Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Der Kollege Detlef Dzembritzki feierte am 23. März
seinen 60. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch nachträglich im Namen des ganzen Hauses!
({0})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Haltung der Bundesregierung zu einem drohenden zusätzlichen Defizit von bis zu 15 Milliarden Euro durch Arbeitslosigkeit und Steuerausfälle
2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-Josef Laumann,
Dagmar Wöhrl, Hartmut Schaue rte, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Ausbildungsbereitschaft
der Betriebe stärken - V erteuerung der Ausbildung verhindern - Drucksache 15/739 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
3 Beratung des Antrags der Ab geordneten Willi Brase, Jör g
Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr . Thea
Dückert, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Offensive
für Ausbildung - Modernisierung der beruflichen Bildung
- Drucksache 15/741 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
4 Weitere Überweisungen im ver einfachten Verfahren ({3})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria Eichhorn,
Hannelore Roedel, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Benachteiligung
von Frauen wirksam bekämpfen - Konsequenzen ziehen aus dem CEDA W-Bericht der Bundesr egierung
- Drucksache 15/740 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lothar Mark,
Hans Büttner ({5}), Detlef Dzembritzki, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Christian St röbele, Dr. Ludger V olmer,
Volker Beck ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Wiederbelebung des Friedensprozesses in Kolumbien - Drucksache 15/742 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({7})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({8}): Beratung der Beschlussempfehlung des
Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({9}) zu dem Ersten Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Neur egelung des Energiewirtschaftsr echts
- Drucksachen 15/197, 15/432, 15/657, 15/712 Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler
6 Beratung des Antrags der Ab geordneten Joachim Günther
({10}), Horst Friedrich ({11}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Stadtumbau
Ost - ein wichti ger Beitrag zum Aufbau Ost - Drucksache 15/750 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
7 Beratung des Antrags der Ab geordneten Thomas Dörflinger,
Siegfried Kauder ({13}), Hans-Peter Repnik, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Rechtsverordnung nach der Luft verkehrsordnung umgehend
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
erlassen - Rückübertragung der Flugsicherung über süddeutschem Gebiet - Drucksache 15/651 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({14})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin RehbockZureich, Reinhard Weis ({15}), Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Winfried Hermann, Kerstin An dreae, Volker Beck ({16}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN: Entlastung des süddeutschen Raumes vom
Fluglärm des Flughafens Zürich dur chsetzen - Drucksache 15/744 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({17})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bir git Homburger,
Ernst Burgbacher, Horst Friedrich ({18}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Lärmschutz durch
Rechtsverordnung über süddeu tschem Raum sichern Flugsicherheit gewährleisten - Drucksache 15/755 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({19})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Darüber hinaus wurde vereinbart, die Tagesordnungspunkte 13 - Terrorismusbekämpfung - und 18 a - Melderechtsrahmengesetz - abzusetzen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen W iderspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler
zur internationalen Lage und zu den Ergebnissen
des Europäischen Rates in Brüssel am 20./21. März
Nach einer interfraktionellen V ereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe eine r Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler, Gerhard Schröder.
({20})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In ihrer Verantwortung für Frieden und Sicherheit hat sich die Bundesregierung stets von folgenden
Grundsätzen leiten lassen: Wir treten für die Herrschaft
und die Durchsetzung des Rech ts ein. W ir stehen für
Friedenspolitik durch Krisenprävention und kooperative
Konfliktlösung. Wir verfolgen das Ziel umfassender Sicherheit: durch multilaterale Zusammenarbeit, durch
Schutz vor Risiken und Bekämpfung der Ursachen von
Gewalt, durch nachhaltige Abrüstung und Entwicklung
und - wo dies unabdingbar ist - auch durch polizeiliche
und militärische Mittel. Schließlich setzen wir in den internationalen Konflikten auf das Gewaltmonopol der
Vereinten Nationen.
({0})
Das ist die Grundlage, auf der Deutschland seine Verantwortung wahrgenommen hat, und zwar in der Europäischen Union und in der internationalen Allianz gegen
den Terror, zum Beispiel in Afghanistan und auch auf
dem Balkan. Erst zu Beginn dieser Woche hat die Europäische Union mit der Miss ion „Concordia“ den Friedenseinsatz in Mazedonien von der NA TO übernommen. Das ist an sich betrachtet gewiss keine große
Mission. Vielmehr ähnelt sie eher einer Polizeiaktion.
Gleichwohl kommt es darauf an, zu erkennen, dass damit ein Weg beschritten worden ist, der wichtig und richtig ist und der weitergegangen werden muss.
({1})
Ich halte es für besonders bemerkenswert, dass die
Europäische Union gerade in Mazedonien auch ihre militärische Handlungsfähigkeit zum Ausdruck bringt.
Denn wir erinnern uns: Es war in Mazedonien, wo es uns
zusammen mit unseren Partnern gelungen ist, einen
schwelenden Konflikt einzudämmen und damit einem
drohenden Bürgerkrieg entgegenzutreten bzw . ihn gar
nicht erst ausbrechen zu lassen.
Das Beispiel Mazedonien - deswegen ist es so enorm
wichtig - steht für eine eu ropäische Sicherheitspolitik,
die auch militärische Mittel vorhält, um Kriege zu verhindern. Ich denke, das ist di e Orientierung, die für uns
alle auch in der Zukunft wichtig ist.
({2})
Unsere Verantwortung haben wir im Weltsicherheitsrat nachdrücklich wahrgenommen. Bis zum letzten Augenblick haben wir gemeinsam mit der Mehrheit der Mitglieder des Sicherheitsrates, mit Frankreich, Russland
und China, aber auch mit Staaten wie Mexiko und Chile
({3})
alle Anstrengungen unternommen, um den Irakkonflikt
im Rahmen der Vereinten Nationen, das heißt mit friedlichen Mitteln, zu lösen.
({4})
Wir waren und sind deshalb über zeugt, dass es eine Alternative zum Krieg gegeben hätte,
({5})
eine Alternative, die schlicht heißt: Entwaf fnung des
Iraks mit friedlichen Mitteln unter dauerhafter internationaler Kontrolle. Dass dies er Weg nicht zu Ende gegangen worden ist, halten wi r nach wie vor für falsch.
Aber es stimmt: W ir haben diesen Krieg nicht verhindern können. Unabhängig von der inneren Einstellung
dazu, denke ich, kann ich im Namen des ganzen Hauses
sagen: Unsere Gedanken und unser Mitgefühl sind bei
den Opfern des Krieges und ihren Angehörigen, und
zwar bei den zivilen Opfern ebenso wie bei den Soldaten. Wir alle hoffen, dass eine möglichst rasche Beendigung des Krieges die Zahl der Opfer so gering wie möglich hält. Wir wünschen, dass das irakische Volk durch
die Überwindung der Diktatur seine Hof fnung auf ein
Leben in Frieden, in Freihe it und in Selbstbestimmung
so rasch wie möglich verwirklichen kann.
({6})
Natürlich ist das, womit wir uns zu beschäftigen haben, eine internationale Kr ise, mit der große Schwierigkeiten verbunden sind. Aber jede Krise bietet auch eine
Chance. Wenn wir Entwicklungen, wie sie zu diesem
Krieg geführt haben, zukünf tig verhindern wollen, dann
müssen wir die Mechanismen der Durchsetzung unserer
Politik deutlich verbessern. Das ist ein Auftrag, der sich
insbesondere an unser gemeinsames Europa richtet. W ir
haben in Europa Krieg und Rivalität überwinden können. Aus exakt dieser Erfahrung heraus langfristige Perspektiven für eine W elt der Sicherheit und der Zusammenarbeit zu entwickeln, aber auch zu verwirklichen,
das begreifen wir als unsere deutsche ebenso wie unsere
europäische Verpflichtung.
Die Bundesregierung hat vor diesem Hinter grund
schon frühzeitig und aus einer Vielzahl von Gründen erklärt: Deutschland beteiligt sich nicht an diesem Krieg.
Dabei bleibt es.
({7})
Das heißt, dass sich deutsc he Soldaten an Kampfhandlungen im oder gegen den Ira k nicht beteiligen werden.
Klar ist aber auch - das ist deutlich geworden -:
Deutschland steht unabhängig von dieser klaren Entscheidung zu seinen Bündnisverpflichtungen. Wir dürfen nicht ver gessen - das darf auch in unserem Land
nicht vergessen werden -, dass es sich bei jenen Staaten,
die jetzt Krieg gegen den Irak führen, um Bündnispartner und um befreundete Nationen handelt. Deshalb werden wir die ihnen gegebene n Zusagen jenseits unserer
klaren Nichtbeteiligung auch einhalten. Das beinhaltet
die Gewährung der Überflug- und Nutzungsrechte sowie
den Schutz der Basen in Deutschland ebenso wie jene
Maßnahmen, die wir zum Schutz der Türkei im Bündnis
ergriffen haben.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 25. März dieses Jahres die Auf fassung der
Bundesregierung bestätigt, dass es für die Beteiligung
deutscher Soldaten an diesen A WACS-Aufklärungsflügen keines Bundestagsmandates bedarf. Gleichwohl hat
die Bundesregierung - wie übrigens auch andere NATOBündnispartner und die Europäische Union - die Türkei
vor den Folgen einer militärischen Intervention im Nordirak gewarnt. Wir haben da rauf hingewiesen - wir bekräftigen das -, dass, sollte die Türkei Kriegspartei werden, eine solche Entwicklung jedenfalls den Abzug deutscher Soldaten aus den A WACS-Flugzeugen zur Folge
haben müsste.
({8})
Die Türkei hat wiederholt versichert, dass sie gegenwärtig keine Truppenstationierungen und keine Veränderungen des Status quo im Nordirak beabsichtigt, die über
humanitäre Sicherungsaufgaben hinausgehen. Wir haben
keine Veranlassung, an dem Wort der türkischen Regierung zu zweifeln.
Lassen Sie mich in dies em Zusammenhang ein Wort
zu einer Diskussion sagen, die im Kontext mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts stattgefunden
hat und weiterhin stattfinden wird; ich meine die Debatte
darüber, ob wir ein Entsendegesetz brauchen oder nicht.
Ich denke - ich habe meine Auf fassung öffentlich geäußert -, wir sollten diese De batte mit allem Ernst führen.
Die richtige Zeit dafür wi rd nach der Beendigung des
Krieges sein.
Ich will ganz klar sagen, dass jedenfalls meine Bundesregierung nicht beabsichtigt, aus - ich verweise auf
die Entscheidung des Bundes verfassungsgerichts - einem Parlamentsheer eine Regierungsarmee zu machen.
Ich wiederhole: Das ist nicht unsere Absicht. W ir müssten darüber reden - das geht alle Fraktionen in diesem
Hohen Hause an -, ob wir - bei aller Bestätigung des
Letztentscheidungsrechts des Parlamentes, in welcher
Form auch immer - in bestimmten Fällen nicht mehr
Flexibilität für Regierungshandeln brauchen. Meine
Bitte wäre: Lassen Sie uns prüfen, ob wir miteinander in
diesem Hohen Hause eine Regelung finden können, die
diesem Gedanken gerecht wi rd. Ich jedenfalls bin dazu
bereit. Eine solche Regelung wäre auch ein Stück W iedereinsetzung von Politik in Bereichen, wo sonst gelegentlich Gerichte tätig werden. Wenn man es verhindern
kann, dann muss das nicht immer sein.
({9})
Ich habe gesagt, dass die Bundesregierung mit der
Staatengemeinschaft in dem Ziel übereinstimmt, dass alles getan werden muss, um die Zahl der Opfer des Krieges
so gering wie möglich zu halten. Ich denke, das ist für alle
in diesem Hohen Hause eine Selbstverständlichkeit.
Vorrangig geht es also darum, eine drohende humanitäre Katastrophe im Irak zu verhindern. Die Bundesregierung unterstützt deshalb die Vereinten Nationen bei
ihren Vorbereitungen, humanitäre Nothilfe zu leisten,
wo immer das derzeit möglich ist. In der ver gangenen
Woche hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
die Wiederaufnahme des Hilfsprogramms „Öl für Lebensmittel“ einstimmig beschlossen. Das geschah übrigens unter maßgeblicher deutscher Mitwirkung. Ich will
sehr deutlich sagen: Die deutschen Diplomaten, allen
voran Herr Pleuger, die daran gearbeitet haben, verdienen wirklich unser aller Respekt; denn sie haben eine
gute Arbeit gemacht.
({10})
Die erzielte Einigung erlaubt es dem Generalsekretär
der Vereinten Nationen für zunächst 45 T age, das
Hilfsprogramm in eigener Regie und in enger Abstimmung mit den Verantwortlichen vor Ort weiterzuführen.
Die Bundesregierung erwartet, dass damit auch die bereits vom Sanktionsausschus s der V ereinten Nationen
gebilligten Lieferungen von Nahrungsmitteln und Hilfsgütern anderer Art die Empfänger auch wirklich erreichen; denn das ist die wichti gste Aufgabe. Dies - darüber müssen wir uns im Klaren sein - wird jedoch bei
weitem nicht ausreichen, um die humanitäre Notlage, die
durch den Krieg hervorgerufen wird, zu bewältigen.
Generalsekretär Kofi Annan hat die Mitgliedstaaten
der Vereinten Nationen zu schneller und vor allen Dingen zu großzügiger Hilfe au fgerufen. Deutschland - ich
bin froh darüber, dass auch in diesem Punkt prinzipiell
Einigkeit in diesem Hohen Hause besteht - ist bereit,
sich unter dem Dach der Vereinten Nationen mit zusätzlichen Mitteln der humanitäre n Hilfe im Irak zu beteiligen. Wir haben die Mittel für humanitäre Hilfe von
40 Millionen Euro auf 80 Millionen Euro aufgestockt.
Aus den Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und En twicklung werden weitere
10 Millionen Euro für die Flüchtlings- und für die Nothilfe bereitgestellt.
Die Vereinten Nationen müssen die zentrale Rolle
spielen, wenn es darum ge ht, die Zukunft des Irak und
die politische Neuordnung des Landes nach dem Ende
des Krieges zu gestalten.
({11})
So interessant es sein mag, schon jetzt über Einzelheiten eines notwendigen Wiederaufbaus im Irak zu diskutieren und gelegentlich au ch zu streiten - ich warne
davor, sich bereits jetzt in Details zu verlieren und über
sie zu spekulieren. W iederaufbau, meine Damen und
Herren, ist weit mehr als die Reparatur von Gebäuden,
Ölquellen und zerstörter Infrastruktur.
({12})
Wir werden nach innen wie nach außen deutlich machen müssen, dass ein wirklicher W iederaufbau der Gesellschaft nicht allein mit ein paar Unternehmenskonzessionen zu erreichen ist. Sc hon deshalb wird es wichtig
sein, unabhängig von der finanziellen Verantwortung die
Unterstützung der gesamten internationalen Gemeinschaft zu mobilisieren. Das geht nur im Rahmen und
mithilfe der Vereinten Nationen; das muss in die Köpfe
aller Beteiligten hinein.
({13})
Auch der Wiederaufbauprozess kann und darf nur unter
dem Dach der V ereinten Nationen or ganisiert werden.
Ich sehe nicht, wie er auf andere Weise die notwendigen
Legitimationsgrundlagen erhalten sollte. Für die Schaffung einer gerechten und de mokratischen Nachkriegsordnung im Irak und der gesamten Region erscheinen
mir dabei ein paar Folgerungen nötig zu sein:
Erstens. Die territoriale Integrität des Irak muss erhalten bleiben. Seine Unabhängigkeit und seine politische
Souveränität müssen vollständig wiederher gestellt werden.
Zweitens. Das irakische Volk muss über seine politische Zukunft selbst bestimmen können. Die Rechte der
dort lebenden Minderheiten müssen gesichert werden.
Drittens. Entscheidend ist, dass die enormen Ressourcen des Landes - die Ölvorkommen und die anderen natürlichen Ressourcen - im Besitz und unter der Kontrolle
des irakischen Volkes bleiben. Sie müssen ihm zugute
kommen und für nichts anderes als den W iederaufbau
verwendet werden.
({14})
Viertens. Im Nahen und Mittleren Osten muss ein politischer Stabilisierungsprozess in Gang kommen, der allen in der Region lebenden Völkern eine Perspektive für
ein Leben in Frieden und W ohlstand eröffnet. Dazu gehört vor allem die Lösung des Nahostkonflikts im Rahmen einer stabilen Friedensordnung, die das Existenzrecht des Staates Israel und die Sicherheit seiner Bürger
ebenso garantiert, wie es den Palästinensern einen unabhängigen, lebensfähigen und demokratischen Staat ermöglicht. Zentrale Voraussetzung dafür ist die rasche
Veröffentlichung des vom so genannten Nahostquartett
erarbeiteten Friedensfahrplans und dessen Annahme
durch alle Konfliktparteien. Ich betone, meine Damen
und Herren: durch alle Konfliktparteien.
({15})
Dies bedeutet unmittelbar, dass die Gewalt wirksam eingedämmt, Reformschritte in der palästinensischen
Selbstverwaltung vorangetrieben und auch der israelische Siedlungsbau gestoppt werden müssen.
Ich habe von unserer V erantwortung gesprochen, die
über den augenblicklichen Ko nflikt hinausweist und hinausweisen muss. Auf seiner außerordentlichen T agung
nach den Terroranschlägen auf New York und Washington hat der Europäische Rat am 21. September 2001 unter anderem beschlossen, die Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik weiter auszubauen und aus der europäischen Sicherheits- und V erteidigungspolitik umgehend ein einsatzbereites Instrument zu machen. Niemand
konnte in den letzten Wochen und Monaten die Schwierigkeiten übersehen, die da mit verbunden sind; das ist
keine Frage. Aber darf es angesichts der Schwierigkeiten
dazu kommen, dass das Ziel aufgegeben wird, das in dieser Entscheidung definiert wo rden ist? Ich meine: ganz
klar nein.
Als Ziel haben die europä ischen Staats- und Regierungschefs „die Integration aller Länder in ein gerechtes
weltweites System für Sicherheit, geteilten W ohlstand
und weitere Entwicklung“ gena nnt. An diesem Ziel gilt
es festzuhalten. Jedenfalls für Deutschland kann ich sagen, dass wir uns diesem Ziel in den letzten Wochen und
Monaten in besonderer Weise verpflichtet gefühlt haben
und davon auch nicht abgewichen sind.
Aber wir müssen erkennen, dass es mit der Proklamation von Zielen nicht geta n ist. Weltweite und grenzüberschreitende Risiken nehmen eher zu, als dass sie
abnehmen. Die Entwicklung und Verbreitung von Massenvernichtungswaffen haben ein höheres Ausmaß angenommen als selbst zu den Zeiten des Kalten Krieges.
Diesen Risiken können wir eb en nicht punktuell begegnen; vielmehr können wir ihnen nur multilateral begegnen.
({16})
Wollte man auf Dauer anders verfahren, würde dies die
Legitimationsgrundlagen vieler demokratischen Gesellschaften in schwerster W eise beeinträchtigen, wenn
nicht sogar auf Dauer zerstö ren. Dies muss man sehen,
wenn man über die internationale Situation diskutiert.
Wir können diesen Risiken also nur multilateral begegnen, indem wir uns dem Thema Sicherheit umfassend nähern, als Sicherheit im politischen, im sozialen,
ebenso im militärischen - keine Frage -, aber eben auch
im kulturellen und ökologischen Sinne. Gleichzeitig
müssen wir davon abkommen, auf die Bedrohung etwa
durch Massenvernichtungswaffen stets nur punktuell zu
reagieren.
Der Konflikt um den Irak und sein mögliches Waffenpotenzial muss der Staatengemeinschaft eine wirkliche
Lehre sein, neue Ansätze zur Stärkung multilateraler Regelungen, zur Nichtverbreitung und zur Rüstungskontrolle und zu dazugehörenden Verifikationsmechanismen
zu entwickeln.
({17})
Übrigens mit Bezug auf ein sehr sensibles Thema
sage ich dann genauso klar : Niemand darf sich bei der
Verbreitung von Material, das zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen taugt, damit herausreden können: Wenn wir nicht liefern , tun es andere. - Das ist
keine Logik, die dem abhilft.
({18})
Wir brauchen umgehend eine weitergehende Vereinheitlichung des Ausfuhrsystems innerhalb der Europäischen
Union.
({19})
Sie wissen, dass Deutschland mit diesen Ausfuhren und
mit allen, die mit W affen zu tun haben, in besonderer
Weise restriktiv umgeht. Da s ist gelegentlich, übrigens
auch intern, kritisiert worden, aber ich halte dies für den
richtigen Weg, wenn man wirklich zu einem umfassenden Abrüstungsregime kommen will und Zustände wie
die, die uns jetzt beschäftigen, auf Dauer vermeiden will.
({20})
Würden wir dies in Europa schaffen - daran müssen wir
arbeiten -, wäre es ein deutliches Zeichen auch für andere Akteure in der W elt, vor allem aber ein deutliches
Zeichen für potenzielle Abnehmer.
Wir wissen, dass wir den Problemen der Proliferation
jedoch nicht allein mit moralischen Ar gumenten beikommen, so wesentlich sie in diesem Zusammenhang
auch sind. Vielmehr brauchen wir eine umfassende multilaterale Politik für mehr Sicherheit und mehr Gerechtigkeit in der Welt, auch beim Freihandel, beim Klimaschutz oder bei der T errorismusbekämpfung. Ich sage
ausdrücklich und unterstreiche dies als unsere, die deutsche Position: Der Multilateralismus ist eben nicht am
Ende, meine Damen und Herren, im Gegenteil.
({21})
Wir müssen in geduldigen De batten mit unseren Partnern im Bündnis und außerh alb klar machen: Die Probleme des 21. Jahrhunderts sind so komplex und so umfassend, dass sie nur multilateral gelöst werden können.
Deutschlands Platz bei der Durchsetzung von Frieden
und Sicherheit ist in der Staa tengemeinschaft, ist in unseren Bündnissen und ist vo r allen Dingen in Europa.
Die Vereinten Nationen sind nicht, wie man gelegentlich
lesen und hören kann, irrele vant geworden. Nein, das
Gegenteil ist wahr. Sie werden nach den kriegerischen
Auseinandersetzungen bei der humanitären Hilfe und
beim Wiederaufbau im Irak - wir alle werden das erleben - eine wichtige, eine dominierende Rolle spielen
müssen und spielen.
({22})
Deshalb ist es unsere Politi k, die V ereinten Nationen
auch durch weitere und durchgreifende Reformen zu
stärken und sie dadurch in den Stand zu setzen, in den
internationalen Konflikten eine noch bedeutendere Rolle
zu spielen.
Wir stehen zu unserem Engagement im transatlantischen Bündnis und wir haben das deutlich werden lassen.
Die NATO hat als Bündnis gemeinsamer V erteidigung
und gegenseitigen Beistandes eben nicht ausgedient. Es
gilt aber, dieses Bündnis den neuen Bedrohungen und
Konfliktstellungen in der W elt anzupassen, womöglich
stärker, als wir das in der Vergangenheit getan haben. In
jedem Fall muss die NATO wieder zu einem Ort intensiverer gegenseitiger Konsultation, gemeinsamer Analyse
und gemeinsamer Prävention werden.
({23})
Wenn ich „gemeinsam“ sage, dann meine ich das
auch. Das verträgt sich nicht - damit das klar ist - mit
der Hand an der Hosennaht.
({24})
Wenn wir aber wollen, dass auch innerhalb der NATO
unsere Interessen und V orschläge mehr Gehör finden,
dann müssen wir in erster Linie Europa dazu in die
Lage versetzen, und zwar als ein Europa, das mehr und
mehr mit einer Stimme spri cht. Dabei werden wir auf
Dauer nicht zwischen unserem gemeinsamen Bemühen
um Sicherheit und unseren Anstrengungen für W achstum und für W ohlstand, das heißt für Beschäftigung,
trennen können. Wir sehen schon heute, wie sehr die Unsicherheit durch den Krieg überall in Europa die Wachstumshoffnungen dämpft, wenn nicht sogar zerstört. Natürlich wissen wir, dass Europa in der augenblicklichen
internationalen Krise nicht jene Einigkeit an den Tag gelegt hat, die für uns alle wünschenswert gewesen wäre.
Ich gebe allerdings eines zu bedenken: Die Erfahrung
dieses Konflikts ist - das ist sicher so -, dass die Regierungen in dieser Frage nicht immer einer Meinung waren, die europäischen Gese llschaften indes in dieser
Frage einer Meinung sind, und zwar in sehr klarer
Weise.
({25})
Die Herausbildung einer Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik steht erst am Anfang. Über ein wichtiges Datum dieses Anfangs unter dem Stichwort Mazedonien habe ich geredet. W enn wir wollen, dass Europas
Stimme in der Welt vernehmlicher und damit wirkungsvoller wird, müssen wir uns auf einen langwierigen Prozess der Herausbildung einer Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik einstellen, einen Prozess übrigens, bei
dem wir auch noch Rückschläge erleben und erleiden werden. Das ändert aber nichts daran, dass es zu dieser gemeinsamen Politik keine wirklich vernünftige Alternative
gibt.
({26})
Die europäische Integration war die Antwort auf
Krieg und Zerstörung auf unserem Kontinent und es
wäre fatal, wenn dieses inte grierte Europa gerade angesichts neuer Ungleichgewichte in der Welt seiner Verantwortung durch sein Beispiel nicht gerecht würde. Wir jedenfalls werden beharrlich da ran arbeiten, dass es diese
Verantwortung wahrnimmt. Das ist der Grund dafür, dass
wir eine wirklich Gemeinsa me Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln, die Europa auch faktisch in die Lage
versetzt, mehr V erantwortung zu übernehmen. Kein
Zweifel: Das könnte mit bald 25 Mitgliedstaaten noch
schwieriger sein, als es heut e, da wir 15 sind, schon ist.
Ich unterstreiche auch hier noch einmal: Die T atsache,
dass das angesichts unterschiedlicher Wahrnehmung von
Bedrohung und unterschiedlicher geschichtlicher Erfahrung mit den jetzigen Beitrittskandidaten, die dann beigetreten sein werden, schwieriger werden wird - diese
Tatsache ist unabweisbar -, darf jedenfalls kein Ar gument dafür sein, den Beitritt sprozess zu verzögern oder
gar länger aufzuschieben.
({27})
Vor diesem Hintergrund habe ich gemeinsam mit Präsident Chirac dem Europäis chen Konvent vor geschlagen, das Amt eines europäischen Außenministers zu
schaffen und damit konkret die Aufgabenbereiche von
Javier Solana und Chris Patten zusammenzulegen und
einheitlich wahrnehmen zu lassen. Der europäische
Außenminister soll die gemeinsamen europäischen Interessen herausarbeiten und Initiativen für gemeinsames
Handeln ergreifen. Nach un seren Vorstellungen soll in
den meisten Bereichen über diese so abgestimmt werden, dass auch mit qualifizierter Mehrheit Beschlüsse
gefasst werden können. Dieser deutsch-französische
Vorschlag ist im Konvent al les in allem gut aufgenommen worden.
Aus den Aufgaben, die uns aufgrund der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits politik zufallen, ergibt sich
auch, dass wir ernsthaft üb er unsere gemeinsamen militärischen Fähigkeiten neu nachdenken müssen. Dabei
geht es nicht darum, auf die gegenwärtige Krise eindimensional, mit einer bloß en Steigerung unserer Rüstungshaushalte, zu antworten. Es kann auch nicht darum
gehen, nun mit Macht zu dem aufschließen zu wollen,
was an Fähigkeiten etwa in den Vereinigten Staaten vorhanden ist. Das würde uns au ch gar nicht gelingen. Europa muss seine militärisc hen Fähigkeiten vielmehr so
weiterentwickeln, dass sie unserem Engagement und unserer Verantwortung für K onfliktprävention und Friedenssicherung entsprechen.
Der belgische Ministerpräsident hat zu einem Treffen
eingeladen, um die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik weiter voranz ubringen. Auch in diesem
Bereich haben Deutschland und Frankreich dem Europäischen Konvent gemeinsame V orschläge gemacht. W ir
denken an eine engere Zusammenarbeit bei der Entwicklung der militärischen Fähi gkeiten, an eine Verzahnung
der Planungs- und Entscheidungsstrukturen sowie an eine
sehr viel engere Zusammenarbeit der Rüstungsindustrie.
In der Perspektive wollen wi r die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu einer Europäischen
Sicherheits- und V erteidigungsunion fortentwickeln.
