durch illegale Beschäftigung massiv unterlaufen. Die Verbände sollten sich um die schwarzen Schafe in ihren eigenen Reihen kümmern. Wenn sie das täten, dann wäre
viel gewonnen. Die Verbände sollten zugeben, dass Kündigungsschutz für Arbeitnehmer und Flächentarife unverzichtbare Stabilisatoren unserer wirtschaftlichen Ordnung
sind und bleiben müssen.
({19})
Konsolidierung des Haushalts, steigende Investitionsquote, sinkende Steuern, stabile Sozialversicherungsbeiträge - das alles bei den gegebenen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen gleichzeitig zu erreichen ist
nicht leicht, aber möglich. Wir werden das schaffen. Dazu
müssen alle einen Beitrag leisten, der ihren Möglichkeiten entspricht. Privilegien werden beschnitten, Ausgaben
gekürzt, eine gerechte Verteilung der Lasten gesichert.
Starke Schultern werden mehr zu tragen haben als
schwächere, damit alle Chancen haben, die Chance auf
Bildung und auf Beschäftigung ganz vorneweg. Deshalb
machen wir diese Politik.
({20})
Zu dieser für die kommenden Jahre dominierenden
Aufgabe gehört es auch, die Verkrustungen des Förderalismus in unserem Land aufzubrechen und wieder mehr
Klarheit über Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten
zwischen Bund und Ländern einschließlich Gemeinden
zu schaffen. Bürgernähe, Demokratie und moderne Verwaltung brauchen klare Regeln. Die Gemeindefinanzreform, die in Vorbereitung ist, wird uns dicht an dieses
Thema heranführen. Es wäre gut, wenn jenseits der Tagesaktualitäten ein zielführendes Nachdenken über die
Frage begänne, wie sich deutsche Politik in einem unbestrittenen förderalen System so organisiert, dass sie effizient und unkompliziert zeitgemäß wirken kann und neue
Impulse möglich werden. Ich fordere keinen Konvent,
aber doch einen zielgerichteten Dialog hierzu. Ich hoffe,
dass sich keine Seite des Hauses diesem Dialog entzieht.
({21})
Unabhängig davon werden wir mit unserer Entscheidung vor allem zu Arbeitsmarkt-, Steuer- und Finanzpolitik jetzt die Basis für die großen politischen Projekte
schaffen, die wir in dieser Legislaturperiode voranbringen
wollen, die sich von dem Motto der Koalitionsvereinbarung „Erneuerung - Gerechtigkeit - Nachhaltigkeit“ ableiten. Ein Projekt heißt: Beschäftigung. Beschäftigung
schafft Wachstum, Wachstum schafft Beschäftigung. Daran orientieren wir uns bei der Umsetzung der Hartz-Vorschläge und bei der Mittelstandsinitiative.
Hartz nimmt den zentralen Gedanken auf, dass die Arbeit, die es in Deutschland gibt, von denen getan werden
muss, die legalerweise in Deutschland sind. Wir können
es uns nicht leisten, über 4 Millionen gezählte Arbeitslose,
über 1 Million offene Stellen und wachsende illegale Beschäftigung zu akzeptieren.
Vermittlung ist nicht alles - klar - aber gezieltere Vermittlung ist schon wichtig. Personal-Service-Agenturen,
die Arbeitnehmer auf Zeit vermitteln, sie nicht in die Arbeitslosigkeit zurückfallen lassen, sondern sie sozial sichern und qualifizieren, werden nicht das ganze Problem
lösen, aber doch zur Lösung beitragen. Kapital für Arbeit
hilft den Arbeitgebern, die Arbeitslose dauerhaft einstellen, ihre Eigenkapitaldecke und ihre Investitionskraft zu
stärken.
Beschäftigung schaffen, Vermittlung verbessern, kundenfreundliche und effiziente Strukturen in der Arbeitsmarktpolitik schaffen, das will das Konzept Hartz. Mein
Appell geht an das ganze Haus, als Gesetzgeber das rundum vernünftige Konzept Hartz schnell auf den Weg zu
bringen. Sie werden in wenigen Tagen dazu alle miteinander Gelegenheit haben.
({22})
Es wird uns wichtige Schritte voranbringen und der
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit dienen.
Dazu gehört aber auch die Mittelstandsinitiative als
weiterer zusätzlicher Impuls, der bald realisiert werden
muss. Unser Land braucht mehr Unternehmerinnen und
Unternehmer. In der Wissensgesellschaft sind mehr denn
je Menschen gefragt, die den Mut haben, eigene unternehmerische Initiativen und Ideen zu verwirklichen, Verantwortung zu übernehmen und Arbeitsplätze zu schaffen.
Wir werden deshalb mit einer neuen Gründerinitiative den
Sprung in die berufliche Selbstständigkeit fördern und
begleiten. Es geht um Beratung und Information, um Existenzgründerlehrstühle, um verbesserte Finanzierung. Dazu
gehört auch, den unternehmerischen Generationswechsel
zu erleichtern und den Berufszugang sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern.
Wir werden im Handwerksbereich den eingeleiteten
Liberalisierungsprozess fortführen und darauf hinwirken,
dass das Handwerksrecht einen wirksamen Beitrag zur
Bekämpfung der Schwarzarbeit erbringen kann. Wir wollen die erleichterte Betriebsübernahme durch langjährige
Gesellen und Lockerung des Inhaberprinzips auch bei den
Personengesellschaften.
({23})
Existenzgründer werden in den ersten vier Jahren von
Beiträgen zur Industrie- und Handelskammer freigestellt.
Die Kreditanstalt für Wiederaufbau und die Deutsche
Ausgleichsbank werden zu einem Förderinstitut zur Unterstützung der mittelständischen Wirtschaft mit dem Ziel
kostengünstiger Förderinstrumente zusammengelegt. Die
Umsetzung der Idee einer Mittelstandsinitiative ist eine
der zentralen Punkte dieser Bundesregierung für die kommende Legislaturperiode. Das hat die volle Unterstützung
der SPD-Bundestagsfraktion.
({24})
Ein Projekt heißt: Deutschland kinder- und familienfreundlicher machen. In den vergangenen vier Jahren haben wir in diesem Bereich viel aufgeholt. Es bleibt aber
auch noch genug zu tun. Die Familien müssen selbst entscheiden, wie sie leben und wie sie ihr Leben organisieren wollen. Wir machen da niemandem Vorschriften. Die
eine Lebensform ist genauso viel wert wie jede andere. Es
ist aber offensichtlich, dass die unzureichenden Möglichkeiten für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ganz
besonders junge Frauen und Mütter behindern. Das wollen wir ändern. Betreuungsangebote für die Kinder werden verbessert, bei den 0- bis 3-Jährigen im Krippenalter
und bei den Grundschülern im Hortalter ist der Nachholbedarf besonders groß. Den Ausbau des Angebots an
Ganztagsschulen und Krippenplätzen werden wir mit
Bundesmitteln forcieren. Das ist gut für die Kinder, aber
auch für die Eltern.
Die in anderen Ländern gemachten Erfahrungen lehren: Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedeutet mehr Kinder, nicht weniger. Das bedeutet im Übrigen
auch, das Können und die Kreativität der Frauen stärker
als bisher in die Volkswirtschaft einzubeziehen. Eine Erwerbsquote von nur 60 Prozent bei den Frauen im Westen
der Republik ist zu wenig. Es müssen noch mehr eine
Chance bekommen.
({25})
Noch etwas zum Thema junge Frauen: Diese müssen
mehr Chancen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien bekommen. Dass Studienplätze
in diesem Bereich bisher überwiegend von jungen Männern besetzt werden, ist nicht gut. Frauen beherrschen das
Thema und die Technik mindestens genauso gut wie die
Männer. Wir wollen - das steht in unserer Koalitionsvereinbarung -, dass bis 2005 Frauen mindestens 40 Prozent
der Studien- und Ausbildungsplätze in den IT-Berufen
einnehmen. So konkret sieht bei uns die Schaffung von
Chancengleichheit aus. Das werden wir auch durchsetzen.
({26})
Übrigens gibt es nicht nur bei Frauen auf dem Arbeitsmarkt Nachholbedarf, sondern generell auch bei älteren
Menschen. Zu den Älteren zählen heute vielfach schon
50-Jährige und nicht selten noch Jüngere. Wir wollen mit
entsprechenden Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt dafür
sorgen, dass sich das ändert. 55-Jährige gehören nicht in
den Vorruhestand. Sie gehören an die Arbeit und können
das auch.
({27})
Dass in Deutschland das Arbeitsleben im Durchschnitt
mit 21 Jahren beginnt und mit circa 59 Jahren endet, hat
zu schlimmsten Verwerfungen in unserem Sozialstaat geführt. 38 Jahre Lebensarbeitszeit sind zu wenig. Wir
werden daran arbeiten müssen, dass man ins Arbeitsleben
früher hineinkommt und später aussteigt.
Das offizielle Renteneintrittsalter von 65 Jahren muss
nicht erhöht werden. Wer wie Herr Merz das fordert, redet Unsinn. Wer wirklich zu einem Invaliden wird, muss
sozial abgesichert sein, egal wann er Invalide wird. Mit
unseren Maßnahmen kommen wir aber auf ein faktisches
Renteneintrittsalter von 62 oder 63 Jahren, nicht mehr wie
bisher von 59 Jahren. In den sozialen Sicherungssystemen
macht das einen riesigen Unterschied aus. Wir müssen die
Trendwende in den kommenden Jahren schaffen.
({28})
Auch für die Betroffenen ist das übrigens wichtig. Die allermeisten wollen nicht mit 59 oder 55 oder 52 oder noch
früher vom Arbeitsmarkt verdrängt werden; sie wollen arbeiten. Sie können das auch, sie haben Erfahrung, sie haben Wissen. Die Unternehmen in unserem Land müssten
verrückt sein, wenn sie diese Altersklasse abschrieben.
Diesen Menschen muss eine Chance im Leben und auf
dem Arbeitsmarkt gegeben werden.
({29})
Damit hängt noch ein Weiteres zusammen: Ich höre von
den Unternehmensverbänden, es fehlten Hunderttausende
qualifizierterArbeitnehmer. Dazu sage ich: Erstens. Bilden Sie doch aus, Herr Rogowski und Herr Hundt.
({30})
Personalentwicklungspolitik ist doch auch Ihre Aufgabe.
Zweitens. Vergessen Sie die Älteren nicht und versteigen Sie sich nicht auf Zuwanderung als einzige Möglichkeit. Gegen das, was die Kochs und Becksteins da
erzählen, ist festzuhalten: Mit unserem Zuwanderungsgesetz wird Arbeitsmigration gelenkt und gesteuert und
nicht ausgeweitet. Es wird kein Mandat für 100 000 Ingenieure in der Altersklasse zwischen 30 und 35 Jahren von
irgendwo aus der Welt geben, während hier im Land
Ingenieure und qualifizierte Facharbeiter, die älter als
45 Jahre sind, arbeitslos sind. Dafür werden wir sorgen.
({31})
Ein Projekt heißt: die Jungen an die Arbeit. Kluge
Kommentatoren vermissen Visionen in unserer Koalitionsvereinbarung. Da steht aber:
Kein junger Mensch darf nach der Schule in die Arbeitslosigkeit entlassen werden.
Wenn das nicht ein Anspruch ist, vielleicht sogar eine
Vision! Es ist nämlich das Schlimmste, was jungen Menschen passieren kann, dass sie in der Schule - erfolgreich
oder weniger erfolgreich - pauken und nach der Schule
die Perspektivlosigkeit folgt. Die jungen Menschen müssen die Chance haben, weiter zu lernen und zu studieren.
Mehr von ihnen als bisher müssen studieren oder aber
eine duale Ausbildung bekommen oder aber anderswie an
Ausbildung oder Arbeitsfähigkeit herangeführt werden.
Modulare Ausbildung wird dabei ein größeres Gewicht
bekommen; denn eines ist klar: Wer 22 oder 25 Jahre alt
ist und seinen Tag nie zu strukturieren brauchte, nie ordentlich zu lernen oder zu arbeiten brauchte, ist für den
Arbeitsmarkt verloren. Politik und Wirtschaft, Städte und
Arbeitsverwaltung sowie Schulen und Familien sind gefordert. Auch die 6 bis 8 Prozent der jungen Menschen,
die die Schule ohne Abschluss verlassen, brauchen eine
Chance, gerade sie.
({32})
Es wird auch deutlich, wie wichtig es ist, dass unsere Schulkinder die deutsche Sprache lernen, dass sie sie beherrschen.
Diese Aufgabe beginnt im Vorschulalter und in der Integrationsförderung, aber auch in den Familien, gerade dort.
({33})
Ein Projekt heißt: ökologische Modernisierung. Die
Naturkatastrophen rücken näher an die Zivilisation heran.
Jahrhunderthochwasser sind wahrscheinlich gar keine
Jahrhunderthochwasser mehr. Wir müssen noch massiver
Klimaschutz betreiben und den Weg eines vernünftigen
Energiemix gehen.
({34})
In der vergangenen Legislaturperiode haben wir im Deutschen Bundestag 17-mal über wichtige Umweltgesetze
abgestimmt. Darunter waren die Gesetze zum Klimaschutz, zu erneuerbaren Energien, zur Nutzung von Sonne
und Wind, zur Verstärkung der Kraft-Wärme-Kopplung.
15-mal haben CDU/CSU dagegen gestimmt.
({35})
Die Menschen in Deutschland waren gut beraten, dass sie
auch an dieser Stelle uns und nicht dem selbst ernannten
Umweltexperten Stoiber vertrauten.
({36})
Ein Projekt heißt: das Gesundheitswesen solidarisch organisieren und paritätisch finanzieren. Die gesetzliche
Krankenversicherung ist das solidarischste System überhaupt. Sie kann nur funktionieren, wenn alle wissen: Viele
müssen mehr einzahlen, als sie herausbekommen, damit
einige, die darauf angewiesen sind, mehr an Sachleistung
herausbekommen, als sie eingezahlt haben. So funktioniert das. Aber jeder kann betroffen sein, jeder kann hilfsbedürftig werden, kann auch schon in jungen Jahren auf
qualifizierte medizinische Hilfe angewiesen sein.
Das System kann gesichert werden, wenn alle Beteiligten mithelfen, seine Effizienz zu verbessern und da zu
sparen, wo es ohne Einschränkung in der Qualität möglich ist. Darauf richten sich unsere Bemühungen um eine
umfassende Gesundheitsreform. Im Vorgriff darauf wird
es darum gehen, die Versicherungsbeiträge schnell zu stabilisieren.
Ein Projekt heißt: lebendige Demokratie, offene Gesellschaft.
Es gibt in unserer Gesellschaft Minderheiten unterschiedlichster Art. Sie alle können sich darauf verlassen: Solange Sozialdemokraten regieren, solange diese Koalition
regiert, werden sie nicht ausgegrenzt, sondern akzeptiert.
({37})
Wir haben in den vergangenen Jahren in Deutschland viele
böse Heimsuchungen durch Menschen erlebt, die Minderheiten beschimpft und drangsaliert haben, einige bis zum
schlimmsten Exzess. Wir wollen in einem Land leben, in
dem kein Mensch Angst haben muss, nur weil er anders ist
als andere, und zwar unabhängig von seiner Hautfarbe,
seiner Religion, seiner Herkunft, seiner Eigenart. Das wollen wir zusammen mit allen Gutwilligen erreichen: ein
Land der guten Nachbarschaft sein nach innen und nach
außen, ein Land ohne Bundesprüfstelle für Leitkultur.
({38})
Ein Projekt heißt: Deutschland, ein normales Land in
Europa. Lange Zeit war Deutschland getrennt und wir
Deutschen in West und in Ost lebten in einer besonderen
Situation. Wir hatten einVaterland, aber wir lebten in zwei
Welten. Unsere Situation war unnormal. Wie tief greifend
die Entwicklung seit 1990 für unser Land und für uns als
Deutsche in diesem Land sein würde, haben wir 1990
vielleicht noch nicht geahnt.
Jetzt ist Deutschland ein normales Land in Europa
mit Rechten und Pflichten und in der Verantwortung, seinen Beitrag für das Gelingen Europas zu leisten. Bundeskanzler Gerhard Schröder tut das, selbstbewusst die Interessen Deutschlands wahrend - das hat sich in den
vergangenen Tagen nicht zum ersten Mal gezeigt -, aber
auch darauf bedacht, dass Deutschland seinen Beitrag
dazu leistet, dass dieses Europa weiter wachsen kann und
eine Region des Friedens, der Demokratie und des Wohlstands bleibt. Die Bundesregierung hat dafür unsere Unterstützung.
({39})
Vor mehr als zehn Jahren meinten manche in Deutschland, die Zeit der Sozialdemokratie sei vorbei, sie habe
nahezu alles erreicht. Diejenigen, die damals dieser Meinung waren, haben sich geirrt. Die Sozialdemokraten
regieren heute. Wir werden dafür sorgen, dass sich dieses
Land erneuert; denn die Erneuerung zu gestalten ist dringend notwendig in einer Zeit der Globalisierung, der Europäisierung, der tief greifenden demographischen Veränderung und der neuen Kulturtechniken. Wir sichern dabei
soziale Gerechtigkeit. Denn das ist und bleibt der Kern sozialdemokratischer Politik: das Soziale und das Demokratische.
Wir wissen, dass Politik heute nur gut sein kann, wenn
sie auch morgen und übermorgen gut ist. Nachhaltigkeit
ist für manche nur ein Modewort. Aber sie ist unverzichtbar. Deshalb gilt für unsere Politik in den kommenden
vier Jahren und, wie wir hoffen, weit darüber hinaus, was
über der Koalitionsvereinbarung steht, nämlich das Land
zu erneuern, soziale Gerechtigkeit zu sichern und für
Nachhaltigkeit zu sorgen. Wir wollen zusammen mit den
Grünen Deutschland voranbringen. Wir nehmen uns viel
vor. Wir werden es schaffen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({40})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Westerwelle,
FDP-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Regierungserklärung in einer Geschäftsmäßigkeit abgegeben, die für
die erste Regierungserklärung dieser Legislaturperiode
wirklich bemerkenswert ist.
({0})
Sie haben den Text der Regierungserklärung, der Ihnen
aufgeschrieben wurde und der selbst ohne Schwung ist,
ohne Dynamik und ohne Temperament vorgetragen.
({1})
So kann man das Land nicht in Schwung bringen.
({2})
Diese Regierungserklärung war eine Regierungserklärung der babylonischen Sprachverwirrung. Als ich
gestern Nacht diesen Text zum ersten Mal lesen konnte,
den Sie heute im Stile eines Notars bis auf wenige Abweichungen eins zu eins verlesen haben, ist mir wie dem
gesamten Bundestag heute ein Wort aufgefallen, das es
verdient, noch einmal erwähnt zu werden: intelligentes
Sparen. Herr Bundeskanzler, es ist zwar gut, dass Sie,
wenn auch unbeabsichtigt, Ihren Wortwitz in Anbetracht
der Erblast, die Schröder Schröder hinterlassen hat, nicht
verloren haben. Aber man muss schon fragen: Was heißt
eigentlich intelligentes Sparen? Intelligentes Sparen heißt
für die Deutschen nichts anderes als höhere Steuern,
höhere Abgaben, höhere Schulden und weicher Euro. Sie
haben eine babylonische Sprachverwirrung vorgetragen,
aber keine sachliche, vernünftige und konkrete Regierungserklärung.
({3})
Man muss im Detail nachlesen, was Sie im Koalitionsvertrag aufgeschrieben haben. Zunächst einmal haben Sie
Ihren Koalitionsvertrag mit „Erneuerung - Gerechtigkeit
- Nachhaltigkeit“ überschrieben.
({4})
Das sind ebenfalls drei Worte der babylonischen Sprachverwirrung. Denn nach rot-grüner Lesart heißen Erneuerung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit Folgendes: Erneuerung heißt bei Ihnen neue Steuern und neue
Schulden. Gerechtigkeit heißt bei Ihnen: Alle haben die
Chance, arbeitslos zu werden. Nachhaltigkeit heißt bei Ihnen: Solange Rot-Grün regiert, wird es auch so bleiben.
({5})
Deswegen ist es notwendig, dass wir auf das hinweisen,
was Sie vor der Wahl gesagt haben und was Sie nach der
Wahl sagen. Vor der Wahl haben Sie gesagt, die Steuern
würden nicht erhöht. Nach der Wahl haben Sie allen mitteilen müssen, dass die Steuern natürlich erhöht werden.
({6})
Vor der Wahl haben Sie gesagt - auch das ist bemerkenswert -, die Abgaben würden nicht steigen. Mittlerweile
wissen wir, dass alle Abgaben für die sozialen Sicherungssysteme steigen werden.
Vor der Wahl haben Sie davon gesprochen, man dürfe
keine Politik zulasten der Jungen machen und dementsprechend dürfe unser Land nicht mit neuen Schulden
konfrontiert werden. Mittlerweile wissen wir, dass Sie die
Schulden entgegen dem, was Sie sich für die nächsten
Jahre vorgenommen hatten, deutlich erhöhen werden, und
zwar schon nach jetzigem Stand vermutlich um weit mehr
als 6 Milliarden Euro. Das ist ein falscher Weg der Regierung und das wird Ihnen zunehmend entgegengehalten.
Wir haben in der letzten Woche bemerkenswerte Kronzeugen bekommen, die ich Ihrer Aufmerksamkeit empfehle. Nach Ihrer Lesart sind das ja die „Kettenhunde“ der
Opposition. Die Repräsentanten großer Verbände, die am
gesellschaftlichen Leben mitwirken, auf dem Bundesparteitag der SPD als Kettenhunde zu bezeichnen, allein das
ist schon eine bemerkenswerte Wortwahl.
({7})
Es gibt übrigens einen weiteren Beitrag zur babylonischen Sprachverwirrung. Von Herrn Müntefering haben
wir gerade Entsprechendes gehört. Er hat über Toleranz gegenüber Minderheiten gesprochen und festgestellt, dass sie
notwendig ist. Aber als bei der Kanzlerwahl eine Stimme
aus Ihren Reihen fehlte, haben Sie großspurig hinausposaunt: Wir werden den schuldigen Abweichler finden.
({8})
Das ist Ihr Parlamentsverständnis und Ihr Toleranzverständnis. Es ist ein politischer Treppenwitz, was Sie als
politischer Wächter für Kultur hier einbringen.
({9})
Ich möchte für Sie aus dem Herbstgutachten der
führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, das letzte Woche veröffentlicht worden ist, zitieren. Dies muss aus unserer Sicht vorgetragen werden. Mögen Sie die führenden
Wirtschaftsköpfe in unserem Lande auch Kettenhunde
nennen; sie haben Ihnen die Wahrheit ins Stammbuch geschrieben. Wörtlich stand im Herbstgutachten der letzten
Woche:
Die Koalitionsvereinbarungen zur Anhebung von
Steuern und Sozialabgaben sind das Gegenteil dessen, was wachstumspolitisch geboten ist. ... Auch
hier hat sich die Politik in den vergangenen Jahren in
die falsche Richtung bewegt.
Aus meiner Sicht füge ich hinzu: All das, was Sie hier
zur Wirtschafts-, Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik vorgetragen haben, ist exakt das Gegenteil von dem, was
Deutschland braucht, damit es einen besseren Weg einschlagen kann.
({10})
Sie haben ja die Hartz-Kommission als Generallösungsmittel eingeführt, so als ob das der entscheidende
Beitrag sei. In Wahrheit haben Sie dabei vergessen, dass
Sie damit nur an den Symptomen kurieren werden. Als
Herr Hartz im Sommer dieses Jahres das erste Mal mit seinem Konzept an die Öffentlichkeit gegangen ist,
({11})
da konnte man noch hoffen, dass aus „Hartz“ irgendwann
einmal ein Bernstein wird. Mittlerweile haben wir feststellen können, dass durch die Intervention Ihrer Gewerkschaftsfunktionäre und Ihrer Regierungsmitglieder die
notwendigen Strukturmaßnahmen, die seinerzeit von
Hartz vorgeschlagen worden sind, weich gespült und ausgeblendet wurden.
Der eigentliche Problempunkt ist: Sie drücken sich vor
dem, was Deutschland wirklich braucht. Die Regierung
geht den Weg der ungeplanten Planwirtschaft, anstatt den
Weg der Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft zu gehen. Das wird Ihnen auf die Füße fallen.
({12})
Genauso wie Sie vor der Bundestagswahl zu all unseren Vorhaltungen gesagt haben, das sei Propaganda der
Opposition,
({13})
sagen Sie jetzt vor der Hessenwahl und der Niedersachsenwahl wieder nicht die Wahrheit. Sie werden die Steuern nach der Hessen- und der Niedersachsenwahl weiter
erhöhen.
({14})
Sie werden an die Mehrwertsteuer herangehen und den
Bürgern noch kräftiger in die Tasche greifen. Deswegen
werden wir in diesen beiden Landtagswahlkämpfen auf
Folgendes aufmerksam machen: Wer sich diesem Abkassieren entgegenstellen will, wer eine Politik der wirtschaftlichen Vernunft will, der hat bei den beiden Landtagswahlen die Möglichkeit zu einer schnellen Revanche
gegen Rot-Grün.
({15})
In der Wirtschafts-, in der Steuer- und in der Finanzpolitik gibt es keine Perspektive.
({16})
Man sollte sich einmal ansehen, mit welcher Flickschusterei Sie an die Steuersystematik herangegangen sind. Es
macht schon fast Freude, sich die Details einmal anzuschauen. Wir erleben beispielsweise, dass die Umsatzbesteuerung der landwirtschaftlichen Vorprodukte erhöht
wird. Bei der Landwirtschaft findet die Mehrwertsteuererhöhung jetzt schon statt, das haben Sie beschlossen. Davon ausgenommen sind die Futterzubereitung für
Hunde und Katzen sowie Kuchen und Kauspielzeuge für
Hunde und andere Tiere.
Ich kann Ihnen sagen, wie so etwas zustande kommt.
Ich habe da so eine Ahnung: Als Rote und Grüne am Koalitionstisch zusammengesessen sind, haben sie sich gesagt, die Bauern können wir strafen, sie haben uns nicht
gewählt, aber unter den Katzenliebhabern könnte es noch
ein paar Anhänger geben, deshalb können wir die Steuer
nicht erhöhen. Das ist Ihre Steuer- und Abgabenpolitik
ohne Sinn und Verstand, Herr Bundeskanzler.
({17})
Dann gibt es die Kettenhunde. Ich möchte Ihnen einen
Kettenhund der Opposition vorstellen.
({18})
- Frau Kollegin, da Sie von den Grünen mit Ihrem Zwischenruf auf unser Spendenkonto in Nordrhein-Westfalen
anspielen, möchte ich Ihnen Folgendes dazu sagen: Wissen Sie, was der Unterschied ist? Bei uns gibt es einen
Vorgang, den wir aufklären, bei Ihnen kann man eine private Urlaubsreise auf Staatskosten nach Bangkok antreten
und wird danach in die Regierung befördert. Das ist der
Unterschied in unserem Moralverständnis. Wo ist denn
Herr Schlauch?
({19})
Grüne als moralische Instanz? Das ist doch wohl ein Witz.
Ich möchte jetzt auf die Kettenhunde der Opposition
eingehen, denn das ist ein bemerkenswerter Punkt.
({20})
Ein Kettenhund der Opposition, der IG-BAU-Chef und
SPD-Politiker Wiesehügel - er ist ein echter Kettenhund,
er saß bisher für die Sozialdemokraten im Deutschen
Bundestag -, sagt zu dem, was Sie bei der Eigenheimzulage vorhaben, wörtlich:
Finger weg von der Eigenheimzulage! Rot-Grün riskiert, zehntausende Jobs in der Baubranche wegzusparen. Normalverdiener verlieren die Möglichkeit,
der Mietspirale zu entkommen und privates Wohneigentum zu bilden.
So schnell fällt Ihr Lügengebäude zusammen, denn in
Wahrheit machen Sie keine Politik für Familien. Was ist
das für eine Familienpolitik, wenn man künftig ein Eigenheim nur noch mit Zulage bauen kann, wenn man
sechs Kinder hat und in einen Neubau einziehen will? Das
ist doch keine Familienpolitik. Wir müssen allen Familien
mit Kindern helfen, wir müssen alle, die mit Kindern zusammenleben, finanziell entlasten.
({21})
Sie gehen den Weg der Bestrafung von Familien und Beziehern kleiner Einkommen.
Entscheidend ist auch, dass Sie sich vor notwendigen
Strukturreformen drücken.
({22})
Ich nenne in diesem Zusammenhang das Stichwort
Hartz: Hartz immer wieder und überall,
({23})
als ob damit irgendjemandem geholfen wäre. Ich trage Ihnen das Zitat eines weiteren Kettenhundes der Opposition, des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt - der ist ein
echter Kettenhund der Opposition -, vor. Er sagt in der
„Zeit“:
Die hartzschen Vorschläge vom Sommer dieses Jahres gehen in die richtige Richtung, aber sie betreffen
höchstens ein Drittel der gebotenen Deregulierung
des deutschen Arbeitsmarktes.
({24})
Im Bereich der Lohnfindung muss der flächendeckende Tarifvertrag verschwinden, dazu muss im
Tarifvertragsgesetz die Verordnung der Allgemeinverbindlichkeit gestrichen
({25})
und im Betriebsverfassungsgesetz müssen jene
Paragraphen abgeschafft werden, die es den Geschäftsleitungen und den Betriebsräten verbieten,
Betriebsvereinbarungen über Löhne, Arbeitszeiten
und Bedingungen abzuschließen.
Herrgott, dieser Kettenhund der Opposition, Helmut
Schmidt, hat so Recht, dass Sie endlich einmal auf ihn
hören sollten. Sie werden mit Hartz ein bisschen an den
Symptomen herumdoktern, wie Sie es bis jetzt auch gemacht haben, die Ursachen der Arbeitslosigkeit werden
Sie jedoch nicht bekämpfen; denn die Ursache heißt: Arbeit in Deutschland wird durch zu hohe Steuern und Abgaben und zu viel Bürokratie zu teuer.
({26})
Sie stehen für mehr Steuern, für mehr Abgaben und für
mehr Bürokratie. Das ist genau der Weg, der in Deutschland gestoppt werden muss.
({27})
Sie haben mittlerweile einige Beschlüsse gefasst. Ich
habe sie gelesen und gebe zu, dass mir eine Passage auch
deshalb besonders aufgefallen ist, weil sie ausgerechnet in
der zweiten oder dritten Zeile auf der Seite 18 Ihres Koalitionsvertrags stand. Da ist Bemerkenswertes enthalten.
({28})
Dort schreiben Sie allen Ernstes nicht nur, dass Sie die
Abgaben erhöhen wollen - vor der Wahl war dies alles
nicht wahr -, sondern Sie schreiben auch hinein, dass Sie
noch weiter an die Schwankungsreserve der Renten gehen wollen. Die Bürgerinnen und Bürger, die uns jetzt
zuschauen, wissen vielleicht nicht, was sich dahinter versteckt. Ich möchte es ihnen sagen: Die Schwankungsreserve ist nichts anderes als der Notgroschen, den man für
die Rente braucht. Mit Ihrer Politik gehen Sie an diesen
Notgroschen der Rente. Sie verschulden die Rente. Dies
ist eine Katastrophe für Deutschland und für die Rentnerinnen und Rentner.
({29})
Nun zu Bundesfinanzminister Hans Pinocchio Eichel,
der vor der Wahl erzählt hat: Die 3 Prozent werden wir
nicht reißen. - Ich saß gemeinsam mit Herrn Kollegen
Merz und Ihnen wenige Wochen vor der Wahl in einer
Fernsehsendung. Dort haben wir Ihnen gesagt: Sie werden natürlich die 3 Prozent reißen.
({30})
- Sie haben es gewusst und gesagt, dies sei alles Propaganda der Kettenhunde der Opposition.
Mittlerweile kann man erkennen, dass Sie in der Tat
den Wählern vorher die Unwahrheit gesagt haben. Deswegen sagen wir Ihnen, Herr Bundeskanzler: Bei einer
flexiblen Auslegung der Stabilitätskriterien, von der Sie
jetzt sprechen, bekommen Sie den Widerstand der Opposition zu spüren. Wir wollen einen Euro, der so stabil ist
und bleibt, wie es die D-Mark war. Wir wollen keinen
Euro nach dem Vorbild der italienischen Lira. Genau dahin geht aber Ihre Politik mittel- und langfristig, weil die
anderen Länder nachmachen werden, was Deutschland
und Frankreich an Verletzung der Kriterien vormachen.
({31})
Frau Kollegin Merkel hat in ihrer bemerkenswerten
Rede zur Außenpolitik
({32})
- in ihrer außergewöhnlich bemerkenswerten Rede; dies
hat Ihnen nicht gepasst, aber es muss einmal gesagt werden ({33})
schon vieles gesagt und ich will dazu nur zwei Sachen
nachtragen: Ich glaube, es ist schon ein bemerkenswerter
Vorgang, dass Sie vor einer Wahl mit der Angst vor einem
Krieg, mit Antiamerikanismus Wahlkampf gemacht haben. Mit Antiamerikanismus und dem Schüren der Angst
vor einem Krieg sind Sie an die Macht gekommen. Sie haben andere in der Öffentlichkeit mehr oder weniger als
Kriegstreiber dargestellt.
({34})
Dies war schäbig. Mittlerweile sieht man auch, welchen
Schaden Sie damit angerichtet haben.
Sie haben jetzt den außenpolitischen Schaden wieder
gutzumachen, den Sie angerichtet haben. Hierzu nenne
ich das Beispiel Türkei.
({35})
Es ist doch schlechterdings unvorstellbar, dass man der
Türkei jetzt mit konkreten Daten sagt: Ihr werdet demnächst Mitglied der Europäischen Union. Solange in türkischen Gefängnissen gefoltert wird, kann der Türkei
doch nicht allen Ernstes durch solche unbedachten Äußerungen von Ihnen eine konkrete Beitrittsperspektive gegeben werden.
({36})
Wo ist denn Ihr Eintreten für Menschenrechte geblieben?
Nun ein letzter und entscheidender Punkt: Zur Bundeswehr haben Sie gesagt, was alles getan werden muss, und
Sie haben der Bundeswehr für ihre Aufgabenerfüllung gedankt. Dies ist wohl wahr. Aber über das rhetorische Bekenntnis zur Bundeswehr sind Sie nie hinausgekommen.
Vor der Wahl hieß es - von Herrn Struck initiiert -: Soldaten für Schröder. Nach der Wahl heißt es: Schröder gegen
Soldaten. Sie kürzen weiter und weiten gleichzeitig die
Aufgaben der Bundeswehr aus. Dies ist nicht in Ordnung.
({37})
Herr Bundeskanzler, Sie haben in Richtung der Opposition gesagt: Sie saßen da, Sie sitzen da und Sie werden
da sitzen bleiben. Ich sage Ihnen: Sie saßen da, Sie sitzen
da, aber Sie werden da so gemütlich nicht sitzen bleiben.
Dies werden Ihnen die nächsten beiden Landtagswahlen
und einige danach noch zeigen. Die Leute haben gemerkt,
dass Sie mit Lug und Trug, mit der Vorspiegelung falscher
Tatsachen zu Ihrer knappen Mehrheit gelangt sind, meine
sehr geehrten Damen und Herren.
({38})
Das Wort hat der Kollege Fischer, Bundesminister des
Auswärtigen, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Westerwelle, von Sprachverwirrung konnte ich bei
Ihnen nichts feststellen; Sie sprachen deutsch. Aber ich
frage mich: In welcher Realität sind Sie eigentlich zu
Hause, wenn Sie hier der Bundesregierung und der Koalition Lug und Trug vorwerfen? Das sagt einer der
Hauptprotagonisten des Projekts 18,
({0})
das sagt ausgerechnet derjenige, der hier meinte, mit einer
Politik vorankommen zu können, die sich nicht zu schade
war, Antisemitismus und antisemitische Stimmungen zu
mobilisieren.
({1})
Von so jemandem wird Wahrheit und Klarheit eingefordert.
Es rentiert sich eigentlich nicht, auf diese Rede weiter
einzugehen. Allerdings lohnt es sich, etwas zu der Frage
der politischen Kultur in diesem Lande zu sagen. Das werden Sie nicht hinbekommen, Herr Westerwelle, indem Sie
sagen, Möllemann sei der allein Verantwortliche; die FDP
und der Vorsitzende der FDP hätten mit der Strategie des
kalkulierten Wahnsinns, wie die „FAZ“ es genannt hat,
nichts zu tun.
Ich werde nie das nette und kesse Sprüchlein - dafür
sind Sie ja immer gut - vergessen, das Sie damals auf dem
FDP-Parteitag in der Auseinandersetzung mit Herrn
Möllemann formuliert haben: Auf allem, was da dampft
und segelt, gibt’s einen, der die Sache regelt, und das bin
ich, Guido Westerwelle.
({2})
Aber es rentiert sich nicht, weiter darauf einzugehen.
Die entscheidende Frage ist die Herausforderung, vor der
unser Land, vor der wir tatsächlich stehen. Frau Merkel,
Sie sind vorhin noch einmal auf die Bundestagswahlen zu
sprechen gekommen. Mir wird, nachdem ich Ihrer Rede
zugehört habe, sehr klar, warum Sie diese Wahlen verloren haben.
({3})
Die Opposition kann die Regierung in der jetzigen Situation kritisieren; das verstehe ich wohl. Das ist Ihre Pflicht,
die Sie freudig erfüllen. - Das „freudig“ streichen wir, das
ist natürlich nicht wahr, das wissen Sie so gut wie ich; Sie
würden lieber auf der Regierungsbank sitzen. Aber Sie haben die Wahlen verloren, weil Sie in Ihrer Rede wie im
Wahlkampf nicht die alternativen Vorstellungen der
Union, was in diesem Land konkret anders gemacht werden soll, dargestellt haben.
({4})
Sie haben keine eigene Antwort gebracht - von Herrn
Westerwelle rede ich da gar nicht -, weder auf die Frage
der gerechten Gestaltung der Globalisierung und Deutschlands Rolle in diesem Zusammenhang noch auf die Krise
der Weltwirtschaft. Sie können die Regierung trefflich
kritisieren; aber Sie können nicht ignorieren, dass es kein
Spezifikum der bundesrepublikanischen Wirtschaft ist,
sondern im gesamten EU-Raum, in den Vereinigten Staaten und in Japan so ist, dass wir mit einer krisenhaften
Entwicklung der Weltwirtschaft rechnen müssen. Sie haben dazu nichts gesagt.
Mich würde einmal interessieren, wie die Antwort der
Union darauf ist. Wenn wir Wachstumszahlen zwischen
0,2 und 0,6 Prozent schreiben, können wir dann noch dieselben Antworten geben wie bei Wachstumszahlen über
1 Prozent, 2 Prozent oder gar 3 Prozent? Ich behaupte, seriöse Politik kann das nicht. Von der Opposition muss man
verlangen können, dass sie sich hierzu äußert.
({5})
Schließlich zu der Frage - das werden wir im außenpolitischen Teil noch etwas ausführlicher zu debattieren
haben - der terroristischen Bedrohung. In diesem Zusammenhang wünsche ich mir eine Aussprache darüber,
ob der Irak in der Tat das zentrale Problem ist, ob wir angesichts des 11. September letzten Jahres, angesichts von
Djerba, angesichts von Bali oder auch angesichts des
jüngsten tschetschenischen Terrors wirklich gut beraten
sind, hier eine Prioritätenveränderung vorzunehmen. Ich
meine, nein. Der Terrorismus ist die große strategische
Bedrohung für uns. Aber den Antworten darauf muss im
Sinne des Bundeskanzlers ein umfassender Sicherheitsbegriff zugrunde liegen; man darf hier nicht versuchen,
durch Lippenbekenntnisse einen innenpolitischen Vorteil
zu erlangen. Auch dazu haben Sie bis zur Stunde keine
Antwort gegeben.
({6})
Stattdessen haben Sie, Frau Merkel - das sollten Sie ruhig weiterhin machen -, aus Ihrer Rede eine Fragestunde
gemacht, in der Sie Fragen an die Bundesregierung gestellt haben. Das fand ich sehr bemerkenswert. Das heißt,
Sie nehmen die Oppositionsrolle an; die Opposition fragt
und die Regierung muss darauf antworten.
Aber das wird zur Gestaltung der Zukunft unseres Landes nicht reichen. Die Koalition hat hier eine klare Position. Wir müssen Erneuerung, Wachstum, Nachhaltigkeit
und Gerechtigkeit für unser Land erreichen. In der
gegenwärtigen negativen wirtschaftlichen Entwicklung
werden die Probleme und Schwachstellen in unserem
Wirtschaftssystem und unserem Sozialsystem, die wir seit
langem mit uns herumschleppen, offen gelegt. Deswegen
müssen wir sie anpacken. Es hätte mich gefreut, wenn Sie
mit Blick auf die Wirtschaftskrise etwas zu Ihren alternativen Konzepten gesagt hätten.
Was sind denn die konkreten Antworten in dieser Situation? Wie geht die Union denn mit der Tatsache um,
dass es allein im Bundeshaushalt - von den anderen staatlichen Ebenen rede ich erst gar nicht - ein Defizit von
annähernd 14 Milliarden Euro gibt? Wie soll dieses Loch
denn geschlossen werden? Denkt die Union an Steuererhöhungen? Ist das ihr Konzept? Oder spricht sie von
Einsparungen? In diesem Fall würde es uns interessieren,
wo sie Einsparungsalternativen sieht. Die Koalition hat
hierzu ihre Vorstellungen klar auf den Tisch gelegt. Oder
ist die Union vielleicht für Leistungskürzungen? Dann
sollten Sie, Frau Merkel, hier im Deutschen Bundestag sagen, dass Sie zum Beispiel die Renten kürzen wollen und
wenn, in welcher Größenordnung.
({7})
Eine solche Diskussion macht nur dann Sinn, wenn wir
konkret werden. Die Koalition ist konkret geworden. Als
erste unmittelbare Reaktion auf den Koalitionsvertrag erleben wir jetzt, dass alle Interessengruppen aufschreien.
Das ist in einer Demokratie aber auch völlig legitim.
Als ich von den Koalitionsverhandlungen nach Hause
ging, begegnete ich einem Apotheker. Er hielt mich an
und sagte mir: Das könnt ihr doch nicht allen Ernstes beschließen. Ich fragte ihn: Was? Er antwortete nur: Das,
was ihr in eurem Vorschaltgesetz vorhabt. Ich habe ihn gefragt, was wir denn genau vorhätten. Es stellte sich heraus: Er hat jahrelang die Legende geglaubt, dass es Windfall-Profite für die deutsche Pharmaindustrie geben soll.
Deswegen dürften wir nicht den Handel über Internet einführen und hätten am Forschungsstandort Deutschland
höhere Preise. Sieht man sich die Situation in anderen
Ländern an, so stellt man aber fest, dass an den
Forschungsstandorten Großbritannien, Japan und USA
kräftig geforscht wird, teilweise auch von deutschen Unternehmen in Größenordnungen, die beachtlich sind. Ich
höre aber nicht, dass dort die Preise höher sind.
Deswegen frage ich Sie ganz konkret: Wird die Union
etwas gegen die Freigabe des Internethandels einwenden? Haben Sie etwas dagegen, dass zum Beispiel das
Verbot des Mehrfacheigentums an Apotheken angegangen wird? Oder ich frage Sie nach dem Monopol der Kassenärztlichen Vereinigungen. Man lernt hier ja einiges.
Wollen wir dieses Monopol tatsächlich infrage stellen?
Soll die Wahlfreiheit von Kassenpatienten - hier spricht
ein Kassenpatient - auch in Zukunft in den Händen der
Kassenärztlichen Vereinigungen bleiben oder wollen
wir darüber hinausgehen und direkte Beziehungen zwischen Ärzten und den Kassen ermöglichen, um somit kostengünstigere Strukturen zu schaffen? Das sind Fragen,
auf die wir uns auch von Ihnen Antworten wünschen
würden. Wir hätten heute gerne die Position der Opposition gehört.
({8})
Ich komme nun zu der entscheidenden Problematik,
mit der wir es zu tun haben. Reden wir also nicht darum
herum. Der Bundeskanzler hat zu Recht auf den 9. November 1989 hingewiesen. Die deutsche Einheit ist ein
großes Glück für unser Land. Aber es ist zugleich eine
langfristige Herausforderung, die Folgen von Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und vier Jahrzehnten deutscher Teilung zu überwinden. Dass die bundesrepublikanische Volkswirtschaft diese großen Herausforderungen
stemmen kann, zeigt, wie stark sie tatsächlich ist.
Doch es führt umgekehrt kein Weg daran vorbei, zu begreifen, was der Aufbau Ost, der eine langfristige Herausforderung darstellt, die nur die Bundesrepublik
Deutschland im EU-Wirtschaftsraum hat, tatsächlich bedeutet. Für diese Herausforderung sind wir dankbar. Aber
wir müssen doch auch begreifen, dass deswegen diese
ganzen Schlusslicht-Debatten hinken. Bedeutende Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die 1 Prozent ihres
Bruttoinlandsprodukts durch Transfers von Brüssel bekommen und gleichzeitig meinen, uns Ratschläge geben
zu können, sollten das angesichts dieser Sondersituation,
in der wir uns befinden, besser sein lassen. Wir werden die
Erneuerung anpacken, wissend, dass wir mit dem Zusammenwachsen unseres Landes eine Sonderherausforderung
langfristiger Natur zu stemmen haben. Das werden wir
schaffen. Das versprechen wir den Menschen in den
neuen Bundesländern.
({9})
Ich komme auf Hartz zu sprechen. Was ist das Problem
des deutschen Arbeitsmarktes? Es wird immer so schön
darüber geredet und gesagt, der Arbeitsmarkt sei zu stark
reguliert. Wir haben nicht nur hinsichtlich der Debatte
über den Arbeitsmarkt, sondern auch im Zusammenhang
mit unserem Steuersystem die Erfahrung gemacht, dass
alle sagen, wir brauchten den Abbau von Subventionen
im Steuersystem. Aber wehe, man geht einen konkreten
Punkt an: Dann kommt eine Interessengruppe und sagt,
das sei eine Steuererhöhung. Natürlich ist der Abbau von
Subventionen keine Steuersenkung. Für denjenigen, der
die Subvention bekommt, ob es nun ein halber Mehrwertsteuersatz ist oder ein Fördersteuersatz, wirkt der Abbau
natürlich belastend. Aber das ist mehr oder weniger die
Konsequenz eines solchen Abbaus staatlicher Leistungen.
Wir haben die Erfahrung gemacht - das galt heute auch
für Frau Merkel -, dass Sie sich hinstellen und sagen,
einerseits würden wir zu wenig an Subventionen abbauen,
andererseits würden unsere Maßnahmen aber höhere Belastungen für die Menschen bedeuten. Sie müssen schon
sagen, wie Sie es gerne hätten, gnädige Frau.
({10})
Ich komme zurück zu Hartz. Der entscheidende Punkt
ist: Der Arbeitsmarkt ist bei uns in der Bundesrepublik
Deutschland so gestaltet, dass bei einem Wachstum von
etwa 2 Prozent und mehr eingestellt wird. Bei unseren
Nachbarländern, die früher notwendige Reformen angepackt haben, wurde diese Eintrittsschwelle des Wiedereinstellens gesenkt. Genau um diese Aufgabe wird es in
Zukunft gehen. Ich sage Ihnen: Die Reform des Arbeitsmarktes ist für die Koalition der strategische Ansatzpunkt,
um die Systeme der sozialen Sicherung zu erneuern und
zu entlasten, um unseren Sozialstaat neu zu gestalten und
um die Wettbewerbsfähigkeit wiederzugewinnen.
Ich möchte Ihnen jetzt kurz erläutern, worin der strategische Ansatz liegt: Gegenwärtig ist die Situation so, dass
es aufgrund des konjunkturellen Wegbrechens der Weltwirtschaft ab dem Frühsommer des letzten Jahres trotz der
Zuzahlung über die Ökosteuer - etwa bei den Rentenversicherungen und dem Staatsanteil - zu einer Überwölbung
gekommen ist, sodass die Arbeitslosigkeit die Reformen,
die wir angepackt haben, aufzufressen droht oder bereits
aufgefressen hat.
({11})
- Herr Merz, es ist überhaupt kein Unfug, dass es aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit zu höheren Belastungen kommt - Sie können das pro Hunderttausend sogar quantifizieren - und dass diese Belastungen
entsprechend negativ wirken.
({12})
- Entschuldigung, das Wegbrechen der Konjunktur im
Frühjahr letzten Jahres - - Die Bundestagswahlen sind
jetzt doch vorbei.
({13})
Selbst von einem Weltökonomen wie Ihnen kann jetzt,
nach den Bundestagswahlen, doch anerkannt werden,
dass die Bundesrepublik Deutschland bezogen auf die
Wachstumszahlen in der EU nicht mehr Schlusslicht ist,
sondern dass wir uns mit unseren niedrigen Wachstumszahlen im unteren Mittelfeld bewegen. Das kann doch
auch der Weltökonom Merz nicht abstreiten.
({14})
- Ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie sich so aufregen.
({15})
- Ich verstehe es wirklich nicht.
({16})
Insofern kann ich an diesem Punkt nur sagen: Der entscheidende strategische Ansatz ist, dass wir die Einstellungsschwelle durch diese Reformen am Arbeitsmarkt
nach unten senken.
({17})
Meines Erachtens hat das Hartz-Konzept hierzu drei
wesentliche Elemente. Uns würden die Argumente interessieren, die Sie diesen entgegenzusetzen haben.
Als Erstes schaffen wir mit der Umsetzung des HartzKonzeptes sozusagen ein Arbeitslosengeld Teil 2. Damit
werden wir eine Entlastung des kommunalen Bereichs ermöglichen und somit die Investitionsmöglichkeiten gerade auf der kommunalen Ebene erhöhen.
Mit der Möglichkeit, von der Arbeitslosigkeit leichter
in die Selbstständigkeit zu kommen, bieten wir - zweitens - gleichzeitig nicht nur Anreize zur Aufnahme von
Arbeit, sondern wir schaffen vor allen Dingen ein Stück
weit auch die Möglichkeit, legale Arbeit wieder aufzunehmen. Das ist in vielen Bereichen von entscheidender
Bedeutung.
Der dritte und wichtigste Punkt in diesem Zusammenhang wird das Förderprogramm in Verbindung mit der Reform der Bundesanstalt für Arbeit sein. Wir müssen die
Leiharbeit ausweiten. Damit schaffen wir die Möglichkeit
eines flexibleren Arbeitsmarktes, wodurch die Einstellungsschwelle insgesamt nach unten gebracht werden kann.
Für uns ist das der erste und zentrale Schritt. Ich denke,
das ist ein wichtiger Schritt, den Sie nicht kleinreden können, und ein wichtiger und entscheidender Ansatz.
({18})
Ich habe es vorhin, bezogen auf die Gesundheitsreform, schon gesagt: Ich bin wirklich gespannt, wie Ihre
Interessenvertretung im Parlament - wenn die Vorschläge
im Zusammenhang mit dem Vorschaltgesetz auf dem
Tisch liegen - zum Tragen kommt.
({19})
Ich bin gespannt, ob Sie im Interesse des Allgemeinwohls
handeln oder ob Sie gruppenspezifische Interessen vertreten werden.
({20})
Dasselbe gilt für den Bürokratieabbau.
Ich würde gerne noch den Punkt Zuwanderung ansprechen. Amerika wird, bezogen auf die wirtschaftliche
Entwicklung, unter vielen Gesichtspunkten immer als
großes Vorbild hingestellt. Damit ich nicht missverstanden werde: Ich behaupte gar nicht, dass wir Amerika kopieren können. Der kulturelle und der historische Hintergrund im Europa der Nationalstaaten ist nämlich anders.
Die Zuwanderung ist aber einer der wesentlichen dynamischen Wachstumsfaktoren der amerikanischen Volkswirtschaft. Das wollen wir nicht vergessen.
Mit Ihrer im Grunde genommen reaktionären Position
meinen Sie gegenwärtig bei den Menschen in diesem
Land Stimmungen und Ängste mobilisieren und gegen
das Zuwanderungsgesetz polemisieren zu können. Dazu
kann ich Ihnen nur sagen: Wenn das Ihre Position ist, dann
haben Sie mit Wachstum und Zukunftsfähigkeit in unserem Land wirklich nicht viel zu tun; genau damit sind Sie
gescheitert.
({21})
Ein weiterer Punkt. Neben der strukturellen Erneuerung, neben der Konsolidierung, neben dem Kampf gegen
die Arbeitslosigkeit ist die Frage der strategischen Zukunftsinvestitionen von entscheidender Bedeutung. Diese
strategischen Zukunftsinvestitionen betreffen vor allen
Dingen den ökologischen Bereich. Damit führen wir fort,
was wir in den ersten vier Jahren angepackt haben.
Die ökologische Erneuerung ist wichtig, weil jetzt
klar wird, dass wir es beim Klimaschutz nicht mit einem
theoretischen Problem zu tun haben. Gleichzeitig müssen
wir neue Beschäftigungsfelder erschließen. Das heißt, wir
müssen Klimaschutz auch unter beschäftigungspolitischen und wettbewerblichen Gesichtspunkten für den
Standort Deutschland als unternehmerisches Problem anpacken. Genau das tun wir mit der Umsetzung der Koalitionsvereinbarung.
({22})
Die ökologische Erneuerung ist für uns im Verkehrsbereich und im Energiebereich von zentraler Bedeutung.
Genau damit werden wir auch fortfahren.
Noch wichtiger ist angesichts der demographischen
Entwicklung, aber auch eines veränderten Rollenverständnisses gerade junger Frauen - dieses Thema ist Ihnen im Wahlkampf um die Ohren geflogen, deswegen
führen Sie die Strategiedebatte vor allen Dingen an diesem Punkt -, dass die Vereinbarkeit von Kindern und
Beruf in Deutschland nicht mehr allein bei den jungen
Frauen abgeladen wird, wie es bis heute die Realität ist.
Das haben wir klipp und klar gesagt.
({23})
Deswegen werden wir für Kinder von null bis drei Jahren einen flächendeckenden Versorgungsgrad von 20 Prozent in der Bundesrepublik Deutschland durchsetzen. Der
Bund lässt sich hier in die Pflicht nehmen. Wir werden einen solchen Versorgungsgrad gesetzlich festschreiben.
Dieses Gesetz wird hier im Bundestag beschlossen werden. Das ist der Einstieg in ein kinderfreundliches
Deutschland, in dem es nicht mehr darum geht, diesen Bereich zu privatisieren und an einem antiquierten Rollen80
verständnis von Frauen festzuhalten. Wir wollen vielmehr
Ja zu Kindern und gleichzeitig Ja zu Beruf und Karriere
vor allen Dingen für junge Frauen sagen, damit es für
diese in Zukunft einfacher wird.
({24})
Das ist nur einer der Punkte; denn es soll weitergehen.
Das Gesetz betreffend die Betreuung von Kindern zwischen drei und sechs Jahren existiert bereits. Wir wollen
aber auch den Bereich der Vorschule, das Heranführen an
die Schule angehen. Dabei ist die Frage, ob die notwendigen Deutschkenntnisse vorhanden sind, für die volle Partizipation von entscheidender Bedeutung. Anschließend
wollen wir das Thema Ganztagsschule anpacken. All das
halte ich für die entscheidende gesellschaftliche Reform.
Zukunftsfähigkeit macht sich an der Frage eines kinderfreundlichen Deutschlands fest. Zusammen mit der
strategischen Zukunftsinvestition, der ökologischen Erneuerung, den Strukturerneuerungen, die wir angegangen
sind und noch angehen werden, der Reform im Bereich
des Arbeitsmarktes, der Rente und der Gesundheit sowie
einer weiteren Konsolidierung ist dies das Programm, für
das die Koalition konkret steht. Das meinen wir mit Erneuerung, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Das ist die
Politik, die wir für unser Land in den kommenden vier
Jahren umsetzen wollen.
({25})
Frau Merkel, Sie haben es uns heute - jenseits Ihrer
Angriffe - bei den Alternativen einfach gemacht.
({26})
In dem Streit zwischen Regierung und Opposition, sosehr
ich ihn auch liebe und sosehr ich es auch liebe, zuzuspitzen - das gehört dazu -, muss eine Alternative aufgezeigt
werden. Wenn die Grundanalyse richtig ist - von dem Befund gehen auch Sie aus, Frau Merkel -,
({27})
dass wir es in der Tat national wie international mit einer
sehr fordernden Situation zu tun haben, dann wird die demokratische Auseinandersetzung vor allen Dingen um die
Alternativen stattfinden müssen.
({28})
- Herr Glos, dazu kann ich Ihnen nur sagen: An Alternativen - insofern sind Sie über die Wahlnacht noch nicht
hinausgekommen - haben Sie zum Programm der Koalition bis heute nichts geboten.
({29})
Ich sage: Unser Land ist dringend erneuerungsbedürftig. Dafür haben wir den Auftrag. Sie haben den Auftrag,
sich in der Opposition zu erneuern. Dafür müssen Sie aber
noch kräftig zulegen, Frau Merkel.
({30})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Friedrich
Merz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Bundesaußenminister, ich habe mich die ganze
Zeit gefragt, warum eigentlich Sie in dieser Debatte zur
Wirtschaftspolitik sprechen und kein einziger Vertreter
Ihrer Fraktion, der doppelten Doppelspitze der Grünen,
hier sprechen darf.
({0})
Aber das ist ein anderes Thema.
Ich möchte Ihnen, weil Sie morgen auf einer Auslandsreise sein werden und weil ich dazu auch mehrere
Zwischenrufe gemacht habe, auf einen Ihrer Punkte kurz
erwidern und Ihnen zu dem, was Sie zum Thema Weltwirtschaft behauptet haben, etwas sagen. Herr Fischer, Sie
und die Regierung werden in diesen Wochen nicht mit den
Problemen der Weltwirtschaft konfrontiert, sondern Sie
sind mit den Versäumnissen der rot-grünen Wirtschafts- und Finanzpolitik der letzten vier Jahre konfrontiert. Das ist die Wahrheit.
({1})
Sie können sich nicht mehr mit allen möglichen Entwicklungen herausreden.
Wir haben Ihnen vier Jahre lang in diesem Parlament
vorausgesagt, dass Sie mit der Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung das Schlusslicht in der Europäischen Union werden und dass Sie das Wachstum in
diesem Lande zerstören. Wenn es eines Beweises bedurft
hätte, dass das, was wir gesagt haben, richtig ist, dann ist
es das Gutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute in der
letzten Woche gewesen. Diese haben Ihnen gesagt, dass
allein die Politik der rot-grünen Bundesregierung uns im
nächsten Jahr 0,5 Prozent Wachstum kosten wird.
Das Problem - ich wiederhole es - hat einen Namen.
Das Problem ist nicht die Weltwirtschaft, der Name des
Problems ist Rot-Grün. Herr Fischer, dazu hätten Sie
heute etwas sagen müssen, statt die Opposition und unsere
Fraktionsvorsitzende in einer geradezu unflätigen Art und
Weise zu beschimpfen, wie Sie es getan haben.
({2})
Zur Erwiderung erhält der Kollege Fischer das Wort.
({0})
Herr Merz, ich enthalte mich jetzt jeder Polemik,
({0})
warum Sie meinen, ich hätte die Opposition unflätig beschimpft. Lassen wir das!
Für mich geht es um etwas anderes. Sie können doch
nicht alle strukturellen Verwerfungen in der Versicherungslandschaft - die gibt es nicht nur bei uns, sondern im
gesamten EU-Raum - und im Banken- und Finanzsystem - ich könnte Ihnen da nicht nur Banken, die in rotgrün regierten Ländern zu Hause sind, nennen, sondern
auch welche in tiefschwarz regierten Ländern -, wenn Sie
seriös bleiben wollen, Herr Merz,
({1})
bei der rot-grünen Bundesregierung abladen.
({2})
- Ich versuche jetzt, eine Antwort auf Herrn Merz und
nicht auf Herrn Glos zu geben.
Ich kann Ihnen nur sagen: Sie können doch den Zusammenbruch des Neuen Marktes nicht bei der Bundesregierung oder bei der Bayerischen Staatsregierung abladen. All diese Dinge, über die ich spreche, hängen doch
zusammen, Herr Kollege Merz. Ich nehme an, das würden Sie, wenn wir in Ruhe und nicht polemisch darüber
diskutieren würden, jenseits der Fehler, die Sie uns vorwerfen, sofort konzedieren. Sie können doch nicht abstreiten, dass das Platzen der Spekulationsblase in den
Vereinigten Staaten Konsequenzen hat zum Beispiel für
den Neuen Markt, für den ganzen Nemax-Bereich, der
heute faktisch nicht mehr existiert, und für die Bereiche,
in denen in diesem Zusammenhang Überkapazitäten aufgebaut wurden, zum Beispiel im Medienbereich und im
Banken- und Finanzsystem. Ich nenne jetzt nur einige
Bereiche. Das können Sie, wenn Sie als Ökonom seriös
bleiben wollen, nicht allen Ernstes bei der Bundesregierung abladen.
Das habe ich angesprochen. Wenn wir uns darauf verständigen können, dann harre ich Ihrer alternativen Vorschläge.
({3})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Ernst Bahr für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich Herrn
Westerwelle höre, dann muss ich mich nicht wundern,
dass wir bei der Bundestagswahl so gut abgeschnitten haben. Über manche Späße im Sommer konnte man ja vielleicht noch schmunzeln, aber über die Art und Weise und
den Inhalt der heutigen Rede wird mancher Zuschauer am
Fernsehschirm nur den Kopf geschüttelt haben.
({0})
Ich muss wirklich sagen: Wenn man so miteinander umgeht, dann muss man sich nicht wundern, wenn die Wähler
von der Wahl bestimmter Parteien Abstand nehmen.
Wir haben gerade gehört, wir könnten Schwierigkeiten
nicht bewältigen. Dann sollten diejenigen, die die Schwierigkeiten verursacht haben und uns 1998 einen Scherbenhaufen hinterlassen haben, einmal gucken, was sie alles
angerichtet haben. Sich heute hinzustellen und so zu tun,
als hätten wir in vier Jahren das aufräumen können, was
in 16 Jahren kaputtgemacht wurde, das ist ein bisschen zu
einfach.
({1})
Die rot-grüne Koalition wird ihre Arbeit in der
15. Wahlperiode fortsetzen. Dazu haben die Wählerinnen
und Wähler in den neuen Bundesländern einen wichtigen
und wesentlichen Beitrag geleistet. Sicherlich haben viele
von diesen Wählerinnen und Wählern Herrn Stoiber als
Bundeskanzler verhindern wollen, und zwar nicht weil er
ein Bayer ist - Bayern sind schließlich sympathische
Menschen -, sondern weil er als Person und in der Sache
nicht überzeugen konnte. Ich möchte erst gar nicht auf die
untauglichen Konzepte und das dazugehörige Kompetenzteam eingehen. Nein, die Menschen in Ostdeutschland haben nicht vergessen, wie sich Herr Stoiber in der
Vergangenheit gegen eine Politik für Ostdeutschland gestellt hat und wie er das noch heute tut;
({2})
denn Herr Stoiber klagt bis heute gegen den Risikostrukturausgleich für die neuen Bundesländer. Ich denke, das
ist deutlich genug wahrgenommen worden.
({3})
Ich sehe unseren Wahlerfolg im Osten zu einem
großen Teil mit dem Vertrauen begründet, das die Menschen von Rostock bis Suhl, von Magdeburg bis Frankfurt
({4}) in unsere Politik setzen. Das Vertrauen, das uns in
der Bundestagswahl 1998 geschenkt worden ist, haben
wir gerechtfertigt, und das trotz der schwierigen Bedingungen, unter denen wir damals unsere Regierungsarbeit
aufnehmen mussten. Ich erinnere unter anderem an die
hohe Staatsverschuldung, die uns täglich so viele Zinsen
kostet, wie manche Landkreise in Ostdeutschland in einem ganzen Jahr nicht zur Verfügung haben. Ich erinnere
an den Reformstau, den uns die Vorgängerregierung hinterlassen hat und den wir zu einem großen Teil erfolgreich
aufgelöst haben, und an die neuen Aufgaben mit internationaler Verantwortung, denen wir uns stellen mussten.
All dies sind Schwierigkeiten, die wir in der Regierungsarbeit mit bewältigen mussten. Wenn uns also die Wählerinnen und Wähler in Ostdeutschland am 22. September
in so hohem Maße gewählt haben, dann deshalb, weil sie
- zu Recht - erfahren haben, dass die jetzige Bundesregierung mit großen Herausforderungen fertig wird.
({5})
Das gilt insbesondere auch für den Aufbau Ost.
Aufgrund der verfehlten Förderpolitik der alten Bundesregierung zu Beginn der 90er-Jahre entstand ein weit
überdimensionierter Bausektor, der die Wirtschaftsstruktur verzerrte und die Dynamik der wirtschaftlichen Ent82
wicklung in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre deutlich
bremste. Dieses Problem wirkt noch heute nach. Wir haben mit der Regierungsübernahme 1998 gegengesteuert,
({6})
indem wir die Reformen in Ostdeutschland auf zwei wesentliche Handlungsfelder ausgerichtet haben: erstens die
Sicherung der finanziellen Grundlagen für den Aufbau
Ost und zweitens die Modernisierung der Förderinstrumente. Durch unsere Konsolidierung des Bundeshaushalts haben wir die finanzpolitische Handlungsfähigkeit
des Staates wiederhergestellt und gestärkt sowie die
finanziellen Grundlagen für den Aufbau Ost geschaffen.
Nur so konnten wir eine Anschlussregelung für den Solidarpakt II ab 2004 durchsetzen und das Fördervolumen
für den wirtschaftlichen Aufbau Ost verstärken.
({7})
Diese Politik werden wir nun mit modifizierten Schwerpunkten fortsetzen; denn wir haben dafür die Stimmen in
den neuen Bundesländern bekommen. Wir haben die Politik für Ostdeutschland auf die Zukunft der Menschen in
den neuen Bundesländern hin orientiert und mit dem Solidaritätspakt II auf solide Füße gestellt.
({8})
Damit ist Planungssicherheit bis 2019 gegeben.
Im Koalitionsvertrag werden die soliden Grundlinien
von 1998 fortgeschrieben. Auf dieser Basis gestalten wir
weiter unsere Politik. Wer Politik für Ostdeutschland gestalten will - das haben wir frühzeitig erkannt -, muss
Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Brandenburg, Sachsen,
Sachsen-Anhalt und Thüringen als integralen Bestandteil
der Politik für Deutschland begreifen und gestalten.
({9})
Die Aufgabe einer jeden Bundesregierung liegt darin, die
Entwicklung der neuen Bundesländer nicht als Selbstzweck, sondern als eine Aufgabe zu begreifen, Deutschland als Ganzes zu einem starken und verlässlichen Partner in der Welt zu entwickeln. Das tun wir mit unserer
Politik für Ostdeutschland.
Uns Ostdeutschen geht es nicht um den Nachbau West,
sondern um eine Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft, mit der wir einen Beitrag für ein starkes, solidarisches Deutschland leisten. Dafür haben wir in den vergangenen vier Jahren Bedingungen geschaffen, die wir jetzt
verbessern und den neuen Verhältnissen anpassen wollen.
Deshalb sieht der Koalitionsvertrag für den Aufbau Ost
folgende Schwerpunkte vor: die Förderung von Investitionen und Mittelstand. Der gewerbliche Mittelstand
als Kernstück der ostdeutschen Wirtschaft wird weiterhin
unsere besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung erfahren. Die Fortsetzung der Investitionsförderung, die
Existenzgründerinitiative, die Bestandspflege und die
Schaffung von Pilotregionen für integrierte Entwicklung
in den Bereichen Innovation, Investition, Infrastruktur
und Ansiedlungsförderung sind Instrumente dafür.
Investitionen in Ausbildung und Forschung sind Zukunftsinvestitionen. Erfolgreiche Programme wie „InnoRegio“ und „Regionale Wachstumskerne“ werden fortgesetzt. Der Aufbau wissenschaftlicher Kompetenzzentren
und die finanzielle Förderung der Hochschulbibliotheken
sind ebenso wichtige Maßnahmen für eine gute Wirtschaftsentwicklung wie der Ausbildungsaustausch. Ausbildungsfähigkeit und Ausbildungsbereitschaft der kleineren und mittleren Unternehmen müssen erhalten und
gefördert werden, um die jungen Menschen in eine betriebliche Erstausbildung zu bringen.
Die Kommunen benötigen eine leistungsfähige Infrastruktur. Ein gut ausgebautes Verkehrssystem ist eine
entscheidende Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Wir wollen, dass der neue Bundesverkehrswegeplan 2003 einen klaren Schwerpunkt Ostdeutschland enthält.
({10})
Der Stadtumbau Ost und die ungebundene Finanzzuweisung der Mittel aus dem Investitionsgesetz werden fortgesetzt. Eine tragfähige Altschuldenregelung ist für die Entwicklung der kommunalen Infrastruktur unverzichtbar.
Wir schaffen Arbeit und neue Qualifikation. Damit
die Vorschläge der Hartz-Kommission auch in den neuen
Bundesländern ihre Wirkung voll entfalten können, sollen
die Personal-Service-Agenturen in Ostdeutschland beschleunigt aufgebaut und das Programm „Kapital für Arbeit“ auf die betrieblichen Verhältnisse in den neuen Ländern ausgerichtet werden.