Denkbar ist, als einer der ersten Schritte, dass sich in Zukunft etwa an Blauhelmeinsätzen im Rahmen der Vereinten Nationen europäische statt nationale Truppen beteiligen.
Mir, meine Damen und Herren, ist in der gesamten
Diskussion zweierlei wichtig:
Erstens. Von dieser Initiative des belgischen Ministerpräsidenten kann und darf niemand ausgeschlossen werden.
({28})
Je mehr Mitgliedstaaten sich in der Konsequenz an der
gemeinsamen Sicherheits- und V erteidigungspolitik beteiligen, desto besser ist es für das Ganze. Dabei - ich
will das besonders unterstreichen - ist mir wichtig, auch
Großbritannien, das in der Vergangenheit immer wieder
wichtige Impulse für die Eu ropäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik gegeben hat, in diesen Prozess einzubeziehen; und, meine Da men und Herren, das geschieht bereits jetzt im Vorfeld des Treffens, zu dem der
belgische Ministerpräsident eingeladen hat.
Zweitens. Die Stärkung de r Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik richtet sich nicht gegen
die NATO, wie manche disku tieren, sondern sie dient
dem Bündnis und damit den transatlantischen Beziehungen - Beziehungen, die auch künftig für uns Deutsche und die Europäer vo n zentraler Bedeutung sein
werden.
({29})
So betrachtet liegt ein star kes Europa in beiderseitigem
Interesse, in unserem Interesse und in dem der transatlantischen Partner. Es liegt im Interesse der von uns gemeinsam vertretenen Werte, bei uns und weltweit.
Es ist sicher richtig, dass es auch beim Ausbau einer
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik insbesondere auf eine enge französisch-deutsche Zusammenarbeit ankommt. Deutschland und Frankreich - das ist
hier ja auch immer wieder betont worden - bleiben Motor der europäischen Integration. Der erreichte Grad der
Zusammenarbeit zwischen un seren beiden S taaten gehört zu den wenigen wirkli ch erfreulichen Entwicklungen in der internationalen Szenerie in der letzten Zeit.
Allerdings ist ebenso klar : Ohne umfassende Zusammenarbeit mit Großbritannien, auch mit den anderen
Mitgliedern des gemeinsamen Europa werden wir die internationale Verantwortung nicht tragen können, die von
uns allen mit Recht erwartet wird. Ebenso deutlich ist
gerade in der gegenwärtige n Krise geworden, dass der
Weg, auf der Grundlage geme insamer Prinzipien in Europa und in den Bündnissen eine enge Zusammenarbeit
mit Russland zu suchen, richtig und auch erfolgreich war
und - dessen bin ich sicher - bleiben wird.
({30})
Europa muss dafür Sor ge tragen, dass die kriegsbedingten Risiken nicht die gesamte W eltwirtschaft aus
dem Lot bringen; es muss jedenfalls mithelfen, dass das
nicht geschieht.
Der Europäische Rat hat vor zwei Wochen an diesem
Punkt ein wichtiges und richtiges Signal gesetzt. Wir haben gemeinsam mit den Beitrittsländern klar gemacht,
dass die Europäische Union im Rahmen der so genannten Lissabon-Strategie ihre Wachstumskapazitäten zur
Schaffung von W ohlstand und Beschäftigung trotz
- oder sollte ich sagen: gerade wegen? - der schwierigen
ökonomischen Rahmenbedingungen nicht zurücknehmen darf, sondern weiter er höhen muss. Dabei geht es
um Fortschritte im Binnenmarkt, vor allem bei Forschung und Entwicklung und bei der Reform der Arbeitsmärkte, um Bildung und um einen effektiveren Umweltschutz.
Meine Damen und Herren, hi er gibt es einen Zusammenhang mit dem, was ich unter dem Begrif f
Agenda 2010 vorgestellt habe. Auch in der jetzigen
schwierigen internationalen Situation brauchen wir diese
Reform. Wir müssen sie zügi g umsetzen, damit wir unser Gesellschaftsmodell, das auf Teilhabe und Gerechtigkeit beruht, in schwierigen Zeiten als die wirkliche Hoffnung für die Menschen in Deutschland, in Europa und in
der Welt deutlich werden lassen können.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({31})
Bevor ich der nächsten Re dnerin das W ort erteile,
möchte ich eine neue Kollegin in unserem Hause begrüßen. Es ist Angelika Brunkhorst, Mitglied der FDP-Fraktion, die ihr Mandat am 21. März in der Nachfolge des
Kollegen Christian Eberl angetreten hat. Herzlich willkommen, liebe Kollegin!
({0})
Nun erteile ich Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die T agesordnung des Europäischen Rates in Brüssel war stark
vom Beginn des Irakkrieges überschattet. V ieles von
dem, was sonst die Gemüter der Europäer bewegt hätte,
erschien plötzlich belanglos oder kleinlich. Angesichts
dieses Krieges stand umso größer das Versagen von Politik und Diplomatie auch vor den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Krieg ist eine Niederlage von Politik und Diplomatie.
Krieg ist deshalb eine Niederlage von Politik und Diplomatie, weil Krieg den Tod von Menschen bedeutet, von
Menschen, die mit dieser Politik und der Diplomatie
nichts zu tun haben. Es ist eine Niederlage, weil es nicht
gelungen ist, einen Diktat or durch die internationale
Staatengemeinschaft friedlich zu entwaffnen, so wie wir
es alle wollten, weil wir wussten, dass dieser Diktator
Hunderttausende von Menschen auf dem Gewissen hat.
({0})
Jetzt ist dieser Krieg traurige Realität. In dieser Situation hat mir der französische Ministerpräsident Raffarin,
der ja aus dem Land von Fr eiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit kommt, aus der Seele gesprochen, als er dieser Tage zum Irakkrieg gesagt hat: „Ich hof fe auf den
Sieg der Demokratie über die Diktatur.“
({1})
Ich denke, wir sind uns in diesem Hause alle einig:
Wir hoffen, dass es einen Sieg der Demokratie über die
Diktatur gibt. Wir können in dieser Auseinandersetzung
der alliierten Streitkräfte mit dem Diktator Saddam
Hussein nicht neutral sein, sondern wir alle stehen an der
Seite derer, die für die Demokratie kämpfen.
({2})
Herr Bundeskanzler, ich habe mich gefreut, dass
heute in diesem Hause nicht weiter einer Aufteilung zwischen Kriegswilligen und Friedenswilligen das Wort geredet wurde. Denn alle hier wollen und werden, sofern
sie dazu beitragen können, doch alles unternehmen - ob
Regierung oder Opposition -, damit unsere politischen
Ziele mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden können.
({3})
Heute ist der Tag, um mit dem Blick in die Zukunft über
den eigentlichen Dissens in diesem Hause, der ja nicht
zwischen Kriegswilligen und Friedenswilligen besteht,
zu sprechen.
Im November des letzten Jahres wurde im UNSicherheitsrat eine Resolution beschlossen, die auch die
Bundesregierung mitgetragen hat. Diese Resolution ist
eine Art Doppelbeschluss der UNO. Sie hat das klare
Ziel, eine friedliche Entwaf fnung durch ernst gemeinte
Drohung zu erreichen. Die Wirkung dieser Resolution
lebte von Beginn an von der Glaubwürdigkeit beider Elemente dieser Resolution. Damit war weder die Position
„auf jeden Fall militärische Gewalt“ vereinbart - wie Sie
uns manchmal vielleicht unterstellt haben -, noch war
die Position „auf keinen Fa ll militärische Gewalt“ vereinbart. Die Mitte zu halten, Geschlossenheit zu wahren,
das wäre nach meiner fest en Überzeugung die Aufgabe
von Politik gewesen.
({4})
Niemand von uns weiß, ob die Einigkeit im Druck
auf Saddam Hussein ihn wirk lich zu einer friedlichen
Entwaffnung hätte zwingen können. Aber eines weiß ich
sehr wohl: Diese Einigkeit im Druck war die einzige
Chance, die dieses Ergebnis hätte erzielen können.
({5})
Einigkeit im Druck schließt eben auch die damit verbundenen Konsequenzen ein: mi litärische Mittel als Ultima
Ratio
({6})
und die Bereitschaft, eine Be fristung einer solchen letzten Chance zu akzeptieren.
({7})
Nun ein Wort zum Herrn Bundesaußenminister . - Er
ist schon weg, aber das ist akzeptiert.
({8})
- Der Bundesaußenminister muss in absehbarer Zeit
nach Brüssel, wir unterstütz en das selbstverständlich.
Deshalb habe ich zur Regierungsbank geschaut.
Der Herr Bundesaußenminister hat angesichts der Gefährdungen immer und immer wieder die richtigen Fragen gestellt.
({9})
Natürlich sind militärische Auseinandersetzungen mit
hohen Risiken verbunden. Natürlich ist dies eine besondere Region, in der man besonders aufpassen muss. Natürlich muss man sich mit dem Verhältnis der Religionen
befassen. Gerade deshalb war es doch so wichtig, alles
daranzusetzen, den Druck - militärisch wie auch insgesamt - mit allen Optionen gemeinsam durchzuhalten.
({10})
Ich kann mich der Einschätzung, dass alle Anstrengungen unternommen wurden, um eine friedliche Lösung zu erreichen, nicht anschließen.
({11})
Auch andere können sich dieser Einschätzung nicht anschließen. Ich kann Ihnen daher ein Zitat aus einem
„Zeit“-Artikel der vergangenen Woche nicht ersparen,
({12})
wo wiedergegeben wird, was die Inspekteure zum Kurs
der Bundesregierung in der Irakfrage sagen:
({13})
Hätte dieser Krieg verhindert werden können? Ja,
sagen einige. Aber mit einer überraschenden Begründung: Deutschland, Frankreich und Russland
hätten den Kriegsausbruch mit ihrer vermeintlichen
Friedenspolitik unausweichlich gemacht.
({14})
Gerhard Schröders kategorisches Nein zu einem
Militäreinsatz sei schlicht „verrückt“ gewesen.
„Vielleicht hätten wir unser Mandat erfüllen können“ ...
({15})
Herr Bundeskanzler, ich denke, Sie werden sich auch
in der Folgezeit mit diesem Zitat auseinander setzen
müssen.
Kollegin Merkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Eichstädt-Bohlig?
Ich gestatte keine Zwischenfragen.
({0})
Herr Bundeskanzler, Sie werden sich mit diesem Zitat
auseinander setzen müssen.
({1})
Der in diesem Artikel wieder gegebene Gedankengang
hat mich dazu veranlasst, zu sagen: Sie haben als Bundesregierung mit Ihrem V erhalten den Krieg nicht unwahrscheinlicher, sondern wahrscheinlicher gemacht.
({2})
Für mich gibt es keinen Zw eifel daran, dass niemand
diesen Krieg gewollt hat. Aber mit Blick auf die Frage
- nicht auf die Vergangenheit bezogen; der Krieg ist Realität -, was wir aus diesen V orgängen lernen müssen
und welche Lehren wir daraus ziehen müssen,
({3})
will ich auf etwas verweisen, was Helmut Kohl einmal
gesagt hat. Helmut Kohl hat einmal gesagt - ich stimme
dem mit allem Nachdruck und in aller Ruhe zu -, die europäische Einigung sei letztlich eine Frage von Krieg
und Frieden.
({4})
Helmut Kohl ist für diesen Satz häufig belächelt worden.
Wir alle miteinander haben in den letzten W ochen eindrücklich erfahren müssen, wie schnell die Frage der europäischen Einigung zu einer Frage von Krieg und Frieden werden kann.
({5})
Deshalb müssen wir - das haben Sie, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungserklärung auch deutlich gemacht - die vor uns liegende n Aufgaben, die weit über
die Frage des Iraks hinausgehen, meistern. Sie haben gesagt, in jeder Krise liege ei ne Chance. Jawohl, in jeder
Krise liegt eine Chance. Aber wir müssen uns sehr nüchtern die Realität der heutigen Tage anschauen.
Wir haben eine gravierende Spaltung der Europäischen Union und der NATO sowie einen Vertrauensverlust in den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von
Amerika erlebt. W ir mussten erkennen, dass bewährte
Institutionen unserer Sicherheit im Augenblick der Krise
ausgesprochen unfähig waren, so zu handeln, wie wir es
uns alle gewünscht haben. Deshalb geht es nicht nur allgemein darum, ob ein Wiederaufbau des Iraks stattfindet
- natürlich muss das der Fall sein -, sondern wie dieser
Wiederaufbau vonstatten ge ht. Er muss unter Beteiligung der EU, der NATO und der UNO erfolgen.
Natürlich müssen wir als Bundesrepublik Deutschland wieder eine verantwortliche Außen- und Sicherheitspolitik aufbauen.
({6})
Die Pfeiler der Außen- und Sicherheitspolitik aus der
Vergangenheit gelten weiterhin: europäische und transatlantische Einigung. Diese Pfeiler müssen nach der deutschen Einheit, nach der Erlangung der Souveränität
Deutschlands von unserer Generation neu begründet,
neu formuliert und vor allen Dingen mit den Menschen
dieses Landes neu diskutiert und besprochen werden.
Lassen Sie mich das in sechs Punkten deutlich machen:
Erstens. Viele Bruchlinien - alte wie neue - durchlaufen unseren europäischen Kontinent. Um die politische
Einigung wirklich zu erre ichen, muss Deutschland eine
kluge Politik, eine Politik des Ausgleichs
({7})
zwischen alten und neuen sowie großen und kleinen EUMitgliedstaaten machen.
({8})
Herr Bundeskanzler, Sie haben eben gesagt, es sei
wahr, dass Europa in dieser Auseinandersetzung an vielen Stellen nicht einig gewesen sei. Dann haben Sie gesagt, bei genauerem Hinseh en müsse man feststellen,
dass in der Ablehnung des Krieges zwar nicht die Regierungen, aber die Gesellschaften einig gewesen seien.
({9})
Herr Bundeskanzler, ich frage Sie: Was bedeutet das für
die Regierungen, die Ihre Meinung nicht geteilt haben?
({10})
Was bedeutet das denn für die Erfahrung, die wir im
Rahmen des Kosovo-Konfliktes gemeinsam in diesem
Hause gemacht haben, als die Gesellschaften Europas
auch die Angriffe auf Belgrad nicht wollten und wir sie
dennoch aufgrund gemeinsamer Überzeugung für richtig
gehalten haben? Ich halte Ihre Aussage an dieser Stelle
für sehr gefährlich.
({11})
Ich bin auch verunsichert,
({12})
was Ihre Aussage angeht - ich sage es einmal ganz vorsichtig -, das Europa der 25 werde komplizierter als das
Europa der 15. Was sollen die neuen Mitgliedstaaten gerade in Bezug auf den Irakkonflikt - wir sprechen jetzt
nicht über eine EU-Richtlinie zu Chemikalien - von einer solchen Feststellung halten? Alle neuen Mitglieder
der Europäischen Union sind Mitglieder der NA TO. Sie
haben mit Sicherheit keinen Beitrag zu den jetzigen
Schwierigkeiten geleistet. Vielmehr bestanden all diese
Schwierigkeiten in der EU innerhalb der alten Mitgliedstaaten der Europäisch en Union. Auch das gehört
zur Wahrheit.
({13})
Deutschlands Rolle muss aus geographischen und aus
historischen Gründen dergestalt sein, dass Deutschland
zum Ausgleich beiträgt und ein Anwalt der kleinen Länder ist.
({14})
Wenn in diesen Tagen viel von einer Hegemonialmacht
gesprochen wird - ich bin gegen jede Form von Hegemonialmachtstreben -,
({15})
dann müssen wir als Deutsche aufpassen, ob die kleinen
Staaten Europas nicht auch uns Großmannssucht vorwerfen könnten. Auch das gehört zur Realität des europäischen Alltags.
({16})
Aus seiner geschichtlichen Erfahrung und aus seiner
geographischen Lage heraus hat Deutschland eine ganz
besondere Aufgabe in Europa : den Ausgleich zu schaffen und die verschiedenen Interessen zu bündeln. W ir
alle wissen doch, dass es Länder gibt, die Interesse an einem großen Wirtschaftsraum Europa haben, dass es Länder gibt, die ein großes Interesse an der V ertiefung der
politischen Union haben, und dass es Länder gibt, die einen größeren Schwerpunkt auf die Erhaltung des Strukturausgleichs legen. Deutschland muss aus der von mir
genannten Verpflichtung heraus die integrative Kraft
sein, die Ausgleich schaf ft. Das hat Deutschland in den
letzten Wochen nicht ausreichend getan.
({17})
Deutschland darf keine Randposition und keine Maximalposition vertreten und keine Sonderwege gehen.
Nach dem Ende des Kalten Kr ieges sollte es eine gemeinsame Verpflichtung sein - mich persönlich bewegt
das -, mit der Bevölkerung über diese Aufgaben zu sprechen.
Zweitens. Das Verhalten der Europäer im Irakkonflikt
bringt uns zu einer zentrale n Lehre - da stimme ich mit
Ihnen überein -: Ohne eine Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik wird es keine europäische Einigung
geben.
({18})
Was heißt das? W ir haben uns in den 90er -Jahren
ganz stark auf die Gestaltung des europäischen Binnenmarktes konzentriert. Im Übrigen haben wir Europa
durch die Einführung des Euro irreversibel, unumkehrbar gemacht. Das waren mutige Entscheidungen - von
Helmut Kohl, von Theo Waigel.
({19})
Diese Entscheidung für den Euro, der von Ihnen seinerzeit übrigens als kränkelnde Frühgeburt disqualifiziert
wurde, ist nicht von der Mehrheit der Bevölkerung gekommen; vielmehr hat es di e Führung als ihre Aufgabe
angesehen, dies der Bevölkerung nahe zu bringen. Heute
wird sie von der Bevölkerung mit Überzeugung getragen. Dies wird bei wichtigen Entscheidungen immer
wieder notwendig sein.
({20})
Es geht auch um den W illen, eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik durchzusetzen. Herr Bundeskanzler, ich stimme mit Ihnen völlig überein: Es wird dabei Fortschritte und Rückschl äge geben. Ich sage Ihnen
aber auch: Ein Erlebnis wie das der Auseinandersetzung
um den Irak verträgt die Ge meinsame Außen- und Sicherheitspolitik Europas nicht alle Jahre wieder . Wir
müssen Lehren ziehen und wir müssen den W illen haben, Kompromisse und Gemeinsamkeiten zu finden,
({21})
so wie sie auf dem Sonderrat der Europäischen Union im
Februar gefunden wurden. Da s war aber leider viel zu
spät, das hätte früher geschehen müssen. Dies müssen
wir in Zukunft beachten.
({22})
Drittens. Eine weitere Lehre aus der Spaltung Europas
muss sein: Eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa wird es niemals gegen die Vereinigten
Staaten von Amerika, sondern nur mit ihnen und auf der
Basis eines entsprechenden Vertrauens geben.
Die Europäer haben spätestens - das ist eine noch nicht
weit zurückliegende gemeinsame Erfahrung - im Zusammenhang mit dem Kosovo-Konflikt erlebt, dass wir überhaupt nicht in der Lage sind , die militärischen Konflikte
unseres Kontinents aus eigener Kraft zu lösen. Ich bin
froh, dass es im Zusammenhang mit Mazedonien jetzt
zum ersten europäischen Mandat gekommen ist. Das ist
keine Frage. Aber die eigentlichen militärischen Risiken
sind in einer Auseinandersetzung getragen worden, bei
der wir ohne die Amerikaner nicht in der Lage gewesen
wären, das von uns allen gewünschte Ziel zu erreichen.
({23})
Deshalb, Herr Bundeskanzler, brauchen wir die NA TO.
Sie haben das auch gesagt. Ich hätte mir aber trotzdem
gewünscht, Sie wären in der Frage, wie das aussehen
soll, etwas konkreter geworden.
In diesen Tagen entscheiden auch die Bilder . Wir haben viele Strategietreffen des Bundesaußenministers mit
dem französischen Außenmin ister und seinem russischen Kollegen erlebt. Aber wenn wir die Zukunft des
Bündnisses NATO wollen, ist es wichtig, klar und deutlich zu sagen, dass es eine Äquidistanz zwischen Europa
und Amerika und zwischen Europa und Russland auf absehbare Zeit nicht gibt. Di e transatlantische Partnerschaft beruht auf einem klareren W ertegerüst als unser
Verhältnis zu Russland.
({24})
Damit spreche ich nicht gegen ein gutes V erhältnis zu
Russland. Das ist überhaupt keine Frage. Ich bin aus vollem Herzen für die Kooperation der NA TO mit Russland. Aber in der Stunde des Risikos kommt es schon
darauf an, dass man weiß, wo die gemeinsame Partnerschaft liegt.
({25})
Wenn man es mit diesem transatlantischen Bündnis,
der NATO, ernst meint und es mal wieder zu einer Situation käme, in der wir mit militärischem Druck eine UNResolution durchsetzen müssen, könnte - das wäre doch
durchaus denkbar - auch ein europäisches Kontingent
aus der NATO an dem Aufb au eines solchen militärischen Drucks mitarbeiten, um zum Schluss eine friedliche Lösung dieses Konflikts zu erreichen. Ich glaube,
den Amerikanern wäre es schwerer gefallen, bei Mitwirkung aller europäischen NA TO-Mitglieder eine solche
Entscheidung allein zu treffen.
({26})
Wir müssen V erantwortung im Risiko übernehmen,
sonst wird die V erantwortungsgemeinschaft nicht zum
Leben erweckt werden können.
({27})
Viertens. Wenn wir das schaffen wollen, dann müssen
wir zuallererst zu einem gemeinsamen Verständnis kommen, was die Bedrohungen sind, denen wir uns in dieser
Welt gegenübersehen.
({28})
Der Bundeskanzler hat hierzu - das danke ich ihm - Einiges gesagt. Er hat gesagt, er unterstütze die Ansicht, dass
die Bedrohungen der heutigen Zeit zum einen vom Besitz von Massenvernichtungswaffen und zum anderen
von nicht staatlichem T errorismus ausgehen. Vielleicht sei eine der größten Bedrohungen, der wir in Zukunft gegenüberstehen, die V ermischung von beidem,
nämlich der Proliferation von Massenvernichtungswaffen an terroristische Gruppen, die wiederum von staatlichen Strukturen unterstützt werden.
Wenn Sie sagen, wir brauch en deshalb eine gemeinsame europäische Ausfuhrpolitik und müssen bei diesem
Thema zu internationalen Standards kommen, dann
stimme ich Ihnen zu; das ist keine Frage. Aber der Sicherheitsbegriff ist, da er ni cht teilbar ist, nicht nur ein
politischer, ökologischer oder kultureller , sondern er
wird auch ein militärischer Begrif f bleiben. Vor dieser
Erkenntnis können wir uns nicht drücken. Wir werden
uns nicht damit herausreden, dass Blauhelme eingesetzt
werden. Die Frage lautet vielmehr: W elche Strategie
müssen wir ausarbeiten, um auf die modernen Bedrohungen zu reagieren, bei der politische Lösungsmöglichkeiten und Abschreckung in adäquater Weise verbunden
werden?
({29})
Fünftens. Wenig ist gewonnen, wenn aus der gemeinsamen Bedrohungsanalyse, von der ich sagen muss,
dass wir sie nicht ausreichend durchgeführt haben, keine
Schlüsse gezogen werden. W enn wir alle davon überzeugt gewesen wären, dass keine Massenvernichtungswaffen, Pockenviren oder Milzbranderreger in der Hand
von Hussein sind, dann, Herr Bundeskanzler, hätten wir
nicht klammheimlich 80 Millionen Dosen an Impfstof f
gekauft. Wir hätten dann gemeinsam
({30})
und offensiv unserer Bevölkerung gesagt, welche Gefährdung in diesem Lande tatsächlich für uns besteht.
({31})
Gemeinsam eine Analyse du rchzuführen ist schön und
gut, aber es muss auch der gemeinsame, der wirkliche
Wille bestehen, die notwendigen politischen und militärischen Mittel bereitzustellen.
Ich hätte heute von Ihnen gerne wenigstens ein lobendes Wort zur NATO-Response-Force gehört. Ich hätte
auch gerne gehört, dass man eine gemeinsame Politik
machen wolle. Deutsch-französische oder deutsch-belgische Initiativen sind okay, aber in diesen Tagen muss es,
wie ich glaube, vor allen Di ngen Initiativen geben, die
Brücken über die Gräben bauen. W ir brauchen deutschpolnische oder deutsch-britisc he Initiativen. Das ist es,
worauf Europa wartet, wenn Deutschland wirklich eine
ausgleichende Rolle spielen will.
({32})
Meine Damen und Herren, wir müssen aufpassen,
dass wir in diesem Lande fähig sind, unseren Willen, Bedrohungen zu begegnen - so er denn besteht -, auch materiell durchzusetzen. Der Bundesaußenminister hat in
einem bemerkenswerten Interview in der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“ gesagt, wir brauchten eine stärkere militärische Kraft. Der Bundeskanzler hat sich
dem angeschlossen. Deswegen haben wir schon erwartungsvoll auf einen Nachtragshaushalt gewartet.
({33})
Anschließend hat der Bundeskanzler dem staunenden
Publikum mitgeteilt, für die nächsten drei Jahre gelte das
nicht.
({34})
Ich frage Sie: W er glaubt un s denn ernsthaft, dass den
Bekenntnissen aus unseren Mündern wirklich Taten folgen? Darauf wartet doch Europa, auf Taten und nicht nur
auf Worte.
({35})
Sechstens. Wir brauchen eine Stärkung der UNO
und eine Legitimation ihrer Mechanismen, damit sie sich
auf die neuen Bedrohungen einrichten kann. Die UNO
soll - ich bin sofort dabei; daran will ich Sie erinnern das Gewaltmonopol haben. W ir dürfen aber doch nicht
die Augen davor verschließen, dass nicht die gesamte
Welt demokratisch ist und es nicht gesichert ist, dass jeder unsere Grundeinstellungen teilt.
({36})
- Herr Schmidt, da Sie dagegen protestieren,
({37})
erinnere ich Sie nur an die Tatsache, dass auch Sie - angesichts drohender Vetos von Russland und China - den
Einsatz im Kosovo auf der Basis der NA TO für richtig
befunden haben. Dabei handelte es sich natürlich auch
um ein Versagen der UNO. Uns allen wäre es lieber gewesen, wenn die UNO das getan hätte.
({38})
Wir haben es aber trotzdem für richtig befunden. V erschließen wir die Augen doch nicht vor der Realität.
({39})
Deshalb wird es auch in der Zukunft ein Unterschied
sein, ob Bedrohungen von der UNO festgestellt wurden,
ob es um die Durchsetzung von Resolutionen geht oder
ob es überhaupt noch keine gemeinschaftliche internationale Bedrohnungsanalyse gibt. Angesichts dessen, was
uns nach dem 1 1. September des Jahres 2001 begegnet
ist, rate ich uns allen - niemand hier im Hause hat heute
schon die fertigen Antworte n -, darüber nachzudenken,
wie die internationalen Institutionen auch auf diese Herausforderungen vorbereitet werden können.
({40})
Meine Damen und Herren, im Grundsatz teile ich all
das, was Sie über die Zukunft des Iraks gesagt haben. Ich
glaube, wir sollten alle Anstrengungen unternehmen, um
dies unter dem Dach der UNO zu erreichen. Es ist selbstverständlich, dass dem irakischen V olk, also den Menschen dieses Landes, mehr als das heute der Fall ist nicht
nur seine Territorien, sondern auch seine Bodenschätze
und all das, was ihm gehört, zur Verfügung gestellt werden. In den nächsten Wochen werden wir uns mit dieser
Frage beschäftigen. Ich sage Ihnen aber auch voraus: Vor
allen Dingen werden wir un s viel grundsätzlicher und
weitergehend mit außen- und sicherheitspolitischen Fragen beschäftigen müssen.
Nach dem heutigen T ag sehe ich durchaus Gemeinsamkeiten. Herr Bundeskanzler, wenn die Worte, die Sie
hier bezüglich der Europäis chen Union, der NATO und
der Zukunft der UNO gesagt haben, wirklich Gewicht
bekommen sollen, dann wird ein großer politischer Führungswille notwendig sein.
({41})
Dieser politische Führungswille wird auch einschließen, dass wir bereit sein müssen, die Umfragewerte nicht
immer und sofort auf unserer Seite haben zu wollen.
({42})
Statt dessen müssen wir politisch verantwortlich entscheiden, weil wir uns auch um den Frieden in Freiheit
und Gerechtigkeit von mor gen und übermor gen kümmern wollen. Das ist das Anliegen der Union. Dafür stehen und arbeiten wir.
Herzlichen Dank.
({43})
Ich erteile dem Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion,
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bilder und Nachrichten, die wir von diesem Krieg erhalten, werden immer unerträglicher. Das Elend der Opfer
und der Anblick ihrer W ehr- und Schutzlosigkeit brennen sich in unsere Sinne ein und begleiten uns in diesen
Tagen auf Schritt und Tritt.
Die Medien - so empfinde ich es - halten eine kritische Distanz zu einer offiziellen Kriegsberichterstattung,
die auch Manipulationen einschließt. Immer häufiger beobachten wir aber, dass zwar berechtigte und gute Fragen zu diesem Krieg gestellt, darauf jedoch schlechte
oder nichtssagende Antworten gegeben werden. Es besteht die Gefahr, dass uns die Massivität und die W ucht
des Geschehens wegträgt und stumpf macht. Dem müssen wir widerstehen.
({0})
Vor allem dürfen wir nicht ver gessen, an wessen
Stelle dieser Krieg gerückt ist. Noch bis vor 14 Tagen
gab es eine Alternative, Frau Merkel. Der Begrif f
„friedliche Lösung“ ist dafür eine viel zu schwache Formulierung. Vor dem Krieg, zur Zeit der Inspektionen,
war das Regime von Saddam Hussein weltweit politisch
komplett isoliert. Seine Souveränität war durch Kontrollflüge in der Luft und ein Ko ntrollsystem am Boden mit
Durchgriffsrechten ohne Be ispiel hundertfach eingeschränkt.
Vor diesem Hintergrund erschien der Diktator, der die
Forderungen der internationalen Gemeinschaft erfüllen
musste, immer kläglicher. Es schien eine Frage der Zeit
zu sein, bis die Entwaf fnung durch die Inspektoren und
das dann vorgesehene dauerhafte Kontrollsystem einen
faktischen Regimewechsel herbeigeführt hätten. Es
wäre ein sang- und klangloses Auslaufen dieses Regimes
gewesen, das seine Schreckenswirkung auf andere immer durch die Bedrohung mit Waffen ausgeübt hat.
Was aber ist jetzt? W as außer unschuldigen Opfern
produziert dieser Krieg? Die politische Isolation des Regimes ist nicht mehr vollständig: weder nach innen noch
nach außen. Erste Länder bekunden ihre Unterstützung
für dieses Regime. Amerikanische Beobachter stellen
konsterniert fest, dass Iraker aus dem In- und Ausland
angesichts des Bombenhagels zu den W affen eilen, um
ihr Land zu verteidigen. Zwar zweifelt kaum jemand am
baldigen Ende Saddams, aber jetzt kommt dieses Ende
nicht sang- und klanglos, sondern in einem Geschützdonner, der Saddam Hussein einen alten Traum erfüllen
könnte, nämlich in seinem Ende noch den Zugang zu jenem Kosmos arabischen Heldentums zu finden, von dem
er immer geträumt hat. V on den Seitenbühnen dieser
Szene hören wir immer häufiger das bedrohliche W ort
Dschihad. Plötzlich bitten die Sprecher der Krieg führenden Staaten um die Geduld, die sie vorher den V ereinten Nationen und der Me hrheit der Staaten verwehrt
haben.
({1})
Frau Merkel, auf diese Zwischenbilanz des Krieges
hätten Sie eingehen müssen. Das hätten wir von Ihnen
erwartet. Aber Sie haben es nicht getan. Nach 14 Tagen
Krieg kommen weltweit imme r mehr Menschen zu der
Erkenntnis: Dieser Krieg ist ein blutiger Irrweg, der einen kaum übersehbaren politischen Flurschaden anrichtet. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn sich die
überlegenen Waffen durchgesetzt haben und dann dieser
Krieg sehr bald, wie wir hof fen, zu Ende sein wird. Gerade deswegen war es wich tig, dass diese Bundesregierung zusammen mit vielen anderen Ländern bis zur letzten Minute alles getan und versucht hat, um diesen
Irrweg zu verhindern und eine Alternative, die Entwaf fnung ohne Krieg, durchzusetzen.
({2})
Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Rede wieder bewiesen: Sie versuchen, den Menschen bis heute einzureden,
dass es diese Alternative nicht gab. Das ist unser eigentlicher Dissens. Sie tun das deswegen, weil Sie die Politik
der amerikanischen Regierung von Anfang bis Ende
ohne Wenn und Aber unterstützt haben, die diesen Krieg
von vornherein vorbereitet un d sich am Ende gegen die
Mehrheit der Staatengesellschaft durchgesetzt hat.
({3})
Aber Sie werden mit Ihrer Behauptung von der Unvermeidbarkeit des Irakkrieges nicht durchkommen,
Frau Merkel. Sie schaf fen es nicht einmal, Ihre eigene
Fraktion zu überzeugen.
({4})
Angeblich hat sich diese vor gestern, bis auf den wackeren Kollegen Gauweiler,
({5})
hinter Sie gestellt, aber da gibt es Erklärungsbedarf.
({6})
Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Von einem Mitglied
Ihrer Fraktion konnte man in der regionalen Presse vor
wenigen Tagen folgende Sätze lesen:
Ich verurteile das Vorgehen der USA. Im Gegensatz
zur Mehrheit meiner Partei denke ich, dass die
friedlichen Mittel nicht ausgeschöpft wurden.
Noch am letzten Samstag war zu lesen:
Ich liege klar nicht auf der Linie der Fraktionschefin. Das Vorgehen der USA, ein Ultimatum zu
stellen und in den Krieg zu ziehen, finde ich falsch.
Am Dienstag war alles ganz anders, frei nach dem
Motto: Hier stehe ich, ich kann auch anders, und das bei
Fragen von Krieg und Frieden. Das ist kein Einzelfall,
viele unserer Kollegen haben das Gleiche in ihren Wahlkreisen erlebt. Das heißt aber: In W irklichkeit gibt es
viel mehr Gauweilers, als wir denken. Bloß sprechen einige in Berlin anders als zu Hause.
({7})
Das heißt aber auch: Ihre argumentative Bindewirkung, Frau Merkel, endet be reits an den Türen Ihres
Fraktionssaales.
({8})
In Wirklichkeit mussten Sie schon jetzt zum letzten Mittel einer informellen Vertrauensfrage greifen,
({9})
um die vielen zum V erstummen zum bringen, die ganz
anderer Meinung in der Kriegsfrage sind als Sie.
({10})
Mit Ihrer dogmatischen Position richten S ie einen
Schaden an, der weit über Ihre Partei und Ihre Fraktion
hinausgeht.
({11})
Die Menschen merken nämlich ganz genau, wie gefährlich die jetzige Diskussion ist. Frau Merkel, ich rufe Sie
auf, endlich einmal mit dieser Hetze gegen die Bundesregierung aufzuhören und zu behaupten,
({12})
dass sie eine Mitverantwortu ng für den Krieg habe. Sie
merken überhaupt nicht den W iderspruch, dass Sie einerseits den Bundeskanzler auf fordern, er solle zum
Ausgleich in Europa beitrage n, Sie aber andererseits in
der Kleinräumigkeit der Bu ndesrepublik jeden Tag aufs
Neue das T ischtuch zerschneiden. Die Leute erwarten
doch etwas völlig anderes von uns. Sie erwarten, dass
wir in diesem Augenblick gemeinsam handeln und uns
auf die Prioritäten konzentrieren.
Diese Prioritäten sind erkennbar . Die erste Priorität
heißt: Es muss zunächst einmal etwas zur Abwendung
der humanitären Katastrophe unternommen werden.
({13})
Es wurde sogar von Amerika anerkannt, was die Bundesregierung in dieser Beziehung gemacht hat. Deutschland hat als Vorsitzender des Sanktionsausschusses Irak
ganz wesentlich dazu beigetragen, dass die Sicherheitsratsresolution 1472 vom 28 . März zustande gekommen
ist. Wir gratulieren und danken unserer Delegation bei
den Vereinten Nationen unter Botschafter Pleuger für ihren Anteil daran.
({14})
Es gibt noch eine zweite Priorität, diese heißt: Die
Autorität der Vereinten Nationen bei jeder Regelung
einer Friedensordnung bzw . einer Nachkriegsordnung
nicht nur im Irak, sondern in der ganzen Region, muss
wieder hergestellt werden. Wir freuen uns - das ist ein
konkreter Erfolg von Politik -, dass Großbritannien und
insbesondere Tony Blair uns in dieser Position immer
deutlicher unterstützen. Das ist der Weg zurück zu einer
gemeinsamen europäischen Position. Diese ist konkret
erreicht worden und deshalb bedarf es nicht ir gendwelcher Anmahnungen.
({15})
Der Krieg im Irak bringt viele zum Zweifeln und zum
Verzweifeln. Wenn wir als zum Handeln Gewählte auch
noch Argumente liefern, die Defätismus, die Kleinmütigkeit legitimieren, dann werden wir unserem Mandat
nicht gerecht. Es gab Alternativen und es gibt sie immer
noch zu dem, was uns jetzt al le quält. Wir müssen diese
Alternativen benennen und global durchsetzungsfähig
machen. Das und nichts anderes ist unsere Aufgabe.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Ich erteile das W ort Herrn Kollegen Guido
Westerwelle, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben eine Regierungserklärung abgegeben, bei der di ejenigen, die sich für die
Außenpolitik interessieren - das ist in diesen Zeiten jeder in diesem Hause -, dami t gerechnet haben, Sie würden heute auch weiterführend perspektivisch die Vorstellungen der Bundesregierung für die Zeit nach dem Krieg
vortragen.
({0})
Ich glaube, es gibt zwei Fragen, die wir uns alle stellen: Wie konnte es zu diesem Krieg kommen und was
kommt nach dem Krieg? Zu beiden Fragen haben Sie
sich sehr allgemein eingelassen und sich um ihre Beantwortung herumgedrückt. Si e haben von der Rolle der
Vereinten Nationen gesprochen, aber das war im Grunde
genommen nur eine Floskel bz w. ein rhetorisches Bekenntnis dazu.
({1})
Denn die Vereinten Nationen als alleinige Inhaber des
Gewaltmonopols darzustellen ist zwar in der Sache richtig, aber in Anbetracht des Scherbenhaufens, den die
deutsche Regierung - übrigens gemeinsam mit der Regierung in Washington - in den Vereinten Nationen mit
angerichtet hat, ist das eindeutig zu wenig.
({2})
Diese differenzierte Haltung mag bei Ihnen von der
SPD auf Empörung stoßen; wir Freien Demokraten bleiben trotzdem bei unserer Ei nschätzung: Dass es zu diesem Krieg gekommen ist, ist auch das Ergebnis des
Versagens der Außenpolitik auf beiden Seiten des Atlantiks. Sowohl die Regierung in W ashington als auch
die in Berlin haben die V ereinten Nationen infrage gestellt und ihre Arbeit erschwert. Das war der schwere
Fehler in dieser Zeit.
({3})
Jetzt stellen sich folgende Fragen: Wie kann die Rolle
der Vereinten Nationen wieder ausgebaut werden? W as
müssen wir uns vornehmen? W elche Initiativen in
Europa starten Sie? Dabei reic ht es nicht aus, sich für
das Amt ein es europäischen Außenministers auszusprechen. Über diese Erkenn tnis haben wir schließlich
schon oft genug gesprochen.
Die Frage, die Sie beantworten müssen, ist: W elche
Rolle soll künftig Europa in den V ereinten Nationen
wahrnehmen? Wir haben festgestellt, dass eine Struktur ,
in der die Vereinten Nationen von ihren Mitgliedstaaten
infrage gestellt werden, die sie nutzen und benutzen, bis
sie glauben, sie nicht mehr zu brauchen, auf Dauer nicht
positiv ist. Es ist die eige ntliche Aufgabe der deutschen
Politik - das er gibt sich au ch aus der Historie unserer
bisherigen Außenpolitik -, die Stärkung Europas in den
Vereinten Nationen voranzubringen,
({4})
damit dort nicht europäisch e Nationalstaaten handeln,
sondern damit Europa in den V ereinten Nationen handelt. Deswegen wäre es jetzt an der Zeit, dass die deutsche Politik die Initiative für einen Sitz der Europäischen
Union im Weltsicherheitsrat ergreift.
({5})
Das wäre die richtige Initiative, die wir in dieser Diskussion starten sollten.
Ein weiterer Punkt betrif ft den europäischen Einigungsgedanken. Ich empfehle Ihnen in diesem Zusammenhang - das ist wichtig - ein Interview und einen Namensbeitrag vom heutigen Tage, und zwar nicht wegen
der Spitzen gegen die Regierung, die beispielsweise in
dem Interview enthalten sind, sondern wegen der Souveränität, mit der sich zwei große Staatsmänner zur Außenpolitik äußern. Es handelt si ch zum einen um das Interview des Altbundeskanzlers, Helmut Kohl,
({6})
in der Zeitung „Die Welt“ und zum anderen um einen vorzüglichen Namensbeitrag von Hans-Dietrich Genscher
im „Tagesspiegel“ vom heutigen Tage, den ich ebenfalls
Ihrer Aufmerksamkeit empfehle.
({7})
Wer über Außenpolitik spricht, sollte die Souveränität
und die Selbstverständlichkeit zur Kenntnis nehmen, mit
der der Altbundeskanzler, Helmut Kohl, auch auf die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen sowohl in W ashington als auch in Berlin hinweist. Für Helmut Kohl
ist es kein Problem, das Handeln der amerikanischen Regierung namentlich zu kritisieren. Das sollte für uns alle
im Deutschen Bundestag ke in Problem sein; denn auch
als Freunde der Amerikaner mü ssen wir feststellen: Alleingänge dieser Art können nicht die Billigung der deutschen Politik finden.
({8})
Des Weiteren empfehle ich den, wie ich meine, sehr
bemerkenswerten Beitrag von Herrn Genscher im „T agesspiegel“. Ich glaube, dass wir darin vor allem einen
bemerkenswerten Hinweis auf das finden, was jetzt diskutiert werden muss, nämlich auf das Verhältnis zu den
künftigen osteuropäischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Hier wird der Eindruck erweckt, als
würden diese Staaten vielleicht eines Tages der Europäischen Union beitreten.
({9})
- Nicht Sie! Das ist vielmehr in der öffentlichen Diskussion mehrfach erwähnt worden, gar keine Frage.
({10})
- Entschuldigung, darf ich Sie auf etwas aufmerksam
machen? Wenn es darum geht, das V erhalten der Deutschen gegenüber Osteuropa zu würdigen, dann sage ich
in aller Ruhe - weniger im Hinblick auf das, was heute
gesagt worden ist, sondern mehr im Hinblick auf die
letzte Regierungserklärung, die der Bundeskanzler abgegeben hat -: Ihr oberlehrerhafter Umgang mit den künftigen osteuropäischen Mitg liedern der Europäischen
Union
({11})
ist ein dramatischer Fehler und zeugt von der Arroganz
eines großen Landes, wie Sie sie in ihren Auswirkungen
möglicherweise gar nicht verstanden haben.
({12})
Wenn Sie die Osteuropäer - erinnern wir uns nur, wie
Sie auf die Initiativen der osteuropäischen Länder reagiert haben, die natürlich vor einer ganz anderen Frage
stehen - vor die Alternative „Europa oder S icherheit in
einem Bündnis mit den V ereinigten Staaten“ stellen,
dann befürchte ich, dass sie sich aufgrund ihrer eigenen
Historie eher für die Sicherheit entscheiden. Das ist auch
der große Fehler der von Ihnen initiierten Achsendiskussion. Muss ich wirklich darauf hinweisen, welche
Bedeutung diese Diskussion für Prag oder W arschau
hat? Es ist falsch, zu glaube n, dass wir eine neue Achse
anstelle der transatlantischen Beziehungen schaffen können. Europa und Amerika müssen zusammenbleiben.
Das ist der historische Auftrag, den wir in der jetzigen
Phase haben.
({13})
Das sage ich als jemand, der die Haltung der Amerikaner
sehr deutlich kritisiert hat.
In dem Beitrag von Herrn Genscher heißt es:
Die Enttäuschung in Paris und Berlin über das Verhalten einiger Beitrittsländer in der Irakfrage sollte
Anlass sein, die Beitrittsländer unverzüglich in die
außenpolitische Meinungsbildung der EU einzubeziehen.
Genau das ist es. Beklagen Si e sich nicht darüber , dass
andere demokratisch gewählte Regierungen anders handeln. Suchen Sie das Gespräch!
({14})
In Wahrheit sind die Probleme in den Beziehungen zwischen Berlin und W ashington dadurch entstanden, dass
die demokratisch gewählten Führer zweier europäischer
Länder in den Zustand der Sprachlosigkeit - das trifft
in erster Linie auf Sie zu - verfallen sind. Das wird einmal als das große Versagen der Diplomatie und der Außenpolitik in die Geschichtsbücher eingehen.
({15})
Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung einen bemerkenswerten Satz gesagt, nämlich
dass die jetzige Diskussion zwar - vielleicht - der Ausdruck von Meinungsunterschieden zwischen Regierungen sei, dass sich aber di e europäischen Gesellschaften
durchaus einig seien. Gemeint haben Sie damit Folgendes: Ich, Gerhard Schröder , Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, habe vi elleicht nicht die Zustimmung aller europäischen Regierungen, aber in W ahrheit
steht die Bevölkerung ganz Europas hinter mir . Genau
das ist es, was Sie gemeint haben. Dass das nicht stimmt,
werden Sie feststellen, wenn sie sich zum Beispiel die
gesellschaftliche Diskussion in Großbritannien anschauen. Übrigens, dort hat es eine Diskussion im Unterhaus in einer Qualität gegeben, wie man sie sich hier
manchmal wünschen würde.
({16})
- To whom it may concern. Allein die Reaktion auf diese
Bemerkung zeigt, wie richtig mein letzter Satz ist.
({17})
Ich möchte aber auf etwas anderes hinweisen. W as
bedeutet das Ganze denn? Da s bedeutet in W ahrheit,
dass Sie nicht alle europäischen Regierungen in der Irakfrage hinter sich haben wollen, um gemeinsam voranzugehen, sondern dass Ihnen - das ist of fensichtlich ein
wesentliches Kriterium Ihrer Außenpolitik - die Zustimmung der eur opäischen Gesellschaften reicht.
Herr Bundeskanzler, Ihre Re gierungserklärung belegt,
dass Sie im Grunde genommen genau das Prinzip in der
Außenpolitik verfolgen, das Sie in Ihrer Wahlkampfrede
in Goslar dargelegt haben.
({18})
Sie lassen Außenpolitik in weiten T eilen durch Meinungsumfragen bewerten und richten sich danach. Sie
dürfen aber in Ihrer Außen politik nicht danach fragen,
wie sie auf die Menschen wirkt. Sie müssen Außenpolitik vielmehr so formulieren, dass sie etwas für die Menschen bewirkt. Das ist die eigentliche Frage, die Sie zu
beantworten haben. Das tun Sie aber nicht.
({19})
Herr Bundeskanzler, ich möchte in den wenigen Minuten, die mir in dieser Debatte verbleiben, noch die
Frage ansprechen, wie wir un s in Deutschland im Hinblick auf diese Diskussion aufstellen sollten.
Erstens. Herr Bundeskanzler, kurz nachdem Sie Ihre
Regierungserklärung beendet hatten, hat die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnber g ihre aktuelle Arbeitslosenstatistik veröffentlicht. Während wir debattieren, wird
bekannt, dass die Arbeitsl osenzahlen auf dem höchsten
Märzstand seit der Wiedervereinigung sind.
({20})
Das ist deshalb so erwähnenswert, weil auch das gesamte außen- und europapo litische Gewicht der Deutschen davon abhängt, ob sie als starke Wirtschaftsnation
ihre innenpolitischen Hausaufgaben machen.
({21})
Deswegen ist die wirtschaftliche Kraft Deutschlands in
Europa von den Möglichkeiten, die wir in der Außenpolitik einnehmen können, schl echterdings nicht zu trennen. Nur wenn Sie den Weg der Erneuerung gehen - das,
was Sie bisher vor gelegt haben, ist zu wenig -, werden
Sie in der Lage sein, international Gehör zu finden.
Zweitens. Es reicht eben nicht aus - Frau Kollegin
Merkel hat darauf zu Recht hingewiesen -, in bestimmten Situationen die Ankündigung, die Bundeswehr besser auszustatten, fallen zu lassen; sondern S ie müssen
dem auch Taten folgen lassen. Sie können der Bundeswehr nicht immer neue internationale Aufgaben übertragen - ich sage Ihnen voraus, dass in der Nachkriegszeit
weitere neue Aufgaben au f uns zukommen, mindestens
humanitäre - und gleichzeitig den Etat der Bundeswehr
immer weiter kürzen.
({22})
Wer die Bundeswehr mit neuen Aufträgen ausstattet, der
muss sie auch mit neuen Mitteln ausstatten.
({23})
Darüber werden wir gemeinsam, verehrte Kolleginnen und Kollegen, auch der Regierungsfraktionen - ich
habe die Worte des Bundeskanzlers, die von seinem Redetext abwichen, sehr genau verfolgt; ich begrüße das,
was er gesagt hat, ausdrücklich -, in diesem Haus im
Hinblick auf die künftige Rolle der Bundeswehr entscheiden. Wir müssen klären, was wir wollen.
Herr Bundeskanzler, ich begrüße nachdrücklich, dass
Sie sich hier - jedenfalls den Worten nach - zu einem
Parlamentsheer, zu einer Parlamentsarmee bekannt haben. Um dem Rechnung zu tragen, müssen wir gemeinsam im Deutschen Bundestag nicht irgendwann, sondern
von nun an zügig beraten, wie wir dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nachkommen können. W ir müssen klar machen, dass die Kultur der Zurückhaltung bei
Auslandseinsätzen der Bundeswehr auch dadurch erhalten bleiben soll, dass wir die Schwelle der Einsätze nicht
senken, indem wir aus der Pa rlamentsarmee eine Regierungsarmee machen.
({24})
Wir Liberale wollen eine Parlamentsarmee und daher
treten wir dafür ein, dass wir hier, im Deutschen Bundestag, ein Mitwirkungsgeset z beraten und beschließen.
Eine entsprechende Vorlage liegt seit Sommer letzten
Jahres - das war noch in de r alten Legislaturperiode vor. Wir haben sie wieder eingebracht. Da Sie, verehrte
Kolleginnen und Kollegen, die Geschäftsordnungsmehrheit in diesem Hause haben, fordere ich Sie auf: Sor gen
Sie mit dafür, dass es heute Nachmittag den Beschluss
zur Durchführung einer Anhörung gibt! Was vergeben
Sie sich denn, wenn Sie ge meinsam mit uns ein Gesetz
beschließen - am Anfang der Beratungen wird es wie
immer unterschiedliche Vorstellungen geben -, in dem
geregelt wird, was Bundesregierung und was Bundestag
künftig entscheiden dürfen und müssen? Unser Auftrag
ist, uns nicht nur in der groß en Weltpolitik zu verlieren,
sondern auch, das zu entscheiden, was wir entscheiden
müssen. Die Erfüllung dieses Auftrags steht an.
Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, das Bundesverfassungsgericht habe Ihnen in seiner Eilentscheidung Bestätigung gegeben. Herr Bundeskanzler - ich
empfehle Ihnen wirklich mit großem Nachdruck die Lektüre der Begründung des Bu ndesverfassungsgerichts -,
das können Sie aus dieser Entscheidung wirklich nicht
herauslesen. Dort steht etwa s ganz anderes. Es heißt in
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wörtlich:
In einem Hauptsacheverfahren bedarf es der Klärung, wie weit der unmittelbar kraft Verfassung geltende, konstitutive Parlamentsvorbehalt im W ehrverfassungsrecht reicht.
Das ist ein Auftrag an die Politik.
Seit Jahren diskutieren wir über ein Entsendegesetz;
wir nennen es Mitwirkungsg esetz. Dieser Auftrag enthält die Auf forderung, zu handeln. Sie haben hier die
Überparteilichkeit betont und zu Recht von jedem Abgeordneten staatspolitische V erantwortung eingefordert.
Daher sollte Ihr Beitrag zur Überparteilichkeit und zur
staatspolitischen Verantwortung darin bestehen, den
Weg für ein gemeinsames Gesetz frei zu machen. Stimmen Sie also heute Nachmitt ag, bitte schön, im Deutschen Bundestag dem Beschluss zur Durchführung einer
Anhörung zu, damit wir die entsprechenden parlamentarischen Schritte gehen können.
({25})
Herr Kollege Müntefering, am Schluss meiner Rede
möchte ich Ihnen noch vorha lten, was Sie in einem Interview gesagt haben. So we rden Sie jedenfalls heute
von den Agenturen zitiert. Ich freue mich, dass Herr
Kollege Erler das, was Sie gesagt haben sollen, nicht
wiedergegeben hat, und hof fe, dass Sie falsch zitiert
worden sind. Es heißt dort:
Junge Menschen erleben, dass das Recht des Stärkeren die Stärke des Rechts ersetzt.
({26})
Meine Damen und Herren, ic h bitte Sie, dies einen
Augenblick lang zu Ende zu denken.
({27})
Wir alle sind, wie ich glaube, uns darüber einig - dies
gilt jedenfalls für die Freien Demokraten -, dass nationale Alleingänge ohne Mandat der V ereinten Nationen
nicht die Billigung der deutschen Politik finden können.
Sie haben dazu unsere Erklär ung auch in diesem Hause
gehört; viele in diesem Hause haben der Erklärung unseres Fraktionsvorsitzenden am 21. März Beifall gespendet.
({28})
Aber jetzt geht es nicht mehr um die Frage, ob wir uns
darüber unterhalten und uns gegenseitig die Verantwortung zuweisen - dazu haben wir unterschiedliche V orstellungen -, sondern darum, dass allen Ernstes der Eindruck erweckt wird, im Ira kkrieg kämpfe die Stärke
gegen das Recht.
({29})
Im Irak wird gegen Unrecht gekämpft. Das darf nicht
vergessen werden, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({30})
Ich erteile Kollegin Krista Sager , Fraktion Bündnis
90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Westerwelle, Sie hätten sich nicht so oberlehrerhaft
über die UNO äußern sollen, wie Sie es hier getan haben.
Ihre letzte Bemerkung hat nämlich gezeigt, dass Sie gar
nicht begriffen haben, was in der UNO passiert ist.
({0})
Selbstverständlich wünscht sich niemand den Sieg eines Diktators. Auch wäre selbstverständlich jeder froh
gewesen, wenn das Regime im Irak schnell zusammengebrochen wäre oder aufgegeben hätte; das ist doch gar
keine Frage. W ir alle können nur hof fen, dass dieser
Krieg bald zu Ende gehen und nicht noch mehr Opfer
fordern wird. Darüber brauchen wir uns hier nicht zu
streiten. Ich frage mich aber , ob wir uns eventuell über
das Ziel streiten müssen, dass das irakische Volk - ich
sage hier ganz bewusst: da s irakische Volk - die Möglichkeit bekommt, sein Leben in Frieden, Freiheit und
Selbstbestimmung in die Hand zu nehmen.
({1})
Meine Damen und Herren, es ist doch bedrückend,
dass wir jetzt feststellen müssen, dass alle beschriebenen
Risiken, die Basis unserer politischen Entscheidung gewesen sind, schon jetzt eintreten und dass alle Befürchtungen, die wir gehabt haben, schon jetzt wahr werden.
Die Zivilbevölkerung ist real die Leidtragende. Es gibt
nicht den modernen Krieg, der sich zielgerichtet gegen einen Diktator und sein Regime wendet und die Menschen
ungeschoren lässt. Alle Ho ffnungen, die USA und ihre
Verbündeten würden als Befreier gefeiert oder es werde
in kürzester Zeit große Aufstände der Schiiten geben, sind
Täuschungen gewesen. Jetzt müssen wir befürchten, dass
sich die humanitäre Katastrophe ausweitet, die sich bereits deutlich zeigt. Diese T ragik belegt, dass alle W arnungen vor diesem Krieg berechtigt gewesen sind.
({2})
Frau Merkel, Sie haben hier versucht, ein paar bedenkende Worte zu finden, und geäußert, dass alles nun
doch recht traurig sei. Sie haben aber gleichzeitig gesagt,
der Krieg sei nun Realität. Damit machen Sie es sich
wirklich zu einfach, weil Sie damit auch eine Betrachtung der Risiken vom T isch gewischt haben. Sie haben
zwar gesagt, man müsse si ch die Risiken anschauen.