Mit einem JUMP-plus-Programm soll den Jugendlichen nach der Erstausbildung eine Brücke in den Arbeitsmarkt gebaut werden.
({11})
Die Bundesregierung beginnt im Jahr 2003 mit dem Wettbewerb „Die Jugend bleibt“, mit dem innovative und
kreative Jugendprojekte sowie Beispiele für die Gestaltung des Lebens- und Wohnumfeldes junger Menschen
ausgezeichnet werden.
Für die zweite besonders betroffene Gruppe, die älteren Langzeitarbeitslosen, werden wir das Programm
„AQTIV plus“ starten. In den künftigen Tarifverhandlungen von Bund, Ländern und Gemeinden mit den
Gewerkschaften wollen wir eine differenzierte Stufenregelung zur Angleichung der Einkommen im öffentlichen
Dienst in Ost und West bis 2007 umsetzen.
Landwirtschaft, Natur und Tourismus sind wichtige
Wirtschaftsbereiche in Ostdeutschland. Für die ostdeutsche Landwirtschaft ist die Altschuldenfrage das
letzte ungelöste Vereinigungsproblem. Wir werden ein
Gesetz zur abschließenden Lösung der Altschuldenregelung vorlegen, wobei die wirtschaftliche Situation der einzelnen Unternehmen berücksichtigt wird.
Die Gesundheitsversorgung ist ein wichtiger Beitrag
für die Lebensqualität in den neuen Ländern. Wir setzen
uns für den Erhalt des Risikostrukturausgleichs der gesetzlichen Krankenkassen ein. Es müssen Anreize für
Haus- und Fachärzte geschaffen werden, sich in unterversorgten Regionen der neuen Länder niederzulassen. Dabei stehen die Kassenärztlichen Vereinigungen mit in der
Verantwortung.
({12})
Ernst Bahr ({13})
Ernst Bahr ({14})
Die EU-Osterweiterung bietet vielfältige Chancen für
Ostdeutschland, sich zu einer europäischen Verbindungsregion zu entwickeln. Wir werden deshalb grenzüberschreitende Kooperationen von Betrieben, Hochschulen,
Vereinen und Kommunen mit Osteuropa besonders fördern und in der Wissenschaftskomponente stärkere Akzente in den Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie in
der Informatik setzen.
Die Opfer des SED-Regimes haben weiterhin unsere
besondere Aufmerksamkeit. Die Bundesregierung hat in
der vergangenen Wahlperiode wichtige Initiativen ergriffen, um eine Besserstellung der SED-Opfer zu erreichen.
Wir wollen dafür sorgen, dass Menschen, die für Demokratie gekämpft haben, nicht vergessen werden.
({15})
Sie sehen, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns kritisch mit unserer Arbeit in den
vergangenen vier Jahren auseinander gesetzt, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen in
Ostdeutschland genauestens analysiert und die Anregungen aus der Bevölkerung aufgegriffen. Das, was wir bisher erreicht haben, kann sich sehen lassen. Aber es sind
noch viele Aufgaben und Probleme in Ostdeutschland zu
lösen. Wir werden unsere Arbeit für eine gute Entwicklung in den neuen Ländern fortsetzen.
Wie gut wir in dieser Arbeit vorangekommen sind,
zeigt sich auch in unserer Beteiligung als Ostdeutsche an
der Verantwortung für ganz Deutschland, zum Beispiel
durch Kanzleramtsminister Rolf Schwanitz, dem ich an
dieser Stelle für seine erfolgreiche Arbeit und sein Engagement für Ostdeutschland recht herzlich danken möchte,
({16})
oder den neuen Bau- und Verkehrsminister Manfred
Stolpe, der mit seinen Erfahrungen aus seiner Arbeit in
Brandenburg nun für ganz Deutschland arbeiten wird, oder
die Parlamentarischen Staatssekretärinnen und Staatssekretäre Gerald Thalheim, Ditmar Staffelt, Iris Gleicke,
Christoph Matschie und Christel Riemann-Hanewinckel,
die ebenfalls in gesamtdeutscher Verantwortung stehen.
({17})
Ihnen allen wünsche ich viel Glück und Erfolg für ihre
Arbeit.
Den Menschen in den alten Bundesländern sage ich an
dieser Stelle ein recht herzliches Dankeschön für ihre Solidarität und ihre Unterstützung für Ostdeutschland.
({18})
Wir werden diese Hilfsbereitschaft noch eine Weile
benötigen, um zu einer sich selbst tragenden Entwicklung
in Ostdeutschland zu kommen. Dafür werden wir Ostdeutsche uns noch stärker als bisher engagieren und unsere Arbeit intensiv fortsetzen.
Herzlichen Dank.
({19})
Das Wort hat der Kollege Michael Glos, CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident, vielen Dank für die Gelegenheit, hier
zu sprechen.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr
Dr. med. h. c. Fischer ist wohl nicht im Raum.
({1})
Herr Fischer, Sie haben es derzeit schwer. Sie sind gleichzeitig Fraktionsvorsitzender, Parteivorsitzender, Außenminister und offensichtlich auch noch Chefökonom. Ich
darf Ihnen und den Grünen ein paar ökonomische Ratschläge geben. Die Frau Höhn hat ja gesagt: Das Problem
ist, dass bei den Grünen die Parteivorsitzenden zu schlecht
bezahlt werden; deswegen läuft das Ganze nicht. Bezahlen Sie Ihre Leute ordentlich, dann müssen Sie nicht alles
selbst machen und dann sind Sie hier auch nicht so laut
und aufgeregt, wie Sie es gerade waren.
({2})
Das „Handelsblatt“ hat heute geschrieben: „Stimmungstief vor Schröders Rede.“ Was die allerdings morgen schreiben, Herr Bundeskanzler, weiß ich nicht.
({3})
Ich bin nicht sicher, dass die Stimmung bei uns im Land
und insbesondere in der Wirtschaft danach steigt.
Ihr Vorvorvorgänger Willy Brandt wurde einmal Willy
Wolke genannt, weil er sich immer so unbestimmt ausgedrückt hat. Sie müssten Gerhard Nebel heißen,
({4})
weil das, was in Ihrer Regierungserklärung steht, ungeheuer nebulös ist. Wir haben geglaubt, dass sich heute alle
Widersprüche aus den Koalitionsvereinbarungen ein Stück
auflösen, aber die Nebel sind geblieben.
Die Neuauflage der rot-grünen Koalition verspricht
nichts Gutes für Deutschland. Ihr Programm ist mutlos.
Ihre Mannschaft ist - das erkennt man, wenn man da hinüberschaut - kraftlos.
({5})
Die Zukunftsperspektiven für Deutschland sind dadurch
trostlos.
({6})
Sie treten mit dem Anspruch an, eine Koalition der Erneuerung zu sein. In Wirklichkeit ist es eine Koalition des
Weiterwurstelns. Sie setzen für die Zukunft weiter auf
Mangelverwaltung. Es ist Flickschusterei. Der Konkurs
wird verschoben, nicht verhindert. Vor allem spürt man
das an den Reaktionen der Betroffenen. Die Konsumenten und die Investoren sind verunsichert. Der Wirtschaftsstandort Deutschland wird leider weiter beschädigt. Das
Vertrauen in unsere wirtschaftliche Zukunft wird leider
nicht geweckt. In der heutigen Zeit des Wandels - es ist
Aufgabe einer Regierung, den Wandel zu gestalten - und
der Unsicherheit erwarten die Menschen Stabilität und
Sicherheit. Sie aber verbreiten - insbesondere dann, wenn
das ein Hü und Hott ist, wenn das eine Echternacher
Springprozession ist: zwei Schritte vor, ein Schritt zurück das Gefühl von Stillstand und Verunsicherung.
Herr Riester hat lange vor der Wahl von der größten
Rentenreform in der deutschen Geschichte gesprochen.
Zwei Jahre später ist alles Makulatur. Die Schwankungsreserve - das ist vorhin vom Kollegen Westerwelle noch
einmal richtig gesagt worden -, die eiserne Reserve, der
Notgroschen der Rentner wird angetastet und ausgegeben.
Vor der Wahl ließ sich Herr Eichel als selbst ernannter
Obersparminister der Nation feiern. Er hat sich als Autor
einer Jahrhundertsteuerreform bezeichnet. Heute meldet
er Rekorddefizite im öffentlichen Haushalt und in den Sozialversicherungssystemen.
Die konjunkturellen Aussichten, die Lage der Staatsfinanzen und die sozialen Sicherungssysteme waren vor der
Wahl im Lot und sind nach der Wahl im Eimer. Herr Eichel
ließ verlauten, zusätzliche Konsolidierungsmaßnahmen
seien nicht notwendig, das finanziell Erforderliche sei in
der Haushalts- und Finanzplanung längst enthalten. Sie,
Herr Bundeskanzler, haben gesagt: Keine höheren Steuern. Das war eines der bekannten schröderschen Machtworte, die eine sehr geringe Verfallszeit haben.
({7})
Heute wissen wir, was dabei herauskommt, wenn Sie
als SPD-Chef und Bundeskanzler die Wahrheit zur Chefsache machen. Die rot-grüne Koalition handelt nach der
Devise: Was juckt mich mein Geschwätz von gestern?
Lügen haben bekanntlich kurze Beine. Es wird bald
heißen: Noch kürzer sind dem Schröder seine.
({8})
Aber vergessen Sie nicht: Lügen haben kurze Beine und
Wähler haben ein langes Gedächtnis.
Wir sind in der Tat in einer schwierigen ökonomischen
Situation. Die Bilanzfälschungen in der Wirtschaft - ich
erinnere insbesondere an diejenigen in der US-Wirtschaft;
ich bin aber nicht sicher, ob in Deutschland nicht zum Teil
das Gleiche passiert ist - haben die Aktienkurse in den
Keller gedrückt. Man hat die Telekom angezeigt, um zu
klären, ob die Bilanzen der Telekom richtig waren. Die
Telekom ist ein gutes Beispiel dafür, wie man das Vertrauen der Anleger nachdrücklich schädigen kann. Durch
ein solches Vorgehen wird vor allen Dingen immer wieder das Vertrauen der Menschen in die in der Politik Handelnden geschädigt. Das, was bei der Telekom geschehen
ist, geht auf Ihr Konto, Herr Bundeskanzler.
({9})
Was wir in den Sommermonaten erlebt haben, war der
größte Wählerbetrug in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
({10})
Als ich das zum ersten Mal gesagt habe, hat mich die Talkmasterin Sandra Maischberger - sie kann einen sehr eindringlich anschauen; Sie kennen sie, Herr Bundeskanzler -, gefragt: Herr Glos, wollen Sie den Vorwurf des Betruges nicht zurücknehmen? - Daraufhin habe ich einmal
nachsehen lassen, wie im Strafgesetzbuch der Tatbestand
des Betrugs definiert wird.
({11})
- Herr Tauss passen Sie auf: Erst muss man jemanden täuschen. Dadurch muss sich der Getäuschte im Irrtum befinden und daraus muss Schaden entstehen. Wenn das geschehen ist, dann ist der Tatbestand des Betruges erfüllt.
Dies alles ist geschehen.
({12})
Die Menschen sind vor der Wahl über die wirkliche Lage
getäuscht worden. Sie haben aus diesem Irrtum heraus
dieser Regierung noch einmal das Vertrauen geschenkt
und ihr zu einer knappen Mehrheit verholfen. Jetzt ist
Deutschland geschädigt, und zwar nachdrücklich.
({13})
Herr Gabriel - er wurde heute schon einmal zitiert - hat
gesagt: „Die Wahrheit vor der Wahl, das hätten Sie wohl
gerne gehabt.“ Er ist ein würdiger Nachfolger von Ihnen,
Herr Bundeskanzler, und er war offensichtlich Ihr Lehrling, als Sie in Niedersachsen regiert haben.
({14})
Er tritt in Ihre Fußstapfen, genauso wie Herr Müntefering
heute in die großen Fußstapfen von Herrn Stiegler getreten ist.
({15})
Das war an Ihrer Rede zu merken, Herr Müntefering. RotGrün bekennt sich zum Prinzip der Nachhaltigkeit. In den
Täuschungsmanövern sind Sie allerdings sehr nachhaltig
und das beschädigt die politische Kultur im Land.
({16})
Es ist schlimm genug, dass die Kultur in unserem
Land, dem Land der Dichter und Denker, dem Land von
Goethe und Schiller, schon so beschädigt ist, dass
Dieter Bohlen der Star der Buchmesse ist. Aber das bewegt sich auf einer Linie mit dem Verhalten der Deutschen bei der Kanzlerwahl. Es ist folgerichtig, dass aus
dem einen das andere entsteht. Da lobe ich mir den ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, der die Devise ausgegeben hat: Deutschland braucht Wahrheit und
Klarheit. Die Antwort von Rot-Grün war: Machterhalt
um jeden Preis. Ich weiß nicht, ob er diesen Preis wirklich wert war.
({17})
Herr Eichel wird in das „Guinnessbuch der Rekorde“
eingehen. Eine so gelungene Selbstdemontage als Finanzminister hat es noch nie gegeben. Das ist eine Blamage für unser Land. Wir müssten Deutschland eigentlich
in Absurdistan umbenennen.
({18})
In der Weitsicht war Hans Guck-in-die-Luft dem Eichel
weit überlegen.
({19})
Die Koalitionsvereinbarungen sind voller Widersprüche. Dem deutschen Steuerbürger - also einer Person
in diesem Land, die so dumm ist, überhaupt Steuern zu
zahlen, da sie nicht alles schwarz macht - misstraut man
zutiefst. Man will das Bankgeheimnis aufheben, man will
den gläsernen Steuerbürger. Von ihm wird man wahrscheinlich die biometrischen Daten aufnehmen, die man
bei potenziellen Terroristen nicht im Pass haben will.
({20})
Ich finde das schon eine ungeheure Widersprüchlichkeit,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
Für alle ökonomischen Fehlhandlungen zahlt die so genannte Neue, aber auch die alte Mitte die Zeche, und zwar
ganz brutal. Hans Eichel wurde nach kurzer Zeit vom eisernen zum blanken Hans. Sein großspuriges Versprechen
eines ausgeglichenen Gesamthaushalts für 2006 war so
viel wert wie Ihr Versprechen heute, Herr Müntefering,
für 2006. Der Herr Bundeskanzler hat es heute in seiner
Regierungserklärung ebenfalls versprochen.
Was besonders schlimm ist: Die Defizitobergrenze
von Maastricht wurde verfehlt, unser Land ist zum Gespött in Europa geworden. Deutschland braucht inzwischen nicht nur einen blauen, sondern einen dunkelblauen
Brief. Der Stabilitätspakt ist geschaffen worden, weil man
den Südländern misstraute. Man meinte, die Italiener und
andere würden die Stabilitätskriterien nicht einhalten. Inzwischen sind die Deutschen diejenigen, die den blauen
Brief in Empfang nehmen müssen. Ich finde es schlimm,
wenn die Regeln für die neue Währung, die man sich
selbst gegeben hat, einfach niedergerissen werden. Die
Menschen haben dem Euro vertraut, weil wir gesagt haben, er wird so sicher und stabil wie die Mark werden. Ich
kann Sie nur davor warnen, über diese Dinge einfach hinwegzugehen.
({21})
3 Prozent bedeuten einen Spielraum von 60 Milliarden
Euro, den man in den öffentlichen Gesamthaushalten hat.
Das ist kein Pappenstiel, daraus lässt sich allerhand machen. Einfach an die Obergrenze heranzugehen und sie zu
überschreiten halte ich für falsch.
({22})
Wir befinden uns dadurch am Rande einer länger anhaltenden Rezession und das sollte Ihnen Sorgen machen.
Die „Süddeutsche Zeitung“, die es inzwischen wahrscheinlich bereut - wenn es die Zeitung nicht bereuen
kann, weil sie ja nur ein Stück Papier ist, dann werden es
der Verlag, die Herausgeber, die Eigentümer bereuen;
denn dort klopft jetzt Bodo Hombach an die Tür -, hat
Rot-Grün herbeigeschrieben und die ökonomischen Folgen müssen jetzt auch ein Stück getragen werden. Jedenfalls ist das, was im Wirtschaftsteil steht, oft richtig. Darin
stand unlängst:
Offensichtlich ist allenthalben die große Verunsicherung und neuerdings der blanke Zorn über eine die
Bedürfnisse der Unternehmen missachtende Berliner
Wirtschaftspolitik. Dieser Zorn ist real und nicht
konstruiert, er ist keine Erfindung von Opposition
oder Wirtschaftsjournalisten, keine Kampagne. Die
Wut der Wirtschaft signalisiert eine sinkende Loyalität. Die Folgen reichen weit: von der sinkenden Bereitschaft auszubilden über ein nachlassendes gesellschaftliches Engagement bis hin zu wildester
Steuergestaltung und womöglich einem regelrechten
Investitionsstreik.
So weit Marc Beise in der „Süddeutschen Zeitung“.
Vorhin hat der Herr Minister des Äußersten gesagt
({23})
- Entschuldigung, Herr Minister -, die Finanzmärkte befinden sich in einer Krise. Das ist richtig. Der Einzelhandel bekommt die nachlassende Kaufkraft zu spüren und
auch die Verunsicherung der Verbraucher. Das Handwerk
hat allein in den letzten drei Monaten über 300 000 Arbeitsplätze abbauen müssen. Und es fällt keinem Handwerker
leicht, jemanden zu entlassen; ganz bestimmt nicht, da ist
etwas Herzblut dabei. Die Talfahrt der Bauwirtschaft hält
an und wird sich durch das geplante Zusammenstreichen
der Eigenheimzulage noch beschleunigen.
Herr Fischer, übrigens haben Sie in einer Diskussionsrunde vor der Wahl noch die Opposition bezichtigt, sie
wolle die Eigenheimzulage streichen.
({24})
Das Gegenteil ist wahr.
({25})
Diese Zulage wird von Ihnen jetzt kalt gestrichen, was Sie
vorher in Ihrer Art der Wählertäuschung und -verunsicherung uns unterstellt haben.
In der gesamten verarbeitenden Industrie ist die Stimmung miserabel. Die Ampeln stehen auf Arbeitsplatzabbau. Wer in dieser Situation auf massive Steuererhöhungen, steigende Sozialbeiträge und zusätzliche Schulden
setzt, der verschärft die Krise. Das alles ist Gift für Konjunktur und Wachstum.
({26})
Bei aller Ungewissheit über Prognosen ist eines gewiss: Mit einer derart schwachen Wirtschaftsdynamik
kann keine grundlegende Wende auf dem Arbeitsmarkt
erreicht werden, Hartz hin, Hartz her. Das wird sich als
eine große Seifenblase erweisen.
({27})
Wenn Sie schon unserem wirtschaftlichen Sachverstand nicht trauen, dann glauben Sie wenigstens den von
Ihnen selbst berufenen Gutachtern aus den Wirtschaftsforschungsinstituten. Das sind inzwischen ja nicht mehr
die, die während der Regierungszeit von Helmut Kohl berufen worden sind. Die sagen in ihrem Herbstgutachten:
Alle Pläne der Wirtschaftspolitik in den kommenden
Jahren müssen daran gemessen werden, ob sie dazu
beitragen, die Probleme des geringen Wachstums
und der geringen Beschäftigungsdynamik zu lösen ...
Die Koalitionsvereinbarungen zur Anhebung von
Steuern und Sozialabgaben sind das Gegenteil dessen, was wachstumspolitisch geboten ist.
Man kann das Ganze auch volkstümlich ausdrücken - ich
denke dabei vor allen Dingen an die Leute draußen, die
gerne den Ketchup-Song hören -, denn in der Gerd-Show
heißt es dort:
Was du heute kannst versprechen,
darfst du morgen wieder brechen.
Drum hol’ ich mir jetzt jeden einzelnen Geldschein,
euer Pulver, eure Kohle, euer Sparschwein.
So sieht es die Bevölkerung draußen. Deswegen wird dieser Song ein großer Hit werden.
({28})
Im Zeitalter der Globalisierung und der Konkurrenz
um Finanzströme ist es ganz besonders wichtig, unseren
Finanzmarkt in Ordnung zu halten. Nun hat sich Joseph
Fischer, zurzeit, wie wir sehen, gleichzeitig Bundesaußenminister, Fraktionsvorsitzender und amtierender
Parteivorsitzender der Grünen,
({29})
vorhin auch ein wenig über die Aktienmärkte, auch den in
Amerika, verbreitet. Der Zusammenbruch geschah in erster Linie an der deutschen Börse. Der Dow-Jones-Index
ist längst nicht so stark gesunken wie der DAX. Auch in
Europa sind die Aktienkurse im Durchschnitt nicht so
stark wie in Deutschland gesunken. Das ist die Wahrheit.
({30})
- Selbstverständlich nicht. Ich bin dabei sehr gut gefahren. Das bisschen, was ich hatte, habe ich blitzartig verkauft, als Rot-Grün begonnen hat zu regieren.
({31})
Die alten Lehren kenne ich noch. Ich habe auch noch
die Bücher des alten Bankiers Fürstenberg gelesen, der gesagt hat - die Geschehnisse unter Rot-Grün haben ihm
wieder einmal Recht gegeben -: Aktionäre sind dumm und
frech - dumm, weil sie anderen Leuten ihr Geld geben, und
frech, weil sie dafür auch noch Dividende wollen.
({32})
Jetzt sage ich Ihnen etwas, was viel ernster ist: Man
kann Vertrauen ungeheuer schnell zerstören. Es ist aber
ungeheuer schwierig, Vertrauen wieder aufzubauen. Ein
zerstörter Kölner Dom wäre leichter aufzubauen als zerstörtes Vertrauen. Ihre Vorhaben, nämlich die Gewinne
aus der Veräußerung von Wertpapieren und Immobilien
unbeschränkt zu versteuern,
({33})
der Lebensversicherung in die Kasse zu greifen, die vermögenswirksamen Leistungen in Aktien und Wertpapierfonds zu besteuern, all diese Steuerpläne schaffen kein
Vertrauen in unseren Kapitalmarkt, sondern werden die
Krise leider noch verstärken.
In Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, geben Sie auch auf andere Schicksalsfragen der Nation wenig Antworten. Die Unterfinanzierung der Bundeswehr
wird offensichtlich festgeschrieben.
({34})
Bundesverteidigungsminister Struck hat den Fehler gemacht, dass er sich nicht vom ersten Tag an dagegen gewehrt hat. Jetzt wird sein Etat weiter gekürzt. Das hat er
nun davon. Die Bundeswehr ist unsere Armee. Wir sind
stolz auf sie. Aber auch die Frage, wie es weitergehen soll,
ob es eine Freiwilligenarmee wird oder ob die Wehrpflicht
bleibt, ist noch nicht endgültig entschieden worden, sondern diese Entscheidung wurde vertagt. Die NATO-Partner fragen sich, was eigentlich von uns zu halten ist, wenn
überall so viel Beliebigkeit Platz greift.
Über den Aufbau Ost haben wir vorhin eine mitreißende Rede gehört. Herr Präsident, Sie haben sie dankenswerterweise vorher halten lassen. Ich freue mich darüber, denn so brauche ich nichts dazu zu sagen. Die
frühere Chefsache ist also inzwischen zu einer Rolle
rückwärts geworden. Bezüglich der inneren Sicherheit
finden sich nur Leerformeln. Von dem, was wir wirklich
bräuchten, steht nichts in der Koalitionsvereinbarung,
auch nicht die von
Sexualstraftäter, also Kinderschänder, gehören weggesperrt, und zwar für immer.
Dafür hat er sehr viel Beifall bekommen, aber er hat davon in der Koalitionsvereinbarung nichts durchgesetzt.
({0})
Auch bei der Umweltpolitik herrscht Fehlanzeige.
Stattdessen wird Erdgas stärker besteuert. Die Bauern
kommen nur noch als Kostenfaktor im Zusammenhang
mit der EU vor. Es finden sich keine Worte über den ländlichen Raum und all das, was an der Landwirtschaft hängt.
In der Außenpolitik hat man aus dem Schüren von
Kriegsangst kurzfristig Kapital zu schlagen versucht. Das
ist richtig. Jetzt folgt für den Herrn Bundeskanzler der
Gang nach Canossa, wobei Canossa in diesem Fall irgendwo bei Washington liegt. Morgen macht ja der Bundesaußenminister bereits einen Probegang.
({1})
Ich kann Ihnen sagen: Heinrich IV. hat sich in Canossa
wohler gefühlt, als Sie sich in den USA fühlen müssen.
Jetzt glauben Sie, Sie könnten die Vereinigten Staaten
von Amerika damit beruhigen, dass Sie für eine möglichst
schnelle Aufnahme der Türkei in die Europäische Union
kämpfen. Ich halte von einer Mitgliedschaft der Türkei in
der Europäischen Union nichts.
({2})
Nicht, dass ich missverstanden werde: Selbstverständlich
wollen wir eine gute Partnerschaft mit der Türkei innerhalb der NATO; auch brauchen wir gute Handelsbeziehungen mit der Türkei. Nur können wir ihre Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union nicht gebrauchen. Auch
die damit verbundene Freizügigkeit von Anatolien nach
Deutschland hin in beliebigem Maße können wir nicht gebrauchen.
({3})
Wir können auch kein Land als Vollmitglied in der Europäischen Union gebrauchen, dessen Wirtschaftsleistung
nur ungefähr 20 Prozent des Durchschnitts der Wirtschaftsleistung der übrigen EU-Staaten beträgt und das
eine Inflationsrate von 50 Prozent hat. Wenn man jetzt
glaubt, dass man mit der Vollmitgliedschaft der Türkei in
der Europäischen Union irgendjemandem einen Gefallen
tun kann - nicht einmal den Türken selbst könnte man damit einen Gefallen tun -, dann ist man schief gewickelt.
Auch der zweite Anlauf von Rot-Grün erfolgt im Rückwärtsgang. Mit dem, was in den Koalitionsvereinbarungen steht und was wir heute hier gehört haben, lässt sich
die Zukunft nicht gewinnen. Abraham Lincoln hat gesagt,
man könne nicht die Schwachen stärken, indem man die
Starken schwäche. Genau das ist aber Ihr Programm.
({4})
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung. Ich weiß
nicht, ob der Herr Bundeskanzler noch hier im Plenarsaal
ist.
({5})
Wenn er nicht mehr hier ist, dann hat er aber genug Kettenhunde hier, um sein Wort zu gebrauchen, die ihm das,
was ich jetzt bemerken will, weitersagen können. Ich bin
schon der Meinung und möchte ihm das gern ins Stammbuch schreiben: „Hochmut kommt vor dem Fall.“
({6})
Der Hochmut, mit dem Sie sich heute gegenüber der Opposition verhalten, wird sich - da bin ich ganz sicher rächen. Hören Sie damit auf, diejenigen, die Verantwortung tragen für Unternehmungen und damit für die
Arbeitsplätze von Millionen von Menschen, als Kettenhunde zu beschimpfen!
({7})
Das sind nicht Kettenhunde der Opposition.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn das alles nur dieser Bundesregierung schadete, dann könnte es
uns egal sein; dann könnten wir darüber sogar noch Schadenfreude empfinden. Aber es schadet unserem Land, der
Bundesrepublik Deutschland, in schwieriger Zeit. Für
dieses Land werden wir auch aus der Opposition heraus
arbeiten.
Herzlichen Dank.
({8})
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Sabine
Bätzing von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man heute die Redebeiträge der Opposition hört, dann könnte man glauben, dass die Opposition
noch mitten im Wahlkampf steht. Wie vor dem 22. September sind die Vertreter der Opposition auch jetzt nur dabei, das Land zu zerreden, Innovationen zu behindern,
Stillstand zu produzieren und zu demotivieren.
({0})
Das alles sind Dinge, die wir nicht brauchen.
({1})
Ich möchte lieber noch einmal auf die Koalitionsvereinbarungen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingehen, die eines ganz deutlich zeigen: Deutschland hat eine
starke Regierung, die den Mut und die Entschlossenheit
besitzt, die vor uns stehenden Herausforderungen anzugehen. Wir können dabei auf den beachtlichen Leistungen
in der vorangegangenen Wahlperiode aufbauen. Der Stillstand, der unsere Republik viel zu lange gelähmt hat, ist
beendet.
({2})
Gerade als Vertreterin der jungen Generation bin ich dafür
sehr dankbar.
({3})
Rot-Grün hat mit der Erneuerung begonnen und wir
werden sie nun fortsetzen. Im Koalitionsvertrag steht klar
und deutlich, was wir in dieser Legislaturperiode umsetzen wollen. Wir werden die notwendigen Reformen - ich
meine Reformen im positiven Sinne - konsequent fortsetzen. Da gibt es viel zu tun. Die Lasten, die damit notwendigerweise verbunden sind, müssen wir heute tragen,
damit unsere Kinder und Enkel in Zukunft Handlungsspielräume und Perspektiven haben.
({4})
Ich danke daher im Namen der jüngeren Generation Hans
Eichel für sein finanzpolitisches Kurshalten auch in gefährlichem Fahrwasser.
({5})
- Es ist so. - Es ist uns klar, dass noch manche Klippe zu
umschiffen sein wird. Aber auch das werden wir schaffen.
Ich möchte nun einige Bereiche nennen, die wir weiter
voranbringen werden.
Die Förderung von Familien mit Kindern muss ausgebaut und auf noch solidere Grundlagen gestellt werden
als bisher.
({6})
Wir wollen dafür kämpfen, dass Kinder kein Armutsrisiko
sind. Fast 30 Prozent der Familien mit drei Kindern fallen
leider heute noch unter die Armutsgrenze. Das sind
30 Prozent zu viel. Denn wir alle wissen, dass Kinder aus
besonders einkommensschwachen Familien einen schlechteren Start ins Leben haben. Sie haben keine großen Chancen. Genau das wollen wir ändern. Als ehemalige Sachbearbeiterin im Sozialamt weiß ich, wovon ich rede. Ich
weiß auch, wohin ein solcher Fehlstart im Leben führen
kann.
({7})
Der Koalitionsvertrag enthält darum konkrete Maßnahmen, mit denen Familien mit Kindern und allein erziehende Mütter und Väter weiter unterstützt werden sollen.
Ich nenne in diesem Zusammenhang die 10 000 zusätzlichen Ganztagsschulen sowie den Ausbau der Betreuung
von Kindern unter drei Jahren, bei der wir die Kommunen
ab 2004 jährlich mit 1,5 Milliarden Euro unterstützen
werden.
({8})
Sie sehen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
wird zunehmend Realität. Wir setzen damit die erfolgreiche Politik aus der letzten Legislaturperiode fort. Familien mit Kindern bekommen bereits heute jährlich insgesamt 13 Milliarden Euro mehr als vor vier Jahren.
({9})
Auch durch die Flexibilisierung der Elternzeit und
durch den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit sind wir diesem Ziel ein Stück näher gekommen. Denn wir können es
uns nicht leisten - das wollen wir auch nicht -, auf hervorragend ausgebildete Frauen, die sich an Universitäten,
Fachhochschulen und Berufsschulen bewiesen haben, zu
verzichten. Es ist der richtige Weg, gerade die Kreativität
der Frauen für unsere wirtschaftliche Entwicklung stärker
zu nutzen.
({10})
Aber unsere wichtigste Zukunftsressource ist die
Bildung. Wir brauchen keine PISA-Studie, um klar zu erkennen, dass wir in diesem Bereich noch besser werden
müssen. Die laufende Diskussion um länderübergreifende
Standards im Bildungsbereich halte ich für den richtigen
Weg. Mein Dank geht an Edelgard Bulmahn; denn sie hat
sich in beispielhafter Weise um die Reform des Bildungswesens verdient gemacht.
({11})
Ich sage: Der neue Wind in der Bildungspolitik kann uns
nur gut tun.
Zusammenarbeit und Vertrauen zwischen den Generationen wollen wir auch in Zukunft fördern. Daher gilt für
Kinder und Jugendliche, dass wir gemeinsam mit ihnen
die Zukunftschancen unserer Gesellschaft entwickeln
wollen. Wir wollen, dass jeder Jugendliche, der will und
kann, eine Ausbildung erhält. Die Sicherung des Ausbildungsplatzangebots hat eindeutig Priorität. Dabei bauen
wir allerdings auch auf die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Denn Mitmachen ist Voraussetzung für einen Erfolg in diesem Bereich.
An der Verbesserung der sozialen und beruflichen Integration von jungen Menschen liegt uns viel. Wir müssen
daher die jungen Menschen ernst nehmen und wir müssen
ihnen vor allen Dingen zuhören. Wir wollen den Jugendlichen eine Balance aus Schutz und Freiräumen bieten, die
sie zur persönlichen Entwicklung brauchen. Ich wünsche
mir, dass wir, wenn wir dies beachten, wieder mehr junge
Menschen für Politik interessieren.
({12})
Meine Damen und Herren, die Akzeptanz unserer Politik beruht auf einem einfachen Wort: Solidarität. Solidarität ist ein Grundwert, eine Richtschnur, an der wir uns
messen lassen wollen. Dass wir sie völlig zu Recht auch
von denjenigen einfordern, die auf der Sonnenseite des
Lebens stehen, ist doch wohl klar. Denn Solidarität beweist sich in schwierigen Zeiten. Sie ist keine Einbahnstraße und schon gar keine Schönwetterallee. Die Abwanderung junger, gesunder und gut verdienender
Beitragszahler in die private Krankenversicherung hat ein
Ausmaß erreicht, das die Beitragsstabilität der gesetzlichen Krankenkassen ernsthaft bedroht. Wir aber wollen
keine Zweiklassenmedizin, sondern eine klasse Medizin.
({13})
Zu der sollen alle unabhängig von ihrem Einkommen den
gleichen Zugang haben.
Deshalb sage ich: Aus der Solidarität sollte man sich
nicht so leicht verabschieden können. Nur wenn alle Generationen und alle Einkommensgruppen an einem Strang
ziehen, können wir die vor uns liegenden Aufgaben auch
bewältigen.
Dies hat schon sehr früh ein Mensch erkannt, der in
meinem Wahlkreis Neuwied/Altenkirchen lebte - Sie alle
kennen ihn sicherlich -:
({14})
- Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Herr Meyer. Von ihm
stammt die Maxime: „Einer für alle, alle für einen.“ In unserer Geschichte gibt es genug Erfahrungen, die beweisen:
Solidarität ist nicht angestaubt. Solidarität ist Zukunftsfähigkeit.
({15})
Noch ein Wort zur Hartz-Kommission. In den nächsten Wochen und Monaten werden wir die größte Arbeitsmarktreform in der Geschichte dieses Landes umsetzen.
Herr Glos, wir versprechen Ihnen: Sie wird keine Seifenblase sein, die irgendwann platzen wird.
({16})
Denn wir können es nicht oft genug sagen: Das Konzept
der Hartz-Kommission ist genau das, was unser Land jetzt
braucht. Deshalb handeln wir. Wir werden dieses Konzept
umsetzen.
Meine Damen und Herren, dies ist ein Appell an Sie
alle: Lassen Sie uns in den kommenden Jahren keinen
Wettstreit im Miesmachen und Nörgeln austragen!
({17})
Das Land hat dafür keine Zeit. Lassen Sie uns gemeinsam
die notwendigen Entscheidungen treffen, vor die wir gestellt sind - und dies mit Mut und Konsequenz! Lassen Sie
uns vor allem den Menschen beweisen, dass wir keine
Lobbyrepublik sind, sondern uns den Aufgaben stellen, zu
deren Bewältigung wir gewählt worden sind.
Unser Wählerauftrag ist klar: Die Menschen haben uns
das Vertrauen ausgesprochen, weil wir das bessere Konzept für die Zukunft unseres Landes haben. Die Wählerinnen und Wähler können sich darauf verlassen: Wir
schaffen gemeinsam ein modernes Deutschland.
Herzlichen Dank.
({18})
Frau Kollegin Bätzing, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag, die Sie als neues
Mitglied dieses Hauses zum denkbar frühesten Zeitpunkt
haben halten können.
({0})
Ich bitte schon jetzt die zahlreichen weiteren neuen
Kolleginnen und Kollegen um Verständnis dafür, dass
vermutlich nicht alle in der 21-stündigen Aussprache zur
Regierungserklärung zu Wort kommen können.
Als Nächstes erteile ich dem Kollegen Scholz für die
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
eine interessante Rede von Frau Merkel gehört,
({0})
in der sie uns manches über längerfristige Linien gesagt
hat. Sie hat festgestellt, es sei dringend erforderlich, dass
man die langen Linien bzw. die Grundsätze der Politik erkennen könne. Weil sie dann doch an einer Stelle konkret
werden wollte, ist sie auf diese Grundsätze genauer eingegangen. Man brauche nämlich Beamte im Bundeskanzleramt, die für Grundsätze zuständig seien. Das war ihr
Vorschlag für die zukünftige Grundsatzabteilung, die die
langen Linien angehen soll.
({1})
Meine Damen und Herren, es geht doch um etwas Wesentlicheres als diesen Hinweis. Dass dieser so einfach
möglich war, lag daran, dass es in der Tat in der Rede keinen einzigen Vorschlag für die Regierung unseres Landes
und dazu, wie es weitergehen soll, gegeben hat.
({2})
In den letzten Tagen geistert immer wieder ein Thema
durch die Medien, das auch hier gern zitiert wird und
missverstanden werden kann: Es wird Mut zu einer langfristigen Strategie gefordert. Ich halte das für richtig. Wir
brauchen Mut, nur mit Mut haben wir eine Chance, unser
Land zu regieren. Wenn sonntags eine Rede über die richtige Politik gehalten wird, wissen auch alle, was Mut ist.
Man kann zum Beispiel sagen: Wir müssen dazu beitragen, dass die Steuersätze in unserem Land sinken und dass
Steuerschlupflöcher gestopft und Subventionen gestrichen werden. Niemals mit irgendeiner Relevanz für die
CDU/CSU-Fraktion, aber doch immer wieder in Zeitungen
veröffentlicht, hat zum Beispiel der Kollege Uldall, der
jetzt in Hamburg Senator sein darf, Vorschläge zu gestaffelten Steuersätzen gemacht. Sämtliche Schlupflöcher und
Subventionen, die wir jetzt streichen, waren dabei längst
gestrichen.
Wenn aber der Mut konkret gefordert wird, dann ist alles anders. Dann melden sich nämlich all diejenigen, die
vorher Vorschläge gemacht haben, zu Wort und fordern:
Dieses Steuerschlupfloch, diese Subvention und diese
Einzelregelung sollen aufrecht erhalten bleiben.
Dass man sich dabei sehr lächerlich machen kann, hat
uns Frau Merkel vorgemacht. Sie hat sich nämlich in der
Geschichte der Bundesrepublik jetzt damit hervorgetan,
dass sie den halben Mehrwertsteuersatz für Schnittblumen
verteidigt hat. Ich glaube, solche Forderungen zeigen letztlich, wie die Subventionsbekämpfung bei Ihnen konkret
aussieht.
({3})
Ich glaube, es ist richtig, dass wir ein Konzept vorgelegt
haben, in dem weitere Steuersenkungen enthalten sind. In
den Jahren 2004 und 2005 werden 29 Milliarden Euro an
die Bürgerinnen und Bürger zurückgegeben.
({4})
Diese Einnahmen fehlen in den Kassen von Bund, Ländern und Gemeinden und deshalb ist es auch richtig, weitere Schlupflöcher zu stopfen.
Eines dieser Schlupflöcher hat bei Ihnen im Wahlkampf eine große Rolle gespielt. Zum Beispiel hat Herr
Merz gesagt, es kann nicht sein, dass die Kapitalgesellschaften in Deutschland im Saldo mehr Steuern erstattet
bekommen als sie zahlen. Von Herrn Stoiber ist im Wahlkampf, teilweise mit zitternder Stimme, immer wieder erwähnt worden, dass es dringend notwendig sei, die Ausfälle bei der Körperschaftsteuer zu bekämpfen. Dazu hat
er etwas Ähnliches wie Herr Merz gesagt.
Nun gehen wir das an - das ist ein ganz wichtiger Teil
des Subventionsabbaus und des Stopfens von Steuerschlupflöchern -, indem wir sicherstellen, dass Unternehmen und Körperschaften, die Gewinne machen, auch
Steuern zahlen. Das ist gut so, dem sollten auch Sie zustimmen.
({5})
Tatsächlich sind Sie in dieser Frage aber sehr leise geworden. Sie kommen gar nicht mehr darauf zurück, sondern erwähnen nur noch die Schnittblumen und den
Mehrwertsteuersatz, der für diese angehoben werden soll.
({6})
Das ist gewissermaßen die Kontinuität Ihrer Gedanken
vor und nach der Wahl. Deshalb: Es gibt ganz andere, die
die Wähler getäuscht haben; denn wer die CDU gewählt
hat, könnte gedacht haben, jetzt geht es den großen Konzernen endlich an den Kragen. Tatsächlich aber wollen
Sie das, was wir jetzt vorhaben, gar nicht unterstützen.
Meine Damen und Herren, es ist wichtig, sich darüber
zu unterhalten, dass es die mutlosen Mutigen gibt. Die
mutlosen Mutigen sind diejenigen, die immer sagen, was
man eigentlich tun müsste, aber die Sätze nicht zu Ende
sprechen. Sätze, die nicht zu Ende gesprochen werden,
sind beispielsweise: Man braucht auf dem Arbeitsmarkt
endlich einen Aufbruch, der Verkrustungen beseitigt; wir
müssen etwas bei der Rente tun, damit die Beiträge nicht
weiter steigen; auch bei der Gesundheitspolitik ist das erforderlich, hier muss etwas getan werden, damit wir mit
dem Geld besser auskommen.
Die Fragen aber, die weder Frau Merkel noch Herr
Glos, noch jemand anders beantwortet, lauten: Was soll
man tun? Hier setzen Sie ein bisschen darauf, dass Ihre eigentlichen Freunde wissen, was Sie tun wollen, und viele
es nicht wissen und glauben, Sie machen etwas Vernünftiges. Denn tatsächlich haben Sie ganz konkrete Vorstellungen, die Sie auch nennen könnten, aber Sie nennen sie
nicht. Soll es so sein, dass wir bei medizinischen Leistungen Kürzungen durchführen und sagen, diese gibt es nicht
mehr? Ist das mutig? Ist das richtig?
Wenn Sie das für richtig halten, müssen Sie auch den
Mut haben, das zu sagen, statt Ihre Sätze unvollendet zu
lassen und dann, wenn Sie sich mit der Regierung und
dem Konzept des Koalitionsvertrags auseinander setzen,
den Eindruck zu erwecken, als hätten Sie ein Konzept vorzuschlagen.
Zur Rente könnten Sie sagen, Sie wollen erreichen,
dass es nicht zu solchen Beitragssteigerungen kommt, wie
sie jetzt anstehen. Dies haben Sie aber nicht getan. Vielmehr bleiben Sie nach dem halben Satz stecken. Sie sind
mutlos, weil Sie keine Alternativen benennen.
({7})
Das Gleiche machen Sie bezüglich unseres Arbeitsmarktes. Dazu bringen Sie auch immer nur den Vorschlag, dass die Verkrustungen aufgebrochen werden sollen. Interessant wäre es, von Ihnen einmal zu hören, was
dies denn ist, ob Sie etwa den seit Anfang der 50er-Jahre
in Deutschland bestehenden Kündigungsschutz abschaffen, halb abschaffen oder viertel abschaffen wollen. Viele
Ihrer Freunde glauben, dass Sie genau dies wollen. Viele
sollen es aber offenbar nicht hören und deshalb bleiben
Sie mutlos und sagen es nicht. Ihnen fehlt bei Ihrer Kritik
an der Regierungserklärung also wirklich der Mut.
({8})
Ich will Ihnen sagen, welches jetzt und in den nächsten
vier Jahren bei der Diskussion über die Regierungsarbeit
Ihr großes Problem sein wird. Ihr Problem wird sein, dass
Sie keine Alternativen benennen. Dies ist auch der Grund
dafür, warum Sie die Wahl nicht gewonnen haben.
Tatsächlich befinden wir uns in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage und es ist schwierig für eine Regierung,
wiedergewählt zu werden, wenn sich die Arbeitslosigkeit
so entwickelt, wie sie das in den letzten Jahren getan hat.
Herr Stoiber hat immer wieder gesagt, das Arbeitslosigkeitsproblem sei groß - was übrigens so ist -, er hat
aber immer wieder vergessen, irgendeinen Vorschlag zu
machen, von dem irgendjemand hätte annehmen können,
er hätte eine Idee, wie dies geändert werden sollte.
({9})
Deshalb haben die Menschen gesagt: Der Stoiber kann
es auf jeden Fall nicht besser. Den wählen wir nicht.
({10})
Wenn Sie so weitermachen, wird man bei den Wahlen,
die demnächst anstehen, und auch in vier Jahren sagen:
Die CDU/CSU kann nur sagen, das ist aber schlimm, sie
kann aber nicht sagen, was man tun soll. Sie als Opposition brauchen aber den Mut, sich zu konkreten Konzepten
zu bekennen. Dazu fordere ich Sie auf.
({11})
Meine Damen und Herren, in der Familienpolitik haben Sie ein ähnliches Problem. Was Sie dabei falsch machen, grenzt schon ans Dramatische. Ich erinnere mich
sehr genau daran, dass sich ein früherer Generalsekretär
Ihrer Partei darum bemüht hat, aufzuzeigen, dass Sie bei
der Familienpolitik ein Defizit haben. Das war Ihr Herr
Geißler. Er ist daran gehindert worden. Dann haben Sie
1998 die Wahl verloren. Ich erinnere mich noch ganz genau an alle Wahlanalysen, die Sie gemacht haben. Eigentlich haben Sie gesagt: Hätten wir doch zehn Jahre früher
auf den Geißler gehört. Wir haben ein Defizit in der Familienpolitik. Niemand glaubt uns da mehr was.
Konsequenz gab es keine. Nun war die Bundestagswahl. Sie haben die Analysen der Meinungsforschungsinstitute gelesen. Darin stand schon wieder das Gleiche.
Dann durfte sich Frau Reiche kurzfristig profilieren. Jetzt
haben Sie die Wahl verloren und haben gemeinsam analysiert: Wir haben die Wahl verloren, weil wir in der Familienpolitik ein nicht mehr zeitgemäßes Profil haben. Und
was ist? - Frau Reiche ist abgemeldet und Sie kritisieren
die Politik der Bundesregierung aus dem gleichen Blickwinkel wie seit 1950. Ich glaube, dies ist Ihr Problem.
({12})
Ich warne Sie auch: Retten Sie sich nicht mit den Formeln, von denen Sie glauben, dass Sie damit von der einen Tür zur nächsten kommen. Ihre Formel lautet immer,
wir wollten den Menschen etwas vorschreiben, wir wollten ihnen zum Beispiel vorschreiben, dass sie arbeiten
müssen. Das ist eigentlich das Einzige, was Ihnen zur Familienpolitik einfällt. Dabei ist dies nicht das Problem unserer Gesellschaft.
Wir haben eine Gesellschaft, in der es für Familien, in denen beide Partner berufstätig sein wollen, so schwierig ist
wie in kaum einem anderen Land in Europa, dies zu organisieren, weil wir weniger Ganztagsbetreuungsplätze und weniger Ganztagsschulen als zum Beispiel Frankreich haben.
({13})
Deshalb sage ich Ihnen: Sie haben ein großes Problem.
Wenn Sie sich politisch nicht bewegen, werden Sie es
auch nicht lösen können. Sie haben die Lufthoheit über
den Kinderbetten verloren. Solange das der Fall ist, werden Sie keine Wahl in Deutschland gewinnen können.
({14})
Ich will noch etwas zum Thema Irak sagen, das Sie angesprochen haben, und zwar auch, weil Frau Merkel gesagt hat, wir würden jetzt etwas anderes sagen als vor der
Wahl.
({15})
Das hat eigentlich niemand verstanden, denn wir machen
genau das, was wir vor der Wahl angekündigt haben. Die
Bundesrepublik Deutschland bleibt bei ihrer Haltung,
nämlich dass wir sagen: Es wird keine deutsche Beteiligung an einem Krieg im Irak geben. Dies ist unsere Aussage und bei der bleibt es.
({16})
Es empfiehlt sich, dass Sie einen weiteren Punkt diskutieren, nämlich das Jahrhundert, in dem wir leben. Das
Thema Außenpolitik hatte im 19. Jahrhundert sicherlich
eine andere Bedeutung als in diesem. Sicherlich wäre es
im Jahre 1895 ein interessanter Beitrag gewesen, wenn jemand gesagt hätte: Es kann nicht sein, dass wir hier über
die Frage, was Deutschland tun soll, diskutieren; das
gehört nicht ins Parlament und ist auch keine Sache des
Volkes, sondern das muss der Außenminister heimlich in
irgendwelchen Kabinetten beschließen. ({17})
Aber auch heute gingen eigentlich alle Vorwürfe, die
Sie der Bundesregierung und dem Bundeskanzler gemacht haben, in die Richtung, dass die Frage von Krieg
und Frieden nicht vom Volk entschieden oder vom Deutschen Bundestag breit diskutiert werden könne;
({18})
sie gehöre in die Kabinette und geheimen diplomatischen
Zirkel. Das ist nicht richtig!
({19})
Ich glaube, Sie müssen lernen, dass Deutschland über
diese Frage diskutieren muss. Es gibt ein Vorbild, das
ich Ihnen zur Nachahmung empfehle, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika;
({20})
denn in den Vereinigten Staaten von Amerika wird das,
was wir hier nicht bereden dürfen, allerorten öffentlich
diskutiert.
({21})
Wenn Sie einen Fernsehsender einschalten, können Sie all
die Fragen, über die wir hier nicht diskutieren sollen, in
Senats- und Kongressausschüssen breit diskutiert finden.
({22})
So ist es richtig.
Der Unterschied zwischen den beiden Staaten ist: Die
Vereinigten Staaten von Amerika sind seit 200 Jahren eine
Demokratie, wir haben erst seit 50 Jahren das Glück.
Außerdem hat sich Deutschland 1999 im Kosovo das erste
Mal als ein demokratischer Staat an einem Krieg beteiligt.
Deshalb haben viele noch keine Argumentationsmuster
und nicht die Fähigkeit zur Diskussion über Richtig und
Falsch bei diesem Thema. Sie brauchen einen demokratischen Impuls in der Debatte über Außenpolitik. Das würde
Ihnen nützen und die Sache glaubwürdiger machen.
Schönen Dank.
({23})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, fraktionslos.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auf den Pressefassungen von Regierungserklärungen
heißt es stets: Es gilt das gesprochene Wort. Das ist im
heutigen Falle besonders angebracht; denn was vom geschriebenen Wort - ich meine den Koalitionsvertrag 92
demnächst wirklich noch gilt, das wissen wir nicht, leider
auch nicht nach der heutigen Rede des Bundeskanzlers.
({0})
Frau Merkel hat sich vorhin beschwert, sie fühle sich
ge- oder enttäuscht. Dazu kann ich nur sagen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, für so naiv hätte ich
sie nicht gehalten.
Wir, das heißt die „PDS im Bundestag“, legen zur
Bewertung ein übersichtliches Maß an. Unsere Fragen
lauten schlicht und nachvollziehbar: Zielt das durch SPD
und Bündnis 90/Die Grünen Verabredete auf mehr soziale
Gerechtigkeit oder nicht? Zielt es auf eine militärfreie
Außenpolitik oder nicht? Zielt es auf eine bürgerrechtliche Innenpolitik oder nicht? Zielt es auf eine nachhaltige
Umweltpolitik oder nicht? Zielt es auf eine wirksame
Politik für die neuen Bundesländer oder nicht? Sollten
Sie in diese Richtungen agieren, dann können Sie mit unserer Zustimmung rechnen. Wenn ich allerdings den
Koalitionsvertrag und die heutige Regierungserklärung
wäge, dann stelle ich fest, dass Sie überwiegend mit unserem Nein rechnen müssen.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch etwas anderes klarstellen: Der Abstand der rot-grünen Politik zu
dem, was die CDU/CSU will, ist viel geringer, als die
Lautstärke, mit der die Opposition zur Rechten heute Weh
und Ach geklagt hat, vermuten lässt.
({1})
Am klarsten zeigt sich das wohl, wenn es um die
Minimierung der Massenarbeitslosigkeit geht. Beide
großen Blöcke des Bundestages verbreiten die Mär von
den bösen Lohnnebenkosten, beide großen Blöcke des
Bundestages beten den Götzen Wirtschaftswachstum an
und beide großen Blöcke des Bundestages stellen letztendlich Betroffene an den Pranger. Das ist nicht modern,
das ist unterwürfig. Das sind Ergebenheitsadressen gegenüber globalen Interessen des großen Kapitals; es ist
also keine wirkliche Politik.
Sie alle wissen, dass es nicht reicht, hier und da ein
Steuerschlupfloch zu stopfen oder die eine oder andere
Subvention infrage zu stellen. Das alles muss sein, reicht
aber nicht aus. Die PDS fordert grundsätzlich ein Umsteuern, politisch und finanziell.
Nun will ich hier nicht über die Tobinsteuer reden, sondern nur über die Wiedereinführung der Vermögensteuer.
Den besten Beleg, wie es bei Rot-Grün zugeht, liefert ihr
neuer Superminister Clement. Als er noch Landesminister
war - das war noch vor wenigen Tagen -, sprach er sich
heftig für die Vermögensteuer aus. Nun ist Herr Clement
die Bundes-Treppe hinaufgefallen und prompt spricht er
dagegen. Die Nagelprobe wird es für Sie im Bundesrat geben: Rot-Rot in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern
wollen die Vermögensteuer.
({2})
Ich bin gespannt, wie sich die anderen Bundesländer verhalten werden, und füge hinzu: Die Abstinenz der Bundesregierung in dieser Frage ist nicht klug; sie ist einfach
abwiegelnd und feige.
Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zu den neuen
Bundesländern. Vor zwei Jahren hat der Bundestagspräsident gemahnt, der Osten stehe auf der Kippe. Seither hat
sich nicht wirklich etwas zum Besseren gewendet.
({3})
Wir wissen doch alle: Die Vorschläge der viel gepriesenen Hartz-Kommission wären, wenn sie denn eins zu eins
umgesetzt würden, pures Gift für den Osten. Dies wären sie
aber nicht nur für den Osten, sondern auch für strukturschwache Regionen im Westen, zum Beispiel Oberfranken.
Ich vermute, dass Herr Minister Stolpe einen ganz
großen Erwartungsdruck im neuen Amt spüren wird. Bislang habe ich von ihm aber nur eine einzige Botschaft
gehört und die hieß: Für den Aufbau Ost werden keine
Mittel gestrichen. Eine solche Aussage ist für einen bestellten Hoffnungsträger arg wenig bis gar nichts.
({4})
Lassen Sie mich zum Schluss noch ein aktuelles Problem ansprechen, und zwar die Zusage des Kanzlers und
des Außenministers, die Bundesrepublik werde sich nicht
an einem Irak-Krieg beteiligen. Wenn dieses Nein konsequent sein soll, dann schließt das auch logistische Hilfen
aus. Dann verbietet es sich, hoheitliche Rechte der Bundesrepublik an die USA abzutreten.
({5})
Dann erwarte ich eine klare Ansage, dass für Rot-Grün
das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mehr
gilt als ein konstruierter NATO-Bündnisfall.
Der Bundeskanzler ist in seiner Regierungserklärung
auch auf den EU-Konvent eingegangen. Die PDS begrüßt
es, dass Europa hier aus seinem Schattendasein herauskommt. Ich finde, es soll aber nicht nur, wie der Bundeskanzler heute gesagt hat, ein Europa der Bürger, sondern
auch der Bürgerinnen werden. Dazu gehört auch, dass zur
europäischen Verfassung 2004 eine Volksabstimmung
stattfindet.
Danke schön.
({6})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen nun zu den Bereichen Europa, Außen- und
Sicherheitspolitik, Entwicklungspolitik und Menschenrechte.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen,
Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir
hier heute über die Zukunft der Außen- und Sicherheitspolitik sprechen, dann handelt es sich, wie ich denke, um
eine der ganz großen Herausforderungen, mit denen wir
in den kommenden vier Jahren konfrontiert werden. Wir
haben es dabei auf der Grundlage der Kontinuität deutscher Außen- und Sicherheitspolitik einerseits mit der
Fortsetzung der großen Linien, auf denen die Außenpolitik unseres Landes basiert, zu tun; andererseits müssen
wir uns den neuen Herausforderungen, vor allen Dingen
aber auch den neuen Bedrohungen stellen.
Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede Folgendes unterstreichen: Für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ist es konstitutiv, dass die großen Grundlinien fortgeführt werden. Das bedeutet die Einbindung unseres
Landes in den europäischen Integrationsprozess, der in
den vor uns liegenden zwei Jahren in der Tat vor großen
Herausforderungen steht, die Einbindung in das Transatlantische Bündnis sowie die Pflege des Verhältnisses
zu den Vereinigten Staaten von Amerika und unser auf
der historisch-moralischen Verantwortung für unsere
Geschichte gründendes Sonderverhältnis zu Israel. Das
sind die drei wesentlichen Grundlinien, die die deutsche
Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch unsere Interessenlage bestimmen.
Gleichzeitig haben wir es seit dem 11. September letzten Jahres mit einer Situation zu tun, in der wir in der Tat
vor einer neuen strategischen Bedrohung unserer Sicherheit stehen, nämlich dem internationalen Terrorismus. Zuerst und vor allen Dingen möchte ich Ihr Augenmerk darauf lenken, dass diese Bedrohung nicht von selbst wieder
verschwinden wird. Diese Bedrohung bedarf gewiss einer
festen und, wo es notwendig ist, auch militärischen, polizeilichen und geheimdienstlichen Antwort; denn den Terrorismus wird man nicht durch Gespräche besiegen können. Das gilt vor allem für den neuen Totalitarismus,
nämlich den islamistischen Terrorismus eines Osama
Bin Laden, der den Massenmord, den Tod zum Programm
für sich erhoben hat. Diesen wird man niederkämpfen und
besiegen müssen.
Gleichzeitig können wir erkennen, dass bei dieser Gefahr vier Elemente verknüpft werden. Wenn diese zusammentreffen, bedeutet dies in der Tat eine strategische Bedrohung, die man nicht unterschätzen darf. Ich möchte
dies vor allen Dingen am pakistanisch-indischen Konflikt
festmachen, weil wir dort diese neue strategische Bedrohung sehr klar erkennen können:
Der Konflikt um Kaschmir ist exemplarisch für die
zukünftige Sicherheitsbedrohung. Bei diesem finden wir
das Element des religiösen Konfliktes; in der europäischen Geistesgeschichte und politischen Geschichte gab
es dieses im 16. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Religionskriege. Wir finden das Element der nationalistischen
Konfrontation zwischen Nachbarn, also ein Element aus
dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wir finden das Element der Nuklearisierung, der Massenvernichtungsmittel,
also ein Element aus der Mitte des 20. Jahrhunderts.
Schließlich finden wir ein Element aus dem beginnenden
21. Jahrhundert, nämlich den Terrorismus.
Das ist die neue Herausforderung, mit der wir es zu tun
haben. Ich habe hier den indisch-pakistanischen Konflikt
erwähnt. Die Spur führt direkt zu einem Regionalkonflikt,
der seit der Gründung von Indien und Pakistan nicht
gelöst wurde, nämlich zu dem Konflikt um Kaschmir.
Damit komme ich nicht nur zur Frage, wie wir dieser
terroristischen Gefahr in unserer großen Nachbarregion
zwischen dem Atlantik und dem Pazifik, der arabischislamischen Welt, begegnen können, sondern gleichzeitig
auch zu einer Antwort. Diese Antwort muss aus drei Elementen bestehen:
Erstens. Dem Terrorismus muss mit den notwendigen
Machtmitteln aktiv entgegengetreten werden. Diese
Machtmittel sind aber in den wenigsten Fällen militärischer Natur; sie sind im Wesentlichen polizeilicher und
geheimdienstlicher Natur und gründen auf Ermittlungstätigkeiten, die gleichzeitig eine internationale Allianz notwendig machen.
Zweitens müssen Regionalkonflikte gelöst werden.
Die Regionalkonflikte bergen in sich die große Gefahr,
dass sie eskalieren. Diese politische Lösung von Regionalkonflikten ist die entscheidende Voraussetzung, um
den Nährboden für Terrorismus trockenzulegen.
Drittens. Im Wesentlichen sind es junge Gesellschaften. Diesen müssen wir nicht nur in einem geistigen Dialog begegnen, sondern wir müssen ihnen auch eine kulturelle und geistige Antwort sowie eine ökonomische und
politische Perspektive geben. Auf eine umfassende Sicherheitsbedrohung müssen wir mit einer umfassenden
Sicherheitsantwort reagieren. Dialog heißt für mich, dass
wir nicht nur freundliche Dinge sagen, sondern dass wir
auf den Punkt kommen: Lässt sich etwa die Konvention
der Menschenrechte mit der Scharia vereinbaren? Diese
Frage führt zum Kern des Problems.
({0})
Wenn das alles richtig ist und wenn das die Gefahren
sind, wenn es also richtig ist, dass der Status quo am
11. September so erschüttert wurde, dass wir nicht mehr
mit ihm leben können, wenn es richtig ist, dass die Lösung
von Regionalkonflikten dabei eine essenzielle Voraussetzung ist, und wenn es richtig ist, dass wir verhindern müssen, dass Massenvernichtungsmittel in die Hände von
Terroristen geraten, dann - darin liegt die Differenz zur
Einschätzung in den USA - frage ich mich allerdings, um
es ganz diplomatisch zu formulieren, ob die Prioritätensetzung bezüglich des Irak tatsächlich Sinn macht. Ich
komme nämlich zu völlig anderen Konsequenzen.
({1})
Das ist meine große Sorge, die ich der amerikanischen
Seite im Übrigen nicht erst während des Bundestagswahlkampfs, sondern bereits während meines ersten Besuchs
nach dem 11. September, nämlich am 19. September,
mitgeteilt habe. Ich bin nicht der Meinung und glaube
nicht daran - unter Partnern muss man das offen aussprechen -, dass diese Prioritätensetzung mit Blick auf
das gemeinsam erkannte Bedrohungsszenario richtig ist.
Das ist der entscheidende Punkt.
({2})
- Doch, das ist die Kernfrage.
({3})
- Reden Sie sich nicht mit den UN heraus, so wichtig das
auch ist. Aber wir müssen Acht geben, dass unsere gute
Absicht am Ende keine falschen Konsequenzen nach sich
zieht, die die Terrorismusgefahr vergrößern könnten.
({4})
Wir haben es mit einer gefährlichen Region zu tun, bei
der ich mir, Herr Kollege Gerhardt, nicht sicher bin, ob die
Mehrheit im amerikanischen Kongress und die Mehrheit des amerikanischen Volkes wirklich bereit sind - die
USA haben die nötigen Mittel, dort einzugreifen -, dort
über Jahre oder vielleicht sogar Jahrzehnte auszuharren,
um nach einem Regimewechsel eine neue Nation aufzubauen. Die Konsequenzen, die in dieser Region eintreten
würden, wenn die USA nicht dauerhaft vor Ort blieben,
möchte ich Ihnen nicht ausmalen. - Das sind unsere
Gründe. Darüber werden wir morgen zum wiederholten
Male mit unseren amerikanischen Partnern sprechen.
Unser Verständnis von Partnerschaft ist, dass man
dann, wenn es Differenzen gibt, diese unter frei gewählten, demokratischen Regierungen offen anspricht. Das hat
nichts mit einem Gang nach Canossa zu tun. Wir haben
ein anderes Verständnis von Bündnis.
({5})
Die zweite große Herausforderung, vor der wir stehen,
ist Europa. Die Erweiterung wird konkret. Bei allem, was
man am letzten Gipfel im Einzelnen kritisieren mag,
bleibt es doch eine Tatsache, dass die Tür definitiv geöffnet wurde. Das heißt, wir werden in Kopenhagen darüber
entscheiden, zehn neue Mitglieder aufzunehmen. Das ist
ein historischer Schritt, an dem nicht nur diese Bundesregierung, sondern gerade auch die Vorgängerregierung gearbeitet hat, insbesondere der heute dem Haus nicht mehr
angehörende damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, den
ich deshalb, weil er sich hierbei bleibende Verdienste erworben hat, noch einmal erwähnen möchte. Wir vergeben
uns überhaupt nichts, wenn wir an diesen Kontinuitäten
festhalten.
Für mich aber ist entscheidend, dass damit ein historischer Schritt zum Zusammenführen Europas stattfindet,
wie es ihn in der Neuzeit noch nicht gegeben hat. Wenn
der Gründungskonsens der war, ein Europa zu schaffen,
in dem Nationalismus keine Chance mehr hat, dann ist
dieser Schritt, der jetzt in Kopenhagen gemacht wird, ein
konsequenter Schritt.
({6})
Dies aber macht notwendig, dass wir die EU der 25 und
mehr neu gründen. Diese Neugründung findet im Verfassungskonvent statt. Dieser Verfassungskonvent geht auf
eine Initiative dieser Bundesregierung zurück. Dazu kann
ich nur sagen: Der Vorschlag, den gestern Giscard als
Rahmen gemacht hat, ist ein Vorschlag, der wirklich alle
Diskussionen und eine vorurteilsfreie Prüfung verdient.
Seien wir doch ehrlich: Hätten wir vor zwei Jahren gedacht, dass wir heute in der Europäischen Union nicht nur
am Vorabend der Erweiterung um zehn neue Mitgliedstaaten stehen, sondern gleichzeitig auch die erste Grobstruktur einer europäischen Verfassung auf dem Tisch haben? - Keiner von Ihnen. Das meine ich gar nicht parteipolitisch, Frau Kollegin Merkel. Es wurde gefordert. Aber
wir haben es gemacht.
({7})
- Ich habe den Konvent nicht gewollt?
({8})
Sie meinen also, ich hätte den Konvent nicht gewollt. Ich
dachte, der Privatmann Fischer habe eine Rede an der
Humboldt-Universität gehalten, die zum Konvent geführt
habe.
({9})
Diese Initiative haben wir als Bundesregierung gemacht.
Ich streite mich gerne mit Ihnen, aber doch nicht über
Dinge, die selbstverständlich sind.
({10})
Wir brauchen diese Neugründung Europas. Ich möchte
nicht in die Details gehen. Aber für uns - der Bundeskanzler hat das heute in seiner Rede gesagt - ist ganz entscheidend: Im institutionellen Dreieck müssen Kommission, Europäisches Parlament und Rat, wenn es zu
Fortentwicklungen kommt - und es muss zu Fortentwicklungen kommen -, gleichgewichtig sein. Was wir nicht
wollen, ist ein Rückfall in die Intergouvernementalisierung. Das heißt für uns ganz klar: Wir wollen eine Stärkung der Kommission und eine Klärung der Verantwortlichkeiten zwischen nationaler und integrierter Ebene.
Auch wollen wir in diesem Rahmen eine Stärkung des Europäischen Parlaments. Das ist für uns Grundlage unserer
Arbeit. Daran werden wir die anderen Vorschläge entsprechend messen.
({11})
Ganz entscheidend wird es aber darauf ankommen,
dass wir in diesem Bereich einen deutsch-französischen
Konsens erzielen. Wenn er erreicht wird - daran arbeiten
wir; das hat das letzte Zusammentreffen des Europäischen
Rates gezeigt -, dann wird diese europäische Zukunft in
der Tat gestaltet werden können, und zwar nicht unter
Ausschluss, sondern unter Einbeziehung der anderen Mitgliedstaaten.
({12})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aus aktuellem
Anlass eine Frage kurz im Zusammenhang mit Russland
und Tschetschenien ansprechen. Jeder, der meint, er habe
dafür eine einfache Antwort, irrt. Ich kann nur davor warnen, die territoriale Integrität der Russischen Föderation
infrage zu stellen. Ich meine zwar nicht, dass dies jemand
tut; aber wir haben es schließlich mit einer separatistischen Bewegung zu tun.
Was ein weiteres Aufbrechen der Russischen Föderation hinsichtlich der Entstehung von Gewalt und Instabilität hieße, muss ich nicht weiter ausführen. Umgekehrt
aber entwickelt sich Russland hin zur Demokratie. Die
Menschen in Tschetschenien sind russische Bürgerinnen
und Bürger und haben Menschenrechte. Diese Menschenrechte müssen in einer Demokratie beachtet werden.
Das ist für mich der entscheidende Punkt.
({13})
Ich warne jedoch vor den tschetschenischen Terroristen
- mir liegen entsprechende Informationen vor; ein Teil davon ist auch dem einen oder anderen Kollegen bekannt -,
die ebenfalls grausamste Menschenrechtsverletzungen begehen. Wenn aber Russland ein demokratischer Rechtsstaat
ist, dann muss er die Grundlagen demokratischer Rechtsstaatlichkeit auch und gerade gegenüber unbescholtenen
Bürgerinnen und Bürgern, gegenüber den russischen
Staatsbürgern der Russischen Föderation in Tschetschenien
zum Tragen bringen. Deswegen befinden wir uns in der
schwierigen Situation, einerseits Russland als Partner zu
haben und diese Partnerschaft fortzuentwickeln, andererseits aber der russischen Seite zu vermitteln, dass Demokratien auch unter schwierigsten Bedingungen an die eigenen Grundregeln und Rechtsstaatsprinzipien gebunden
sind. Das macht unseren Umgang mit Tschetschenien bzw.
mit der russischen Politik in Tschetschenien aus.