Aber genau dieser Satz ist Ihre W eise, sich die Risiken
nicht anzuschauen. Dies haben Sie hier schon die ganze
Zeit über so praktiziert.
({3})
Den Einkauf von Impfstoffen infolge der Ereignisse des
11. September hier so darzustellen, als hätte das ir gendetwas mit der Irakpolitik zu tun, ist wirklich perfide gewesen.
({4})
Schauen wir doch einmal auf die Risiken: Schon jetzt
steht ein laizistischer Diktator, der von den religiösen Islamisten eigentlich immer nur verachtet worden ist, in
großen Teilen der arabischen und der islamischen W elt
plötzlich als Identifikationsfigur da. Das ist absurd, das
ist tragisch; aber sagen Sie doch bitte nicht, dass das
nicht vorauszusehen gewesen ist. Genau davor ist gewarnt worden.
({5})
Jetzt kommen Menschen aus Tschetschenien und Afghanistan in den Irak, um dort zu kämpfen. Jetzt verüben
kleine islamistische kurdis che Organisationen - Gruppen, die bisher in Feindschaft zu Saddam Hussein gelebt
haben - Selbstmordattentate gegen amerikanische Soldaten. Das ist die Wahrheit.
Wir blicken mit großer Sor ge auf die Entwicklung in
Pakistan. Wir beobachten mit großer Sorge, dass Nordkorea in seinen Formulierungen über das Glück, über
eine Atombombe zu verfügen, immer unberechenbarer ,
immer gefährlicher wird. Ge nau vor diesen Risiken ist
immer gewarnt worden. Uns droht jetzt wirklich eine
panarabische, panislamische nationalistische Bewegung, die die gesamte Region immer weiter destabilisiert. Genau davor haben de r deutsche Außenminister
und der Bundeskanzler immer gewarnt.
Aus diesem Grund hat die deutsche Bundesregierung
immer gesagt: Wenn wir die Terrorbekämpfung ernst
nehmen wollen, dann kann Irak nicht die erste Priorität
sein.
({6})
Das ist auch die Antwort auf die angeblichen Widersprüche, die Sie hier aufgedeckt haben wollen, Frau Merkel.
Es sind keine Widersprüche. Die Bundesregierung hat zu
Recht immer gesagt, der Ira k könne bei der T errorbekämpfung nicht die erste Priorität sein. Dies war eine
richtige Einschätzung der Lage.
({7})
Jetzt tritt das ein, was i mmer behauptet worden ist,
wofür es aber keine Beweise gegeben hat und was es so
auch bisher nicht gegeben ha t. Jetzt kommt es plötzlich
zu einer Union von islamistischen Terroristen mit Schurkenstaaten. Der Krieg hat im Grunde genommen erst das
geschaffen - er schafft es jeden Tag neu -, was die USA
nach ihren Behauptungen gerade verhindern wollten.
Das ist doch das Drama, vor dem wir jetzt tatsächlich
stehen.
({8})
Dramatisch ist auch Folgendes: W ir wissen genau,
dass wir unsere Aufgaben in Afghanistan noch nicht zu
Ende erfüllt haben. Diese Au fgaben werden doch nicht
einfacher. Dies gilt auch für die Situation unserer Soldatinnen und Soldaten. Alles da s ist ebenfalls eine fatale
Folge dieses Krieges.
Frau Merkel, ich hatte wirklich gehofft, dass Sie heute
nicht noch einmal eine solche Geschichtsklitterung
versuchen würden.
({9})
Ich hatte es auch deswegen gehofft, weil ich selber eher
dafür bin, nach vorne zu diskutieren. Ich bin keine
Freundin des Nachtretens, aber Sie haben hier wieder
diese Geschichtsklitterung versucht. Deswegen kann ich
es Ihnen auch nicht ersparen, darauf einzugehen: Ihr Ja
zum Irakkurs der US-Regierung ist ein Nein zur UNO
gewesen, es ist ein Nein zu Blix gewesen, es ist ein Nein
daran gewesen, das Arbeitsprogramm fortzusetzen, und
es ist ein Nein zur friedlichen Abrüstung gewesen. Das
ist die Wahrheit!
({10})
Frau Merkel, Sie konnten vo n diesem Nein nicht dadurch ablenken, dass Sie jetzt anonyme Zitate von anonymen Waffeninspekteuren anführten. Das ist einfach zu
billig, weil zu viele Zitate von Herrn Blix selber und seinen namentlich bekannten Leuten dagegenstehen.
({11})
Ehrlich gesagt, finde ich es perfide, dass Sie auch
heute wieder den V ersuch unternehmen, der Bundesregierung die Mitschuld für ei nen Krieg in die Schuhe zu
schieben, bei dem Sie am liebsten vorne mit dabei gewesen wären. Dies entspricht doch den Tatsachen.
({12})
Kollegin Sager, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schäuble?
Ich bin jetzt gerade so gu t in Fahrt; deswegen ausnahmsweise heute nicht, nächstes Mal gerne.
({0})
Frau Merkel, einige Medien haben es so dar gestellt,
dass Sie in Ihrer eigenen Partei gewissermaßen unter
Friendly Fire geraten sind. Über Geschmack kann man
streiten. Ich halte diese Wortwahl in dieser Zeit nicht unbedingt für passend.
({1})
Aber Tatsache ist: Ihr Kurs wird von großen Teilen Ihrer
Partei so nicht mehr für richtig gehalten. Das gilt vor allem für Ihre Wählerschaft. Ich finde es gut, dass Sie darüber streiten. Mein Problem ist nicht, dass Sie in der
CDU streiten; mein Problem ist, dass Sie viel zu spät
und viel zu halbherzig streiten.
({2})
Dass Sie sich jetzt so schnell wieder um Ihre Vorsitzende
scharren - manche scharren, manche scharen; das weiß
man bei Ihnen nicht so recht -, dass Sie sich so schnell
wieder um Ihre Vorsitzende versammeln
({3})
und Burgfrieden jetzt die Ansage in Ihren Reihen ist, hat
doch nur einen einzigen Grund, nämlich den: Alle wissen, dass die Haltung Ihrer V orsitzenden zum Irakkrieg
für die Außenpolitik in Deutschland irrelevant ist. Das
ist der einzige Grund dafür , dass das bei Ihnen funktioniert.
({4})
Einige sind auch froh darüber , dass das so ist. Für Ihre
Wählerschaft und den Großteil Ihrer Mitglieder wäre es
ein Graus, wenn die Haltung von Frau Merkel zum Irakkrieg in diesem Lande in irgendeiner Weise gestaltungsrelevant wäre.
({5})
Selbst dann, wenn es mi litärisch noch zu einem
schnellen Sieg der V erbündeten kommen sollte, ist aus
meiner Sicht der Alleingang der USA schon heute als
Desaster anzusehen.
({6})
Ich will Ihnen eines aber ganz deutlich sagen: Ich habe
die durchaus begründete Hof fnung, dass die W elt aus
diesem Desaster lernen wird.
({7})
Es zeigt sich schon heute, dass auch die mächtigste Supermacht der Welt nicht in der Lage ist, in unserer immer
komplexeren Welt, in unserer Welt, in der zahlreiche Ursachen und Wirkungen miteinander auf komplizierteste
Weise verschränkt sind, einfach im Alleingang eine politische Neuordnung herbeizuführen. Es ist doch so, dass
selbst in Großbritannien, aber auch in den USA die Menschen geradezu erschreckt reagiert haben, als Powell das
Stichwort Syrien und Iran in die Debatte gebracht hat.
Niemand glaubt doch mehr daran, dass Abrüstungskriege heute die Antwort auf Massenvernichtungswaffen
sind. Alle fordern umso mehr eine Stärkung der UNO
und eine Stärkung von wirk samen Waffenkontrollregimen, die die V erbreitung von Massenvernichtungswaffen auf andere Art unterbinden.
({8})
Ich bin ganz sicher: Die UNO wird ihre Rolle wieder
finden und sie muss sie auch wieder finden. Ich bin ausgesprochen froh darüber, dass auch Tony Blair die UNO
wieder ins Spiel gebracht hat. Was wir mit der UNO erleben, erleben wir ganz ähnlich auch mit Europa. W er
mit den Menschen in diesem Land spricht, der merkt:
Das Interesse an der UNO ist größer denn je; es ist nicht
kleiner geworden. Das Gleiche gilt auch für Europa.
Die Menschen wollen gerade vor dem Hinter grund der
Erfahrung mit dem Irakkrieg heute mehr denn je ein star3014
kes Europa. Es ist eine Riesenchance, dass die Menschen
dieses Europa endlich als ihr Europa begreifen.
({9})
Wir haben doch lange die Situation gehabt, dass viele
Menschen gesagt haben: Europa ist ein Europa für die
Bürokraten und für die Dipl omaten. Es ist ein Europa,
das viel kostet und mit den Bür gerinnen und Bür gern
nicht so viel zu tun hat. - In den Gesprächen, die wir
heute führen, erleben wir, dass die Menschen jetzt sagen:
Ja, wir brauchen ein starkes Europa, und zwar als starken
Partner in multilateralen Zusammenhängen und Strukturen. - Das wollen die Menschen und deswegen ist es
richtig, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt.
({10})
Es ist keinesfalls so, Herr Westerwelle, dass die Bundesregierung hier einseitig operiert. Die Gespräche mit
den osteuropäischen Staaten, mit den osteuropäischen
Außenministern werden doch längst geführt. Natürlich
ist es unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker ,
den Menschen zu sagen: W ir wollen ein starkes Europa
nicht als Gegengewicht zu den USA, sondern als starken
Partner für die USA, denn wir brauchen die USA weiterhin, um auf der Basis der transnationalen Zusammenhänge auf Konflikte in dieser Welt zu reagieren und sie
friedlich zu lösen, beispiel sweise im Nahen Osten, aber
auch zwischen Indien und Pakistan. Das ist überhaupt
keine Frage.
Es ist auch überhaupt keine Frage, dass wir die osteuropäischen Länder nicht vo r die Wahl zwischen NATO
und EU stellen wollen. W eil wir ihnen diesen Spagat
nicht zumuten wollen, sagen wir: Wir wollen ein starkes
Europa in einem transatlanti schen Bündnis. Das ist für
uns überhaupt keine Frage; dafür werden wir auch eintreten.
({11})
Aber, meine Damen und Herren von der Opposition,
in einer Frage gehen wir Ihnen nicht auf den Leim: Sie,
Frau Merkel - bei Herrn Westerwelle hat das leider auch
ein bisschen angeklungen -, versuchen uns hier einzureden, dass ein bedingungsloses Ja zur US-Politik, also sozusagen eine stillschweigende Unterstützung des amerikanischen Präventivschlags gegen den Irak, der Preis für
europäische Einigkeit und für Einigkeit in der UNO sei.
Dazu sage ich Ihnen: So kann Einigkeit in Partnerschaften nicht aussehen.
({12})
Auch in einer Partnerschaft ist verantwortliches Handeln, in diesem Fall also ei ne verantwortbare Politik,
notwendig. Das bedeutet: W enn ein Partner eine eklatante Fehlentscheidung trifft, muss man zu dieser Fehlentscheidung Nein sagen können. Ein Europa, das darauf
basiert, dass man wegen der Einigkeit zu Dingen Ja sagen muss, die für alle anderen Menschen in der W elt
hochgefährlich sind, wäre kein starkes Europa.
Herr Westerwelle, Sie haben gesagt: Die Außenpolitik
muss daran gemessen werden, wie sie sich auf die Menschen auswirkt. Hierbei sind aber bitte schön auch die
Auswirkungen auf die Menschen im Nahen Osten zu berücksichtigen und nicht nur die auf die Menschen in Europa.
({13})
Meine Damen und Herren, auch wir werden dazu beitragen, dass es im Rahmen einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu einer stärkeren Zusammenarbeit kommt. Dazu gehören auch gemeinsame
militärische Strukturen, aber nicht nur . Ich sage ausdrücklich: Dazu gehört auch die Stärkung der Strukturen, die die friedliche Konfliktbewältigung ertüchtigen.
({14})
Wir brauchen einen ganzheitlichen, einen erweiterten Sicherheitsbegriff und nicht einen, der nur das Militärische
umfasst.
({15})
Natürlich ist die belgisch e Initiative, an der sich
Deutschland und Frankreich beteiligen,
({16})
keine exklusive Veranstaltung; alle europäischen Staaten
sind eingeladen. Ich glaube, dass viele europäische Staaten sehen werden, dass ihnen eine solche Initiative auch
deswegen nützt, weil sie Ressourcen sinnvoll bündelt.
Wenn in Zukunft nicht mehr jeder Nationalstaat für sich
alleine seine Militärpolitik macht, sondern man die
Kräfte bündelt, können alle europäischen Länder ihre
Ressourcen vernünftig einsetzen.
Das entbindet uns aber ni cht von der Aufgabe, die
Umstrukturierung der Bundeswehr weiter voranzutreiben. Deswegen ist es wichtig, zu sagen, dass die Verabredungen, die wir für die näch sten drei Jahre getrof fen
haben - Herr Minister Eichel schaut schon ganz erwartungsvoll -, selbstverständlich weiter gelten. Wir müssen
nämlich diese Umstrukturierung voranbringen. Natürlich
werden wir im Rahmen entsprechender innereuropäischer Verständigungen auch in Zukunft einen angemessenen Beitrag für die Stär kung Europas leisten müssen.
Dafür werden wir auch um Verständnis bei der Bevölkerung werben. Das ist für mich gar keine Frage. W ir
Grüne werden aber , wenn wir in Zukunft über die
Neustrukturierung der Bundeswehr sprechen und diskutieren, auf die Agenda auch das Thema der W ehrpflicht
in diesem Lande setzen.
({17})
Meine Damen und Herren, natürlich wird die Bundeswehr weiter eine Parlamentsarmee bleiben. Dafür werden wir sorgen.
({18})
Wir werden gleichzeitig dafü r sorgen, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre Handlungsfähigkeit auch in
multilateralen Zusammenhängen behält. W ir werden
aber, Herr Westerwelle, Ihnen nicht dabei behilflich sein,
wenn Sie im Schatten des Irakkrieges Ihre innenpolitischen Spielchen betreiben.
({19})
Wenn Sie der Meinung sind, dass, wenn die FDP eine
Watsche vom Bundesverfassungsgericht bekommt, eine
solche Watsche zu Rechtssicherheit in diesem Lande beiträgt, dann ist mir um di e Rechtssicherheit in diesem
Lande gar nicht bang; das muss ich Ihnen sagen.
({20})
Wir werden auf jeden Fall die Bundesregierung dabei
unterstützen, die multilateralen Strukturen auf der Basis
internationalen Rechts zu st ärken und in diesen multilateralen Strukturen dafür zu sorgen, dass Europa ein starker und zuverlässiger Partner wird.
({21})
Ich erteile Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir stehen natürlich alle unter dem Eindruck
des Krieges im Irak und wir hof fen alle, dass der Krieg
schnell mit einem Sieg der Amerikaner und ihrer V erbündeten zu Ende geht.
Herr Bundeskanzler, ich habe eigentlich erwartet,
dass Sie dies auch bei Ihrer heutigen Regierungserklärung so sagen;
({0})
denn wir können bei diesem Krieg, auch wenn wir ihn in
der Konsequenz alle nicht gewollt haben - uns wären andere Lösungen lieber gewesen -, nicht neutral sein. Insofern begrüße ich das, was der SPD-Generalsekretär
Scholz gesagt hat, nämlich dass ihm an einem schnellen
Sieg der Alliierten gelegen sei, nicht zuletzt um die
Zahl der Opfer so gering wie möglich zu halten. Ich
glaube, das sollte Konsens in diesem Hause sein.
({1})
Über das Versagen der Polit ik und das Nicht-haltenKönnen des Friedens ist hier viel diskutiert worden.
Auch heute hat das wieder eine Rolle gespielt. Ich
möchte nur noch einmal sagen: Der Einfluss der Parlamente auf die Außenpolitik der Regierungen ist an sich
gering, außer es gibt Parlam entsmehrheiten, die richtig
aufbegehren, wie es zum Beispiel in Großbritannien und
anderen Ländern geschieht.
Sie haben großes Glück: Sie haben in den Grünen im
Prinzip eine Schoßhundpartei. W enn es um die Unterstützung Ihrer Politik geht, sind sie so friedlich und
fromm wie Schoßhündchen. Aber nach außen gehen sie
mit verbalen Angriffen gegen die Opposition vor und tun
so, als ob wir die Kriegstreiber gewesen wären. Das
finde ich unverschämt.
({2})
Frau Sager, zu dem, was Sie soeben geboten haben,
kann man nur fragen: Soll das bedeuten, dass man sich
- der Bundeskanzler, die Bundesregierung, vielleicht das
ganze deutsche Volk - dafü r bedanken muss, dass Sie
ausnahmsweise keinen Sonderp arteitag der Grünen zugelassen haben? Im Falle ei nes Sonderparteitages wüssten wir nicht, wie es um di e Fähigkeit der Bundesregierung stünde, das zu tun, was bündnispolitisch notwendig
ist.
Herr Bundeskanzler, wir waren unlängst, einen T ag
vor Ausbruch des Krieges, beim Bundespräsidenten
eingeladen. Ich fand das sehr gut. Es waren alle Parteien
vertreten. Außer der PDS hat sich niemand direkt gegen
das gestellt, was notwendig ist. Ich will nur daran erinnern: Die PDS ist in einigen Landesregierungen Bündnispartner der SPD.
Es bestand dort Konsens darüber , dass die Frage der
Überflugrechte und die Frag e der Stützpunktbenutzung
nicht angezweifelt werden; denn es ist ein Stück Staatsräson, dass wir im Bündnis nicht noch mehr zerstören,
als zerstört worden ist. Dass man sich dennoch in T alkshows und bei anderer Gelegenheit von führenden Mitgliedern nicht nur der SPD und der Grünen, sondern
auch der Bundesregierung ständig anhören muss, wir
seien diejenigen, die einen völkerrechtswidrigen Krieg
unterstützen, das finde ich den Gipfel. Lassen Sie sich
das alles einmal zeigen. Die vorhin neben Ihnen sitzende
Staatsministerin im Auswär tigen Amt, die V ertreterin
von Herrn Fischer , ist eine der Schlimmsten in dieser
Hinsicht.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch ein Wort
zu schlimmem Verhalten. Frau Sager , vielleicht leihen
Sie mir einen Moment Ihr Ohr. Ich konnte Ihnen meines
nicht verweigern; denn Ihre Stimme ist ziemlich durchdringend. Frau Sager, wie ich weiß, sind Sie aus Hamburg, Sie waren früher Mitglied des Hambur ger Senats.
Wie Sie allerdings mit der führenden Hambur ger Wochenzeitung „Die Zeit“ umgegangen sind, das finde ich
höchst empörend. Die „Zeit“ hat ganz klar gesagt, sie
bürge für die Seriosität der Aussagen der UN-Inspekteure, weil die sich namentlich nicht äußern dürfen.
Dann in dieser Art und W eise gegen die „Zeit“, deren
Herausgeber immerhin Staatsministerin Ihrer Regierung
gewesen ist, vorzugehen, finde ich ein bisschen seltsam
und sehr komisch.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich beschuldige die Bundesregierung nicht, an diesem Krieg
schuld zu sein. Sie ist nicht direkt schuld und trägt schon
überhaupt keine Alleinschuld. Aber eines ist auch sicher:
Rot-Grün hat diesen Krieg nicht verhindert und hat eigentlich auch nichts Entscheidendes zu seiner Verhinderung beigetragen.
Ich meine, dass wir unsere Bündnisverpflichtungen
nicht in Frage stellen sollten, weil wir selbstverständlich
dieses Bündnis für die Zuku nft brauchen. Dazu war in
Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler , ja sehr
viel zu hören, obwohl ic h mir manches konkreter gewünscht hätte.
({5})
Die Verstöße von Saddam Hussein gegen internationales Recht sind of fenkundig und vor diesem Hintergrund mutet die Diskussion in den Reihen von Rot-Grün
über die rechtliche Zulässigkeit der militärischen
Intervention im Irak schon sehr seltsam an. Der Herr
Bundesaußenminister hat heute ein Interview im „Handelsblatt“ gegeben, das ic h zumindest eindrucksvoller
und konkreter finde als Ihre Regierungserklärung. Ich
möchte ihn aber nicht mit dem „Handelsblatt“, sondern
mit dem „Spiegel“ zitieren. Dort hat er im Dezember die
Resolution 1441 für rechtlic h ausreichend erklärt. Nun
gibt es große Völkerrechtsabteilungen im Auswärtigen
Amt und im Bundeskanzleramt. Es gibt allerdings auch
ein Gutachten des W issenschaftlichen Dienstes des
Deutschen Bundestages, das zu einer anderen Aussage
kommt. Ich habe mich gefrag t: Wie kannst du als Laie
dir eine Schneise durch di eses Dilemma schlagen? Ich
habe die Völkerrechtsabteilung des Auswärtigen Amtes
gebeten, das von Herrn Thierse vor gelegte Gutachten
des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zu bewerten. Das wurde natürlich a bgelehnt. Also bleibt dieser Streit offen und - seien wir ehrlich - er ist ja auch
nicht seriös zu Ende zu führen.
Nur sollten wir uns dann keine gegenseitigen Vorwürfe machen. Ich wehre mich dagegen, dass die Opposition, die nicht handelnd ist in diesem Land, sich ständig den Vorwurf gefallen lassen muss, sie unterstütze
einen völkerrechtswidrigen Krieg. Wir haben in der Hinsicht nichts zu unterstützen, die Regierung ist handelnd.
Würde dieser Vorwurf, der aus Ihren Reihen immer wieder erhoben wird, stimmen, müssten Sie eigentlich danach handeln und mit Hilfe von Müntefering und anderen, die sich scharf durchz usetzen wissen, verhindern,
dass diese Vorwürfe ständig gegen uns erhoben werden.
({6})
Meine sehr verehrten Dame n und Herren, ich glaube
auch, dass die Politik der ei nseitigen Vorfestlegung der
amtierenden Bundesregierung den Scherbenhaufen, insbesondere in den internationalen Beziehungen, schon ein
Stück zu verantworten hat. Die UNO hat ungeachtet ihrer erfolgreichen Bemühungen im humanitären Bereich
als System kollektiver Sicher heit jetzt leider jegliche
Überzeugungskraft verloren. Die NATO - Sie haben das
ebenfalls beklagt - befindet sich trotz der Osterweiterung und der einmütigen So lidaritätsbekundungen auf
dem Gipfel in Prag in der größten Krise ihrer Geschichte. Insofern ist es richtig: W ir haben nach dem
Krieg Wiederaufbauarbeiten zu leisten: Wiederaufbauarbeiten an der UNO, Wiederaufbauarbeiten an der NATO
und auch gewaltige W iederaufbauarbeiten in der Europäischen Union. Die Europä ische Union wird ja heute
im Prinzip nur noch durch die Gemeinschaftswährung
Euro zusammengehalten. Frau Merkel hat es zu Recht
gesagt, ich möchte es hier wiederholen: Wir haben nicht
vergessen, dass Sie den Euro als kränkelnde Frühgeburt
beklagt haben. Hätten wir diese kränkelnde Frühgeburt
nicht, wäre die ganze Europäische Union jetzt am Ende.
({7})
Sie haben in Ihrer Regierungserklärung den Mangel
an Einigkeit in Europa beklagt; sie wäre wünschenswert
gewesen. Ehrlicherweise hätten Sie auch zugeben müssen, dass Sie zu dieser Un einigkeit entscheidend beigetragen haben. W enn man einen Sonderweg ankündigt
und wenn man sagt: Mit uns niemals!, dann ist man von
vornherein kein ernst zu nehmender Gesprächspartner
mehr. Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen.
({8})
Wir müssen natürlich auch den Hinter grund in den
Vereinigten Staaten sehen. Nach dem Selbstverständnis
der Vereinigten Staaten befindet sich dieses Land seit
dem 11. September 2001 praktisch im Krieg. Herr Bundeskanzler, Sie haben sofort nach diesen schrecklichen
Attentaten die uneingeschränkte Solidarität versprochen. Damals sind hohe Er wartungen geweckt worden.
Ich meine, dass das Durchsetzen der 17 Resolutionen
des Sicherheitsrats schon dann begonnen hatte, als sich
die Vereinigten Staaten überlegt haben, von wo Gefahren
für sie ausgehen. W ir wissen, dass aus diesem T eil der
Welt die Anschläge erfolgt sind, obwohl kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen al-Qaida und Saddam
Hussein nachzuweisen ist.
Wir diskutieren nach vorne. Unser Kontinent, das alte
und selbstverständlich auch das neue Europa, benötigt
ein Fundament, wenn es sich nicht im Status einer Zollund Währungsunion verlieren sollte. Die Europäische
Union braucht deswegen drin gend ein neues Selbstverständnis. Sie muss ihre kontinentalen und globalen Interessen genau definieren. Auch das ist eine der Lehren aus
diesem Krieg. Franz Josef Strauß hat vor mehr als 30 Jahren einmal gesagt: Ohne eine gemeinsame Stimme ist Europa auf der Bühne der W eltpolitik kein mitspielendes
Subjekt, sondern ein Objekt, mit dem gespielt wird. Dieses Gefühl hatten wir in dieser schwierigen Zeit wieder.
({9})
Deswegen bekennen wir uns dazu, dass Europa eine
gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik braucht. Die
früheren europäischen Großmächte sind zu klein, um
eine globale Rolle übernehmen zu können. Nur durch
ein abgestimmtes Verhalten vermag Europa im Zeitalter
der Globalisierung auch globale Verantwortung zu übernehmen und globalpolitisches Gewicht einzubringen.
Deswegen muss das Misstrauen überwunden werden.
Wenn man einen Gipfel von Franzosen, Deutschen,
Belgiern und vielleicht von Luxembur gern anberaumt,
dann weckt das anderswo Misstrauen. Ich hof fe, dass
nicht dieses Sondertreffen, sondern ein Treffen der maßgeblichen Kräfte in Europa stattfinden wird.
Die Arbeit des Reformkonvents für einen Verfassungsvertrag ist weit fortgeschritten. V orhin ist wieder
die Forderung nach einem europäischen Außenminister
erhoben worden. W ir sind selbstverständlich dafür; so
steht es auch in unserem Wahlprogramm. Wie hätte aber
dieser Außenminister in der entstandenen Situation abstimmen sollen, mit der einen Hand so und mit der anderen Hand so? Es gehört dazu, dass der Wille zur Gemeinsamkeit vorher stärker definiert wird. Es gehört dazu,
dass wir gemeinsame Sicherheitsstrukturen schaffen.
Sie haben in Ihrer Regierungserklärung von europäischen Blauhelmen gesprochen. Sie sind schon jetzt im
Einsatz. Ich finde es großartig - das hat mich bei meinen
Besuchen im Kosovo am meisten beeindruckt und nicht,
dass mir Ihr früherer V erteidigungsminister den Flieger
weggenommen hat -, dass man dort sehen konnte, dass
die europäischen Nationen bis hin zu den Ukrainern in
der Praxis zusammenarbeiten, um gemeinsam Frieden zu
schaffen und Frieden zu erhalten. Wenn das jetzt endlich
unter europäischer Führung möglich ist und wenn wir
dazu die Amerikaner nicht mehr brauchen, dann beklagen wir das nicht. Aber ohne den Einsatz der Vereinigten
Staaten und ohne die NATO wäre es nicht einmal möglich gewesen, terroristische Regime in Europa zu bekämpfen.
({10})
Wir benötigen eine abgestimmte Struktur . Wenn Europa militärisch ernst genommen werden will, benötigen
wir eine Einsatzfähigkeit, die politisch und militärisch
- quasi unter einem Kommando - sicher gestellt ist. Wir
brauchen natürlich entsprec hende Fähigkeiten, auf Krisen zu reagieren. Selbstverständlich bedarf es dazu
Mehrausgaben für die V erteidigungspolitik; anders
geht es nicht. Ansonsten wä re es eine leere und hohle
Forderung.
Je stärker und je schnelle r wir uns von den V ereinigten Staaten von Amerika entfernen - ich plädiere nicht
dafür; das muss klar sein; aber viele von Rot-Grün träumen davon -, desto mehr Mittel werden gebraucht und
desto rascher werden sie benötigt.
Um die T agungen, die Sie, Herr Bundeskanzler , in
diesem Zusammenhang jetzt halten müssen, beneide ich
Sie nicht. Wir sehen manchmal Fernsehbilder davon, wie
Sie diese emphatisch mit „Liebe Genossinnen! Liebe
Genossen!“ eröffnen. Sie versuchen, die lieben Genossinnen und Genossen davon zu überzeugen, dass wir von
vielem lieb Gewordenen Abstriche machen müssen, weil
unser Sozialstaat nicht mehr finanzierbar ist und die öffentlichen Haushalte überschuldet sind.