Ich kann von dieser Stelle aus nur nochmals an die Verantwortlichen in Russland appellieren, endlich eine politische Lösung herbeizuführen.
({14})
Wer die Geschichte des Kaukasus und Tschetscheniens
kennt, weiß, dass dort mit Gewalt letztendlich keine Lösung herbeizuführen ist, sondern dass sie nur zu immer
weiteren Blutbädern führen würde. Deswegen ist eine politische Lösung notwendig.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch eines
ansprechen. Die Türkei ist direkter Nachbar dieser Krisenregion. Sie ist auch direkter Nachbar der Region, über die
ich vorhin gesprochen habe. Es ist abwegig zu meinen wer unsere Position kennt, weiß, dass es abwegig ist -, wir
würden als überzeugte Europäer aus Gefälligkeit - deswegen spreche ich es an, Herr Kollege Schäuble; nehmen Sie
jedes Wort so, wie es es sage - zum jetzigen Zeitpunkt die
Tür öffnen. Wir haben die in Helsinki gefassten Beschlüsse
nicht aus Gefälligkeit gegenüber den USA gefasst. Wenn
ich in den USA bin - ich würde mich freuen, wenn andere
dies genauso tun würden -, führe ich das immer an, um es
den amerikanischen Gesprächspartnern zu verdeutlichen.
Im Übrigen ist auch an die Kosten zu denken. Gerade
der jüngst gefundene deutsch-französische Kompromiss
im Zusammenhang mit der Agrarpolitik zeigt, dass das alles nicht kostenneutral zu bekommen ist. Das mache ich
den amerikanischen Gesprächspartnern klar. Das ist sehr
wichtig.
({15})
- Auf der einen Seite wird gesagt, der deutsch-französische Motor solle laufen - ich frage Sie, was es zum Beispiel Helmut Kohl gekostet hat, diesen Motor immer am
Laufen zu halten -, und auf der anderen Seite fragen Sie
jetzt: „Haben Sie das auch schon gemerkt?“ - So ist das
mit der Opposition. Sie müssen sich aber entscheiden.
({16})
Ich komme zu einem anderen Punkt. Hinsichtlich der
Türkei haben wir möglicherweise eine Kontroverse, nicht
aber in der Frage, ob wir eine Gefälligkeitsentscheidung
zugunsten der USA treffen. Wir haben keine Gefälligkeit
zu erbringen. Wir sind gute Partner in der Operation
Enduring Freedom im Kampf gegen den Terror. Wir sind
uns einig in der Umsetzung der einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrats im Zusammenhang mit dem Irak.
Wir sind uns nicht einig in der Bewertung einer Militäraktion. In dieser Frage sind wir unterschiedlicher Meinung
und wir werden uns an einer Militäraktion nicht beteiligen.
Aber die EU-Mitgliedschaft der Türkei ist eine völlig
andere Frage. Ich frage die Union umgekehrt: Sie wissen
so gut wie ich, Herr Schäuble, dass Sie, wenn Sie der Türkei die Tür zur Mitgliedschaft verschließen, damit für die
zivilen Kräfte in der Türkei und für die Modernisierer seit
Kemal Atatürk die Tür schließen; denn Modernisierung in
der Türkei bedeutet Orientierung an Europa. Wir wissen,
dass die Türkei ein schwieriger Partner ist und dass sie
heute die Kopenhagener Kriterien noch nicht erfüllt. Ich
bin mir auch nicht sicher, ob die Türkei dann, wenn sie eines Tages diese Kriterien erfüllt, bereit sein wird, den
Souveränitätsverzicht zu leisten, den eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union bedeutet und der notwendig ist, um in der Europäischen Union voll integriert
zu sein. Aber in einem bin ich mir sicher: Wenn wir das,
was Sie wollen, machen würden, dann würden sich die
Nationalisten und die Islamisten in der Türkei die Hände
reiben. Das wäre das Ende der Modernisierung. Darin
bin ich mir sicher. Das und nichts anderes macht unsere
Position und die des Bundeskanzlers aus.
({17})
Ich bestreite überhaupt nicht - niemand tut das -, dass
es sich bei der Türkei um einen schwierigen Partner handelt. Aber die Schwierigkeiten mit der Türkei wird man
nicht durch Wegsehen oder durch einfache Antworten beseitigen können. Denn wenn meine Analyse der strategischen Bedrohung Europas und damit auch unseres Landes
durch den islamistischen Terrorismus richtig ist, dann
stellt sich die Frage: Gelingt eine laizistische, also weltliche, Modernisierung der Türkei, eines der größten islamischen Länder, auf demokratischer und rechtsstaatlicher
Grundlage? Diese Frage ist wichtiger als viele Diskussionen, die wir gegenwärtig im Zusammenhang mit militärischen Optionen bezüglich eines anderen Landes führen;
denn wenn es gelänge, die Türkei zu modernisieren, dann
hieße das, eine Antwort auf die Frage nach der strategischen Sicherheit der gesamten Region zu geben.
({18})
Für diese Politik steht die jetzige Bundesregierung in der
Außen- und Sicherheitspolitik.
Ich kann Ihnen nur versichern: Gründend auf den Kontinuitäten, die wir vorgefunden haben, werden wir uns den
neuen Herausforderungen stellen und dafür sorgen, dass
Deutschland seinen Beitrag in einem zusammenwachsenden Europa, aber auch in einem sich verändernden, gestärkten atlantischen Bündnis leisten wird.
Ich danke Ihnen.
({19})
Nächster Redner ist Dr. Wolfgang Schäuble, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bundesaußenminister, Sie sind geübt, wenn es darum geht, von den eigentlichen Problemen abzulenken.
({0})
- Darauf komme ich noch zu sprechen. Lassen Sie mich
wenigstens zwei Sätze im Zusammenhang sagen, bevor
Sie dazwischenrufen.
Das eigentliche Problem ist doch nicht, dass man nicht
darüber reden kann, welches die angemessene Antwort
auf die terroristische Bedrohung ist, dass man mit den
Vereinigten Staaten von Amerika nicht darüber reden
kann, welches die richtige Politik ist, und dass es unterschiedliche Meinungen gibt. Sie entwerfen ja ein Zerrbild
von den Vereinigten Staaten von Amerika. Das eigentliche
Problem der letzten Monate ist doch vielmehr Folgendes
gewesen - ich lese Ihnen einmal vor, was KleineBrockhoff und Thumann in der Ausgabe der „Zeit“, die in
der Woche nach der Bundestagswahl erschienen ist, unter
der Überschrift „Das Gift der Gerd-Show“ geschrieben haben; die Autoren sind auch sicherlich keine Kettenhunde -:
Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hat eine große Volkspartei Wahlkampf mit kernig antiamerikanischen Parolen geführt. Zum ersten
Mal seit 1945 hat ein Bundeskanzler amerikanische
Politiker angegriffen und dafür auf den Marktplätzen
tosenden Beifall erhalten. Zum ersten Mal hat eine
deutsche Ministerin den amerikanischen Präsidenten
- wie verklausuliert auch immer - mit Adolf Hitler
verglichen.
Das ist das Problem gewesen.
({1})
Es geht auch nicht um die Frage, ob der Irak die richtige Priorität ist. Darüber kann man diskutieren. Das Problem ist vielmehr, dass wir, wenn wir den Gefahren des
21. Jahrhunderts, denen wir durch neue Formen der Bedrohung ausgesetzt sind - asymmetrische Kriegsführung und Terrorismus klingen in meinen Ohren wie
eine halbe Privatveranstaltung; die asymmetrische
Kriegsführung ist angesichts der Tatsache, dass sich alles
miteinander vermischt, viel komplizierter geworden -,
begegnen wollen, unsere Bemühungen um die internationale Solidarität, und zwar sowohl um die atlantische
als auch um die europäische, verstärken müssen. Darauf
sind wir auf Gedeih und Verderb angewiesen. Deswegen
geht es nicht um Meinungsfreiheit - die braucht man
gegenüber den Amerikanern nicht zu verteidigen -, sondern um europäische Geschlossenheit, atlantische Solidarität und die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen. Diese haben Sie schwer geschädigt und das war der
Fehler.
({2})
Daran können Sie nicht vorbeireden.
In vielem sind wir ja gar nicht unterschiedlicher Meinung. Über die Einzelheiten wird man in den kommenden Jahren weiter diskutieren. In den Diskussionen wird
es darum gehen, wie wir ein großes und starkes, ein
handlungsfähiges, ein effizienteres Europa zustande
bringen, wie wir die Rolle Europas in globaler Verantwortung, in atlantischer Partnerschaft stärken, sodass
europäisches Engagement keine Alternative zu atlantischer Solidarität ist, weil wir die atlantische Partnerschaft nur wirkungskräftig erhalten werden, wenn das
Ungleichgewicht zwischen dem amerikanischen Teil
und dem europäischen Teil nicht immer größer wird,
wenn die Europäer einen stärkeren Beitrag leisten, mehr
mit einer Stimme sprechen, mehr Fähigkeiten haben.
Das alles ist richtig. Aber in den letzten Monaten haben
Sie Europa in der entscheidenden Frage handlungsunfähig gemacht, indem Sie Europa durch Ihren Alleingang blockiert haben.
({3})
Es geht nicht um unterschiedliche Meinungen. Die Christlich-Demokratische Union, CDU und CSU haben in diesem Wahlkampf vom ersten Tag an gesagt: Wir treten
dafür ein - das ist nicht die Position aller Amerikaner -,
dass wir nur auf der Grundlage von Beschlüssen der Vereinten Nationen und nur im Rahmen von Beschlüssen der
Vereinten Nationen handeln. Aber Sie haben gesagt: Was
immer auch die Vereinten Nationen beschließen, wir jedenfalls werden uns nicht beteiligen.
({4})
Das war der Alleingang, die Isolierung Deutschlands, und
das war ein Fehler.
({5})
Dafür zahlen wir einen erheblichen Preis.
Zunächst einmal haben Sie im Wahlkampf natürlich
Ihre eigenen Anhänger getäuscht. Wir werden das noch
sehen, Fortsetzung folgt in diesem Theater. Das Mandat
Enduring Freedom wird zum 15. November verlängert
werden müssen. Dann wird Ihr Verharmlosungsmanöver,
für das es sehr gute Gründe gibt, aber man muss es so nennen, deutlich werden. Es täuscht die Menschen in unserem Lande über den Ernst der Lage. Wenn Sie von Afghanistan reden, sprechen Sie immer nur von dem
Beitrag, den die Bundeswehr aufgrund der Beschlüsse,
die auf dem Petersberg gefasst wurden, leistet. Sie reden
überhaupt nicht über den Beitrag, den die Soldaten der
Bundeswehr - KSK heißt die Einheit - im Rahmen des
Mandats von Enduring Freedom leisten. Sie tun so, als
wären Sicherheitspolitik und Kampf gegen den Terrorismus nur eine Art von Friedensarbeit und polizeilicher
Tätigkeit. Nein, es ist ein hochgefährlicher Beitrag, den
die Soldaten der Bundeswehr leisten.
({6})
Das muss ausgesprochen werden, sonst wird der Dank unehrlich. Wir unterstützen den Dank und haben großen
Respekt, aber wir sind dagegen, die Bevölkerung über die
wirkliche Bedrohung und die wirklichen Gefahren zu täuschen.
({7})
Mit dem, was Sie zum Problem Tschetschenien gesagt
haben, stimmen wir weitgehend überein. Das ist ja überhaupt in vielem so, Herr Bundesaußenminister. Sie haben
die lange Linie der Kontinuität deutscher Außen- und Sicherheitspolitik erwähnt, die von Konrad Adenauer bis
Helmut Kohl gut gewesen ist. Wir haben Sie in der vergangenen Legislaturperiode in den Grundfragen von
Außen- und Sicherheitspolitik mehr unterstützt als die
Regierungsparteien. Sie konnten sich auf die Opposition
eher verlassen als auf Ihre eigenen Reihen. Das ist doch
die Wahrheit.
({8})
Aber Sie haben diese Gemeinsamkeit im Wahlkampf einseitig verraten. Auch das ist die Wahrheit. Wenn Sie zu
dieser Gemeinsamkeit zurückkehren, werden wir unsere
Verantwortung weiterhin wahrnehmen. Aber es bleibt dabei, dass Sie aus reinen Wahlkampfinteressen die Grundlinien, die Verantwortung, die Kontinuität deutscher
Außen- und Sicherheitspolitik in diesem Wahlkampf verraten haben. Dafür zahlen wir einen hohen Preis.
Zum Thema Tschetschenien gehört für mich schon,
dass man sagt: Es braucht politische Lösungen und Russland muss auf dem Weg zum Westen und zur Demokratie
diese Anforderungen für sich gelten lassen. Man muss
übrigens hinzufügen: Solch schreckliche Erfahrungen wie
die der letzten Tage machen uns im Westen gelegentlich
ein bisschen weniger selbstsicher. Wir müssen vielleicht
erkennen, dass wir Fragen, die wir bei Problemen an andere stellen, gelegentlich mit den Augen anderer sehen
und auch für uns gelten lassen müssen. Wir brauchen also
in jedem Fall politische Lösungen und repressive Maßnahmen zugleich.
Das andere muss aber auch klar sein: Was immer die
politischen Konflikte auf dieser Welt sein mögen, es geht
nicht an, dass unschuldige unbeteiligte Menschen, ob im
World Trade Center in New York oder im Theater in Moskau, von irgendwelchen Irregeleiteten getötet oder als
Geiseln genommen werden. Die Welt muss zusammenstehen, um so etwas zu unterbinden.
({9})
Da darf es keine Alleingänge geben; denn damit
schwächen wir die internationale Gemeinschaft, die Gemeinschaft der zivilisierten Welt. Da lag Ihr Fehler.
({10})
- Sie schwächen die Vereinten Nationen, wenn Sie sagen:
Was immer auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschließt - wir machen jedenfalls nicht mit. Der
deutsche Weg, von dem der Außenminister jetzt nach der
Wahl sagt „Vergessen Sie es!“ - vor der Wahl hat der Bundeskanzler den deutschen Weg gepredigt -, ist nichts anderes als das Wiederaufleben des alten „Ohne mich“Standpunkts aus der Frühzeit der Bundesrepublik
Deutschland.
({11})
Sie haben gefährliche Ressentiments angesprochen, Herr
Bundeskanzler. Sie werden dafür einen hohen Preis bezahlen. Die Geister, die man ruft, wird man oft nicht wieder los. Das ist nicht nur beim „Zauberlehrling“ so.
({12})
- Wir werden sehen. Der Herr stellvertretende Fraktionsvorsitzende Ströbele hat in der vergangenen Woche schon
in einer bemerkenswerten Weise zwischen den einzelnen
Bundeswehreinsätzen unterschieden. All das wird uns begleiten.
Ich will Ihnen zu dem Thema Türkei Folgendes sagen:
Wir haben schon den Verdacht, dass die Veränderung der
Position, was die Mitgliedschaft der Türkei anbetrifft
- das klang in den Äußerungen des Bundeskanzlers vor
der Wahl ganz anders als in der letzten Woche -, ein Teil
des Preises ist, den man bezahlen muss. Ich will Ihnen
deshalb sagen, was unsere Meinung in Sachen Türkei war
und noch immer ist.
Wir haben ein großes Interesse daran, dass die Türkei
untrennbarer Bestandteil des Westens bleibt.
({13})
- Natürlich, Frau Roth; da ist überhaupt kein Unterschied;
ich stelle gerade unsere Position dar. Dass die Türkei in einer möglichst engen Beziehung zu Europa bleiben soll, ist
völlig unstreitig.
Unsere Vorstellung von dem, was die Europäische
Union ist und noch werden soll, ist die einer handlungsfähigen politischen Einheit auf der Grundlage gemeinsamer Identität; denn freiheitliche Organisation bekommt
man nicht ohne eine hinreichende Grundlage an Identität,
Zusammengehörigkeit und gemeinsamen Werten. Unsere
Vorstellung von der Europäischen Union - dazu gibt es
unterschiedliche Meinungen in Deutschland und auch unter unseren Partnern in Europa - ist die einer politischen
Identität der Europäischen Union.
({14})
Das heißt dann aber auch, dass man genauer prüfen
muss, ob diese Europäische Union nicht auch Grenzen
braucht, ob man für solche Länder, die zum Teil zu Europa
gehören, zum Teil aber eben auch nicht - Russland ist ein
solches Land; Sie haben mich ausgelacht, als ich vor ein
paar Jahren die Parallele gezogen habe; heute lacht niemand mehr -, in deren Interesse - auch die Türkei braucht
ihre eigene Identität für ihre Stabilität und ihre Zukunftschancen - nicht besser eigene Formen der Zugehörigkeit
zu Europa vereinbart. - Das ist unsere Position. Das ist
nicht Türzuschlagen, sondern das ist der bessere Weg.
({15})
Die Europäische Union und auch schon die Europäischen Gemeinschaften haben, wenn ich es richtig weiß,
der Türkei seit 1964, also seit 38 Jahren - das waren nicht
immer Sie, Herr Bundeskanzler Schröder, und Ihre Regierung; es waren auch schon andere -, die Perspektive
einer vollen Mitgliedschaft in der Europäischen Union
angeboten.
({16})
- Ja, 1964. So lang ist das her. - Deswegen sage ich: Die
Lösung, von der ich rede, können wir nicht der Türkei
oktroyieren. Wir sollten offen und ehrlich und im Hinblick auf das gemeinsame Ziel mit der Türkei darüber
sprechen, ob das nicht im gemeinsamen Interesse der bessere Weg ist. Das ist ehrlicher, als eine Debatte zu führen,
bei der es im Grunde nur nach dem Motto geht: Jetzt ist
die Bundesregierung dafür - in der Hoffnung, dass in Kopenhagen genügend andere dagegen sein werden, damit
nichts vorankommt. Die Türkei hat doch längst begriffen,
dass ihr immer die Wurst hingehalten und dann wieder
weggezogen wird. So darf man mit der Türkei nicht umgehen.
({17})
Herr Bundeskanzler, ich glaube im Übrigen, dass über
Ihre Regierungserklärung schon deswegen wenig zu sagen ist, weil sie wenig enthalten hat. Ich habe mir immer
wieder die Frage gestellt: Was machen Sie aus diesem
nichts sagenden Koalitionsvertrag in Ihrer heutigen
Regierungserklärung? Sie sind mit Ihrer Regierungserklärung wirklich noch unter dem Niveau des Koalitionsvertrages geblieben.
({18})
Es war wirklich nichtssagend.
Was überhaupt gefehlt hat - ich glaube, das wird wichtiger werden -, war, den Menschen in unserem Lande zu
erklären, wie wichtig es ist, dass wir außenpolitische Verantwortung, außenpolitische Interessen, sicherheitspolitische Interessen und Risiken ernst nehmen. Wenn wir den
Menschen einreden: „Wir haben so viele Probleme, dass
wir uns nicht auch noch um andere kümmern können;
denn wir haben mit uns selbst schon genug zu tun“, dann
werden wir die Reformkräfte in unserer Gesellschaft nicht
stärken. Ein Volk, das zu Introvertiertheit neigt, weil es
glaubt, es habe so viele eigene Sorgen, dass es sich nicht
auch noch um die der anderen kümmern könne, und weil
es glaubt, dass die Bedrohung nicht so groß werde, wenn
es sich in der Nische verstecke, wird eher Besitzstände
verteidigen. Wir müssen aber mehr Besitzstände auf den
Prüfstand stellen.
Ich hätte mir deshalb in Ihrer Regierungserklärung eine
realistische Bedrohungsanalyse gewünscht. Ich hätte mir
gewünscht, dass Sie darstellen, worin deutsche Interessen
und deutsche Verantwortung eigentlich bestehen und was
im Zusammenwirken zwischen Außenpolitik, Entwicklungspolitik und Sicherheitspolitik notwendig ist, damit
wir, unsere Kinder und unsere Enkel in sicherem Frieden
leben können. Der jetzige Friede ist nämlich bedroht; der
Terrorismus bedroht auch uns. Wir leisten nicht nur Solidarität mit den Amerikanern - darauf weisen Sie zur Begründung von Enduring Freedom gelegentlich hin -, sondern wir nehmen auch unsere eigenen Interessen, unsere
eigene Verantwortung wahr. Das muss gesagt werden.
({19})
Sie werden ganz schnell erkennen, dass die Art, wie Sie
mit der Bundeswehr umgehen, völlig unverantwortlich
ist.
({20})
Auch das will ich Ihnen schon an dieser Stelle sagen. Verehrter Herr Struck, als Sie Verteidigungsminister wurden,
haben Sie erst einmal nur Wahlkampf gemacht. Ihre Verantwortung als Verteidigungsminister haben Sie erst nach
der Wahl entdeckt. Sie werden die Probleme der Bundeswehr noch nicht einmal im Ansatz lösen können, wenn
Sie den Weg fortsetzen, der Bundeswehr immer mehr
Aufgaben aufzubürden, auch wenn Sie mittlerweile den
Weizsäcker-Bericht, in dem von einer realistischen Bedrohungsanalyse die Rede war, entdeckt haben, was Sie
zumindest verbal zum Ausdruck bringen.
Ein Preis, den wir für Ihre antiamerikanischen Entgleisungen zahlen müssen, ist, dass Sie das deutsche Engagement in der afghanischen Hauptstadt, in Kabul, durch
Übernahme der Führung der internationalen Schutztruppe
stärken wollen. Das würde uns noch teurer zu stehen kommen. Es stellt sich übrigens die Frage, worin, was die Sicherheit anbetrifft, die höchste Priorität besteht.
Sie haben kein Wort zum NATO-Gipfel in Prag gesagt. Was ist eigentlich mit dem amerikanischen Vorschlag im Hinblick auf eine schnelle Eingreiftruppe? Wollen Sie Deutschland - Frau Merkel hat Sie das gefragt auch auf dem NATO-Gipfel in die Isolierung führen? Was
ist eigentlich mit der Umsetzung des richtigen Beschlusses von Helsinki? Ich denke an die europäische Sicherheitskomponente und die 60 000 Mann. Für nichts ist die
finanzielle Grundlage da.
({21})
Jetzt wird der Bundeswehr die halbe Milliarde Euro schon
wieder entzogen, die ihr aufgrund der Steuererhöhungen,
die Sie nach dem 11. September 2001 beschlossen haben,
zukommen sollten. So wird die Bundeswehr ihre Aufgaben nicht erfüllen können. So werden wir unserer Verantwortung gegenüber den Soldaten und gegenüber der Zukunft zu wenig gerecht.
({22})
Sie haben von den Leitlinien der deutschen Außenpolitik gesprochen. Wir haben diese Leitlinien in den Jahren, in denen wir in der Opposition waren, mitgetragen.
Wir werden das auch weiterhin tun. Diese Regierung hat
im Zweifel ohne jede Verantwortung und gewissenlos die
Interessen der Bundesrepublik Deutschland den Wahlkampfgesichtspunkten untergeordnet.
({23})
- So war der Wahlkampf. Ich könnte Ihnen stundenlang
entsprechende Zitate vorlesen.
({24})
Wir werden die Alternative zu einer solchen Regierung
sein, eine Alternative der Verlässlichkeit und der Berechenbarkeit. Wir haben in der Endphase der Regierung
Schmidt gegen die Linke atlantisches Engagement und
Solidarität vertreten. Die Menschen in unserem Lande
und unsere Partner in der Welt können sich darauf verlassen, dass die CDU auch in der Endphase der Regierung
Schröder die Alternative bleiben wird, die für Verlässlichkeit und Berechenbarkeit steht.
({25})
Das Wort hat der Kollege Gernot Erler, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Internationale Politik ist nicht mehr etwas Fernes, von der
Innenpolitik Abgetrenntes. Internationale Politik hat Auswirkungen auf unser Alltagsleben, sie dringt regelrecht in
unsere Lebenswelt ein. Das haben wir mehr als bisher
nach dem 11. September, bei den Vorgängen auf Djerba,
in Bali und jetzt bei der Tragödie in Moskau erfahren.
Dies hat uns gelehrt: Globalisierung spielt sich nicht nur
auf den Finanzmärkten und in der Ökonomie ab; Globalisierung heißt auch: Kein Konflikt auf dieser Welt ist mehr
so fern, dass er uns unberührt lässt. Jeder Konflikt kommt
in irgendeiner Weise bei uns an, kann unsere Sicherheit
beeinträchtigen, kann uns sogar zu einem anderen Leben
zwingen. Die Trennung von Innen- und Außenwelt wird
tendenziell gegenstandslos. Sie hebt sich von allein auf.
In den nächsten vier Jahren wird viel davon abhängen,
ob wir in unserem Denken und Handeln mit dieser Entwicklung Schritt halten. Herr Kollege Schäuble, es tut mir
Leid, dies sagen zu müssen: Mit dem Auskippen eines
Zettelkastens, in dem nur die Schablonen des Wahlkampfs
enthalten sind, werden Sie diesem Anspruch von Politik
wirklich nicht gerecht.
({0})
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion und die Koalition,
werden uns der Aufgabe stellen, die Innovationsforderung
über die Gesellschaftspolitik hinaus auch für die internationale Politik zu stellen, und zeigen, dass wir dieser Herausforderung gerecht werden. Hier fangen wir nicht bei
Null an. In den letzten Jahren hat es in Europa bereits
wichtige Lernprozesse gegeben. So wissen wir, dass Europa in der Praxis eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik braucht und auch Instrumente, sowohl zivile
als auch militärische, um diese Politik umzusetzen.
Mit Trauer und Zorn blicken wir darauf zurück, dass
Europa nicht imstande war, in den der 90er-Jahren vier
blutige Kriege auf europäischem Boden zu verhindern.
Aber Europa hat die Kraft zu einer umfassenden Integrationsstrategie entwickelt: mit dem Instrument des Stabilitätspakts für Südosteuropa und mit der Stabilisierungsund Assoziierungsstrategie gegenüber den Ländern, die
bisher nicht an dem europäischen Integrationsprozess
teilgenommen haben. Im Fall Mazedoniens gelang
schließlich erstmals die Verhinderung einer weiteren blutigen Katastrophe in unserer Nachbarschaft. Das war der
Erfolg einer Präventionspolitik, die primär auf Diplomatie, auf Verhandlungen, aber ohne Ausschluss einer Sicherheitskomponente, setzte. Wir haben in der letzten
Woche darüber gesprochen.
Herr Kollege Schäuble, wenn ich Sie noch einmal ansprechen darf: Ich habe, ehrlich gesagt, nicht begriffen,
warum letzte Woche vier Kollegen aus Ihren Reihen mit
Nein gestimmt und sich sechs der Stimme enthalten haben, als es darum ging, diese wichtige und erfolgreiche
Mission fortzusetzen.
({1})
Mitten in den Erfolg einer regionalen Prävention, wie
sie in Mazedonien stattgefunden hat, platzte dann der
11. September 2001. Dies war ein Schock nicht nur wegen der Zahl der Opfer, sondern auch, weil die bisherigen
Antworten für diese Herausforderung neuer Dimensionen
offensichtlich ungeeignet waren. So waren die 13 Monate
nach dem 11. September ein neuer, schwieriger Lernprozess für uns alle. Ich behaupte, dass sich bei der Beantwortung der Herausforderungen der Nach-SeptemberWelt allmählich so etwas wie ein europäisches Modell
für eine neue internationale Politik herausstellt, durchaus in Parallele zu jenem europäischen Gesellschaftsmodell, von dem heute Vormittag der Bundeskanzler gesprochen hat.
Das Nachdenken über ein solches europäisches Modell
ermöglicht uns auch eine bessere Einordnung bestimmter
aktueller Dissenspunkte in der internationalen Politik. Ich
bin sicher, hinter dem internationalen Ringen darüber, ob
es richtig ist, jetzt mit militärischen Mitteln das Regime
Saddam Hussein zu beseitigen, steckt mehr als eine unterschiedliche Bewertung in einer Einzelfrage. Hier geht
es letztlich um die Grundausrichtung der internationalen
Politik in der Nach-September-Welt. Dabei gibt es viele
transatlantische Gemeinsamkeiten - ich begrüße das -,
aber eben auch einige besondere europäische Ansätze, für
die wir werben und die es in unseren Augen wert sind, diskutiert zu werden. Ich sehe in diesem Zusammenhang
fünf wichtige Komponenten des europäischen Modells:
Als Erstes ist die Notwendigkeit der weiteren unmittelbaren Verfolgung der Mitglieder von Terrornetzwerken
zu nennen. Es hat hier ja Erfolge gegeben, auch militärische. Wir müssen aber feststellen: Die Netzwerke sind immer noch handlungsfähig. Wichtige Führer wie Bin Laden
und Mullah Omar sind immer noch nicht gefasst. Deswe100
gen haben im europäischen Modell die Aufrechterhaltung
und Stärkung der großen politischen Koalition gegen den
Terrorismus höchste Priorität. Diese ist, Herr Schäuble,
eben nicht nur eine transatlantische Veranstaltung, sondern bezieht ihre Wirksamkeit gerade daraus, dass die
große Mehrheit der arabischen und moslemisch geprägten
Staaten daran teilnimmt.
({2})
Es ist notwendig, die Arbeitsfähigkeit dieser großen Koalition zu erhalten. Weiterhin brauchen wir die Zusammenarbeit der Polizei und der Dienste und auch militärische Zusammenarbeit. Jede Gefährdung dieser Koalition,
egal wodurch, gefährdet auch den Erfolg im Kampf gegen
den internationalen Terrorismus.
Die zweite Komponente, die ich hier nennen möchte,
kann man mit dem Stichwort „Testfall Afghanistan“
beschreiben. Afghanistan ist ein exemplarischer Fall.
Afghanistan entscheidet darüber, ob wir bei den Menschen
Vertrauen gewinnen, die gegen Taliban und al-Qaida aufgestanden sind.
({3})
Das deutsche Engagement in Form von humanitärer
Hilfe, beim Post-Taliban-Prozess in Form der PetersbergKonferenz und jetzt vor Ort beim Wiederaufbau, beim
Bau von Schulen, bei der Schaffung von Voraussetzungen
für Gleichberechtigung, beim Bau einer Polizeiakademie
und bei der dort schon angelaufenen Ausbildung von Polizisten, das finanzielle und militärische Engagement bei
ISAF - all das machen wir nicht planlos, sondern dahinter steckt die Überzeugung, dass wir diesen Testfall gewinnen müssen. Dahinter steht die Einsicht, dass das richtig ist, was uns an dieser Stelle hier Kofi Annan, der
Generalsekretär der Vereinten Nationen, über nachhaltige
Friedensstrategien, über „sustainable peace“, gesagt hat.
Afghanistan ist der Testfall. Deswegen hat es aus unserer
Sicht oberste Priorität, diese Mission zum Erfolg zu
führen.
({4})
Die dritte Komponente besteht in der neuen Einsicht,
welche Bedeutung regionalen Konflikten zukommt.
Joschka Fischer hat hier schon über den Nahen Osten gesprochen. Bin Laden hat sich ja immer auf die Demütigung
der Palästinenser bezogen, wenn er irgendeine Legitimation für sein Handeln anführen wollte. Der KaschmirKonflikt ist erwähnt worden. Man könnte hinzufügen, dass
uns in den letzten Tagen noch einmal in Erinnerung gebracht und deutlich gemacht worden ist, welche Gefahren
von dem ungelösten Tschetschenien-Konflikt ausgehen.
Aber all diese Konflikte sind doch nicht nur auf terroristische Gewalt zurückzuführen, sondern aus ihnen gehen
auch zu allem bereite terroristische Potenziale hervor.
Deshalb muss es oberste Priorität in der internationalen
Politik sein, diese regionalen Konflikte zu analysieren und
zu lösen. Es dürfen nicht neue Schauplätze eröffnet werden, sondern dort muss mit dem Kampf gegen den Terrorismus angefangen werden.
({5})
Die vierte Komponente des europäischen Modells
stellt die Einsicht dar, welche bedeutende Rolle der
regionalen Stabilität zukommt. In Amerika sind Forscher zu der Erkenntnis gekommen, dass „failing states“,
„failed states“ und No-go-Areas - das heißt, das Verschwinden von staatlicher Autorität auf großen Teilen unseres Globusses - die Privatisierung von Gewaltanwendung und Rechtlosigkeit zur Folge haben und im Grunde
genommen die Voraussetzung für die Entwicklung von
Terrorismus darstellen. Deswegen ist ein solches Verschwinden von staatlicher Kontrolle schon aus sicherheitspolitischen Gründen nicht hinnehmbar. Die Antwort
muss doch sein, dass wir uns mehr bei der Etablierung von
Stabilitätsregimen engagieren. Wir haben unsere Erfahrungen damit auf dem Balkan gemacht; ich habe den Stabilitätspakt schon angesprochen. Das Gleiche ist notwendig in der Region Afghanistan, in der Region Kaukasus,
in Zentralasien und ganz besonders in Afrika. Wir haben
doch nicht vergessen, was 1993 in Somalia passiert ist.
„Restore Hope“ hieß die Mission dort. Dann, ganz plötzlich, nach einigen Verlusten, zog sich nicht nur Amerika,
sondern die ganze westliche Welt zurück. Heute ist das
genau eine solche Region eines „failing state“ und wir
wissen ganz genau, dass dort die gefährlichsten Entwicklungen ablaufen. Deswegen wird ja auch darüber diskutiert, dort militärisch zu intervenieren. Das zeigt, welche
Bedeutung regionale Stabilitätsregime im Kampf gegen
den Terrorismus haben.
Schließlich die fünfte Komponente: Kampf um eine
gerechtere Weltordnung. Dort wo die Verteilung von
Lebenschancen und materiellen Gütern zu Verbitterung,
Demütigung und Marginalisierung führt, entstehen Biotope für Extremismus und Terrorismus. In der langen Linie bekommen Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit dadurch eine ganz andere Bedeutung. Sie
werden zu einem zentralen Instrument der internationalen
Sicherheitspolitik. Das ist die Bedeutung auch der Festlegung in unserem Regierungsprogramm auf die Fortsetzung der Antiarmutspolitik, der Entschuldungspolitik, der
Politik gegen Seuchen, besonders der Ausbreitung von
Aids in Afrika, und der Festlegung auf das Ziel von
0,33 Prozent bis zum Jahre 2006, die der Bundeskanzler
heute noch einmal bestätigt hat. Das wird die SPD-Bundestagsfraktion wegen des genannten Zusammenhangs
sehr aufmerksam und sehr engagiert begleiten.
({6})
Das ist übrigens auch immer mehr europäische Politik
und ein wesentliches Element dieses europäischen Modells.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese fünf Komponenten weisen in der Tat einen Weg über vier Jahre hinaus,
einen Weg, der uns von der regionalen Prävention zu der
Notwendigkeit des Aufbaus einer globalen, strukturellen
Prävention führen wird, und zwar im Sinne einer Gesamtstrategie in der Nach-September-Welt. Das ist ein
großer Anspruch, ein großes Ziel. Man kann auch sagen:
Das ist eine Vision. Aber am Anfang eines neuen vierjährigen Auftrags ist wohl auch die Gelegenheit, einmal
über so etwas zu reden. Wann denn eigentlich sonst? Über
dieses Politikmodell, über diese Gesamtstrategie wollen
wir auch mit denen reden, die andere Modelle, andere Visionen haben.
Transatlantische Partnerschaft kann nicht heißen, dass
der Schwächere irgendwann doch dem Stärkeren nachgibt, ohne überzeugt zu sein. Transatlantische Partnerschaft kann nicht heißen, dass alle schon aufatmen, wenn
erwachsene Menschen mit anderen erwachsenen Menschen erwachsen umgehen, indem sie sich, wenn sie sich
begegnen, wieder die Hand geben. Transatlantische Partnerschaft, wenn sie den Anspruch auf Verantwortungspartnerschaft überzeugend vorbringen will, heißt, dass
wir über unterschiedliche Politikmodelle, unterschiedliche Vorstellungen von einer stabilen und Sicherheit produzierenden Weltordnung ernsthaft diskutieren vor dem
Hintergrund beiderseitig pluralistischer Gesellschaften
- das gilt zum Glück für Amerika wie auch für Europa -,
und zwar mit dem Ziel, das, was Konsens ist, auszuweiten und zur Grundlage gemeinsamen Handelns zu machen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Dr. Wolfgang Gerhardt, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine
Fraktion und auch ich selbst diskutieren gerne über umfassende Sicherheitsbegriffe und über die Traditionslinien
deutscher Außenpolitik. Wir teilen auch die Auffassung in
Bezug auf die detaillierte Schilderung der Elemente des
Kaschmir-Konflikts, die der Außenminister hier genannt
hat. Ich habe ferner Teilen der Rede des Kollegen Erler
mit Vergnügen zugehört. Allerdings frage ich mich, wieso
bei dieser Einschätzung und angesichts der Kompliziertheit der internationalen Lage sowie der Notwendigkeit,
die Situation umfassend zu beurteilen, ausgerechnet der
deutsche Bundeskanzler im Wahlkampf vom „deutschen
Weg“ gesprochen hat. Das ist unbegreiflich.
({0})
Das ist auch intellektuell unbegreiflich. Was ist der
„deutsche Weg“ angesichts der internationalen Zusammenhänge, der Aufgaben der Nation-Bildung, der regionalen Sicherheitsstrukturen, die wir herausbilden müssen,
sowie des Kommunikationsangebots, das die Europäische
Union anderen weltweit unterbreitet? Vom „deutschen
Weg“ zu reden ist absurd. Eine Opposition, die ernst genommen werden will, muss darauf zurückkommen. Die
Rede vom „deutschen Weg“, der vor der Wahl angeboten,
auf Marktplätzen allen verkauft und vom Außenminister
fünf Minuten nach der Wahl mit dem Hinweis „Forget it“
wieder eingesackt wurde, ist der größte außen- und
sicherheitspolitische Wahlbetrug, den sich eine Bundesregierung in der Geschichte des Landes je erlaubt hat.
({1})
Herr Kollege Erler und Herr Außenminister Fischer,
wir wollen nicht um folgende Tatsache herumreden - wir
werden uns in den entsprechenden parlamentarischen Debatten ja wiedersehen -: Sie haben bis heute die IrakFrage nicht abschließend und klar beantwortet.
({2})
Wenn Saddam Hussein am Ende Inspektoren nicht ins
Land lässt, wenn Beweise vorgelegt werden, dass er Massenvernichtungswaffen entwickelt, und wenn sich die
Weltgemeinschaft mit Sicherheitsratsbeschluss, also mit
Zustimmung Frankreichs, Russlands, Chinas und anderer,
entschließt, dagegen vorzugehen und vorgehen zu müssen, um Menschen zu schützen, werden Sie eines Tages
gezwungen sein - das sage ich Ihnen voraus -, im deutschen Parlament vorzutragen, dass wir doch nicht umhinkommen - wenn wir schon nicht Soldaten entsenden -,
Logistik und medizinische Hilfsmaßnahmen anzubieten.
({3})
Natürlich würden wir die Spürpanzer zum Schutz der amerikanischen Soldaten in Kuwait belassen. Sie wissen das.
Sie wissen auch - das wussten Sie schon vor der Wahl -,
dass Sie eines Tages ein solches Eingeständnis möglicherweise würden machen müssen. Mit dem, was Sie getan haben, schädigen Sie die Glaubwürdigkeit der deutschen Außenpolitik in einem unerträglich hohen Maß.
Das muss einfach angesprochen werden.
({4})
Ein zweiter Sachverhalt. Herr Außenminister, natürlich
freuen wir uns alle, dass jetzt das Tor zu einem Akt der
Wiedervereinigung Europas aufgestoßen wird. Wir wissen, dass das nicht kostenlos zu haben ist. Ich möchte ein
kleines Plädoyer für ein Mindestmaß an Handwerkszeug
in der Politik halten. Dass das deutsch-französische Verhältnis als europapolitischer Motor in den letzten Jahren
geradezu ausgefallen war, konnten Sie vor niemandem
verbergen. Unterlassen Sie es daher bitte, die Tatsache als
Großtat zu feiern, dass sich der Bundeskanzler bei dem
Kompromiss zur Agrarpolitik mit dem französischen
Präsidenten bei den realen Ausgaben und Obergrenzen in
einer Höhe von 6 Milliarden Euro - und das mit steigender Tendenz - vertan hat. Da hilft auch der Hinweis auf
den Dolmetscher nicht. Damit können Sie Ihre Koalitionsvereinbarung zur Agrarpolitik vergessen. Die Umstellung wird nicht gelingen, weil sie nicht finanzierbar sein
wird. Diese Vorgänge lassen schlicht und einfach das notwendige Handwerkszeug vermissen. Sie gehen in ein Gespräch und verwechseln eine Summe von 6 Milliarden Euro, eine Summe, die ab 2007 eine steigende
Tendenz aufweisen wird.
({5})
Ich weise deshalb darauf hin, weil wir uns die Verbesserung des deutsch-französischen Verhältnisses so nicht
vorgestellt haben. Das ist ein äußeres Zeichen eines inneren Zustandes. Sie bereiten sich nicht mehr anständig auf
solche Gespräche vor. Sie nehmen sich zu wenig Zeit, mit
den französischen Nachbarn zu sprechen.
({6})
Wir haben das schon in der außenpolitischen Debatte
erlebt, was den Irak betraf. Sie bereiten die Gipfel nicht
vernünftig vor. Das ist nicht der erste Vorgang dieser Art.
Der Berliner Gipfel sollte sich mit Finanzierungsfragen
und der Gipfel von Nizza mit Entscheidungsabläufen und
Mehrheitsentscheidungen beschäftigen. Der Konvent
muss nun die notwendigen Reparaturarbeiten übernehmen. Jetzt passiert es zum dritten Mal, dass europäische
Entscheidungen von Ihnen nicht in ausreichendem Maße
vorbereitet wurden. Uns reicht es nicht, dass Sie uns von
weiten Reisen berichten, oder über internationale Zusammenhänge der Außenpolitik informieren. Sie müssen das
kleine Einmaleins auch umsetzen. In der Europapolitik
verlangen wir dieses Mindestmaß.
({7})
Ein dritter Gesichtspunkt. Kollege Schäuble hat schon
danach gefragt, wie man den Aufbau einer eigenen europäischen sicherheits- und verteidigungspolitischen Kapazität klar finanziert. Ich sage dazu ganz einfach: Das Mindestmaß ist, dass man seine Hausaufgaben macht. Dazu
möchte ich Ihnen Ihre Koalitionsvereinbarung zur Bundeswehr vorlesen:
Aufgaben, Struktur, Ausrüstung und Mittel der Bundeswehr werden wieder in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht.
Das Wort „wieder“ ist gut.
({8})
Dann heißt es später - diesen Satz hätten Sie sich sparen können -:
Die mittelfristige Finanzplanung bleibt die Grundlage für die Planungen der Bundeswehr.
Das können Sie nicht miteinander in Einklang bringen.
Ein weiterer Satz:
Hierbei werden die Vorschläge ... der WeizsäckerKommission die Richtschnur bilden.
Die waren es schon bisher nicht; denn es wurde gar nicht
abgewartet, bis die Weizsäcker-Kommission einen Vorschlag gemacht hat. Der damalige Bundesverteidigungsminister Scharping hat ja eigene Vorschläge gemacht. Die
werden im Folgenden genannt. Sie schreiben:
Nach der weitgehenden Umsetzung der im Jahr 2000
eingeleiteten Bundeswehrreform ... muss erneut
überprüft werden, ob weitere Strukturanpassungen
oder Änderungen bei der Wehrverfassung notwendig
sind ...
Selten ist ein solches Durcheinander in wenigen Sätzen
hintereinander in eine Koalitionsvereinbarung geschrieben worden.
({9})
Nichts von alldem gilt. Sie machen Ihre Hausaufgaben
nicht. Sie finanzieren die Bundeswehr nicht, stehen aber
vor weit größeren Aufgaben als in der Vergangenheit. Sie
geben keinen Hinweis auf einen deutschen Beitrag in Bezug auf die Finanzierung.
Wissen Sie, was die deutsche Außenpolitik immer ausgezeichnet und damit auch stabil und verlässlich gemacht
hat? - Sie war glaubwürdig. Dies war sie zunächst bei
Konrad Adenauer. Sie war in der großen Koalition unter
Kurt Georg Kiesinger, der als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses über viele Jahre Erfahrungen gesammelt
hatte, glaubwürdig. Auch in unserer Koalition unter Willy
Brandt war sie glaubwürdig. Sie hatte klare Ziele. Da gab
es auch Rückschläge; aber man wusste, worauf man hinauswollte. Auch unter Helmut Kohl war sie glaubwürdig.
Beim jetzigen Bundeskanzler vermisse ich jedes
außenpolitisch klare Prinzip.
({10})
Deshalb war die Regierungserklärung, wie sie war: Er ist
für alles gut, aber dann geradezu für nichts. Mir ist die Beliebigkeit der Außenpolitik in Deutschland ein Gräuel.
Dagegen wehren wir uns.
({11})
Herr Außenminister Fischer, es geht doch nicht um die
Frage, wie wir die Türkei bewerten. Auch wir wissen,
dass wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, um
dieses Land modernisierungsbereit zu halten, um alle europäischen Verbindungsstränge in die Türkei zu bewahren
und um die türkische Gesellschaft schrittweise in die Moderne zu führen - und dies nicht nur auf der Ebene der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite.
Alle Erfahrungen, die wir seit den 60er-Jahren
({12})
mit der Türkei gemacht haben, beruhen auf falschen Versprechungen, die in der Türkei immer wieder große Frustrationen ausgelöst haben. Deshalb täte jede deutsche
Bundesregierung gut daran, nicht mit weiteren falschen
Versprechungen auf den EU-Gipfel nach Kopenhagen am
Ende dieses Jahres zu reisen.
({13})
Die Wahrheit ist, dass es nicht reicht, wenn die Türkei eine
neue Verfassung und neue Gesetze beschließt. Entscheidend ist die Gesellschaft, die hinter den Gesetzen steht
und die Verfassung lebt. Die geschriebene Verfassung allein reicht nicht aus.
Es ist einfach wahr, dass die Türkei heute noch nicht
für einen Beitrittsprozess reif ist bzw. dafür, zu Beitrittsverhandlungen eingeladen zu werden. Wenn das so ist,
dann muss man das auch sagen. Wenn man anders verfährt und meint, wir Deutsche seien aufgefordert, einen
besonderen Beitrag zu leisten, um die strategischen Interessen unserer amerikanischen Verbündeten zu beachten,
dann wird sich das für uns sehr nachteilig auswirken, weil
wir alle wissen, dass ein Beitritt der Türkei in den nächsten Jahren nicht vollzogen werden kann. Die türkische
Gesellschaft wird, auch durch das Votum Deutschlands,
ein weiteres Mal enttäuscht werden. Damit wird der Türkei überhaupt nicht geholfen.
Deshalb kommen wir an folgenden Kernpunkten nicht
vorbei: Welche europäische Sicherheitspolitik machen
wir wirklich? Wie finanzieren wir die Elemente der Osterweiterung tatsächlich? Welche ehrliche Antwort geben
wir der Türkei? Wie bringen wir das Verhältnis zwischen
Deutschland und Amerika wieder in Ordnung? Und zuallerletzt: Was macht der Bundeskanzler, wenn am Ende eines Prozesses im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
alle unsere Verbündeten, Großbritannien bzw. die übrige
Europäische Union, nicht darum herumkommen, der Völkergemeinschaft ein Vorgehen gegenüber Saddam
Hussein, das auch Zwangsmittel einschließt, zu empfehlen? Dann erneut zu sagen: „Daran nehmen wir nicht teil“
schlägt allem ins Gesicht, was der Bundeskanzler selbst in
der Regierungserklärung bezüglich unserer eigenen
Sicherheit vorgetragen hat. Wir können nicht nur immer
von anderen Sicherheit für uns erwarten, wir müssen
manchmal auch unangenehme Konsequenzen ziehen, um
Sicherheit für alle mit anzubieten.
({14})
Wir werden uns in dieser Debatte wiedersehen; ich
sage sie Ihnen fast schon voraus. Dann wird die deutsche
Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen, dass alles Schall und
Rauch war, was vom Bundeskanzler im Wahlkampf gesagt worden ist. Darauf muss hier hingewiesen werden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Angelica
Schwall-Düren, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute, zu Beginn der 15. Legislaturperiode, befindet sich die Europäische Union an einem entscheidenden Wendepunkt ihrer
Geschichte. Die Einigung Europas und damit die endgültige Überwindung der künstlichen Teilung des Kontinents
als Folge des Zweiten Weltkrieges ist in greifbare Nähe
gerückt. Gleichzeitig stellt die aktuelle internationale
Lage - dazu haben wir heute schon einiges gehört - die
Europäische Union vor große neue Herausforderungen
nach innen und außen.
Die EU ist heute der entscheidende Handlungsrahmen
für eine aktive und an demokratischen Grundwerten
orientierte Gestaltung der Globalisierung. Nur im EUKontext kann es gelingen, die Herausforderungen der
Globalisierung für das europäische Gesellschafts- und
Sozialmodell erfolgreich zu meistern.
({0})
Drei große Aufgaben hat die EU in den kommenden
Jahren zu bewältigen: Sie muss auf dem Weg der europäischen Einigung voranschreiten, sie muss ihre Handlungsfähigkeit erhalten und erweitern und sie muss ein
Europa der Bürger werden.
Die Europäische Union ist ein einzigartiges Erfolgsmodell der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hätten
unsere Großeltern und Eltern je davon zu träumen gewagt,
dass ein durch Hass, Krieg und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit zerrissener Kontinent ein Modell der Verständigung und Zusammenarbeit entwickeln kann, wie es
mit der EU und ihren Vorläuferorganisationen gelungen
ist? Wir haben heute ein Modell der friedlichen und konstruktiven Lösung von Interessenkonflikten, ein Modell,
das zunächst den Gründungsmitgliedern und dann den im
Laufe der Jahre hinzugekommenen Ländern Wachstum,
Wohlstand und soziale Sicherheit beschert hat, ein Modell, das keineswegs zu einer Nivellierung unserer Gesellschaften geführt, sondern den Reichtum der Unterschiedlichkeit bewahrt hat, insbesondere auch die
kulturelle Vielfalt.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist nun die
Chance gegeben, Europas Wiedervereinigungsprozess
weiter voranzubringen. Der Gipfel in Kopenhagen wird
die Entscheidung bringen, dass zehn Länder in die Europäische Union aufgenommen werden. Weitere können in
der Zukunft dazukommen.
Lassen Sie mich deshalb in diesem Zusammenhang auf
die Türkei zu sprechen kommen. Die in diesem Land angepackten Reformen, Herr Schäuble und Herr Gerhardt,
belegen, dass die Heranführungsstrategie der Union ihre
Früchte trägt.
({1})
Deshalb macht es Sinn, dass der Türkei in Kopenhagen
ein weiteres positives Signal gegeben wird, dergestalt,
dass das Land bei Fortführung des Reformprozesses in
absehbarer Zeit damit rechnen kann, ein Datum für den
Beginn von Verhandlungen genannt zu bekommen.
Meine Damen und Herren, wir alle wissen: Die EUOsterweiterung stößt bei manchen Bürgerinnen und Bürgern noch auf Vorbehalte. Was aber viel zu oft vergessen
wird, sind die enormen Chancen, die mit der Erweiterung
der Europäischen Union verbunden sind. Das ist einerseits die weitere Ausdehnung des Raums des Rechts, der
Sicherheit und der Freiheit in Europa und das ist andererseits der zu erwartende Wohlstandsmehrwert, bei dem wir
letztlich alle durch höhere Wachstumsraten und Einkommen profitieren. Deutschland profitiert übrigens ganz besonders von der EU-Erweiterung. Diesen Prozess zu unterstützen ist die erklärte Absicht der SPD-Fraktion.
({2})
Nicht erst die Aussicht, zehn weitere Länder in die
Europäische Union aufnehmen zu können, hat deutlich
gemacht, dass die Strukturen der EU optimiert werden
müssen. Nur eine handlungsfähige Gemeinschaft wird in
der Lage sein, die großen wirtschaftlichen, politischen
und gesellschaftlichen Herausforderungen im Zeitalter
der Globalisierung zu meistern.
Ich nenne Ihnen nur die Stichworte Kosovo-Konflikt,
11. September 2001, Hochwasserkatastrophe dieses Som104
mers, hohe Arbeitslosigkeit in vielen europäischen Ländern, Flüchtlingsproblematik und internationale Kriminalität. Schon daran wird deutlich, dass wir eine gemeinschaftliche Politik in den Bereichen der Außen- und
Sicherheitspolitik, der Klimaschutzpolitik sowie der Sozial- und Rechtspolitik brauchen.
Diese Herausforderungen sind aber mit den hergebrachten Gemeinschaftsmechanismen auf Dauer nicht zu
bewältigen. Deshalb haben die europäischen Staats- und
Regierungschefs am 15. Dezember 2001 mit der Erklärung von Laeken - nicht zuletzt als Ergebnis der entschiedenen Initiative der Bundesregierung - den Grundstein für den umfassendsten und ambitioniertesten
Reformprozess seit Gründung der Europäischen Gemeinschaften gelegt.
Für uns ist dabei besonders wichtig, dass erstmals in
der Geschichte der europäischen Integration Parlamentarier aus den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament im Konvent von Anfang an maßgeblich
an dem großen Reformprojekt einer europäischen Verfassung beteiligt sind. Wie ernst unser Bundeskanzler
diese Arbeit nimmt, ergibt sich schon allein aus der Entsendung des Außenministers in den Konvent.
Gestern nun hat der Präsident des europäischen Verfassungskonvents, Valéry Giscard d’Estaing, den ersten
Verfassungsentwurf vorgelegt. Nun gilt es, mit diesem
Entwurf zu arbeiten. Mit der Bundesregierung will die
Fraktion darauf hinarbeiten, dass die Ausübung europäischer Macht demokratischer, transparenter und effizienter wird. Dabei müssen das Prinzip der Gewaltenteilung
besser durchgesetzt und die demokratische Verantwortlichkeit auf europäischer Ebene erhöht werden. Dies
schließt die Bindung der EU-Organe an die Charta der
Grundrechte ein. Darüber gibt es inzwischen eine große
europäische Einigkeit.
Die Reform der EU muss dazu beitragen, dass Europa
eine Gemeinschaft der Bürger wird. Europa muss ein Gesicht bekommen. Europa muss mit Namen verbunden
werden. Aber eine entsprechende Konstruktion wie zum
Beispiel die Einsetzung eines EU-Präsidenten darf nicht
zu einer Schwächung der EU-Kommission oder des Parlaments führen. Vielmehr müssen die demokratische Legitimation gestärkt und die Transparenz der Entscheidungen erhöht werden.
({3})
Dazu ist eine Stärkung des EU-Parlaments unabdingbar.
Gerade weil wir eine stärkere Vergemeinschaftung wollen, muss das Europäische Parlament mehr Befugnisse
bekommen.
Die Musik spielt mehr und mehr in Europa. Immer
mehr Politikfelder werden auf der europäischen Ebene
vorgeprägt oder entschieden werden. Ich kann hier heute
nur wenige davon ansprechen. Ich will beispielhaft den
Ansatz der EU-Kommission nennen, die zweite Säule der
Agrarpolitik für Maßnahmen der ländlichen Entwicklung
zu stärken und eine integrierte ländliche Entwicklung voranzubringen. Dies wird von uns ausdrücklich begrüßt
und unterstützt.
Durch die baldige Erweiterung der Europäischen
Union werden politische Stabilität und wirtschaftliches
Wachstum in weitere Länder Ost- und Mitteleuropas exportiert. Das europäische Sozialmodell muss dabei erhalten und ausgebaut werden. Die Europäische Union muss
weiter an den in Lissabon vereinbarten Zielen zur Erhöhung der Beschäftigungsquote bis hin zur Vollbeschäftigung festhalten und Europa zu einer der wachstumsstärksten Regionen der Welt machen. Zur Erreichung
dieses Zieles ist aber ein Gleichgewicht zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik erforderlich.
Günter Verheugen hat in Brüssel den Erweiterungsprozess vorangebracht, Michaele Schreyer steht für die Finanzierbarkeit der europäischen Aufgaben. Denn eine solide Haushaltspolitik ist nicht nur im nationalen Rahmen
nötig. Wenn man in Europa ein Gleichgewicht zwischen
starker Wirtschafts- und Sozialpolitik erreichen will, bedarf es einer soliden Finanzbasis.
Mit großer Erleichterung ist deshalb in vielen Ländern
die Nachricht aufgenommen worden, dass sich Bundeskanzler Gerhard Schröder und Staatspräsident Jacques
Chirac auf eine Grundlage für die Finanzierung der EUAgrarpolitik über das Jahr 2006 hinaus geeinigt haben.
Die Interessenlage konnte dabei nicht unterschiedlicher sein: Neumitglieder, zu denen das agrarpolitisch
wichtige Land Polen gehört, möchten die gleichen Leistungen bekommen, wie sie die Altmitglieder der EU erhalten. Länder wie Frankreich, die überdurchschnittlich
von den Direktzahlungen profitieren, möchten keine Reduzierung der Leistungen hinnehmen. Nettozahler wie
Deutschland wehren sich gegen eine Steigerung der Beitragslast.
Deshalb möchte ich Bundeskanzler Schröder ausdrücklich dafür danken, dass er mit dem französischen
Staatspräsidenten einen Kompromiss gefunden hat, der
das Beitrittsverfahren weiter voranbringt.
({4})
Herr Gerhardt, jeder weiß, dass Kompromisse die
Eigenart haben, dass keine Seite ihre Position zu 100 Prozent durchsetzen kann.
({5})
Deshalb möchte ich die polnische Zeitung „Gazeta Wyborcza“ zitieren, die das Ergebnis des Gipfeltreffens als
eine „Lektion des europäischen Realismus“ charakterisiert hat.
Herr Gerhardt, deutsche und französische Politiker, der
französische Staatspräsident und der deutsche Bundeskanzler treffen sich so häufig wie nie in der Geschichte
zuvor.
({6})
Deshalb können wir davon ausgehen, dass der deutschfranzösische Motor, wie in der Vergangenheit und wie es
in diesem Augenblick bewiesen worden ist, auch in Zukunft gut funktionieren wird. In Kopenhagen kann jetzt
der nächste entscheidende Schritt für die Erweiterung der
EU vollzogen werden. Der Konvent wird bis Sommer 2003 die entscheidende Vorarbeit für die Reform der
Institutionen leisten.
Europa ist unsere Zukunft. Diese Zukunft ist gestaltbar.
Europa hat keine andere Zukunft als die des Dialogs und
der Einbindung in die europäische Aufklärung. Alles andere führt zur Destabilisierung. Die rot-grüne Koalition
packt die vor uns liegenden Aufgaben für ein friedliches,
soziales und nachhaltiges Europa an.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der Kollege Peter Hintze, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn es eine Lehre aus der Geschichte des
20. Jahrhunderts gibt, dann ist es die, dass Deutschland
jede Form eines deutschen Sonderweges schadet und dass
es der europäische Weg ist, der unseren Interessen dient.
({0})
Der Bundesaußenminister ist erfreulicherweise noch
unter uns. Wir haben heute auch eine neue Form des grünen Sonderweges kennen gelernt. Das ganze Plenum war
gespannt auf die zwei klugen Kolleginnen, die die Grünen
zu Fraktionssprecherinnen gewählt haben; aber Herr
Fischer hat beschlossen, alle Debattenbeiträge selber zu
leisten. Ich hoffe im Interesse des Hauses, dass das in Zukunft nicht so weitergeht.
({1})
Für eine erfolgreiche Europapolitik gibt es zwei
Grundregeln. Europa kommt voran, wenn Deutschland
und Frankreich zusammenwirken. Ich finde es gut - das
will ich in dieser Debatte zum Ausdruck bringen -, dass
es gelungen ist, beim jüngsten Gipfel Deutschland und
Frankreich zusammenzuführen, dass 13 Staaten der Europäischen Union diesem gemeinsamen Weg gefolgt sind
und damit den Weg zur Erweiterung frei gemacht haben.
Wir haben unser Versprechen gegenüber den jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas einlösen und damit den
Raum wirtschaftlicher Prosperität und politischer Stabilität ausweiten können. Herr Außenminister, ich stehe
nicht an zu sagen, dass es gelungen ist, ein Stück der politischen Kontinuität zurückzugewinnen, die in den letzten Jahren verloren zu gehen drohte.
Der Bundeskanzler ließ sich allerdings für eine Vereinbarung feiern, die es so gar nicht gibt.
({2})
Der Außenminister hatte empört und nervös auf der Regierungsbank reagiert, als FDP-Fraktionsführer Gerhardt
darauf zu Recht hinwies. Es geht mir nicht nur um diese
6 Milliarden Euro pro anno - das ergibt mit insgesamt
über 40 Milliarden Euro eine riesige Summe zusätzlich
für die nächste Finanzierungsperiode -, kläglich ist doch
vielmehr, eine solche Verhandlungspanne auf die Dolmetscher zu schieben. Das ist die dämlichste Ausrede, die
ich je in der europäischen Politik gehört habe.
({3})
- Jetzt bleiben Sie aber mal entspannt.
({4})
Das wäre aber noch hinnehmbar, wenn der von uns im
Ergebnis begrüßte Gipfel nicht lediglich die Steine aus
dem Weg geräumt hätte, die nicht zuletzt von deutschen
Verhandlungsfehlern beim Berliner Gipfel 1999 herrühren.
Das, was wir jetzt mühsam repariert haben, ist durch Verhandlungsfehler entstanden, die sich diese Bundesregierung in der Vergangenheit geleistet hat.
({5})
Ich bin geneigt, Sie trotz guter Freundschaft zu ihm gegenüber dem Kollegen Pflüger in einem kleinen Punkt etwas in Schutz zu nehmen.
({6})
Es ist richtig, dass Sie bei den Arbeiten zur Europäischen
Verfassung zu denjenigen gehört haben, die unsere Ideen
aufgegriffen und gesagt haben, dass hier die nationalen
Parlamentarier ranmüssten. Das haben wir im Europaausschuss immer gefordert. Sie haben das irgendwann zu Ihrer eigenen Sache gemacht. Aber warum ist es denn zu
diesem Konvent überhaupt gekommen? Doch deshalb,
weil die Regierungen, auch diese Regierung, gescheitert
sind und sich mit Nizza einen grandiosen Fehlschlag geleistet haben.
({7})
Man kann unter solcher Führung Europa nicht mehr den
Regierungen überlassen. Das müssen - ich greife ein Wort
von Gerd Müller auf - wir Parlamentarier mit in die Hand
nehmen, damit es gut wird.
({8})
Die zweite Grundregel für ein Gelingen in Europa, gegen die Sie allerdings noch verstoßen, ist der faire Umgang mit den kleinen Mitgliedstaaten. Es war immer das
deutsche Erfolgsrezept, dass die Europapolitik nicht von
den Großen monopolisiert wurde, sondern dass die
Großen und die Kleinen im fairen Miteinander Dinge regelten. Hier hat sich die Regierung schwer versündigt.
Wenn nun also der Stabilitätspakt unter maßgeblicher
Beteiligung Deutschlands zur Auflösung freigegeben
wird, dann ist das ein Affront nicht zuletzt gegen die kleinen Mitgliedstaaten, die unter großen Anstrengungen ihre
Aufgaben gemacht haben und die die Stabilitätskriterien,
die wir gefordert haben, eingehalten haben. Von diesen
Stabilitätskriterien sagen wir nun, sie seien nicht mehr so
wichtig. Das ist ein Fehler dieser Bundesregierung, lieber
Herr Fischer.
({9})
Es ist wichtig, dass die Staaten, die neu hinzukommen
werden und mit denen wir unser Schicksal teilen wollen,
erkennen, dass hier Fairness herrscht. Da Sie etwas
lächeln - ich möchte das harte Wort „grinsen“ vermeiden -,
möchte ich Folgendes sagen: Es ist auch ein persönlicher
Fehler von Ihnen, Herr Fischer, dass Ungarn und Tschechien im Vertrag von Nizza weniger Sitze im Europäischen Parlament zugesprochen bekommen haben, als
ihnen nach der Bevölkerungszahl zustehen. Wir von der
Union erwarten, dass diese Ungerechtigkeit bei den Beitrittsverträgen korrigiert wird. Ungarn und Tschechien
müssen genauso fair behandelt werden wie Portugal, Belgien und andere Staaten in Westeuropa. Wir werden unsere Zukunft nur dann gemeinsam bewältigen, wenn wir
fair miteinander starten.
({10})
Friedbert Pflüger wird gleich in seinem Beitrag das
Thema des Terrorismus genauer beleuchten. Aus europäischer Sicht will ich nur einen Punkt dazu sagen. Es ist
auffällig -, dies geht mir in der öffentlichen Kommentierung zu stark unter - dass die Terroristen gerade zu einem
Zeitpunkt in Moskau zuschlugen, in dem sich die politische Führung in Russland klar an die Seite Europas und
Amerikas stellte. Deswegen muss auch hier Klarheit herrschen: Auf diesem Weg an der Seite Europas und Amerikas braucht auch Russland unsere Solidarität.
({11})
Uns allen fiel ein Stein vom Herzen, als die Ergebnisse
des zweiten irischen Referendums bekannt wurden. Ich
möchte uns alle aber dazu auffordern, diese Reaktion in
Irland ernst zu nehmen. Das Projekt Europa wird dann
gut, wenn es uns gelingt, die Bevölkerungen mitzunehmen. Es ist nicht nur ein Projekt der politischen Führungen und der Regierungen und es ist auch nicht allein ein
Projekt der Parlamente. Es ist ein Projekt der Bevölkerungen in Europa; wir wollen sie mitnehmen. Es ist ausgesprochen wichtig, dass wir mit der Art und Weise, wie
wir debattieren und öffentlich dafür eintreten, dokumentieren, dass wir auch die Menschen in unseren Ländern
mitnehmen.
({12})
Dazu, dass die Bevölkerung mitgenommen werden
muss, gehören auch einige neuralgische Themen. Ich
komme hier noch einmal auf das Thema Türkei zu sprechen. Nachdem die Regierung ihre Absicht erklärt hat, die
europafreundlichen Kräfte in der Türkei zu unterstützen,
was ja akzeptabel ist
({13})
- Frau Roth, ich möchte das entwickeln -, hat die Regierung eine ganze Reihe von Fehlern gemacht. Sie ist, ohne
dass die entsprechenden Kriterien erfüllt waren, Schritte
gegangen, die es gerade den europaorientierten Kräften in
der Türkei schwerer machen, die Dinge, die wir in Europa
brauchen, auch tatsächlich einzufordern.
({14})
Es ist ein schwerwiegender Fehler, wenn wir von den
Menschenrechtskriterien und den politischen Kriterien
absehen. Wir werden den islamischen Fundamentalismus
nicht dadurch eindämmen, dass wir die Kriterien herabsetzen. Liebe Freunde, meine Damen und Herren, nur ein
klares Festhalten an unserer Werteordnung kann uns
tatsächlich zum Erfolg führen.
({15})
Frau Merkel hat es heute Morgen kurz angesprochen;
Sie haben mit Unverstand reagiert. Der Bundesaußenminister weiß doch, dass der Oberstaatsanwalt in Ankara mit
dem Vorwurf der Spionage und einer Strafandrohung von
acht bis 15 Jahren gegen Vertreter politischer Stiftungen
ermittelt. Das muss hier doch einmal ausgesprochen werden. Zu einem solchen Zeitpunkt, in dem die Erfüllung
der klaren Kopenhagener Kriterien - übrigens nicht nur
der politischen, sondern auch der wirtschaftlichen - in
weiter Ferne liegt, kann man doch keinen Termin vergeben. Es ist gerade einmal eineinhalb Jahre her, dass die
Türkei eine der größten Währungskrisen in der Geschichte Europas und Asiens hinter sich gebracht hat.
Auch auf diese Fragen müssen wir achten. Wolfgang
Schäuble hat heute schon dazu gesprochen.
Ich habe allerdings eine Theorie, die sich an die von
Wolfgang Schäuble anschließt: Es ist nicht allein der
Blick auf Amerika - es gibt außenpolitische Interessen;
das ist zu verstehen -, sondern es ist möglicherweise auch
der Blick auf die eigene, sich erweiternde Wählerschaft,
die das europäische Interesse und die klaren Kriterien
zurückstehen lassen.
({16})
Das halte ich für kein verantwortliches Handeln vonseiten
der Regierung. Sie haben das Interesse unseres Landes
und das der Europäischen Union wahrzunehmen.
({17})
Dazu gehört die klare Einhaltung der Kriterien und der
Verträge.
({18})
Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz auf den Konvent und den Verfassungsvertrag kommen.
({19})
Die Regierung hat das bisher ja recht lieblos behandelt.
Peter Glotz, ein kluger Mann, war selbst erstaunt, dass er
benannt wurde. Jetzt wurde er durch Herrn Fischer ersetzt. Wir hoffen, dass in das, was die Regierung in diesen
großen und wichtigen Fragen will, jetzt etwas mehr Klarheit kommt. Der Kanzler ist nicht mehr da. Er hat aber von
diesem Pult aus angekündigt, er werde die Europazuständigkeit ins Kanzleramt holen. Allerdings erschöpft
sich die ganze Geschichte in der Ernennung eines Gruppenleiters zum Abteilungsleiter. Das ist ein kleiner Teilerfolg des Herrn Bundesaußenministers, der damals in der
Debatte schon freundlich gelächelt hatte; der Kanzler
hätte mal genauer hinschauen sollen.