Wenn Sie ehrlich sein woll en, sollten Sie gleichzeitig
hinzufügen, dass mehr Geld aufgebracht werden muss
und wir an anderer Stelle no ch stärker sparen müssen,
weil wir in der Sicherheit einen gemeinsamen europäischen Weg gehen wollen. Das zu sagen gebietet die Ehrlichkeit. Es gibt hier nichts zum Nulltarif.
({11})
Dass Deutschland und Frankreich wieder besser harmonieren, ist zunächst nicht zu beklagen. Nur darf sich
das nicht gegen das übrige Europa richten. Es hilft
nichts, wenn der Motor wied er läuft. Zweitaktmotoren
sind nicht mehr in; wir brauchen heute andere Motoren.
Aber wenn das Auto wieder fährt, da der Motor läuft,
muss es in die richtige Richtung gehen. Die richtige
Richtung ist natürlich: Gemeinsamkeit.
Wir haben heute bereits kurz über die Brüskierung
diskutiert, die gegenüber den osteuropäischen Ländern
erfolgt ist. Ich habe in de r letzten Zeit zwei Besuche in
dieser Region gemacht. Ich weiß, wie durcheinander
man dort ist. Man sagt dort: W ir hatten eigentlich das
Gefühl, einem anderen Europa beizutreten. Jetzt müssen
wir plötzlich zwischen unserer Freundschaft zu Deutschland und unserer Freundschaft zu Großbritannien sortieren. Wir müssen auch sortiere n, ob wir für oder gegen
die USA sind.
({12})
Ich glaube, das haben sich a lle nicht gewünscht und das
wünschen sie sich auch jetzt nicht.
Herr Kollege Glos, kommen Sie bitte zum Schluss.
Meine Redezeit ist offen. Herr Parlamentarischer Geschäftsführer, teilen Sie das bitte dem Präsidium mit! Es
war so ausgemacht.
({0})
Zwei Dinge möchte ich noch ansprechen. Noch
schwerer als der V erlust an politischem Gewicht wirkt
natürlich in Europa - auch darauf müssen wir achten unser Verlust an ökonomischem Gewicht. Wir können
unsere Rolle in der Welt nur spielen und wir werden nur
ernst genommen, wenn bei uns im Land die Verhältnisse
auch ökonomisch in Ordnung sind.
({1})
Das ist für eine gemeinsame Sicherheitspolitik mindestens genauso wichtig wie di e Tatsache, dass wir militärisch stärker werden und auf diesem Gebiet in größerer
Gemeinsamkeit vorgehen.
Dazu gehört selbstverständlich, dass wir die transatlantische Partnerschaft wieder pflegen. Herausforde3018
rungen lassen sich nur meistern, wenn die USA und Europa wieder an einem Strick ziehen. Deswegen sollten
wir das Verhältnis zu den USA wieder in Ordnung bringen.
({2})
Ob es Rot-Grün wieder ge lingt, bei der amerikanischen
Administration Vertrauen zu bekommen, ist für mich
eine sehr offene Frage. Aber wir bieten im gemeinsamen
Interesse gerne unsere Hilfe an.
({3})
- Frau Roth, für Sie mag das lächerlich sein. Sie nehmen
die deutschen nationalen Si cherheitsinteressen sowieso
nicht ernst. Insofern wundert mich Ihr Lachen überhaupt
nicht.
Bundesaußenminister Fischer ist heute mit schwerem
Gepäck zu Außenminister Powell geschickt worden. Er
hat nämlich unter anderem diese Regierungserklärung
dabei, die man in den USA sicher verfolgt hat. Diese
war, was das deutsch-amerikanische V erhältnis anbelangt, zu dürftig.
Wir alle wünschen uns, dass nach dem Krieg, der hoffentlich schnell zu Ende ist, nicht nur gemeinsam am
Wiederaufbau des Irak gearbeitet wird, sondern dass
wir auch gemeinsam an dem Wiederaufbau und an der
Erneuerung unserer uns sehr wichtigen Sicherheitsinstitutionen arbeiten können. Dazu haben Sie ausdrücklich
die Unterstützung von CDU und CSU.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Zapf von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte doch einmal aufgreifen, was Frau Merkel hier zu
der Schuld der Deutschen am Krieg gesagt hat. Auch
Herr Pflüger hat das schon einige Male gesagt. Ich finde
das unerhört. Sie haben gesagt, dass Deutschland sozusagen schuld daran ist, dass dieser Krieg geführt werden
musste, weil wir Nein zu dem Krieg gesagt und damit
den Druck gemindert haben.
Sie führen dazu die Aussagen der anonymen Inspektoren an. Im Unterausschuss Abrüstung und Rüstungskontrolle haben wir uns gestern danach erkundigt. W ir
haben bestätigt gefunden, dass nicht die Aussagen dieser
Inspektoren seriös sind, sond ern das, was Herr Blix vor
ein paar Tagen gesagt hat, als er enttäuscht aufgegeben
hat. Ich empfehle, mit so etwas sehr seriös umzugehen.
({0})
Ich bin tief enttäuscht darüber, dass eine so renommierte
Zeitung wie „Die Zeit“ einen solchen Artikel bringt. Ich
denke, darüber müssen wir noch einmal reden.
({1})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach etwa
zwei Wochen Krieg und den vielen unerträglichen Bildern von verletzten und toten Soldaten, von verletzten
und toten Zivilisten sind wir alle gefühlsmäßig und emotional stark belastet. Wenn wir dann von Splitterbomben
und - wenn es denn wahr ist - von der Anwendung eigentlich verbotener Antipersonenminen durch die Amerikaner hören, zeigt sich uns die ganze Tragik dieses
Krieges. Angesichts dessen da rf man mit dem Thema
nicht so leichtfertig umgehen, wie es die CDU/CSU hier
getan hat.
({2})
Ich finde die ganze Situation zutiefst tragisch. Warum
finde ich sie zutiefst tragis ch? Weil sich alle Erwartungen, die an diesen Blitzkrieg, an den schnellen, sauberen
Krieg gestellt worden sind, al s Illusionen herausgestellt
haben, weil dieser Krieg ganz offensichtlich keine Freiheit und keine Demokratie brin gt, weil er sich zu einem
Albtraum zu entwickeln scheint. Ich bin von tiefer Sorge
darüber erfüllt, dass wir es bisher nicht fertig gebracht
haben, uns mit der dahinter stehenden Problematik unterschiedlicher Philosophien und Strategien zu beschäftigen. Deshalb will ich das heute hier versuchen.
Dies ist Amerikas erster Präventivkrieg.
({3})
Jedoch können wir die Legitimation eines Präventivkrieges nicht unterstützen.
({4})
Ich zitiere jetzt den US-Beauftragten für internationale
Sicherheitsangelegenheiten, Peter Rodman. Er hat gesagt, dass dieser Krieg ein V ersuchsfeld für Amerikas
neue Strategie sei - das sind nicht meine Worte, sondern
die Worte des US-Beauftragten -, eine Strategie, die von
der Androhung und Anwendung von Gewalt als Mittel
der Verhinderung von Proliferation ausgeht und dass sie
auf ihre Tauglichkeit als Standard für die zukünftige Antiproliferationspolitik der USA getestet werde.
Dies ist eine Entwicklung, der wir uns stellen müssen.
Was der Bundeskanzler heute hier über die Ansätze unserer Politik gesagt hat, steht dagegen. Es gibt einen großen Unterschied. Wir müssen ernsthaft darüber diskutieren, wie wir im transatlantischen Verhältnis den Konsens
in der Antiproliferationspoliti k, den wir in der V ergangenheit hatten, wieder herstellen.
({5})
Was hat Rodman in diesem Zusammenhang noch gesagt? Er hat gesagt, dass die künftige Außenpolitik und
internationale Politik der US A an diesem Irakkrieg entschieden werde und dass die herkömmlichen internationalen Systeme zur V erhinderung der V erbreitung von
Massenvernichtungsmitteln ausgedient hätten.
Ich glaube, dass wir gemeinsam so lange für die Entwicklung solcher gemeinsame r internationaler Systeme
gekämpft haben und dass uns eine solche Aussage, dass
uns eine solche Tendenz nicht kalt lassen kann. Wir müssen uns wirklich dafür einsetzen, dass durch die Diskussion mit unseren transatlantischen Partnern der Wert dieser Systeme wieder anerkannt wird. Sonst werden wir
keine Antiproliferationspolitik machen können. W ir
werden spätestens am Ende dieses Krieges sehen, dass
es keine gute Strategie ist, mit Waffengewalt gegen Massenvernichtungswaffen vorzugehen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich stimme mit meiner Kollegin Frau Sager überein, dass das Ziel dieses
Krieges, von dem zu dessen Beginn gesprochen worden
ist und das Bush deklariert hat, nicht erreicht werden
kann. Wir müssen vielmehr befürchten, dass es noch viel
schlimmer wird, als wir es uns im Moment vorstellen
können. Ich kann verstehen, dass die Politik, nicht zu
warten, bis wir in eine T ragödie schlittern - so hat es
Bush gesagt -, sondern die Gefahr aktiv zu bekämpfen,
ehe sie akut wird, aus dem T rauma des 11. September
entstanden ist. Damals wu rde den Amerikanern die eigene Verwundbarkeit plötzlich und ziemlich abrupt vor
Augen geführt. Dies hat zu einer gewissen Radikalisierung bei der Frage geführt, wie man sich vor solchen Gefahren schützen muss. Ich glaube, dass wir nicht rein militärisch vorgehen dürfen, sondern dass wir auf
diplomatische Mittel und auf internationale Koalitionen setzen müssen, um T error und die Verbreitung von
Massenvernichtungsmitteln zu bekämpfen. Das muss die
Politik sein, der wir uns in den nächsten Monaten und
Jahren noch intensiver widmen müssen.
({7})
Frau Sager hat ausgeführt, welche antiamerikanischen
und antiwestlichen Gefühle und Koalitionen entstanden
sind. Ich füge, um diese Aussage weiter zu verstärken,
hinzu: Der T errorismus wird meiner Meinung nach
durch diesen Krieg eher gestärkt, als dass er eingedämmt
wird, so wie Bush es erwartet hat.
({8})
Wir müssen die neue Strategie der Amerikaner
ernsthaft betrachten, weil sich in ihr zwei Gedanken finden. Die Amerikaner gehen in ihrer Strategie einmal davon aus, dass die bisherigen konventionellen Mittel angewendet werden können. Dazu zählen Diplomatie,
Rüstungskontrolle sowie multilaterale Abkommen wie
das Chemiewaffenabkommen, das Biowaf fen-Übereinkommen, der Nichtverbreitungsvertrag und das Regime
zur Raketentechnologiekontrolle. Aber gleichzeitig werden diese Instrumente abgewertet und zu V erzierungen
von Politik erklärt. Sie werd en auch in der aktuellen
amerikanischen Politik nicht gestärkt, sondern geschwächt. Wir müssen darauf hinwirken, dass diese internationalen Instrumente gestärkt werden.
Wir haben in der V ergangenheit durch die Anwendung solcher Instrumente dazu beigetragen, uns sicherer
gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen
zu machen. Was jetzt hinzugekommen ist, ist die Furcht
vor Terrorismus, der auch mit Massenvernichtungswaffen arbeiten kann. Es ist wich tig, zu erkennen, dass sich
Terroristen keine Atombombe von Nordkorea besor gen
werden. Es ist viel wichtiger , Materialien und Agenzien
zu sichern, die aus den Abrüstungsbeständen stammen
und relativ ungesichert sind.
({9})
Deshalb ist die G-8-Initiative, die zur Sicherung des nuklearen und chemischen M aterials aus den Abrüstungsbeständen Russlands unternommen worden ist, wesentlich wichtiger, weil meiner Überzeugung nach eine
größere Gefahr darin besteht, dass diese Agenzien in die
Hände von Terroristen gelangen.
({10})
Aus diesem Grund möchte ich darauf hinweisen, dass
die Politik der Bundesregierung und der EU - im Ansatz
bestehen keine Unterschiede -, die von Prävention ausgeht und nicht von Präemption , das heißt, mit militärischen Mitteln zuzuschlagen, um vermutete Gefahren zu
bekämpfen, durchaus erfolgreich war . Das können wir
an dem Stabilitätspakt in Europa und vor allem an Mazedonien und auch Afghanistan ablesen.
Ich befürchte aber, dass der Krieg im Irak all unsere
Anstrengungen in Afghanistan - das dortige Gebilde ist
bisher ohnehin fragil - konterkarieren könnte. Frau
Sager hat darauf hingewiesen, wie destabilisierend das
möglicherweise auch auf Pakistan wirken kann. W enn
ich daran denke, welche Gefahren aus dieser Region
möglicherweise auf uns zu kommen können, kann ich
nur sagen: Gnade uns Gott.
({11})
Ich glaube, die T errorbekämpfung muss ganz woanders ansetzen, nämlich bei der Armutsbekämpfung, bei
der Unterstützung von Bildung und Ausbildung,
({12})
bei der Stärkung der Partizipation - nur dann werden wir
Demokratisierung erreichen - und bei der Minderung
von Fluchtursachen, nämlich, wie gesagt, Armut, aber
auch ökologischen Probleme n. Wir müssen die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit stärken und wir brauchend dringend einen interkulturellen Dialog.
Wenn wir uns anschauen, was dort an Optionen für einen Dialog der V ersöhnung und Verständigung zerstört
worden ist, dann wissen wir , dass wir für Prävention
noch sehr viel zu tun haben. Ich hoffe, dass wir uns nicht
auf eine Präemptionsstrategie einlassen.
({13})
Das Wort hat jetzt der Koll ege Peter Hintze von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Fernsehbilder über den Krieg im Irak von CNN
und al-Dschasira beschäftigen uns stark. Ich hof fe, dass
wir über diese Bilder nicht di e Bilder vergessen, die die
Opfer des Regimes in Bagdad in ihren Herzen tragen
und von denen sie erzählen. Man kann nachlesen, wie
Menschen in Salzsäurebäder gezwungen, Frauen in Gefängnissen von den Schergen erniedrigt und vergewaltigt
und Männer aus ihren Familien gerissen und nachts auf
die Straße geführt und dort erschossen werden. Das sind
schlimme Bilder. Ich finde es wichtig, dass wir auch
diese Bilder zur Kenntnis nehmen.
({0})
Manche der Opfer ver gleichen das Regime im Irak
mit einer stalinistischen Hölle. Lassen Sie uns nicht darüber streiten, ob der Begrif f dieses Unrechtsregime
treffsicher beschreibt oder nicht. Eines müssen wir uns
aber vor Augen führen: Die Amerikaner und Briten versuchen im Irak, diese Hölle zu überwinden. Gefühls- und
gesinnungsmäßig kann es hier keine Neutralität, sondern
nur unsere Solidarität geben.
({1})
Auch Olaf Scholz, der Generalsekretär der SPD, hat dies
so gesagt; das finde ich gut. Demgegenüber finde ich es
schlecht - das haben wir vermisst -, dass dem Bundeskanzler in dieser Richtung heute kein Wort über die Lippen gekommen ist.
({2})
Ephraim Kishon verdanken wir die Satire, in der ein
Mensch mit einem Presslufthammer mutwillig eine
Straße aufreißt.
({3})
Die Stadtverwaltung findet in der Erzählung zwar keinen
Grund für diese Maßnahme, be schließt aber, daraus einen Kanal zu bauen, der zwar sinnlos ist, aber mit Pomp
eingeweiht wird. Der Politik unseres Bundeskanzlers
verdanken wir, dass diese po litische Satire Wirklichkeit
wurde. Der kishonsche Blaumilchkanal verläuft mitten
durch das Regierungsviertel. Der Bundeskanzler hat die
Grundsätze der deutschen Außen- und Europapolitik beschädigt und versucht im Verbund mit Moskau und Peking nun, dem auch noch einen Sinn zu geben.
({4})
Wir werfen ihm vor , dass er Europa erst spaltet und
dieses dann auch noch zur politischen Großtat erklärt.
({5})
Positiv haben wir zur Kennt nis genommen, dass der
Bundeskanzler die NATO wieder entdeckt hat. Dazu hat
er Interessantes und Richtiges gesagt. Er hat heute Morgen erklärt, die Zusammenarbeit in der NATO solle vertieft und die gemeinsame Analyse gesucht werden. Das
klingt gut und ist auch richtig. Es wäre aber noch besser
und noch richtiger gewesen, wenn sich der Bundeskanzler diese Grundsätze über de n Geist, den die NATO bestimmen sollte, am Anfang der Irakkrise klar gemacht
hätte. Wenn sich die fünf Mitglieder des Weltsicherheitsrates, die der NA TO angehören, zusammengesetzt hätten, wenn Deutschland, das den V orsitz im Weltsicherheitsrat hatte, diese Aufgabe zu seiner Aufgabe gemacht
hätte, dann wäre es möglicherweise anders gekommen.
({6})
In dieser Woche erleben wir mit der Übernahme des
Mazedonien-Mandates durch die Europäische Union
die eigentliche Geburtsstunde der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Es ist ein kleiner Einsatz, aber immerhin ein guter Anfang. 350 Soldaten und
80 Zivilkräfte unter Beteiligung von 14 EU-Mitgliedstaaten sind ein schöner Beleg dafür , dass die Europäische Union Verantwortung übernehmen und dazu beitragen kann, vor ihrer eigenen Haustür für Frieden,
Sicherheit und politische Stabilität zu sor gen. Ich hoffe,
dass der schöne Name dieses Einsatzes, Concordia - also
Einigkeit -, in Zukunft die Leitidee der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik in Europa wird.
Ich hoffe und wünsche mir, dass der Verfassungskonvent hierzu einige Vorkehrungen trifft. Dazu möchte ich
einige Vorschläge machen. Es sollte eine Regelung in die
Verfassung der Europäischen Union aufgenommen werden, nach der in zentralen außenpolitischen Fragen zuerst die Union Gelegenheit zu einer Meinungsbildung
bekommt, bevor sich einzelne Staaten festlegen.
({7})
Das Dilemma der Irakkrise geht auf das Konto Deutschlands und Großbritanniens, die sich festgelegt hatten, bevor überhaupt eine Beratung und Konsensfindung im europäischen Umfeld möglich war.
({8})
Wie fatal sich diese V orfestlegungen ausgewirkt haben, haben wir heute Mor gen bereits diskutiert. Angela
Merkel hat auf den Beitrag in der „Zeit“ hingewiesen,
der für helle Aufregung gesorgt hat. Ich erlebe zum ersten Mal im Deutschen Bundestag, dass ein sehr nüchterner und sachlicher Beitrag in der Wochenzeitung „Die
Zeit“ so große Empörung bei Ihnen hervorruft, weil er
Sie an einem sehr wunden Punkt trifft.
({9})
Es grenzt schon an Presse zensur, was Sie dazu gesagt
haben.
({10})
- Sie sollten das Geld für den Kauf dieser Zeitung investieren und den Beitrag in Ruhe nachlesen.
Sie haben of fenbar mit Entsetzen den Ausdruck zur
Kenntnis genommen, es sei geradezu „verrückt“, was
der Bundeskanzler gemacht habe. W enn Sie sich aber
überlegen, was der genaue Wortsinn ist - es ist gemeinhin nicht nur eine Polemik -, dann wird die Bedeutung
klar: dass etwas von einer auf eine andere Stelle gerückt
wird. In diesem Fall sind es die Inspektoren, die aus der
Situation der Stärke, nämlich mit der Kraft der Völkergemeinschaft, auf einmal abgerückt wurden. Dadurch
wusste der Diktator , dass er sein Spiel weitertreiben
kann, weil sich der deutsche Bundeskanzler so früh festgelegt hat.
({11})
Ich finde es gut, dass das in der „Zeit“ dokumentiert
wurde, auch wenn Sie das nicht hören wollen.
({12})
Bei der europäischen Verfassung wird es weitere Mechanismen und Regeln geben müssen, damit wir auch institutionell sicherstellen, in Zukunft der gemeinsamen
Aufgabe in der Sache gewachsen zu sein. Dazu gehören
die Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik. Ich
bin auch dafür, dass wir eine Solidaritäts- und Beistandsklausel in das europäische Grundgesetz aufnehmen, und
zwar nicht nur formal, sond ern auch inhaltlich, sodass
sich jeder, der an diesem Eu ropa mitarbeitet, verpflichtet, solidarisch für das gemeinsame Ziel einzutreten.
Nun hat der Bundeskanzler heute angekündigt, er
werde dem Deutschen Bundestag den Entwurf eines Entsendegesetzes vorlegen. Wir finden das gut. W ir finden
das überfällig. W ir brauchen ein solches Entsendegesetz.
Ich möchte aber einen Punkt in der ansonsten brillanten Rede des Kollegen Westerwelle aufnehmen.
({13})
Das Wort vom Parlamentsheer, das Sie gewählt haben,
kann ein Missverständnis auslösen. Es kann auch bei der
Regierung das Missverständnis auslösen, sie habe die
Verantwortung für die Bundeswehr , die sie tatsächlich
hat, nicht so ganz. W ir müssen immer klarstellen: Es
muss eine Kontrolle durch das Parlament geben und es
muss eine Unterrichtung de s Parlamentes geben. Nach
dem Stand der Unterrichtung können wir hier V erantwortung mittragen und Entscheidungen treffen, aber nur
in diesem Rahmen. Die Hauptverantwortung für das Militär, für eine vernünftige Au srüstung und für einen verantwortlichen Einsatz, liegt bei der Exekutive. Das muss
auch in Zukunft so bleiben.
({14})
Wir brauchen dringend eine Lösung für die integrierten Verbände. Wir wollen eine NA TO-Response-Force
aufstellen und eine schnelle Eingreiftruppe der Europäischen Union. Wenn wir ke ine klare Regelung haben,
führt das direkt ins Desaster . Denn man kann nicht mitten in einem möglicherweise gefährlichen Einsatz sagen:
Dieser Pilot und jener Bootsmann werden aus der integrierten Einheit zurückgezogen. Dann kracht alles zusammen. Insofern, Herr Bundeskanzler - er ist leider ,
wie häufig, im V erlauf der Debatten abwesend; man
kann es ihm vielleicht einmal mitteilen -, brauchen wir
rasch eine vernünftige Vorlage für ein solches Entsendegesetz.
({15})
Nun, meine Damen und Herren, komme ich zu
Deutschland und Frankreich. Deutschland und Frankreich sind und bleiben di e entscheidende Kraft und
die entscheidende Bewegung für ein Gelingen der europäischen Integration. Di e neuen Mitglieder in Mittelosteuropa schauen sehr genau darauf, wie die T räger der Integration jetzt operieren. Ich schaue auf den
Miniverteidigungsgipfel am 29. April. Wer trifft sich
da? - Belgien, Luxembur g, Deutschland und Frankreich. Es sieht fast so aus - es mag reiner Zufall sein -,
als sei das eine V ersammlung der Kritiker der V ereinigten Staaten oder von Großbritannien.
({16})
Ausgeschlossen sind die Gründungsmitglieder der
Europäischen Union Italien und die Niederlande. Ich
hörte, dass die Niederlande sogar angefragt hatten, weil
sie sich gerne an den Bemühungen beteiligen wollten.
({17})
Was ist daraus geworden? Dann wird darauf verwiesen,
das sei unsere Idee vom Kern europa gewesen. Kerneuropa war unsere Idee zur Stärkung der Einheit, aber nicht
die Idee zur Spaltung Europas, wie das jetzt angelegt ist.
({18})
Es ist richtig, dass die Europäische Union ihre eigene
Stärke und ihr eigenes Selbstbewusstsein entwickeln
muss. Es ist sicherlich auch richtig, dass wir nach dem
hoffentlich glücklichen Ende der Krise und dem Niederringen des Regimes in Bagdad auch mit unseren amerikanischen Freunden sprechen werden. Das ist selbstverständlich. Aber ich halte es für eine blanke Illusion, zu
glauben, bloß weil der Kalte Krieg vorbei sei, könnten
wir jetzt auf die NA TO und auf die W erte-, Interessenund die Schicksalsgemeinsc haft von Europa und Amerika verzichten. Das können wir nicht.
({19})
Wer die Europäische Sicher heits- und Verteidigungspolitik und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik so anlegen würde, als sei sie eine Gegenbewegung
zu den Vereinigten Staaten von Amerika, der handelt töricht und fehlerhaft.
({20})
- Ich gebe zu, dass die Regierung nicht so spricht. Das
stimmt. Ich hoffe aber auch, dass sie richtig handelt. Wir
haben im Moment einen W iderspruch von Worten und
Taten.
({21})
Ich halte es für richtig, dass unsere Regierung
AWACS-Flugzeuge in die Türkei schickt. Ich halte es
auch für richtig, dass ABC-Panzer in Kuwait und unsere
Schiffe am Horn von Afrika stehen. Das finde ich erfreulich. Aber die Gesinnungsneutralität unserer Regierung
in dieser Auseinandersetzung finde ich schrecklich. Deswegen müssen Worte und Taten wieder miteinander in
Einklang gebracht werden.
({22})
Die Bilder und Berichte, die uns aus dem Irak erreichen, lassen uns spüren, was in den Menschen vor geht;
sie machen ihre Ängste und Hoffnungen deutlich. Ich
wünsche mir, dass der Krieg rasch zu einem guten Ende
kommt, damit die Menschen - vielleicht zum ersten Mal
in ihrem Leben - aufatmen können und damit das Öl im
Lande allen Bevölkerungsgruppen zugute kommt, nicht
den Protzpalästen, sondern Schulen, Krankenhäusern,
Universitäten und vielen Einrichtungen, die das Regime
den Menschen so lange vorenthielt.
Man könne nicht gegen jeden Diktator vorgehen, wird
oft gesagt. Das stimmt zwar leider . Aber jeder Diktator
weniger bedeutet mehr Freiheit für die Menschen. Dafür
sollten wir einstehen.
({23})
Das Wort hat jetzt die Ko llegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt Situationen, in denen es bedrückend ist, wenn sich
die eigenen Befürchtungen bestätigen. Mit dem Irakkrieg erleben wir eine solche Situation. W ir sehen fassungslos die Bilder des Krie ges - auch Gernot Erler hat
davon gesprochen -, ohne zu wissen, ob sie bereits das
ganze Ausmaß des Grauens abbilden. T rotz aller Informationen über die Ereignisse in Bagdad, Basra, Mossul,
Kirkuk und in den ländlichen Regionen wissen wir das
nicht genau.
Wir sehen Bilder vom Bombenhagel, von getöteten
Zivilisten und Soldaten wi e auch von Gefangenen, die
wie Trophäen vorgeführt werden. Nein, dieser Krieg ist
nicht sauber. Die Iraker stehen nicht begeistert auf den
Straßen, um die britischen und amerikanischen Soldaten
zu begrüßen. Vor allem dauert der Krieg jetzt schon sehr
viel länger, als uns realitätsfremde Prognosen weismachen wollten.
Ein Zyniker und eine Zynikerin, die daran Gefallen
finden, Recht behalten zu haben. Ich wünsche mir nichts
sehnlicher als ein sehr schnelles Ende dieses Krieges, der
zwar militärische Sieger haben wird, der aber kein politischer Erfolg ist und den niemand wirklich gewinnen
wird. Ob er den Menschen in der Region tatsächlich den
Frieden garantieren wird, ist keineswegs sicher.
Unsere Hauptsorge gilt der humanitären Lage. So
klar und eindeutig wir diesen ungerechtfertigten Krieg
und eine aktive Beteiligung verneint haben, so engagiert
bestehen wir jetzt auf der Einhaltung des humanitären
Völkerrechts und so schnell und unbürokratisch werden
wir uns für die humanitäre Soforthilfe einsetzen und
diese Hilfe leisten, die für viele Menschen eine Überlebensfrage ist.
({0})
Auch und gerade in Kriegszeiten gelten die Menschenrechte. Das humanitäre Völkerrecht verpflichtet
die Angreifer zum Schutz und zur Versorgung der Zivilbevölkerung. Es verlangt einen die Menschenwürde achtenden Umgang mit Gefangenen auf allen Seiten. Es verbietet den Angrif f ziviler Ziele und deckt aus meiner
Sicht nicht den Einsatz von weltweit geächteten Waffen
wie Streubomben, die gegenwärtig im Irak abgeworfen
werden.