Wichtiger ist jetzt aber, was in der Sache herauskommt.
Ich will zwei Punkte nennen. Der Bundeskanzler hat jetzt
sein großes Interesse - so hat es der Regierungssprecher
verkündet - an einem Präsidenten des Europäischen Rates, der für mehrere Jahre gewählt wird, entdeckt. Dazu
können wir nur sagen: Damit käme es zu einem Gegeneinander der Institutionen, was Europa bremsen und hemmen würde. Wir brauchen nicht mehr Institutionen. Wir
brauchen eine klare Abgrenzung zwischen den Institutionen. Das ist der erste Punkt.
({20})
Der zweite Punkt. Im Himmel herrscht mehr Freude
über einen Sünder, der umkehrt, als über 99 Gerechte. Der
Bundesaußenminister hat gestern bei seinem Vortrag im
Konvent Ziele vertreten, die wir lange gefordert haben:
klare Kompetenzabgrenzung, klare Gewaltenteilung.
Wenn Sie durch Ihre Arbeit und Ihr Tun beweisen, dass
Sie zu den Grundlinien, die Sie am Anfang Ihrer Rede beschworen haben, zurückkehren wollen, dann können wir
das nur begrüßen.
Herr Kollege Hintze, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.
Meine Redezeit ist zu Ende. Es gäbe noch viel zu sagen, zum Beispiel zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Kollege Schmidt und andere werden
das machen. Wir jedenfalls freuen uns auf spannende, kritische und konstruktive Jahre. Dort, wo Sie gute Arbeit
leisten, werden Sie unsere Unterstützung haben. Dort, wo
Sie von dem abweichen, was Sie hier selbst proklamieren,
werden Sie uns kritisch erleben.
Schönen Dank.
({0})
Nächster Redner in der Debatte ist Rudolf Bindig,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der Schutz und die Förderung der Menschenrechte sind
auch in der 15. Legislaturperiode politische Leitlinie der
Koalition. Dies gilt nach innen und nach außen. Da
Menschenrechtspolitik eine Querschnittsaufgabe ist, ist
es nur konsequent, wenn Menschenrechte in der Koalitionsvereinbarung in verschiedenen Politikfeldern angesprochen werden: in der Sozialpolitik, der Frauenpolitik,
der Rechts- und Innenpolitik sowie an zahlreichen Stellen
im Bereich der Außenpolitik, vor allem unter dem Stichwort gerechte Globalisierung.
In der letzten Legislaturperiode wurde der Politikbereich Menschenrechte mit der Bildung eines eigenständigen Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre
Hilfe, der Schaffung der Stelle eines Menschenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt und der Einrichtung des
Deutschen Instituts für Menschenrechte erheblich gestärkt. Die neuen Instrumente haben erfolgreich dazu
beigetragen, dass menschenrechtliches Denken und Handeln in Politik und Gesellschaft gefördert wurden.
In dieser Legislaturperiode soll die Menschenrechtspolitik weiter gefestigt und größtmögliche Kohärenz zwischen den einzelnen Politikbereichen hergestellt werden.
Dies soll durch einen intensiven Austausch mit den im
Forum Menschenrechte zusammengeschlossenen Nichtregierungsorganisationen geschehen. Die weitere Verrechtlichung der menschenrechtlichen Grundlagen der internationalen Beziehungen ist uns ein wichtiges Anliegen.
Deshalb wollen wir noch ausstehende Konventionen und
Zusatzprotokolle im Menschenrechtsbereich ratifizieren
sowie bestehende Vorbehalte und Einschränkungen
zurücknehmen.
Wir treten dafür ein, die Kontrollgremien der internationalen Pakte zu stärken, um die völkerrechtliche
Verbindlichkeit und Wirksamkeit dieser Instrumente auszubauen. Wie schon in den letzten Jahren wollen wir
den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in
Straßburg stärken. Menschenrechtsverletzungen an Frauen
und Kindern gehören leider immer noch zum weltweiten
Alltag. Auf ihre Rechte wollen wir deshalb besonderes Augenmerk legen. Weitere Schwerpunktthemen der Menschenrechtspolitik der 15. Legislaturperiode werden die
stärkere Beachtung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte im Rahmen der Globalisierung sein.
Die größte Herausforderung stellt sich für die Menschenrechtspolitik dort, wo in Krisen-, Konflikt- und
Kriegssituationen die elementaren Menschenrechte verletzt und missachtet werden. Im Rahmen des größeren Europas ist dies zurzeit der Tschetschenien-Konflikt. Der
russisch-tschetschenische Konflikt war im Bewusstsein
der Weltöffentlichkeit in letzter Zeit zurückgedrängt worden. Durch die brutale Geiselnahme durch tschetschenische Terroristen und den tragischen Ausgang der Beendigung der Geiselnahme mit weit über hundert Opfern
haben sich die Tschetschenen gewissermaßen gewaltsam
zurückgemeldet. Die Spirale der Gewalt im Tschetschenien-Konflikt hat sich um eine schreckliche Windung
weitergedreht. Zu den täglichen Opfern auf allen Seiten in
Tschetschenien selbst kommen jetzt in Moskau die Opfer
der Geiselnahme im Rahmen der Beendigung dieses Terroraktes hinzu. Wer politische Ansätze finden will, um
Einfluss darauf zu nehmen, wie die Spirale der Gewalt in
Tschetschenien durchbrochen werden kann, muss Be108
zugsfelder, Ursachen und Hintergründe des Konflikts
sorgfältig analysieren.
({0})
Einfache Muster einer undifferenzierten Anschuldigung entsprechen nicht der Lage. Weder die offizielle russische Sprachregelung, dass es sich beim TschetschenienKonflikt allein um eine Ausprägung des internationalen
Terrorismus handelt, wie er sich in New York und Bali
ausgetobt hat, noch die Erklärung auf der anderen Seite,
dass es sich hauptsächlich um den Freiheitskampf eines
unterdrückten Volkes handele, wird dem Problem auch
nur annähernd gerecht. Schon die Auflistung der Akteure
auf tschetschenischer Seite belegt dies. Da gibt es die in
den Untergrund gedrängten Repräsentanten eines Ikscheria ebenso wie Clanführer als Kriegsherren, organisierte
Kriminelle und religiös motivierte Terroristen mit Verbindungen zu weltweit operierenden Netzwerken.
Wer alle diese Akteure pauschal als internationale Terroristen radikalislamistischer Prägung abstempelt, verbaut sich politische Strategien zur Eindämmung und Lösung dieses Konflikts.
({1})
Hierbei muss man genau sein. Man kann nicht zwischen einem fürchterlichen Terrorismus, der völlig inakzeptabel ist, und einem weniger fürchterlichen Terrorismus, der vielleicht begründet sein kann, unterscheiden.
Terrorismus ist und bleibt Terrorismus.
({2})
Wer ihn bekämpfen will, muss aber die verschiedenen
Hintergründe und Nährböden kennen, um wirksam
agieren zu können.
Der Tschetschenien-Konflikt reicht in seinen Ursachen
Jahrhunderte zurück und ist nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Entstehen der Russischen Föderation
durch das Streben der Tschechenen nach Unabhängigkeit
in eine neue Dimension eingetreten. Es ist in erster Linie
ein lokaler bzw. regionaler Konflikt, den es schon lange
vor dem Entstehen des internationalen Terrorismus islamisch-fundamentalistischer Ausprägung gab. Wenn einige tschetschenische Akteure auch Verbindungslinien zu
international operierenden terroristischen Netzwerken haben, so rechtfertigt dies nicht, den Tschetschenien-Konflikt nur unter diesem Aspekt zu sehen.
Radikaler islamischer Fanatismus ist nicht das alleinige Motiv. Triebkraft vieler Tschetschenen, die nie streng
gläubige Muslime waren und es auch heute nicht sind, ist
der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben in ihrer
eigenständigen Kultur und Tradition.
Fakt in Tschetschenien ist - dies muss die internationale Gemeinschaft auf den Plan rufen -, dass der Tschetschenien-Konflikt in Kürze in seinen vierten Winter geht
und weiterhin zahlreiche Opfer sowohl in der Zivilbevölkerung als auch bei russischen Sicherheitskräften fordert.
Die Ereignisse der letzten Monate haben gezeigt, dass
sich der Konflikt nicht mit Gewalt austreten lässt.
({3})
Deshalb müssen neue Initiativen ergriffen werden, um die
russische Regierung davon zu überzeugen, ohne Vorbedingungen Verhandlungen mit dem Ziel aufzunehmen,
die Gewalt zu beenden und eine politische Lösung herbeizuführen.
({4})
Dabei müssen auf tschetschenischer Seite jene Personen einbezogen werden, die von den Tschetschenen als legitime Sachwalter ihrer Anliegen angesehen werden. Aus
meiner Erfahrung im Rahmen des Europarates und aus
vielen Gesprächen komme ich zu dem Schluss, dass der
gewählte Präsident Tschetscheniens, Aslan Maschadow,
eine so einflussreiche Person in der Region ist, dass es
ohne Verhandlungen keine politische Lösung geben wird.
({5})
Wenn es die Zielsetzung des Europarates ist, im
großeuropäischen Rahmen ein Gebiet der Demokratie,
der Geltung des Rechts und der Menschenrechte zu schaffen, so kann Europa nicht weiter akzeptieren, dass im
Tschetschenien-Konflikt täglich von allen Seiten die
Menschenrechte massiv verletzt werden. Nach dem Geiseldrama scheint sich die russische Haltung sogar verhärtet zu haben. Im Rahmen der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik der EU, im Rahmen der OSZE
und/oder im Rahmen des Europarates müssen die Regierungen - und zwar in der Tat die Regierungen und nicht
nur die Parlamente dieser Institutionen - ihre Anstrengungen intensivieren, Russland davon zu überzeugen,
dass dieser Konflikt einer politischen Lösung bedarf.
Auch Russland sollte aus seiner Interessenlage heraus
internationale Mitwirkung bzw. Bemühungen - wie soll
ich es nennen? - akzeptieren. Je mehr die russische Staatsführung darauf beharrt, dass sie hauptsächlich bzw. ausschließlich mit einer Form des internationalen Terrorismus konfrontiert ist, desto mehr müsste sie eigentlich
bereit sein, im Rahmen internationaler Zusammenarbeit
dagegen vorzugehen. Umgekehrt gilt: Je mehr Russland
darauf besteht, dass es sich weitgehend um eine innere
Angelegenheit handelt, desto deutlicher bringt es damit
zum Ausdruck, dass der Einfluss des internationalen Terrorismus eben doch geringer ist als behauptet. Faktisch
wird damit eingestanden, dass der Konflikt und das Geschehen in Tschetschenien in erheblichem Umfang auch
regionale, nationalistische und historische Ursachen hat.
Ein letzter Blick auf einen innenpolitischen Aspekt
dieses Problemkreises: Auch in Deutschland leben Tschetschenen. Angesichts der Berichterstattung und der Ereignisse in der letzten Zeit ist die Gefahr groß, dass sie alle in
die terroristische Ecke gestellt werden. Ich warne davor.
({6})
Viele von ihnen sind hier, weil sie vor den Übergriffen
russischer Sicherheitskräfte oder lokaler Banden geflüchtet sind oder weil sie in Filtrationslagern gefoltert worden
sind. Andere haben sich der russischen Armee entzogen,
weil sie nicht auf die eigenen Leute schießen wollten.
Diese Menschen sind Opfer und keine Täter. In dieser angespannten Lage darf es keine ausländerrechtliche Rückführung von Tschetschenen nach Russland geben. Auch
eine inländische Fluchtalternative in Russland ist derzeit
nicht gegeben.
({7})
Wir müssen uns immer wieder aufs Neue daran erinnern, dass wir über dem Kampf gegen den Terrorismus
nicht den Schutz der Menschenrechte sowie unsere humanitären Aufgaben in Deutschland vergessen.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege Erler hat zu Beginn seiner Ausführungen gesagt, dass die internationale Politik nichts Fernes mehr
sei, dass die klassische Trennung von Innen- und Außenpolitik in unserem heutigen politischen Leben gar nicht
mehr so aufrechtzuerhalten sei, wie es einmal gewesen
sei. Wir haben allerdings bisher in diesem Hohen Hause
- das gilt für die gesamte Bundesrepublik Deutschland eines vermieden, nämlich die internationale Politik, insbesondere die Außenpolitik, nur noch zum Markt der
Innenpolitik oder zur Funktionsgröße innenpolitischen
Taktierens zu machen. Das hat sich durch die Bundestagswahl 2002 geändert. Das bedauere ich sehr.
({0})
Es gibt ein paar Konstanten deutscher Außenpolitik
der letzten 50 Jahre, mit denen wir sehr gut gefahren sind
und die bisher noch keine Bundesregierung infrage gestellt hatte, und zwar weder vorsätzlich noch fahrlässig.
Die jetzige Bundesregierung hat es getan. Sie hat Kernelemente des außenpolitischen Konsenses auf dem Wahlkampfaltar geopfert. Dazu gehört unter anderem ein starkes Engagement für den Multilateralismus, und zwar
sowohl im Hinblick auf Systeme kooperativer Sicherheit
wie die UNO und die OSZE als auch im Hinblick auf Systeme kollektiver Verteidigung wie die NATO. Das gilt erst
recht für die europäische Integration, die in den letzten
Jahrzehnten eine so große Blüte erreicht hat.
Zu diesen Kernelementen gehören des Weiteren die
konsequente Entnationalisierung der Sicherheits- und
Verteidigungspolitik durch tiefe Integration, das besondere Bemühen um das Vertrauen der kleineren Partner in
den Verbünden, ein enges und vertrauensvolles Verhältnis
zu Frankreich als notwendige Bedingung für jeglichen
Fortschritt in der Europäischen Union und - last, but not
least - eine auf Vertrauen und gemeinsame Werte gegründete Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Manchmal sind diese Elemente gewiss nicht leicht
auszubalancieren. Das erfordert im besten Sinne des Wortes Staatskunst. Genau daran hat es in den letzten Jahren
und vor allen Dingen in den letzten Monaten in dramatischer Weise gefehlt.
({1})
Sonst stünde nicht die Glaubwürdigkeit unseres
UN-Engagements in Zweifel. Sie steht aber in Zweifel,
wenn der deutsche Bundeskanzler von vornherein mögliche Sicherheitsratsresolutionen als für die deutschen Entscheidungen auf nationaler Ebene irrelevant erklärt. Sonst
würden unsere Partner nicht die Frage stellen, ob sich hinter dem Begriff des deutschen Weges nicht doch eine Renationalisierung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik verbirgt. Sonst würden wir nicht mit
Verblüffung und Empörung vor der Tatsache stehen, dass
das deutsch-französische wie das deutsch-amerikanische Verhältnis gleichermaßen einen historischen Tiefpunkt erleben.
Meine Damen und Herren, es gehört zum Imperativ
deutscher Außenpolitik, dass sich eine Bundesregierung
nie in eine Situation manövrieren darf, wo sie zwischen
Europa und den USA, zwischen transatlantischer Bindung und europäischer Integration, zwischen Washington
und Paris wählen muss. Die Kollegen im britischen Unterhaus und in der französischen Nationalversammlung
werden in der Frage, ob ihnen die NATO oder die EU, ob
die transatlantische Bindung oder europäische Integration
wichtiger ist, zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen,
aber sie werden klare Prioritäten ausdrücken. Wir Deutschen dürfen es uns niemals leisten, uns überhaupt in eine
Situation zu bringen, diese Frage beantworten zu müssen.
Aber der Trick kann ja nicht darin bestehen bzw. das
Problem nicht dadurch als gelöst gelten, dass am Ende das
Verhältnis mit beiden Partnern gleichermaßen schlecht
ist. Genau das haben wir hier aber festzustellen. Deswegen ist der Befund der aktuellen Europa- und Außenpolitik fatal:
({2})
Die Verletzungen sind tief. Die Verletzungen, die insbesondere in den Vereinigten Staaten entstanden sind, nicht
nur bei der Regierung, sondern auch bei den Menschen,
werden in Deutschland nicht überschätzt, sondern noch
gewaltig unterschätzt. Es wird unterschätzt, dass das
deutsch-amerikanische Verhältnis immer auch eine ganz
starke emotionale Komponente gehabt hat, und das hat
insbesondere etwas mit dieser Stadt, mit Berlin, zu tun.
Man macht einen Riesenfehler, wenn man das übersieht.
Am schlimmsten war wahrscheinlich bei all diesen
verbalen Entgleisungen, dass man unsere amerikanischen
Partner in die Ecke von Abenteurern gerückt und diesen
Begriff auch benutzt hat. Meine Damen und Herren, das
übersieht die ausgesprochen ernste und kontroverse Debatte, die in den Vereinigten Staaten zum Beispiel zur
Irak-Frage geführt wird. Ich wünsche mir manchmal,
auch in der Medienwelt in Deutschland würden wir eine
solche kontroverse tief gehende Debatte führen, wie das
in den Vereinigten Staaten der Fall ist. Das hat tiefe Verwundung hinterlassen und das persönliche Verhältnis
weitgehend zerstört. Ich fürchte, selbst wenn der Bundes110
kanzler jetzt auf die Idee käme, wieder einmal dort anzurufen, er würde schon bei der Telefonzentrale scheitern.
({3})
Meine Damen und Herren, wir fangen an, Preise zu
zahlen; das ist bereits gesagt worden. Selbst wenn es diese
ominöse Liste im formalen Sinne nicht gibt, ist gleichwohl klar: Die Bundesrepublik Deutschland wird auf anderen Gebieten als auf denen, die jetzt im Wahlkampf diskutiert worden sind, Preise zahlen müssen. Das beginnt
mit der Irak-Frage - insbesondere in der Zeit nach einer
möglichen Intervention -, setzt sich fort in der Frage der
Lead-Funktion in Afghanistan, die uns dort sehr, sehr
lange binden kann, und gilt auch für die Türkei-Frage, auf
die verschiedene Kolleginnen und Kollegen hier eingegangen sind.
Meine Damen und Herren, in dieser Situation außenpolitischer Irritationen schlimmster Art stehen wir vor dem
NATO-Gipfel in Prag. Dieser NATO-Gipfel in Prag ist
eben keineswegs in allererster Linie ein Erweiterungsgipfel - die Entscheidungen sind im Wesentlichen abgefrühstückt -, sondern in Prag werden die Vereinigten Staaten
versuchen, ihre militärstrategischen Neuorientierungen eines Präventivschlages
({4})
und einer Abkehr vom unbedingten Gewaltmonopol der
Vereinten Nationen auch in der NATO durchzusetzen. Die
Amerikaner stellen in dem Zusammenhang manche wohl
berechtigte Frage, aber wir als Europäer und speziell als
Deutsche müssen uns fragen, ob wir uns eigentlich schon
intellektuell in die Lage versetzt haben, auf diese Fragen
tatsächlich auch Antworten zu geben, und ob wir bereit
sind, mit den Amerikanern über gemeinsame Antworten
zu debattieren. In Prag werden möglicherweise schon
recht weit gehende Festlegungen geschaffen. Die Bundesregierung hat noch nicht einmal angefangen, das überhaupt intern zu durchdenken,
({5})
geschweige denn gemeinsam mit unseren Partnern in
Europa. Sie, Herr Kollege Struck, drohen die erforderliche Strategiediskussion vollkommen zu verschlafen und
laufen Gefahr, unser Engagement mit KSK in Afghanistan
vor unserer deutschen Bevölkerung verheimlichen zu
wollen.
({6})
Meine Damen und Herren, mir graut jedenfalls vor der
Vorstellung, dass wir Europäer und vor allem wir Deutschen in Prag den USA nur deshalb hinterherlaufen müssen, weil wir es uns nicht leisten können, unsere eigenen
Vorstellungen gegenüber Washington vorzubringen.
Das Irritationspotenzial zwischen Europäern und Amerikanern ist gewaltig. Das beginnt bei der Zukunft der
WTO und anderen Handelsfragen und reicht über den Internationalen Strafgerichtshof und die Raketenabwehr bis
zur Rolle der Vereinten Nationen. Vergleichbar schwierig
war nach meiner Einschätzung nur die Situation Ende der
80er-Jahre, als wir über amerikanische Kurzstreckenatomraketen in Europa und in Deutschland diskutiert haben.
Bei allen, zum Teil riesigen Differenzen ist der Gesprächsfaden damals aber niemals abgerissen. Das wäre HansDietrich Genscher oder Helmut Kohl niemals passiert.
Heute ist das der Fall. Da nützt dann auch der Besuch des
Außenministers nicht viel. Die Telefonleitung zwischen
dem Kanzleramt und dem Weißen Haus muss wieder hergestellt werden.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung,
Dr. Peter Struck.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Erlauben Sie, dass ich zunächst auf den Beitrag
des Kollegen Schäuble eingehe. Dieser Beitrag, Herr Kollege Schäuble, zeichnete sich durch eine Mischung von
Halbwahrheiten und Verdrehungen aus.
({0})
Das bin ich von Ihnen nicht anders gewohnt. Ich will das
auch belegen.
Herr Kollege Schäuble, wenn Sie behaupten, die Diskussion über die Lead-Funktion bei ISAF, die wir begonnen haben - wir werden das Parlament darum bitten, dem
Regierungsbeschluss zu folgen -, habe etwas mit dem
Irak zu tun, dann sagen Sie bewusst die Unwahrheit.
Ich bin im Juli in einer Sondersitzung des Deutschen
Bundestages vereidigt worden.
({1})
- Hören Sie doch einmal zu, Herr Schäuble!
({2})
Am nächsten Tag bin ich in Kabul gewesen und habe dort
mit den türkischen und den anderen Kollegen die Debatte
darüber begonnen, wer denn wohl Nachfolgenation für
die Türkei werden würde. Da war vom Irak überhaupt
noch nicht die Rede. Es ist schon brutal, wie Sie hier versuchen, das in Zusammenhang mit einer militärischen Intervention im Irak zu setzen. Das ist aber typisch für Sie.
({3})
Sie behaupten auch, wir würden nicht über die Arbeit
der Kommandospezialkräfte informieren. Fragen Sie
doch bitte einmal Ihre Kollegen, die im Verteidigungsausschuss Verantwortung getragen haben!
({4})
- Schütteln Sie nicht den Kopf!
({5})
- Ich ärgere mich darüber. Herr Schäuble sagt bewusst die
Unwahrheit oder er weiß nicht, wovon er redet.
({6})
Im Verteidigungsausschuss sitzen Kollegen, Herr Kollege Schäuble, denen ich genau berichtet habe, was die
circa 100 Soldaten der Kommandospezialkräfte in Afghanistan, in Kabul tun. Ich habe die Sprecherinnen und Sprecher der Fraktionen darüber informiert und ich werde das
auch weiter tun. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht,
dass diese Soldaten eine höchst gefährliche Mission ausüben. Aber ich stehe zu dieser Mission. Wir werden im
Zusammenhang mit der Entscheidung über die Operation
Enduring Freedom auch wieder über den Einsatz dieser
Soldaten zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus beschließen.
Dann haben Sie gesagt, Herr Kollege Schäuble, ich
müsse mir 500 Millionen wegnehmen lassen und solle Ihnen einmal darlegen, wie ich die Verteidigungsausgaben
bestreiten wolle. Diese Zahl von 500 Millionen, Herr
Schäuble, ist falsch. Sie unterstellen einfach etwas und
erklären: Damit kommen Sie nicht zurecht. - Wir werden
- das garantiere ich Ihnen - die Haushaltsprobleme lösen.
({7})
Herr Kollege Schäuble, ich werde dem Parlament im Zusammenhang mit dem Haushalt 2003 und der mittelfristigen Finanzplanung genau das vorschlagen, was zur Umsetzung der Koalitionsvereinbarung notwendig ist, nämlich
eine solide mittelfristige Finanzplanung. Natürlich werde
ich manche Großprojekte auf den Prüfstand stellen. Es ist
überhaupt gar keine Frage, dass wir uns überlegen müssen,
ob die Situation, in der solche Großprojekte - zum Teil vor
Jahren, noch in der Verantwortung der Vorgängerregierung - beschlossen worden sind, heute noch so gegeben ist
und ob wir bestimmte Waffensysteme in diesem Umfang
brauchen. Das ist eine höchst vernünftige Entscheidung.
Wir müssen uns doch an den neuen Aufgaben der Bundeswehr und dürfen uns nicht an den Aufgaben der Bundeswehr von vor zehn oder 20 Jahren ausrichten.
({8})
Nun noch ein Wort zu Ihnen, Herr Schäuble, und dann
soll es auch gut sein. Was Herr Stoiber im Wahlkampf
zum Thema Irak gesagt hat, ging weit über das hinaus,
was Sie uns gerade vorgeworfen haben.
({9})
Er hat über Überflugrechte und dergleichen geredet. Davon wollen wir heute überhaupt nicht sprechen; sonst
würde es ganz bitter für Sie.
Nun zum Kollegen Schmidt. Ich gratuliere Ihnen, Herr
Schmidt, herzlich zu Ihrer neuen Funktion, die Sie in Ihrer Arbeitsgruppe als Nachfolger von Paul Breuer wahrnehmen,
({10})
und wünsche mir eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen genauso wie mit dem Kollegen Nachtwei, dem Kollegen
Rainer Arnold und natürlich auch dem neuen Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses, Reinhold Robbe.
({11})
Das bedeutet übrigens auch, dass ich nicht nur die Mitglieder des Verteidigungsausschusses, sondern sämtliche
Abgeordneten des Parlaments, die daran interessiert sind,
zu erfahren, was unsere Soldatinnen und Soldaten bei
ihren schwierigen Auslandseinsätzen tun - über diese
Einsätze werden wir neu entscheiden müssen; im Kabinett
wird in der nächsten Woche erneut über Enduring Freedom entschieden; Mitte November wird im Parlament darüber abgestimmt; danach müssen wir im Zusammenhang
mit Afghanistan über ISAF einen Beschluss fassen -,
herzlich dazu einlade, sich mithilfe des Verteidigungsministeriums, mithilfe der Parlamentarischen Staatssekretäre und mit meiner Hilfe vor Ort ein Bild von deren Arbeit zu machen. Wenn das geschähe, dann würde vieles
von dem, was man nicht ganz genau weiß und was man
mit bestimmten Verdächtigungen belegt, wirklich aus der
Welt sein und würde jeder anerkennen: Das, was die deutschen Soldaten dort tun, verdient höchsten Respekt und
höchste Anerkennung.
({12})
Herr Kollege Schmidt, in der „Windsheimer Zeitung“
vom 25. Oktober 2002 haben Sie erklärt, Sie wären jetzt
Schattenminister der Verteidigung, wenn es in Deutschland so wie in England ein Schattenministerium gäbe.
Wollen wir einmal sehen, ob mehr „Schatten“ oder mehr
„Minister“ herauskommt. Wie gesagt, versuchen wir einmal, gut zusammenzuarbeiten.
({13})
Ich will angesichts der Kürze der Zeit, die für die heutige Diskussion über Verteidigung vereinbart worden ist,
nur noch einige Anmerkungen machen. Herr Kollege
Hoyer, Sie haben sich zu Prag geäußert. Ich möchte wissen, wie Sie dazu kommen, die Behauptung aufzustellen,
die Bundesregierung bereite sich auf Prag nicht vor.
({14})
Woher wissen Sie das eigentlich? Wir müssen unsere Vorarbeiten zunächst einmal in der Regierung leisten. Herr
Kollege Hoyer, ich muss Sie nicht fragen, was ich da zur
Erweiterung der NATO vorschlagen werde. Dass es in
Prag vor allen Dingen um die NATO-Erweiterung geht,
das wissen Sie. Dass wir diesbezüglich, bis auf zwei Länder, keine Probleme haben werden, das versteht sich von
selbst.
Aber wir reden auch über die neuen Initiativen des
NATO-Generalsekretärs und wir reden über eine Initiative meines Kollegen Rumsfeld, nämlich über die so genannte NATO-Response-Force. Sie haben danach gefragt und ich will Ihnen Ihre Frage beantworten. Die
Initiative von Donald Rumsfeld, eingebracht auf einer
Verteidigungsministertagung in Warschau, an der, wie
man allenthalben erfahren konnte, auch ich teilgenommen
habe, war überraschend. Donald Rumsfeld hat uns vorgeschlagen, eine NATO-Response-Force mit 21 000 Mann
und einer Bereitschaftszeit von sieben Tagen zu installieren. Dieser Vorschlag von Rumsfeld ist aber noch nicht
konkretisiert worden. Die Konkretisierung erfolgt jetzt
peu à peu.
Herr Schäuble, darüber wird in Prag nicht entschieden
werden. Das wäre auch nicht möglich, weil wir in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik - Sie
haben es selbst angesprochen - die so genannten Helsinki-Headline-Goals beschlossen haben, das heißt - das
wissen auch Sie -: Wir wollen eine eigene europäische
Eingreiftruppe installieren. Deutschland soll sich an einer
solchen Truppe mit maximal 32 000 Soldaten beteiligen.
Ich will Ihnen dazu nur Folgendes sagen: Ich halte es für
sehr vernünftig, dass man, bevor man auf eine Initiative
der Amerikaner eingeht, zunächst einmal prüft, ob das,
was wir in der europäischen Sicherheitspolitik verabredet
haben, kompatibel mit dem ist, was Donald Rumsfeld und
andere wollen.
({15})
Herr Schäuble, da wägen wir noch ab. Vielleicht können wir uns in einem Punkte treffen: Es macht keinen
Sinn, zwei parallele Eingreiftruppen für nahezu den gleichen Zweck mit jeweils einem deutschen Kontingent zu
installieren. Das ist nicht machbar.
Ich will noch etwas zu den internationalen Einsätzen,
gerade zum ISAF-Mandat, dessen Verlängerung demnächst ansteht, sagen. Ich habe mich mit meinem niederländischen Amtskollegen darauf geeinigt, dass wir die
Lead-Funktion übernehmen. Ich will dem Parlament Folgendes nicht vorenthalten: Das wird bedeuten, dass die
Anzahl der deutschen Soldaten, die jetzt für ISAF in Kabul tätig sind, erhöht werden muss. Das hängt insbesondere damit zusammen, dass wir von der Türkei, der jetzigen Lead Nation, den Betrieb und die Bewachung des
Flughafens in Kabul übernehmen müssen, was höchst
personalintensiv ist. Die Übernahme der Lead-Funktion
ist sehr vernünftig: Deutschland ist das Land, das, was
Auslandseinsätze angeht, nach den Amerikanern weltweit
das größte Kontingent stellt.
Zum Thema Deutschland/Amerika will ich Ihnen
noch Folgendes sagen: Natürlich gibt es auf der anderen
Seite Irritationen. Wir müssen uns nicht vorwerfen lassen,
im Kampf gegen den internationalen Terrorismus oder
beim Aufbau Afghanistans nicht das Nötige getan zu haben - ganz im Gegenteil, meine Damen und Herren.
({16})
Das wissen die Amerikaner auch.
Es wird sich alles normalisieren, auch meine Begegnungen mit meinem amerikanischen Amtskollegen.
({17})
Das alles wird so laufen, dass Sie nachher sagen: Na wunderbar, die Verhältnisse haben sich entwickelt.
Ich möchte zum Schluss auf Folgendes hinweisen: Es
gibt verteidigungspolitische Richtlinien, die aus dem
Jahre 1992 stammen, vom Kollegen Rühe damals festgelegt. Das ist jetzt zehn Jahre her und in diesen zehn Jahren hat sich viel verändert. Wir haben fast 10 000 Soldaten im Einsatz. Wir geben für den Auslandseinsatz der
deutschen Soldaten 1,7 Milliarden Euro aus. Vor vier Jahren waren es nur 170 Millionen. Natürlich gibt es auch
eine andere Bedrohungsanalyse. Davon ist heute in dieser
Debatte schon die Rede gewesen. Deshalb werde ich dem
Parlament gegebenenfalls im März oder April nach Abschluss der Diskussion mit dem Generalinspekteur und
den Inspekteuren der Teilstreitkräfte neue verteidigungspolitische Richtlinien vorlegen, die ich für das Haus erarbeiten will, weil ich glaube, dass sich die Bundeswehr auf
eine andere Situation einstellen muss, als wir sie noch vor
zehn Jahren hatten.
Ich setze nicht nur auf eine freundliche Zusammenarbeit mit meiner eigenen Fraktion - davon gehe ich aus;
das ist eine Selbstverständlichkeit - oder dem grünen
Partner, sondern auch auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit Ihnen von der CDU/CSU und der FDP.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.
Herr Verteidigungsminister, das Angebot der guten, der
fairen Zusammenarbeit wiederhole ich gerne auch von
unserer Seite. Wir alle wissen, dass die Bundeswehr ein
Organismus ist, der aus Menschen besteht, die zwar, wie
man dem Löchel-Bericht und anderen Berichten entnehmen kann, langsam, aber nachhaltig das Vertrauen in ihre
politische Führung verloren haben, dass sie aber unter der
Bereitschaft, ihr Leben einzusetzen, politische und militärische Aufträge für uns erfüllen, bei denen sie nicht den
Eindruck haben sollten, hier werde über ihren Kopf hinweg entschieden und eigentlich würden ihre Interessen
überhaupt nicht berücksichtigt.
Heute Vormittag war bereits die Rede davon, dass in der
Regierungserklärung darüber überhaupt kein Wort verloren worden ist. Das finde ich bedauerlich. Es reicht eben
nicht - um einen kleinen Nachtrag zu machen, Herr
Struck -, zu Bier und großer Party etwa 50 000 Soldaten
einzuladen und ihnen einen Dank abstatten zu wollen, der
eigentlich nur camoufliert, dass man mit ihnen Wahlkampf
machen will. Die Soldaten haben nicht vergessen und wir
haben auch nicht vergessen, dass Sie versucht haben, die
Bundeswehr parteipolitisch zu instrumentalisieren. Das
darf nicht durchgehen und darüber werden wir noch reden
müssen. Halbwahrheiten und Verdrehungen, die Sie genannt haben, sind in keiner Weise geäußert worden.
Natürlich ist das Thema: Die Not ist groß; wie kommen
wir um die notwendigen Canossa-Gänge herum? Herr
Fischer ist jetzt gerade auf einem unterwegs. Wie kommen wir wieder ins Gespräch mit den Amerikanern, die
wir im eigenen Interesse brauchen? Was können wir ihnen
Christian Schmidt ({0})
anbieten, das so verpackt ist, dass die rot-grüne Koalition
und die ihr anhängenden Bürgerinnen und Bürger gar
nicht merken, dass wir etwas tun müssen, was wir eigentlich nach eigenem Reden nicht tun wollen? Das ist übrigens auch der Punkt, der heute früh angesprochen worden
ist.
Natürlich werden Sie zum Thema Irak mehr tun müssen und Sie wissen, dass Sie mehr tun müssen als das, was
während des Wahlkampfes auf den Plätzen vom Bundeskanzler dargelegt und von vielen anderen nachgesprochen
worden ist. Machen Sie sich keine Sorgen: Wir werden bei
der Frage der Stationierung, vom Kanzlerkandidaten angefangen bis zu jedem einzelnen Mitglied der CDU/CSUBundestagsfraktion, wenn es zur Entscheidung über die
Frage kommt, welche alliierten Streitkräfte unseren
Grund und Boden benutzen dürfen, treu zum Bündnis stehen und verlässlich sein, so wie dies immer gewesen ist.
({1})
Ob das bei Ihnen der Fall sein wird, das weiß ich nicht.
Irgendwie habe ich bei Ihrem Beitrag, Herr Struck, den
Eindruck gewonnen - darüber müssen wir wohl in einer
eigenen Debatte, die vor Prag stattfinden sollte, noch einmal reden -, dass Sie die Ernsthaftigkeit des Problems,
dass es nämlich um die Zukunft der NATO geht - das
wird nicht nur in Washington so gesehen -, nicht spüren.
Sie haben übrigens die DCI-Initiative von 1999 etwas mit
der nun von Rumsfeld vorgeschlagenen Response Force
vermischt. Dabei handelt es sich um ganz verschiedene
Dinge. Sie können nicht die Headline Goals der ESVP in
Form von 60 000 Soldaten, die 2003 einsatzbereit sein
sollen, aber faktisch nur auf dem Papier stehen - General
Schubert wartet noch immer auf die Einsatzbereitschaft
dieser Truppe -, realisieren und dann diese Einheiten den
Amerikanern anbieten. Nein, Rumsfeld will doch die
Probe aufs Exempel machen.
Hinter den 21 000 Soldaten, die Rumsfeld für die Response Force will, steckt doch - das wissen Sie genauso
gut wie ich - im Kern die politische Frage, ob die NATO
als Bündnis noch in der Lage ist, militärisch an vorderer
Front im Antiterroreinsatz zu reagieren oder nicht. Wenn
Sie darauf mit der Antwort reagieren: „Sehr geehrter Herr
Rumsfeld, wir diskutieren gerade darüber, Herr Solana
bastelt mit den Türken und den Griechen am Zustandekommen einer europäischen Eingreiftruppe und schaut,
ob das Berlin plus-Abkommen umgesetzt werden kann“,
dann wird uns die NATO mittelfristig um die Ohren fliegen.
({2})
Sie wird kaputtgehen, und zwar entgegen unserem eigenen Interesse. Die Axiome der Außen- und Sicherheitspolitik, dass das Bündnis des freien Westens ein Stabilitätsanker ist und jetzt auch Verpflichtungen über die früheren
Begrenzungen hinaus bestehen, gelten nämlich nach wie
vor. Das hat auch Senator Lugar 1993, wie ich glaube, bei
seiner Rede im Budapester Parlament gesagt: NATO will
go out of area or out of business - die NATO muss sich
engagieren oder sie wird aus dem Geschäft herausfallen.
Es darf nicht dazu kommen - die Gefahr sehe ich -,
dass die Sicherheitspolitik nachlässig auf der Basis eines
Laisser-faire-Denkens behandelt wird. Aus diesem Desinteresse könnte die Gefahr entstehen, dass wir so alleine
dastehen, dass der Begriff vom deutschen Weg, mit dem
Herr Schröder gezündelt hat, auf einmal zur Realität wird,
weil keiner mehr da ist, der mit uns Bündnisse schließen
will. Diese Frage steht auf der Tagesordnung, nichts anderes.
({3})
Kommen wir noch einmal auf die Situation in Afghanistan zurück. Wir alle hier im Hause wissen - aber nicht
jeder draußen unterscheidet genau -, dass es zum einen
die Mission Enduring Freedom zur Terrorbekämpfung
gibt, an der das KSK, das Kommando Spezialkräfte, mit
circa 100 Mann teilnimmt. Ich bedanke mich ausdrücklich auch im Namen des Kollegen Breuer, dass Sie hierzu
Informationen gegeben haben. In diesem Punkt unterscheiden Sie sich sehr lobenswert von Ihrem Vorgänger.
Von dem hätten wir nämlich überhaupt nichts erfahren. In
der nächsten Zeit ist aber nicht nur eine offene Informationspolitik über Enduring Freedom, sondern auch über die
Probleme, die sich bei der anderen Mission in Afghanistan, bei ISAF, deren Führung Sie der Bundeswehr anvertrauen wollen, ergeben, erforderlich.
Wenn man in solch eine Sache mit mehr Engagement
hineingeht, muss man auch wissen, wie man wieder herauskommt. Bisher war das gerade einmal einigermaßen
darzustellen. Wenn aber die Amerikaner ihr Engagement,
dessen Schwerpunkt bei der Operation Enduring Freedom
liegt, in andere Wetterecken dieser Welt verlagern, dann
darf es nicht dazu kommen - darüber müssen wir schon
sehr intensiv reden -, dass Soldaten der deutschen Bundeswehr und von Alliierten, die in und um Kabul stehen,
im Falle einer Zunahme der Spannungen auf sich alleine
gestellt sind.
({4})
Sie wissen sehr genau, warum ich das so sehr betone.
Der letzten schriftlichen Unterrichtung des Parlaments
entnehme ich, dass es erst vor kurzem wieder eine gefährliche Situation gegeben hat, von der auch unsere Soldaten hätten betroffen sein können. Gott sei Dank ist
nichts passiert und es wird sicherlich viel getan, um solche Gefahren zu verhindern. Sie sind aber nicht auszuschließen und es ist zu befürchten, dass mit einer Exponierung der Bundeswehr die Gefahren auch für sie
steigen. Das wird in Zusammenhang mit der Verlängerung von Enduring Freedom und von ISAF zu behandeln
sein.
Damit komme ich zu einem weiteren Punkt grundsätzlicher Art, den wir heute schon ansprechen sollten. Der
Kollege Schäuble hat das bereits dargelegt. In diesem
Punkt herrscht bei uns die tiefste Enttäuschung über Ihren
Koalitionsvertrag. Über die vielen Prosateile des Koalitionsvertrages kann man hinweglesen, aber wir stellen
auch fest, dass etwas nicht darin steht. Meiner Meinung
nach hätten wir bei diesem Punkt im Rahmen eines kon114
struktiven Dialogs feststellen können, was da getan werden muss. Bei dem Punkt handelt es sich um die innere
und äußere Sicherheit als Ganzes. Ich habe noch in Erinnerung, wie Alterspräsident Schily zur Eröffnung der
15. Wahlperiode des Deutschen Bundestages auf die insoweit bestehenden Gefährdungen hingewiesen hat, und
Herr Fischer hat gerade auch noch einmal Djerba und alles andere heruntergebetet. Die Frage lautet, wie sich Gefährdungen, die vermeintlich die innere Sicherheit betreffen, aber faktisch Angriffe von außen sind - Stichwort:
asymmetrische Konflikte -, in einer Strukturreform der
Bundeswehr niederschlagen können. Davon haben wir
nichts gehört bzw. gelesen.
Wir sind gerne bereit, über diese Frage im Zusammenhang mit den verteidigungspolitischen Leitlinien, die Sie
vorlegen wollen, zu sprechen, weil wir sie für sehr wichtig halten. Wir wissen, dass hierbei viele Hindernisse zu
überwinden sind. Das geht bis hin zu der Frage, was angesichts der deutschen Tradition und der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland an Fragezeichen dahinter
steht. Jedenfalls bin ich fest davon überzeugt, dass eine
Strukturreform, wenn Sie sie jetzt wieder ansetzen, weil
die erste nicht finanziert war und weil auch die zweite
drangegeben worden ist, nur eine Camouflage für nicht
vorhandenes Geld und für Kürzungen ist, wenn Sie solche
Fragen nicht anpacken. Ich sage hier ausdrücklich: Bei
diesen Fragen, bei denen Sie natürlich in ganz entscheidendem Maße auch die Länder brauchen, werden Sie auf
eine kritische, konstruktive Arbeit und auf Initiativen von
uns rechnen können.
({5})
Wir werden Sie daran messen, wie Sie diese Initiativen
dann auch finanziell umzusetzen in der Lage sind.
In der Koalitionsvereinbarung haben Sie sehr intensiv
auch Herrn von Weizsäcker genannt. Mit Genehmigung
der Frau Präsidentin möchte ich aus der Koalitionsvereinbarung kurz zitieren.
Ich muss Sie auf die abgelaufene Redezeit hinweisen.
Wenn es ein ganz kurzes Zitat ist, dann erlaube ich das.
Nur einen Satz aus der Nr. 256 - Ich zitiere -:
Für den Übergang
- der Reform, welcher Reform auch immer werden zusätzliche Mittel gebraucht ({0}). Nur so kann die Reform erfolgreich angegangen werden.
Das wird das Dilemma Ihrer nächsten Jahre sein.
({1})
Ich hoffe, dass es nicht das Dilemma der Sicherheit
Deutschlands wird.
({2})
Für eine Kurzintervention erhält jetzt der Abgeordnete
Dr. Peter Struck das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu dieser
Kurzintervention hat mich der Beitrag des Kollegen
Schmidt veranlasst. Herr Schäuble hat das auch schon angesprochen. Beide haben mir vorgeworfen, im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe Wahlkampf gemacht
zu haben.
Ich möchte darauf hinweisen - das müsste eigentlich
auch Ihnen bekannt sein -, dass dieser Einsatz bei der
Flutkatastrophe an der Elbe der größte war, den die Bundeswehr je durchgeführt hat, und zwar höchst erfolgreich,
meine Damen und Herren. Das weiß man ja wohl.
({0})
Dass in einer solchen Situation der zuständige Minister bei den Soldaten sein muss, gehört sich auch.
({1})
Herr Kollege, was hätten Sie wohl gesagt, wenn ich nicht
dorthin gefahren wäre, sondern am Schreibtisch sitzen geblieben wäre? Sie hätten gesagt, dass ich es noch nicht
einmal für nötig halte, meine Soldaten zu besuchen.
Nehmen Sie endlich diesen Unsinn aus der Welt!
({2})
Herr Kollege und Namensvetter Schmidt, Sie haben
mal wieder nicht Recht. Ich habe es nicht nur akzeptiert,
sondern eindeutig bejaht, dass der Einsatz der Bundeswehr bei dieser Flutkatastrophe - wie auch bei anderen
Naturkatastrophen - eine äußerst wichtige, lobenswerte
und erfolgreiche Aktion war. Das ist überhaupt keine
Frage. Wir brauchen nicht darüber zu streiten, dass der
Verteidigungsminister vor Ort sein muss. Aber diesen
Punkt habe ich nicht gemeint.
({0})
- Nein.
Es stellt sich allerdings die Frage, was man aus dem
Einsatz der Bundeswehr macht. Dabei geht es zum einen
um die Frage, wie die Feier für die Soldaten gestaltet wird
und wo sie stattfindet. Zum anderen geht es - da gibt es
einen mittelbaren Zusammenhang mit der Flutkatastrophe; diesen Punkt habe ich gemeint - um die Initiative
Christian Schmidt ({1})
Christian Schmidt ({2})
„Soldaten für Schröder“. Das war der eigentliche Sündenfall.
({3})
Es geht um die Frage, wie man vor einer Wahl mit der
Bundeswehr umgeht. Sie haben kurz vor der Wahl den
Versuch der SPD zugelassen - Herr Müntefering hat Sie
darin unterstützt -, die Bundeswehrsoldaten vor den
Wahlkampfkarren zu spannen. Das muss schärfstens kritisiert werden; das darf es nicht geben. In diesem Punkt
haben Sie die Fürsorgepflicht für Ihre Soldaten nicht richtig wahrgenommen. Bei dieser Einschätzung bleibe ich.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried
Nachtwei.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am Anfang dieser Legislaturperiode stehen wieder Entscheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr
an, genauso wie zu Beginn der vorherigen Legislaturperiode, als es nämlich um die Androhung von Luftangriffen
gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ging. Damals
- das wissen wir alle - war diese Entscheidung in diesem
Haus und in der Gesellschaft heiß umstritten. Damals war
die Befürchtung verbreitet, dass damit ein Präzedenzfall
im Hinblick auf das Verhältnis zu den Vereinten Nationen
geschaffen werde.
Diese Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet. Wir haben uns bemüht, aus dem Kosovo-Konflikt und aus dem
Kosovo-Krieg die angemessenen friedens- und sicherheitspolitischen Lehren zu ziehen. Dies zeigt sich deutlich
zu Beginn dieser Legislaturperiode. Die Verlängerung des
Mazedonien-Mandats in der vorigen Woche stand - darauf wurde ausdrücklich hingewiesen - im Kontext umfassender Politik einer wirksamen Krisenvorbeugung.
Die bevorstehenden Entscheidungen zur weiteren Beteiligung an Enduring Freedom und an der ISAF-Schutztruppe in Kabul sollen der Gewalteindämmung und Gefahrenabwehr dienen.
In der Koalitionsvereinbarung stellen wir eindeutig
klar: Zweck von Kriseneinsätzen der Bundeswehr ist
nicht eine militärische Konfliktlösung; denn das wäre illusionär. Ihr Zweck ist, zur Gewaltverhütung beizutragen
und Stabilisierungs- und Friedensprozesse dort zu unterstützen, wo zivile Beobachter und Vermittler, wo Polizisten nicht mehr ausreichen. Der Rahmen von Kriseneinsätzen ist die Charta der Vereinten Nationen, ist das
Völkerrecht und eine Politik gemeinsamer und kooperativer Sicherheit. Diese Grundhaltung kontrastiert mit Bestrebungen, über eine „präventive Selbstverteidigung“
das allgemeine Gewaltverbot der UN-Charta zu unterlaufen. Die Absage der Bundesregierung an einen Krieg zum
Sturz des irakischen Regimes ist die logische Konsequenz
aus dieser Grundhaltung.
({0})
Die Bundeswehr soll wirksam und verantwortlich zur
internationalen Sicherheit beitragen können. Dafür ist zumindest Folgendes unabdingbar: Friedenseinsätze und
Kriegsverhütung brauchen einen ausgewogenen Mix an
zivilen, polizeilichen, politischen und militärischen Fähigkeiten. Die rot-grüne Bundesregierung baut nun - so
steht es im Koalitionsvertrag - das in diesem Jahr gegründete Zentrum für Internationale Friedenseinsätze
zu einer vollwertigen Entsendeorganisation aus. Das
heißt, wir bemühen uns, die zivilen Säulen von Friedensmissionen der Vereinten Nationen, der OSZE usw. entsprechend zu stärken.
Wir haben uns zum anderen vorgenommen, einen ressortübergreifenden Aktionsplan im Hinblick auf Krisenprävention auszuarbeiten, was bedeutet, dass wir die verschiedenen notwendigen Fähigkeiten in diesem Bereich
systematisch aufbauen und entwickeln wollen.
Was hat das mit der Bundeswehr zu tun? Nur wenn wir
diese Fähigkeiten vernünftig entwickelt haben, kommen
wir aus Kriseneinsätzen wieder heraus. Das ist schlichtweg die Konsequenz.
Die Bundeswehrreform, das heißt die Befähigung der
Bundeswehr zur Bewältigung neuer Aufgaben, ist nicht
nur fortzusetzen, sondern ausdrücklich auch weiterzuentwickeln; so haben wir es in der Koalitionsvereinbarung
formuliert. An die Lösung dieser Aufgaben geht Rot-Grün
mit Klarheit über die Zielsetzung der Bundeswehrreform
und mit - so formuliere ich diplomatisch - gewachsenem
Realismus. Dabei sind für uns die Vorschläge der
Weizsäcker-Kommission die Richtschnur. Eine notwendige Modernisierung ist nur mit einer deutlichen Senkung
des Personalumfangs zu realisieren. Das ist die
offensichtliche Konsequenz.
({1})
Sehr geehrter Herr Minister, lieber Kollege Struck, am
25. Juli dieses Jahres wurden Sie zum Minister vereidigt.
Manche Gratulanten der Oppositionsfraktionen dachten
damals an eine Befristung Ihrer Amtszeit. Wir sind ausdrücklich froh, dass Sie Minister geblieben sind. Ich bin
mir sicher, dass Sie Ihre Verantwortung mit sicherheitspolitischer Klarheit und mit Realismus wahrnehmen. Dabei wünschen wir Ihnen eine glückliche Hand und hoffen
auf eine gute Zusammenarbeit.
Danke.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Friedbert
Pflüger.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Minister Struck, noch ein Wort zu Ihrer
Kurzintervention soeben. Wahlkampf haben Sie wirklich
gemacht.
({0})
Soweit ich mich erinnern kann, hat es noch nie einen Verteidigungsminister gegeben, der selbst - und das in der
kurzen Zeit vor der Wahl, in der er das Amt innehatte eine solche Initiative wie „Soldaten für die SPD“ vorgestellt hat. Es ist falsch, Parteipolitik in die Bundeswehr, zu
unseren Soldaten zu tragen. Das haben wir kritisiert, Herr
Bundesverteidigungsminister.
({1})
Wir beschäftigen uns heute in der Tat nicht mehr mit
dem Wahlkampf,
({2})
sondern mit den großen Bedrohungen, denen wir gegenüberstehen. Eine Bedrohungsanalyse habe ich weder
vom Bundeskanzler heute Morgen in der Regierungserklärung vernommen noch in der Koalitionsvereinbarung
gefunden. Wenn man die Koalitionsvereinbarung liest,
dann stellt man fest, dass Sie fast so tun, als müsse man nur
ein bisschen Konfliktprävention machen und Friedensmissionen unterstützen. Aber dass wir in einer sehr gefährlichen Welt leben, nehmen Sie nicht zur Kenntnis.
Kofi Annan hat die Weltgemeinschaft zur Einheit im
Kampf gegen den internationalen Terrorismus aufgerufen. Kofi Annan sagt: Alles, woran wir glauben, ist heute
bedroht, Respekt vor menschlichem Leben, Gerechtigkeit, Toleranz, Pluralismus und Demokratie.
Meine Damen und Herren, der Generalsekretär der
Vereinten Nationen hat mehr von den Bedrohungen verstanden, als es der Bundeskanzler heute bei sich hat erkennen lassen. Das ist ein großes Problem, vor dem wir
stehen.
({3})
New York und Washington am 11. September, Djerba,
Bali, Moskau, der Anschlag auf den französischen Tanker
Limburg und viele Anschläge, die gerade noch verhindert
werden konnten, sind eine weltweite Herausforderung.
Die internationale Antiterrorallianz kämpft in Afghanistan und am Horn von Afrika. Überall auf der Welt gibt es
diese neue Form der Bedrohung, ja man kann sagen, das
Ganze ist eine neuartige Form von weltweitem Krieg, in
dem wir uns befinden. Davon lesen wir bei Ihnen nichts.
Sicher, die Art der Anschläge weist natürlich Unterschiede auf. Es gibt regional völlig unterschiedliche
Punkte, an denen islamistische Extremisten ansetzen. So
werden Lebensumstände wie Armut, Unterdrückung und
Unabhängigkeitsbestrebungen, beispielsweise in Tschetschenien, ausgenutzt, ausgebeutet und aufgeblasen. Vor
allem junge Menschen, die aufgrund der Globalisierung
nach Orientierung und Würde suchen, die in Not und
Armut leben, werden aufgeheizt, missbraucht und zu
Selbstmordattentätern ausgebildet. Das ist die Lage, die
wir zurzeit überall auf der Welt erleben.
Das ist kein Angriff gegen Amerika, das ist ein Angriff
gegen uns alle, gegen unsere Form des Zusammenlebens,
gegen unsere Kultur und gegen die Art von Demokratie,
die wir seit einigen Jahrhunderten erleben. Das ist das
Problem, dem wir gegenüberstehen. Dazu hätten wir gern
heute etwas von Ihnen gehört.
({4})
Niemand kann diesem Konflikt dadurch ausweichen,
dass man nicht darüber redet oder ihn verharmlost. Wir
leben nicht auf einer Insel der Glückseligen. Hier in
Deutschland hat es bereits Tote gegeben. Ein 16-jähriger
Junge aus Lübeck ist mit seiner Familie nach Tunesien gefahren. Als er nach Hause kam, waren sein Bruder, seine
Mutter und seine Großmutter tot. Er selbst lebt schwer
verletzt weiter. Meine Damen und Herren, der Terrorismus ist hier bei uns, er ist nicht etwas für ferne Länder.
Wir Deutsche sind bereits betroffen und deswegen ist er
eine fundamentale Herausforderung für uns alle.
Das BKA, so berichtet der „Spiegel“ in seiner jetzigen
Ausgabe, hält Deutschland inzwischen annähernd für so
gefährdet wie die USA. Unser Land, bisher nur Vorbereitungsraum für Terroranschläge, sei inzwischen auch ein
mögliches Ziel von Anschlägen. Deutschland, so das
BKA, werde direkt von al-Qaida bedroht. Wir hätten gern
Auskunft von der Bundesregierung darüber, ob sie mit der
Einschätzung des BKA übereinstimmt, ob wir wirklich
unmittelbar bedroht werden. Denn das ist eine völlig andere Dimension als die, die uns in den schönfärberischen
Berichten untergejubelt wird.
Geradezu apokalyptisch würde diese Gefahr des Terrorismus werden, wenn er in den Besitz von Massenvernichtungswaffen käme. Wer die barbarischen Terrorakte
vom 11. September zu verantworten hat, dem ist jedes
Mittel recht, auch der Einsatz von Massenvernichtungswaffen.
Schauen wir einmal nach Russland: In den vergangenen zehn Jahren wurden in Russland nach offiziellen Angaben 29 Diebstähle von Kernmaterial aufgedeckt. Im
Dezember 1995 verschwanden in Tscheljabinsk 18,5 Kilogramm und im März 2001 in Krasnojarsk 3,6 Kilogramm hoch angereichertes Uran. Der russische DumaAbgeordnete Mitrochim erklärt dazu:
In Russland und in anderen GUS-Staaten gibt es einen schwarzen Markt, auf dem sie Kernsprengstoff
überall kaufen können. Auch die al-Qaida ist dazu in
der Lage, über gut bezahlte Agenten in russischen
Atomanlagen an waffenfähiges Uran oder Plutonium
zu kommen.
Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen
und nuklearem Know-how ist unsere Realität. Wir wissen, dass sich Saddam Hussein das zum Ziel erklärt hat.
Das ist keine Vermutung, nichts, was konservative Kettenhunde sagen. Es ist das Wissen unserer Dienste, dass er
A-, B- und C-Waffen haben will. Können wir ausschließen, dass er sie in Kürze hat und auch benutzt?
Vielleicht war es doch ein Fehler, dass der Herr Bundesaußenminister vorhin gesagt hat: Na ja, ob Irak die
richtige Priorität sei? Doch, meine Damen und Herren!
Hier sitzt ein Diktator, ein Tyrann, den Enzensberger bereits 1991 als den Nachfolger Hitlers bezeichnet hat, der
sich diese Waffen besorgt, der bereit ist, sie anzuwenden
und sie bereits gegen sein eigenes Volk angewendet hat.
Dann erklärt Herr Fischer, diesem Bereich müsse nicht
die Priorität unserer Außenpolitik eingeräumt werden.
Welcher Bereich unserer Außenpolitik besitzt denn
höhere Priorität, als diesen Wahnsinnigen bei dem Versuch zu stoppen, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu kommen?
({5})
Alexander Kwasniewski, der polnische Präsident, hat
- wie ich glaube - Recht, wenn er sagt:
Die Bedrohung durch Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen ist real. Wir wollen eine neue,
scharfe UN-Resolution, die nicht nur Inspektionen,
sondern die Vernichtung dieser Waffen erzwingt und
Militärschläge erlaubt, wenn Saddam trickst.
Dies ist die Meinung der Polen, der Franzosen und sogar
der Saudis. Sie alle sagen: Wenn es eine UN-Resolution
gibt, unterstützen wir die Amerikaner und die Weltgemeinschaft bei dem Versuch, Saddam zu entwaffnen. Dies
sagen selbst die Saudis, nur die deutsche Bundesregierung
nicht. Nur Rot-Grün sagt: Wir auf gar keinen Fall.
Die Amerikaner hat nicht verletzt - das habe ich in den
Gesprächen immer wieder gemerkt, Herr Müntefering -,
dass wir eine andere Meinung haben. Der Kollege
Schäuble hat darauf hingewiesen. Dies haben sie auch in
ihrem eigenen Kongress erlebt, wo sie sehr ernsthaft gestritten haben. Die Amerikaner hat nicht verletzt, dass wir
gesagt haben: Wir wollen keine Soldaten schicken. Sie haben uns auch gar nicht danach gefragt. Sie haben auch gar
nicht nach Geld gefragt. Verletzt hat sie, dass wir ihnen
nicht einmal ein Minimum an politischer Solidarität und
moralischer Unterstützung geben. Dies ist und bleibt ein
Skandal. Sie werden es schwer haben, den dadurch angerichteten Schaden in den nächsten Wochen und Monaten
zu reparieren.
({6})
Es bleibt die große Aufgabe der deutschen Politik, über
die selbst gewählte Isolation, den Vertrauensverlust und
den Gewichtsverlust hinwegzukommen.
({7})
- Dies sind keine Wahnvorstellungen, Frau Sager. Reden
Sie doch einmal mit den Amerikanern.
({8})
Die Nagelprobe dafür ist der nächste NATO-Gipfel.
Wir werden sehen, wie sich die Bundesregierung dort verhält. Neben der Erweiterung der NATO, die wir sehr begrüßen, kommt es auf diesem NATO-Gipfel darauf an,
dass wir zwei Dinge miteinander vereinbaren: Die Bereitschaft, gegen die eben beschriebene terroristische Bedrohung, gegen die Hersteller von Massenvernichtungswaffen
mit allen polizeilichen, geheimdienstlichen und militärischen Mitteln vorzugehen und uns dabei nicht auszuklinken und abzukoppeln, sondern Teil der Weltgemeinschaft
zu sein, ist die eine Säule unserer Sicherheitspolitik. Die
andere Säule unserer Sicherheitspolitik, die aber nur eine
von zwei Säulen ist, ist die Lösung von regionalen Konflikten. Dies beinhaltet den kulturellen Dialog mit den
Moslems überall auf der Welt, die durch ihre Weltreligion
natürlich große Leistungen für die Welt vollbracht haben,
die aber extremistische Ränder haben, die im Moment
stärker werden. Ich glaube aber zutiefst, dass die Religion
als solche zum Dialog bereit ist.
Wir müssen unsere Märkte öffnen. Wir müssen Entwicklungsprojekte durchführen sowie die Demokratie
fördern. Auch eines ist wahr: Nicht jeder, der gegen Terrorismus ist, ist auch unser Freund. Es gibt Länder, die gegen den Terrorismus sind, aber trotzdem wenig für die Demokratie in ihrem Land tun. Auch hier müssen wir zu
unseren Werten und Überzeugungen stehen. Beides ist
notwendig: Demokratieförderung und Kulturdialog zusammen mit einer Öffnung der Märkte, mit Hilfe, um Armut und Würdelosigkeit zu überwinden.
Dies alles geht umso besser, je mehr wir bereit sind, zusammen mit anderen - nie alleine - militärische, polizeiliche und geheimdienstliche Verantwortung zu tragen.
({9})
Mein letzter Gedanke: Jimmy Carter hat den Friedensnobelpreis bekommen. Ich glaube, in diesem Fall
kann ich für das ganze Haus sprechen und dem früheren
amerikanischen Präsidenten zu diesem Friedensnobelpreis herzlich gratulieren.
({10})
Jimmy Carter hat diesen Preis durch seinen lebenslangen Einsatz für den Frieden wirklich verdient.
({11})
Aber Jimmy Carter war nie jemand, der gesagt hat: Frieden um jeden Preis. Für ihn bestand der Kern der Friedensbotschaft aus einem würdigen Leben und der Einhaltung der Menschenrechte. Der Friede macht nur Sinn,
wenn die Menschen auch Freiheit haben.
({12})
Herr Kollege Pflüger, jetzt haben Sie weit überzogen.
Ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.
Uns für die Freiheit und für den Frieden einzusetzen,
darauf kommt es an. Dem fühlen wir uns als Union verpflichtet.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhold Robbe.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich will nicht auf all die Stichworte
eingehen, die unmittelbar mit dem im Zusammenhang
standen, was sich im Wahlkampf abgespielt hat. Aber eine
Bemerkung, sehr verehrter Herr Kollege Pflüger, sei mir
doch erlaubt. Ich glaube, bei all dem, was, auch hier in
diesem Hohen Hause und in dieser Debatte, an Übertreibungen hingenommen werden kann, darf eines nicht
hingenommen werden: dass - Sie haben das mehr oder
weniger direkt zum Ausdruck gebracht - diesem Verteidigungsminister und dieser Bundesregierung ein unsolidarisches Verhalten gegenüber unserem wichtigsten Bündnispartner, den Vereinigten Staaten von Amerika,
unterstellt wird.
({0})
Deswegen erscheint es mir, bei allem Verständnis auch für
Aufgeregtheiten, angemessen und erforderlich, das an
dieser Stelle zurückzuweisen.
Erst vor wenigen Wochen konnten wir alle zusammen
hier in Berlin den zwölften Jahrestag der Wiedervereinigung feiern. Der 3. Oktober steht aber nicht nur als symbolisches Datum für den Fall der Mauer und für die friedliche Revolution in der damaligen DDR. Der 3. Oktober
steht auch für den Zusammenbruch des kommunistischen
Ostblocks und für eine vollkommen veränderte sicherheitspolitische Lage in der Welt. Vor zwölf Jahren hat
niemand in diesem Hohen Hause und in unserem Land
auch nur andeutungsweise ahnen können, mit welchen
Krisenherden wir es heute zu tun haben. Weder die Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien noch der schlimmste Terroranschlag in der Nachkriegsgeschichte am
11. September vergangenen Jahres mit all den Folgen waren vor zwölf Jahren absehbar. Wenn man sich einmal vor
Augen führt, welche Konsequenzen in der Sicherheitspolitik die Krisenherde bei uns und unseren Bündnispartnern hatten, stellt man fest, dass wir es heute nicht nur mit
ganz neuen politischen und militärischen Sichtweisen zu
tun haben. Nein, ich wage zu behaupten, dass im öffentlichen Bewusstsein noch gar nicht richtig realisiert wurde,
dass wir in Deutschland aufgrund der neuen Verantwortung einen regelrechten Quantensprung in der Sicherheitspolitik vollzogen haben.
({1})
Nichts ist mehr so, wie es war. Deutschland hat sich
von der reinen Landesverteidigung verabschiedet und
internationale Verantwortung übernommen. Die Welt
ist enger zusammengewachsen. Die internationalen Erwartungshaltungen gegenüber Deutschland sind gewachsen. Heute befinden wir uns auf einem Weg, von dem zurzeit noch niemand genau weiß, wie er mittelfristig und
langfristig exakt verlaufen wird.
Aber eines steht trotz unvermeidlicher Differenzen im
Detail und trotz gewisser tagespolitischer Aufgeregtheiten unumstößlich fest: Wir sind ein verlässlicher und solidarischer Partner in Europa und in der Welt. Unsere
Außen- und Sicherheitspolitik ist aktive Friedenspolitik.
({2})
Wir stehen zu unseren Bündnisverpflichtungen und im
Zweifelsfalle immer auf der Seite derer, die von Vertreibung, Verfolgung oder Schlimmerem bedroht werden.
Hierbei verkennen wir nicht die Grenzen unserer Möglichkeiten, die sich naturgemäß auch an unseren verfassungsrechtlichen Auflagen und an den militärischen
Fähigkeiten unserer Bundeswehr festmachen. Dazu hat
sich der Verteidigungsminister heute und auch in der Vergangenheit umfassend geäußert, ein Verteidigungsminister im Übrigen - dieser Hinweis sei mir an dieser Stelle
erlaubt -, der seinen Job ausgesprochen gut macht, kompetent, führungsstark, umsichtig und sensibel.
({3})
Die konsequente Fortsetzung des eingeschlagenen Reformweges für die Bundeswehr ist Grundvoraussetzung
für die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands. Die außerordentlich komplizierte und
schwierige internationale Lage lässt auf absehbare Zeit
keine Entlastung für das deutsche Engagement und die
Einsätze der Bundeswehr erwarten. Die Anforderungen
an Deutschland und seine Streitkräfte sind und bleiben
hoch. Wir haben eine Pflicht zur Solidarität, zur Wahrnehmung von Verantwortung und zur Unterstützung derer, die auf uns bauen.
Mit jedem Fortschritt bei der Umsetzung der Reform
der Bundeswehr werden wir besser in der Lage sein, das
zu leisten, was von ihr in Deutschland, in der NATO, in
der Europäischen Union, in den Vereinten Nationen und
seitens unserer Partner und Freunde in aller Welt zu Recht
erwartet wird, nämlich deutsche Politik für Frieden und
Sicherheit wirksam und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen.
({4})
Die aktuelle sicherheitspolitische Agenda steht weiterhin stark im Zeichen des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus; verschiedene Redner sind in dieser
Debatte schon ausführlich darauf eingegangen. Der
schreckliche Anschlag in Moskau hat uns dies erneut
mehr als deutlich vor Augen geführt. Auch die Lage im
Nahen Osten und in anderen Krisenherden dieser Welt ist
alles andere als hoffnungsvoll. Der Prozess der Anpassung der Außen- und Sicherheitspolitik an diese neue Gefährdungslage ist noch lange nicht abgeschlossen. Für die
Bundeswehr bedeutet die vielfältige Beteiligung an Enduring Freedom und ihre Schlüsselrolle bei dem ISAFAuftrag - zusammen sind hier übrigens über 2 700 Soldaten im Einsatz - eine große Herausforderung und bringt
ganz neue Belastungen mit sich.
Die Stabilisierung Südosteuropas bleibt ein Schwerpunkt der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Deshalb
ist die Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo
und in Mazedonien auch weiterhin gefordert, und zwar
wahrscheinlich noch über viele Jahre hinweg. Meine Damen und Herren, hinzuweisen ist aber auch auf die Tatsache, dass die Bundeswehr bei ihren Einsätzen im Ausland
an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit gestoßen ist. Deutschland stellt weltweit nach den
USA das größte Truppenkontingent für internationale
Einsätze, noch weit vor England und Frankreich. Der
Bundeskanzler hat heute Morgen übrigens sehr deutlich
darauf hingewiesen. Noch 1998 haben wir 178 Millionen
Euro hierfür aufgewendet, jetzt im Jahre 2002 sind es bereits mehr als 1,7 Milliarden Euro. All dies muss in der aktuellen innenpolitischen Diskussion und bei der Konsultation mit unseren Partnern eine Rolle spielen. Wenn die
Beziehungen zwischen der NATO und der Europäischen
Union auch institutionell endgültig ausgestaltet sind, wird
dies die europäische Handlungsfähigkeit erheblich stärken.
Auch bei uns in Deutschland hat der 11. September
2001 die Anpassung unserer Sicherheits- und Friedenspolitik an die veränderten Bedingungen beschleunigt. Als
diese Regierung im September 1998 Verantwortung übernahm, war die Bundeswehr mit rund 2 800 Soldaten in
Bosnien und in Georgien engagiert, um den Frieden zu sichern. Inzwischen sind es rund 10 000 Soldaten, die die
Bundeswehr für multinationale Einsätze stellt. So sind
deutsche Soldaten als Teil von ISAF in Afghanistan und
darüber hinaus in vielfältiger Weise innerhalb und außerhalb Europas militärisch im Kampf gegen den Terror engagiert. Die Bundeswehr ist hierdurch mehr denn je zu einer Armee im Einsatz geworden. Sie steht dabei im Dienst
einer deutschen Politik für Frieden und Sicherheit, die
umfassend angelegt und konsequent auf Interessenausgleich und Zusammenarbeit im europäischen, transatlantischen und globalen Rahmen ausgerichtet ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen
uns, wie dies Bundeskanzler Gerhard Schröder am
11. Oktober vergangenen Jahres im Bundestag erklärt hat,
in neuer Weise der internationalen Verantwortung stellen.
Der deutsche Beitrag muss hierbei aber an unseren politischen und militärischen Möglichkeiten gemessen werden.
Die Einsätze der Bundeswehr haben trotz der hohen Professionalität unserer Soldaten und Soldatinnen und trotz
der großen Anerkennung bestätigt: Die Bundeswehr verfügt noch nicht über alle erforderlichen und angemessenen Fähigkeiten für das gesamte neue Aufgabenspektrum.
Der Wandel zu einer Armee im Einsatz muss in den
nächsten vier Jahren weiter mit Nachdruck vorangetrieben werden. Die laufende Reform ist der Schlüssel dazu.
Die Reform ist deshalb auf gutem Wege, weil sich die
Menschen in der Bundeswehr ihre Ziele und Inhalte zu Eigen gemacht haben.
Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren,
es ist heute auch ein geeigneter Anlass, um gerade den
Soldatinnen und Soldaten ganz herzlich zu danken.
({5})
Vor diesem Hintergrund - ich komme sofort zum Schluss,
Frau Präsidentin - muss uns, wie ich glaube, um die Sicherheit unserer Grenzen, um die internationalen Verpflichtungen Deutschlands gegenüber unseren Partnern
und auch um die Zukunftsfähigkeit der deutschen Bundeswehr nicht bange sein.
In diesem Sinne bedanke ich mich. Ich freue mich auf
meine neue Aufgabe als Vorsitzender des Fachausschusses.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin
Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
dieser Legislaturperiode wollen wir die Entwicklungspolitik, wie wir dies in der letzten Legislaturperiode begonnen haben, zu einem zentralen Baustein für globale Zukunfts- und Friedenssicherung weiterentwickeln.
Wir stehen unter dem Leitbild der gerechten Globalisierung und wir steigern die Mittel für die Entwicklungsfinanzierung; das hat der Bundeskanzler in seiner Rede
heute noch einmal deutlich gemacht. Als Zwischenziel
zur Verwirklichung des 0,7-Prozent-Ziels wollen wir bis
zum Jahr 2006 die 0,33-Prozent-Quote für die Entwicklungszusammenarbeit umsetzen und im Übrigen in den
internationalen Finanzinstitutionen andere Finanzierungsinstrumente, wie Nutzungsentgelte oder auch Devisentransaktionssteuern, prüfen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schade, dass
sich manche der Debatte hier entziehen.
({1})
In dieser Diskussion ist immer wieder deutlich geworden,
wie wichtig eine verantwortliche Regierungsführung
auch mit Blick auf die Länder der so genannten Dritten
Welt, also auf die Entwicklungsländer, ist. Wir verlangen
von ihnen eine Beteiligung der Bevölkerung an Entscheidungen und wir verlangen von ihnen Rechtsstaatlichkeit.
Wir müssen aber auch dazu beitragen, dass die Kriterien,
die an die Entwicklungsländer angelegt werden, auch an
die internationalen Entscheidungsmechanismen angelegt werden. Hier gibt es noch viel zu tun.
Ich möchte Ihnen das sagen, was ich immer schon gesagt habe: Der UN-Sicherheitsrat spiegelt keineswegs die
Verhältnisse wider, wie sie sich Ende des letzten Jahrhunderts und auch jetzt in der Welt entwickelt haben. Es gibt
noch viel zu reformieren und viele Notwendigkeiten für
eine bessere Repräsentanz.
({2})
In der heutigen Diskussion - das möchte ich an dieser
Stelle auch ansprechen - ist viel von Amerika die Rede
gewesen. Ich möchte aber daran erinnern, dass Amerika
nicht nur aus dem Norden, sondern auch aus dem Süden
besteht. In den letzten Tagen gab es eine wichtige Entscheidung. In Brasilien, dem zentralen Land in Lateinamerika, ist ein neuer Präsident, Luiz Inácio da Silva, gewählt worden. An dieser Stelle möchte ich ihm zu seiner
Wahl gratulieren
({3})
und ihm zusagen, dass wir die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Unterstützung seiner Politik fortsetzen
werden, so wie wir das gegenüber Brasilien bisher auch
getan haben.
Er hat besonders darauf hingewiesen, dass er die Armutsbekämpfung im eigenen Land in den Mittelpunkt
stellen wird. Der Erfolg des neuen brasilianischen Präsidenten kann von zentraler Bedeutung für ganz Lateinamerika sein; denn in fast allen Ländern Lateinamerikas
gab es immer die Hoffnung und Erwartung, dass die Verankerung der Demokratie mit deutlichen wirtschaftlichen
und sozialen Fortschritten für die breite Masse der Bevölkerung einhergehen werde. Gerade das ist für die Stabilisierung von Demokratie und auch für die Situation der
Armen wichtig. Deshalb ist es eine sehr wichtige Entwicklung, die wir entsprechend fördern wollen.
Es ist schade, dass ich den Kollegen Pflüger jetzt nicht
entdecken kann. Er hat ja über die Frage gesprochen, wo
Ursachen für Terrorismus zu finden sind. An dieser
Stelle will ich sagen: Kofi Annan hat betont, wie wichtig
es ist - wir betonen es ebenfalls; es ist ein Schwerpunkt -,
dazu beizutragen, dass die Ziele der internationalen Gemeinschaft, die weltweite Armut bis zum Jahr 2015 drastisch zu reduzieren und dafür zu sorgen, dass alle Kinder
die Chance haben, bis zum 14. Lebensjahr in die Schule
zu gehen, erreicht werden.
({4})
Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, den
Koran-Schulen entgegenzuwirken und dazu beizutragen,
dass die Mädchen eine Chance haben. Dafür investieren
wir Finanzmittel. Ein besonderer Schwerpunkt wird daher
die Eröffnung des Zugangs von Kindern zu Bildung und
Ausbildung sein.
Ich möchte an dieser Stelle den Punkt aufgreifen, der
eine große Rolle gespielt hat. Es gibt weiterhin gewalttätige Gruppierungen und terroristische Banden, die abscheuliche Verbrechen verüben. Ich zitiere aber den amerikanischen Politikwissenschaftler Benjamin Barber, der
in der sicherlich nicht des Linksradikalismus zu bezichtigenden Zeitung „Welt am Sonntag“ kürzlich erklärt hat:
„Armut und Hoffnungslosigkeit schaffen eine Umgebung
für Terror.“ Seine Folgerung lautet:„Wir müssen die Welt
verändern und verbessern.“
Diese Aufgabe dürfen wir in der Diskussion über die
Frage, wo und wann Militär eingesetzt werden soll, nicht
vergessen. Ich bin erstaunt, dass diese Perspektive, über die
wir uns doch immer einig waren, in dieser Debatte fehlt.
({5})
Ich habe während des Bundestagswahlkampfes viele
Diskussionen zur Irak-Frage geführt. Erstens. Ich verbitte mir die Unterstellung, dabei sei Antiamerikanismus
praktiziert worden.
({6})
Zweitens. Die Leute, die da auf den Plätzen standen,
hatten keine antiamerikanischen Ressentiments, sondern
sie wollten dort stehen und sich engagieren, weil sie ein
Signal für Frieden und Prävention und gegen Krieg setzen
wollten. Das ist doch eine wunderbare Motivation, aus der
heraus sich Menschen engagieren. Das sollte hier nicht
diffamiert werden.
({7})
Wir brauchen Investition in Prävention, nicht in
Krieg. Und ich habe die ganze Debatte über zugehört. Ich
bin doch erstaunt: Es wird wirklich mit doppelter Elle gemessen. Nordkorea hat eingestanden, Massenvernichtungswaffen entwickelt zu haben. Dieses schlimme, widerwärtige Regime aus Altstalinisten hat mehrfach gegen
internationale Verträge und Verpflichtungen verstoßen.
Aber die USA wie auch die internationale Gemeinschaft
sind insgesamt der Auffassung, dass massiver politischer
und wirtschaftlicher Druck gegenüber Nordkorea notwendig ist, und engagieren sich für politische Lösungen.
Warum soll das mit Blick auf den Nahen Osten und den
Irak nicht möglich sein, um zu erreichen, dass die Waffeninspekteure ins Land gelassen werden und damit ein
Krieg verhindert werden kann? Diese Frage stellt sich
doch jeder. Wir müssen uns dafür engagieren, dass ein
Krieg verhindert wird. Hier wird immer nach Visionen gefragt. Statt hoch gefährlicher Konzeptionen von „preemtive strike“,wie sie die US-Regierung ersinnt, sollte endlich die atomare Abrüstung auch von den Ländern
begonnen werden, die selber über Atomwaffen verfügen.
Das ist die richtige Konsequenz und Schlussfolgerung.
({8})
Entwicklungszusammenarbeit in ihren vielen Bereichen ist eben Friedenspolitik. Sie legt eine erweiterte Sicherheitspolitik zugrunde. Ich nenne nur stichwortartig
den Versuch, den Transfer von Kleinwaffen zu verhindern, die Reform der Sicherheitssektoren von Entwicklungsländern, den Aufbau des Zivilen Friedensdienstes,
den wir deutlich aufstocken und ausweiten wollen. Das
macht deutlich, mit welcher Perspektive wir Entwicklungszusammenarbeit praktizieren.
Lassen Sie mich zum Schluss zwei Schritte in Richtung
auf eine gerechte Weltwirtschaftsordnung und für eine gerechte Globalisierung nennen. Der eine Schritt ist die
Fortsetzung der Entschuldung. Mittlerweile gibt es im
Rahmen der Entschuldung der ärmsten Entwicklungsländer 26 Entwicklungsländer, die ihre Entscheidungen zur
Entschuldung erhalten und Entschuldungsentlastung erfahren haben. Aber von den Betroffenen haben bisher
ganze sechs Entwicklungsländer ihren endgültigen
Schlusspunkt zur vollen Entschuldung erhalten. Der Grund
liegt darin, dass sie durch die weltwirtschaftliche Entwicklung doppelt bestraft werden: zum einen deshalb,
weil sie schon jetzt unter der weltwirtschaftlichen Entwicklung leiden, und zum anderen, weil sie nicht imstande sind, den Programmen und Forderungen des IWF
zur Erreichung der makroökonomischen Stabilität nachzukommen. Damit diese Entwicklungsländer den Completion Point, den Schlusspunkt der Entschuldung wirklich erreichen, treten wir dafür ein - das ist die Position
der Bundesregierung -, dass diesen Ländern gegenüber
flexibel reagiert wird und dass notfalls auch weitere finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit die
volle Entschuldung dieser Länder beschlossen und erreicht werden kann.
({9})
Zweitens. Das konkrete Ziel, das wir mit anderen Partnern in dieser Legislaturperiode erreichen wollen, ist das
Insolvenzverfahren für hoch verschuldete Staaten, zumal Entwicklungsländer. Das ist ein Vorschlag, der von
Anne Krueger vom Internationalen Währungsfonds und
übrigens auch von vielen Nichtregierungsorganisationen
stammt.
Ich möchte an dieser Stelle begründen, warum es sich dabei um eine wichtige Entscheidung im Interesse der Entwicklungsländer handelt. Zum einen kann durch die disziplinierende Wirkung eines solchen Insolvenzverfahrens
dazu beigetragen werden, dass kein Schuldenüberhang entsteht. Zum anderen würde die Mehrheitsentscheidung der
Gläubiger im Rahmen eines Insolvenzverfahrens verhindern, dass einzelne Gläubiger ein Umschuldungsverfahren
blockieren können. Das klingt zwar einfach, aber das SichHinziehen von Umschuldungsverhandlungen mit Entwicklungsländern bedeutet in vielen Fällen die Agonie der
wirtschaftlichen Entwicklung zulasten der armen Bevölkerungsschichten. Deshalb ist ein Insolvenzverfahren auch ein
Schritt, um zu verhindern, dass sich die enormen sozialen
Kosten von Finanzkrisen in den Entwicklungsländern auf
diese Art und Weise auswirken. Es ist ein Schritt zur Verbesserung der Situation der betreffenden Länder.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Der Bundeskanzler hat es heute Morgen bereits
angesprochen: Angesichts all der Aufgaben sind wir, jenseits von einzelnen Problemen und einzelnen unterschiedlichen Auffassungen, sicherlich einer Meinung,
dass ein Engagement in diese Richtung notwendig ist,
wenn wir in Zukunft eine gerechte und friedliche Welt
verwirklichen wollen. Ich bitte alle um Zusammenarbeit
und biete ausdrücklich - wie wir es schon immer getan haben - die weitere Zusammenarbeit im Rahmen der Entwicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft an. Derzeit
gibt es bereits 800 solcher Initiativen; diese Zahl wollen
wir noch erhöhen. Ich biete aber auch die Zusammenarbeit mit den Kirchen, den Nichtregierungsorganisationen,
den Gewerkschaften und selbstverständlich mit allen
Fraktionen dieses Hohen Hauses an.
Ich danke Ihnen.
({11})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Ruck.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte mit dem beginnen, mit dem die Ministerin aufgehört hat, nämlich damit, worin wir uns einig sind. Auch
für die Union ist die Entwicklungspolitik ein zentrales
Element zur Bewältigung weltweiter Zukunftsaufgaben.
Sie ist ein entscheidendes Medium, um eine internationale
Ordnungspolitik, die wirklich nachhaltig und zukunftsfähig ist, und weltweit menschenwürdige Lebensbedingungen durchzusetzen und um den weltweiten Schutz
und die Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen zu
sichern.
Es trifft in der Tat zu, dass die Globalisierung auch für
die Entwicklungsländer sowohl Chancen als auch Risiken
mit sich bringt. Es ist nicht zu übersehen, dass viele Länder in diesem Zusammenhang große Schwierigkeiten haben, ihre wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen
Herausforderungen adäquat anzunehmen.
Wir müssen auch erkennen, dass diese Probleme in
der Tat auf uns durchschlagen. Spätestens die Terroranschläge vom 11. September und die anschließende Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus haben gezeigt, dass Sicherheit, Wachstum und Wohlstand
auch bei uns letztlich davon abhängen, welche Perspektiven die Menschen in ärmeren Ländern des Ostens und
des Südens für sich und ihre Zukunft sehen.
Deshalb wird das, was wir vor Jahrzehnten in Deutschland als Entwicklungshilfe karitativ und bescheiden begonnen haben, zu einer immer wichtiger werdenden Zukunftsaufgabe für unser eigenes Land sowie für unsere
Kinder und Enkel: eine Politik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung zur Abwehr von Gefahren, zur Eindämmung sozialer Zeitbomben und zur weltweiten Gestaltung von Strukturen, die Stabilität, Frieden
und Prosperität weltweit sichern können. Wir brauchen
deshalb auf nationaler wie auf internationaler Ebene - ich
möchte jetzt gar nicht so sehr von der Rolle sprechen, die
die Vereinigten Staaten hier und da spielen, sondern von
den Hausaufgaben, die Sie hätten machen müssen - eine
koordinierte, effiziente und kohärente Entwicklungspolitik. Davon sind wir leider nach vier Jahren Rot-Grün weiter denn je entfernt.
({0})
Frau Ministerin, Ihr Optimismus in allen Ehren, aber in
Wahrheit ist aus dem Aufwärtstrend zum Beispiel im
Haushalt des BMZ nichts geworden. Im Gegenteil: Im
Jahr 2002 steht Ihr Haushalt wesentlich ärmer da als 1998.
Daran wird sich auch im nächsten Jahr nichts ändern;
denn im Vergleich zu 2002 wurde Ihr Haushalt für 2003
erneut um 51 Millionen Euro abgespeckt. Die Durchführungsorganisationen der Entwicklungspolitik bekla122
gen ja inzwischen ganz unverhohlen, dass ihnen die
Handlungsunfähigkeit drohe. Die finanzielle Misere wird
noch durch den von Ihnen verschuldeten Trend verschärft,
mehr Geld aus dem nationalen in den internationalen Verfügungsbereich und hin zu den multilateralen Entwicklungsorganisationen zu verlagern. Das sind oft Institutionen, die nicht gerade durch Koordinationsbereitschaft und
Effizienz glänzen. Um es auf den Punkt zu bringen:
Deutschland ist zwar finanziell nach wie vor ein Riese,
wird aber im Einflussbereich immer mehr zu einem
Zwerg. Das ist leider auch für die EU und die Weltbank
eine traurige Entwicklung.
({1})
Wir kritisieren auch, dass Sie trotz zurückgehender
Haushaltsmittel praktisch auf jede neue Initiative aufspringen und jeden neuen Sondertopf im internationalen
Bereich unterstützen. Wir kritisieren dabei nicht, dass Sie
dafür sorgen, dass sich Deutschland an Programmen zur
Bekämpfung der Armut, an Kaukasus- und Afrika-Initiativen oder an Programmen zur Bekämpfung von Aids beteiligt. Wir kritisieren vielmehr, dass Sie zur Verzettelung
der deutschen Entwicklungspolitik beitragen, dass
Sie ihr damit die Schlagkraft nehmen, dass Sie dem eigenen Ministerium die Koordinations- und Führungsrolle
immer schwerer machen und dass Sie Etikettenschwindel
betreiben; denn alle groß angekündigten Aktionen sind
entweder wie die Schuldeninitiative in Wirklichkeit
stecken geblieben oder wie die Kaukasus-Initiative völlig
unterfinanziert, oder stehen nur auf dem Papier.
Vor eineinhalb Jahren haben Sie zum Beispiel einen
Plan zur Umsetzung des Armutsbekämpfungsprogramms
angekündigt. Auf den warten wir bis heute. Die negative
Folge ist, dass Sie für die Entwicklungspolitik unerfüllbare Erwartungen wecken, dass Sie Enttäuschungen provozieren und dass Sie die tatsächlich möglichen Erfolge
im Sand verlaufen lassen. Es wundert daher niemanden,
dass die jüngste Überprüfung der deutschen Entwicklungspolitik durch die OECD zu einem ernüchternden
Ergebnis kommt: verkrustet, veraltet und unflexibel.
Erfolge in der Entwicklungspolitik erreicht man eben
nicht nur durch Show und Medienwirksamkeit, sondern
vor allem durch eine klare und langfristig angelegte Linie,
eine klare Kompetenzverteilung und eine konsequente
Arbeit inklusive der Bündelung der Kräfte.
Einer der größten Schwachpunkte der Entwicklungspolitik der rot-grünen Bundesregierung war das Desinteresse des deutschen Außenministers an entwicklungspolitischen Fragen wie auch an denen der internationalen
Umweltpolitik. Wenn die Entwicklungspolitik nicht die
Rückendeckung der Außenpolitik hat, dann ist sie zum
Scheitern verurteilt,
({2})
wenn man zum Beispiel nur an die Forderung des ganzen
Hauses denkt, die Verantwortung der Entwicklungsländer
für ihre eigene Entwicklung einzufordern. Die Union bietet der Regierungskoalition auch auf diesem Gebiet eine
kritische, aber konstruktive Begleitung an, vor allem
wenn es darum geht, die Effizienz zu steigern und erfolgreich Schwerpunkte zu setzen.
Das gilt für den Bereich der Gefahrenabwehr genauso
wie für die zentrale Aufgabe einer langfristig angelegten
weltweiten Politik der Zukunftssicherung. Das heißt vor
allem, die Globalisierung in vernünftige Bahnen zu lenken, sodass sie auch zum Positiven für Entwicklungs- und
Schwellenländer ausfällt. Es bedeutet für uns gerade auch
den Einsatz für die internationale soziale Marktwirtschaft. Dieses Eintreten muss man wirklich mit Leben erfüllen, zum Beispiel mit sozialen und ökologischen Mindeststandards in den WTO-Runden, durch die Stärkung
von Bildung und Ausbildung und durch das Eintreten und
die Unterstützung beim Aufbau handlungsfähiger staatlicher Strukturen, aber auch - das wirkt beim wirklichen
Angehen von tief greifenden Reformen - in der internationalen Szene.
Herr Kollege Ruck, achten Sie bitte auf die Zeit.
Jawohl. Es bedeutet außerdem eine wesentlich stärkere
Unterstützung der Entwicklungspolitik durch die Außenpolitik und den Bundeskanzler.
Wir werden die Grundzüge unserer Politik für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in den
Debatten des Hauses einbringen und dabei auch die bisherigen Positionen rot-grüner Politik auf den Prüfstand
stellen, ({0})
Herr Kollege Ruck, Sie sind jetzt zwei Minuten über
die Zeit. Jetzt können Sie nicht mehr allzu viel sagen.
- aber nicht nur wohlfeile Erklärungen im Koalitionspapier, sondern das, was Sie wirklich umsetzen.
({0})
Das Wort hat jetzt die Frau Staatssekretärin Uschi Eid.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Koalitionsvertrag schreibt das, was wir vor vier Jahren in der Entwicklungspolitik begonnen haben, konsequent fort. Wir machen im Zeitalter der Globalisierung
Politik auf gleicher Augenhöhe mit den Entwicklungsländern für mehr Gerechtigkeit in der Welt. Wir machen
eine Politik, die die Chancen zur Teilhabe am wirtschaftlichen, technischen, gesellschaftlichen und kulturellen
Fortschritt für alle Staaten verwirklichen will. Wenn ich
von Fortschritt spreche, meine ich immer auch den FortDr. Christian Ruck
schritt der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit; denn Demokratie erst garantiert die Teilhabe der Menschen und
Rechtsstaatlichkeit erst fördert den Schutz der Menschenrechte.
({0})
Wir haben diese Politik auf den großen internationalen
Konferenzen der vergangenen Jahre erfolgreich vertreten.
Die Ziele Bekämpfung der Armut, gerechte Verteilung der
Süßwasserreserven, nachhaltige Entwicklung und Schutz
der Umwelt, gemeinschaftliche Finanzierung der großen
Entwicklungsaufgaben und gerechte Gestaltung des Welthandels sind gemeinsam mit den Entwicklungsländern erarbeitet und verhandelt worden. Sie wurden nicht erkauft
und nicht aufgezwungen. Deshalb sind sie so bedeutsam.
Sie spiegeln den Kompromiss unserer unterschiedlichen,
häufig sehr gegensätzlichen Interessen wider und sind
deshalb für alle Seiten bindend.
Ich muss in aller Klarheit auch sagen: Unsere Interessen sind nicht immer identisch mit den Interessen der
Entwicklungsländer. Ich möchte hier nur an die Weigerung vieler Entwicklungsländer in Johannesburg erinnern,
eine Energiewende mit dem Ziel der Ausweitung erneuerbarer Energien global einzuläuten. Auch die Interessen
der Entwicklungsländer untereinander sind nicht immer
gleich und deswegen liegt es in der Natur der Sache, dass
wir nicht grundsätzlich die Interessenvertreter der Entwicklungsländer sind.
Das heißt aber: Wir wollen sie in die Lage versetzen,
ihre Interessen selbst formulieren und auch umsetzen zu
können. Denn nur wenn diese Staaten selbst Verantwortung übernehmen, werden wir gemeinsame, nachhaltig
wirksame Entwicklungsziele auch erreichen. Deshalb investieren wir in der Entwicklungskooperation in ihre
Fähigkeiten, bei internationalen Verhandlungen ihre
wichtige Rolle zu spielen. Deshalb investieren wir in ihre
Fähigkeiten, ihre inneren wie zwischenstaatlichen oder
regionalen Konflikte mit friedlichen Mitteln beizulegen.
Deshalb unterstützen wir ihre Bestrebungen zur regionalen Integration und deshalb fördern wir ihre Potenziale
zur Integration in den Weltmarkt.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsame Ziele
haben und Politik auf gleicher Augenhöhe machen, das
heißt auch, anzuerkennen, dass unsere Beziehungen bislang nicht auf Chancengleichheit beruhen, dass Entwicklungsländer auf der einen Seite große nationale Probleme mit schwachen Institutionen, geringem Vertrauen
in die eigene Wirtschaft, fehlender Rechtsstaatlichkeit,
Klientelismus und Korruption haben, andererseits aber
strukturell in den internationalen Beziehungen benachteiligt sind und dass ihre Bestrebungen, Fortschritte zu erzielen, häufig durch Entscheidungen bei uns konterkariert
werden. Stichworte dazu sind zum Beispiel Agrarsubventionen und Markthindernisse.
Unsere bisherige Regierungsarbeit und der neue Koalitionsvertrag beweisen: Wir sind uns dieser Ungleichheit
bewusst und wir werden weiter daran arbeiten, gerade
diese strukturellen Ungleichheiten abzubauen. Deshalb
werden wir Doha zu einer Entwicklungsrunde machen.
Den Marktzugang werden wir erleichtern. Wir werden die
Entschuldungspolitik vorantreiben.
({2})
Ich sehe drei zentrale politische Herausforderungen für
die Zukunft. Wir werden diese zusammen mit den Entwicklungsländern lösen, und zwar partnerschaftlich und
in vollem Respekt füreinander, um zu verhindern, dass es
in der Globalisierung zu einer gefährlichen Spaltung zwischen Nord und Süd kommt. Ich kann diese Herausforderungen aus Zeitgründen jetzt nur benennen - ich hätte sie
gern etwas ausgeführt und hätte auch gern dargelegt, was
wir zu tun gedenken -: erstens der fortschreitende Fundamentalismus, zweitens die Frage der Ressourcengerechtigkeit, also die Frage der gleichberechtigten Nutzung von
Ressourcen, und drittens die fortschreitende Umweltzerstörung. Um diese Aufgaben in Angriff zu nehmen, ist
diese rot-grüne Regierung bestens gerüstet. Herr Ruck,
das wurde uns durch das DAC, den Entwicklungsausschuss der OECD, auch international bescheinigt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir uns aber
keine Illusionen. Viele Entwicklungsländer haben andere
Prioritäten. Wir werden viel Überzeugungsarbeit leisten
und auch Nachteilsausgleiche schaffen müssen, um die
gerade skizzierten Ziele zu erreichen. Gelingen wird uns
das aber, wie ich bereits gesagt habe, nur mit einer Politik
auf gleicher Augenhöhe, also in echter Partnerschaft. Dabei haben wir uns in den vergangenen vier Jahren viel Vertrauen bei den Entwicklungspartnern erworben. Das ist
unser Kapital für die kommenden vier Jahre und dieses
Kapital werden wir nutzen, damit mehr Menschen in den
Entwicklungsländern in Afrika, Asien und Lateinamerika
bessere Chancen bekommen und in Würde leben können.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen
Sie sich vor, das Dubrowka-Theater stünde nicht in
Moskau, sondern in Bagdad. Stellen Sie sich vor, Kurden
hätten 700 Geiseln genommen und mit dem Tod der Geiseln gedroht, wenn nicht endlich die Verfolgung von Kurden beendet werden würde. Stellen Sie sich vor, Saddam
Hussein hätte Nervengas in das Theater geleitet, um die
Geiselnehmer unschädlich zu machen. Wie lange hätte es
Ihrer Meinung nach gedauert, bis der amerikanische Präsident seinen Krieg begonnen hätte? Tage? Stunden?
Warum dürfen bestimmte Staaten Nervengas produzieren und andere nicht? Die Antwort ist einfach. Man ist der
Meinung, dass in den so genannten zivilisierten Staaten
der Einsatz von Massenvernichtungswaffen faktisch
nicht möglich ist - einmal weil die demokratischen Gre124
mien eine solche Entscheidung nicht mittragen würden
und zum anderen weil die Hemmschwelle in den so genannten zivilisierten Staaten für einen Einsatz von Gas
viel zu hoch wäre. Den Einsatz von Nervengas traut man
nur unberechenbaren Diktatoren wie Saddam Hussein zu,
der ja bekanntlich mit Gas unschuldige Kinder und
Frauen getötet hat.
Doch nun haben wir eine neue Situation. Es gibt Menschen, die nur noch Terroristen genannt werden. Sie leben
auf der ganzen Welt und haben angeblich ein gigantisches
Netzwerk gebildet. Doch die Tschetschenen brauchen
kein internationales Netzwerk, um zu sehen, dass ihr Land
in Trümmer gelegt wird, und die Palästinenser brauchen
kein internationales Netzwerk, um zu sehen, dass ihr
Recht auf einen eigenen Staat mit Füßen getreten wird.
Offensichtlich hat die Allmacht einiger weniger Staaten zur Ohnmacht bei vielen Menschen in der ganzen Welt
geführt. Die Zahl derjenigen, die sich gegen die Allmacht
gewaltsam zur Wehr setzen, nimmt zu und das ist eine
reale Gefahr für uns alle. Die betroffenen Staaten reagieren mit Stärke und jeder Staat hat jetzt offensichtlich das
Recht, Menschen zu Terroristen zu erklären und damit
Völkerrecht sowie nationales Recht außer Kraft zu setzen.
Aber offensichtlich haben auch einige wenige Staaten das
Recht, andere Staaten als terroristisch zu bezeichnen und
damit einen Krieg zu rechtfertigen.
Der Bundeskanzler hat vor der Wahl versprochen, dass
Deutschland an einem Krieg gegen den Irak nicht teilnehmen wird. Er hat es heute in der Regierungserklärung
bekräftigt. Das wurde von vielen Menschen als mutig und
aufrichtig empfunden und dafür wurde der Bundeskanzler auch im Osten gewählt. Aus dem Wahlversprechen ist
ein Wählerauftrag geworden.
Letzten Sonnabend demonstrierten viele Menschen auf
der ganzen Welt gegen einen drohenden Irak-Krieg. Allein in Washington waren es 200 000 Menschen. Auch in
Berlin wurde demonstriert; allerdings waren es hier bedeutend weniger Menschen. Die „Frankfurter Rundschau“ kommentierte das begrenzte Engagement in Berlin mit dem Gefühl vieler Menschen, dass sie mit der
Friedensforderung bei der Bundesregierung offene Türen
einrennten.
Doch ist das wirklich so? Tut diese Bundesregierung
alles, um einen Krieg gegen den Irak zu verhindern?
({0})
Vor der Wahl, am 29. August, erklärte Verteidigungsminister Struck noch, dass er die Spürpanzer der Bundeswehr
aus Kuwait abziehen wolle. Letzte Woche war zu hören,
dass die deutschen Spürpanzer in Kuwait bleiben sollen.
Fängt die Bundesregierung etwa an, in dieser Frage zu
wackeln?
({1})
Die Bundesregierung soll aus der Sicht der PDS nicht
nur nicht am Irak-Krieg teilnehmen, sondern sie soll auch
dazu beitragen, dass dieser Krieg erst gar nicht stattfindet.
({2})
Einige Instrumente - das ist von meiner Kollegin Petra Pau
heute schon angesprochen worden - hat die Bundesregierung in der Hand. Offensichtlich wird das deutsche
Hoheitsgebiet von US-Streitkräften als Militärbasis genutzt, um die logistischen Vorbereitungen für einen IrakKrieg zu treffen. Doch dafür gibt es keine Rechtsgrundlage.
Ich bin der Auffassung, dass die Bundesregierung von
der US-Regierung Auskunft über ihre Aktivitäten vom
deutschen Territorium aus verlangen muss.
({3})
Wenn sich herausstellen sollte, dass Deutschland als
Rollfeld für den Irak-Krieg dienen soll, dann muss die
Bundesregierung der US-Regierung die Nutzung dieser
Basen sowie die Überflugrechte verweigern, so wie es
übrigens der damalige Kanzlerkandidat Stoiber an einem
Tag im Wahlkampf gefordert hat, um es am nächsten Tag
sofort zu dementieren. Es ist notwendig, dass diese
Regierung beweist, dass deutsche Außenpolitik Friedenspolitik ist und dass sie alle Mittel dafür einsetzt, diesen
Beweis anzutreten.
Herzlichen Dank.
({4})
Weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Themenbereich nicht vor.
Wir kommen jetzt zu den Bereichen Innen, Recht und
Kultur. Das Wort zur Eröffnung der Debatte hat die Frau
Bundesministerin Zypries.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In diesen Tagen jährt sich zum 40. Mal eine der großen
Bewährungsproben unserer Demokratie, die „Spiegel“Affäre. Es war, wie wir wissen, eine bestandene Probe, die
zu unserem demokratischen Selbstverständnis viel beigetragen hat. Damals, 1962, konnte ein Bundesminister
noch beschönigend sagen, die Verhaftung des „Spiegel“Redakteurs Conrad Ahlers sei halt „etwas außerhalb der
Legalität“ erfolgt. Heute nehmen wir - und gerade auch
diese Regierungskoalition - die Bindung der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht und die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung sehr ernst.
Denn das Grundgesetz ist eine gute Verfassung, die sich
bewährt hat.
Zu den maßgeblichen Prinzipien dieser Verfassung
und zu den Fundamenten der lebendigen Demokratie
zählen die in der Menschenwürde wurzelnde Gleichheit
aller, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Freiheit
der Meinung und der Kunst, die Freiheit, sich zu versammeln und Vereinigungen zu bilden. Das Grundgesetz ist
dabei nicht wertneutral. Es ist auf den Wert der Menschenwürde und die daraus folgenden Grundsätze individueller Selbstbestimmung und gleicher Freiheit gegründet. Vermittelt dadurch schützt es auch die Autonomie der
verschiedenen Teile unserer Gesellschaft wie der Politik,
der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Kunst.
Hier geht es nicht nur um den rein technischen Bauplan
einer komplexen Gesellschaft, sondern vielmehr um ein
zukunftsfähiges Erfogsrezept: Durch diese Strukturen
insbesondere ermöglicht die Verfassung ein friedliches
Zusammenleben in Deutschland. Mir ist dieser Gedanke
ganz besonders wichtig, denn in Zukunft werden wir immer mehr und immer verschiedenere Lebensstile, Überzeugungen, Religionen und Traditionen auf deutschem
Boden haben, die miteinander leben.
Dass dies friedlich geschieht, setzt eines voraus: die
Bereitschaft, andere so leben zu lassen, wie sie es für richtig halten oder gewohnt sind, soweit sie dabei im Rahmen
der gesetzlichen Grenzen bleiben, versteht sich. Diese Bereitschaft muss allerdings nicht nur da sein, wenn einem
der Lebensstil des anderen egal ist; das ist keine Leistung.
Eine Leistung ist es erst dann, wenn einem die Verschiedenheit nicht egal ist, wenn wir also Toleranz üben und
die Unterschiedlichkeit quasi ertragen müssen.
({0})
Toleranz ist eine Frage der inneren Einstellung. Die
Rechtsordnung kann niemanden zur Toleranz zwingen,
sie kann aber den Boden dafür bereiten. Ein Beispiel: Das
vom Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform
bestätigte Gesetz über die Einführung der eingetragenen
Lebenspartnerschaften ermöglicht den Partnern, rechtsverbindlich füreinander einzustehen. Gleichzeitig stärkt
es aber auch die Toleranz in unserer Gesellschaft gegenüber anderen Lebensformen.
({1})
Diese Politik steht in der Tradition unseres Grundgesetzes; denn das lässt die Gegensätze und die Vielfalt zu
und schützt sie grundrechtlich. Wer von Mehrheitsauffassungen abweicht, muss keine Unterdrückung befürchten.
Es ist also auch nicht nötig, Gewalt zu ergreifen, um seinen Vorstellungen entsprechend leben zu können. Das
Grundgesetz lehnt Gewalt deshalb ab. Unsere Verfassung
ist - in der Sprache unserer Zeit - ein echtes Antigewaltprojekt. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wussten
nach den bitteren Erfahrungen mit der Gewaltherrschaft
des Dritten Reiches: Freiheit im Leben miteinander ist die
beste Gewaltvorbeugung. Eine unserer wesentlichen Aufgaben wird es deshalb auch künftig sein, die Grundrechte
so wenig wie möglich zu beschneiden.
({2})
Freilich: Es kann sich nicht auf seine Freiheit berufen,
wer anderen nicht ihre Freiheit gönnt. Gewaltanwendung
zur Durchsetzung der eigenen Vorstellungen oder Überzeugungen ist unter keinen Umständen rechtfertigungsfähig. Gewalt muss vom Staat - notfalls mit all seinen
Machtmitteln - unterbunden werden, zum Beispiel mit
der Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes. Dieses Gesetz
stärkt die Rechte und die Stellung Schwächerer und ihren
Schutz vor Gewalt im familiären Nahbereich. Und es
wirkt: In Nordrhein-Westfalen hat die Polizei in knapp
fünf Monaten in mehr als 1 000 Fällen prügelnde Ehemänner der Wohnung verwiesen und ihnen die Rückkehr
verboten.
Meine Damen und Herren, wir müssen konstatieren,
dass auch in unserer Gesellschaft die Gewaltbereitschaft
wächst. Das ist eine große Bedrohung des von der Verfassung angestrebten friedlichen Zusammenlebens. Dieser
Bedrohung müssen wir uns entschlossen stellen, und zwar
nicht erst, wenn der Gewaltausbruch bereits passiert ist,
sondern bereits deutlich vorher.
({3})
Dies allerdings kann der Staat allein nicht leisten. Wir
brauchen im Elternhaus, in der Schule, in Vereinen und Verbänden eine Erziehung zur Toleranz. Junge Leute müssen
lernen, die Meinung anderer zu respektieren und sich im
Rahmen der demokratisch vorgesehenen Spielregeln miteinander auseinander zu setzen. Sie müssen lernen, tolerant
zu sein und die Verschiedenheit zu akzeptieren.
({4})
Nicht zuletzt deshalb hat die Bundesregierung das Bündnis für Demokratie und Toleranz ins Leben gerufen und
deshalb werden wir das Deutsche Forum für Kriminalprävention noch stärker in seiner Arbeit unterstützen.
Was wir damit erreichen wollen, darf aber auch nicht
an anderer Stelle konterkariert werden. Deshalb wird die
Bundesregierung hart gegen Gewaltverherrlichungen, gegen die Propagierung von Gewalt oder die Anleitung zu
Gewaltanwendungen vorgehen.
({5})
Das schließt Initiativen zur Änderung des Strafrechts ein.
Denn das Strafrecht als klares Zeichen für die Grenzen der
Gewalt ist auch und gerade dort wichtig, wo in der Gesellschaft elementare Wertebindungen ihre Bindungskraft
verlieren. Wir müssen insbesondere auch die Strafvorschriften gegen sexuellen Missbrauch von Kindern, Jugendlichen und widerstandsunfähigen Personen fortentwickeln. Auch durch die Strafandrohung in diesen Fällen
muss deutlich werden, dass solche Taten an den Menschen, die sich am wenigsten wehren können, zu den abscheulichsten Verbrechen überhaupt gehören.
({6})
Wir werden deshalb unter anderem schon den Strafrahmen für die Grundtatbestände des sexuellen Missbrauchs von Kindern von Vergehen zu Verbrechen heraufstufen. Auch die psychische sexuelle Gewalt wird
nicht länger straflos bleiben. In Zukunft macht sich auch
derjenige in einem früheren Stadium als bisher strafbar,
der auf Kinder einwirkt, damit ein Kind sexuelle Handlungen vornimmt. Auch die Wegseher und die Profiteure
sollen künftig nicht mehr ungeschoren davonkommen.
({7})
Wer diese Taten nicht anzeigt, wer sie belohnt oder billigt,
wird sich in Zukunft vor dem Strafrichter wiederfinden.
Wir werden auch gegen jede Form der Verbreitung von
Kinderpornographie mit dem gesamten Arsenal der strafprozessualen Möglichkeiten vorgehen.
({8})
Insoweit steht auch der Katalog des § 100 a StPO auf dem
Prüfstand.
Gleich der erste Untertitel der Koalitionsvereinbarung
lautet nicht von ungefähr: Für ein wirtschaftlich starkes,
soziales und ökologisches Deutschland. Die Wirtschaft ist
im Justizministerium insoweit betroffen, als die dringend
gebotene Reform des Aktienrechtes dort angesiedelt ist.
Dabei geht es nicht etwa um technische Details, für die
sich dann nur die Buchprüfer begeistern können. Die Verhinderung von falschen Bilanzen und der Anlegerschutz
allgemein bewahrt viele tausend Menschen vor dem Verlust ihrer Ersparnisse und erhält Arbeitsplätze.
({9})
Deshalb liegt dieses Problem gerade uns Sozialdemokraten besonders am Herzen.
Ganz klar gesagt: Bei allen Fragen, wie etwa der persönlichen Haftung von Vorständen und Aufsichtsräten, geht
es darum, den guten Ruf der unzähligen redlichen Akteure
unserer Wirtschaft vor den schwarzen Schafen zu schützen.
({10})
Gerade die spektakulären Bilanzskandale auf dem USamerikanischen Markt haben es uns drastisch vor Augen
geführt: Bereits einer oder wenige Chefmanager mit krimineller Energie können das Vertrauen ganzer Märkte
zerstören.
Meine Vorgängerin im Amt, Frau Professor Dr. Herta
Däubler-Gmelin, hat die Lösung der Probleme auf der
Grundlage der Arbeiten einer hochkarätig besetzten
Kommission in Angriff genommen. Nicht nur bei diesem
Thema hat sie Zeichen gesetzt und wichtige rechtspolitische Vorhaben vorangebracht. Dafür möchte ich mich
auch an dieser Stelle bedanken.
({11})
Ich werde den Anlegerschutz weiter forcieren. Unser
Motto dabei wird sein: so schnell wie möglich, aber auch
so solide wie nötig. Viele wichtige Diskussionen werden
wir dabei zu berücksichtigen haben. Unter anderem hat
sich der Deutsche Juristentag im September in Berlin mit
diesen Fragen auseinander gesetzt und dazu einen umfangreichen Bericht veröffentlicht.
Wir werden in dieser Legislaturperiode auch das Zehnpunkteprogramm zur Stärkung der Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes, das die letzte Bundesregierung bereits beschlossen hat, umsetzen.
Ganz wichtig ist des Weiteren die Reform des Versicherungsvertragsgesetzes, das inzwischen bereits
130 Jahre alt ist. Dabei geht es unter anderem um die Behandlung von Gentests, um Überschussbeteiligungen in
der Lebensversicherung und um Altersrückstellungen in
der privaten Krankenversicherung.
Wir werden das Urheberrecht in der Informationsgesellschaft anpassen. Dabei muss die Vielfalt unserer Kultur und der faire Umgang zwischen Urhebern und Verwertern gewährleistet bleiben bzw. werden. Ich meine,
auch im Reich des Internet dürfen Autoren und andere
Künstler nicht dem Raubrittertum ausgeliefert werden.
Natürlich werden wir die Reform des Gesetzes gegen
den unlauteren Wettbewerb anfassen. Auch hier drängt
die Zeit. Wir wollen ein vollständig neues, schlankes und
faires Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vorlegen,
das den redlichen Wettbewerber genauso schützt wie den
Verbraucher.
Meine Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, dass
wir uns über die skizzierten allgemeinen Grundlagen relativ schnell werden verständigen können. Über die konkreten Konsequenzen, die sich in den nächsten vier Jahren daraus ergeben, werden wir sicherlich nicht immer
einer Meinung sein. Insoweit freue ich mich auf eine sachliche und konstruktive Diskussion.
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Norbert
Röttgen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Sehr geehrte Frau Zypries, als rechtspolitischer
Sprecher der CDU/CSU-Fraktion möchte ich Ihnen
zunächst zu Ihrem neuen Amt gratulieren. Wir wünschen
Ihnen persönlich Glück in und Freude an diesem Amt.
Das möchte ich auch übertragen auf unseren Kollegen mit
dem neuen Amt, Herrn Alfred Hartenbach. Wir haben
- das muss ich gleich einschränkend hinzufügen - nicht
die Absicht, diese Freude wirklich aktiv zu fördern,
({0})
aber persönlich wollen wir Ihnen das gern gönnen.
Wir bieten Ihnen statt Freude eine faire Auseinandersetzung an. Wir sind bereit zur Zusammenarbeit, zur Gemeinsamkeit dort, wo wir der Auffassung sind, dass die
Lösung von Problemen, die wir gemeinsam erkennen, der
Gemeinsamkeit bedarf.
({1})
Auch das möchte ich gleich zu Beginn hier betonen.
Wir appellieren gleichzeitig an Sie - anderenfalls
würde eine schlechte Tradition der letzten vier Jahre fortgesetzt -, in der Rechtspolitik nicht nur Ihre Mehrheit zu
exekutieren, auf Mehrheit zu setzen, sondern gerade
auf dem Gebiet der Rechtspolitik der Auseinandersetzung
um das bessere Argument auch dann, wenn es von der
Minderheit im Parlament kommt, nicht auszuweichen,
sich dieser Auseinandersetzung zu stellen.
Die rot-grüne Rechtspolitik der vergangenen Legislaturperiode hat mit der Proklamierung großer Projekte begonnen und in Kraftlosigkeit geendet,
({2})
gemessen an Ihren eigenen Maßstäben, weil Sie Ihre eigenen Projekte nicht realisiert haben.
({3})
- Ich komme gleich noch darauf. - Diese Kraftlosigkeit
hat sich in dem Koalitionsvertrag fortgesetzt. Auch in Ihrer heutigen Antrittsrede habe ich keine Idee von Rechtspolitik gehört.
({4})
Es war eine Aufzählung einzelner Baustellen und die
Rede war in ihrer Allgemeinheit für mich enttäuschend.
Aber das Entscheidende ist, dass kein roter Faden, kein
rot-grüner Faden, keine Idee, keine Konzeption da war.
({5})
Jetzt sind Sie an der Macht, haben die Posten und ich frage
Sie, wozu Sie sie gebrauchen wollen, meine Damen und
Herren.
({6})
Wir hätten erwartet, dass eine neue Ministerin mit einer
Eröffnungsbilanz startet. Das wäre auch Ihre Chance gewesen, dass Sie all die Projekte, die liegen geblieben sind,
Ihre eigenen Projekte, bilanzieren.
({7})
In der letzten Sitzungswoche der vergangenen Legislaturperiode ist die Beratung des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes vertagt worden. Die 120 000 Anwälte in diesem
Lande warten seit acht Jahren darauf.
({8})
Auch im Koalitionsvertrag jetzt findet sich dazu keine
Aussage. Es ist liegen geblieben, und auch jetzt hören wir
von Ihnen dazu keine Aussage.
({9})
- Lassen Sie mich bitte ausreden. Es gehört zur Diskussion, dass man auch zuhört.
Sie hätten heute die Chance gehabt, die Diskussion in
Ihrem Arbeitskreis „Kommunalfinanzen“ über den Vorschlag, alle Freiberufler - damit auch die selbstständigen
Anwälte - der Gewerbesteuer zu unterziehen, zu beenden.
Ich fordere Sie auf, klarzustellen, dass die rot-grüne Koalition das nicht will. Wir lehnen die konkreten Vorschläge, die Freiberufler unter die Gewerbesteuer fallen
zu lassen, ab.
({10})
Liegen geblieben ist die Biopatent-Richtlinie. Die Umsetzungsfrist ist abgelaufen. Die Bundesrepublik Deutschland kommt der Pflicht, gesetzgeberisch tätig zu werden,
in einem wichtigen Bereich nicht nach, nämlich im Bereich des Schutzes biotechnologischer Erfindungen, also
der Patentierbarkeit menschlicher Gene und menschlicher
Gensequenzen. Das ist eine Grundsatzfrage, weil es darum geht, die ethischen Grenzen von freier Forschungstätigkeit rechtlich festzulegen. Sie haben dieses Thema
nicht einmal erwähnt.
Sie haben auch nicht den Reparaturbedarf Ihrer eigenen Politik erwähnt. Wie ist denn die Wirkung der Zivilprozessreform, bei der wir das Schlimmste haben verhindern können? Es gibt Überlastung und mehr
Bürokratisierung. Im Bereich des Schuldrechts gibt es allemal Reparaturbedarf rot-grüner Rechtspolitik.
({11})
Wir möchten diese Debatte nutzen - damit komme ich
zum entscheidenden Punkt -, um unsere Leitlinien von
Rechtspolitik darzustellen. Rechtspolitik darf sich nicht
verstehen als das Schräubchendrehen an irgendwelchen
Stellen. Sie muss vielmehr aus einem Guss sein.
Wir haben im Wesentlichen zwei Leitlinien, an denen
wir die Rechtspolitik messen, eine für den Bereich der Gesellschaft und eine für den Bereich des Staates. In dem Bereich der Gesellschaft drückt sich unsere Leitlinie in der
Auffassung aus, dass das Recht Freiheit sichern soll. Das
ist die Aufgabe des Rechts in der Gesellschaft. Ich werde
gleich etwas dazu sagen, wie es um diesen Maßstab bestellt ist.
Im staatlichen Bereich geht es nach unserer Auffassung
um die Wiederherstellung staatlicher Entscheidungsfähigkeit, die die einzelnen Ebenen von der Gemeinde bis
zur Europäischen Union in unterschiedlicher Weise verloren haben.
Was ist damit gemeint, dass das Recht die Freiheit sichern soll? Nach unserer Auffassung liegt das Problem
darin, dass der Anspruch des Rechts, Freiheit zu sichern,
unter einer doppelten Störung leidet. Einerseits haben wir
in vielen Lebensbereichen eine freiheitsbeschränkende
Überregulierung. Der Staat tut zu viel; er beschränkt die
Eigeninitiative und den Gemeinsinn der Bürger. Er erdrosselt sozusagen die Freiheit. Andererseits gibt es eine
Inaktivität des Staates gerade in den Bereichen, wo die
Bürger überfordert sind und wo sie des staatlichen
Schutzes bedürfen. Dort handelt der Staat nicht.
({12})
- Ich komme dieser Aufforderung, Beispiele zu nennen,
sehr gerne nach.
Ich will zunächst ein Beispiel für die Überregulierung
nennen. Natürlich ist die Therapie Deregulierung. Das ist
nicht sehr originell, sondern die mangelhafte Deregulierung ist die Beschreibung des Problems. Wir haben erwartet, dass Sie Vorschläge liefern. Wie wollen Sie des
permanenten und unbegrenzten Wachstums staatlicher
Regulierung Herr werden?
({13})
Wir schlagen vor - ich will dazu sagen, dass wir es nur
gemeinsam schaffen können -, dass es eine institutionalisierte Gesetzesfolgenabschätzung im Gesetzgebungsverfahren gibt. Die Rubrik „Folgekosten“, unter der meist
„keine“ steht, reicht nicht aus. Wir plädieren ferner für
eine Befristung von Gesetzen. Warum soll ein Gesetz
immer für alle Ewigkeit wirksam sein?
({14})
Warum soll man nicht nach beispielsweise drei Jahren ein
Gesetz unter dem Gesichtspunkt bewerten, ob es sich bewährt hat?
({15})
- Hören Sie einfach zu! Sie können nachher Ihre Vorschläge machen. Das ist doch viel sinnvoller.
Wir brauchen weiterhin eine Veränderung im Selbstverständnis des Bundesjustizministeriums und der Bundesjustizministerin. Wenn Sie sich als eine Justizministerin verstehen sollten, die nur für die Justizpolitik im
engeren Sinne zuständig ist, dann werden wir dieses Problem der mangelhaften Deregulierung nicht in den Begriff
bekommen. Wenn Sie der Auffassung sind, dass Sie allein
für die Justizpolitik zuständig sind und dass Arbeitsrecht
im Arbeitsministerium, Familienrecht im Familienministerium und Umweltrecht im Umweltministerium gemacht
wird, wenn Sie nicht verstehen, dass es die Aufgabe der
Rechtspolitik ist, sich um die Rechtsordnung als
Ganzes, um die Konsistenz der Regelungen und um die
Beschränkung der Rechtsmasse zu sorgen, dann werden
Sie an Ihrer Aufgabe scheitern.
({16})
Wir fordern Sie daher auf, Ihr Amt als eine Koordinierungsstelle für die Gesetzgebung in den Ministerien und
nicht als eine periphere Tätigkeit zu verstehen. Diese
Rolle muss es geben!
Wenn Sie nach vier Jahren nicht nur auf die neuen Gesetze, die durch Rot-Grün verabschiedet worden sind,
stolz sind, sondern auch bilanzierend auflisten, welche
Gesetze Sie verhindert haben, dann werden Sie wahrscheinlich mit unserem Beifall rechnen können. Wir haben keinen Mangel an Gesetzen, sondern brauchen die
Beschränkung der gesetzgeberischen Tätigkeit.
({17})
In anderen Bereichen haben wir das glatte Gegenteil:
gesetzgeberische Inaktivität. Es hat im Bundesjustizministerium in den letzten vier Jahren einen Ausnahmebereich
im Hinblick auf gesetzgeberische Tätigkeit gegeben: Das
war die innere Sicherheit.
({18})
Dort ist kategorisch nichts passiert. Dies betrifft die Massenalltagskriminalität, etwa Graffiti - Eigentumsverletzungen,
({19})
und beispielsweise die Jugendkriminalität. Über 30 Prozent der Tatverdächtigen sind unter 21 Jahre alt.
({20})
Gleichzeitig haben wir ein mangelhaftes Jugendstrafrecht, von dem einige Experten sagen, es sei verfassungswidrig, wie wenig gemacht worden sei. Wir müssen
den Jugendlichen klar machen: Es gibt eine Grenze, wenn
sie kriminell werden. Darum halten wir es für falsch, in
der Praxis auf junge Erwachsene, auf 18- bis 21-Jährige,
regelmäßig das Jugendstrafrecht anzuwenden und nicht
das Erwachsenenstrafrecht.
({21})
Wir müssen die jungen Erwachsenen, auch wenn sie kriminell werden, ernst nehmen und ihnen sagen, wo die
Grenzen sind. Dies muss deutlich werden.
({22})
Wir brauchen eine Umkehrung dieses Verhältnisses.
Aber dann müssen wir uns um die Jugendlichen auch
kümmern. Therapieangebote werden benötigt. Es ist Aufgabe des Staates, sich darum zu kümmern. Auch dort
kommen Sie Ihrer Aufgabe nicht nach. Es reicht nicht, allgemein zu reden. Hier ist konkrete Arbeit zu tun.
Ich komme zu den Bereichen Kronzeugenregelung und
nachträgliche Sicherungsverwahrung. Hier ist ein eklatantes Versagen, eine Inaktivität der rot-grünen Bundesregierung zu verzeichnen.
({23})
Diese beiden Bereiche sind keine, von denen man sagen
kann, dass sie toll sind. Es sind keine Hurra-Themen, sondern Kompromissthemen.
Kronzeugenregelung heißt: Der individuelle Täter erhält nicht die volle Strafe, die ihm für sein Verbrechen eigentlich gebührt. Es ist ein rechtsstaatlicher Kompromiss,
dass er ohne Strafe oder mit Strafmilderung ausgeht, weil er
andere Verbrechen verhindert oder zur Aufklärung anderer
Taten beiträgt. Auch Sie von der SPD wollen dies. Sie sind
aber eine politische Geisel Ihres grünen Koalitionspartners.
({24})
Emanzipieren Sie sich! Machen Sie von der großen Mehrheit in diesem Haus Gebrauch! Wir bzw. 90 Prozent des
Hauses wollen die Kronzeugenregelung. Wegen Ihres
Partners kommt es nicht dazu.
Auch die von Ihnen benannten Experten im Rechtsausschuss haben ausgeführt, dass wir die Kronzeugenregelung
brauchen, um in die Strukturen der organisierten Kriminalität eindringen zu können. Reden Sie nicht nur allgemein von der Bekämpfung der organisierten Kriminalität!
Handeln Sie! Sie haben es vier Jahre lang nicht getan.
({25})
Die gleiche Situation besteht beim Thema nachträgliche Sicherungsverwahrung. Ich sage es ganz ruhig,
obwohl hier meiner Meinung nach eine unerträgliche
Lücke im Schutzsystem des Staates besteht.
({26})
Wir reden über den Fall, dass ein Sexualstraftäter zwar wegen eines Verbrechens verurteilt worden ist, bei der Verurteilung aber nicht erkannt wurde, dass dieser Straftäter
krank ist, und sich die krankhafte Veranlagung dieses Täters erst während der Haft herausstellt. Während der Haft
sagen die Therapeuten also: Der Täter ist krank und aufgrund seiner Krankheit gefährlich. - In diesem Fall besteht
bis auf den heutigen Tag keine strafrechtliche Möglichkeit,
({27})
diesen Verbrecher in eine psychiatrische Klinik einzuweisen. Die brutale Wahrheit in unserem Land ist, dass dieser
Täter erst noch einmal ein Verbrechen begehen muss, bevor es nach jetzigem Recht die Möglichkeit gibt, ihn abzuurteilen und einzuweisen.
({28})
Sie leisten sich in diesem Bereich eine unerträgliche
Lücke. Sie muss geschlossen werden.
({29})
Es ist unverantwortlich, dies nicht zu tun.
({30})
Am unverantwortlichsten ist der Bundeskanzler. Jedes
Mal, wenn ein schlimmes Verbrechen geschieht, kommen
markige, martialische Worte: Wegschließen, und zwar für
immer! - Das ist die Terminologie Ihres Bundeskanzlers.
Das ist aus drei Gründen unverantwortlich: Erstens täuscht
er die Bevölkerung, indem er so tut, als ob der Staat etwas
unternimmt. In Wahrheit tut der Staat nichts. Zweitens ist
dies Stimmungsmache und kein rationales Verhalten. Drittens gibt es auch eine Verantwortung gegenüber den Tätern.
({31})
Auch Täter sind Menschen. Auch bei Tätern kann man
nicht von Wegschließen sprechen und ihnen keine Lebensperspektive geben. Wer Stimmung macht und gleichzeitig nichts tut, handelt unverantwortlich. An dieser
Stelle müssen Sie handeln!
({32})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Dr. Wiefelspütz?
({0})
Sehr gern.
Herr Wiefelspütz, Ihnen gratulieren wir auf diesem
Wege herzlich.
Herr Kollege, Sie sprachen gerade von Stimmungsmache, was ich bemerkenswert finde. Haben Sie eigentlich
zur Kenntnis genommen, dass Sie für Ihre Position hier
im Parlament nicht einmal ansatzweise in die Nähe einer
Mehrheit gekommen sind, dass Sie eine Minderheitsposition vertreten, und zwar nicht nur hier im Parlament, sondern auch im rechtswissenschaftlichen Bereich? Nehmen
Sie zur Kenntnis, dass die Kernthese vieler, die darüber
debattieren - die Literatur ist voll davon -, lautet: Die
äußerste Grenze dessen, was wir rechtsstaatlich machen
dürfen - darüber ist auch im Parlament sehr intensiv diskutiert worden -, ist die vorbehaltene Sicherungsverwahrung, die wir, Rot-Grün, am Ende der letzten Wahlperiode auf Initiative des Bundeskanzlers, der uns, wenn
Sie so wollen, einen Arbeitsauftrag erteilt hat, durchgesetzt haben.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es in der
Tat nicht um Stimmungsmache, sondern um eine sorgfältige Abwägung der widerstreitenden Interessen - und das
immer im Rahmen strikter Rechtsstaatlichkeit - geht?
({0})
Ich bin bereit, die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen.
Tatsache ist, dass wir für unsere Position in diesem Hause
keine Mehrheit haben. Das wird uns aber nicht davon abbringen, dafür zu streiten und uns dafür einzusetzen, dass
diese Lücke zum Schutz von Kindern und Frauen geschlossen wird.
({0})
Wir streiten für unsere Position in der Erwartung, eine
Mehrheit zu bekommen.
Ich nehme zur Kenntnis, dass diese Frage rechtswissenschaftlich - wie im Grunde fast alle Fragen - eine umstrittene Frage ist. Hier gibt es keine Mehr- oder Minderheit. - Herr Kollege Wiefelspütz, ich beantworte noch
Ihre Frage; bitte bleiben Sie stehen. Die betroffenen
Richter - reden Sie einmal mit dem Richterbund - befürworten diese Maßnahme aus der tagtäglichen Erfahrung
in ganz großer Mehrheit.
({1})
Die Praktiker befürworten sie in großer Mehrheit; vielleicht nehmen Sie sie nicht zur Kenntnis.
Nun eine letzte Bemerkung zu Ihrer Vorbehaltslösung.
Die Vorbehaltslösung, zu der Sie sich in letzter Sekunde
in der letzten Legislaturperiode bereit erklärt haben,
({2})
ist Ausdruck dafür, dass Sie es nicht mehr durchgehalten
haben, gar nichts zu tun und jede Aktivität zu verweigern.
Deshalb sind wir ganz guter Dinge, dass wir noch zu einer Lösung kommen werden. Die Vorbehaltslösung ist die
schlechteste Lösung von allen.
({3})
Sie bietet erstens natürlich nicht die Möglichkeit der
Rückwirkung. Für Täter, die bereits einsitzen, wirkt diese
Lösung nicht. Hier gilt weiterhin das Gefährdungspotenzial, das Sie bestätigt haben, indem Sie etwas getan haben.
Sie sagen doch: Es muss diese Möglichkeit geben. Mit Ihrer Lösung schließen Sie diejenigen aus, die bereits verurteilt worden sind. Dieses Risiko gehen Sie ganz offensichtlich ein.
Ich halte es zweitens rechtsstaatlich - ich habe schon
die Grundrechte von Tätern angesprochen - und verfassungsrechtlich für hoch problematisch, wenn der Staat einem Bürger sagt, du bist vielleicht krank, du bist vielleicht
gefährlich, du wirst vielleicht in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen, aber wir wissen es noch nicht. Reden Sie einmal mit den Praktikern in den Gerichten. Wie
soll der Richter den Vorbehalt handhaben? Er sagt, ich
habe keine Gewissheit darüber, dass er gefährlich ist, wie
soll ich denn eine Prognose machen? Das führt dann vielleicht zur Zurückhaltung und es kommt nicht zum Vorbehalt. Damit ist auch die Möglichkeit ausgeschlossen, die
Sicherungsverwahrung anzuordnen.
Ich glaube, die Frage ist jetzt ausreichend beantwortet.
Herr Wiefelspütz, Sie können sich gern setzen.
Herr Röttgen, Sie haben mit der Beantwortung Ihre Redezeit reichlich strecken können.
Nein, es gibt nur ein Instrument: Geben Sie Ihren politischen, auch koalitionspolitisch bedingten und dort zum
Teil ideologischen Widerstand auf! Tun Sie etwas für den
Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen, krankhaften
Sexualstraftätern!
({0})
Ich komme zu einer weiteren Leitlinie: die Wiederherstellung staatlicher Entscheidungsfähigkeit in unserem Land. Wir haben sie weitgehend eingebüßt. Ich
fange bei den Gemeinden an, die - egal ob rot, rot-grünoder CDU-geführt - finanziell ausgezehrt sind. Die Gemeinden in Deutschland haben nicht mehr die finanzielle
Basis, um ihre Aufgaben der gemeindlichen Selbstverwaltung ausüben zu können. Darum brauchen wir eine
Gemeindefinanzreform, die aber nicht darin bestehen
kann, dass wir die Steuerlast erhöhen. Vielmehr müssen
wir über eine andere Verteilung des Rechts, Steuern zu erheben, reden. Dafür setzen wir uns ein.
Wir setzen uns für eine Reform des Föderalismus ein,
also der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern, die wir brauchen. Unser Föderalismus ist in schlechter
Verfassung. Nach unseren Vorstellungen sollen die Bundesländer Gestaltungsmacht zurückerhalten und Blockademacht abgeben. Wir brauchen neue Zuständigkeiten.
({1})
Die Erfahrungen mit dem Blockadeexzess, den Sie nach
dem Motto „zuerst das Parteiwohl, dann die Staatsräson“
betrieben haben,
({2})
sprechen sicherlich auch für diese Reform.
({3})
Auf Ihrer Seite hat es bewiesenermaßen die Bereitschaft
gegeben, den Föderalismus zu parteipolitischen Zwecken
zu missbrauchen.
Weil mir die Zeit wegläuft, komme ich zu einem letzten Thema, der Europapolitik.
Aber nur eine letzte Bemerkung!
Letzte Bemerkung: Die europäische Dimension des
Rechts ist in Ihrer Rede auch nicht vorgekommen. Deshalb muss ich leider zu der Schlussfolgerung kommen,
dass diese Antrittsrede in ihrer Allgemeinheit enttäuschend war und die konkreten Probleme nicht angesprochen hat. Gott sei Dank gibt es aber eine christdemokratische und christsoziale Alternative. Die werden wir Ihnen
immer wieder vorhalten.
({0})
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim
Hacker.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Röttgen, Sie haben Ihre Rede mit schönen
Freundlichkeiten begonnen. Dies hat jedoch nicht lange
angehalten, sondern Sie glitten ab in eine platte Agitation.
Ich finde, das lässt für die nächsten vier Jahre, die vor uns
liegen, nichts Gutes ahnen. Ich hätte schon gedacht, dass
wir - auch im Rechtsausschuss - jetzt einen neuen Start
suchen, um dort in einer konstruktiven Art und Weise an
den Problemen zu arbeiten, die vor uns liegen,
({0})
statt in dieser populistischen Art und Weise miteinander
zu streiten.
({1})
Ich glaube, Herr Röttgen, Sie haben den 22. September
noch nicht richtig verarbeitet. Daran können Sie noch ein
wenig arbeiten.
({2})
Dann können wir vielleicht auch hier im Plenum und im
Rechtsausschuss auf einer anderen Ebene arbeiten, sodass
am Ende auch etwas herauskommt.
({3})
Ich lade Sie dazu ein, Herr Röttgen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, hinter uns
liegt eine Legislaturperiode, für die Rot-Grün eine erfolgreiche Reformpolitik im Bereich der Innen- und Rechtspolitik vorweisen kann. Die SPD-Bundestagsfraktion will
diesen Weg gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen weitergehen und das werden wir auch tun.
Schreckliche Ereignisse und die Ausbreitung des internationalen Terrorismus, für den die Anschläge des
11. September 2001 stehen, haben auch auf die deutsche
Politik Auswirkungen gehabt. Die Bundesregierung und
die Koalitionsfraktionen haben gehandelt. Wir haben uns
den Herausforderungen gestellt und wir haben überlegt
gehandelt. Wir haben den Gruppierungen, von denen
Terror und Gewalt ausgehen, den Kampf angesagt und
gleichzeitig erklärt, dass - soweit es geht - die politischen und ökonomischen Wurzeln, aus denen sich
Gewalt, Hass und Terror in diese Welt ergießen, beseitigt
werden müssen. Hierfür und für den Wiederaufbau ehemaliger Krisengebiete wendet die Bundesrepublik
Deutschland enorme finanzielle und materielle Mittel
auf. Die Koalition wird ihre erfolgreiche Politik zur
Wahrung der inneren Sicherheit fortsetzen. Dies gilt
für die Bekämpfung von Terrorismus und organisierter
Kriminalität ebenso wie für die Bekämpfung der Alltagskriminalität.
Der europäische Raum der Sicherheit, der Freiheit
und des Rechts muss entsprechend den Beschlüssen von
Tampere ausgebaut werden. Das umfasst auch die weitere
Harmonisierung der europäischen Flüchtlings- und Einwanderungspolitik. Die Zuwanderung in die Europäische
Union muss sinnvoll gesteuert werden und die europäische Polizeibehörde Europol soll zu einer mit Ermittlungsbefugnissen ausgestatteten Gemeinschaftseinrichtung ausgebaut werden. Die bilaterale und multilaterale
Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Terrorismus
und organisierter Kriminalität wird verstärkt werden.
Wir meinen, dass Sicherheit und der Schutz vor Übergriffen, vor Verbrechen und Terror, ein Grundrecht für
alle Bürgerinnen und Bürger ist. Dafür, dies zu garantieren, ist die Politik verantwortlich.
Die Förderung von Toleranz, die Achtung von Minderheiten und ihrer Rechte sowie die Ermöglichung von
Selbstbestimmung der Menschen sind Leitziele unserer
Politik. Wir handeln danach. Wir gestalten Einwanderung, schützen Flüchtlinge und fördern Integration. Wir
werden das Zuwanderungsgesetz im Sinne seiner Zielstellung zügig umsetzen.
({4})
Dabei sind wir uns der breiten Zustimmung und Unterstützung aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen wie den Gewerkschaften, den Arbeitgeberverbänden
und den Kirchen sicher.
({5})
Sie, meine Damen und Herren von der Union, sollten endlich - das sage ich hier mit Nachdruck - Ihre Blockadehaltung gegenüber einer modernen Zuwanderungspolitik
aufgeben.
({6})
Was haben wir mit dem Zuwanderungsgesetz beabsichtigt und verwirklicht? Entscheidende Elemente sind
einerseits die Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung, andererseits der humanitäre Schutz, die Integration,
die Beschleunigung von Asylverfahren und - auch das
gehört dazu - die verbesserte Durchsetzung von Ausreisepflichten.