Die Menschen im Irak - viele von ihnen sind Binnenflüchtlinge - brauchen Na hrungsmittel, Trinkwasser,
Medikamente und medizinische Versorgung. Das gilt vor
allem und dringend für di e Kinder, die die Allerschwächsten sind.
Ich danke den vielen Mitarb eiterinnen und Mitarbeitern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und
den deutschen Hilfsorganisationen, die darauf vorbereitet sind, in dieser Krise zu helfen, und schon jetzt Hilfe
leisten. Sie alle werden be i voller Respektierung ihrer
Unabhängigkeit jede Unte rstützung bekommen; denn
humanitäre Hilfe darf niemals politisch instrumentalisiert werden.
({1})
Ich danke auch dem deut schen UNO-Botschafter
Pleuger und seinem T eam - ich hätte mir gewünscht,
dass sich auch die Union diesem Dank angeschlossen
hätte -, dass er die einmü tige Zustimmung im UNO-Sicherheitsrat zur Wiederaufnahme des Oil-for -FoodProgramms unter Federführung von Kofi Annan erreichen konnte. Ich hof fe, dass dieses Programm sehr
schnell in Kraft treten wird; denn schon vor dem Krieg
waren zwei Drittel der irakischen Bevölkerung von Versorgung abhängig. Die UNO is t heute wichtiger als jemals zuvor. Sie jetzt zu st ärken ist unsere Aufgabe und
wird unsere Priorität sein. Nur die UNO wird die Zukunftsfähigkeit und die friedliche Nachkriegsordnung
des Irak garantieren können.
Claudia Roth ({2})
Ich unterstütze auch die Forderung des Flüchtlingskommissars Lubbers an die Nachbarländer , die Grenzen
für Flüchtlinge zu öf fnen, damit ihnen dort unmittelbar
Hilfe und Zuflucht gewährt werden können. Ich bin sehr
froh, dass der anfängliche W iderstand in einigen Ländern aufbricht und dass nun Flüchtlingslager in Syrien,
im Iran, in Jordanien und an der türkisch-irakischen
Grenze vorbereitet werden können.
({3})
Es ist bedauerlich, dass ausgerechnet die reichsten Länder dieser Region, Saudi-Arabien und Kuwait, die auch
den Krieg befürwortet haben, ihre Grenzen für Flüchtlinge noch nicht geöffnet haben.
Wenn es heute noch keine Fluchtbewegung gibt, dann
heißt das aber nicht, dass es keine Fluchtgründe gibt. Die
Menschen fliehen nicht, weil sie Angst vor dem Bombenhagel haben. Sie können ni cht fliehen, weil sie auch
mit Gewalt von irakischer Seite von der Flucht abgehalten werden. Auch das ist ein zynisches Beispiel für diesen ungerechtfertigten Krieg.
({4})
Verantwortliche und glaubwürdige Menschenrechtspolitik beginnt immer zu Hause. Das muss und wird
auch der Umgang mit irakis chen Flüchtlingen bei uns
zeigen. Otto Schily hat ein kl ares Zeichen gesetzt, als er
die Länder aufgefordert hat, einen Abschiebestopp auszusprechen.
({5})
Angela Merkel hat das Ultimatum der US-Regierung
begrüßt. Sie hat außerdem explizit gesagt, dass sie alle
Konsequenzen, die damit verbunden sind, unterstützt.
Frau Merkel hat immer wieder behauptet, der Krieg sei
unvermeidbar gewesen und das Nichtstun müsse zu
Ende gehen. Ich sage: Der Krieg war vermeidbar. Es gab
eine Alternative.
({6})
Es gab die Alternative der nicht militärischen Entwaffnung mit einer umfassenden Kontrolle und mit einer klaren Schwächung des Regimes von Saddam Hussein. Hören Sie endlich auf, zu be haupten, dass das Nein zum
Krieg nicht auch ein klares Nein zum Regime von
Saddam Hussein sei!
({7})
Frau Merkel hat mit der falschen Reduzierung jedes
Handelns ausschließlich auf die militärische Option die
Erfolge der UNO-W affeninspektoren völlig ignoriert.
Hans Blix und Mohammed al -Baradei konnten vorrechnen, dass bei 200 Inspektoren die Kosten des Krieges
ausreichen würden, um 1 250 Jahre zu inspizieren und
abzurüsten, ohne M enschenleben zu opfern. Das hat
Frau Merkel nicht zitiert.
({8})
Anstatt darauf einzugehen, werden Persönlichkeiten
der deutschen Politik - für mich sind Rita Süssmuth,
Heiner Geißler und Karl La mers solche Persönlichkeiten - vom Parlamentarischen Geschäftsführer V olker
Kauder als Politrentner abgekanzelt und Kriegsgegner
wie wir schon einmal forsch als antiamerikanisch beschimpft. Volker Kauder hat of fensichtlich nicht verstanden - das scheint ihm entg angen zu sein -, was wir
auch Amerika zu verdanken haben, nämlich die Freiheit
des Denkens, die Freiheit der Meinung und die politische Kontroverse auch und gerade mit befreundeten
Ländern.
({9})
Angela Merkel treibt diesen bitterbösen Sprech auf
die Spitze, wenn sie behauptet, dass diejenigen, die gegen den Krieg sind, den Krieg erst befördert hätten.
Diese Schamlosigkeit und, liebe Kollegen von der
Union, Ihr begleitendes rhyt hmisches Klatschen, das
mich an einen Klatschmarsch erinnert hat, beleidigen
und verachten im Übrigen M illionen von Menschen auf
den Straßen, die gegen diesen Krieg demonstrieren, für
den Frieden beten und deren Nein zum Krieg auch ein
Nein zu Saddam Hussein ist.
({10})
Frau Merkel, Sie haben den Bundeskanzler und den
Außenminister in Deutschl and und im Ausland wegen
deren früher Festlegung auf eine friedliche Entwaf fnung
des Irak dif famiert. Gleichzeitig haben Sie sich selbst
ganz frühzeitig auf den Krieg festgelegt. Das ist eine
schwere Bürde. Mit den Konsequenzen Ihres Vorgehens
müssen Sie sich auseinander setzen. Sie können sie nicht
einfach totschweigen, so wi e Sie es heute wieder versucht haben.
({11})
Konsequenz, Frau Merkel: tote Zivilisten, Frauen und
Kinder erschossen, weil der Bus nicht schnell genug angehalten hat. Diese Menschen sind nicht erschossen worden, weil Amerikaner leichtfertig um sich schießen, sondern weil so etwas im Krieg geschehen kann.
Konsequenz, Frau Merkel: tote Soldatinnen und Soldaten - etliche von ihnen vo n Selbstmordattentätern getötet -, weil sich der Krieg nicht an Regeln hält.
Konsequenz, Frau Merkel: die weitere Eskalation des
Konflikts. Ich erinnere an die unverhohlene Drohung an
Syrien und an den Iran sowie an die harte und scharfe
Reaktion darauf.
Konsequenz, Frau Merkel: die große Gefahr , dass
dieser Krieg die W iedergeburt eines aggressiven panarabischen Nationalismus mit sich bringt, der sich jetzt
mit einem militanten islamischen Fundamentalismus
verbündet.
Claudia Roth ({12})
Konsequenz, Frau Merkel: die Schwächung der Antiterrorkoalition, die zum Bruc h führen kann; denn diese
Koalition beruhte gerade darauf, nicht zwischen Kulturen und Religionen zu unters cheiden. Nun droht genau
das, was wir verhindern wollten: dass es zum Kampf
zwischen den Kulturen und zwischen den Religionen
kommt.
Es ist in der T at dem besonnenen und verantwortlichen Handeln des Papstes zu verdanken, dass sich dieser
drohende Clash nicht noch zusätzlich religiös aufgeladen
hat.
({13})
Mit Ihrer Politik haben Sie den Boden der christlichen
Friedensethik schon sehr lange verlassen.
Frau Kollegin Roth, kommen Sie bitte zum Schluss.
Frau Merkel, nachdem Sie all diese Konsequenzen
übersehen haben, könnten Sie heute wenigstens bekennen, dass Sie sich mit Ihre m Ja zum Krieg geirrt haben.
Wenn Sie sie aber sehenden Auges in Kauf genommen
haben, liebe Frau Merkel, dann sollten Ihnen wenigstens
81 Prozent der Deutschen, die sich gegen den Krieg ausgesprochen haben, zu denken geben.
Lieber Herr Hintze, Gesinnungsneutralität ist etwas
ganz anderes. W as wir seit Monaten versuchen und
auch weiterhin versuchen werden, ist, Kriege zu verhindern,
({0})
und zwar präventiv , aber nicht mit Präventivschlägen.
Das ist ein großer und entscheidender Unterschied.
Lassen Sie mich schließen.
Frau Kollegin Roth, kommen Sie bitte wirklich zum
Schluss.
({0})
Ja, ich komme zum Schluss.
Ich möchte mit einem Zita t aus Goethes „W estöstlichem Diwan“ und mit einem Zitat des persischen Dichters Nizami aus dem 12. Ja hrhundert schließen. Nizami
schreibt:
Mit Worten kannst du einem Heer das Genick brechen, mit Schwertern aber kannst du nur ein Dutzend Soldaten besiegen.
Goethe schreibt:
Wer sich selbst und andere kennt
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich sagen
- es ist bereits mehrfach an gesprochen worden -: Die
deutsche Bevölkerung und die europäische Bevölkerung
wissen - die Opposition hat überhaupt keine Chance,
diese Einstellung in der Bevölkerung in ir gendeiner
Form zu beeinflussen -,
({0})
dass unser Nein zu dem geplanten Krieg im Irak im letzten Jahr dazu beigetragen hat, überhaupt erst eine öffentliche Diskussion zu ermöglichen und eine friedliche Lösung überhaupt erst als Alternative sichtbar zu machen.
({1})
Ohne dieses Nein hätte es das deutliche Votum der internationalen Gemeinschaft gegen Krieg gar nicht gegeben.
Daher muss man sich fra gen, warum von der CDU/
CSU in diesem Zusammenhang immer wieder ein V orwurf gegen uns erhoben wird, obwohl die Bevölkerung
so einhellig die Meinung der Bundesregierung teilt.
Nach meiner Einschätzung ist es das einzige Ziel dieser
Aktion und Diffamierung, die unrühmliche Rolle, die die
CDU/CSU in dieser Frage gespielt hat, hinter einem Vorhang zu verstecken.
({2})
Das wird Ihnen aber nicht gelingen, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({3})
In der heutigen Diskussi on haben wir immer wieder
angesprochen, dass dieser Krieg bisher schon T ausende
von Opfern forderte: Er hat Tausenden von Zivilisten das
Leben gekostet; sicherlich sind auch Hunderte Soldaten gestorben. An dieser Stelle erinnere ich an die Kinder - ich selbst bin 1942 geboren und habe als Kind
Bombardements erlebt -, die diesen Krieg erdulden und
erleiden müssen, an ihre Angst und ihre Schmerzen.
Diese Kinder sind für ihr Leben gezeichnet.
({4})
Wir müssen alles tun, damit diese Kinder eine Chance
haben. Wir wollten diesen Krieg vor allen Dingen deshalb verhindern, um ihnen di eses Leid zu ersparen. Das
war für uns das Allerwichtigste.
({5})
Wir treten für ein schnelles Ende dieses Krieges ein, damit das Leiden der Menschen ein Ende hat.
({6})
Ich fordere alle Beteiligten auf - Frau Kollegin Roth
hat es schon angesprochen -, sich an das humanitäre
Völkerrecht zu halten. Insbesondere fordere ich die
Kriegsparteien auf, freien und ungehinderten Zugang der
humanitären Hilfe zu den Menschen zu ermöglichen,
wie es auch Kofi Annan gefordert hat.
({7})
Dies ist, wenn wir den Menschen in dieser Situation helfen wollen, die wichtigste V oraussetzung - das haben
auch alle UN-Organisationen gefordert -; wie auch humanitäre Hilfe nicht nach militärischen Gesichtspunkten
zu vergeben, sondern humanitäre Hilfe unabhängig hiervon nur daran zu orientieren, den Menschen zu helfen.
({8})
Frau Kollegin W ieczorek-Zeul, erlauben Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?
Gerne.
Herr Schauerte, bitte schön.
Frau Ministerin, Sie haben gerade - sicherlich mit Zustimmung des ganzen Hauses - erklärt, wir wollen ein
schnelles Ende dieses Krieges. In der Tat, das wollen wir
alle. Aber die Menschen interessiert abseits dieser allgemeinen Formulierung, ob Sa ddam oder die Koalition
diesen Krieg gewinnen soll.
({0})
Um die Frage zu vertiefen: Wir wollen ganz eindeutig
ein schnelles Ende dieses Krieges und wir wollen im Interesse der Menschenrechte, dass die Koalition diesen
Krieg gewinnt. Unsere Aussage ist sehr klar.
Auch dies ist wieder ein Teil Ihres Versuches, die Regierungsparteien als Unters tützer von Saddam Hussein
hinzustellen.
({0})
Ich habe schon in der Debatte über den Haushalt für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gesagt, dass wir Hussein bere its einen Gewaltverbrecher
nannten, als manche, die Ih nen durchaus nahe stehen,
noch mit ihm Geschäfte ge macht haben. Ich bin dies
wirklich leid.
({1})
Ich möchte um der Menschen willen ein Ende dieses
Krieges und ich will, dass die Menschen eine gute Zukunft haben.
Herr Präsident, ich möchte nun die Hilfsmaßnahmen
ansprechen, die um der Menschen willen notwendig
sind.
({2})
Ich unterstütze nachdrücklich die Position der deutschen
privaten Hilfsorganisationen, die ich unterstütze und
denen ich für ihr Engagement von dieser Stelle aus ausdrücklich danke. Sie lehnen es ab, sich von US-amerikanischem Militär in entsprechenden Kommunikationszentren registrieren und einsetze n zu lassen. Ihre Arbeit ist
im Sinne der Hilfe für die Bevölkerung wichtig, aber sie
muss unabhängig erfolgen.
Welche unmittelbare Hilfe ist notwendig? Was haben
wir bisher getan? Es wurde heute Morgen mehrfach angesprochen: Mithilfe der UN-V ertretung haben wir es
geschafft, dass die Mittel des Programms „Öl für Lebensmittel“ jetzt wieder fließen können und dass aus
diesen Mitteln Nothilfe zur V erfügung gestellt werden
kann.
Frau Kollegin W ieczorek-Zeul, erlauben Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Kues?
Ich denke, eine Zwischenfrage war jetzt genug.
Sie erlaubt keine Zwischenfrage. - Bitte schön, fahren
Sie fort.
An dieser Stelle erinnere ich daran, dass gestern der
Direktor des Welternährungsprogramms zu Gesprächen
über die Perspektiven dieses Programms bei uns war;
diese Institution führte und führt das Programm „Öl für
Lebensmittel“ im Irak durch. Er hat der Bundesregierung
ausdrücklich Lob und Dank des W elternährungsprogramms dafür ausgesprochen, dass sie diese Arbeit aktiv
unterstützt, aber vor allen Dingen dafür , dass wir es geschafft haben, die Mittel des Programms „Öl für Lebensmittel“ wieder fließen zu lassen.
({0})
Zweitens appelliere ich, wie es James Morris und ich
gestern gemeinsam getan haben, an alle irakischen Stellen, um der Menschen willen mit diesem Programm „Öl
für Lebensmittel“ zu kooperieren. Herr Morris wies gestern darauf hin, dass es 44 000 solcher kleinen Einrichtungen gibt, bei denen Mittel für die Nahrungsmittelhilfe
zur Verfügung stehen.
Außerdem hat die Bundesregierung 50 Millionen
Euro für humanitäre Soforthilfe, für Flüchtlings- und
Nothilfe, zur Verfügung gestellt. Ich nannte eben das
Welternährungsprogramm, dessen Aufgabe die V ersorgung mit Nahrungsmitteln ist. Die Nahrungsmittel gehen
zur Neige. Wir unterstützen das Internationale Komitee
vom Roten Kreuz. Auch dies ist eine praktische Unterstützung.
Ich weiß um das Leid und den Schrecken der Angriffe
und der Kämpfe in Basra. Das Internationale Komitee
vom Roten Kreuz hat dazu be igetragen, einen Teil der
Wasserversorgung in Basra wieder sicherzustellen. Das
rettet hoffentlich vielen Tausenden von Menschen das
Leben, die ansonsten verdorbenes W asser trinken würden, schreckliche Krankheiten davontrügen und sterben
müssten. Wir, die Bundesrepublik, die Bundesregierung,
unterstützen mit unseren Fina nzmitteln diese Arbeit des
Internationalen Roten Kreuzes. Ich danke den Menschen, die diese Arbeit leis ten. Sie retten Leben und tragen dazu bei, dass mehr Menschen eine Chance haben.
({1})
Die EU stellt 100 Millionen Euro für diese humanitäre und Nothilfe zur V erfügung. Darin ist unser Anteil
im Umfang von rund 23 Millionen Euro enthalten.
Weil ich diese Hilfe in der jetzigen Phase für das Allerwichtigste halte, liebe Kolleginnen und Kollegen,
stelle ich jetzt einfach dar, welche Arbeit im Irak geleistet wird; denn wenn ich den T eil der Berichterstattung
sehe, in dem es darum geht, wie viele Schritte das Militär da oder dort vorangekommen ist, erscheint es mir
wichtiger, wie wir es schaf fen, ganz schnell die Lastwagen mit den Hilfsgütern zur Zivilbevölkerung zu bekommen, damit diese Menschen eine Chance haben, dass ihnen geholfen werden kann.
({2})
Die zentrale Rolle der Vereinten Nationen und eine
Entscheidung des UN-Sicherhe itsrates sind aber nicht
nur für die humanitäre Hilfe, sondern auch für die Bewältigung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen
Entwicklungsaufgaben im Irak nach der Beendigung des
Krieges unabdingbar. Sie sind gleichzeitig eine unabdingbare Voraussetzung für das Engagement der multilateralen Einrichtungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Schluss etwas wiederholen, was immer wieder angesprochen werden muss: Ich halte es für obszön, dass in
den USA zur weiteren Finanzierung dieses Krieges ein
Nachtragshaushalt von 75 Milliarden US-Dollar eingesetzt wird. Das ist eineinha lbmal so viel, wie weltweit
alle Geber für of fizielle Entwicklungszusammenarbeit
zur Verfügung stellen. Wir können doch nicht auf Dauer
die Mittel für Militär und für Kriege verschwenden.
Wenn wir Gewalt und Ursachen von Gewalt wirklich bekämpfen wollen, dann müssen wir dazu beitragen, dass
die Mittel dieser W elt im Kampf gegen Armut, gegen
Hunger, gegen Unwissenheit und gegen Hoffnungslosigkeit eingesetzt werden, und dafür werbe ich.
({3})
Wir dürfen nicht zulassen, dass sich die internationale
Agenda verschiebt. Eine der Lehren aus diesem Krieg,
jedenfalls für mich, ist, dass wir die Mittel für Armutsbekämpfung aufstocken müssen, dass wir mehr Mittel
brauchen, um die Chancen für eine gerechte W eltordnung zu verbessern.
({4})
- Nein, nicht das Gegenteil. W er Ohren hatte, zu hören,
der hat gehört.
Wichtig ist: Das 21. Jahrhundert muss ein Jahrhundert
sein, in dem wir Schritte zu einer gerechteren Weltordnung erreichen. Deshalb bleibt die fortdauernde Aufgabe, auf die Verpflichtungen des Rechts zu setzen, die
Stärke des Rechts zu verankern sowie über diesen T ag
hinaus und über die Schrecken des Krieges hinaus eine
neue, gerechtere Weltordnung zu erreichen.
({5})
Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe die Rede von Frau Merkel von der UnvermeidbarPetra Pau
keit des Krieges mit all seinen Folgen und von ihrer unverbrüchlichen Gefolgschaft zur Allianz der Kriegswilligen noch gut im Ohr - übrigens auch den lang
anhaltenden rhythmischen Beifall ihrer Kolleginnen und
Kollegen von CDU/CSU. Frau Merkel, Sie können sicher sein, dass Sie verstanden wurden, als S ie vor vierzehn Tagen hier gesprochen haben. Als am vergangenen
Sonnabend in Berlin und am Montag in Leipzig erneut
hunderttausend gegen den Krieg demonstrierten, waren
Sie nämlich in vieler Munde.
Nun höre ich heute, Sie wollten nach vorn schauen;
die Frage nach einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU stelle si ch nach den Dif ferenzen in
der Irakkrise jetzt sehr viel vehementer; eine gemeinsame Politik sei aber nur denkbar , wenn sie nicht gegen
die Vereinigten Staaten von Amerika gerichtet sei. Genau zu dieser Passage habe ich drei Anmerkungen:
Zum Ersten erinnert mich das alles an den uralten
Ehespruch aus weiblicher Sicht: Sind wir uns einig, dann
gilt meine Meinung; haben wir aber eine Differenz, dann
gilt seine Meinung. - So sind die USA mit dem Völkerrecht umgesprungen, so haben Sie von der Union sich
der US-Strategie unterworfen und so sieht Ihr Blick nach
vorn aus. Die PDS im Bundestag hat einen anderen V orausblick.
Zum Zweiten ist eine Politik, die sich Angriffskriegen
versagt, noch lange keine Politik gegen die V ereinigten
Staaten von Amerika,
({0})
sondern lediglich eine Politik gegen eine auf Krieg setzende US-Führung. Diesen Unterschied sollten auch Sie
von der CDU/CSU endlich begreifen.
Zum Dritten heißt die Frage nicht: mit den USA oder
gegen die USA? Europa muss sich vom Kriegskurs der
USA emanzipieren. Das wäre ein Blick und wäre auch
ein Schritt nach vorn.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
den Grünen, ich behaupte ja nicht, dass die Karre mit
einfachen Lösungen oder gar Losungen aus dem Dreck
gezogen werden könnte. W enn wir in unserem Nein
zum Irakkrieg übereinstimmten, dann hieß dass nie,
dass unsere Gründe dieselbe n waren. Rot-Grün hat diesen Krieg abgelehnt. Die PDS lehnt Kriege grundsätzlich
ab. Das ist der Unterschied.
({2})
Wir alle wissen: Die Regierung verdrängt alle Fragen,
die auf eine völkerrechtliche Verdammung des Irakkrieges hinauslaufen. Sie weicht allen Fragen aus, die mit einer indirekten deutschen Beteiligung zusammenhängen. Ich spreche hier über Überflugrechte, über
AWACS-Flüge, über deutsche Einsatzkräfte in Kuwait
und am Horn von Afrika. Dies lehnt die PDS im Bundestag seit Monaten und auch heute wieder ab.
Dass ich in den letzten T agen selbst grüne Stimmen
höre, die Europa um- und hochrüsten wollen, wundert
mich. Lassen Sie uns gemeinsam nach Auswegen suchen! Konfrontation, Kriege, Rüstung sind keine Krisenlöser. Sie bieten keine Zu kunft - für niemanden, nirgendwo.
Ich will allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen,
noch eines in Erinnerung rufen: Hätten CDU und CSU
im Bunde mit der FDP die Wahlen gewonnen, dann wäre
die Bundesrepublik heute Kriegspartei, dann würden
deutsche Soldaten heute um Bagdad und den Mittleren
Osten kämpfen, mit allen Folgen.
({3})
Auch das muss in einer solchen Debatte gesagt werden.
({4})
- Das stimmt sehr wohl, Herr Kollege Gerhardt.
({5})
Frau Merkel hat ja nun mehrfa ch unterstrichen, dass sie
sich unter Inkaufnahme aller Folgen an die Politik der
USA hängen wollte.
({6})
Ich möchte aber zum Schl uss noch zwei Sätze zur
heutigen Kanzlerrede und seinem Versuch, seine außenpolitischen Vorstellungen von einer friedlichen Welt mit
seinen innenpolitischen V orhaben, der so genannten
Agenda 2010, zu verknüpfen, sagen:
Erstens. Die Agenda 2010 zielt nicht auf mehr Gerechtigkeit, mehr Stabilität und Solidarität im Inneren,
im Gegenteil: Sie entlasten mit dieser Politik die Vermögenden, belasten die Bedürftigen und entsorgen die Solidarsysteme.
Deshalb mein zweiter Satz: Eine solche Innenpolitik
taugt nicht als Leitbild für eine Außenpolitik, die auf
Recht und Gerechtigkeit, au f Frieden und Entwicklung
zielt.
Die PDS im Bundestag sagt also Ja zu Ihrem Nein
zum Irakkrieg. Aber wir sagen zugleich Nein zu Ihrem
Ja zum Sozialabbau.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Günter Gloser von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Ko lleginnen und Kollegen!
Eine Berliner Zeitung, genauer gesagt, die „Berliner Zeitung“ überschreibt heute einen Kommentar mit „Die
zweite Ebene der Angela Merkel“ und ver gleicht ihre
Situation mit der einer Person, die versucht hat, mit ihrer
Argumentation bei den Parteimitgliedern durchzukommen, wobei sie aber keiner versteht, und legt ihr folgende Worte in den Mund:
Okay, nochmal von vorne. Ich versuch’s nochmal,
bis ihr versteht.
Diesen Versuch haben wir heute wieder erlebt. Es hat sie
wieder niemand verstanden. Der Kommentator hat schon
gestern, vielleicht auch aufgrund von internen Informationen, gesagt:
Man versteht sie und man versteht sie doch nicht.
Denn nichts bietet sie an auf „Ebene zwei“: keine
Ideen und keine Prinzipien, vor allem aber keine
Antworten auf all ihre Fragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein solches Fazit kann
man in der Tat aus der heut igen Rede von Frau Merkel
ziehen.
({0})
In ihrer mit sechs Punkten se hr strukturiert aufgebauten
Rede hat sie hier heute keine Antwort gegeben und die
Position der CDU/CSU nicht klar bestimmt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, traditionell
sind die Frühjahrsgipfel des Europäischen Rates in erster
Linie wirtschafts- und sozialpolitischen Themen gewidmet. Aber dieses Mal sind die Regierungschefs unter
dem Eindruck eines Krieges und auch mit dem bedrückenden Wissen zusammengekommen, dass es eben
nicht gelungen ist, eine gemeinsame europäische Haltung zum Irakkonflikt zu en twickeln. Diese bittere Erkenntnis prägte den Märzgipfel in der Tat.
Das überschattete den erfolgreichsten außenpolitischen Akt, den die Europäische Union jemals vollzogen
hat, nämlich die Überwindung der Teilung Europas und
die Vollendung der europäischen Einigung, die jetzt in
greifbare Nähe gerückt ist. Für zwölf Beitrittsländer ist
der konkrete Zeitplan für den Weg zur Mitgliedschaft in
der EU vorgezeichnet. Mit acht mittel- und osteuropäischen Kandidatenländern sowie den Mittelmeerländern
Malta und Zypern wird der Beitrittsvertrag noch in diesem Monat unterzeichnet. Deren Beitritt wird, wenn die
Bevölkerung dieser Länder zustimmt und die Ratifizierung in den Mitgliedstaaten un d Beitrittsländern erfolgreich verläuft, zum 1. Mai 2004 erfolgen. Bulgarien und
Rumänien werden, wenn sie ihre Anstrengungen zur
Beitrittsvorbereitung forcieren, im Jahre 2007 folgen.
Dies alles wäre ein Grund, nach Kopenhagen im März
einen nicht minder historischen Gipfel zu feiern, der sich
der konkreten wirtschafts-, sozial- und beschäftigungspolitischen Agenda des nun zusammenwachsenden Europas annimmt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte allerdings schon auf einige Diktionen in den Stellungnahmen
vonseiten der Opposition eingehen, in denen immer so
leichtfertig von der Spaltung Europas gesprochen wird.
Wer verkennt denn das, was in den letzten Jahren, zugegebenermaßen auch dank des Engagements christdemokratischer und freidemokratischer Regierungen, zustande gekommen ist? W er macht denn eigentlich den
Umfang der Außen- und Sicherheitspolitik in der Europäischen Union kleiner, als er tatsächlich ist? Wir haben
etwas erreicht und stehen davor, ein ganz großes Projekt
zu realisieren. Das bedarf sicherlich auch des weiteren
Engagements. Wer heute bei einem sicherlich wichtigen
Thema von einer Spaltung Europas spricht, wird den Dimensionen der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik nicht gerecht.