Darüber hinaus ist für uns die nachholende Integration von in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten eine wichtige Frage. Unsere Integrationspolitik
ist Querschnittspolitik. Dazu gehört auch ein modernes
Staatsangehörigkeitsrecht. Wir werden die Anstrengungen fortsetzen, mit einer umfassenden Integrationspolitik
die Fehler und Versäumnisse der so genannten Gastarbeiterära zu korrigieren. Die Instrumentalisierung des Themas durch die CDU im hessischen Wahlkampf war
beispiellos und unerträglich. Sie haben mit dumpfen Gefühlen gespielt und bewusst Unwahrheiten verbreitet. Das
darf sich nicht wiederholen.
({7})
Ich fordere die Opposition an dieser Stelle auf: Unterstützen Sie unsere Politik, eine Politik des inneren Friedens in
Deutschland.
Zur Abwehr von Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus werden wir Handlungs- und
Vorbeugungsstrategien für Toleranz und gegen Gewalt
weiter ausbauen. Wir werden die Korruption verstärkt
bekämpfen. Die Zielsetzung, die wir mit der Gesetzesinitiative zur Einrichtung eines Korruptionsregisters verbinden, verfolgen wir weiter und prüfen im Übrigen
weitere konkrete Maßnahmen, die sich aus der Korruptionsrichtlinie der Bundesregierung ergeben.
Wir wollen auch die demokratische Teilhabe der Bevölkerung an unserem demokratischen Gemeinwesen fördern. Wir werden unser Ziel weiterverfolgen, Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene
auf der Basis des Gesetzentwurfes aus der 14. Legislaturperiode einzuführen.
({8})
Wir werden prüfen, wie der gesetzliche Rahmen für
die Freiwilligenarbeit weiterentwickelt und verbessert
werden kann und wie Initiativen zur Verbesserung des
freiwilligen Engagements in der Gesellschaft auf eine
breitere Grundlage gestellt werden können. Bürgerschaftliches Engagement ist für den Zusammenhalt in
unserer Gesellschaft unverzichtbar. Wir wollen deshalb
auch in Zukunft die Vielfalt dieses Engagements unterstützen. Dazu wollen wir die Ergebnisse aus der Arbeit der
Enquete-Kommission „Bürgerschaftliches Engagement“
aufgreifen und damit die Erwartung der Bürgerinnen und
Bürger in Deutschland sowie der Verbände und Vereine
erfüllen, dass der Analyse konkrete Taten folgen. Das soll
in den nächsten vier Jahren geschehen.
({9})
Ich spreche hier ein weiteres Thema an, das nicht nur
uns, sondern auch die breite Bevölkerung interessiert,
nämlich den Sport. Dieses Thema spielt nicht nur am Wochenende eine Rolle. Wir können hier im Hohen Haus
dazu einiges vorweisen. Wir wollen in diesem Bereich
ganz konkrete Punkte nennen, an deren Umsetzung wir
nach vier Jahren gemessen werden können.
Die Regierungskoalition wird den Leistungssport weiterhin auf hohem Niveau fördern. Das schließt die Förderung des Spitzensports durch die Bundeswehr und den
Bundesgrenzschutz - oder wie immer der Bundesgrenzschutz später einmal benannt werden wird, Herr Minister - ein. Ebenso stärken wir den Behindertensport. Für
mich ist auch wichtig, dass der Goldene Plan Ost verlängert wird. Damit wird sich die Sportstättensituation für
den Breitensport in den neuen Ländern weiter verbessern.
Darüber hinaus sind natürlich auch die neuen Länder
aufgefordert, mit Finanzmitteln des Solidarpaktes II verstärkt Sportstätten zu modernisieren. Ich spreche das hier
auch mit Blick auf die Länderbank ganz bewusst an; denn
so können wir auch in diesem Bereich, der für uns ebenfalls wichtig ist, einen aktiven Beitrag zur Angleichung
der Lebensverhältnisse in Deutschland leisten.
({10})
Die Dopingbekämpfung werden wir auf hohem Niveau fortführen. Die Zahl der Dopingkontrollen soll erhöht werden. Die Nationale Doping-Agentur wird ihre
Arbeit in Kürze aufnehmen.
Meine Damen und Herren, ich spreche nun zu einem
Themenbereich, den Herr Röttgen hier sehr kritisch beleuchtet hat. Ich komme - das wird Sie nicht wundern zu einem ganz anderen Ergebnis. Die Bundesregierung
und die beiden Fraktionen können im Bereich der Rechtspolitik für die 14. Legislaturperiode nämlich eine gute Bilanz vorlegen.
({11})
Wir können Reformergebnisse vorweisen, die sich wirklich sehen lassen können. Diese will ich, Herr Röttgen,
meine Damen und Herren von der Union, mit Blick auf
die Uhr ganz kurz zusammenfassen: Wir haben die Hilfe
für Schwächere in der Gesellschaft, insbesondere für Opfer von Gewalt, Kriminalität und Rechtsextremismus
durch das Gewaltschutzgesetz verstärkt.
Wir haben die Toleranz gegenüber anderen Lebensformen gestärkt und Diskriminierungen abgebaut. Ich verweise insbesondere auf die Einführung der eingetragenen
Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Partner.
Das war eine wichtige Gesetzgebung. Ich bitte Sie, auf
diesem Weg mitzugehen.
Wir haben die Modernisierung von zentralen Rechtsgebieten, wie des Zivilprozesses, des Schuld- und des Aktienrechts, im Auge gehabt. Durch die Modernisierungen,
die wir vorgenommen haben, haben wir erreicht, dass die
Regelungen transparenter und für die Beteiligten verständlicher gestaltet wurden. Wir haben die europäische
Zusammenarbeit im Rechtsbereich weiterentwickelt, eine
wichtige Aufgabe, die in Zukunft an Bedeutung gewinnen
wird.
Herr Röttgen, Sie haben Recht.
({12})
- Was Recht ist, muss Recht bleiben. - In der letzten Legislaturperiode ist es nicht gelungen, die BRAGO zu novellieren.
({13})
Das besondere Problem der unterschiedlichen Gebührensätze ist uns allen bekannt. Ich spreche hier insbesondere für die Kollegen im Rechtsbereich. Wir alle wissen
aber auch - das haben Sie an dieser Stelle allerdings nicht
angesprochen -, dass da ein inhaltlicher Zusammenhang
zum Justizkostengesetz besteht.
Ich will, ohne das Ganze auszuweiten, zwei Punkte ansprechen, die aus meiner Sicht sehr wichtig sind und geklärt werden müssen, wenn wir zu einer Novellierung
kommen wollen. Herr Funke, ich schaue dabei auch in
Ihre Richtung.
Zum einen müssen wir zu einem Konsens mit den Ländern kommen. Wir alle wissen, dass dieses Gesetz durch
den Bundesrat muss. Wenn wir eine Regelung vorlegen,
die im Bundesrat nicht die Chance auf Annahme hat
- Herr Funke, ich schaue noch einmal in Ihre Richtung -,
dann ist unsere Mühe umsonst. Die Länder müssen also in
die Konsensfindung eingebunden werden. Wir müssen
eine Regelung vorlegen, die die Chance hat, im Bundesrat akzeptiert zu werden.
Zum anderen müssen die Vorschläge solide sein und
dürfen nicht von vornherein darauf angelegt sein, dass sie
ins Leere laufen. Mein Vorwurf geht in die Richtung der
FDP, Herr Funke. Sie hatten Vorschläge unterbreitet, die
im Bundesrat keine Chance gehabt hätten. Wir wären mit
dieser Initiative gescheitert.
({14})
Ziehen wir aber nun einen Strich darunter, die 14. Legislaturperiode ist schließlich zu Ende; wird sind jetzt in
der 15.
({15})
- Wir haben einen Teil der Gebührenangleichung schon
durchgeführt. Das scheinen Sie nicht zu wissen. - Ich
halte fest: Die Gebührenangleichung in der BRAGO speziell für die neuen Länder bleibt ein zu lösendes Problem.
Die SPD-Bundestagsfraktion signalisiert Gesprächs- und
Lösungsbereitschaft. Dazu werden wir stehen. Wir bitten
aber, fundierte Gespräche zu führen und Vorschläge zu
unterbreiten, die am Ende die Chance haben, im Gesetzblatt abgedruckt zu werden.
Für den Bereich der Justizpolitik gilt: Rot-Grün bleibt
dem Ziel treu, Deutschland weiter zu modernisieren und
fit für den internationalen Wettbewerb zu machen. Der
Schutz der Bürgerrechte ist und bleibt zentrales Thema
unserer Justizpolitik.
({16})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme
am Ende meiner Rede auf zwei Punkte zu sprechen, die
insbesondere aus der Sicht der neuen Länder eine Rolle
spielen, die uns im Rechtsausschuss schon seit vielen
Jahren beschäftigen und die hier aus historischer Verantwortung heraus noch einmal angesprochen werden sollten.
Der eine Punkt betrifft die Frage, wie wir mit den Opfern der SED-Diktatur umgehen. Wir haben festgestellt,
dass das, was die damalige Regierung vorgelegt hatte,
fehlerhafte Gesetze zur Beseitigung von SED-Unrecht
und zur Rehabilitierung waren. In der letzten Legislaturperiode haben wir die Zusagen eingelöst, die wir den
Opferverbänden gegeben haben. Wir haben eine Novellierung in Kraft gesetzt, durch die die Opfer des SEDRegimes deutlich besser gestellt worden sind. Dafür haben
wir einen Betrag von mehreren Millionen zur Verfügung
gestellt. Das betrifft sowohl die Opfer des SED-Regimes
als auch die Lösung von offenen Problemen auf dem Gebiet des Kriegsfolgenrechts.
({17})
- Herr Büttner, zu Ihnen sage ich: Die Vorschläge, die Sie
jetzt, zwölf Jahre nach der deutschen Einheit, bringen,
hätten Sie zwei Jahre nach der deutschen Einheit bringen
können.
({18})
Ich frage Sie: Warum haben Sie die 1994 nicht gebracht?
Warum haben Sie die auch 1996 nicht gebracht? Sie bringen hier wieder - das ist eine unerträgliche Kombination das AAÜG-Problem mit den Entschädigungsleistungen
für die SED-Opfer in Verbindung. Das ist rechtsstaatlich
nicht haltbar. Lassen Sie es; das gehört nicht zusammen.
Sie hätten das längst - 1994 oder auch 1996 - regeln können.
Sie wissen genau, dass die Systematik der Entschädigung der Opfer von staatlicher Gewalt und auch der Entschädigung der Opfer des Dritten Reiches in eine schwere
Schieflage gekommen wäre, wenn wir Ihre Vorschläge
aufgegriffen hätten. Allein deswegen konnten wir sie
nicht aufgreifen. Ich bitte Sie: Kommen Sie von dem Populismus ab, den Betroffenen wenige Wochen vor der
Bundestagswahl Vorschläge zu unterbreiten, die Sie jahrelang - fast ein Jahrzehnt lang - nicht verfolgt haben.
({19})
Dieses Problem stellt sich in umgedrehter Weise allerdings auch bei der Novellierung des Stasi-UnterlagenGesetzes. Ich muss an dieser Stelle noch einmal daran
erinnern, dass es eine Koalition der Vernunft und Verantwortung gab. Herr Büttner, diese haben Sie aufgegeben.
({20})
Herr Kollege Hacker, ich bitte Sie, zum Schluss zu
kommen.
Ich komme zum Schluss, Herr Vorsitzender. - Sie haben einen Eiertanz vollführt. Ich bin froh, dass wir am
Ende - auch unter Mitwirkung der FDP - noch eine Novellierung erreicht haben. An die Adresse der Union sage
ich: So kann es nicht weitergehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit der deutschen Einheit haben wir viel erreicht. Der Wähler hat RotGrün erneut die Mehrheit im Deutschen Bundestag verschafft. Wir stellen uns dieser Verantwortung. Ich lade
insbesondere Sie von der Union, aber auch Sie von der
FDP ein, im Rechts- und im Innenausschuss in dem Sinne,
wie es die Bundesministerin angeboten hat, Lösungen
sachgerecht und problemorientiert zu diskutieren. Schlagen Sie die ausgestreckte Hand bitte nicht aus.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Rainer Funke von der FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, als rechtspolitischer Sprecher der FDP beglückwünsche ich Sie zunächst herzlich. Dieser Glückwunsch
geht natürlich auch an die Adresse des Kollegen Alfred
Hartenbach. Wir freuen uns, mit Ihnen gemeinsam an der
deutschen Rechtsordnung arbeiten zu können. Ich sichere
Ihnen zu, dass wir gemeinsam versuchen werden, die vor
uns liegenden Probleme im rechtspolitischen Bereich
konstruktiv zu lösen.
({0})
Wenn man die Koalitionsvereinbarung liest oder heute
die Regierungserklärung gehört hat, könnte man zunächst
glauben, dass nach Auffassung der Koalitionsfraktionen
Rechtspolitik in dieser Legislaturperiode gar nicht stattzufinden braucht. Sie, Frau Ministerin, haben das eben etwas dezidierter ausgeführt. Allerdings haben auch Sie
sich sehr im Allgemeinen gehalten. Das war auch gut so;
denn man kann heute nicht alle Probleme lösen. Es war
auch angenehm, dass die Debatte nicht in einem verletzenden, wie es sonst üblich war, sondern in einem angemessenen Ton geführt wurde.
({1})
Meine Damen und Herren, wir müssen natürlich eine
ganze Reihe von Gesetzesinitiativen aufgreifen, die zum
Teil - zum Beispiel von Ihrer Kollegin Frau von Renesse in einem interfraktionellen Arbeitskreis aufgenommen
worden sind. Ich spreche jetzt vom Betreuungsrecht. Ich
meine, wir sind es der Kollegin von Renesse schuldig,
dass wir an diesem Betreuungsrecht weiter arbeiten. Wir
benötigen nämlich auch im Interesse der Länder ein praktikables Betreuungsrecht.
({2})
Das ist eine Sache, die bislang noch nicht erwähnt worden
ist. Deswegen versuche ich, es in die Debatte einzuführen.
Dasselbe gilt für die Neuordnung des Strafsanktionensystems. Sie wissen, dass auch diese Frage liegen geblieben ist. Wir hatten schon in der 13. Legislaturperiode
eine Kommission eingesetzt, die in der letzten Legislaturperiode gearbeitet hat. Die Beschlüsse dieser Kommission müssen wir jetzt umsetzen.
({3})
- Sicherlich nicht alle. Aber wir müssen sie miteinander
diskutieren. Dasselbe gilt für viele Fragen des Jugendstrafrechts.
Auch Fragen des Wirtschafts- und Zivilrechts werden
im Koalitionsabkommen überhaupt nicht behandelt, obwohl sie aufgrund europäischer Vorgaben und auslaufender Gesetze - ich erinnere zum Beispiel an das Bilanzrecht des HGB - unbedingt angegangen werden müssen.
Dazu zählt im Übrigen auch das Urheberrecht. Dazu gibt
es eine Reihe von europäischen Richtlinien, die unter anderem wegen der Digitalisierung umgesetzt werden müssen. Ich habe das Bilanzrecht erwähnt, das nicht nur, wie
Sie es ausgedrückt haben, die Bilanzbuchhalter erfreuen
soll, sondern das Fragen der internationalen Wettbewerbsordnung enthält. Diese Fragen müssen wir aufnehmen,
weil die entsprechenden Gesetze am 31. Dezember 2004
auslaufen. Wir brauchen eine gewisse Vorlaufzeit. Deswegen eilt es etwas.
Dasselbe gilt für die Novellierung des Versicherungsvertragsgesetzes. Daran hat eine Kommission unter Professor Niederleithinger gearbeitet. Ich glaube, dass davon
vieles übernommen werden kann. Gleiches lässt sich über
die Kommissionsarbeit zum Corporate Governance, also
zur Novellierung des Aktienrechtes, sagen, die weit gediehen ist. Dies sollten wir genauso wie die Vorschläge
zum Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb und zum
Markenrecht alsbald umsetzen. All das ist bislang im Koalitionsabkommen nicht enthalten und kam in der Regierungserklärung nicht vor. Da muss kräftig nachgebessert
werden.
Im Übrigen ist weiterhin das Thema der Anwaltsgebühren aktuell. Wir können den Anwälten nach acht
Jahren Stillstand, also keinerlei Gebührenerhöhung, nicht
immer versprechen, etwas zu machen, wie es die vorangegangene Ministerin getan hat, und sie dann auflaufen
lassen.
({4})
Die Anwälte fühlen sich im wahrsten Sinne verraten und
verkauft. Das darf man nicht machen.
({5})
- Ich kenne das Gesetz. Danach rechne ich genau wie Sie,
Kollege Ströbele, ab. Aber dass es nicht ausreichend ist,
das wissen Sie ganz genau. Es müssen strukturelle und
auch lineare Verbesserungen vorgenommen werden.
({6})
Dasselbe gilt im Übrigen natürlich auch für das
Rechtsberatungsgesetz. Wir können das Rechtsberatungsgesetz, das ja ein Verbraucherschutzgesetz ist - es ist
kein Schutzgesetz für die Rechtsanwälte -, nicht so ohne
weiteres verändern, wie Sie sich das offensichtlich in Ihrer Koalitionsvereinbarung vorgestellt haben. Das ist
wohl auf Wunsch der Grünen aufgenommen worden. Dies
halte ich für falsch. Wir müssen an die Verbraucher denken. Die Verbraucher dürfen nicht von Leuten rechtlich
beraten werden, die davon nichts verstehen.
({7})
In der Rechtspolitik haben wir also reichlich zu tun.
Die Regierung sollte bald erkennen lassen, in welche
Richtung sie denkt und was konkret geschehen soll. Wir
sind bereit, konstruktiv mitzuarbeiten und den Dialog zu
suchen. Wir hoffen sehr, dass in die Rechtspolitik und in
den Rechtsausschuss im Interesse unserer Rechtsordnung, die insgesamt wirklich verteidigungswert ist, wieder Kollegialität, Herr Kollege Hartenbach, und Sachlichkeit zurückkehren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jerzy Montag vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir
zu Beginn kurz einige persönliche Worte. Dies ist meine
erste Rede im Deutschen Bundestag und ich verhehle
nicht, dass mich dieser für mich einmalige und erstmalige
Vorgang tief berührt.
Es war mir wahrlich nicht in die Wiege gelegt worden,
einmal als frei gewählter Abgeordneter für ein demokratisches Deutschland zu stehen. Meine Eltern und nur wenige meiner Familie haben durch Zufall und Glück das
schlimmste Unrechtsregime, das je von Deutschland ausgegangen ist, überlebt. Deshalb gilt in diesem Moment
mein erster Gedanke ihnen.
Für mich und sicherlich für uns alle gilt es, die besten
Lehren, die Deutschland aus seiner dunklen Vergangenheit ziehen konnte, nämlich die unbedingte Achtung der
Menschenrechte und die Errichtung eines Rechtsstaats, zu
verteidigen, zu festigen und auszubauen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir diskutieren nach
der Regierungserklärung des Bundeskanzlers jetzt die Innen-, Rechts- und Kulturpolitik. Ich halte es für richtig,
auch von der Kultur des Rechts zu sprechen. In einem
Rechtsstaat hat niemand das Recht, sich über das Recht zu
stellen. Das gilt auch für Prominente, welcher Sparte auch
immer, und auch für die so genannten besser Betuchten.
Weder Ruhm noch Geld entbinden von der Bindung an
das Recht. Dies gilt aber auch und, wie ich meine, vor allem für uns, die Politikerinnen und Politiker auf allen
Ebenen der Politik. Es gilt selbstverständlich für gemeine
Rechtsbrecher und auch für selbst ernannte Erlöser und
Befreier. Es gilt aber auch für die Staatsdiener in den Bereichen der Exekutive, die das Recht zu schützen haben.
Vor Recht und Gesetz müssen alle gleich sein.
({1})
Aber auch die Gesetzgebung selbst - und damit wir, die
sie gestalten - darf sich nicht über das Recht stellen. Die
Grundrechte und die Menschenrechte bestimmen, welche
Gesetze und Verordnungen in diesem guten Sinne Recht
oder eben Unrecht sind.
Wir Grüne wollen in der 15. Legislaturperiode des
Bundestags einer solchen Kultur des Rechts Gestalt und
Kraft geben. War die Rechtspolitik in den vergangenen
vier Jahren noch da und dort von der Abwehr von Beschädigungen einer solchen Kultur des Rechts bestimmt,
so wollen wir Grüne in den nächsten vier Jahren die
Rechte der Bürgerinnen und Bürger und die Menschenrechte aller in Deutschland lebenden Menschen festigen
und ausbauen.
({2})
Wir werden damit einen Beitrag zu einer Kultur des
Rechts in Deutschland leisten.
Herr Röttgen, Sie haben in Ihrem Beitrag ausgeführt,
dass Sie in Zukunft zum Beispiel gern die Gesetzesfolgenabschätzung und auch die Befristung von Gesetzen diskutieren würden. Ich persönlich meine dazu, das ist ein guter
Gedanke, der aber der CDU/CSU bzw. der Opposition in
vielen Jahrzehnten der Gesetzgebung nie eingefallen ist.
({3})
Sie haben es sich von uns abgeschaut. Es ist auch ein gutes
Vorhaben. Wir werden in Zukunft noch über die Befristung von Gesetzen und die Gesetzesfolgenabschätzung
diskutieren können.
({4})
Meine Damen und Herren, das Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft für homosexuelle Paare
stellt die konkrete Bekämpfung von Diskriminierung dar.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns mit seiner Entscheidung in dieser Richtung in vollem Umfang Recht gegeben. Jetzt wollen wir dieses Gesetz weiterentwickeln
und auch den Schutz von Menschen in nicht ehelichen Lebensgemeinschaften verbessern;
({5})
denn wir Grünen wollen die Menschen schützen und stärken,
({6})
die Verantwortung füreinander und für Kinder übernehmen. Wir wollen den Menschen nicht vorschreiben, wie
sie dies zu machen haben. Aber wir wollen sie fördern,
wenn sie es machen.
Wir wollen außerdem ein Gentestgesetz schaffen, das
die Autonomie der Menschen über ihre Gendaten, die ein
integraler Bestandteil ihrer Persönlichkeit sind, wahrt,
Diskriminierungen aufgrund genetischer Dispositionen
unterbindet, ein Recht auf Nichtwissen anerkennt und Zugriffe von Dritten auf Gendaten ausschließt.
Wir werden des Weiteren den gesetzlichen Schutz vor
Diskriminierungen im Alltag weiter ausbauen; denn niemand soll wegen seines Geschlechts, seiner Herkunft, seiner Religion und Weltanschauung im öffentlichen Raum
benachteiligt werden.
({7})
Die Korruption - Herr Kollege Hacker hat dies schon
angesprochen - wollen wir verstärkt bekämpfen. Union
und FDP haben in der letzten Wahlperiode im Bundesrat
die Schaffung eines Korruptionsregisters blockiert. Wir
wollen es in einem zweiten Anlauf einbringen.
({8})
Unternehmen, die wegen Korruption von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen werden, dürfen zumindest auf längere Zeit keine zweite Chance erhalten;
denn auch Korruption, Bestechung und Untreue sind
keine Kavaliersdelikte.
({9})
- Aber, Herr Kollege, sie müssen nachgewiesen sein. Von
einem Verdacht habe ich nicht gesprochen. Ich hoffe, dass
Sie das so gehört haben.
({10})
Herr Kollege Röttgen hat in seiner Rede beklagt, dass das
Schuldrecht und die Reform der Zivilprozessordnung schon
wieder nachzubessern seien. Ich erkenne durchaus an, dass
es sinnvoll ist, eine Überprüfung nach einiger Zeit vorzunehmen. Ich schlage aber vor, dass auch Sie von der Opposition dem großen Reformwerk des Schuldrechts und der
Zivilprozessordnung eine Zeit der Bewährung einräumen.
({11})
Wir können nach vier oder acht Jahren immer noch
darüber diskutieren, ob das eine oder andere nicht noch
einmal verbessert werden kann.
Wir wollen nach dem Zivilverfahren auch den Strafprozess modernisieren. Er soll bürgernäher, schneller und
effektiver werden. Aber wir werden dabei die verfassungsmäßigen Rechte der Beschuldigten,
({12})
ihrer Verteidiger sowie auch die der Nebenkläger, der Opfer und ihrer Vertreter nicht zur Disposition stellen.
({13})
Bereits in der letzten Legislaturperiode wurden in der Koalition Eckpunkte einer Reform der Strafprozessordnung verabredet. Ich finde, diese stellen eine gute Grundlage dar. Wir Grünen werden weitergehende Vorschläge in
die Diskussion über die Reform der Strafprozessordnung
einbringen.
Ich wollte eigentlich zur Kronzeugenregelung nichts
sagen; denn sie ist nicht verabredet. Aber nachdem schon
Vorredner darauf eingegangen sind, will ich es doch tun.
Wenn hinter dem Rücken des Gerichts für bestimmte Aussagen, die nicht überprüft sind und die manchmal nicht
überprüft werden können, Zusagen auf Straferlass gemacht werden, dann ist dies ein schlechter Deal und hat in
einem rechtsstaatlichen Verfahren nichts zu suchen.
({14})
Wenn dies unter Kronzeugenregelung verstanden wird,
({15})
dann können wir uns sicherlich darauf einigen, dass wir
das nicht wollen.
({16})
Was wir wollen, steht in der Koalitionsvereinbarung. Wir
wollen die Strafmilderungsgründe in § 46 StGB in denjenigen Fällen erweitern, in denen Täter für das Gericht
nachweisbar zur Aufklärung beigetragen haben.
({17})
- Das ist heutige Praxis. Sie haben völlig Recht. Deswegen haben wir festgelegt, dass wir die Möglichkeiten
der Strafminderung erweitern wollen.
Dies ist für uns keine Kronzeugenregelung.
({18})
Das, was wir von Rot-Grün gemeinsam festgelegt haben,
können wir ja alle gemeinsam angehen.
({19})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und
Bündnis 90/Die Grünen ermöglicht eine moderne, den
Grundrechten verpflichtete Rechtspolitik. Wir Grünen
werden die darin liegenden Chancen nutzen. Durch uns
und unsere Politik ist die Gesellschaft offener und toleranter geworden. Rechtsstaatlichkeit und Selbstbestimmung in Verantwortung - dies ist unser Weg und diesen
Weg werden wir fortsetzen.
Ich danke Ihnen.
({20})
Herr Kollege Montag, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede in diesem Hause.
({0})
Das Wort hat jetzt Bundesminister Otto Schily für die
Bundesregierung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! In
einer solchen Debatte steht uns allen nur eine begrenzte
Redezeit zur Verfügung. Deshalb ist es nicht möglich, hier
alle Aspekte der Innenpolitik zu beleuchten und alle Aufgabenbereiche zu erörtern. Ich werde mich daher auf einige wenige wesentliche Elemente beschränken müssen.
Innenpolitik als Bestandteil der allgemeinen Sicherheitspolitik muss sich - das muss man mit Sorge und mit
großem Ernst sagen - auf sehr schwierige und gefahrvolle
Jahre einstellen. Die Bedrohung durch den internationalen islamistisch-fundamentalistischen Terrorismus
- das ist eine realistische Einschätzung - hat zugenommen. Das entspricht der Lagebeurteilung unserer Sicherheitsinstitutionen ebenso wie der unserer engsten Verbündeten. Wir sehen die breite Blutspur des Terrors, dem
zahllose Menschen, darunter viele Kinder und Jugendliche, zum Opfer gefallen sind, und wir müssen leider voraussehen, dass sich der Terror fortsetzen wird.
Wir sind mit einem weltweiten Terrorismus konfrontiert, dessen Todesbesessenheit, dessen Menschenverachtung und dessen Brutalität uns mit Entsetzen und mit Abscheu erfüllen. Dieser Terrorismus verkörpert die zum
Äußersten getriebene Menschenfeindschaft und Lebensverachtung, die Verachtung fremden und des eigenen
Lebens. Dieser Terrorismus entspringt einem in gotteslästerlichen Wahnsinn abgeirrten Weltbild. Dieser Terrorismus ist der Feind aller menschlichen Grundwerte.
({0})
Das entbindet uns sicherlich nicht von der Verpflichtung, uns auch mit der Frage auseinander zu setzen, wie
Menschen in den Sog von Hass und Menschenverachtung
geraten sind. Präventive Politik muss immer auch darauf
gerichtet sein, Menschen gegen Anwandlungen von Hass
und Extremismus, der schlimmstenfalls in Terrorismus
umschlägt, zu immunisieren.
Meine Damen und Herren, New York, Daressalam,
Bali, Djerba und Moskau - es waren stets so genannte
weiche Ziele, die sich die Terroristen für ihre Mordtaten
ausgesucht haben. Das Ausmaß der Bedrohung hat damit
eine Größenordnung angenommen, die uns vor bisher nie
gekannte Probleme stellt. Das Ausmaß der Bedrohung beschreibt aber zugleich die Größenordnung unserer gemeinsamen Verantwortung. Wir müssen auf der einen
Seite alles Menschenmögliche tun, um uns gegen eine solche Bedrohung zu schützen, dürfen uns aber auf der anderen Seite nicht in Panik treiben lassen und erst recht niemanden in Panik treiben.
({1})
Unbestreitbar haben wir durchaus Erfolge in der
Bekämpfung des internationalen Terrorismus erzielt. Der
Polizei in Bund und Ländern, den Anklagebehörden, den
Verfassungsschutzämtern in Bund und Ländern und dem
Auslandsnachrichtendienst verdanken wir beachtliche
Fortschritte bei der Ermittlung und Ahndung terroristischer Straftaten ebenso wie die Aufdeckung terroristischer
Strukturen. Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
genannten Sicherheitsinstitutionen spreche ich dafür meinen herzlichen Dank und meine Anerkennung aus.
({2})
Wir wissen, dass die Bekämpfung des internationalen
Terrorismus nicht im nationalen Rahmen, sondern nur in
enger und vertrauensvoller internationaler Zusammenarbeit erfolgreich sein kann. Deshalb hat die Bundesregierung in den zurückliegenden Jahren stets auf die internationale Zusammenarbeit, insbesondere mit den engsten
Verbündeten, mit den Vereinigten Staaten von Amerika
und mit den EU-Mitgliedstaaten, besonderen Wert gelegt.
Besonders bewährt hat sich die freundschaftliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Sicherheitsinstitutionen der USA, sowohl bei den Ermittlungsaufgaben als
auch in der Abstimmung und Kooperation bei umfassenden präventiven Maßnahmen.
Diese Zusammenarbeit wird von beiden Seiten übereinstimmend als ausgezeichnet bewertet. Meine Gespräche, die ich vor wenigen Tagen in Washington und zuvor in Kopenhagen mit dem Attorney General, meinem
Freund John Ashcroft, geführt habe, haben dies noch einmal bestätigt. Wir werden diese Zusammenarbeit weiter
intensivieren. Aus diesem Grunde werde ich in Kürze
noch einmal nach Washington reisen, um mich zusammen
mit meiner Kollegin Zypries um die Lösung bestimmter
Detailprobleme zu kümmern.
Die Erfolge, die wir bei der Aufklärung und im Rahmen von Ermittlungen erzielt haben, stehen im Übrigen in
einem engen Zusammenhang mit den erweiterten Befugnissen, die wir den Sicherheitsbehörden in der vergangenen Legislaturperiode verschafft haben. Wir werden im
Laufe dieser Legislaturperiode aber unvoreingenommen
zu prüfen haben, ob es an der einen oder anderen Stelle
Korrektur- und Justierungsbedarf gibt. Übrigens, Herr
Kollege Röttgen: Wir haben einige Gesetze schon als befristet geltende Gesetze ausgestaltet. Der Ratschlag
kommt also ein bisschen zu spät.
({3})
Darüber wird hier im Parlament ebenso wie im Kreis
der Länderinnen- und -justizminister zu reden sein. Wer
immer konstruktive Vorschläge entwickelt, wird uns willkommen sein. Wir werden sie vorurteilsfrei prüfen. Ich
bitte Sie, die Diskussion so zu führen, dass wir den Streit
nicht um des Streites willen inszenieren. Gerade in den
Fragen der inneren Sicherheit gibt es eine gemeinsame
Verantwortung. Das war in der Vergangenheit so und das
sollte auch in der Zukunft so sein. Dass wir in der Innenministerkonferenz nur im Konsens entscheiden, ist Ausdruck einer solchen vernünftigen Politik. Wenn Sie, Herr
Kollege Röttgen, für sich in Anspruch nehmen, das bessere Argument zu haben, sollten wir es vorurteilsfrei prüfen, wenn Sie es denn haben, aber Sie sollten genauso auf
das Argument auf der Seite der Regierungskoalition
hören, wenn das das bessere ist.
({4})
Wenn wir in dieser Weise miteinander umgehen, dann
wäre es zum Besten unseres Volkes.
Ungeachtet der Erfolge der Sicherheitsinstitutionen ist
es ferner geboten, deren Strukturen und Arbeitszusammenhänge darauf zu überprüfen, ob und auf welche Weise
Effizienzsteigerungen möglich sind. Das gilt insbesondere für die Voraufklärung in manchen Bereichen, in denen wir aufgrund bestimmter Schwierigkeiten, die den
Experten durchaus geläufig sind, noch nicht das haben zustande bringen können, was wir erreichen wollten.
Damit eine solche Arbeit erfolgreich sein kann, werde
ich auch in Zukunft strikt darauf achten, dass unsere Sicherheitsinstitutionen mit angemessenen finanziellen
Ressourcen ausgestattet sind und dass bestimmte Anpassungen, beispielsweise die Stellenstruktur im Bundesgrenzschutz und hoffentlich in der künftigen Bundespolizei, vorgenommen werden, damit sie ihren Aufgaben
gerecht werden können.
Effizienzsteigerungen gilt es auch im Allgemeinen zu
erreichen. Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode mit der Modernisierung der Verwaltung begonnen.
Auf diesem Gebiet haben wir durchaus Erfolge erzielt;
aber wir sind sicherlich noch nicht am Ende angelangt.
Das gilt sowohl für das Projekt „Bund-Online 2005“ und
für den Bürokratieabbau. Die eingeleitete Politik muss
entschlossen fortgesetzt werden. Auch dazu sage ich Ihnen: Wenn Sie, die Abgeordneten der Oppositionsfraktionen, vernünftige Vorschläge haben, dann werden wir sie
gerne zur Kenntnis nehmen und prüfen.
({5})
Aber wenn - „wenn“ muss betont werden - der Vorschlag nur darin besteht, wieder eine große Kommission
ins Leben zu rufen, wie wir es schon in früheren Jahren erlebt haben - ich habe den Vorschlag von Herrn Ministerpräsident Stoiber gelesen -, dann wird sich das Vorhaben
des Bürokratieabbaus wieder in einer Kommission verirren und der Bürokratieabbau wird nicht vorankommen.
({6})
Es kann an dieser Stelle mit einer Kommission also nicht
sein Bewenden haben. Gegen Kommissionen ist im Prinzip nichts einzuwenden.
({7})
- Natürlich nicht. Sie können die Einrichtung einer Kommission doch nicht immer dann für richtig halten, wenn
Sie es vorschlagen, während Sie deren Einrichtung für
falsch halten, wenn wir es wollen.
({8})
In dieser Weise kann man mit diesen Fragen nicht umgehen.
Wir werden - auch das hat übrigens einen Bezug zur Sicherheitspolitik - unsere Integrationspolitik entschlossen
voranbringen. Wir haben mit dem Zuwanderungsgesetz
dafür eine gute Grundlage geschaffen.
({9})
Ich bin dafür dankbar, dass sich mittlerweile, seitdem der
Wahltag vorüber ist, auch die Länder an den Maßnahmen, die zur Anwendung dieses Gesetzes erforderlich
sind - Rechtsverordnungen, Durchführungsverordnungen -, konstruktiv beteiligen. Ich hoffe, dass auch die Opposition im Deutschen Bundestag die gleiche konstruktive Haltung einnehmen wird.
({10})
Innen- und Sicherheitspolitik sind heute insbesondere
in die europäischen Zusammenhänge eingebettet. Ich bin
darüber froh, dass die Bundesregierung immer an der
Spitze der europäischen Entwicklung mitarbeitet. Das gilt
sowohl für die Konferenz der Innen- und Justizminister
der Europäischen Union wie auch für die Arbeit an der
europäischen Verfassung. Gerade wir, die beiden Verfassungsminister, Frau Kollegin Zypries und ich, werden uns
in die Arbeit des EU-Konvents sehr aktiv einbringen.
({11})
Von Europa als einem Raum der Freiheit und des
Rechts war heute schon die Rede; davon sollte man auch
weiterhin sprechen. Europa ist eine Wertegemeinschaft,
die auch den Begriff, den der Kollege Montag eben angesprochen hat, umfasst. Ich bin ihm sehr dankbar dafür,
dass er diesen Begriff verwendet hat.
Mein Freund Leoluca Orlando, der frühere Bürgermeister von Palermo, der Erfahrungen mit der Bekämpfung der Mafia gemacht hat, hat gesagt: Die Mafia haben
wir zurückgedrängt auf der Grundlage einer Kultur des
Rechtes. Auch wir werden den Kampf gegen die organisierte Kriminalität, gegen den Terrorismus auf der Basis
der Kultur des Rechts gewinnen. Deshalb müssen wir
auch daran arbeiten, dass sich diese Kultur des Rechts,
aber auch die allgemeine Wertegemeinschaft so darstellt,
dass sie eine wehrhafte Wertegesellschaft gegenüber den
Anfechtungen des internationalen Terrorismus ist. Ob das
wirklich von Erfolg gekrönt ist, hängt auch davon ab, wie
wir uns zueinander verhalten: ob dies einmündet in eine
Kultur des Respekts, der Achtung vor unseren Institutionen, vor unseren Werten und vor dem jeweils anderen,
dem man gegenübersteht.
Frau Kollegin Merkel, verstehen Sie es als eine Bitte
des Kirchenministers: Ich glaube, die Achtung vor dem
Evangelium sollte so weit gehen, dass wir das JohannesEvangelium nicht für parteipolitische Polemik missbrauchen.
({12})
- Entschuldigen Sie, dass ich das sage. Ich habe es ganz
freundlich als eine Bitte formuliert. Überlegen Sie sich
einen Moment lang, ob das ein guter Einstieg in Ihre
heutige Rede war, Frau Merkel!
({13})
Ich bin nicht dagegen, dass Polemik stattfindet. Ich selber
kann, wie Sie wissen, auch damit umgehen, wenn es Not
tut. Ich glaube allerdings, dass wir gut daran tun, sowohl
was die religiösen Überzeugungen als auch was die
staatlichen und die gesellschaftlichen Institutionen
angeht, damit so umzugehen, dass sie keinen Schaden
nehmen. Wenn uns das nicht gelingt - das alles mögen Sie
ja lächerlich finden -, wird dort eine Einbruchstelle für fanatische Extremisten und Terroristen entstehen.
({14})
Ich sagen Ihnen das in allem Ernst. Das ist auch eine Frage
des Umgangs im Parlament. Niemals, meine Damen und
Herren, darf die politische Gegnerschaft in Feindseligkeit
umschlagen. Das ist jedenfalls meine Überzeugung. Ich
hoffe, dass wir uns auf dieser Basis auseinander setzen
können.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Schily, weite Teile Ihrer Rede waren gut, und Sie
haben auch Applaus von unserer Fraktion bekommen.
Aber die letzten zwei Minuten waren in jeder Form inakzeptabel.
({0})
Ihre Kritik an unserer Fraktionsvorsitzenden ist völlig
neben der Sache, und wer im Glashaus sitzt, der sollte
nicht mit Steinen werfen. Es gibt nämlich auch das Gebot:
Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten. Wenn Sie noch einmal ein Flugblatt zum Thema
„Zuwanderung“ herausbringen, sollten Sie sich wenigstens in der Nähe der Wahrheit befinden und nicht
Volksverdummung betreiben, dazu noch auf Kosten des
Steuerzahlers.
({1})
Vermutlich hat es in der Geschichte der Bundesrepublik
noch keine einzige Koalitionsvereinbarung gegeben, die
so massiv kritisiert worden ist wie die rot-grüne Koalitionsvereinbarung in dieser Wahlperiode. Die öffentliche
Kritik hat sich im Wesentlichen auf Wirtschafts-, Finanzund Arbeitsmarktpolitik konzentriert, aber der Bereich Innen- und Rechtspolitik ist genauso enttäuschend, ja deprimierend wie der Rest der Koalitionsvereinbarung.
({2})
Frau Zypris, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Berufung zur
Bundesministerin der Justiz.
({3})
Wir alle hoffen, dass Sie stets kluge, vernünftige und
richtige Entscheidungen treffen. Im Klartext: Wir alle
hoffen, dass Sie die Politik Ihrer Vorgängerin nicht fortsetzen. Wenn das so ist, haben Sie unsere Unterstützung.
Dann bieten wir Ihnen eine faire Zusammenarbeit an.
({4})
Herr Kollege Schily, bei Ihnen fällt mir das schon ein
bisschen schwerer; das werden Sie sicherlich verstehen.
({5})
Aber ich gratuliere Ihnen ebenso zu Ihrer Wiederernennung zum Bundesminister des Innern. Sie wissen aus der
vergangenen Legislaturperiode, dass wir Sie immer dann
unterstützen, wenn Sie Entscheidungen treffen, die den
Interessen des Landes wirklich dienen. Aber wir haben
aus der Erfahrung begründete Zweifel daran, dass Sie den
Willen und die Kraft haben, in der Koalition diejenigen
Entscheidungen durchzusetzen, die notwendig sind,
beispielsweise wenn es darum geht, die Bevölkerung
wirksamer vor Kriminalität und Terrorismus zu schützen.
({6})
Vieles von dem, was Sie nach dem 11. September 2001
gesagt haben, und auch vieles von dem, was Sie gerade
von dieser Stelle aus gesagt haben, haben wir schon immer für richtig gehalten und sind dafür heftigst kritisiert
worden, nicht nur, aber auch von Ihren sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen. Entscheidend ist aber
nicht, Herr Schily, was Sie sagen, sondern entscheidend
ist, was Sie machen, was Sie politisch durchsetzen und
nicht durchsetzen in Ihrer Koalition.
({7})
Unübersehbar ist, dass sich Rot-Grün in vielen Punkten nicht hat einigen können. Nach den Erfahrungen der
letzten Jahre ist davon auszugehen, dass sich das in dieser
Wahlperiode nicht ändern wird. Die Politik der ruhigen
Hand war in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik unverantwortlich. Beim Thema der inneren Sicherheit ist sie
es nicht minder.
({8})
Nicht nur, dass die Koalition nicht das tut, was dringend getan werden müsste; zumindest in einigen Bereichen geschieht genau das Gegenteil dessen, was notwendig ist. Beispiel Bürokratieabbau: Wir haben in
Deutschland eine Regelungsdichte, die weltweit einzigartig ist, etwa im Steuerrecht. 70 Prozent der steuerrechtlichen Literatur, die in der Welt erscheint, ist in deutscher
Sprache. Die zehn Gebote bestehen aus 283 Wörtern.
({9})
§ 19 a des Einkommensteuergesetzes besteht aus 437 Wörtern und gewährt einen Steuervorteil pro Jahr von maximal 80 Euro.
Blicken wir zurück auf die rot-grüne Koalitionsvereinbarung des Jahres 1998. Ich zitiere wörtlich:
Wir wollen einen effizienten und bürgerfreundlichen
Staat. Deswegen werden wir die Bürokratie abbauen ...
({10})
- Wir kommen gleich zur Praxis, Herr Tauss. Dann werden Sie viel leiser sein, als Sie sonst hier immer dröhnend
in Liegestuhlhaltung das Parlament bereichern.
Weiter heißt es:
Die neue Bundesregierung wird die Bundesverwaltung modernisieren; dazu wird eine besondere Stabsstelle unter Leitung des BMI eingerichtet, die die
dafür geltenden Verfahrensabläufe und Rechtsvorschriften überprüfen und vereinfachen sowie die Regelungsdichte verringern soll.
Das waren die Verheißungen des Jahres 1998. Jetzt
kommen wir zur Praxis. Ergebnis nach vierjährigem rotgrünen „Bürokratieabbau“: Im Jahr 2002 haben wir 391
Gesetze und sage und schreibe 973 Rechtsverordnungen
mehr als vor vier Jahren.
({11})
Das dürfte der weltweit einzigartige Versuch sein, durch
1 364 neue Gesetze eine Verringerung der Regelungsdichte herbeizuführen.
({12})
Herr Schily, jetzt versprechen Sie schon wieder einen
Abbau von Bürokratie. Das können wir vor dem Hintergrund der Erfahrungen in den letzten vier gemeinsamen
Jahren mit allen Bürgern in diesem Lande nur als Drohung verstehen. Vieles in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung ist ja auch nebulös und völlig inhaltsleer. Da
heißt es unter anderem: Die Alltagskriminalität werden
wir konsequent bekämpfen. - Das ist prima. Wir wollen
aber gern wissen, wie.
({13})
Wenn Sie den Worten Taten folgen lassen, dann haben Sie
uns an Ihrer Seite.
({14})
Wir wollen aber wissen, wie die Bekämpfung ganz konkret aussieht. Sind Sie dafür, dass wir die Graffiti-Schmierereien,
({15})
eine Landplage zwischen Flensburg und Mittenwald mit
vielen 100 Millionen Euro Schaden jedes Jahr an Gebäuden und öffentlichen Verkehrsmitteln, endlich konsequent
als Sachbeschädigung strafrechtlich ahnden oder wollen
Sie das nicht?
({16})
Sie haben in der vergangenen Wahlperiode alle entsprechenden Initiativen der Union abgelehnt. Sie haben die
Alltagskriminalität nicht konsequent bekämpft, sondern
Sie haben sie konsequent bagatellisiert. Dabei werden wir
nicht mitmachen. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({17})
An anderer Stelle gibt uns die Koalition echte Rätsel
auf. Beispiel: Einführung biometrischer Daten in Ausweisen. In der Vereinbarung sprechen Sie von einer Weiterentwicklung moderner Methoden der Biometrie zur
Identitätssicherung, ohne dass dem gesamten Text auch
nur andeutungsweise zu entnehmen ist, was das heißen
soll. Werden jetzt fälschungssichere Pässe mit biometrischen Daten eingeführt, ja oder nein? Wird es fälschungssichere Personalausweise mit biometrischen Daten geben,
ja oder nein?
Ist irgendjemand hier der Auffassung, dass durch die
Einführung biometrischer Daten in Ausweispapieren irgendein Bürgerrecht tangiert wird? Ist jemand ernsthaft
der Auffassung, dass es ein Bürgerrecht auf leicht fälschbare Ausweispapiere gibt? Das kann doch niemand ernsthaft meinen.
({18})
Tatsache ist: Sie nehmen dieses Thema auf, weil der Innenminister zutreffenderweise der Auffassung ist, dass
die Fälschungssicherheit erhöht werden müsste. Tatsache
ist aber auch, dass sich die Koalition darauf nicht einigen
kann. - Herr Kollege Schily, Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen.
Herr Kollege Bosbach, das Wort zu einer Zwischenfrage erteilt aber immer noch der amtierende Präsident.
({0})
Herr Kollege Schily, bitte schön.
Herr Kollege Bosbach, Sie sprechen die Fälschungssicherheit an. Ich glaube, Sie machen einen Fehler, indem
Sie zwei Dinge vermischen. Identifizierung und Fälschungssicherheit sind zwei Paar Schuhe.
({0})
Ist Ihnen bekannt, dass heutzutage in Deutschland Pässe
hergestellt werden, die praktisch fälschungssicher sind?
({1})
Ist das die Frage?
({0})
Ja, ich frage, ob Ihnen das bekannt ist.
({0})
Herr Kollege Schily, ist Ihnen bekannt, dass Sie sich
vor wenigen Monaten mit Ihrem eigenen Personalausweis
und Ihrem eigenen Fingerabdruck darin in der Öffentlichkeit so lange haben fotografieren lassen, bis die Bevölkerung geglaubt hat, das habe der Bundestag wirklich beschlossen?
({0})
Sie sind in allen deutschen Medien mit zwei Bildern präsent, nämlich mit dem Bild von Ihrem eigenen Personalausweis mit falschem Geburtsdatum
({1})
und mit dem Bild, für das Sie sich einen riesigen Helm
aufgesetzt und einen Schlagstock in die Hand genommen
haben, um damit zu demonstrieren, dass das Ihr Beitrag
zu mehr innerer Sicherheit in Deutschland sei.
Ihnen, Herr Schily, nehme ich es sogar ab, dass Sie der
Auffassung sind, was ja auch richtig ist, dass die Ausweispapiere so fälschungssicher wie möglich gemacht
werden sollten. Welches biometrische Merkmal in die
Ausweispapiere aufgenommen wird, ist dann eine zweite
Frage. Wir wissen aber auch, dass Sie weder den Willen
noch die Kraft haben, das, was notwendig ist, mit dieser
Truppe hier im Deutschen Bundestag durchzusetzen. Das
ist die Wahrheit.
({2})
Herr Kollege Bosbach, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Ja.
Bitte schön, Herr Tauss.
Herr Kollege Bosbach, ist Ihnen bekannt, dass der
Deutsche Bundestag über sein Büro für Technikfolgenabschätzung ein Gutachten zum Thema Biometrie in Auftrag gegeben hat, das zum Inhalt hat, dass es zu biometrischen Systemen noch erhebliche technische
Fragestellungen gibt, dass es noch kein biometrisches
System gibt, das, zumindest über viele Jahre hinweg, bereits als sicher angesehen werden kann? Halten nicht auch
Sie es für sinnvoll, dass man vor der Realisierung Ihrer
Forderungen zumindest über die technischen Grundlagen
nachdenken sollte, über die man reden will? Ich meine,
das sollte man auch von jemandem verlangen, der nicht
Forschungspolitiker ist. - Stimmen Sie mir darin zu?
({0})
Herr Kollege Tauss, ich betrachte Ihre Fragestellung
als heftige Kritik an dem Innenminister,
({0})
der sich Ihrer Meinung nach - ({1})
- Entschuldigung, Herr Kollege Tauss. Sie fragen, ich antworte und jetzt müssen Sie die Antwort tapfer hinnehmen.
({2})
Ich entnehme Ihrer Fragestellung, dass sich der Bundesinnenminister nach Ihrer Auffassung voreilig mit seinen biometrischen Daten
({3})
in seinem eigenen Personalausweis hat fotografieren lassen.
({4})
Herr Tauss, ich will es ganz kurz machen. Sie haben
nach dem 11. September gesagt: Das werden wir einführen.
({5})
Sie haben hier zwar gesetzliche Änderungen beschlossen.
Diese haben aber nichts anderes zum Inhalt als die Aussage, dass es demnächst durch ein neues Gesetz eingeführt werden könnte, weil Sie sich auf die Einführung selber in der Koalition nicht haben einigen können. - Ende
der Durchsage zu diesem Thema.
({6})
Es gibt eine weitere Kuriosität, über die ebenfalls gerade gesprochen worden ist: die Kronzeugenregelung.
Am gleichen Tag, als Sie, Herr Schily, der staunenden Öffentlichkeit erklärt haben, dass Sie in der Koalition eine
Kronzeugenregelung beschlossen haben, hat der Außenminister Fischer für die Grünen gesagt, dass Sie keine
Kronzeugenregelung beschlossen haben. Es gibt folgende
Möglichkeiten: Schily hat Recht; dann kann Fischer nicht
Recht haben. Oder Fischer hat Recht; dann kann Schily
nicht Recht haben. Ausgeschlossen ist, dass beide gleichzeitig Recht haben. Wir haben keine Kronzeugenregelung, sondern bestenfalls die Wiederholung einer Selbstverständlichkeit in Bezug auf die Strafzumessung, Herr
Kollege Montag, nämlich dass das Verhalten des Täters
nach der Tat bei der Strafzumessung zu berücksichtigen
ist.
({7})
Wir sind leider - das ist ein ernstes Thema - insbesondere bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität
und des internationalen Terrorismus auch auf Aussagen
von Täterzeugen angewiesen.
({8})
Wenn wir es mit ethnisch geschlossenen Tätergruppen zu
tun haben, dann können wir dort nicht mit verdeckten Ermittlern operieren.
({9})
In diesem Fall gibt es leider Verbrechen, die wir nicht aufklären und bei denen wir die Täter nicht überführen können, wenn wir nicht Angaben von Täterzeugen haben,
({10})
die zum Teil ihr Leben riskieren, wenn sie aus der Szene
aussteigen und gegen ihre ehemaligen Mittäter aussagen.
Wenn sich jemand beim Bundeskriminalamt, beim Verfassungsschutz oder wo auch immer meldet, um unter Lebensgefahr auszupacken, dann braucht er eine neue Identität. Außerdem fragt er sich, was er davon hat.
({11})
- Jetzt fehlt nur noch die Aussage „Don’t leave your
baggage unattended!“.
({12})
Dann sagen Sie zu diesem Täterzeugen, Herr Montag:
Wenn Sie gegen Ihre ehemaligen Mittäter aussagen, dann
kann es sein, dass die Strafzumessung möglicherweise
milder ausfällt. - Glauben Sie ernsthaft, dass bei dieser
Regelung ein Schwerverbrecher aussteigt?
({13})
- Ich sage zu ihm das, was wir in der Vergangenheit schon
oftmals gesagt haben. Wenn er auspackt und wenn seine
Aussage dazu beiträgt, Verbrechen aufzuklären, Verbrecher zu überführen und vor allen Dingen neue schwere
und schwerste Straftaten zu verhindern, dann muss er wissen, dass ihm keine langjährige Haftstrafe droht und dass
wir ihn schützen.
({14})
Ich sagen Ihnen, auch wenn Sie es nicht verstehen: Das ist
kein schmutziger Deal mit Mördern, sondern dieses Vorgehen hilft, Menschenleben zu retten.
({15})
Immerhin gibt es in der Koalitionsvereinbarung eine
Kehrtwende zu etwas mehr Ehrlichkeit. Über dem Gesetz
zur Zuwanderung steht „Steuerung und Begrenzung“.
Dieses Begriffspaar haben Sie aufgegeben. In der Koalitionsvereinbarung heißt es jetzt „Gestaltung der Einwanderung“. Das ist offensichtlich etwas anderes. Gemeint ist
die Ausweitung der ohnehin schon großen Zuwanderung
nach Deutschland.
({16})
Am 1. Januar wird vorbehaltlich der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe das neue Zuwanderungsgesetz in Kraft treten, soweit es nicht schon in
einigen Teilen in Kraft getreten ist. Am 1. Januar wird der
Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer aus
Nicht-EU-Staaten aufgehoben, und zwar generell und
nicht nur für hoch qualifizierte Arbeitnehmer.
Eingeführt wurde der Anwerbestopp von Willy Brandt
bei einer Arbeitslosenquote von 1,2 Prozent und bei einer
Ausländerarbeitslosenquote von 0,8 Prozent. Sie heben
heute bei einer Arbeitslosenquote von knapp 10 Prozent
und einer Ausländerarbeitslosenquote von knapp 20 Prozent diesen Anwerbestopp auf. Wir haben eine dramatische Situation auf dem Arbeitsmarkt: Es gibt 4 Millionen
Arbeitslose und 1,5 Millionen in der stillen Reserve
- Tendenz steigend -, nicht nur aus saisonalen Gründen,
sondern auch wegen der völlig verfehlten Wirtschaftspolitik. Lieber Herr Minister Schily, wir begehen mit der
generellen Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Nicht-EU-Staaten einen kapitalen Fehler.
({17})
Solange wir eine derart dramatische Situation auf dem
deutschen Arbeitsmarkt haben, muss die Weiterqualifizierung, Umschulung und Vermittlung von inländischen Arbeitslosen Vorrang haben vor einer weiteren Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt.
({18})
Das hat mit Ausländerfeindlichkeit überhaupt nichts zu
tun.
({19})
Zu meinem letzten Punkt, der für uns im Moment angesichts der fürchterlichen Verbrechen in den letzten Monaten ein ganz wichtiger, entscheidender Punkt ist: dem
zum besseren Schutz der Bevölkerung, insbesondere unserer Kinder, vor Sexualstraftaten und Sexualstraftätern.
({20})
- Dies genügt nicht. Jeder einzelne Fall, Frau Griefahn, ist
ein Fall zu viel. Wenn Sie hier angesichts der polizeilichen
Kriminalstatistik in Deutschland, in der von 14 000 bis
15 000 sexuell missbrauchten Kindern ausgegangen wird,
sagen, diese Zahl habe abgenommen, so ist Ihre Feststellung eine glatte Unverschämtheit für alle Opfer.
({21})
- Nein, nein.
Wir wollen, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern
strafrechtlich endlich als das behandelt und bezeichnet
wird, was er ist: als ein Verbrechen und nicht nur als ein
Vergehen.
({22})
Wir wollen die DNA-Analyse konsequent anwenden,
({23})
und zwar bei jedem Delikt mit sexuellem Bezug, weil wir
den Tätern sagen wollen: Wenn ihr noch einmal eine
Straftat begeht, dann bekommen wir euch. - Denn die Gefahr, dass der Täter entdeckt und überführt wird, ist das,
was den Täter abschreckt - und nicht die abstrakte Strafandrohung.
({24})
Herr Präsident, ich komme gleich zum Schluss. - Obwohl Sie hier die vorbehaltene Sicherungsverwahrung,
die Sie in der letzten Wahlperiode fünf vor zwölf eingeführt haben, preisen, wissen Sie genau: Kein einziger
Straftäter, der jetzt in Haft sitzt, wird von dieser Regelung
tangiert. Diese Regelung gilt nur für die Zukunft. Obwohl
Sie das wissen, täuschen Sie in der Bevölkerung vor, das
getan zu haben, was in Deutschland zum besseren Schutz
insbesondere von Kindern getan werden müsste.
Diese Koalition hat nicht die Kraft, die Bevölkerung
wirksamer vor Kriminalität zu schützen.
({25})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Silke Stokar von
Neuforn vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich
halte heute als neue Abgeordnete meine erste Rede im
Bundestag.
({0})
Ich muss feststellen: Ich bedauere es, dass ich nur eine
Redezeit von zehn Minuten habe. Es ist mir gar nicht
möglich, die vielen Verdrehungen und Verfälschungen,
die in den Reden aus den Reihen der CDU/CSU, vor allem im letzten Redebeitrag, vorkamen, richtig zu stellen.
Dafür braucht man nicht zehn Minuten, sondern zehn
Stunden.
({1})
Lassen Sie mich zu Beginn auf zwei Dinge eingehen,
die wiederholt in sehr unterschiedlichen Nuancen angesprochen worden sind. Beide Dinge halte ich persönlich
für nicht akzeptabel. Sie haben den Grünen in der Auseinandersetzung um die Rechtspolitik vorgeworfen - das
sage ich vor dem Hintergrund des Geiseldramas in Moskau, das mich sehr betroffen gemacht hat; ich denke, Sie
genauso -, wir hätten die SPD bei der Innen- und Rechtspolitik als Geisel genommen. Ich halte es für einen
falschen Sprachgebrauch bzw. für eine politische Entgleisung, so zu argumentieren.
({2})
Ich möchte noch eines klarstellen: Ich halte es nicht für
angemessen, hier die zweite, die kleinere Regierungspartei als Truppe zu bezeichnen.
({3})
Meine Damen und Herren, wenn Sie diesen Stil einführen wollen, werden wir darauf antworten, denn auch
wir beherrschen dieses Spiel. Ich möchte heute zu Beginn
der Auseinandersetzung den Appell an Sie richten: Lassen
Sie uns doch die Auseinandersetzung über fachliche Konzepte suchen und lassen Sie uns in fachlicher und sachlicher Art argumentieren.
Ich will überhaupt nicht verhehlen - Sie haben Unterschiede zwischen SPD und Grünen angesprochen -, dass
es nicht immer leicht ist, in Koalitionsvereinbarungen zu
Ergebnissen zu kommen. Ich denke, den kritischen Beobachtern ist nicht verborgen geblieben, dass es diese Unterschiede auch zwischen SPD und Grünen gibt. Natürlich
werden in den Auseinandersetzungen manchmal kulturelle Werte unterschiedlich gewichtet. Es ist aber gerade
der Erfolg dieser rot-grünen Bundesregierung, dass es uns
in der vergangenen Legislaturperiode und jetzt zum zweiten Mal gelungen ist, den Sicherheitsaspekt, den wir als
Grüne genauso ernst nehmen wie jede andere demokratische Partei hier im Raum, und den Aspekt der Bürgerrechte, der immer ein Minderheitenaspekt ist, zu einer gemeinsamen Politik zusammenzufassen.
({4})
Das ist der Erfolg der rot-grünen Bundesregierung und
wir sind fest entschlossen, diese Politik, die keinen Gegensatz mehr zwischen Sicherheit und Bürgerrechten
sieht, in den nächsten vier Jahren fortzusetzen.
Das große Projekt dieser Legislaturperiode - das
wurde bereits angesprochen - ist die Umsetzung des
Zuwanderungsgesetzes. Ich hege die große Hoffnung,
dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung berücksichtigt, welch wichtiges gesellschaftspolitisches Vorhaben das ist.
Wir verhandeln im Moment über die Verordnung zum
Zuwanderungsgesetz. Wir als Grüne legen auf zwei
Punkte einen besonderen Wert. Zum einen wollen wir
- ich denke, das ist vernünftig - angesichts der angespannten finanziellen Situation nicht nur des Bundes, sondern auch der Länder und Kommunen vernünftige Regelungen in der Frage des Zugangs zum Arbeitsmarkt.
In diesem Punkt verstehe ich Ihre Argumentation überhaupt nicht. Gehen Sie doch zu Herrn Koch nach Hessen
und fragen Sie ihn, warum gerade er - er war nicht der Erste,
er war nach seinem Kollegen aus Bayern der Zweite - beim
Bundesinnenminister beantragt hat, in bestimmten Fällen
Ausnahmeregelungen vom Anwerbestopp zu veranlassen. Das gehört zur Ehrlichkeit in dieser Debatte dazu.
Der Anwerbestopp existiert seit vielen Jahren nicht
mehr. Wir haben mittlerweile mehr Ausnahmen vom Anwerbestopp, als Rot-Grün an Zugängen zum Arbeitsmarkt
im Zuwanderungsgesetz zulassen will.
({5})
Angesprochen wurde auch die Auseinandersetzung mit
dem internationalen Terrorismus. Auch in dieser Frage
wird es Ihnen einfach nicht gelingen, eine Trennung zwischen Rot-Grün herbeizureden. Ich denke, dass alle Fraktionen hier in diesem Hause die Sicherheit der Bevölkerung vor terroristischen Angriffen sehr ernst nehmen.
Ich habe mir Ihr 100-Tage-Programm sehr genau angesehen. Ich glaube nicht, dass es ein Beitrag zu mehr Sicherheit ist, wenn Sie nach wie vor den Vorschlag machen, die Bundeswehr im Innern einzusetzen. Ich habe
den Eindruck, dass unsere Polizei und unsere Sicherheitsbehörden sehr wohl in der Lage sind, eine gute Arbeit zu
leisten, und im internationalen Vergleich gut dastehen.
Wir brauchen im Innern die Bundeswehr nicht. Diese
Auseinandersetzung - ich erinnere mich noch daran, ich
war damals noch sehr jung - haben wir bereits bei den
Notstandsgesetzen geführt. Zum Glück hat die 68er-Bewegung schon damals gewonnen. Ich denke, dass wir hier
keine Neuauflage dieser Debatte brauchen.
({6})
Die Trennung von Polizei und Armee ist im Grundgesetz
verankert. Dies soll auch in Zukunft so bleiben. Ich denke,
dies ist gut so.
Wir haben in der Koalitionsvereinbarung festgelegt,
dass wir die Sicherheitsgesetze evaluieren wollen. Evaluieren heißt für uns nicht, den Wettlauf fortzuführen, der
darin besteht: Die CDU fordert mehr Befugnisse für die
Polizei; der Innenminister fühlt sich unter Druck gesetzt,
vielleicht vom Kanzler, vielleicht von wahltaktischen Fragen in der Innenpolitik, und will keine Flanke eröffnen.
({7})
Ich möchte bei der Evaluierung der Sicherheitsgesetze,
dass wir den Bürgerinnen und Bürgern zwei Fragen öffentlich beantworten. Wir treffen hier die Entscheidung,
dass wir in individuelle Freiheitsrechte eingreifen, weil
wir der Auffassung sind, dass dies erforderlich ist, um die
Sicherheit in unserem Land zu gewährleisten. Ich möchte
in jedem einzelnen Punkt, und zwar in einer fachlichen
Debatte, nicht in einer polemischen Debatte, wie sie hier
geführt worden ist, nachgewiesen bekommen,
({8})
ob diese Eingriffe tatsächlich zum Ziel führen, ob sie erforderlich, geeignet und verhältnismäßig sind.
({9})
Dies werden die Prüfkriterien sein.
Darüber hinaus werden wir Ansätze einbringen - wir
haben dies in den Koalitionsvereinbarungen festgelegt -,
um in dieser Auseinandersetzung nicht nur die Polizei,
sondern auch die Demokratie zu stärken. Wir setzen eben
nicht nur wie Sie von der Opposition auf einen starken
Staat. Wir setzen auf eine starke Zivilgesellschaft. Deswegen haben wir ein Informationsfreiheitsgesetz, mehr
Transparenz in der Gesellschaft, mehr Zugang für die
Bürgerinnen und Bürger zu Informationen vereinbart, damit sie als selbstbewusste und eigenständige Bürgerinnen
und Bürger ihren Beitrag zu mehr Sicherheit und Demokratie leisten.
Ich sehe an der Uhr, dass meine Zeit so gut wie abgelaufen ist.
({10})
Lassen Sie mich noch ganz kurz einen Punkt, der mir
ebenso wichtig ist, ansprechen: Wir übernehmen auch
Verantwortung für die Vergangenheit. Es ist uns ein
großes Anliegen, die Arbeit der Birthler-Behörde fortzusetzen. Ich möchte Sie hier bitten - wie dies zuvor schon
jemand von der SPD gemacht hat -: Lassen Sie uns hier
zu einem parteiübergreifenden Konsens zurückkommen.
Lassen Sie uns eine große Koalition aus allen Fraktionen
bilden, damit die Aufarbeitung der Stasivergangenheit
wieder aufleben kann
({11})
und damit dieses Gerede über den Schlussstrich beendet
werden kann.
Meine Damen und Herren, ich sehe jetzt: Hier leuchtet
der Präsident.
({12})
Ich muss meine Rede beenden.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freue
mich auf einen konstruktiven Streit im Innenausschuss
und hier im Hause.
Danke schön.
({13})
Frau Kollegin Stokar von Neuforn, ich gratuliere Ihnen
zu Ihrer ersten Rede hier in diesem Hause.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Max Stadler
von der FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte in der Debatte kurz auf den Beitrag des
Kollegen Hacker von der SPD zurückblenden. Ich will
nicht Wortklauberei betreiben; aber Herrn Hacker ist eine
Formulierung unterlaufen, bei der ich hellhörig geworden
bin, weil sie in ähnlicher Weise immer wieder gebraucht
wird. Er hat, wenn ich es richtig mitbekommen habe, davon gesprochen, dass das Sicherheitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger ein Grundrecht sei. Das heißt, das Grundrecht auf Sicherheit, von dem Minister Schily so oft
spricht, ist hier noch ausgedehnt worden auf ein Grundrecht auf Sicherheitsgefühl.
Ich greife das aus einem Grund auf: um deutlich zu machen, dass wir als Liberale hier einen ganz konservativen
Ansatz haben. Es gibt kein Grundrecht auf Sicherheit,
aber es gibt die Pflicht des Staates, die innere Sicherheit
zu gewährleisten. Dazu brauchen seine Institutionen,
dazu brauchen Polizei, Justiz und auch die Geheimdienste Eingriffsbefugnisse. Bei diesen Eingriffen sind sie aber
an die Grundrechte gebunden und stoßen an die durch die
Grundrechte gezogenen Grenzen. Da, wo die Grundrechte
ausnahmsweise eine Einschränkung erfahren müssen, gilt
aber immer noch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Das ist unser Grundprinzip, mit dem wir die Politik von
Innenminister Schily in den vergangenen vier Jahren kritisch und konstruktiv begleitet haben.
({0})
Das hat dazu geführt, dass wir, auch wegen des für das
Parlament unwürdigen Verfahrens, zum Beispiel das so
genannte Sicherheitspaket Schily II abgelehnt haben, weil
wir uns bei den dafür notwendigen Abwägungen hier im
Hause oft sehr alleine gelassen fühlten. Ich nenne nur ein
Beispiel, das jetzt in Hamburg wieder aktuell geworden
ist. Wenn es darum geht, in die Berufsgeheimnisse von
Rechtsanwälten, Steuerberatern, Geistlichen oder auch
Journalisten einzugreifen, dann sind diese Abwägungen
sehr sorgsam vorzunehmen. Da haben wir oft weder, wie
man es bei unserem konservativen Ansatz erwarten
würde, von der Union noch von den Grünen oder der SPD
hinreichend Unterstützung erhalten.
Deswegen sage ich, Herr Minister Schily: Wir haben
Sie kritisch, aber auch konstruktiv begleitet. Es gab
äußerst wichtige Gesetzesvorhaben in der letzten Legislaturperiode. Ich nenne noch einmal die Zwangsarbeiterentschädigung, bei der wir sehr wohl unseren Anteil an
der Gesetzgebung hatten, sowie das Staatsangehörigkeitsrecht und das Zuwanderungsgesetz, zu deren Umsetzung
wir über Rheinland-Pfalz unseren Beitrag geleistet haben.
({1})
Ich sage es bewusst, Herr Kollege Bosbach, weil Sie
der deutschen Öffentlichkeit in Ihrer ansonsten brillant
formulierten Rede hier leider eines verschwiegen haben:
Das Zuwanderungsgesetz sieht nach wie vor den Vorrang
der inländischen Arbeitnehmer vor.
({2})
Das bedeutet, es wird niemand von seinem Arbeitsplatz
verdrängt. Die FDP hätte über Rheinland-Pfalz doch nicht
einem Gesetz zugestimmt, das in unvernünftiger Weise
zusätzliche Zuwanderung zugelassen hätte, die der deutsche Arbeitsmarkt nicht vertragen würde. Hier gibt es die
Vorrangprüfung als entscheidendes Instrumentarium.
({3})
Herr Kollege Stadler, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Bosbach?
Ja, obwohl ich in der Erwartung derselben schon jetzt
20 Sekunden wertvoller Redezeit verloren habe.
Die werden Ihnen aber nicht abgezogen.
Bitte schön, Herr Bosbach.
Lieber Max, bist du bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass ich erstens nicht gesagt habe, dass mit dem Gesetz
beabsichtigt sei bzw. dass das Gesetz die unbeabsichtigte
Nebenfolge habe, Arbeitsplatzbesitzer von ihrem Arbeitsplatz zu verdrängen, sondern dass ich gesagt habe, dass
ich angesichts der dramatischen Situation auf dem Arbeitsmarkt keinerlei Begründung dafür kenne, warum wir
den deutschen Arbeitsmarkt ab dem 1. Januar unter Aufhebung des Anwerbestopps für ausländische Arbeitnehmer aus Nicht-EU-Staaten generell öffnen sollten, und
dass die Weiterqualifizierung und Umschulung Vorrang
haben sollen?
({0})
Zweitens. Bist du mit mir der Auffassung, dass folgende Rechnung nicht aufgehen kann: „Mehr Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt beim weltweiten
Wettbewerb um die klügsten Köpfe und zusätzliche Maßnahmen aus humanitären Gründen haben im Ergebnis
eine Reduzierung der Zuwanderung nach Deutschland zur
Folge“?
Lieber Wolfgang Bosbach, in der öffentlichen Diskussion geht es doch um folgende entscheidende Frage: Ist es
bei einem angespannten Arbeitsmarkt mit 4 Millionen Arbeitslosen überhaupt noch sinnvoll, über Zuwanderung
nach Deutschland zu reden? Wir wissen ganz genau, dass
dies zwar auf den ersten Blick perplex erscheint, dass aber
der Arbeitsmarkt in Deutschland gespalten ist, dass es gerade dem Mittelstand trotz aller Bemühungen nicht gelingt,
Facharbeiterstellen zu besetzen.
Wir alle sind uns darüber einig, dass die Qualifizierung
der eigenen Arbeitskräfte, eine Bildungspolitik für die eigene Jugend und die bessere Vereinbarkeit von Familie
und Arbeitsleben Vorrang haben müssen. Das steht außer
Streit.
({0})
Der Streit geht doch nur darum, ob es nicht ein Instrumentarium geben muss, damit das, was sowieso praktiziert wird, wie zum Beispiel auch von unionsregierten
Ländern wie etwa Bayern, nun gesetzlich geregelt wird.
Es bestehen nämlich schon jetzt Ausnahmeverordnungen für bestimmte berufliche Bereiche und für bestimmte
Regionen, in denen nachgewiesenermaßen Bedarf besteht, der nicht befriedigt werden kann - nur darum geht
es -, in denen Wachstumschancen für die deutsche Wirtschaft verloren gehen und in denen wir dadurch, dass wir
nicht tätig werden, Arbeitsplätze vernichten.
({1})
Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, ob wir in diesen Segmenten weiterhin mit Ausnahmeverordnungen arbeiten wollen, so wie das Bayern mit der Anwerbung von
Krankenschwestern aus Kroatien und Pflegekräften aus
der Slowakei macht, oder ob wir endlich zu einem ganzheitlichen System mit einer gesetzlichen Regelung kommen wollen, die das Problem insgesamt angeht. Deswegen hat die FDP über Rheinland-Pfalz dieser gesetzlichen
Steuerungsmöglichkeit zugestimmt.
({2})
Ich darf nun an die sehr bemerkenswerten Ausführungen des Kollegen Montag in seiner ersten Rede anknüp146
fen und möchte ohne Besserwisserei einen Punkt ergänzen. Gesetzesfolgenabschätzung und Befristung von
Gesetzen sind nicht so neu, wie man das nach Ihrem Beitrag denken möchte. Sie werden damit vielleicht noch
Verdruss haben; denn die alte Koalition von CDU/CSU
und FDP hat 1998 zum Beispiel die umstrittene Regelung
über verdachtsunabhängige Kontrollen eingeführt. Diese
war aber befristet. Es wird jetzt Ihre Aufgabe sein, sich darüber zu einigen, ob diese Regelung weiterhin so bestehen
bleiben soll oder ob Sie sie auslaufen lassen wollen. Da
bin ich neugierig.
Aus der Koalitionsvereinbarung kann man leider nicht
erkennen, ob wir in der gewohnten Weise kritisch, aber
konstruktiv mit Ihnen zusammenarbeiten können, Herr
Minister Schily, oder ob der kritische Faktor überwiegen
muss. Denn die Koalitionsvereinbarung enthält so viele
Unverbindlichkeiten und Prüfaufträge, so genannte Evaluationen, dass man heute überhaupt noch nicht sagen
kann, was Sie wirklich in der Innenpolitik machen werden. Deswegen muss ich diesen Vorbehalt formulieren.
Am Ende, Herr Minister Schily, gestatten Sie mir eine
kleine Bezugnahme auf die jüngste Zeit, obwohl die Themen ansonsten äußerst ernst sind. Für mich gab es zwei
große Überraschungen. Die erste Überraschung war der
Wahlsieg von Rot-Grün, nicht wegen Ihrer Politik, Herr
Minister, sondern vor allem wegen der Finanz- und Arbeitsmarktpolitik. Zum Zweiten habe ich mich gefragt
- bitte verzeihen Sie mir diese kleine Abschweifung vom
eigentlichen Thema -, wie Sie es geschafft haben, Herr
Minister Schily, dass Gianna Nannini Sie als Schlagzeuger in einer Rockband verpflichten will. Wenn wir dies
auch noch erfahren, dann könnte es sein, dass die weitere
Zusammenarbeit doch wieder konstruktiv wird und nicht
so kritisch, wie es nach der Koalitionsvereinbarung jetzt
den Anschein hat.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Koschyk von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Stadler, wir sind darüber nicht so gut informiert
wie Sie, aber vielleicht kann uns bei einer der ersten Sitzungen im Innenausschuss der Minister Antwort darauf
geben, wie es sich mit dieser möglichen neuen Berufskarriere als Schlagzeuger verhält.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Kontrastreicher hätte der Zwiespalt in der Innenpolitik zwischen Rot und Grün heute nicht ausfallen können: Wir haben uns zuerst die in weiten Teilen von großem Ernst
getragene und aus unserer Sicht zustimmungsfähige Rede
des Innenministers angehört und sind dann sehr aufmerksam der ersten Rede der Frau Kollegin Stokar von
Neuforn gefolgt.
Auch der Blick in die Koalitionsvereinbarung macht
diese Ambivalenz deutlich. Da ist für jeden etwas dabei.
Die Grünen kommen auf ihre Kosten, indem in der Innenpolitik die gesellschaftspolitischen Themen nach
vorne geschoben werden. Ich nenne nur Ausgestaltung
der Zuwanderung, Drogenpolitik, Antidiskriminierungsgesetz und
({0})
Informationsfreiheitsgesetz.
({1})
- Herr Ströbele ruft schon „Gut so!“.
Von all diesen Dingen hat man in der Rede des Bundesinnenministers aber nichts gehört.
({2})
Er hat zu Recht davon gesprochen, dass wir uns in der
Innenpolitik als Bestandteil der allgemeinen Sicherheitspolitik auf schwere Jahre einstellen müssen. Herr
Bundesinnenminister, da bei den Grünen Zuwanderungsbegrenzung, Terrorismusbekämpfung und innere Sicherheit allenfalls Fußnoten der Innenpolitik sind, muss
man sich fragen, ob Sie für all das, was Sie mit großem
Ernst zur Terrorismusbekämpfung und zur Verstärkung
der Anstrengungen für die innere Sicherheit hier gesagt
haben, wirklich die Unterstützung Ihres grünen Koalitionspartners haben.
({3})
Nach Ihrer Rede und nach der Rede von Frau Stokar
von Neuforn, auf die ich im Einzelnen noch zurückkommen will, müssen wir uns schon fragen, wer die Musik in
der Innenpolitik in Deutschland macht:
({4})
Sie, Herr Minister, oder Herr Ströbele und seine neue Kollegin, die beim Thema Evaluierung der Terrorismusgesetze schon angedeutet hat, dass sie hier scheinbar ganz
anderer Auffassung ist als Sie.
Herr Minister, wir sehen sehr wohl einen Widerspruch.
Es ist zwar richtig, dass Sie am 15. Oktober auf der
EU-Innenministerkonferenz gefordert haben, dass das
Thema Terrorismusbekämpfung auf die Tagesordnung
der EU kommt. Es ist aber doch unverkennbar, dass Sie in
Ihren Ausführungen von der EU Dinge gefordert haben,
die Sie in den beiden Antiterrorgesetzen in Deutschland
- also innerstaatlich - nicht verwirklicht haben. Wir glauben, dass die Koalitionsvereinbarung vor allem im Bereich
der elementaren Themen der Innenpolitik - Zuwanderungsbegrenzung, Zuwanderungssteuerung, Terrorismusbekämpfung und mehr innere Sicherheit - nicht die richtigen Antworten auf die wirklichen Herausforderungen gibt.
({5})
Herr Minister Schily, Sie haben die Gefahr, die vom
Terrorismus auch für die Bürgerinnen und Bürger in
unserem Land ausgeht, sehr drastisch beschrieben. Der
Terrorismus ist grausame Realität unseres Lebens geworden. Er hat weltweite Ziele und trifft, wie Djerba, Moskau, Bali und auch der 11. September gezeigt haben, auch
deutsche Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Der stellvertretende Vorsitzende des Bundes Deutscher
Kriminalbeamter Klaus Jansen, ein Experte aus dem Bundeskriminalamt, hat zur Bedrohungslage in Deutschland
vor kurzem in der „FAZ“ gesagt, dass es in Deutschland
nicht nur eine abstrakte Gefahr von Terroranschlägen
gebe. Jansen sagte in der „FAZ“ wörtlich:
Ich glaube nicht, dass die deutsche Öffentlichkeit
derzeit vollständig von der politischen Führung über
die bevorstehenden Gefahren unterrichtet wird.
Solche in der Öffentlichkeit von sicherheitspolitischen
Praktikern gemachten Aussagen müssen uns doch zu denken geben.
Welche Brisanz die Bekämpfung des internationalen
Terrorismus vor allem auch in Deutschland besitzt, haben
vor kurzem die Verhaftungen des Marokkaners Mzoudi,
der zu der Hamburger Zelle um Mohammed Atta enge
Beziehungen unterhalten und sie logistisch unterstützt
haben soll, und des Jemeniten Ramzi Binalshibh gezeigt.
Wir müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass gerade
Deutschland im Zentrum der Ermittlungen im Zuge der
Anschläge des 11. September steht. Drei der vier in den
USA entführten Flugzeuge wurden von Selbstmordpiloten gesteuert, die lange Zeit in Deutschland gelebt haben.
Samuel Huntington hat erst vor kurzem in der „Zeit“
festgestellt:
Im 21. Jahrhundert hat die Ära der muslimischen
Kriege begonnen.
Mancher mag das für überzogen halten. Sicherlich gibt es
verschiedene Ursachen für die Gefahr, die auch unserem
Land und der internationalen Gemeinschaft durch den islamischen Fundamentalismus droht.
Auch wenn wir immer wieder die Notwendigkeit eines Dialogs mit dem Islam beschwören und wir diese
Aufgabe auch leisten müssen, so müssen wir doch zur
Kenntnis nehmen, dass es auch im islamischen Fundamentalismus ausgesprochene Feindseligkeit gegenüber
spezifisch westlichen Ideen gibt - wie Individualismus,
Liberalismus, Konstitutionalismus, Demokratie, Menschenrechten sowie Gleichheit von Gruppen und Geschlechtern. Feindseligkeit gibt es auch - das haben mich
viele, mich bestürzende Aussagen gelehrt - gegenüber
dem christlich-jüdischen Wertekanon. Wir müssen zur
Kenntnis nehmen, dass aus dieser Aggression der Nährboden für Gewalt und Terror entsteht.
Die Praxis in den letzten Monaten hat deutlich gemacht, dass Ihre Antiterrorpakete I und II gravierende
Sicherheitslücken haben. Ihre Antiterrorpakete sind mehr
von der Hoffnung geprägt, die latente Gefahr möge niemals Wirklichkeit werden. Sie verkennt, dass Deutschland
nicht nur Ruheraum, sondern Operationsraum ist und im
Visier des internationalen Terrorismus steht.
({6})
Herr Minister, Sie haben vorhin zu Recht gesagt, dass
das Ausmaß der Größenordnung der terroristischen Gefahr in Deutschland das Maß unserer gemeinsamen Verantwortung beschreibt. Deshalb bieten wir Ihnen an und
wir appellieren an Sie: Lassen Sie uns noch einmal darüber sprechen, ob nicht die aus unserer Sicht bestehenden Sicherheitslücken in den beiden Antiterrorpaketen
durch die Vorschläge, die die Union unterbreitet hat, geschlossen werden können.
Es gibt durchaus einen Unterschied zwischen dem, was
Sie zu der Evaluierung des Antiterrorpakets II meinen und
was die Kollegin von den Grünen dazu gesagt hat. Sie haben von Korrektur- und Justierungsbedarf im Sinne von
möglichen Verbesserungen gesprochen, während die Kollegin von den Grünen gesagt hat: Wir wollen nicht länger,
dass der Innenminister den Wettlauf gegen die Opposition
gewinnen muss, die ihn in dieser Frage unter Druck setzt.
({7})
Herr Minister, warten Sie mit dieser Evaluierung nicht
zwei Jahre! Überlegen Sie jetzt, was getan werden muss!
Setzen Sie sich mit unseren Vorschlägen konstruktiv auseinander! Die Politik, die die Kollegin von den Grünen
angedeutet hat und die klar erkennen lässt, dass es eher
um Aufweichung und die Wiederabschaffung einiger dieser Teile des aus unserer Sicht unzureichenden Antiterrorpaketes II geht, wird auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen.
Für uns ist ein zentraler Punkt der Verbesserung, dass die
Einreise gewaltbereiter Extremisten nach Deutschland
verhindert wird bzw., sofern sie bereits in unserem Land
sind, die Voraussetzungen geschaffen werden, um diese
Personen leichter auszuweisen und abzuschieben.
({8})
Ich kann weitere Punkte nennen. Wenn der Innenausschuss seine Arbeit wieder aufgenommen hat, können wir
unsere Vorschläge Punkt für Punkt diskutieren. Dabei
können Sie, Herr Minister, deutlich machen, wo Sie unsere Vorschläge für nicht praktikabel halten. Aber dass
seinerzeit viele unserer Vorschläge bei der Behandlung im
Bundestagsinnenausschuss einfach abgelehnt worden
sind,
({9})
können wir bis heute nicht verstehen.
Wir meinen, wir brauchen eine Erweiterung der Verbotsmöglichkeiten für islamistisch-extremistische Vereine. Wir brauchen die Strafbarkeit der Unterstützung solcher Vereine.
({10})
- Herr Tauss, darüber lacht man nicht.
({11})
- Ich komme gleich auf das Thema Verbotsverfahren,
al-Aksa und Kalifatsstaat. Aber wenn wir über solch
ernste Themen reden, sollten Sie dies nicht lächerlich
machen, Herr Tauss.
({12})
Ich darf weitere Punkte nennen. Wir brauchen - ich
sage es noch einmal - die Strafbarkeit der Unterstützung
und der Werbung für ausländische terroristische Vereinigungen. Über das Thema biometrische Daten hat der Kollege Bosbach bereits gesprochen. Wir brauchen auch Versagungsgründe für Visa und Aufenthaltsgenehmigungen
bei Terrorismus- und Extremismusverdacht. Wir brauchen die Erfassung und Speicherung der Daten hinsichtlich ethnischer und religiöser Zugehörigkeit auch im
Ausländerzentralregister. Wir brauchen im Einbürgerungsverfahren und bei der Erteilung von Aufenthaltsrechten
eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz.
Sowohl der Kollege Röttgen als auch der Kollege
Bosbach haben schon über eine sinnvolle Ausgestaltung
der Kronzeugenregelung gesprochen. Wir sehen sehr
wohl - auch durchaus selbstkritisch -, an welchen Stellen
die seinerzeit von uns eingeführte Kronzeugenregelung
nicht dem entsprach, was aus rechtsstaatlichen Gründen
wünschenswert gewesen wäre. Ich meine aber, dass man
auch und gerade unter der terroristischen Bedrohung über
eine vernünftig auszugestaltende Kronzeugenregelung reden müsste.
Wir meinen, dass es auch im operativen Bereich notwendig ist, die Maßnahmen von Polizei und Verfassungsschutz zu verbessern. In diesem Zusammenhang
sind Rasterfahndungen und Beobachtungen islamistischer Bestrebungen durch den Verfassungsschutz des
Bundes und der Länder zu nennen.
Herr Minister, Sie haben im Zusammenhang mit den
Sicherheitsbehörden unseres Landes den Diensten gedankt. Auch darin stimmen wir Ihnen zu. Aber uns ist
doch die grundsätzliche Skepsis und Ablehnung Ihres
grünen Koalitionspartners gegenüber den Geheimdiensten bekannt. Angesichts dessen, was Herr Ströbele immer
wieder lauthals zu diesem Thema von sich gegeben hat,
befürchten wir, dass bei der im Koalitionsvertrag angekündigten Überprüfung von Aufgaben, Struktur, Effektivität, Befugnissen und Kontrolle der Geheimdienste
eine Schwächung der Dienste erfolgt. Das hielten wir für
unverantwortlich und das würde auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen.
({13})
Jetzt komme ich dazu, was Sie in der Koalitionsvereinbarung zu dem Thema „Weitere Erleichterungen im Staatsangehörigkeitsrecht“ angekündigt haben, Herr Minister.
({14})
Wir meinen, dass aufgrund der bisherigen Erkenntnisse bei
der Terrorismusbekämpfung über weitere Erleichterungen im Staatsangehörigkeitsrecht noch einmal nachgedacht werden müsste. Ich will an dieser Stelle nicht darüber
sprechen, dass hinsichtlich des Anstiegs der Zahl der Einbürgerungen im Jahr 1999 um 30 Prozent davon auszugehen ist, dass fast die Hälfte der neu eingebürgerten Ausländer noch ihren alten Pass besitzt und somit entgegen der offiziellen Darstellung der Bundesregierung quasi eine doppelte Staatsangehörigkeit hat. Ich will auch nicht darüber
sprechen, dass man manchmal vermuten könnte, dass Sie
sich durch weitere Erleichterungen im Staatsangehörigkeitsrecht neue Wählerschichten erschließen möchten.
({15})
Ich meine aber, Herr Minister, dass Ihnen das, was ich gerade ausgeführt habe, sicherlich bei den verschiedenen
Verfahren zu denken gegeben hat, wenn Sie ehrlich sind.
Denn Sie haben schon bei den Verbotsverfahren die Folgen der Reformen im Staatsangehörigkeitsrecht zu spüren
bekommen.
Im Zusammenhang mit dem Verbot des Spendensammelvereins al-Aksa hat die „taz“ Anfang Oktober berichtet, dass dieser Verein für sich nicht mehr gelten lassen
wollte, dass er in Deutschland ein von Ausländern getragener Verein ist, weil viele der Aktionisten inzwischen
eingebürgert sind.
({16})
- Deshalb lassen Sie uns doch gemeinsam darüber nachdenken, Herr Minister, dass es nicht das richtige Signal
ist, über weitere Erleichterungen bei der Einbürgerung
ohne Regelanfrage nachzudenken. Schließlich mussten
Sie sowohl beim al-Aksa-Verfahren als auch beim Verbotsverfahren im Zusammenhang mit dem Kalifatsstaat
zur Kenntnis nehmen, dass eine Reihe der Aktivisten eben
keine Ausländer, sondern eingebürgert sind.
Ich meine, wir müssen auch eine Diskussion über die
gesellschaftspolitische Dimension des Terrorismus führen. Wir müssen uns schon fragen, wie viel Unterschiedlichkeit ein Land verträgt, wie viel Gemeinsamkeit ein
Land braucht, um seine innere Bindungskraft und seine
Widerstandsfähigkeit gegenüber extremistischen Strömungen nicht zu verlieren, und ob wir nicht von Neuem
damit beginnen könnten, ohne ideologische Verbrämung
({17})
die Gefährdungen für die innere Sicherheit unseres Landes auch im Zusammenhang mit einer ungesteuerten Zuwanderung zu sehen.
({18})
- Ich sage das so deutlich: auch nach den bisherigen Erfahrungen einer ungesteuerten Zuwanderung.
Herr Minister, Ihnen ist doch sicherlich auch die Entscheidung des Vorsitzenden des zuständigen Gerichts
bekannt, der den Kalifen von Köln verurteilt hat. Der
Richter hat sich in der Urteilsbegründung zutiefst erschüttert gezeigt über das Ausmaß der in Deutschland
entstandenen, gegen unsere Verfassung, gegen die Demokratie und gegen unseren Wertekanon gerichtete Parallelgesellschaft, die sich hinter dem Kalifen von Köln und
dem Kalifatsstaat verborgen hat.
({19})
Darum, dass wir, wenn wir solche Gefahren erkennen,
entschiedener handeln, dass noch einmal über eine Nachbesserung der Antiterrorpakete nachgedacht wird und
dass mit der Evaluierung nicht zwei Jahre gewartet wird,
möchte ich Sie, Herr Minister, namens meiner Fraktion im
Sinne einer konstruktiven Zusammenarbeit, wie Sie sie
angeboten haben, bitten.
Herr Minister, das Thema ist zwar zu ernst. Dennoch
möchte ich wie der Kollege Stadler mit einer etwas
scherzhaft gemeinten Bemerkung enden.
Nein, Herr Kollege Koschyk, Sie haben Ihre Redezeit
bereits überschritten.
Wir helfen Ihnen gegenüber allen Größeren.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Silke Stokar von Neuforn.
Herr Kollege Koschyk, im Zusammenhang mit der
Evaluierung der Sicherheitsgesetze haben Sie mich unter
Nennung meines Namens - ich vermute: bewusst - falsch
zitiert und wiedergegeben. Ich möchte das richtig stellen.
Ich habe vorhin deutlich gesagt, welches Ziel wir mit
der Evaluierung verfolgen: Wir werden untersuchen, ob
die verabschiedeten Gesetze und die damit verbundenen
Befugnisse in jedem Einzelfall geeignet sind, das Ziel der
Terrorismusbekämpfung - auch dieses habe ich vorhin
genannt; das ist ein gemeinsames Ziel von Rot-Grün; ich
sage das, damit hier keine Unklarheiten entstehen - zu erreichen. Wir werden uns das von den Diensten und vom
Bundesinnenministerium an der Praxis erläutern lassen.
Selbstverständlich werden wir auch klären, ob die Gesetze verhältnismäßig sind. Dies ist ein ganz normaler
Vorgang. Ihre Darstellung dessen, was ich gesagt haben
soll, weicht weit von dem ab, was ich in meiner ersten
Rede in diesem Hohen Hause tatsächlich gesagt habe.
({0})
Herr Kollege Koschyk, wollen Sie erwidern?
({0})
Für die Bundesregierung hat jetzt das Wort die Frau
Staatsministerin Dr. Christina Weiss.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begreife Kultur als ein Regelwerk des Füreinanders und des Miteinanders. Sie umgrenzt das Feld der
Auseinandersetzung einer Gesellschaft mit ihren Traditionen und Wurzeln, ihren Werten, ihren Zielen, ihren
Konflikten und natürlich ihren Visionen, den zukünftigen
Pfaden der Entwicklung. Kultur prägt die Lebensentwürfe der Individuen und bildet zugleich den Nährboden
ihrer Realisierung. Sie umfasst außerdem das Selbstbewusstsein einer Gesellschaft und eines Staates. Sie definiert die Verhältnisse des Umgangs miteinander sowie die
von Gerechtigkeit und Verantwortung.
({0})
Wenn der Staat die Kultur vernachlässigt, dann vergeht
er sich an seiner eigenen Zukunft; denn er nimmt sich die
kreative Kraft der Visionen, der Utopien. Ich zögere nicht,
diese großen Begriffe hier einzuführen. Verstehen Sie
mich bitte nicht falsch: Es geht mir nicht primär - jedenfalls nicht heute - um die Frage des Geldbetrages, den die
öffentliche Hand für die Kultur aufbringt, auch wenn ich
gleich zu Beginn meiner Amtszeit durchaus mit fiskalischen Dingen konfrontiert war. Es geht mir heute vielmehr um die Haltung gegenüber den Künsten, um die
Wertschätzung dessen, was Künstlerinnen und Künstler
zum Gemeinwohl beitragen.
({1})
Die Künste sind ein Spezialfall der Kultur, das Kraftfeld der Kreativität in einer Kultur. In der Begegnung mit
den Künsten lernen wir, unsere Subjektivität, das heißt
unsere innere Vielfalt, unsere geistige Unabhängigkeit auf
der Basis der Gewissheit kultureller Identität, auszuprägen. Die Künste erschließen Grundlegendes, aber nicht
Selbstverständliches. Sie trainieren die Wahrnehmungsfähigkeit, sie schulen die emotionale Intelligenz ebenso
wie das Vermögen, über plurale Weltsichten nachzudenken. Künstler erkunden Grenzbereiche, sie zeigen Grenzen auf und überschreiten sie zugleich. Die Ergebnisse
dieser Grundlagenforschung präsentieren sie als ein Angebot an die Sinne, ein Angebot, das im Übrigen bei jedem Wahrnehmungsakt neu und anders ergriffen werden
kann.
Kunst stellt immer wieder neue Beziehungen her zwischen Optionen der Wahrnehmung und Formen der Reaktion. Die Künste ermöglichen und erfordern auf diese
Weise eine Art von Kommunikation, wie sie für unsere
Gesellschaft einmalig ist. Diese Art von Kommunikation
eröffnet uns neue Denkräume, neue Erfahrungsmöglichkeiten. Kunst ist das Labor für die Energien der Fantasie,
des freien, sich selbst reflektierenden Denkens. Das Regelwerk des Miteinanders, meine Damen und Herren,
gründet sich nicht zuletzt auf dieses Denken.
Nun bin ich nicht nur die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur, sondern auch für Medien. Hier soll
eine Anmerkung genügen: Die Medien nehmen innerhalb
des eben skizzierten Kontextes eine Doppelstellung ein.
Sie sind einerseits Teil der Kultur, auch in dem Sinne, dass
sie wesentlich zur Ausbildung von Subjektivität beitragen, andererseits vermitteln sie Ausprägungen von Kultur. Damit ist eines der Spannungsfelder benannt, innerhalb dessen wir uns mit den Medien und damit natürlich
mit uns selbst auseinander setzen müssen.
Was folgt aus diesen Überlegungen für mein Amtsverständnis? Ich möchte es so beschreiben: Regelwerke,
nicht nur juristische, sind auf Anwältinnen und Anwälte
angewiesen, damit sie ausgelegt werden und in Kraft bleiben können. In diesem Sinne sehe ich mich als Anwältin
für die Kultur. Zum Spektrum meiner „Anwaltspraxis“
gehört in erster Linie dreierlei: das Moderieren, das Repräsentieren - auch verstanden als Vertretung von Interessen und ebenso „Missionieren“, das heißt das Werben, verstanden als Vermitteln von Kunst und Kultur und dem,
was sie uns als Möglichkeitssinn eröffnen. Dass mich bei
der Verfolgung dieser Mission der Wirklichkeitssinn nicht
verlässt und verlassen wird, dessen bin ich mir sicher,
auch dank der Bindung meines Amtes an dieses Haus.
Ich sprach von einem Regelwerk des Miteinanders.
Beziehen möchte ich diese Leitideen auch ganz praktisch
auf die Kooperation mit anderen Ressorts. Kulturpolitik muss ressortübergreifend gedacht werden - ich könnte
auch sagen: grenzübergreifend.
({2})
Beziehen möchte ich die genannten Ideen vor allem auch
auf die Arbeit mit Ihnen hier im Parlament, im Ausschuss
für Kultur und Medien und in den anderen Ausschüssen
des Deutschen Bundestages. Es geht mir um eine Kultur
des miteinander Debattierens, aber auch des miteinander
Entwickelns.
Ich bin gespannt darauf, mich mit Ihnen auseinander zu
setzen und - davon gehe ich einfach aus - zu verständigen. Verständigung suchen wir über Grundsätzliches,
aber auch über sehr konkrete kultur- und medienpolitische
Fragen. Lassen Sie uns aber in jedem Fall gemeinsam der
Kultur, der geistigen Orientierung unserer Gesellschaft,
etwas mehr Gewicht verleihen!
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Lammert
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
Beginn des rot-grünen Projekts ist die Kulturpolitik eine
besonders auffällige, aber keine besonders starke Seite
dieser Bundesregierung.
({0})
Dem ersten Beauftragten der Bundesregierung war das
Amt nicht wichtig genug, um der Versuchung zu widerstehen, bei der erstbesten Gelegenheit in einen scheinbar
noch interessanteren Spitzenjob in der Medienwirtschaft
zu wechseln.
({1})
Sein Nachfolger war dem Bundeskanzler nicht wichtig
genug, um in dem Bundesland, aus dem er selbst kommt,
in Niedersachsen, eine Regelung mit der staatlichen
Hochschule, von der jener beurlaubt war, zur Sicherung
einer späteren Laufbahn als Hochschullehrer sicherzustellen.
Nun Christina Weiss. Ich begrüße Sie herzlich, Frau
Weiss. Ich wünsche Ihnen eine glückliche Hand, insbesondere aber die Hartnäckigkeit und das Durchsetzungsvermögen, die Sie in einer Koalition brauchen werden, die
sich seit Jahren mit Ankündigungen sehr viel leichter tut
als mit der tatsächlichen Stärkung des Stellenwerts von
Kunst und Kultur.
({2})
Bei der sprichwörtlichen kulturpolitischen Feinfühligkeit
des Bundesfinanzministers werden Sie genug Schwierigkeiten haben, den höchst bescheidenen Anteil Ihres
Teilressorts am Bundeshaushalt aufrechtzuerhalten, der
in der Zeit Ihrer Amtsvorgänger übrigens von überschaubaren 0,4 Prozent auf ganze 0,3 Prozent des Bundeshaushalts gesunken ist - bei gleichzeitiger Ankündigung eines
dramatischen Anstiegs des Stellenwerts von Kunst und
Kultur.
Der Blick in die Koalitionsvereinbarung ist ebenso
ernüchternd wie die heutige Regierungserklärung. Das
gilt sowohl mit Blick auf die nationale Kulturpolitik als
auch - vielleicht in noch stärkerem Maß - mit Blick auf
die auswärtige Kulturpolitik. Heute Morgen haben wir
dazu zwei, vielleicht drei Sätze gehört - einer so belanglos wie der andere. Gerhard Schröder hat hier heute Morgen vorgetragen, die Kulturpolitik sei für diese Bundesregierung nicht einfach eine angenehme Nebensache.
({3})
Nach dem, was er nicht vorgetragen hat, und nach dem,
was auch in der Koalitionsvereinbarung dazu nicht zu finden ist, muss man befürchten: nicht einmal das.
Wer in der Koalitionsvereinbarung unter dem Stichwort „Kunst und Kultur“ nachschaut, findet eine Ansammlung von deprimierend einfallslosen und lustlosen
Formulierungen zu diesem Gegenstand.
({4})
Was in dieser Koalitionsvereinbarung neu ist, ist nicht
richtig, und was richtig ist, ist nicht neu. Leider, Frau
Weiss, haben wir auch von Ihnen außer einigen völlig
unstreitigen Allgemeinplätzen über den Stellenwert von
Kunst und Kultur heute nichts dazu gehört, was Sie denn
an konkreten Vorhaben für diese Legislaturperiode in Ihr
Amt übernehmen wollen.
({5})
Nun gibt es eine auf den ersten Blick aufregende, jedenfalls elektrisierende Vokabel, die man in den wenigen
Sätzen zur Kunst- und Kulturförderung in der Koalitionsvereinbarung nur schwerlich übersehen kann, und das ist
die Prüfung auf die künftige Kulturverträglichkeit der
eigenen Politik, die Klausel zur Kulturverträglichkeit, mit
deren Überwachung offenkundig die Beauftragte der
Bundesregierung ausdrücklich ausgestattet werden soll.
({6})
Was von dieser Kulturverträglichkeitsklausel zu halten
ist, haben wir mit einer nun wirklich erstaunlichen Geschwindigkeit in den wenigen Tagen zwischen dem Abschluss der Koalitionsvereinbarung und den ersten Ankündigungen des Bundesfinanzministers erlebt. Während
es in der Vereinbarung der Koalition noch lautet - ich zitiere - „Wir werden auch in Zukunft die Vielfalt des Engagements von Bürgerinnen und Bürgern in Vereinen ...
nach Kräften unterstützen“, hat der Finanzminister einen
Tag nach dem Abschluss dieser Koalitionsvereinbarung
erklärt,
({7})
was er sich unter einer tatkräftigen Unterstützung des Engagements von Bürgerinnen und Bürgern in Vereinen vorstellt: Er beabsichtigt die Streichung der Abzugsfähigkeit
von Spenden von Unternehmen für gemeinnützige Organisationen und Verbände. Dies war ein Anschlag auf das
bürgerschaftliche Engagement in unserem Land.
({8})
Die Umsetzung Ihres Vorhabens wäre die mutwillige Zerstörung der finanziellen Grundlagen ehrenamtlichen Engagements in Hunderttausenden von gemeinnützigen Vereinen, Verbänden und Organisationen gewesen. Ihr Plan
war ein ganz unglaublicher steuerrechtlicher Salto mortale nach unserer gemeinsamen Kraftanstrengung zur Novellierung des Stiftungsrechts und nach der Ermutigung
ehrenamtlichen Engagements durch eine famose, grandiose Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages,
die mindestens in dieser Zielsetzung völlig einig war.
({9})
Im Übrigen war es auch eine schwer verständliche
haushaltspolitische Dummheit; denn die auf diesem Wege
bestenfalls zu erreichenden zusätzlichen Steuereinnahmen stehen in überhaupt keinem Verhältnis zu den sicher
entgangenen Einnahmen der Vereine und Verbände, die
diese Mittel dringend benötigen.
({10})
Was es im Übrigen mit der Ermutigung bürgerschaftlichen Engagements zu tun haben soll, dass eigennützige
Sponsorentätigkeiten steuerlich berücksichtigt werden
können, gemeinnützige Aktivitäten dagegen nicht, das
bliebe das große Geheimnis einer rot-grünen Koalition.
({11})
- Verehrter Herr Kollege Tauss, es würde uns etwas fehlen, wenn nicht auch diese Rede hauptsächlich durch Ihre
Zwischenrufe bei gelegentlichen Interventionen des gemeldeten Redners gekennzeichnet würde.
({12})
Aber ich will mindestens zu Ihrer vorübergehenden
Beruhigung gerne Folgendes einräumen: Ich gehe ausdrücklich davon aus, dass kein Kulturpolitiker sowohl der
roten wie der grünen Fraktion an den Formulierungen der
Koalitionsvereinbarung und schon gar nicht an den Absichten des Finanzministers beteiligt war. Das strahlende
Lächeln des Kollegen Barthel bestätigt diese freundliche
Vermutung. Dies entlastet in der Tat die Kulturpolitiker;
aber es zeigt den tatsächlichen Stellenwert von Kultur
und Medien in dieser rot-grünen Koalition.
({13})
Verehrte Frau Weiss, Sie treten ein Amt an, das mittlerweile, nach anfänglichem Streit, insbesondere zwischen Bund und Ländern, mehr als zwischen den Parteien,
als Ausdruck der Verantwortung des Bundes für die Förderung von Kunst und Kultur - neben der Verantwortung
der Länder und Kommunen - als allgemein anerkannt gelten kann.
({14})
Sie werden im Deutschen Bundestag auf einen Ausschuss
für Kultur und Medien treffen, in dem das gemeinsame
Bemühen um die Förderung von Kunst und Kultur noch
ausgeprägter als die Wahrnehmung der jeweiligen Rolle
von Regierung und Opposition ist. Das soll, soweit es an
uns liegt, so bleiben.
Sie werden eine breite Unterstützung im Übrigen dringend brauchen. Ich sage Ihnen heute für die CDU/
CSU-Fraktion gerne zu: Sie werden sie auch bekommen,
jedenfalls dann - allerdings auch nur dann -, wenn es
nicht nur um Allgemeinplätze, sondern auch um konkrete
Maßnahmen, um die Förderung von Kunst und nicht um
die Selbstinszenierung von Politik geht. Es muss sich allerdings vieles ändern, damit manches besser werden
kann.
({15})
Ich erteile das Wort der Kollegin Monika Griefahn,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Frau Staatsministerin,
herzlich willkommen!
Lieber Herr Lammert, Sie haben die Kulturverträglichkeitsprüfung besonders erwähnt. Ich kann nur sagen:
An diesem Begriff und an der Tatsache, dass Sie die
Hälfte Ihrer Redezeit dazu benutzt haben, darzustellen,
was hätte sein können, zeigt sich, dass unsere Kulturverträglichkeitsprüfung funktioniert.
({0})
Denn wir haben Einspruch erhoben. Ich kenne die gute
Praxis der Umweltverträglichkeitsprüfung: Wenn die
Umweltpolitiker gesagt haben: „So geht das aber nicht;
das ist nicht verträglich“, und gegen eine Sache angegangen sind, um sie zu korrigieren, dann war das ein gutes
Zeichen, dann war das Ausdruck der Bewältigung einer
Querschnittsaufgabe, wie sie nun auch die Ministerin und
wir, die Ausschussmitglieder, zu erfüllen haben.
({1})
- Wir können das Problem gemeinsam in bewährter Manier lösen.
Die letzten vier Jahre haben gezeigt, Herr Dr. Lammert,
wie erfolgreich Kulturpolitik des Bundes sein kann. Die
Regierungskoalition hat 1998 einen mutigen und innovativen Schritt getan, indem sie das Amt des Staatsministers für Kultur und Medien eingerichtet hat. Die ersten
beiden Amtsinhaber - Michael Naumann und Julian
Nida-Rümelin - haben, jeder auf seine Art, gemeinsam
mit uns, dem Parlament, in vier Jahren sehr viel geschafft
und angestoßen. Wir haben nämlich fast die gesamte Koalitionsvereinbarung vom letzten Mal abgearbeitet - das
wissen Sie auch -: das Stiftungsrecht, ein neues Gedenkstättenkonzept, viele Dinge wie zum Beispiel der Hauptstadtkulturvertrag, die Förderung der Buchpreisbindung
usw. Ich meine, wir brauchen uns nicht sagen zu lassen,
dass wir nichts gemacht hätten.
({2})
Die Kulturpolitik des Bundes hat Impulse gegeben
und auch Debatten auf Länderebene und kommunaler
Ebene belebt. Das ist ein wichtiger Punkt; denn dort war
die Kultur sozusagen noch mehr weggebrochen. Sie hat
ferner die Stärke Deutschlands sichtbar gemacht: kulturelle Vielfalt in vielen Orten, von der Oper bis zur Soziokultur, von München über die Lüneburger Heide bis nach
Berlin. Um diese Vielfalt und diese vielen Orte beneiden
uns andere Länder sehr. Deutschland ist noch immer - bei
allen Sparmaßnahmen - eines der in diesem Bereich bestausgestatteten Länder. Dafür werden wir weiter und, wie
ich meine, auch gemeinsam kämpfen. Das heißt, dass wir
die Prozesse in den Kommunen besonders begleiten werden, natürlich auch in Berlin. Das wird eine unserer Aufgaben jetzt im Ausschuss sein.
({3})
Unser Ziel am Anfang dieser neuen Legislaturperiode ist es, die erfolgreiche Politik für Künstler und Kunst
fortzusetzen sowie den Dialog der Kulturen nach innen
und außen weiterzuführen. Kultur ist essenzieller Ausdruck der Gesellschaft, in der sie entsteht, in der sie wirkt
und sich weiterentwickelt. Kultur ist, wie es im Koalitionsvertrag steht, „Voraussetzung einer offenen, gerechten
und zukunftsfähigen Gesellschaft“.
({4})
Kulturpolitik ist damit auch Gesellschaftspolitik par excellence, und Kulturpolitik hat damit viel größere und tiefere Wirkungen, als ordnungspolitische Initiativen allein
sie erzielen könnten. Deshalb ist Kulturpolitik untrennbar
mit gesellschaftlichem, mit zivilem Engagement verbunden und ohne sie überhaupt nicht denkbar. Deshalb wollen wir sie weiter fördern. Deshalb ist die Steuerabzugsfähigkeit von Spenden ein wichtiger, zentraler Punkt
genauso wie das Stiftungsrecht, zu dessen Zustandekommen wir gemeinsam beigetragen haben.
Dialogfähigkeit der Kulturen nach innen und außen ist
auch Grundlage von Demokratie. Dabei helfen gerade
Künste: Musik, Literatur, Theater, Film und zunehmend
neue Medien und die Vermengung der verschiedenen
Ebenen in neuen Medien.
({5})
Deswegen werden wir besonders alle diese Verschränkungen unterstützen und darauf schauen, dass das in der
Welt präsent ist.
Wenn wir diese offene und gerechte Gesellschaft haben
wollen, sind unsere internationalen Kulturbeziehungen
und die auswärtige Kulturpolitik ein zentraler Bestandteil davon. Deshalb ist der viel zitierte Dialog der Kulturen ein Teil von Krisenprävention und wird immer wichtiger in den internationalen Beziehungen, auch in der
Außen- und Sicherheitspolitik. Das sehen wir immer wieder; wir müssen auch immer wieder dafür kämpfen. So erleben wir es gerade in Afghanistan, wo unsere aktiven
Bemühungen, zum Beispiel Mädchenschulen einzurichten oder Goethe-Institute wieder einzurichten, von vielen Seiten stark torpediert werden; denn dort gibt es
Kräfte, die Mädchenschulen wieder schließen wollen. Es
ist ein ganz wichtiger Punkt unserer Außen-, Bildungsund Kulturpolitik, dies voranzutreiben und damit auch
Menschenrechte und die Fähigkeit, gleichberechtigt miteinander zu leben, zu vermitteln.
({6})
Aber es gibt nicht nur die Goethe-Institute und die
deutschen Schulen, auf die ich noch komme, sondern
auch die Deutsche Welle, die einen wichtigen Beitrag zur
Demokratisierung, zum zivilgesellschaftlichen Wiederaufbau in Afghanistan leistet. Das betrifft zum Beispiel
die Unterstützung beim Aufbau des Fernsehens mit Programmen in Dari und Paschtu. Auch das sind ganz praktische Möglichkeiten, den Dialog der Kulturen zu fördern,
Demokratisierung und Menschenrechte voranzubringen.
Auch das wird eine wichtige Aufgabe sein, für die wir uns
aktiv einsetzen müssen, für die wir immer wieder werben
müssen. Denn das sind die Dinge, die tatsächlich nachhaltig da wirken, wo wir als Deutsche vor Ort vertreten
sind und Beziehungen zu den Menschen in anderen Ländern knüpfen.
({7})
Deshalb ist die Neuformulierung des Deutsche-Welle-Gesetzes ein wichtiger Punkt in dieser Legislaturperiode, um
den Programmauftrag neu zu formulieren.
Neben der Präsentation von Deutschland im Ausland
stellen sich auch die Fragen des Kriseninterventionsradius, aber eben auch der Dialogstruktur, die ganz wichtig ist. Ganz nebenbei, Herr Koschyk hat sich immer sehr
für die deutsche Sprache eingesetzt. Auch das ist ein wichtiger Punkt, der dabei mitvermittelt wird.
Wichtig sind auch die deutschen Auslandsschulen.
Sie sind Orte, an denen der Bezug zu Deutschland und seiner Kultur früh hergestellt wird. Hier entsteht Bindung an
unser Land und die Schüler und Schülerinnen in den deutschen Schulen - ob sie nun aus Deutschland kommen oder
aus dem jeweiligen Gastland - sind Botschafter für
Deutschland. Sie sind Botschafter für die Werte und für
die Normen, über die wir gerade hinsichtlich der Innenpolitik diskutiert haben: Menschenrechte, Demokratisierung und Gleichberechtigung. Dies alles sind Ziele, die
wir versuchen zu erreichen.
Dafür haben wir in diesem und im nächsten Jahr zusätzliche Gelder vorgesehen, die wir einsetzen wollen.
Wir müssen mit den Ländern - auch dabei ist wieder die
Kooperation der Länder notwendig - darüber diskutieren,
wie wir vor Ort die Standards organisieren. Das ist natürlich ein wichtiger Punkt, damit nicht auf einmal die Länder die Anerkennung von Abschlüssen infrage stellen,
({8})
sondern damit wir weiterhin die Möglichkeit haben, auch
bei größerem Anteil von örtlichen Schülern und ortsansässigen Kräften, die Abschlüsse zu gewährleisten.
Die Wahrnehmung Deutschlands als Kultur- und Wirtschaftsnation - ganz klar beides - ist das Entscheidende
und der Punkt, von dem aus wir agieren müssen. Dazu
gehört zum Beispiel - auch das werden wir in dieser Legislaturperiode vorlegen - ein novelliertes Filmförderungsgesetz. Hier geht es darum, den europäischen Film
und damit auch den deutschen Film als Kulturgut zu bewahren, ihn zu exportieren und als Teil von Europa zu präsentieren. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den wir auch
mit der Buchpreisbindung deutlich gemacht haben. Literatur, Bücher und eben auch Filme sind nicht nur Wirtschafts-, sondern auch Kulturgüter. Das ist ein Punkt, den
wir deutlich machen müssen.
({9})
Kollegin Griefahn, Sie haben Ihre Redezeit überzogen.
Kommen Sie bitte zum Ende.
Ja gut, ich komme zum Schluss. - Das heißt, wir haben
eine Menge zu tun.
({0})
Wir haben schon viel gemacht. Aber wir existieren erst
seit vier Jahren, Sie haben das vorher nicht gemacht.
({1})
Ich wünsche mir, dass Sie auch weiterhin im Ausschuss
so aktiv und kooperativ mit uns zusammenarbeiten und
mit der Ministerin all diese Dinge auf den Weg bringen.
Ich wünsche uns eine wirklich konstruktive Zeit.
({2})
Der Herr Kollege Otto ist schon da und hat das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. Liebe Frau Weiss, auch
die Liberalen gratulieren Ihnen herzlich zur Übernahme
des Amtes und bieten Ihnen unsere konstruktive Zusammenarbeit an. Der Kollege Funke aus Hamburg hat uns
von Ihrem segensreichen Wirken in Hamburg erzählt. Wir
hoffen, dass es Ihnen hier in Berlin genauso gelingen wird.
Offen gesagt haben wir das Gefühl, dass Sie den Rückhalt und die Unterstützung des Parlaments als Parteilose,
die über kein Parlamentsmandat verfügt, brauchen. Jedenfalls fällt es auf, dass von Ihren Wünschen, die Sie in
Ihren Berufungsverhandlungen mit dem Bundeskanzler
geäußert haben, kein einziger erfüllt worden ist. Insbesondere haben Sie keine Zuständigkeit für die GoetheInstitute und die auswärtige Kulturpolitik erhalten. Sie haben nicht die Zuständigkeit für den Denkmalschutz
erhalten und zu meinem großen Bedauern auch keine einheitliche Zuständigkeit für die Medienpolitik bekommen.
Viel schlimmer noch, die aktuellen Koalitionsbeschlüsse im Koalitionsvertrag fördern nicht die Kultur, sondern sie schwächen sie. Da gab es den, wie Sie, Frau Weiss,
sagten, unglücklichen Plan, die Spendenabzugsmöglichkeiten nach § 9 Körperschaftsteuergesetz zu streichen.
({0})
Der Plan ist jetzt erst einmal zurückgestellt. Warten wir
den 2. Februar 2003 ab. Aber ich frage mich: Welcher
Geist steckt hinter einer solchen Überlegung? Es ist jedenfalls kein Beitrag zu einer Zivilgesellschaft, wenn
Spenden an gemeinnützige Organisationen bestraft werden, während - Kollege Lammert hat schon darauf hingewiesen - die eigennützigen Sponsoringbeiträge weiterhin
steuerlich abgesetzt werden können.
({1})
Glaubt denn irgendjemand, dass man Spender und Mäzene mit solch abenteuerlichen Plänen motivieren kann,
mehr als bisher für Kunst und Kultur zu leisten? Was wir
brauchen, sind bessere steuerliche Rahmenbedingungen,
nicht schlechtere und schon gar keine Verunsicherung der
potenziellen Spender.
Ich möchte mich aber hauptsächlich einem anderen
Thema zuwenden. Ich empfinde es geradezu als Katastrophe für Kunst und Kultur, insbesondere für den Kunsthandel, dass es einen weiteren Plan unseres Pinocchio
Eichel gibt, der nicht zurückgezogen, sondern beschlossen worden ist. Auf Seite 71 des Koalitionsvertrages
findet sich folgender salbungsvolle Satz:
Der Mehrwertsteuersatz im Kulturbereich muss erhalten bleiben.
Die linke Hand, die Kulturhand, weiß offensichtlich nicht,
was die rechte Hand, die Steuerhand, tut; denn auf
Seite 19 desselben Papiers steht scheinheilig Folgendes:
Wir werden den Abbau ungerechtfertigter ... Steuervergünstigungen konsequent fortführen.
Was bedeutet das, meine Damen und Herren? Inzwischen wissen wir es. Der ermäßigte Umsatzsteuersatz für
Kunst- und Sammlungsgegenstände soll von bisher 7 Prozent auf 16 Prozent angehoben werden.
({2})
- Ja, vorbehaltlich der Kulturverträglichkeit. - Meine Damen und Herren, das ist die Logik des Koalitionsvertrages. Ich möchte einmal sehen, was dabei herauskommt.
Das eine, Frau Kollegin Griefahn, konnten Sie herausschießen, das andere offensichtlich noch nicht. Dem
Kunsthandel wird an der einen Stelle versprochen, dass
der ermäßigte Steuersatz erhalten bleibt - daraufhin sind
die meisten der Händler beruhigt -, und einige Seiten vorher wird in demselben Papier das Gegenteil festgelegt.
({3})
Das Finanzministerium, unser Freund Eichel, beziffert
die Steuermehreinnahmen aus der genannten Mehrwertsteuererhöhung bis zum Jahre 2006 locker auf 200 Millionen Euro. Mehr, meine Damen und Herren, können Sie
dem Kunsthandel und den Künstlern in Deutschland
wirklich nicht schaden.
Frau Weiss, Sie sagten, entscheidend sei die Haltung
und Wertschätzung gegenüber Künstlern. Ich frage mich
in der Tat, welche Haltung und Wertschätzung gegenüber
Künstlern dadurch zum Ausdruck kommt.
({4})
Frau Weiss, die liberale Opposition möchte Sie gern unterstützen. Wenn Sie gegen diese kultur- und kunstfeindlichen Pläne vorgehen, dann werden Sie uns an Ihrer Seite
finden.
Gestatten Sie mir abschließend noch eine kurze Anregung. Frau Weiss, Sie tragen den Titel einer Staatsministerin für Kultur und Medien. Ihr Hauptinteresse liegt angesichts Ihrer bisherigen Tätigkeit sicherlich im Bereich
der Kultur. Bedenken Sie aber bitte, dass der weit größere
Reformbedarf in der Medienpolitik liegt. Wir brauchen
dringend eine umfassende Reform der Medien- und Kommunikationsordnung. Das bisherige Regelungs- und Zuständigkeitsdickicht ist antiquiert und muss geliftet werden.
({5})
Nehmen Sie sich auch dieses überfälligen Reformprojekts
an.
Auf eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen! Wir freuen
uns darauf.
Danke schön.
({6})
Ich erteile dem Kollegen Günter Nooke von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Jörg Tauss [SPD]: Das ist der neue Kulturmi-
nister!)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst, Frau Staatsministerin, auch von mir als
Sprecher für Kultur und Medien herzlichen Glückwunsch
zum Amtsantritt. Sie treten ein Amt an, das mit einer
großen Hypothek belastet ist. Die Erwartungen der einschlägigen Szene sind umso größer.
Leider wurde das Amt von den bisherigen Inhabern ein
bisschen als Durchlauferhitzer verstanden oder - besser
gesagt - missverstanden. Das hat dem Amt nicht gutgetan.
Ich kann nur hoffen, dass Sie das besser machen und die
Kultur im Rahmen Ihrer Amtsausführung mit größerer
Verlässlichkeit fördern.
Das Wichtigste ist doch, dass wir hier für dieses Land
arbeiten und dass das, im Gegensatz zu Ihren Vorgängern,
als ehrenvolle Aufgabe angesehen wird. Bei Herrn
Naumann und Herrn Nida-Rümelin kritisiere ich nicht
den Mangel an Engagement, aber was Ihren Vorgängern
doch nachgesagt werden muss, ist etwas, was auch mit
Kultur zu tun hat, nämlich ein Mangel an Patriotismus,
({0})
für den man sich gerade als für Kultur Verantwortlicher in
Deutschland wohl nicht schämen sollte.
Das Angebot der konstruktiven Mitarbeit vonseiten
der Opposition will auch ich Ihnen hier machen. Ich tue
das umso lieber, wenn Sie sich die Anträge und Vorschläge der Union zu Eigen machen, in denen wir uns
bemühen werden, die überzeugenderen Lösungen anzubieten, wie wir das schon in den vergangenen vier Jahren
gemacht haben.
Unter den vielen nicht ganz zu Ende gedachten, wenig
überzeugenden und von vornherein korrekturbedürftigen
Papieren zur Kulturpolitik der Koalitionsfraktionen, mit
denen Sie sich in den vergangenen Jahren auch im Ausschuss für Kultur und Medien beschäftigten, gehört der
Koalitionsvertrag nun wirklich zu den schwächsten Texten.
Mein Eindruck, dass diese Worte zur Kultur eine
Sammlung von Selbstverständlichkeiten, Wünschen und
kostenlosen Versprechungen an die Klientel sind, wurde
durch das, was Sie hier gesagt haben und was der Bundeskanzler heute Vormittag gesagt hat, leider bestätigt.
Das wäre nach den vielen Enttäuschungen dieser Art mit
einem eben noch vertretbaren Maß an Gleichmut hinnehmbar. Wenn sich aber schon knapp 24 Stunden nach
der Unterzeichnung herausstellt, dass Ihre Ministerkollegen - vor allem der Finanzminister - den Text ohnehin nur
als unverbindliche Empfehlung ansehen und sich ihn eben
nicht zu Eigen machen, dann muss schon die Ernsthaftigkeit der Aussagen, die Sie hier treffen und die Sie zu Papier gebracht haben, infrage gestellt werden.
Hans-Joachim Otto ({1})
Ich will einmal eine Aussage, die den Mehrwertsteuersatz im Kulturbereich betrifft, zitieren:
Der Mehrwertsteuersatz ... muss erhalten bleiben.
Was heißt denn das? An wen richtet sich eigentlich das
Wort „muss“? Diese Forderung klingt wie eine Selbstverpflichtung. Dass sie aber wie ein frommer Wunsch behandelt wird, dürften die Kulturpolitiker leidvoll bemerkt
haben, und zwar schneller, als sie es selbst wahrhaben
wollten.
Über die Spendenabzugsfähigkeit haben wir gerade
gesprochen.
Die Erfindung der Kulturverträglichkeitsklausel ist
übrigens auch nur solch ein kostenloses Versprechen, und
dazu noch eines, das die Kulturszene selber einlösen
muss. Nicht einmal die Prüfung wird bezahlt; Sie lassen
sie durch den Protest der Öffentlichkeit auch noch die Öffentlichkeit und die Klientel selber machen.
({2})
Schöner hätte der operative Nutzen dieser Klausel kaum
demonstriert werden können.
Weder das Papier noch der bisherige Umgang der Koalitionäre damit geben ein Zeichen an die Kultur, das sie
vielleicht am nötigsten braucht, nämlich ein Zeichen der
Verlässlichkeit. Wenn es der Politik schon nicht möglich
ist, „Probleme mit Geld zuzukleistern“, wie Sie gesagt
haben, dann sollten Sie vor allem eines vermeiden, nämlich neue Probleme durch Unzuverlässigkeit zu verursachen. Kultur braucht vor allem Verlässlichkeit.
Im Koalitionsvertrag wird festgestellt, dass Kultur immer wichtiger werde. Das ist schön gesagt und leicht geschrieben, und man hat den Eindruck, dass hinter der Formulierung der naive Glaube steckt, dass sich bei so großer
Wichtigkeit bei allen die Einsicht einstellt, an der finanziellen Ausstattung nicht mehr weiter zu kürzen. Aber
auch dazu gibt es kein Wort von Ihnen. Sie haben nicht
einmal die Themen aufgezählt - Frau Griefahn hat das immerhin getan -, geschweige denn gesagt, wie viel Sie wo
tun wollen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen aber weiter und in wachsendem Maße auseinander; denn es stehen
auch im Haushalt 2003 weniger Mittel für Kultur zur Verfügung, und das bei nun angekündigtem größeren Engagement, zum Beispiel bei den Stätten des Weltkulturerbes und in Berlin.
Über das Engagement des Bundes in der Hauptstadt
heißt es, es werde erhalten und ausgebaut. So mutig das
Reden vom Ausbau auch erscheinen mag: Wir hätten es
- das ist hier schon mehrfach gesagt worden - gern etwas
genauer gewusst. Zum anderen übersieht die Formulierung, dass es in erster Linie an der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Bund und Land mangelt; denn der
Hauptstadtkulturvertrag genügt aus einer ganzen Reihe
von Gründen nicht den Ansprüchen, die Berlin - als Bundeshauptstadt wie als Land - und der Bund zu Recht stellen. Wir werden im kommenden Jahr über die Neufassung
dieses Hauptstadtkulturvertrages reden müssen.
Weitere Beunruhigung entsteht auch, wenn der Koalitionsvertrag vorsieht, dass sich der Bund aus der kulturellen Filmförderung verabschieden will, indem er die
Kompetenzen an die Filmförderungsanstalt abgibt. Das
ist eine Idee, wie sie unnötiger und unsinniger kaum sein
könnte. Sie gehört in die Kategorie „Probleme, die die
Welt nicht braucht“, könnte man sagen. Besonders bizarr
wirkt es, dass die bedachte Filmförderungsanstalt das Geschenk überhaupt nicht haben will.
All die anderen Dinge will ich gar nicht aufzählen. Der
schwache Punkt dieser Koalitionsvereinbarung - das will
ich hier nur noch einmal zusammenfassend sagen - ist: Es
fehlt an belastbaren, konkreten Aussagen zur Kulturförderung für die nächsten Jahre.
Einen anderen Punkt möchte ich auch noch ansprechen. Sie haben hier fernab der Wirklichkeit auch philosophische Dinge besprochen und uns gebeten, die Anbindung an die Realität zu organisieren. Doch Kultur - da
sind wir uns einig - hat nicht nur mit Geld zu tun. Insofern will ich diesen Faden gerne aufnehmen. Es ist nämlich auch über eine Aufgabe zu reden, die im Koalitionsvertrag nicht erwähnt wird, die aber uns als Kultur- und
Medienpolitiker beschäftigen muss und künftig auch stärker beschäftigen wird. Die Medien - die alten wie die
neuen - sind nicht nur ein wachsender Wirtschaftsfaktor.
Vielmehr haben sie auch einen großen Anteil an der kulturellen Entwicklung und an der gesellschaftlichen und
auch nationalen Identität. Ob bewusst oder unbewusst,
beabsichtigt oder unbeabsichtigt tragen sie dazu bei, das
zu erzeugen, was jeder Einzelne als sein Bild von der Welt
bezeichnet. Presse und elektronische Medien vermitteln
das, was die Gesellschaft als Realität annimmt.
Mit diesem Phänomen haben wir uns viel stärker als
bisher auseinander zu setzen. Denn die Wirklichkeit wird
über Medien wahrgenommen, ohne dass diese uns Instrumente überlassen, mit denen ein Wahrheitsgehalt festgestellt werden könnte. Wir können also nur annehmen, dass
das, was uns vermittelt wird, die Realität ist. Sicherer können wir nur werden, wenn wir Kompetenz haben, wenn
wir gelernt haben, mit Fiktion und Realität gleichermaßen
kritisch umzugehen.
Mir geht es in diesem Zusammenhang deshalb um
zweierlei:
Erstens muss auch die Kultur- und Medienpolitik deutlicher als bisher die Bedeutung der Medienkompetenz in
den Vordergrund stellen und zum selbstverständlichen
Bestandteil der kulturellen Bildung machen.
Zweitens müssen wir uns mit der Frage beschäftigen,
was es für unser Bewusstsein bedeutet, dass Fiktion zur
Realität wird, wie zum Beispiel beim Terroranschlag auf
das World Trade Center geschehen, das als Science-Fiction vorformuliert existierte.
Dabei geht es nicht nur um das Bewusstsein des Einzelnen, sondern auch darum, das Bewusstsein einer Nation zu
bilden, wie der Film „Baader“ von Christopher Roth im
Sommer dieses Jahres exemplarisch gezeigt hat. Fiktion
und Wirklichkeit, Imitation und Tatsachen werden hier in
einer unschlüssigen Halbdistanz ununterscheidbar. Je besser die Erfindungen in das linke Klischee passen, desto
leichter ist Glaubwürdigkeit herzustellen. Das Tragen eines
T-Shirts mit RAF-Symbolen ist nicht länger politisch, Herr
Umweltminister. Es ist nur noch in oder out. Politik wird
zum Zitat, Klassenkampf zum Kult: „Prada Meinhof“. Ich
glaube, auch darüber lohnt es sich zu sprechen.
Die RAF war davon überzeugt, Geschichte machen zu
können, ein Geschäft, das die Medien mittlerweile souverän und gut beherrschen.
Herr Kollege Nooke, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ja. - Der Weg von den wirklichen Ereignissen zur historischen Kolportage ist kürzer geworden. Bei der Kolportage geht es nicht mehr um historisch-kritische Reflexion oder gar um die politische Wahrheit. Die jüngste
Zeitgeschichte wird aus dem historischen Kontext gelöst.
In diesem Zusammenhang wird es besonders wichtig
sein, darüber zu diskutieren, wie wir im Rahmen der Erinnerungs- und Gedenkstättenkultur mit der Interpretation der NS- und der SED-Diktatur umgehen. Ich würde
mir wünschen, dass sich der Bund engagiert, wenn es zum
Beispiel am 9. November darum geht, hier in Berlin den
Weg zu einer Mauergedenkstätte einzuschlagen und diesen Tag als einen zu entdecken, der nicht nur das Land
Berlin, sondern auch uns auf Bundesebene betrifft.
Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Ende kommen.
Jawohl, Herr Präsident, ich komme zum Schluss und
sage: Es wäre gut, wenn wir uns gemeinsam darüber verständigten, dass es in der Kulturpolitik richtig ist zu sagen
- dieser Satz hat ja im Vorfeld dieser Debatte eine gewisse
Rolle gespielt -: Es ist Zeit für Taten und nicht nur für
schöne Worte.
Danke schön.
({0})
Weitere Wortmeldungen zu diesen Themenbereichen
liegen nicht vor.
Wir kommen damit zum Themenbereich Umwelt.
Das Wort hat Bundesminister Jürgen Trittin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
zum Auftakt der 15. Wahlperiode über die Umweltpolitik
in den nächsten vier Jahren sprechen, dann wird Ihnen einiges bekannt vorkommen.
({0})
Selbstverständlich wollen wir den Weg, den wir beispielsweise mit dem Ausstieg aus der Atomenergie
eingeschlagen haben, fortsetzen.
({1})
Wir werden in diesen vier Jahren das Ende der Transporte
in die Wiederaufarbeitung organisieren. Die Kraftwerke
in Stade und Obrigheim werden vom Netz gehen. Dies
alles dürfte uns weiter in unseren Debatten begleiten.
Wenn Sie den Koalitionsvertrag und das dort festgelegte Programm anschauen, dann werden Sie etwas Neues
finden. In Kap. V der Koalitionsvereinbarung finden Sie
im Hinblick auf die Umwelt-, Verkehrs- und Energiepolitik erstmalig im Kern zusammengefasst, was wir unter einer nachhaltigen Politik verstehen: Wir wollen Umweltpolitik nicht auf technischen Umweltschutz beschränken,
sondern ganz bewusst auch die Aspekte der Verkehrsund Energiepolitik einordnen.
({2})
- Ja, es ist die Agrarpolitik. Nein, Entschuldigung, Uli, ich
nehme es zurück.
Der junge Kollege ist noch etwas heftig.
Er ist aber nicht der Erste, dem das passiert ist.
Meine Damen und Herren, ich möchte zu drei Dingen
etwas sagen. Erstmalig sind wir im Bereich der ökologischen Finanzreform nicht nur darangegangen, stärker
für Gerechtigkeit beim Abbau von Subventionen zu sorgen, sondern wir haben darüber hinaus auch ökologische
Signale gesetzt.
Ist es wirklich sinnvoll, dass beispielsweise bei der Besteuerung mit Umsatzsteuer das Fliegen besser gestellt
wird als der Erwerb von Nahrungsmitteln? Während für
den Erwerb von Nahrungsmitteln nur der halbe Mehrwertsteuersatz galt, musste beim Fliegen bisher gar keine
Mehrwertsteuer gezahlt werden. Dies war insbesondere
im Vergleich zu einem anderen Verkehrsträger, nämlich
der Bahn, unvernünftig, weil das ökologisch vorteilhafte
Verkehrsmittel höher besteuert wurde als das ökologisch
unzweifelhaft nachteiligere. Das korrigieren wir mit unserem Ansatz.
({0})
Ich frage die Kommunalpolitiker, ob es in Zeiten knapper Kassen wirklich sinnvoll gewesen ist, diejenigen, die
Wohneigentum aus dem Bestand erworben haben - das
ist verkehrs-, kommunal- und auch steuerpolitisch vernünftig gewesen -, für dieses vernünftige Verhalten zu
bestrafen, indem sie nur die halbe Eigenheimzulage erhielten, während diejenigen, die auf der grünen Wiese neu gebaut haben, die volle Eigenheimzulage bekamen. Auch hier
haben wir in der Koalitionsvereinbarung gezeigt, wie man
auch in der Steuerpolitik umweltpolitisch umsteuern kann.
({1})
Ich will ein drittes Beispiel nennen. Wir wollen das
fortsetzen, was wir mit dem Erneuerbare-EnergienGesetz auf den Weg gebracht haben. Wir wollen für die
Offshore-Windanlagen in den nächsten Jahren ein großes Ausbauprogramm auflegen und den Weg zur ökologischen Modernisierung der Energiepolitik fortsetzen.
Wir wollen das aber nicht nur in Deutschland machen
- deswegen haben wir das Marktanreizprogramm für
die erneuerbaren Energien vor die Klammern gezogen -,
sondern wir wollen das auch international unterstützen.
Das ist der Grund, warum wir uns dazu verpflichtet haben,
nicht nur eine große Konferenz zu erneuerbaren Energien
in den nächsten Jahren durchzuführen, sondern auch eine
halbe Milliarde Euro allein dafür in die Hand zu nehmen,
dass erneuerbare Energien in den Entwicklungsländern
eine Zukunftschance erhalten. So packen wir drei Dinge
zusammen: Armutsbekämpfung, Klimaschutz und ein
Stück Standortpolitik für eine wachsende Branche in
Deutschland.
({2})
Eine letzte Bemerkung: Ich wünsche mir für die
nächste Klimakonferenz vom gesamten Haus die Unterstützung, die wir beim Kioto-Protokoll erfahren haben.
Wir stehen am Vorabend der Konferenz in Neu-Delhi vor
der Situation, dass wir darüber neu verhandeln müssen,
wie es weitergehen wird, wenn die erste Verpflichtungsperiode 2012 endet. Schon jetzt beginnen die Ansagen für
die Zeit danach.
Wir haben mit der Koalitionsvereinbarung ein international klares Signal gesetzt: Deutschland will weiter seiner Rolle als Vorreiter beim Klimaschutz gerecht werden. Wir sind bereit, wenn andere diesen Weg mitgehen
- Vorreiter heißt nämlich nicht Stellvertreter -, bis zum
Jahr 2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Das heißt, wir
werden das, was wir bisher erbracht haben, faktisch noch
einmal verdoppeln.
Unser Angebot zur Klimaschutzpolitik ist: Wir wollen
international gemeinsam mit den Europäern, mit den Industrieländern und - ich füge hinzu - auch mit bestimmten Schwellenländern ein entsprechendes Signal setzen.