({1})
Lassen Sie mich auch auf einige zum T eil nicht mehr
anwesende Kolleginnen und Kollegen von der Opposition eingehen. Ich habe schon in einer früheren Debatte
- es war bereits im Jahr 1999 - gesagt, Sie strickten immer an einer Legende, was das Verhältnis dieser Bundesregierung vor allem zu den Beitrittskandidatenländern
angehe. Wir waren von Anfang an, seit Übernahme dieser Bundesregierung, der Anwalt, der Fürsprecher dieser
kleinen und großen Beitrittsländer, damit sie so bald wie
möglich, sobald die V oraussetzungen vorliegen, in die
Europäische Union aufgenommen werden können. Darüber gab es überhaupt keinen Dissens. Das haben wir
deutlich gemacht.
Jetzt sagen Sie wieder, wir hätten auf die kleinen Länder und die Beitrittskandidatenländer keine Rücksicht
genommen. Das ist einfach nicht wahr.
({2})
Zum einen gab es einen intens iven Dialog - er hätte sicher an der einen oder anderen Stelle vertieft werden
können - von beiden Seiten, nicht immer nur seitens der
Regierung. Zum anderen gab es auf der parlamentarischen Ebene eine Vielzahl von Gesprächen.
Lieber Herr Kollege Hintze, Sie hatten gestern sicherlich einen Grund, nicht an der Sitzung des Europaausschusses teilzunehmen. Das kann und will ich Ihnen gar
nicht vorwerfen. Aber ich will Ihnen eine Information
weitergeben, weil Sie gesagt haben, Sie wollten ein
Kerneuropa, das nicht spalte. Außenminister Fischer hat
gestern noch einmal ausdrücklich festgestellt, auch in
Bezug auf die belgische Init iative, dass das Kerneuropa
kein exklusiver Klub sei. W ir wollen aber vorangehen.
Wer sich anschließen will, kann mit vorangehen. Ich
bitte auch hier , nicht wieder an einer Legende zu stricken.
({3})
Gerade Sie sollten nicht fa lsch Zeugnis wider Ihren
Nächsten reden; das hat de r Außenminister auch nicht
verdient. Er hat gestern deutlich dazu Stellung genommen.
({4})
- Herr Kollege Müller , Sie müssten das eigentlich verstanden haben, denn Sie waren anwesend.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch auf einen Aspekt eingehen, der sicherlich zu Irritationen geführt hat, auch was die BeitrittskanGünter Gloser
didatenländer angeht. Natürlich hat es da verschiedene
Stimmen gegeben, weniger bei uns als vielleicht in anderen europäischen Ländern. Ich sage noch einmal ausdrücklich: Auch wenn es bei uns möglicherweise Irritationen gegeben hat, dass bei der Unterschrift der Acht oder
bei der Vilnius-Erklärung vorher nicht miteinander kommuniziert, geschweige denn die griechische Ratpräsidentschaft konsultiert worden ist,
({5})
muss man die Situation dies er Länder verstehen. Sie
wollen Mitglieder der Europäischen Union werden.
Letzte Woche haben wir ei ne Reise nach Rumänien
unternommen. Dort besteht Klarheit. Es kann aber keine
Europäische Union à la carte geben. Man kann sich nicht
das herauspicken, was einem gefällt, und sich für das,
was einem nicht gefällt, an dere Verbündete suchen.
Wenn diese Länder allerdings aufgrund ihrer Geschichte
ein großes Bedürfnis haben, Sicherheit zu erlangen, und
dabei vor der Alternative stehen, die NATO oder die Vereinigten Staaten oder aber ein möglicherweise zerstrittenes Europa als Verbündeten zu wählen, dann werden sie
in dieser Situation zunächst einmal den einen Adressaten
suchen. Deshalb ist es wich tig, gemeinsam mit den Beitrittskandidatenländern den Weg zu einer gemeinsamen
europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu suchen.
({6})
Ich glaube, dass der Konvent - da sind wir uns in diesem Hause, zumindest im Europaausschuss, einig - in
der Tat entsprechende Instrumente schaf fen muss. Man
kann und sollte auch über das diskutieren, was Sie, Kollege Hintze, vorgeschlagen haben. Instrumente sind richtig und wir brauchen sie; aber es muss auch der gemeinsame politische Wille vorhanden sein, eine gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik in dieser Europäischen
Union zu gestalten.
Ich möchte noch auf einen Bereich eingehen, auf den
sicherlich mein Kollege Jörg Vogelsänger noch zu sprechen kommen wird, nämlich au f das, was wir als Lissabon-Strategie bezeichnen. Wir brauchen, um ein gewisses Gewicht darzustellen, in der Europäischen Union
auch eine ökonomische Leistungsfähigkeit. Dazu kann
das Leitbild Europa Entsprechendes leisten.
Ich gehöre nicht zu der Gruppe der professionellen
Schwarzmaler, die - so höre ich es beispielsweise aus
der Opposition - Deutschla nd nur noch schlecht reden.
Dazu ein Zitat:
Es wäre völlig irreführend, Deutschland als ein
Land darzustellen, das schäbig oder erbärmlich
oder anfällig für politische Instabilität oder in der
Gefahr des endgültigen wi rtschaftlichen Niedergangs sei. Im Gegenteil, es ist reich, stabil und für
die überwältigende Mehrheit seiner Menschen ist es
äußerst angenehm, dort zu leben.
So der „Economist“ im Dezember letzten Jahres.
Ich sage hier ganz bewusst, auch vor dem Hintergrund der aktuellen Zahlen aus Nürnber g zur Arbeitslosigkeit: Wir müssen hier Anstrengungen unternehmen.
Ich glaube, dass die Agenda 2010 ein richtiger Weg ist,
um die entsprechenden W eichen zu stellen, auch im
Kontext eines Lissabon-Prozesses.
Ich meine, es ist ein Zeichen für die Stärke der Europäischen Union, dass sie si ch in der W irtschaftspolitik
verständigt und gemeinsame Ziele formuliert. Aber auch
auf der nationalen Ebene sind wir gezwungen, Entsprechendes zu leisten. Ich glaube, die Vorschläge, die in den
nächsten Tagen vorgelegt werden, die wir erörtern und,
wie ich denke, auch beschließen werden, sind ein wichtiger Beitrag in diesem Bereich. Wir sagen damit: Wir haben aus dieser Europäischen Union gelernt. Wir gucken
ab, was in anderen Ländern positiv läuft, und wir versuchen, es umzusetzen. Wir, diese rot-grüne Koalition und
diese Bundesregierung, werden diese Reformvorhaben
durchbringen, um die Zukunft unseres Landes zu sichern,
um die weitere Integration in Europa mit zu gestalten und
um gemeinsam in Europa di e neuen Herausforderungen
der globalisierten Welt friedlich zu meistern. Auch die
Opposition sollte sich, wie es gelegentlich in der Außenund Sicherheitspolitik geschieht, an diesen Vorschlägen
konstruktiv beteiligen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jör g Vogelsänger von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die heutige Debatte des Deutschen Bundestages ist besonders gekennzeichnet von der großen Sorge
über die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten. Ich
glaube, diese Sorge ist parteiübergreifend. Ich hätte mir
aufgrund der dramatischen La ge im Irak allerdings die
eine oder andere Gemeinsamkeit im Parlament gewünscht.
({0})
Ich möchte daran erinnern, dass die Politik der Bundesregierung von der breiten Bevölkerungsmehrheit gestützt und unterstützt wird. V ielleicht ist das für den einen oder anderen ein Grund zum Nachdenken.
({1})
Meine Damen und Herren, Europa ist ein Kontinent
des Friedens geworden. Gerade in der aktuellen Situation wird uns so richtig bewusst, welch großes Glück wir
Europäer damit haben. Mit der Erweiterung der Europäischen Union wird die Teilung Europas in Blöcke endgültig überwunden. Dass dies mö glich ist, daran haben wir
Deutsche und besonders die Bür ger Ostdeutschlands einen großen Anteil. Mit der friedlichen Revolution von
1989/1990 wurde der Eisern e Vorhang in Europa, der
unser Land trennte, niedergerissen. Ein besonderer Dank
dafür gilt den Völkern Ungarns, Tschechiens und Polens.
Der Mut der Menschen und der Politiker in diesen Staaten hat gerade uns diesen friedlichen Umbruch erst ermöglicht. Deshalb freue mich ganz besonders, dass diese
Staaten die Europäische Union bereichern werden.
In den Dokumenten des Eu ropäischen Rates anlässlich der jährlichen Frühjahrstagung vom März 2003 in
Brüssel spielte die Weiterentwicklung der Europäischen
Union im doppelten Sinne ei ne wichtige Rolle. Es ging
zum einen um den Erweiter ungsprozess und zum anderen um die dringendsten Reformen in Europa. W ir brauchen Mut zur V eränderung in Deutschland und wir
brauchen diesen Mut auch in Europa.
Ein zentraler Punkt im Papier des Rates ist die Frage
von Beschäftigung und Wohlstand in Europa. In ganz
Europa gibt es wirtschaftliche Unsicherheitsfaktoren und
die aktuelle Situation im Irak wirkt sich negativ auf die
wirtschaftliche Erholung aus. Gerade wegen dieser
schwierigen Rahmenbedingungen sind wir zu entschlossenen Strukturreformen verpflichtet.
({2})
Das von Bundeskanzler Gerhard Schröder am
14. März vorgelegte mutige Reformprogramm ist ein
Gesamtkonzept für Deutschland. Es gilt, die Lohnnebenkosten zu senken und die I nvestitionen zu steigern und
damit für mehr Beschäftigung zu sorgen.
({3})
Das ist auch der Kernpunkt des Papiers des Europäischen Rates. Das Lissaboner Ziel einer Beschäftigungsquote von 70 Prozent bis 2010 ist und bleibt eines der
Hauptanliegen der Staats- und Regierungschefs. Länder
mit einer hohen Beschäftigungsquote haben eine sehr
leistungsfähige Wirtschaftsstruktur. Eine hohe Beschäftigung ist die Grundvoraussetzung für eine funktionierende soziale Marktwirtschaf t mit guten sozialen Leistungen für die Bür ger. Deshalb gilt es, in Deutschland
für mehr Beschäftigung zu sorgen.
({4})
- Das machen wir auch.
Mit der Umsetzung des Hart z-Konzeptes, lieber Kollege, sind wir in Deutschland auf dem richtigen W eg.
Weiterhin wird der erweitert e europäische Binnenmarkt
gerade in Deutschland für mehr Arbeit sor gen können.
Mit der Erweiterung der Europäischen Union kommen
über 70 Millionen Menschen - für mich sind die Menschen der wichtigste Faktor -, aber auch ein riesiger
neuer Markt für Güter und Dienstleistungen hinzu.
Selbstverständlich ist in diesem Zusammenhang die
Politik gefragt, Unternehmen durch entsprechende Rahmenbedingungen zu unterstü tzen. Die Bundesregierung
plant eine außenwirtschaftliche Offensive mit dem Ziel
der Öffnung internationaler Märkte für kleine und mittelständische Unternehmen. Das geht natürlich über das
Gebiet der Beitrittsländer hinaus.
Die Erweiterung der Europäischen Union bedarf auch
bestimmter Übergangsvorschriften. Zudem stehen wir
im Verkehrsbereich vor neue n Herausforderungen. Die
Infrastruktur muss selbstverständlich ausgebaut werden. Die EU-Osterweiterung ist im neuen Bundesverkehrswegeplan besonders zu berücksichtigen.
Neben den Brücken aus Stahl und Beton müssen wir
auch an den Brücken zwischen den Menschen weiterbauen. Hier sind wir alle ge fordert und jeder kann dazu
seinen Beitrag leisten.
({5})
Beiträge zur Völkerverständigung sind aktive Friedenspolitik.
Was in den 50er -, 60er- und 70er-Jahren unter anderem zwischen Deutschland und Frankreich gelang, werden wir auch mit unseren neuen EU-Nachbarn schaf fen.
Wichtig dabei ist, dass die Politik - Frau Sager hat schon
vor einem bürokratischen Europa gewarnt - die Menschen und ganz besonders die Jugend mitnimmt. Ich
denke, für unsere Jugend wird die EU-Osterweiterung
richtig spannend. In diesen Prozess kann sie sich voll
einbringen.
Der erweiterten Europäischen Union wird nach meiner festen Überzeugung in ei ner veränderten internationalen Situation eine noch größere Bedeutung zukommen. Dies kann und muss für die Sicherung des Friedens
genutzt werden. Europa steht in einer besonderen V erantwortung. Wir haben uns dieser V erantwortung zum
Wohl unserer Völker zu stellen.
Vielen Dank.
({6})
Herr Kollege Vogelsänger, ich beglückwünsche Sie
im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b so-
wie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr . Maria
Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Reformen in der beruflichen Bildung vorantreiben - Lehrstellenmangel bekämpfen
- Drucksache 15/653 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Christoph Hartmann ({2}), Ulrike
Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Für die Stärkung der dualen Berufsausbildung
in Deutschland - mehr Chancen durch Flexibilisierung und einen individuellen Ausbildungspass
- Drucksache 15/587 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten KarlJosef Laumann, Dagmar Wöhrl, Hartmut
Schauerte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Ausbildungsbereitschaft der Betriebe stärken
- Verteuerung der Ausbildung verhindern
- Drucksache 15/739 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({4})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten W illi
Brase, Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr . Thea Dückert,
Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Offensive für Ausbildung - Modernisierung
der beruflichen Bildung
- Drucksache 15/741 Überweisungsvorschlag:
A. f. Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({5})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Nach einer interfraktionellen V ereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb S tunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erste hat die Bundesministerin Edelgard Bulmahn das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Eine qualifizierte Ausbildung für
junge Menschen sicherzustellen ist eine der wichtigsten
gesellschaftspolitischen Aufgaben,
({0})
weil nur gut ausgebildete Mens chen ihre Zukunftschancen, insbesondere ihre späteren Berufschancen wahrnehmen können.
Eine qualifizierte Ausbildung sicherzustellen ist aber
auch deshalb eine der wich tigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben, weil sich Unternehmen nur mit gut ausgebildeten Menschen im internationalen Wettbewerb
behaupten können.
({1})
Nur in wettbewerbsfähigen Unternehmen wiederum
können neue, zukunftssichere Arbeitsplätze entstehen.
Wir haben in der ver gangenen Legislaturperiode
grundlegende Reformvorhaben begonnen mit dem Ziel,
die berufliche Aus- und W eiterbildung nachhaltig zu
modernisieren und vor allem mehr Betriebe für die berufliche Ausbildung zu gewinnen.
({2})
Diese Politik hat in den vergangenen Jahren spürbare Erfolge gezeigt. Deshalb werden wir diesen Kurs konsequent fortsetzen. Im Übrigen werden wir in dieser Legislaturperiode das Berufsbildungsgesetz novellieren.
({3})
In diesem Jahr droht jedoch eine sehr schwierige
Lage.
({4})
Es gibt erhebliche Rückgänge bei den betrieblichen
Ausbildungsplatzangeboten: 58 000 gemeldete betriebliche Ausbildungsplätze weniger als im Vorjahr, davon allein 52 000 in den alten Ländern. Das ist wirklich
eine deutlich schwierigere Situation als im vergangenen
Jahr. Dies begründet die sehr konkrete Sor ge, dass wir
am Ende des Vermittlungsjahres 2002/2003 einer großen
Zahl von Jugendlichen kein en Ausbildungsplatz anbieten können.
Ich will und werde mich damit nicht abfinden; das
sage ich ganz klar.
({5})
Es kann und darf auf Dauer nicht sein - das sage ich genauso klar -, dass nur ein Drittel der Betriebe ausbildet.
({6})
In einem dualen System der Berufsausbildung trägt die
Wirtschaft die Hauptverantw ortung für die berufliche
Ausbildung der Jugendlichen.
({7})
Sie trägt damit auch die Hauptverantwortung für ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsplätzen.
({8})
Die Wirtschaft muss deshalb in ihrem ureigensten Interesse alle Anstrengungen un ternehmen, die Zahl der
Ausbildungsplätze zu erhöhen. W er sich als Unternehmer heute dieser V erantwortung entzieht, sägt sprichwörtlich an dem Ast, auf dem er selber sitzt.
({9})
Es ist ein schwerwiegender Fehler, dass Arbeitgeber genau dort sparen, wo es um ihre Zukunft geht: bei der
Ausbildung und der Qualifizierung von Menschen.
({10})
Denn sie brauchen diese Me nschen zwingend, wenn sie
ihr Unternehmen erfolgreich in die Zukunft steuern wollen.
Es kann und darf nicht sein, dass Zehntausende von
Jugendlichen eventuell keinen Ausbildungsplatz finden.
Deshalb muss die Wirtschaft ihrer Verantwortung gegenüber den Jugendlichen gerecht werden.
({11})
Sie muss diese Verantwortung wahrnehmen und sie darf
sich nicht davor drücken.
({12})
Ausbildungschancen dürfen auch nicht von Konjunkturlagen abhängig sein. Für die Stabilität und auch für
den Erfolg des dualen Systems ist es unverzichtbar, dass
Ausbildung auch in wirtscha ftlich schwierigeren Zeiten
nicht aufgegeben, sondern fort geführt wird und dass allen Jugendlichen, die ausgebildet werden können und
wollen, ein Ausbildungsplatz angeboten wird, so wie wir
das in der ver gangenen Legislaturperiode im Bündnis
für Arbeit vereinbart haben. Di ese Vereinbarung muss
auch dieses Jahr und für die Zukunft gelten.
({13})
Deshalb werden wir alles daransetzen, dass wieder
mehr Betriebe ausbilden un d Ausbildungsplätze nicht
abgebaut, sondern aufg ebaut werden. Das ist die Aufgabe in den kommenden Wochen und Monaten.
Ich führe bereits seit Ja nuar Gespräche mit den Spitzen der W irtschaftsverbände und den Gewerkschaften,
die im Übrigen unsere Sorge teilen. Für alle ist klar, dass
die Gewinnung von neuen Ausbildungsplätzen nur in einer gemeinsamen Aktion gelingen kann. Wir müssen gemeinsam dafür kämpfen, ausreichend Ausbildungsplätze
zu erhalten. Dazu gehört auch, in Tarifverträgen zusätzliche Ausbildungsanstrengungen zu vereinbaren, so wie
Sie das in Ihren Anträgen dargelegt haben.
Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, Tarifverträge werden nicht von der Bundesregierung abgeschlossen. Nicht die Regierung ist die
richtige Adresse, sondern die T arifvertragsparteien.
Diese Auffassung teile ich durchaus. Nicht nur ich, sondern die gesamte Bundesregierung einschließlich des
Bundeskanzlers sagen das klipp und klar.
({14})
Wir handeln in den Punkten, in denen wir handeln
können. Die Bundesregierung tut alles dafür, die Ausbildungsbereitschaft der Wirtschaft zu erhöhen und damit unser Ziel zu realisieren, dass kein Jugendlicher nach
der Schule in die Arbeitslosigkeit gerät. Unser Ziel ist es,
das zu erreichen und sicherzustellen.
Dazu gehört eine V ereinfachung des Einstiegs der
ausbildungsbereiten Betriebe in die Berufsausbildung,
wie es der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung
vom 14. März angekündigt hat. Bereits zu Beginn des
neuen Ausbildungsjahres - das heißt im Sommer 2003 werden wir die Ausbilder-Eignungsverordnung für
fünf Jahre aussetzen. Damit soll Betrieben, die bereit
und in der Lage sind, auszub ilden, der Zugang zur Ausbildung erleichtert werden. Die Kammern werden trotzdem weiterhin die Aufgabe haben, sicherzustellen, dass
die sächlichen und personellen V oraussetzungen erfüllt
sind, sodass die Qualität der Ausbildung gewährleistet
bleibt.
({15})
Es gibt konkrete Fälle wie zum Beispiel den Fall einer
Fachhochschullehrerin, die einen Betrieb gegründet hat
und an der Fachhochschule Informatik lehrt, die aber
nach der geltenden Ausbilder-Eignungsverordnung nicht
ausbilden dürfte, die sicherlich nicht im Interesse der Sache sind. Deshalb setzen wi r die Geltung der AusbilderEignungsverordnung für fünf Jahre aus. Wir werden kritisch beobachten, ob damit das gewünschte Ziel erreicht
wird. Ich denke, das ist ein richtiges, notwendiges und
wichtiges Signal an die Betriebe, um ihnen den Einstieg
in die Ausbildung zu erleichtern.
Wir werden weiterhin die Gründung von zusätzlichen Ausbildungsverbünden massiv unterstützen. Wir
haben in den neuen Bundeslä ndern sehr positive Erfahrungen mit der Schaf fung von Ausbildungsverbünden
gemacht. Wir wissen, dass sich immer mehr Betriebe so
spezialisiert haben, dass si e nicht mehr das volle Spektrum einer Ausbildung in ihrem Betrieb gewährleisten
können. Wir brauchen aber au ch diese Betriebe für die
Ausbildung. Deshalb unterstützen wir die Bildung von
Ausbildungsverbünden auch in den alten Bundesländern,
damit wir auch diese Betriebe für die Ausbildung gewinnen und wir damit den Jugendlichen weitere Ausbildungsmöglichkeiten eröffnen können.
({16})
Ein weiterer Punkt ist die Erweiterung des Programms „Kapital für Arbeit“ der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Damit können k ünftig Betriebe und Unternehmen, die zusätzliche Ausbildungsplätze bereitstellen,
einen zinsgünstigen Investitionskredit beantragen.
Auf die besonders schwierige Situation in den neuen
Bundesländern haben wir sofort reagiert. W ir haben die
zwischen Bund und Ländern vereinbarte Absenkung auf
maximal 12 000 zu fördernd e Ausbildungsplätze für
2003 ausgesetzt. Wir werden also auch in diesem Jahr
14 000 zusätzliche Ausbildungsplätze im Rahmen dieses
Programms finanzieren.
({17})
- Nein, sorry. Das ist bereits in den Haushaltsverhandlungen im Februar von mir angekündigt worden.
({18})
Ich hoffe, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen damals
zugehört haben. Den Minist erpräsidenten habe ich das
bereits Ende letzten Jahres gesagt.
Ich will allerdings eines kl arstellen, lieber Kollege:
Wir können nicht auf Dauer vonseiten des Staates und
der Bundesregierung die Ausbildungsverantwortung der
Wirtschaft übernehmen. W ir können nicht ausbilden.
Wir brauchen die W irtschaft und die Betriebe. Das ist
ihre ureigenste V erantwortung. Daran lasse ich auch
nicht rütteln.
({19})
Frau Kollegin Bulmahn, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kretschmer?
Das war ja schon eine Zwischenfrage.
Erlauben Sie die Zwischenfrage?
Ich erlaube noch eine Zwischenfrage.
Bitte schön, Herr Kretschmer.
Frau Ministerin, ich habe Sie schon das letzte Mal gefragt und Sie haben nicht geantwortet. Deshalb stelle ich
die Frage noch einmal.
({0})
- Das glaube ich nicht. Ich habe die Antwort nicht vernommen.
Was ist der Grund dafür, dass die Firmen nicht ausbilden? Sie tun so viel. Es ist so wichtig für die Unternehmen. Trotzdem - das sagt uns das Arbeitsamt - brechen
in diesem Jahr 16 Prozent der Lehrstellen weg. W as ist
Ihrer Meinung nach der Gru nd dafür, dass die Firmen
nicht mehr ausbilden können?
Erster Punkt. Es gibt zu m Beispiel einen dramatischen Einbruch bei den Ausbildungsstellen der Banken
und in der Finanzwirtschaft. Ich halte die Entscheidung,
die von den Banken und der Fi nanzwirtschaft getroffen
worden ist, für falsch.
({0})
Denn ich erwarte von jedem kleinen Handwerksbetrieb
und appelliere auch an ihn, dass er ausbildet, und zwar
auch über den Bedarf hinaus. Genau das Gleiche erwarte
ich - das sage ich ausdrücklich - von großen Banken.
({1})
Zweiter Punkt. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass
eine duale Berufsausbildung nur dann funktioniert,
wenn man auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ausbildet und gerade an Investitionen in die Zukunft nicht
spart.
({2})
Genauso wenig wie wir bei unseren Haushaltsentscheidungen nicht an Investitionen in die Zukunft sparen dürfen, dürfen auch Unternehmen nicht daran sparen. Deshalb ist es falsch, wenn Unternehmen dann, wenn es
ihnen nicht so gut geht, nicht ausbilden oder wenn Unternehmen, denen es wirtschaftlich durchaus gut geht - das
gibt es auch -, trotzdem nicht ausbilden, sondern versuchen, die ausgebildeten F achkräfte woanders herzubekommen.
({3})
Das ist eine Haltung, die nicht vertretbar ist. Denn wir
haben nur dann ausgebildete Fachkräfte, wenn jedes Unternehmen bereit ist, seinen Beitrag dazu zu leisten.
Wenn aber nur ein Drittel der Betriebe ausbildet - ich
nenne die Zahl noch einmal -, zeigt das sehr deutlich,
dass nicht jedes Unternehmen seiner V erantwortung in
dem Umfang gerecht wird, wie es notwendig wäre.
({4})
Ich sage ausdrücklich: Ein Unternehmen, das nicht ausbildet, denkt nicht an seine Zu kunft; denn es kann nicht
darauf bauen, dass andere Unternehmen für dieses Unternehmen die Ausbildungsv erpflichtung und -verantwortung übernehmen.
({5})
Deshalb werden wir unsere Anstrengungen fortsetzen. Wir wollen gerade Ju gendlichen mit schlechteren
Startchancen, die zum Beispiel sehr schlechte schulische
Voraussetzungen haben, durch spezielle Fördermaßnahmen wie zum Beispiel unser BQF-Programm einen erfolgreichen Start in das Berufsleben ermöglichen. Auch
diese Jugendlichen brauchen eine Berufsausbildung. Wir
wissen, dass wir ihnen jetzt und in Zukunft staatliche
Unterstützung anbieten müssen. Das tun wir auch, zum
Beispiel mit Hilfe dieses Programms.
Zusätzlich eröffnen wir diesen Jugendlichen durch die
Entwicklung von Qualifikationsbausteinen einen weiteren Weg. Das ist ein zusätzliches Angebot, um diesen
Jugendlichen den Zugang zu Ausbildung und zu Beschäftigung zu erleichtern. Es kommt zu keiner Absenkung der Ausbildungsqualität in der Breite. Aber über
den über Bausteine organisierten Zugang zu einer vollen
Berufsausbildung oder im Notfall zu anerkannten T eilqualifikationen bietet sich die Möglichkeit des Einstiegs
in eine Beschäftigung.
({6})
Ich bin sehr zuversichtlich, dass es uns mit diesen und
weiteren Initiativen gelingen kann, auch in diesem Jahr
eine ausgeglichene Ausbildungsplatzbilanz zu erreichen.
Entscheidend ist ein deu tlich verstärktes Engagement
der Wirtschaft selbst. Etwa s anderes werden wir nicht
akzeptieren.
({7})
Meine sehr geehrten Herren und Damen, wir brauchen natürlich auch Ausbildungsberufe, die dem Bedarf
der Wirtschaft und dem Anspruch der Jugendlichen auf
eine Ausbildung zu qualifizierten Fachkräften entsprechen.
({8})
Deshalb haben wir in den letzten vier Jahren
56 Ausbildungsordnungen modernisiert und 18 neue
Ausbildungsberufe geschaffen.
({9})
Diesen Modernisierungsprozess werden wir so wie in
der Vergangenheit auch weiterhin mit Nachdruck vorantreiben. Zur Modernisierung der Prüfungen erproben wir
zurzeit zweistufig gestreckte Prüfungen in einer größeren Zahl von Ausbildungsberufen.
Als Antwort auf die Globalisierung muss die Berufsausbildung internationaler und vor allem europäischer
werden. Ein wichtiges Ziel ist die Schaffung eines europäischen Bildungsraumes. Dazu gehören die Anerkennung, die Anrechnung und die Transparenz von Qualifikationen und Abschlüssen. Dazu gehört es aber auch, zu
mehr Mobilität zu kommen und vor allem, den Auszubildenden die Möglichkeit zu geben, einen T eil ihrer
Ausbildung im Ausland absolvieren zu können und diesen Teil der Ausbildung anerkannt zu bekommen. Das
werden wir in der Novelle des Berufsbildungsgesetzes
entsprechend aufgreifen und gestalten.
Meine sehr geehrten Herren und Damen, die Qualität
unseres Berufsbildungssystems schneidet im internationalen Vergleich nach wie vor gut ab. Das soll auch so
bleiben. Mehr Attraktivität, höhere Qualität, höhere Ausbildungsbereitschaft und damit mehr Ausbildungsplätze,
das sind die Ziele, die ich bei allen Schritten verfolge.