Ich würde mich freuen, wenn wir dieses Haus jenseits allen Streites, den wir immer wieder in dieser Frage haben
werden, lieber Kollege Lippold, auf dem Weg des Klimaschutzes und der gemeinsamen Zielsetzung für die Bundesrepublik Deutschland auch weiterhin so gemeinsam vertreten können, wie wir das zum Beispiel beim Kioto-Protokoll
gemacht haben. Ich glaube, an dieser Stelle können wir auf
das, was wir gemeinsam erreicht haben, stolz sein.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Es hätte euch etwas gefehlt, oder?
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesminister, Sie haben Kioto zu Recht angesprochen. Ich
komme gleich im Detail darauf zu sprechen, aber einleitend muss etwas gesagt werden: Ich kann Ihnen nicht ankreiden, dass Sie hier wenig gesagt haben, weil Ihre Redezeit hier offensichtlich begrenzt war. Es wäre unfair,
dies zu tun.
({0})
Wir werden eine Reihe von anderen Positionen später
miteinander ausmachen müssen.
Ihr Bundeskanzler hatte heute eigentlich hinreichend
Zeit,
({1})
etwas zur Umwelt zu sagen. Aber außer einer beiläufigen
- ich würde fast sagen: abfälligen - Bemerkung zum
Umweltschutz hat er überhaupt nichts dazu gesagt.
({2})
Diese Thema ist von ihm systematisch nicht beachtet
worden, was dafür spricht, Herr Bundesminister, dass Sie
bei diesem Bundeskanzler nicht die Unterstützung haben,
die Sie brauchen, um international wirklich durchstoßen
zu können. Darauf kommt es aber letztendlich an.
({3})
Sie können sicher sein, Herr Minister, dass wir Ihnen
für das, was auf der Konferenz in Delhi anzustreben ist,
genauso Rückendeckung zusagen, wie wir dies seinerzeit
für Kioto gemacht haben, weil wir konstruktive Kritik und
keine negative Kritik üben.
Der Sachverhalt ist aber der, dass man sich hier mit der
Klimaschutzpolitik der Bundesregierung auseinandersetzen muss. Wie sieht diese aus? Sachverhalt ist doch - ich
komme auf Versäumnisse in Ihrer Koalitionsvereinbarung
später noch detailliert zu sprechen -, dass Sie bei den vergangenen Konferenzen immer mit dem Minderungsziel
von minus 25 Prozent bis 2005 durch die Gegend gezogen
sind, welches wir aufgestellt haben, dass Sie gleichzeitig
mit der Minderungsrate, die wir bei Kohlendioxidemissionen für Sie erreicht hatten, überall Eindruck geschunden haben und jetzt unter Ihrer Regentschaft, wo Ihre Politik zu wirken anfängt, die Kohlendioxidemissionen
steigen, Herr Minister.
({4})
Dies müsste Sie eigentlich nachdenklich machen, aber
nicht nur nachdenklich, sondern dies müsste Sie auch
wesentlich selbstkritischer machen. Wenn Ihre Politik
wirklich so erfolgreich wäre, wie Sie tun und Sie dies in
Nebensätzen immer wieder sagen, würden die Kohlendioxidemissionen doch nicht wieder steigen. Ich könnte
dies ja noch verstehen, wenn wir eine boomende Wirtschaft hätten, die aus allen Nähten kracht, weil die Produktion läuft, die Leute sich des Lebens freuen, das Leben
genießen und dabei die Emissionen steigen.
Sie aber sind doch gar nicht in der Lage, die Wirtschaft
boomen zu lassen. Die katastrophale Lage der Wirtschaft
und am Arbeitsmarkt, die Abnahme von Beschäftigung und
die Zunahme von Arbeitslosigkeit sind doch alles Faktoren,
die eigentlich dazu beitragen, dass die Emissionen sinken
und nicht steigen. Trotz dieses Trends schaffen Sie es nicht,
die Emissionen weiter sinken zu lassen, das, was wir auf den
Weg gebracht haben, deutlich weiter nach vorn zu schieben.
Deshalb verstehe ich auch, Herr Trittin, dass sich eine
explizite Formulierung des 25-Prozent-Ziels, das Sie bis
zum Jahre 2005 erreichen wollen, nicht in Ihrer Koalitionsvereinbarung findet. Dies haben Sie ganz schamhaft
unter den Tisch fallen lassen.
({5})
Da hilft auch nicht das Ablenkungsmanöver, dass Sie
in fernen 20 Jahren um 40 Prozent reduziert haben wollen. In 20 Jahren, Herr Minister, sind die Dinge alle gegessen.
({6})
Den vernünftigen Einstieg brauchen wir jetzt.
Mit Blick auf Delhi muss man aber sagen, dass das,
was wir bis zum Jahre 2005 erreichen wollen, die Basis
ist. Wenn ich den ersten Teil des Gebäudes nicht ordentlich baue, brauche ich mir über die erste Etage keine Gedanken mehr zu machen. Das Fundament und das Erdgeschoss müssen richtig gebaut sein. Dies verpassen Sie im
Moment aber. Sie schlampen in der Grundfrage der Reduktion der Kohlendioxidemissionen. Auch bei den anderen Klimagasen haben Sie nicht zugelegt. Dies heißt also:
Fehlanzeige auf der ganzen Linie.
Dies finde ich bedauerlich, denn wer draußen wirken
will - und das wollen Sie in Delhi -, der muss zu Hause
Erfolge vorzeigen, wie Sie früher immer richtig gesagt haben. Dies können Sie aber vor dem Hintergrund, wie ich
ihn gerade skizziert habe, nicht.
({7})
Ich sage ganz offen, Herr Minister, dass es vor diesem
Hintergrund schwer ist, andere zu überzeugen. Es ist notwendig, dass in Delhi jetzt weitere möglichst konkrete
Vorentscheidungen fallen, wie es über das Jahr 2012
hinaus weitergehen soll. Es wäre ausgesprochen wichtig,
dass wir in dieser Richtung jetzt klar von Ihnen hören, wo
in Zukunft die Minderung liegen soll, wie Sie sich insbesondere die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern und den Schwellenländern vorstellen. Wir müssen den Entwicklungsländern einen Zuwachs an Energieverbrauch gönnen; ich glaube, das ist unstrittig. Bei
dem Verbrauch, den wir haben, können wir andere nicht
von der Verbesserung ihres Lebensstandards abhalten.
Auf der anderen Seite ist unbestreitbar notwendig - ich
bitte Sie, sich dafür einzusetzen -, dass wir die Schwellenländer in Delhi mit ins Boot bekommen; denn ohne die
Schwellenländer werden wir das Klimaproblem, das ich
für das gravierendste Umweltproblem überhaupt halte,
nicht lösen können. Da ist jetzt Ihr Geschick gefragt. Ich
habe manchmal das Gefühl, dass Sie jenseits der Kernenergiediskussion zu Hause nicht den nötigen Nachdruck
auf internationale Verhandlungen legen und dieses Thema
nicht entsprechend vertreten. Deshalb appelliere ich an
Sie, Ihre Strategie und Ihre Vorgehensweise zu ändern.
Genauso erwarte ich von Ihnen, dass Sie in Zukunft im
europäischen Umweltschutz mehr Engagement zeigen,
statt bei den gelegentlichen Umweltschutzvorstößen aus
Europa bundesrepublikanisch noch draufzulegen und unsere Wettbewerbsfähigkeit zu verschlechtern.
({8})
Eine der Grundlinien, die wir vertreten, ist, den Umweltschutz mit einer vernünftigen Wirtschaftspolitik
und einer Politik, die arbeitsmarkt- und arbeitsplatzorientiert ist, zu verbinden.
({9})
Herr Trittin, was Sie gerade in Sachen Eigenheimzulage
gesagt haben, ist in dieser Frage völlig kontraproduktiv.
Ich sage es einmal so: Auch Ihre Baupolitiker schwelgen
ja immer in der Vorstellung, dass man jungen Familien
mehr Wohnraum zu vernünftigen Preisen usw. anbieten
muss. Aber jetzt an der Eigenheimzulage so herumzubasteln, wie Sie es tun, ist falsch, vor allem wegen der negativen Folgen.
Unsere Vorstellungen im Klimaschutzbereich waren
ganz klar. Ich bedaure, dass wir sie jetzt nicht umsetzen
können. Der Punkt ist, dass im Altbaubestand, wo in Bezug auf die Klimapolitik das erheblichste Potenzial für die
Reduktion von Kohlendioxidemissionen liegt, mit steuerlichen Anreizen gearbeitet werden muss. Wir haben da
ganz klare Vorstellungen entwickelt.
Ich habe diese Passage mit den steuerlichen Zuschüssen oder steuerlichen Anreizen jetzt bei Ihnen wiederentdeckt, Herr Trittin. Ich sage Ihnen zu: Wenn Sie zu dem
Thema steuerliche Anreize dynamisch etwas wirklich
Profundes mit entsprechender Stoßkraft vorlegen, werden
wir Sie unterstützen. Das ist gar keine Frage; denn das
wäre produktiv in dem Sinne, dass mit einer Maßnahme
sowohl Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werden
könnten und gleichzeitig etwas für den Umweltschutz getan würde. Das ist eine Politik, wie ich sie mir vorstelle.
({10})
Aber das haben Sie nur schwach angedeutet.
({11})
Dr. Klaus W. Lippold ({12})
Dr. Klaus W. Lippold ({13})
Diese Positionen müssten bei Ihnen besser dargestellt sein,
sonst ergeht es Ihnen in dieser Frage so wie bei den nationalen Nachhaltigkeitsstrategien. Die entsprechenden Zielsetzungen haben Sie schon in die letzte Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben, aber nichts ist passiert. Sie
wollten - auch das steht in der Koalitionsvereinbarung von
1998 - ein Umweltgesetzbuch, aber nichts ist passiert.
({14})
Sie wollten die Novelle der Sommersmogverordnung,
Sie wollten die Novelle der Verpackungsverordnung,
aber nichts ist passiert. Alles steht de facto wieder in der
Vereinbarung; manches haben Sie zwischenzeitlich auch
wieder vergessen.
({15})
Das ist ein Punkt, den wir Ihnen nicht durchgehen lassen: dass Sie von Mal zu Mal die gleichen Positionen bringen, die Sie schon in grauer Vorzeit realisieren wollten,
und die Eiszeittiger, die Sie ausgraben, als völlig neue, lebende Objekte verkaufen wollen. So geht das nicht. Da
muss wirklich etwas Neues kommen.
({16})
Wir werden uns, Herr Trittin, wie ich das sehe, in Zukunft auch kritisch über die Instrumente auseinander setzen. Wir meinen, dass wir marktwirtschaftliche Power
nutzen müssen, um den Umweltschutz voranzubringen,
national wie international. Die Selbstverpflichtung, die
Sie langsam anfingen mitzutragen, findet sich in der
neuen Koalitionsvereinbarung jetzt nur noch sehr oberflächlich. Sie haben die Verhandlungen in Brüssel über
die handelbaren CO2-Emissionen mit solcher Nachlässigkeit geführt, dass das Instrument der Selbstverpflichtung gefährdet ist. Das ist falsch, Herr Minister, so können wir das nicht angehen.
({17})
So können wir nichts umsetzen. Dann haben Sie die salvatorische Klausel aufgenommen, dass die EU das Ganze so
abschließen soll, dass Selbstverpflichtung möglich bleiben könnte - Konjunktiv! -, nicht möglich bleiben muss.
Diese Positionen lassen wir Ihnen so nicht durchgehen,
Herr Minister, denn sie sind in Brüssel nicht mit dem
Nachdruck verhandelt worden, wie sie hätten verhandelt
werden müssen.
Hier komme ich wieder auf die Querbeziehung zurück.
Wenn ein Emissions Trading eingeführt wird, das die
Arbeitsplätze in großen Teilen der Chemie und anderer Industrie nachhaltig gefährdet, dann werden wir Ihnen die
Verantwortung dafür nicht abnehmen, sondern ganz klar
sagen: Die Arbeitsplatzvernichter sitzen auf der Regierungsbank und auf der linken Seite des Parlaments.
({18})
Die Nachlässigkeit, mit der Sie diese Dinge gestrickt haben, werden Sie noch aufzuarbeiten haben. Andere Länder
wie die Niederlande oder England haben hier ganz anders
vorgebaut, als Sie das getan haben. Ich meine, das muss
deutlich angesprochen werden. Das geht nicht anders. Hier
gibt es noch Punkte, über die diskutiert werden muss.
Sie haben über die Energiewende gesprochen. Ich sage
dazu nur so viel, da Kollege Paziorek noch näher auf die
Frage der regenerativen Energien eingehen wird: Wir
brauchen regenerative Energien. Sie unterstellen uns immer zu Unrecht, dass wir diese nicht wollten. Wir brauchen aber wettbewerbsfähige regenerative Energien und
nicht regenerative Energien um jeden Preis. Wir brauchen
angepasste regenerative Energien und nicht Windkraftwerke an Standorten, an denen die Windgeschwindigkeit
0,1 Meter pro Sekunde beträgt und dadurch die Subventionsdauer verlängert wird. Das kann es doch wohl nicht
sein. In dieser Frage werden wir uns auseinander setzen
müssen.
({19})
Wenn Sie das Ganze so angehen wollen, dann zitiere
ich Altminister Müller, den ehemaligen Wirtschaftsminister, den schon jetzt keiner mehr kennt. Ich habe ihm damals gesagt, Schröder würde ihn nicht wieder berufen.
Das ist auch so gekommen und ich verstehe auch, warum.
Aber ob derjenige, der neu gekommen ist, besser ist, darüber werden wir noch nachdenken müssen. Er ist nämlich aus Nordrhein-Westfalen weggegangen, bevor man
erkennen konnte, was er dort alles nicht geleistet hat. Der
Bundeskanzler ist aus Niedersachsen weggegangen, bevor ihn das Übel, das er dort angerichtet hat, eingeholt hat.
Zurück zur Thematik. In diesem Punkt werden wir,
wenn Sie das so angehen, das gewünschte Ziel nicht erreichen. Eine Energieversorgung ohne Kernenergie nur
mit regenerativen Energien schafft Zusatzkosten in der
Größenordnung von 250 Milliarden Euro für die nächsten
Jahre. Angesichts des Etats, den Ihr Finanzminister hier
vorlegt und angesichts der Perspektiven, die er hier entwickelt hat, können wir das vergessen. Ich sage ganz deutlich: So wird das nicht funktionieren, wenn wir eine vernünftige Finanzpolitik auf der einen Seite und eine
vernünftige Klimaschutzpolitik auf der anderen Seite machen wollen. Also: Der Ausstieg aus der Kernenergie wird
- das können Sie nicht ändern - teuer im Klimaschutz bezahlt werden.
Dabei wird natürlich auch deutlich, dass Ihr Instrument
der Ökosteuer schlussendlich über die ganzen Jahre hinweg nichts bewirkt hat.
({20})
Sie haben abkassiert, aber sie selbst hat kein ökologisches
Ziel erreicht und hat zum Erreichen eines ökologischen
Zieles nichts beigetragen.
({21})
- Darüber könnten wir gerne im Detail diskutieren.
Horst Kubatschka [SPD]: Da gehen Sie ganz
schön ein!)
Ich sage Ihnen aber, dass wir - unterfüttert bis hin zum
Sachverständigenrat - deutlich machen können, dass dies
so nicht läuft.
({22})
Unsere Strategie wird eine andere sein. Wir setzen auf
marktwirtschaftliche Instrumente.
({23})
Wir setzen auf Selbstverpflichtungen. Wir setzen auf
steuerliche Anreize, nicht auf ein Abkassieren durch die
Ökosteuer. Wir wollen sicherstellen, dass europäisch im
Gleichklang marschiert wird, dass wir nicht alles alleine
tragen, sondern dass die anderen die ökologische Verantwortung wesentlich stärker mit tragen. Das Gleiche wollen wir auch auf internationaler Ebene. Auch in dieser
Frage sind wir wesentlich flexibler. Hier gibt es noch Instrumente, die wir gemeinschaftlich diskutieren müssen.
Ihnen, Herr Minister, wünsche ich trotzdem guten Erfolg in Delhi. Wir werden kritisch betrachten, was Sie dort
erreicht haben. Ich wünsche Ihnen einen guten Flug.
({24})
Ich erteile das Wort der Kollegin Ulrike Mehl, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich Sie, Herr Lippold, hier höre, kriege ich gleich
Heimatgefühle. Wir sind wieder mittendrin, Ihre Rede
war wie immer laut, dafür aber weitgehend substanzlos.
({0})
Sie haben hier lange geredet und haben uns erzählt, was
Sie alles zu kritisieren haben. Aber Aussagen darüber, was
Ihre Ziele sind und wie Sie die erreichen wollen, fehlten.
Aber Sie haben ja noch vier Jahre Zeit.
({1})
In dieser Zeit können Sie noch viele Reden halten. Ich
kann es in einem Satz zusammenfassen: Die rot-grüne
Koalition hat in den letzten vier Jahren eine erfolgreiche
Umweltpolitik gemacht. Genau das werden wir fortsetzen. Das können Sie sich gerne ansehen.
({2})
Wir haben in unserer Politik die Menschen und die
Umwelt in das Zentrum der Arbeit gestellt. Deswegen
freue ich mich sehr, dass ein wichtiger Grundstein gelegt
worden ist. Durch die Politik der Bundesregierung haben
wir nämlich eine Nachhaltigkeitsstrategie, die wir in den
nächsten Jahren umsetzen werden. Sie enthält sehr viele
einzelne Punkte, an denen Sie sich gerne noch aufreiben
können.
Natürlich bleiben wichtige Fragen offen. Sie selber haben es ja 16 Jahre nicht geschafft, wichtige Probleme zu
lösen. Dann können Sie nicht erwarten, dass wir diese
Probleme in vier Jahren lösen.
Es werden noch viele Fragen zu beantworten sein, um
eine dauerhafte Generationengerechtigkeit und die Erhaltung von Lebensqualität zu erreichen.
Ich will fünf Punkte nennen - es wären viel mehr zu
nennen, aber Sie können das im Koalitionsvertrag ja auch
selbst nachlesen -:
Erstens. In Johannesburg ist wieder deutlich geworden,
dass eine nachhaltige Entwicklung überhaupt kein Selbstläufer ist. Wir müssen vielmehr alle Vertragsstaaten und
letztendlich auch die Entwicklungsländer dazu bringen,
dass sie die selbst eingegangenen Verpflichtungen auch
tatsächlich erfüllen. Es besteht Einigkeit darüber, dass
diese Verpflichtungen notwendig sind. Allerdings werden
diese eben nur bruchstückhaft umgesetzt. Dies ist in dem
Aktionsplan von Johannesburg - darin geht es um den Zugang zu Wasser, um eine angemessene Abwasserentsorgung, um eine weltweite Energiewende usw. - klar gesagt
worden.
Die Bundesregierung hat sehr schnell gehandelt und
bereits entsprechende Mittel, die in den nächsten fünf Jahren für diese Themenbereiche zur Verfügung gestellt werden sollen, zugesagt. Wir werden die uns angehenden
Punkte in der nationalen Umweltpolitik natürlich ebenfalls schnellstmöglich umsetzen. Wir haben eine Vorreiterrolle im Klimaschutz und werden selbstverständlich
mit Druck daran arbeiten, dass das auch zukünftig so
bleibt.
Die aktuelle Situation fordert zum Handeln. Das heißt,
dass das Kioto-Protokoll endlich in Kraft gesetzt werden
muss. Wir haben das Unsere dazu beigetragen. Das heißt
aber, dass auch auf internationaler Ebene weiterhin eine
kräftige Überzeugungsarbeit geleistet werden muss; denn
letztendlich kann man mittel- und langfristig nicht darauf
verzichten, dass die USA und auch Australien, Länder, die
sehr zögerlich mit dem Thema umgehen, mit ins Boot
kommen. So ärgerlich es ist, wie die amerikanische Regierung bisher mit dem Thema umgegangen ist: Man
kann es nichts links liegen lassen, sondern es muss Überzeugungsarbeit geleistet werden.
({3})
Bei genauerem Hinsehen stellen sich auch in Europa
die erreichten Fortschritte als sehr unterschiedlich dar.
Das Wissen darum, dass ein Klimawandel eingesetzt hat,
ist vorhanden. In den letzten Tagen konnten wir in den
Zeitungen wieder lesen, was die letzten Stürme - so wie
andere vorhergehende auch - alleine die Allianz-Versicherung gekostet haben, nämlich 18 Millionen Euro.
Dass also auch ökonomische Folgen daraus entstehen,
ist jedem klar; es ist augenscheinlich geworden. Deswegen muss bei uns im Lande das Ziel lauten, das Begonnene ohne Abstriche weiterzuführen und die europäischen
Dr. Klaus W. Lippold ({4})
Partnerländer aufzufordern, ihre Beiträge dazu zu leisten.
Wir sind nicht der Stellvertreter für andere europäische
Länder. Alle müssen ihre Verpflichtungen erfüllen. Es ist
sicherlich richtig, dies auch von unserer Seite aus anzumahnen.
Zweitens. In der Energiepolitik - diese wurde eben
schon mehrfach angesprochen - bleibt der Ausbau der
erneuerbaren Energien natürlich unser zentrales politisches Vorhaben; denn langfristig ist nur eine Energieversorgung auf der Grundlage erneuerbarer Energien auch
zukunftsfähig.
({5})
Deswegen werden wir die Politik der letzten vier Jahre
fortsetzen. Sie können natürlich viel darüber reden, dass
dieses oder jenes nicht funktioniert hat. Eines ist aber klar:
Wir haben erreicht, dass der Anteil der erneuerbaren
Energien an unserer Stromversorgung bereits über 50 Prozent zugenommen hat. Allein die Windkraft hat sich verdreifacht; die Photovoltaik boomt. Es sind Zigtausende
von Arbeitsplätzen entstanden. Sie können noch so viel
drumherumreden: In diesem Zukunftsbereich werden
Arbeitsplätze geschaffen und Innovationen in den neuen
Technologien gefördert. Durch ihn verschaffen wir uns
eine Vorreiterstellung in dieser Technologie. Darüber hinaus wird in diesem Bereich der Umwelt- und Klimaschutz gefördert. Deswegen werden wir an diesem Thema
mit Macht weiterarbeiten.
({6})
Ich komme zu den Subventionen. Herr Lippold, Sie
haben eben angedeutet, dass das alles zu teuer sei. Dazu
will ich nur einen kleinen Zahlenvergleich bringen: Durch
das Erneuerbare-Energien-Gesetz wurden letztes Jahr
Zahlungen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro fällig. Das
bedeutete eine monatliche Belastung pro Haushalt von
3,25 Euro und entsprach etwa den Kosten eines Weizenbieres oder eines vergleichbaren Getränks. Bei aller Lust
am Streit denke ich, dass uns der Aufbau einer nachhaltigen Energieversorgung diesen Betrag wert sein sollte.
({7})
Drittens. Wir werden uns in dieser Legislaturperiode
natürlich auch mit der Kehrseite unserer Produkte befassen müssen, nämlich mit dem gesamten Komplex Abfallwirtschaft. Dabei ist es wichtig, dass in einer modernen
Abfallwirtschaft nicht nur Feuer gespeist werden, sondern
dass ganz am Anfang der Diskussion die Produktverantwortung steht.
Vor uns liegt unter anderem die Umsetzung der europäischen Elektronikschrottverordnung, für die wir eine
ökologisch und ökonomisch tragfähige Umsetzung brauchen, die sowohl für die private als auch die öffentlichrechtliche Entsorgungswirtschaft akzeptabel ist. Daneben
gibt es als wesentlichen Punkt das Setzen von Standards,
die für alle vergleichbar sind, für die Verbrennung von
Abfällen, egal wo sie verbrannt werden, und für die Verwertung. Das heißt unter anderem, dass Brennstoffe aus
Müll dringend standardisiert werden müssen.
Über all dem steht natürlich die Abfallvermeidung an
vorderster Stelle. Nicht zu vergessen: Das ist der erste
Schritt der Abfalldiskussion. Das werden wir fortsetzen.
Das Thema Dosenpfand bzw. das Einwegverpackungspfand bei Getränkeverpackungen haben wir
hinreichend diskutiert. Ich glaube nicht, dass wir darüber
weiter diskutieren müssen. Am 1. Januar 2003 tritt diese
Verordnung in Kraft.
Die Produktverantwortung ist für die Abfallpolitik Leitmotiv. Das gilt unter anderem für das Thema Klärschlamm in der Landwirtschaft, das wir in Kürze angehen
werden. Dazu gibt es sicherlich einiges zu diskutieren. Ich
finde, dass der Sachverständigenrat für Umweltfragen
dazu bemerkenswerte Vorschläge gemacht hat, Vorschläge, wie die Umwelt geschont und die Klärschlammproblematik einer Lösung zugeführt werden kann.
Viertens. In diesem Sommer gab es - das ist schon viel
erwähnt worden - die so genannte Jahrhundertflut, wobei
ich meine Probleme mit dem Begriff Jahrhundertflut
habe. Ich glaube, dass die Flut in diesem Jahrhundert nicht
die letzte gewesen sein wird. Damit ist aber wohl jedem
vor Augen geführt worden, dass in der Flusspolitik insgesamt dringend neue Konzepte angepackt werden müssen. Damit haben wir bereits begonnen. Im Koalitionsvertrag ist deutlich festgehalten worden, dass sich die
Technik den Flüssen anzupassen hat und nicht umgekehrt.
Ich glaube, das ist der richtige Weg.
({8})
Im Übrigen hat auch die Wasserrahmenrichtlinie mit
ihren Ansätzen, die wir bereits umgesetzt haben, gezeigt,
dass Flüsse als Gesamtsystem betrachtet werden müssen
und nicht nur partiell darüber nachgedacht werden darf,
was wo ausgebaut werden kann. Wir haben aufgrund der
Hochwasserkatastrophe, aber auch im Sinne des Naturschutzes ganz klar gesagt, dass zum Beispiel ein Ausbau
der Elbe und der Donau nicht infrage kommt. Dazu würde
ich gerne einmal Ihre Konzepte sehen; denn Sie haben
insbesondere bei der Donau, als wir den Antrag in der
letzten Legislaturperiode durchgesetzt haben, aus allen
Rohren mächtig dagegen geschossen. Deswegen ist Ihre
Glaubwürdigkeit auf diesem Gebiet mit einem dicken
Fragezeichen zu versehen.
({9})
Zum Thema Naturschutz - fünftens - kann ich noch
anfügen, dass dazu in der letzten Legislaturperiode von
uns sehr viel umgesetzt worden ist. Damit ist aber noch
nicht alles erledigt. Wir werden den Naturschutz weiter
stärken. Wir werden dafür sorgen, dass die Umsetzung der
Übertragung der 100 000 Hektar ökologisch wertvoller
Flächen in den neuen Bundesländern zügig vorankommt.
Wir werden dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die
Sicherung des so genannten grünen Bandes legen.
Kollegin Mehl, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich bin bereits am Ende angekommen.
Wie schön.
Wir haben uns in dieser Legislaturperiode durchaus
nicht weniger vorgenommen als in der letzten. Ich glaube,
dass Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen in der
Opposition, sehr viel mit uns zu tun haben werden. Wir
werden in vier Jahren ein weiteres positives Ergebnis der
Umweltpolitik verkünden und abschließen können.
Schönen Dank.
({0})
Ich erteile Kollegin Birgit Homburger, FDP-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren heute über die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag zur Umweltpolitik. Herr Minister Trittin, der
Sachverständigenrat hat Ihnen nach der letzten Legislaturperiode ins Stammbuch geschrieben, dass er über die
Umweltpolitik enttäuscht ist, weil es eine einseitige Konzentration auf Themen gab. Er hat Ihnen eine inhaltliche
Dürftigkeit bescheinigt. Die erste Reaktion der Umweltverbände auf diese Vereinbarung zeigt die gleiche Enttäuschung.
Ich habe mit Spannung erwartet, ob Ihre Ausführungen
heute über das hinausgehen würden, was in blumigen Formulierungen im Koalitionsvertrag steht. Ich meine, dass
sie keine Perspektive und kein Konzept enthalten. Deswegen wird das Gewurstel in diesem Bereich sicherlich in
den nächsten vier Jahren so weitergehen.
({0})
Sie haben die Konferenz zu den regenerativen Energien sehr stark herausgestellt, Herr Minister. Wir können
Ihnen versichern, dass wir das Vorhaben sehr unterstützen
und dass wir ebenfalls erkennen, welche Möglichkeiten
gerade auch auf internationaler Ebene in der Förderung
von regenerativen Energien liegen. Ich möchte aber gerne
von Ihnen die Frage beantwortet bekommen, warum Sie
die Chancen, die das Kioto-Protokoll mit den so genannten Clean Development Mechanism in diesem Bereich
längst bietet, für Deutschland bisher nicht genutzt haben.
Wir haben das mehrfach gefordert. Warum haben Sie das
verhindert? Sie haben alle unsere Anträge abgelehnt. Sie
bekommen zwar unsere Unterstützung, aber wir erwarten
von Ihnen, dass Sie endlich auch über das, was Sie schriftlich formuliert haben, hinausgehen.
({1})
Zum Erneuerbare-Energien-Gesetz hat der Kollege
Lippold von der CDU/CSU schon einiges gesagt. Ich
möchte an dieser Stelle nur darauf hinweisen, dass wir
vonseiten der FDP-Fraktion ein eigenes Fördermodell
vorgelegt haben. Wir sind gerne bereit, in diese Auseinandersetzung einzusteigen. Wir wollen die Förderung regenerativer Energien, aber wir wollen, dass sie auf eine
wirtschaftlich sinnvolle Weise organisiert wird. Und dabei gibt es Spielraum.
({2})
Es ist schon bezeichnend, dass der Bundeskanzler in
seiner einstündigen Regierungserklärung heute Vormittag
kein Wort über die Umweltpolitik verloren hat. Damit hat
Herr Schröder programmatisch das bestätigt, was wir
schon die ganze Zeit vermutet haben: Rot-Grün hat die
Umweltpolitik abgeschrieben.
Die Bankrotterklärung Ihrer Regierung in der Umweltpolitik ist symptomatisch in der Klimapolitik zu sehen. In
diesem Bereich ist fraktionsübergreifend ein Ziel beschlossen worden, für das wir uns immer eingesetzt haben, nämlich die CO2-Emissionen bis 2005 um 25 Prozent zu verringern. Im Wahlkampf haben Sie plötzlich nur
noch vom europäischen Ziel geredet. Inzwischen reden
Sie von keinem der beiden Ziele mehr. Sie reden weder
vom nationalen noch vom europäischen Ziel. Jetzt reden
Sie blumig darüber, dass Sie bis 2020 eine Verringerung
um 40 Prozent erreichen wollen, und knüpfen das an völlig utopische Bedingungen, die andere nicht erfüllen werden. Sie sind völlig unglaubwürdig, weil Sie sich von dem
Klimaschutzziel, das wir alle gemeinsam mit getragen haben, verabschiedet haben.
({3})
Die EU wird in den nächsten Wochen den Emissionshandel beschließen. In diesem Zusammenhang muss man
sich auch fragen, was Sie eigentlich getan haben, um
Deutschland darauf vorzubereiten. - Sie haben nichts getan. Herr Schröder meint, wir brauchten das nicht. Ihr
früherer Wirtschaftsminister meint auch, wir brauchten
das nicht. Und Ihr neuer Superminister Clement hat ausgeführt, es sei wichtig, dass die Wirtschaftlichkeit der heimischen Stromerzeugung nicht durch unkalkulierbare Belastungen aus dem Emissionshandel gefährdet werde.
Insofern muss ich Ihnen entgegenhalten: Warum haben
Sie sich eigentlich nicht um die europäische Vereinbarung
gekümmert? Nachdem inzwischen in Europa sozusagen
der Käse gegessen ist, schreiben Sie in Ihre Koalitionsvereinbarung, welche Bedingungen notwendig sind, um
den Emissionshandel in einer vernünftigen Weise in
Deutschland einzuführen. Das zeigt einmal mehr, dass im
Vergleich mit dieser Bundesregierung die Schnecke ein
Torpedo ist, Herr Minister.
({4})
Wenn ich Ihnen zugute halte, dass Sie den Emissionshandel nie wollten, dann lassen Sie uns einen Blick auf
den Atomausstieg werfen, den Sie schließlich immer
zum Ziel hatten. Was steht dazu in Ihrer glorreichen Vereinbarung? - Nichts anderes als das, was ohnehin bereits
gesetzlich geregelt ist. Hinzu kommt, dass Sie in einer
Situation, in der es zum ersten Mal darauf ankommt, Ihr
grünes Prestigeprojekt durchzuziehen, umfallen. Ich
nenne nur das Stichwort zwei Jahre Laufzeitverlängerung
für das Kernkraftwerk Obrigheim, Herr Minister. Das ist
Ihre Art von Glaubwürdigkeit in der Umweltpolitik.
({5})
Es wird systematisch abkassiert. Dabei bleibt es auch
in dieser Legislaturperiode. Entgegen allen Beteuerungen
steigt die Ökosteuer zum 1. Januar. Hinzu kommt, dass Ihr
Versprechen, dass mit der Ökosteuer eine Stabilisierung
oder sogar die Senkung der Rentenbeiträge verbunden sei,
nicht stimmt. Auch das mussten Sie zwischenzeitlich zugeben.
Sie liegen in allen Punkten völlig daneben. Das setzen
Sie in dieser Legislaturperiode genauso fort. Sie haben
aus der letzten Legislaturperiode nichts gelernt.
({6})
Zum Hochwasserschutz: Es gab in der Wahlkampfzeit
- die Kollegin Mehl hat das bereits angesprochen - eine
Flusskonferenz, die ich mit großem Interesse verfolgt habe.
Das Bundesverkehrsministerium sagt, dass diese Konferenz nicht ordentlich vorbereitet gewesen sei. Was muss ich
feststellen? Genau auf diese Konferenz wird in der Koalitionsvereinbarung Bezug genommen. Wir brauchen im
Hochwasserbereich eine internationale Zusammenarbeit.
({7})
Die Anrainerstaaten müssen aufgerufen werden, sich an
einen Tisch zu setzen. Nur so können wir gemeinsame
Konzepte über die großen Flussläufe hinaus entwerfen.
Das ist das, was wir von Ihnen erwarten, Herr Minister
Trittin.
({8})
Ich möchte eine letzte Bemerkung zur Abfallpolitik
machen. Es kann ja wohl nicht wahr sein, was ich dazu in
der Koalitionsvereinbarung gelesen habe. Dort wird das
Zwangspfand ausdrücklich bekräftigt, während die viel
wichtigere und eigentlich unumgängliche Novelle zur
Verpackungsverordnung erst gar nicht erwähnt wird.
({9})
In der letzten Legislaturperiode haben Sie wenigstens noch
in Ihre Koalitionsvereinbarung geschrieben, dass Sie das
Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz novellieren wollen.
Auf eine solche Novelle wartet die Wirtschaft in diesem
Bereich dringend, weil sie weiß, dass sie notwendig ist.
Kollegin Homburger, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Erwägen Sie das zumindest.
Herr Präsident, ich erwäge das zu Ihren Gunsten.
({0})
Ich möchte nur noch Folgendes sagen: Die Branche erwartet diese Novelle. Tatsächlich wird diese Novelle noch
nicht einmal mehr angesprochen. Sie wollen das bisherige
Chaos über den Verordnungsweg fortsetzen.
({1})
Das ist der deutschen Umweltpolitik nicht angemessen.
Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
({2})
Nun kommen Sie aber zum Schluss.
Jetzt kommt mein letzter Satz, Herr Präsident.
({0})
Wir haben in der letzten Legislaturperiode feststellen
müssen - wie es auch der Sachverständigenrat getan hat -,
dass auf dem Papier mehr steht, als tatsächlich geschehen
ist. Sie haben daraus Konsequenzen gezogen. Ich stelle
fest, dass die jetzige Koalitionsvereinbarung dazu nichts
mehr enthält.
({1})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Müller,
SPD-Fraktion.
Meine Damen und Herren! Die Hochwasserkatastrophe vor einiger Zeit hat schlagartig deutlich gemacht, wie
wichtig die ökologische Modernisierung ist. Interessanterweise hat die Öffentlichkeit so reagiert, wie sie reagieren musste. Sie standen auf einmal als eine Partei ohne
Kompetenzen in den Umweltfragen da. Sie haben auf
einmal ein schwarzes Loch gehabt. Das war die Wirklichkeit. Jetzt tun Sie so, als ob Sie Vorreiter der Umweltpolitik wären. Das glaubt Ihnen niemand, und zwar vor allen
Dingen deshalb, weil Sie - um ein Beispiel zu nennen bei den 18 klimaschutzrelevanten Maßnahmen der letzten
Legislaturperiode nicht einmal Ja gesagt haben.
({0})
- Sie haben im Bundestag nicht einmal Ja gesagt. Die
Union hat zwar im Bundesrat zweimal zugestimmt. Aber
hier haben Sie 18-mal Nein gesagt. Das ist die Wirklichkeit.
Im Übrigen muss ich Ihnen, Frau Homburger, sagen,
dass das, was Sie gesagt haben, überhaupt nicht zusammenpasst. Sie haben gesagt, dass alles, was Herr Trittin in
der Atompolitik mache - diese Politik betreibt nicht Herr
Trittin allein, sondern die Koalition -, völlig unproblematisch sei. Warum haben Sie dann diese Politik bekämpft?
({1})
- Sie haben doch vorhin behauptet, dass es sich bei dem
Ganzen nur um ein Auslaufen handle. Demnach sei das alles nicht problematisch.
({2})
Warum haben Sie dann aber unsere Atompolitik bekämpft? Ich sage Ihnen, warum Sie sie bekämpft haben:
Sie haben in der Umweltpolitik und insbesondere bei der
ökologischen Modernisierung nichts zu bieten, weil Sie
immer dann, wenn es darauf ankommt, umfallen und weil
Sie zusammen mit den anderen Umweltpolitikern in Ihrer
Fraktion in Wahrheit isoliert sind. Das ist die Wirklichkeit.
({3})
- Das ist keine Fehleinschätzung, sondern leider die Wirklichkeit. Interessanterweise hat das Ergebnis der Bundestagswahl gezeigt - das war einer der wesentlichen Punkte -,
dass die Bevölkerung genau das begriffen hat.
Wir müssen trotzdem über das, was im Sommer geschehen ist, weiter diskutieren; denn die letzte Flutkatastrophe hat wie kaum ein anderes Ereignis gezeigt, dass
Umweltpolitik kein Schönwetterereignis sein darf. Wir
wissen, dass sich der Energiehaushalt in den letzten Jahren weiter dramatisch verschlechtert hat. Wir wissen
auch, dass im Wasserkreislauf dramatische Verschiebungen stattfinden. Deshalb können wir bei dem Hochwasser
nicht von einem singulären Ereignis ausgehen. Im Gegenteil, alle zentralen Faktoren im Wasserkreislauf - sei
es die Gletscherbildung, sei es die Verdunstung, seien es
die Veränderung der ozeanischen Prozesse und auch das
Abflussregime von Flüssen - verändern sich in einer
Weise, die es erforderlich macht, dass wir noch sehr viel
mehr handeln müssen, als wir das bisher schon tun. Wir
kommen an diesem Punkt nicht vorbei und deshalb muss
und wird die ökologische Modernisierung Markenzeichen
dieser Regierung bleiben.
({4})
Aber ich will hinzufügen: Wir werden die ökologische
Modernisierung erweitern. Im Kern - auch da besteht ein
Unterschied zur Opposition - geht es für mich nicht mehr
um traditionelle Umweltpolitik im klassischen Sinne.
Vielmehr ist das, was wir machen müssen, Mitweltpolitik.
Wenn ich den Bundeskanzler richtig verstanden habe, vor
allem in seinen Ausführungen zur Zivilisierung der Weltgesellschaft, war das für mich im klassischen Sinne Mitweltpolitik.
({5})
- Doch, das hat er heute gesagt. Ich habe eben übrigens
sowieso den Eindruck gehabt, dass die PISA-Schwäche
bei Ihnen ziemlich durchschlägt;
({6})
denn die Koalitionsvereinbarung haben Sie nicht richtig
gelesen. Sonst hätten Sie beispielsweise zum Thema Abfall genauso wie zu anderen Punkten andere Schlussfolgerungen ziehen müssen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, der eigentliche
Punkt ist: Wir müssen die ökologische Modernisierung
konzeptionell erweitern. Ich will hier einen zentralen
Punkt herausstellen, der für uns ganz wichtig sein wird,
nämlich die Frage der Verbindung von Arbeit und Umwelt. Wenn es so ist, dass sich die Bundesrepublik als Exportland vor allem durch eine ungeheuer hohe Arbeitsproduktivität auszeichnet, dann kommen wir an der
Tatsache nicht vorbei, dass Arbeit immer häufiger durch
Technik ersetzt wird und es deshalb immer schwieriger
wird, das Beschäftigungsproblem auf diesem Weg zu lösen. Wir kommen aus dieser Produktivitätsfalle nur heraus,
wenn wir die Produktivität sehr viel stärker auf den ebenso
wichtigen - kostenmäßig sogar sehr viel größeren - Faktor der Energie- und Ressourcenproduktivität lenken. Es
wird dazu keine Alternative geben.
({7})
Ich würde das in einem historischen Bild so sehen: Das
19. Jahrhundert war vor allem das Jahrhundert der Ausbeutung des Faktors Arbeit. Im 20. Jahrhundert haben wir
das Beschäftigungsproblem zum Teil durch die Ausbeutung der Natur entschärft. Im 21. Jahrhundert erleben wir,
dass sowohl die Umweltzerstörung fortgesetzt als auch
der Faktor Arbeit durch die technologische Entwicklung
verdrängt wird.
Wir kommen nicht daran vorbei, die Energie- und Ressourcenproduktivität als die Strategie zur Verbindung von
Arbeit und Umwelt im 21. Jahrhundert zu begreifen. Das
ist das Markenzeichen, das wir wollen. Es ist auch eine
Vision, um beispielsweise durch hohe Energie- und Ressourcenproduktivität dazu beizutragen, dass die Ressourcen der Erde nicht mehr so ausgeplündert werden, dass die
Kosten für die Umweltbelastungen geringer werden, dass
wir die natürlichen Lebensgrundlagen schonen und dass
wir vor allem mehr Arbeitsintensität schaffen; denn ökologische Lösungen sind in der Regel arbeitsintensive Lösungen. Sie verlangen nämlich sehr viel mehr menschliche Kreativität und Dienstleistung. Und das ist der
richtige Ansatz.
({8})
Wir wollen ein Zukunftsmodell entwickeln. Es geht dabei nicht mehr nur um einen verengten Umweltschutzansatz. Der neue Ansatz ist aus meiner Sicht ganz wichtig für
die von mir angesprochene Zivilisierung der Weltgesellschaft. Wie Sie wissen, hat Francis Fukuyama, der Wissenschaftsjournalist und Professor der John-Hopkins-Universität, mit seiner These vom Ende der Geschichte einen
Streit ausgelöst. Seine zentrale These ist, dass die Menschheit nach dem Zusammenbruch der bipolaren Welt sozusagen in der Mischung aus liberaler Gesellschaft und liberalem Kapitalismus das Ende der Geschichte gefunden hat.
Meines Erachtens hat er in einer völligen Fehlinterpretation von Hegel die Alternativlosigkeit mit der Konfliktlosigkeit verwechselt und liegt deshalb schief.
Aber bei allem, was wir im letzten Jahr erlebt haben,
beispielsweise mit der Entfaltung neuer Gewalt am
Michael Müller ({9})
Michael Müller ({10})
11. September, beispielsweise mit den wachsenden Protesten gegen die Form der Globalisierung, beispielsweise mit
dem völlig unzureichenden Vorankommen einer globalen
Umweltpolitik - was leider ja auch in Johannesburg deutlich wurde -, kann man nicht von der Alternativlosigkeit
einer unilateralen ökonomischen Welt reden. Das wäre sozusagen die Selbstaufgabe der Politik.
Der ökologische Ansatz ist unter dem Gesichtspunkt
der Nachhaltigkeit gerade deshalb so interessant, weil er
im Kern auf eine Welt der Vielfalt und der Demokratien
hinausläuft.
({11})
Nachhaltigkeit - das ist der interessante Punkt - funktioniert nur mit mehr Demokratie und Vielfalt. Nachhaltigkeit schafft einen Ansatz, um sehr viel stärker wieder
spezifische Lösungen, die kulturellen Potenziale einer
Gesellschaft und die technologischen Fähigkeiten für unterschiedliche Lösungen zu entfalten. Nachhaltigkeit ist
die richtige Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung. Die Alternative, eine globale Weltregierung,
will ich nicht. Aus meiner Sicht ist sie bürgerfern, technokratisch und letztlich nicht in der Lage, die Fähigkeiten,
die wir vor allem für dezentrale Lösungen, also für sehr
effiziente Lösungen vor Ort, brauchen, zu entfalten. Es
gibt, glaube ich, eine Riesenchance für das europäische
Modell, wenn Nachhaltigkeit zum Maßstab unserer Reformpolitik wird. Das ist eine Vision, die wir übrigens
auch in unsere Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben
haben.
Ich will das wie folgt zusammenfassen: Aus meiner
Sicht geht es heute eben nicht um ein paar Detailkorrekturen. Wir sind am Beginn eines ganz neuen, sehr schwierigen und auch sehr unsicheren Weges. Deshalb plädiere
ich sehr dafür - ich sage das in alle Richtungen -, damit
aufzuhören, über die Herausforderungen zum Teil so
kleinkariert zu reden, wie wir das oft tun. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind so gewaltig, dass wir
aus meiner Sicht eine offene, kreative und vor allem auch
intellektuell redliche Auseinandersetzung über Lösungsstrategien brauchen.
({12})
Wir diskutieren hier zum Teil nur rückwärts gewandt
und rechthaberisch. Das darf man bei diesen Themen
nicht. Ich glaube, dass die Nachhaltigkeit im Kern der
Versuch war - angestoßen insbesondere durch die Arbeiten von Olof Palme, von Willy Brandt und von Gro
Harlem Brundtland -, auf der einen Seite die eigenständigen Kulturen, die eigenständigen Inhalte von Gesellschaftsmodellen zu bewahren, sie aber auf der anderen
Seite gleichzeitig mit dem zu verbinden, was heute notwendig ist, nämlich dem Berücksichtigen globaler Anforderungen.
Ich sage Ihnen: Diese Chance ist eine große Chance für
unser Land. Wir werden die großen Herausforderungen
nur bewältigen, wenn wir eine Vision haben, wenn wir
eine große Idee davon haben, wo es hingeht, damit die
Menschen wissen: Es ist das bessere, das gute Leben im
Sinne von Adorno, das wir anstreben.
Deshalb, meine Damen und Herren: Wir wollen eine
Politik der Nachhaltigkeit betreiben. Wir können über einzelne Instrumente streiten, Sie können uns auch kritisieren, wenn wir in der einen oder anderen Frage vielleicht
einmal falsch liegen, aber an dieser Grundlinie lassen wir
nicht rütteln. Ich bin sicher: Wir werden diese Aufgabe
besser erfüllen, als Sie das je können.
({13})
Ich erteile dem Kollegen Peter Paziorek, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Müller, es war sehr interessant, was Sie zum Schluss angesprochen haben.
({0})
Aber ich hatte auch den Eindruck, dass Sie den untauglichen Versuch unternommen haben, von all den Schwächen in Ihrer Umweltpolitik in den letzten vier Jahren abzulenken und vor allem von einer konkreten Diskussion
darüber, was Sie in der Koalitionsvereinbarung nebulös
und oberflächlich formuliert haben.
({1})
- Herr Müller, zunächst zur Klimaschutzpolitik. Da haben Sie in den letzten vier Jahren
({2})
- zu dem Vorwärtsgewandten komme ich noch - einen
Abbau um zusätzlich 3 Prozent gegenüber 15 Prozent aus
der Zeit der CDU/CSU-FDP-Regierung erreicht.
In der letzten Koalitionsvereinbarung haben Sie festgelegt, dass Sie ein neues Gesetz zur Kreislaufwirtschaft
und zur Abfallwirtschaft in Deutschland vorlegen wollen.
({3})
Das Gesetz haben Sie in der letzten Legislaturperiode
nicht vorgelegt. Sie haben gekniffen, obwohl Sie das vereinbart hatten.
Sie haben in der Koalitionsvereinbarung vor vier Jahren
festgelegt, ein Fluglärmschutzgesetz vorzulegen. Diesbezüglich hat sich Herr Trittin mit Herrn Bodewig gestritten. Herr Trittin hat sich nicht durchgesetzt. Das Fluglärmschutzgesetz ist in der Versenkung verschwunden.
Sie haben in der letzten Koalitionsvereinbarung festgelegt, ein Konzept zur so genannten Entsiegelung des
Bodens vorzulegen. Wir warten bis heute auf dieses Konzept.
Herr Müller, ich wollte all das gar nicht schildern. Ich
hatte es schon gestrichen.
({4})
Nur, als Sie gerade anfingen, großartig zu philosophieren
- ich bin gern bereit, mit Ihnen bei Stiftungen über diese
Themen zu diskutieren -, habe ich das wieder hervorgekramt. Philosophisch hört sich das alles großartig an, in
der konkreten Formulierung der Aufgaben in der Umweltpolitik aber haben Sie in den letzten vier Jahren versagt.
({5})
Sie werden auch bei der Umsetzung der neuen Koalitionsvereinbarung versagen. Sie hatten zum Beispiel angekündigt, ein Umweltgesetzbuch vorzulegen. Sie sind
gescheitert,
({6})
weil Sie angeblich die wasserrechtlichen Kompetenzen
nicht haben. Sie haben das Vorhaben jetzt wieder eingebaut. Ich will nur sagen: groß angekündigt, nichts erreicht.
Ich kann durchaus verstehen, dass die „Berliner Zeitung“ heute getitelt hat: „Koalition sucht klaren Kurs“.
Das bezog sich auf die Wirtschafts- und auf die Sozialpolitik. Nach der Koalitionsvereinbarung und nach dem,
was Sie, Herr Müller, gerade gesagt haben, kann ich nur
feststellen: Es ist klar, dass das nicht nur für die Wirtschafts- und für die Sozialpolitik gilt, sondern leider auch
für die Umweltpolitik in Deutschland. Das liegt an der
schlechten Koalitionsvereinbarung, die Sie getroffen haben.
({7})
Es ist offenkundig: Nachdem aus Ihrer Sicht das große
Thema Atomausstieg - eigentlich ist es kein Atomausstieg; aber ich übernehme einmal Ihr Vokabular - erledigt
ist, kommt nun die große umweltpolitische Leere; deshalb
werden Sie nebulös.
Sie sprechen in der Koalitionsvereinbarung davon,
dass die Ökoeffizienz die Jobmaschine von morgen ist.
({8})
Ich habe mir gedacht: Großartig! Jetzt bin ich einmal gespannt, wie ihr für Ökoeffizienz sorgen wollt. In einem
zentralen Satz der Koalitionsvereinbarung steht, dass Sie
Netzwerke fördern wollen, um Ihr Ziel zu erreichen. Ist
das denn alles, was Ihnen zu diesem Thema einfällt?
({9})
Was dort steht, ist doch nur Romanformuliererei. Ihre
ganze Umweltpolitik enthält nichts Konkretes.
Des Weiteren sprechen Sie - das haben Sie, Herr
Müller, und auch Minister Trittin heute Abend getan - von
der ökologischen Modernisierung. Wer einmal konkret
überprüft, was Sie darunter verstehen, der wundert sich,
wie wenig konkret Ihre Politik ist. Es ist auch darauf hingewiesen worden - ich glaube, es waren Frau Mehl und
der Minister -, in der Koalitionsvereinbarung sei das Ziel
der Energieeinsparung festgelegt. In der Koalitionsvereinbarung steht:
Zur Fortentwicklung der Energieeinsparung im Gebäudebereich werden ein Förderprogramm zur Errichtung von Passivhäusern mit
- jetzt kommt eine sensationelle Zahl 30 000 Wohneinheiten
({10})
und ein Anschlussprogramm zur energetischen Modernisierung des Gebäudebestandes aufgelegt, das
anstelle von zinsvergünstigten Krediten Zuschüsse
oder Sonderabschreibungen beinhaltet.
Das hatten wir doch schon einmal. Das ist beim letzten
Mal doch schon einmal gescheitert.
({11})
Dieses Programm ist doch gar nicht erfolgreich gewesen.
Es war verdammt kompliziert.
Mittlerweile haben Sie daraus natürlich gelernt und
wollen es verbessern. Warum haben Sie denn nicht in die
Koalitionsvereinbarung geschrieben, wie Sie das machen
wollen? Ich kann Ihnen sagen: Ihnen ist dazu bis heute
Abend nichts Neues eingefallen. Sie argumentieren nebulös, nur um von den tatsächlich vorhandenen schwarzen
Löchern Ihrer Umweltpolitik abzulenken.
Aus diesem Grunde wird es natürlich notwendig sein,
in den nächsten vier Jahren ganz konkrete Fragen zu stellen, zum Beispiel: Wie soll es in der Klimaschutz- und
Energiepolitik weitergehen? Wie sehen Ihre Konzepte für
eine nachhaltige Energiepolitik wirklich aus?
Sie sprechen die erneuerbaren Energien an. Ich sage
noch einmal ganz deutlich - ich will das fortsetzen, was
der Kollege Lippold hier angesprochen hat -: Sie werden
die Union immer an Ihrer Seite finden, wenn es darum
geht, die erneuerbaren Energien sinnvoll zu fördern. Bei
all den Problemen, die wir in der Klimaschutzpolitik haben, sind auch wir der Ansicht, dass es darauf ankommen
wird, die erneuerbaren Energien als eine wesentliche
Säule unserer Energie- und Klimaschutzpolitik auszubauen. Deshalb sind auch wir dafür, darüber nachzudenken, im Rahmen des EEG die Offshoreförderung zeitlich
zu verlängern. Darüber werden wir uns höchstwahrscheinlich einigen.
Wir sind nicht prinzipiell gegen die Anwendung der
Windkraft; allerdings fragen wir uns, ob es richtig war
- Sie haben das in den letzten vier Jahren gemacht -, mit
- aus unserer Sicht - überzogenen Fördersätzen zu versuchen, an ungeeigneten Standorten im Binnenland Windkraftanlagen anzusiedeln. Sie haben dabei die Proteste der
Bevölkerung ignoriert. Am schlimmsten war, dass Sie
überhaupt keine Rücksicht darauf genommen haben, dass
es an vielen Stellen zu großen Konflikten mit dem Naturschutz und dem Landschaftsschutz gekommen ist.
({12})
Sie als Umweltpolitiker haben diese Sichtweise einfach
vernachlässigt. Das ist keine gute und sinnvolle Art und
Weise, die Nutzung erneuerbarer Energien zu fördern.
Es gibt im Rahmen erneuerbarer Energien Alternativen: Biomasse und Biogas. Man kann Biomasse- und
Biogasanlagen landschaftsgerecht bauen. Man kann dadurch der Landwirtschaft helfen, wie Sie es im Zuge der
Förderung der Nutzung der Windkraft wollten. Man muss
feststellen, dass Sie die Anreizförderung im letzten Jahr
gestrichen haben. Seitdem Sie diese Streichung im letzten
Jahr durchgeführt haben, ist das Wirtschaften mit Biomasse- und Biogasanlagen nicht mehr rentabel. Jetzt liegen Förderanträge und Baugenehmigungsanträge auf
Halde, weil die Antragsteller sagen: Wir können das, was
wir vorhatten, nur deswegen nicht mehr realisieren, weil
Rot-Grün die Förderung gestrichen hat.
Vor diesem Hintergrund müssen Sie doch unsere Skepsis verstehen, die sich darin ausdrückt, dass wir sagen: Sie
formulieren immer alles nebulös; aber wenn es darum
geht, Biomasse- und Biogasanlagen ganz konkret zu fördern, dann tauchen Sie ab. Ihre Politik war sogar gegen
diese Anlagen gerichtet. Das war unverantwortlich, weil
Sie damit nicht dafür gesorgt haben, dass zum Beispiel
auch in interessanten Naturräumen erneuerbare Energien
gefördert werden. Sie waren bei der Förderung erneuerbarer Energien ideologisch einseitig ausgerichtet. Eine
solche Haltung lehnen wir ab.
({13})
Sie reden immer so groß von Nachhaltigkeit. Herr
Müller, Ihre Rede enthielt einen interessanten Ansatz. Sie
wissen, dass ich mit Ihnen über prinzipielle Fragen der
Nachhaltigkeit immer sehr gerne diskutiere. Jetzt tun Sie
so, als ob wir im Bundestag wirklich darüber diskutieren
müssen. Schauen Sie sich doch einmal den Gang der Beratung des Berichts des Rats für Nachhaltigkeitsfragen in
der letzten Legislaturperiode an. Die Beratung ist doch
vollständig am Parlament und an seinem Umweltausschuss vorbeigegangen. Uns wurde vom zuständigen
Staatsminister gesagt, es müsse erst einmal auf der Staatssekretärebene ein Papier zusammengebastelt werden,
dann könne man darüber diskutieren.
({14})
Wo war denn Ihr Versuch, Nachhaltigkeit ins Plenum
zu bringen und die große öffentliche Diskussion zu diesem Thema zu führen? Sie sind dieser Diskussion ausgewichen und wundern sich danach, dass Ihre Politik nicht
dazu geführt hat, dass der Begriff der Nachhaltigkeit ein
wesentlicher Begriff auch unserer Umwelt- und Sozialpolitik geworden ist. Sie haben in dieser Frage versagt und
wir können nur sagen: Man sollte nicht die großen Reden
schwingen, sondern dafür sorgen, dass wir hier im Plenum über diese wesentlichen Fragen diskutieren. Das
wäre ein wichtiger Ansatz zur Nachhaltigkeit.
({15})
Wenn Sie davon sprechen, dass wir im Naturschutz
weitermachen müssen, stimmen wir zu. Nur sage ich wie
bei der Nachhaltigkeit: Über die Zielvorstellungen sind
wir uns gar nicht so uneins. Aber eines ist doch klar: Sie
meinen, Naturschutzpolitik könne im heutigen Zeitalter
nur hoheitlich, von oben gemacht werden. Sie meinen,
Naturschutzpolitik solle nicht mehr auf Instrumente
zurückgreifen, die sich in vielen Regionen unseres Landes bewährt haben, etwa das Kooperationsprinzip: mit
den Nutzern tatsächlich reden, freiwillige Vereinbarungen
schließen.
In den letzten Tagen sind Pressemeldungen von mehreren interessierten Verbänden erschienen - nicht aus der
Landwirtschaft, sondern zum Beispiel von der Wasserwirtschaft. Es wird dafür geworben, eine Allianz zwischen Wasserwirtschaft, Umweltschutz und Landwirtschaft zustande zu bringen. Wenn ich sehe, wie es bei
Ihnen, Herr Göppel, in Bayern läuft und wie es bei mir in
Westfalen läuft, dass wir vor Ort diese Allianzen haben,
frage ich mich: Wo ist denn dieser wesentliche Grundsatz
bei Ihnen in der Koalitionsvereinbarung? Warum sagen
Sie nicht, wir wollen das Kooperationsprinzip im Naturschutzbereich stärken, wir wollen die Allianzen stärken,
wir wollen die Menschen mitnehmen? Nein, Ihre Koalitionsvereinbarung ist immer noch geprägt von einem hoheitlichen, obrigkeitsstaatlichen Ansatz. Und dann wundern Sie sich, wenn die Leute vor Ort sagen, wir fühlen
uns überfahren. Sie schaden den Prinzipien, und deshalb
sage ich: Schon vom Ansatz her ist Ihre Koalitionsvereinbarung falsch, meine Damen und Herren.
({16})
Zur Frage der verantwortungsbewussten Politik: Es ist
sehr schade, dass Sie wieder nicht den Mut hatten, zum
Bereich Endlager und Entsorgung eine klare Aussage
zu treffen, unabhängig davon, wer nun die friedliche Nutzung der Kernenergie in Deutschland eingeführt hat, ob es
Sozialdemokraten oder Christdemokraten waren. Wir alle
waren in den 60er-Jahren begeistert davon. Wir haben
eine gemeinsame Verantwortung.
({17})
- Die Grünen gab es damals als politische Kraft noch
nicht, Frau Hustedt. - Wir müssen uns jetzt darum kümmern, wohin mit dem so genannten Atommüll.
({18})
Wenn ich mir vor Augen führe, wie Sie sich in den letzten
vier Jahren um eine klare Standortaussage gedrückt haben
und jetzt wieder nebulös formulieren, kann ich nur sagen:
Bei Ihnen scheint wiederum die Verantwortungslosigkeit
um sich zu greifen. Auch das werden wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.
({19})
Deshalb zum Schluss: Meine Damen und Herren, Sie
haben in den letzten Jahren Ihre Koalitionsvereinbarung
nicht sauber abgearbeitet. Warum sollen wir davon ausgehen, dass Sie es jetzt besser machen? Es spricht, da Sie
jetzt wieder vieles nebulös formuliert haben, alles dafür,
dass Sie wieder wegtauchen werden. Die Bundesregierung hat mit der Koalitionsvereinbarung der sie tragenden
Parteien zur Umweltpolitik die Chance vertan, die Wei168
chen für eine wirklich nachhaltige Umweltpolitik in
Deutschland zu stellen. Das, was Sie sich in der Koalitionsvereinbarung umweltpolitisch vorgenommen haben,
lässt leider keine klare Handschrift erkennen, hat leider
große Textlücken und wird den Umweltschutz in
Deutschland leider nicht voranbringen.
Vielen Dank.
({20})
Ich erteile dem Kollegen Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist mir
leider nicht vergönnt, all das abzuräumen, was uns in langen Redezeiten aufgetischt wurde, vor allem das, was Sie,
Herr Paziorek, gesagt haben. Ich kann also nur das eine
oder andere aufgreifen.
({0})
Ich hatte mir für heute vorgenommen, zu Beginn einer
neuen Legislaturperiode mir selber, der Regierung, den
Koalitionsfraktionen, aber auch der Opposition einige
grundsätzliche und auch kritische Fragen zur Orientierung in der Politik zu stellen. Für mich stellen sich folgende Fragen: Erstens. Haben wir auf die wirklich großen
Herausforderungen, auf die globalen Herausforderungen
mit unseren Politikansätzen die richtige Antwort?
Zweitens. Wie schaffen wir es, das allgemeine Konzept
der Nachhaltigkeit und des integrierten ökologischen Ansatzes konkret zu machen?
Drittens. Schaffen wir es, eine mehr bürgerfreundliche
und bürgerbeteiligungsorientierte Umweltpolitik zu machen?
Viertens. Ist unser Ansatz strategisch geradlinig oder
widersprüchlich?
Ich sage dies bewusst nicht nur als Herausforderung an
die Regierung, sondern diese Fragen muss sich auch die
Opposition stellen. Man kann hier nicht nur von der Regierung einen klaren Kurs fordern. Man muss diese Maßstäbe dann auch bei sich selber anlegen und seinen Standpunkt einhalten. Einerseits wirft man uns vor, wir wären
nicht radikal genug, und andererseits sagt man zu unseren
Vorschlägen zur Reduktion des CO2-Verbrauchs, sie seien
viel zu radikal und würden die Wirtschaft und bestimmte
Gruppen schädigen Diese Widersprüchlichkeit halten
Sie konsequent durch. Ich finde, diese paradoxe Logik ist
nur schwer erträglich.
({1})
Sie haben - jetzt werde ich konkret - die große Herausforderung Klimaschutz genannt. Das haben Sie zu
Recht als wichtiges Thema angesprochen. Wir haben es
im Koalitionsvertrag ganz vornean gestellt. In diesem Bereich haben wir sehr konkrete Vorschläge gemacht. Sie
haben Recht, nicht in allen Punkten ist der Koalitionsvertrag konkret. Aber in manchen Punkten ist er sehr konkret:
Im Hinblick auf Energiepolitik und Klimaschutz haben
wir klare Ziele und Vorschläge. Das ist weit konkreter als
das, was Sie von der Opposition in den letzten vier Jahren
produziert haben.
({2})
Sie müssen einmal zur Kenntnis nehmen - auch die große
Volkspartei FDP muss dies tun -: Sie sind immer sehr
großzügig mit Kritik. Aber wenn man Sie nach Ihren konkreten Plänen und Gegenkonzepten fragt, dann werden
Sie sehr allgemein.
({3})
Sie jammern zum Beispiel, indem Sie sagen, wir würden
jetzt von dem CO2-Minderungsziel von minus 25 Prozent
Abstriche machen. Aber bitte schön, wo sind denn Ihre
Vorschläge? Warum sagen Sie nicht, dass Sie ein konkretes Konzept haben? Fehlanzeige! Wo sind Ihre langfristigen Orientierungen? Wir haben uns zu dem ambitionierten Ziel von minus 40 Prozent und auf EU-Niveau von
minus 30 Prozent durchgerungen. Das ist ein wirklich ambitioniertes Ziel angesichts der EU-Erweiterung.
({4})
Sie sind jetzt aufgefordert, einmal zu sagen, wie man dahinkommt.
({5})
Sie dürfen nicht nur jammern, wir hätten keine präzisen
Ziele. Sie selber haben nämlich keine.
({6})
Im Übrigen haben Sie den Vertrag nicht genau gelesen. Es
wird ausdrücklich das Klimaschutzprogramm aus dem
Jahre 2000 betont, in dem das 25-Prozent-Ziel steht.
Frau Homburger und Herr Lippold haben davon gesprochen, der Kanzler habe nicht viel zur Ökologie und
zur Nachhaltigkeit gesagt.
({7})
Das stimmt übrigens nicht. Haben Sie einmal registriert,
wie viel Frau Merkel zu dem Thema gesagt hat? Einen
Satz. Da würde ich an Ihrer Stelle den Mund nicht so voll
nehmen.
({8})
Kommen wir zum Thema Hochwasser. Sie haben es
auch angesprochen. Wir setzen dieses Regierungsprogramm mit den Ländern und mit den Kommunen um. Das
wird uns viel Arbeit kosten. Dazu müssen wir harte Ziele
formulieren und schwierige Wege gehen, etwa wenn man
Gewerbegebiete in Talauen nicht mehr realisieren möchte.
Da werden wir auf allen Ebenen gemeinsam kämpfen
müssen. Das ist ein Feld, auf dem wir uns klar zu einem
konkreten Konzept bekannt haben und nicht nur allgemein herumschwadroniert haben.
Sie haben zu Recht den Bodenschutz angesprochen.
Die Senkung des Boden- und Flächenverbrauchs ist ein
wichtiges Ziel. Das stand schon im letzten Koalitionsvertrag. Das ist übrigens ein schwieriges Ziel. Wer ist der
Erste, der sagt, es gehe nicht? Stichwort Eigenheimzulage. Das waren Sie! Unser Vorschlag ist ökologisch begründet, weil es nicht klug ist, dass man Eigenheime auf
der grünen Wiese mehr fördert als die Sanierung von Eigenheimen in der Stadt. Wir setzen das gleich. Schon
kommt wieder das Argument: Aber das schadet dem
Häuslebau. Wenn man ökologisch argumentiert und wenn
man in diesem Bereich wirklich etwas erreichen möchte,
dann muss man diesen Weg auch beschreiten.
({9})
Sie haben uns vorgeworfen, wir hätten im Bereich
Lärmschutz nichts getan. Sie haben Recht, wir sind mit
diesem Versuch gescheitert. Wir haben dieses Thema aber
wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Aber seien Sie einmal ehrlich: Das Fluglärmgesetz wird alle Länder betreffen. Da wird man nur erfolgreich sein, wenn auch Sie und
Ihre Länderregierungen mitmachen. Da können Sie nicht
einfach sagen: Nichts erreicht. Da muss man Sie schon
fragen: Was haben Sie unternommen und was werden Sie
unternehmen, um ein Fluglärmgesetz hinzubekommen?
Auch das ist eine große Herausforderung, der wir uns stellen.
Der Präsident zeigt mir an, dass ich zum Schluss kommen muss. Ich kann leider viele Punkte nicht mehr abarbeiten.
Sie sind der letzte Redner und Sie haben noch so viele
Zettel.
Ich überblättere daher viele Seiten und fasse zusammen. Man kann von einem Koalitionsvertrag nicht erwarten, dass er ganz detailliert alles abarbeitet. Er kann nur einen Rahmen abstecken. Das leistet er. Das Ziel ist
nachhaltige Entwicklung und Gerechtigkeit. Ökologische
Prinzipien haben sich im ganzen Koalitionsvertrag durchgesetzt. Der Koalitionsvertrag enthält ein Leitbild für die
Umweltpolitik und für die Politik insgesamt. Insofern
könnte man auch sagen: Das Konzept ist zukunftsorientiert.
Wenn Sie, Herr Präsident, gestatten, zum Schluss noch
ein nettes Zitat aus der hohen Literatur, nämlich von Victor
Hugo:
Die Zukunft hat viele Namen. Für die Schwachen ist
sie das Unerreichbare. Für die Furchtsamen ist sie
das Unbekannte. Für die Tapferen ist sie die Chance.
Lassen Sie uns die Chance nutzen!
({0})
Das war doch ein schönes Wort zur Nacht.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestags auf morgen, Mittwoch, den 30. Oktober, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.