({10})
- Gibt es eine Wortmeldung?
Frau Ministerin, Sie erwart en schon fast eine Zwischenfrage. Der Kollege Fuch s ist so freundlich, Ihnen
eine Zwischenfrage stellen zu wollen. - Bitte schön,
Herr Fuchs.
Frau Ministerin, ist Ihnen bekannt, wie viele Unternehmen in diesem Jahr in Deutschland Pleite gehen werden und wie viele Ausbildungsplätze dadurch verloren
gehen?
Das ist mir bekannt. Mir is t aber auch bekannt, wie
viele Unternehmen in Deutschland gegründet werden.
({0})
Diese Zahl übersteigt die Za hl der Insolvenzen. Damit
auch die neu gegründeten Unternehmen ausbilden können, haben wir gerade beschlossen, die Ausbilder -Eignungsordnung außer Kraft zu setzen. Ich sage ausdrücklich: Es ist schlichtweg zu wenig, wenn nur ein Drittel
der bestehenden Betriebe ausbildet. Wir müssen - daran
kommen wir nicht vorbei - di e Zahl der Betriebe, die
ausbilden, erhöhen, und zwar in allen Bereichen; das gilt
vor allem für den Dienstleist ungsbereich, aber auch für
das Handwerk.
({1})
Das muss unser gemeinsames Ziel sein und ich hof fe,
lieber Kollege, dass es ta tsächlich unser gemeinsames
Ziel ist. Jeder von uns muss in seinem V erantwortungsbereich alles dafür tun, dass das gelingt.
({2})
Die CDU/CSU-Fraktion hat einen umfangreichen Forderungskatalog vorgelegt. Das hat mich etwas erstaunt;
denn offensichtlich hat si e nicht zur Kenntnis genommen, dass die Bundesregierung in allen Bereichen, auf
die die CDU/CSU-Fraktion eingeht - ich habe keinen
einzigen Bereich gefunden, auf den das nicht zutrif ft -,
längst handelt. Damit hat sie einen Katalog vor gelegt,
der beschreibt, was wir getan haben. Das freut mich. Es
würde mich aber noch mehr freuen, wenn Sie erkennen
würden, dass das bereits gewährleistet ist. Mit Ihren Forderungen sagen Sie ja ausdrü cklich, dass es richtig war .
Ich denke, gerade die Bildungs- und Forschungspolitiker
sollten sich nicht die Blöße geben, etwas zu fordern, was
bereits geleistet worden ist.
Ich halte es wirklich für nicht verantwortbar, dass Sie
völlig falsche Zahlen in den Raum werfen; das geht
nicht.
({3})
Sie wissen so gut wie ich, dass wir die Erhebungen des
BiBB heranziehen müssen, wenn wir ein realistisches
Bild über die Zahl der neu abgeschlossenen Berufsausbildungsverträge gewinnen wollen, da die Zahlen der
Kammern nur in diese Erhebungen eingehen. Danach
haben bis zum 30. September des ver gangenen Jahres
572 227 Jugendliche eine Ausbildung begonnen. Damit unterschlagen Sie in Ihren Presseerklärungen
230 000 Verträge.
({4})
Diese lassen Sie einfach unte r den Tisch fallen, um billige Effekte zu erzielen. Ich sage ausdrücklich: Das ist
ein nicht akzeptables Verhalten.
({5})
Lassen Sie das einfach sein! Denn damit motivieren Sie
keinen einzigen Betrieb und auch die Jugendlichen nicht.
Sie sollten lieber mit Fakten argumentieren. Auch ohne
dass man so vorgeht, wie Sie es getan haben, gibt es genug für uns zu tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sagte es bereits:
Wir werden die Schwerpunkte unserer Reformagenda
durch eine entsprechende Novellierung des Berufsbildungsrechts flankieren. Bei allen Zielsetzungen und Reformen, die wir durchführen, ist es wichtig, immer die
doppelte Zielsetzung der Be rufsausbildung im Auge zu
haben, nämlich erstens, En twicklungs- und Beschäftigungschancen für alle Menschen zu eröf fnen, und zweitens, zugleich eine bedarfsg erechte Qualifizierung für
die Wirtschaft zu ermöglichen. Das ist die Leitlinie unserer Politik. Hierfür werbe ich um Unterstützung.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katherina Reiche von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! In Deutschland sind 562 000 junge Menschen
ohne Arbeit. Das sind 56 700 mehr als vor einem Jahr .
Hinzu kommen noch einmal 558 000 junge Menschen in
Ersatzmaßnahmen.
Frau Ministerin Bulmahn, aufgrund Ihrer Politik erwarten wir in diesem Jahr 42 000 Unternehmenspleiten.
Das bedeutet noch einmal ein Minus von 40 000 bis
50 000 Ausbildungsplätzen.
({0})
Im März standen deutschlandweit rund 541 700 Ausbildungssuchenden nur rund 393 000 Ausbildungsplätze
gegenüber. Es fehlen also rund 148 700 Lehrstellen. Allein in den neuen Ländern fehlen 105 000 Lehrstellen.
Die Lehrstellensituation ist so dramatisch wie nie zuvor.
Die Bundesregierung hätte längst handeln müssen.
({1})
Wenn ein junger Arbeitsloser auf den Internetseiten
der Bundesregierung surft, dann sieht er , dass die Bundesregierung mit dem Slogan „Wir sind gut“ wirbt. Dort
steht, dass wieder mehr Le hrstellen als Bewerberinnen
und Bewerber zur Verfügung stehen. Frau Bulmahn, die
heute veröffentlichte Statistik zeigt, dass das of fenbar
gelogen ist.
({2})
Weiterhin steht dort: Alle J ugendlichen, die können und
wollen, bekommen einen Ausbildungsplatz. Das klingt
in den Ohren der 1,1 Millionen Jugendlichen ohne Lehrstelle bzw. Arbeit wirklich wie Hohn.
An dieser dramatischen La ge trägt die Bundesregierung eine Mitverantwortung. Sie hat die Brisanz der Situation regelrecht verschlafen. Mit unseren Anträgen zur
Lehrstellenproblematik wollen wir die Bundesregierung aufrütteln und ihr Beine machen, damit sie ihre
Aufgaben angeht und aus der Lethargie herauskommt.
({3})
Zu lange hat sich die Bundesregierung mit scheinbar positiven Statistiken geschmückt und wurden Jubelarien
gesungen und dabei dringend notwendige Maßnahmen
versäumt. Die Entwicklung war bereits im Frühjahr2002
absehbar. Das Lehrstellenproblem ist nicht über Nacht zu
uns gekommen. Es hat aber ni cht in die T aktik für den
Bundestagswahlkampf gepasst. Deshalb wurde ein
Mantel des Schweigens darü ber gebreitet. Nun werden
die Jugendlichen von den Versäumnissen rot-grüner Politik umso härter eingeholt: minus 6,5 Prozent bei den neu
abgeschlossenen Ausbildungsverträgen im deutschen
Handwerk zum 31. Dezember 2002 und minus 7 Prozent
bei neu abgeschlossenen Au sbildungsverträgen in diesem Jahr.
Die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe in
Deutschland - das haben Sie ausgeführt, Frau Ministerin ist rapide gesunken, weil die Belastungen für die Unternehmen so hoch wie nie zuvor sind.
({4})
Besonders gravierend ist die Situation in den neuen Ländern. Das Ausbildungsstellenangebot hat sich nochmals
deutlich verringert. Gegenüber dem V orjahr wurde jede
zehnte betriebliche Ausbildungsstelle nicht mehr gemeldet. Hinter diesen dramatischen Zahlen verber gen sich
immer Einzelschicksale.
Nicht nur die Schere zwischen den gemeldeten freien
Ausbildungsplätzen und der Nachfrage der Jugendlichen
nach betrieblicher Ausbildung klaf ft dramatisch auseinander. Es kommt noch etwas hinzu: V on den
711 000 Bewerbern um einen Ausbildungsplatz schaf ften am Ende des letzten Jahres nur 48,2 Prozent den
Sprung in eine reguläre Ausbildung. W eit über
50 Prozent der Jugendlichen bekamen wie schon in den
Jahren davor Ersatzmaßnahmen angeboten. Auch der öffentliche Dienst bildet deutlich weniger aus.
Die rot-grüne Politik ist dafür verantwortlich, weil sie
die Rahmenbedingungen für den Lehrstellenmarkt setzt.
JUMP hat sich als Irrweg erwiesen. Jährlich 1 Milliarde
Euro wurde in das Programm gepumpt. Die Bilanz?
11,2 Prozent der Teilnehmer an JUMP sind in eine Vollbeschäftigung gekommen, 10,2 Prozent gelangten in
eine betriebliche Ausbildung - viel Geld und wenig Wirkung.
({5})
Unsere Jugendlichen brauchen betriebliche Lehrstellen.
Nur so haben sie eine wirk liche Chance, auf dem ersten
Arbeitsmarkt Arbeit zu finden.
({6})
In Anbetracht dieser sc hwierigen Situation müssen
zwei Dinge geschehen: Erstens. W ir brauchen eine Modernisierung der berufliche n Ausbildung. Hier müssen
Wege weitergegangen werden. Zweitens. W ir brauchen
durch eine steuerliche Entl astung der Ausbildungsbetriebe und den Abbau von Bü rokratie die Stärkung des
ersten Lehrstellenmarktes.
Zur Modernisierung der betrieblichen Ausbildung.
Wenn das System der dualen Ausbildung - Frau Ministerin, ich gebe Ihnen voll kommen Recht, dass dieses
System im internationalen Vergleich gut ist - in der modernen Informations- und Dienstleistungsgesellschaft attraktiv und wettbewerbsfähig bleiben soll, dann müssen
weitere strukturelle Veränderungen vorgenommen werden. Es geht um die Ausbil dungsordnungen hinsichtlich
der Ausbildungsdauer und Praxisorientierung. Es geht
um Wahlpflichtmodule und W ahlmodule, um Inhalte,
Methoden, Ausbildungsformen und Prüfungen. Es geht
um den Ausbildungsrahmen, der regelmäßig an wirtschaftliche Veränderungen angepasst werden muss.
Nehmen Sie zum Beispiel das Berufsbild des Verkäufers in einer Dienstleistungsg esellschaft. Es ist veraltet.
Freizeitberufe oder IT -Berufe sind ähnliche Beispiele;
denn die letzte Modernisierung liegt schon fünf Jahre zurück. Ich meine damit ausdrücklich nicht die Modernisierung der Aufstiegsfortbildung, sondern die erste
Berufsqualifikation. Die Ausbildungsfähigkeit und -bereitschaft der Unternehmen müssen gefördert werden.
Dazu gehört auch die Mode rnisierung der Ausbilder Eignungsverordnung. Frau Bulmahn, Sie haben am Mittwoch Ihre Vorschläge bekannt gegeben - unser Antrag
dazu ist schon ein bisschen länger auf dem Tisch -, die
beim DGB sofort auf W iderstand stießen, wonach all
diese Regelungen nicht machbar seien. Ich bin gespannt,
wie Sie sich in dieser Situation mit dem DGB auseinander setzen.
Gewerblich-technische Berufe, wie sie zum Beispiel
im deutschen Handwerk vo rhanden sind, müssen für
Auszubildende attraktiver gestaltet werden.
({7})
Für diese Berufe muss gerade wegen ihres hohen Beschäftigungspotenzials verstärkt geworben werden.
Ebenso benötigen wir theoriegeminderte Berufe für Jugendliche ohne Schulabschluss. Vom Bundesinstitut für
Berufsbildung wird vorgeschlagen, dass ein einheitlicher
Berufsbildungspass eingeführt werden soll. Das unterstützen wir. Frau Ministerin , Sie sollten auch mit den
Unternehmen über die Präsenztage in den Berufsschulen
sprechen, die viele Unternehmen als Belastung empfinden.
Die Bundesregierung hat die jungen Menschen mit ihren Sorgen allein gelassen. Das Versprechen im Bündnis
für Arbeit, dass jeder Ausbildungswillige einen Ausbildungsplatz erhalten werde, wurde gebrochen. Auch von
der Ausbildungsplatzgarantie des Jahres 2002 hat sich
die Bundesregierung sang- u nd klanglos verabschiedet.
Nur noch auf den Internetseiten der Bundesregierung ist
davon die Rede.
Bislang haben wir von Ihnen kein Konzept gesehen.
Eine Lehrstellenabgabe, wie sie nun der Kanzler gefordert hat, ist in unseren Augen kontraproduktiv. Betriebe,
denen dafür die Voraussetzungen fehlen, würden zusätzlich belastet, andere Betrie be könnten sich davon freikaufen. Die Ausbildungsplatzabgabe schwebt wie ein
Damoklesschwert, wie eine immer währende Drohung
von Rot-Grün über den Unternehmen. Ich frage Sie: Wie
viele Abgaben, Steuern und Drangsalierungen wollen
Sie den Unternehmen noch zumuten?
({8})
Nicht Bestrafung ist erfolgversprechend, sondern Anreize zu setzen.
Auch das angekündigte Kreditprogramm ist untauglich. Kredite für Lehrstelle n sind ungefähr wie Kopfschmerztabletten gegen Lungenentzündung.
({9})
Wir setzen uns für eine spürbare Entlastung der Betriebe durch Senkung der Lohnnebenkosten ein. Der
erste Ausbildungsstellenmarkt muss gestärkt werden.
({10})
Wir brauchen betriebliche Bündnisse für Ausbildung
analog denen von uns vor geschlagenen betrieblichen
Bündnissen für Arbeit. Das geht an die Adresse der T arifpartner. Wir brauchen in den T arifverträgen flexible
Regelungen zur Ausbildung svergütung. Das schließt
auch Tariföffnungen ein. Manchmal ist weniger Geld
besser, als ohne Ausbildungsplatz dazustehen.
({11})
- Ja, weil unser Unternehmen selbst ausbildet, Frau
Burchardt.
Steuern und Sozialabgaben sind umfassend zu senken
und mit dieser Entlastung is t ein größerer wirtschaftlicher Spielraum für neue Au sbildungsplätze in den Unternehmen zu schaffen.
Das erfolglose JUMP-Programm sollte beendet werden. Die frei werdenden Mittel können direkt den Unternehmen zugute kommen. Sie können sie auch verwenden, um den Arbeitslosenversicherungsbeitrag zu
senken. Auch damit wäre zum Beispiel personalintensiven Unternehmen geholfen.
Natürlich ist das Angebot betrieblicher Ausbildungsplätze von der Zahl der Arbeitsplätze und von der W irtschaftskonjunktur abhängig. Beides ist unter Rot-Grün
auf Talfahrt. Diese Entwickl ung darf jedoch nicht auf
dem Rücken der Jugendliche n abgeladen werden. Deshalb lautet mein dritter, grundsätzlicher Vorschlag: Klinken putzen, und zwar für je den einzelnen zusätzlichen
Ausbildungsplatz.
({12})
Die Fachverbände und ihre Präsidenten, der DGB und
seine Einzelgewerkschaften mit ihren V orsitzenden und
Verantwortlichen, die Bundesregierung und die Landesregierungen mit ihren zuständigen Ministern sollten vor
Ort bei Betrieben und V erwaltungen um Ausbildungsplätze werben. Das gilt natü rlich auch für jeden einzelnen Abgeordneten.
Es ist höchste Zeit zum Ha ndeln. Sie verspielen die
Chancen der jungen Generation im V ergleich mit anderen Volkswirtschaften. Das beginnt mit der Schulbildung
und endet mit dem ersten Arbeitsmarkt. Die Zeit der Ankündigungen muss nun schnel lstens durch die Zeit der
Taten abgelöst werden.
({13})
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Grietje Bettin vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
einem sind wir uns hoffentlich alle einig: Wir wollen jedem jungen Menschen eine Ausbildung in dem Beruf ermöglichen, den er oder sie sich wünscht.
({0})
Diesem Ziel wollen wir trotz der konjunkturellen Krise
möglichst nahe kommen. Gleichzeitig wollen wir eine
flexible Ausbildungsstruktur schaffen, die auf neue Gegebenheiten, zum Beispiel auf die zunehmende Internationalisierung oder den technischen Fortschritt, reagiert.
({1})
Dabei müssen wir gerade für benachteiligte junge Menschen und solche mit Lernschwierigkeiten die Chance zu
einer qualifizierten Ausbildung bewahren, zum Beispiel
durch die Schaffung von anr echenbaren Qualifizierungsbausteinen. Eine solche Modularisierung, wie sie
in unserem Antrag, aber auch in den Anträgen der CDU/
CSU und der FDP angedeutet wird, ist für uns ein wichtiger Baustein in der beruflichen Bildung.
Trotz vieler Bemühungen drängt es junge Frauen leider immer noch in die klassischen Frauenberufe. Fast
80 Prozent eines jeden Ausbildungsjahr gangs wählen
zwischen nur zehn Berufen. Ganz typisch sind hier Friseurin oder Krankenschwester. Dabei gibt es fast 400 andere Möglichkeiten. Wir wollen durch eine bessere Beratung gezielt auf andere zukunftsfähige Berufe
hinweisen, gerade auch im naturwissenschaftlichen und
technischen Bereich.
({2})
So viel zur Vision, nun zum Konkreten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von de r Union, Ihren Antrag habe
ich natürlich mit Interesse gelesen.
({3})
Sie wollen mit - ich zitiere - „vernünftigen Regelungen
zur Ausbildungsvergütung“ mehr Ausbildungsstellen
schaffen. Wollen Sie wirklich neue Ausbildungsplätze
finanzieren, indem Sie de n Jugendlichen das ohnehin
schon knappe Geld kürzen?
({4})
Aber Sie gehen noch weiter. Sie fordern in Ihrem Antrag ernsthaft, dass die für Jugendliche bestimmten Fördermittel des JUMP-Pr ogramms zur Senkung der
Lohnnebenkosten genutzt werden sollen.
({5})
So viel zum Thema Generationengerechtigkeit. Eine
solche Umverteilung zulasten der jungen Generation
machen wir jedenfalls nicht mit.
({6})
Und nun einige W orte zum Antrag der FDP . Es kann
nicht unser Ziel sein, dass die jungen Menschen unter
dem Etikett einer Ausbildung nur noch für die Bedürfnisse eines einzelnen Betriebes angelernt werden, wie es
Ihr Antrag zur Folge hätte. Der Arbeitnehmer, der sein
Leben lang in einer Firma arbeitet, gehört der V ergangenheit an. Gerade deshalb wollen wir den Jugendlichen
eine vielseitige Qualifikation an die Hand geben, die ihnen eine vernünftige Perspektive im Job bietet. Eine
Ausbildung muss so weit standardisiert und objektiviert
sein, dass sie auch für andere Arbeitgeber interessant ist.
Ein sehr ernst zu nehmende s Problem ist, dass laut
IHK derzeit jeder zehnte Betrieb keine qualifizierten Bewerberinnen und Bewerber zur Ausbildung findet. Dabei
spielen die von PISA aufgezeigten Bildungsdefizite eine
Hauptrolle.
({7})
Bund und Länder müssen Hand in Hand gemeinsame
Bildungsstandards erarbeiten, damit wir das allgemeine
Bildungsniveau mittelfristig wieder auf einen akzeptablen Stand bringen.
Im Februar 2003 gab es mehr als 54 000 Ausbildungsplätze weniger als im Februar 2002. Doch was sind
wirklich die Ursachen? Nicht für alle trägt die Politik die
Hauptverantwortung. So bilden zum Beispiel nur
30 Prozent der Betriebe aus. Hier ist aus unserer Sicht
auch die Wirtschaft in die Pflicht zu nehmen. Wir müssen analysieren, wie sich di e Kosten für die Ausbildung
seit 1969 immer mehr auf die öffentliche Hand verlagert
haben.
({8})
Wir Grünen wollen weitere Anreize dafür schaf fen,
qualifizierte Ausbildungsplätze bereitzustellen. W enn
sich die Einsicht nicht durc hsetzt, dass die Ausbildung
von qualifiziertem Personal letztendlich der W irtschaft
selbst zugute kommt, müssen wir notfalls auch gesetzgeberisch aktiv werden.
({9})
Wir wollen Betrieben aber nicht die Möglichkeit geben,
sich von ihren Ausbildungspflichten freizukaufen. Ziel
muss es bleiben, so viele betriebliche Ausbildungsstellen
wie möglich zu schaffen.
Aus grüner Sicht ist es da rüber hinaus dringend notwendig, den Auszubildenden auch den Weg nach Europa
zu öffnen. Dazu brauchen wir unter anderem eine Zertifizierung von Ausbildungsmodulen und die Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend noch eine et was versöhnlichere Bemerkung
machen: Die Unterschiede in den Anträgen scheinen mir
durchaus überbrückbar zu sein, sodass wir uns im Ausschuss letztendlich vielleicht doch auf eine gemeinsame
Linie für die Zukunft der beruflichen Bildung in
Deutschland einigen können.
({10})
Im Interesse der jungen Menschen sollten wir uns in der
so wichtigen Frage der Ausbildungsreform nicht gegenseitig blockieren.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
20 Prozent der Schulabgänger in Deutschland sind nicht
ausbildungsfähig. Rund 14 Prozent haben keinen Berufsabschluss. Das sind die Sozialfälle von mor gen. Ziel
der Politik muss es sein, Rahmenbedingungen dafür zu
schaffen, dass gerade junge Menschen in diesem Land
einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz finden.
({0})
In diesem Zusammenhang muss ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierungsbank, bescheinigen,
dass Sie das Ausbildungs- und Arbeitsplatzdesaster in
diesem Land zu verantworten haben. Sie haben Reformen verschlafen, und zwar ni cht nur in der Wirtschaftsund Steuerpolitik, sondern gerade auch in der Bildungspolitik. Eine Reform der beruflichen Bildung ist überfällig. Wir reden schon seit der vorigen Legislaturperiode davon.
({1})
- Wir haben bereits im Mai 2001 einen konkreten Antrag
vorgelegt. Bitte nehmen Sie das endlich zur Kenntnis!
Frau Bulmahn, wenn Sie die W irtschaft in diesem
Land anklagen, dass sie ihrer Verantwortung nicht nachkommt und keine Ausbildungsplätze schaf ft, dann halte
ich das für verantwortungslos von dieser Regierung.
({2})
- Es ist nicht berechtigt, He rr Tauss. Vielmehr sind das
die Auswüchse Ihrer verfehlten rot-grünen Finanz- und
Steuerpolitik und Ihres Bürokratiewustes.
({3})
80 Prozent aller Ausbildun gsplätze entstehen im
Handwerk bzw. in kleinen und mittelständischen Unternehmen. Diese belasten Sie seit Beginn Ihrer Regierung
mit immer mehr Bürokratie und Steuern.
({4})
Zurzeit wird im V ermittlungsausschuss immer noch
über das Steuerver günstigungsabbaugesetz mit einer
Mehrbelastung der Wirtschaft in Höhe von 15 Milliarden
Euro verhandelt. Das muss endlich aufhören! Dann erhalten junge Menschen in diesem Land auch eine
Chance auf einen Ausbildungsplatz.
({5})
- Herr T auss, das ist kein grober Unfug, sondern die
Wahrheit. Aber die wollen Sie ja nicht hören. Zurzeit
fehlen 110 000 Ausbildungsplätze. 500 000 Jugendliche
befinden sich derzeit in Er satzmaßnahmen, wie gestern
Herr Alt vom Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit im
Ausschuss für Bildung, Fo rschung und Technikfolgenabschätzung mitteilte. Da Sie selbst anwesend waren,
sollten Sie sich erinnern.
Die Chancen der Hauptschulabgänger auf dem Ausbildungsmarkt haben sich besonders verschlechtert. Ihr
Anteil an den unvermittelten Bewerbern stieg auf nunmehr 39,6 Prozent. Das sind rund 2 Prozent mehr als im
Vorjahr. Die Jugendarbeitslo sigkeit - Frau Reiche hat
bereits darauf hingewiesen - stieg dreimal so stark an
wie die allgemeine Arbeitslosigkeit. Das ist das Ergebnis
Ihrer Politik. Wenn Sie in Ihrem Antrag, liebe Kollegen
von der SPD und den Grünen, für eine finanzielle Beteiligung nicht ausbildender Be triebe werben, also schon
wieder eine Ausbildungsplatzabgabe von mittelständischen Betrieben in Erwägung ziehen, dann halte ich das
für fatal. So kommen wir in diesem Land nicht weiter.
({6})
- Herr Tauss, begreifen Sie bitte endlich, dass 80 Prozent
aller Ausbildungsplätze nicht in Konzernen und Großbetrieben, sondern in kleinen und mittelständischen Betrieben zu finden sind.
Der Anlass unserer heutigen Debatte ist in erster Linie
ein bildungspolitischer und nicht ein wirtschaftspolitischer.
({7})
- Genau, das hängt zusammen . Arbeit und Bildung bedingen in einer W issensgesellschaft einander und sind
nicht voneinander zu trennen.
Deswegen wollen wir heute über die bildungspolitischen Ansätze der Anträge diskutieren. W ir haben eine
zweijährige Grundausbildung mit Qualifizierungsbausteinen und einen lebenslang gültigen Ausbildungspass
vorgeschlagen. Wir wollen - das haben auch Sie, Frau
Bulmahn, vorgeschlagen - die Berufsausbildung internationalisieren, indem wir bestimmte T eilqualifikationen,
so genannte Ausbildungsmodule bzw . -bausteine, im
Ausland erwerben und mit einem Credit-Point-System
für die Berufsausbildung anerkennen lassen.
({8})
Handeln ist gefragt. Wir müssen das Berufsbildungsgesetz endlich reformieren und dürfen nicht länger zögern. Auch Sie sind hier gefordert. Wir werden Sie gerne
dabei unterstützen, wenn es darum geht, diese bildungspolitische Reform auf den Weg zu bringen.
({9})
Bitte sagen Sie nicht wieder - ich kann mir gut vorstellen, dass auch Ihre Gewerkschaftskollegen diesen V orwurf erheben werden -, eine zweijährige Grundausbildung sei eine Schmalspurausbildung. W ir diskutieren
nun schon seit Jahren mit den Wirtschaftsverbänden und
dem Mittelstand, aber auch mit dem Bundesinstitut für
Berufsbildung darüber. Professor Dr. Pütz, Generalsekretär dieses Instituts, ha t in einer Anhörung gesagt,
eine Neuordnung müsse dazu führen, dass nach zwei
Jahren ein erster theoriegem inderter Abschluss möglich
sei, der einerseits zur Gese llen- oder Facharbeiterprüfung befähige und der andererseits den Einstieg in einen
einfacheren Beruf ermögliche, natürlich immer verbunden mit der Aufforderung, sich später voll zu qualifizieren. Er erklärte unter großer Zustimmung der anwesenden Vertreter der Handwerks- und Industrieverbände,
dass diese Aufteilung bei der überwiegenden Zahl der
Berufe möglich sei. Ich weiß nicht, warum sich die Gewerkschaften dagegen sperren. Es ist doch besser, mit einer zweijährigen Grundausbi ldung den Einstieg in den
Arbeitsmarkt zu erreichen, als ohne Ausbildung den Abstieg in die Sozialhilfe zu erleiden. Das muss das Ziel
sein.
({10})
Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Ich kann
Sie, meine Damen und Herren von der Regierung und
auch die Vertreter der Gewe rkschaften, nur auf fordern,
den Weg, den die FDP vor geschlagen hat, zu beschreiten. Es geht uns - das wird dringend benötigt - um mehr
Attraktivität der beruflichen Bildung. Wir brauchen auch
eine Internationalisierung der Berufsausbildung. Bundeskanzler Schröder hat im Jahr 2002 allen Jugendlichen
eine Ausbildungsplatzgarantie gegeben. Diese werden
wir nicht einhalten können, we nn es in der beruflichen
Bildung so weitergeht. Wir brauchen eine größere Differenzierung und Flexibilisierung der Berufsausbildung.
({11})
Wir sind mit diesem starren System nicht in der Lage,
mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. Das muss man einfach zur Kenntnis nehmen.
Zum Glück ist nicht jeder Mensch gleich gestrickt. Jeder von ihnen ist glücklicherweise anders.
({12})
Es gibt begabte junge Menschen, die in der Theorie stark
sind, und es gibt begabte junge Menschen, die in der Praxis, zum Beispiel im Handwerk, stark sind - das muss
man anerkennen -, denen man die Chance geben muss,
nach einer zweijährigen Grundausbildung einen Abschluss zu bekommen.
({13})
- Herr Tauss, unterstützen Sie unseren Antrag und unterstützen Sie endlich die Reform der beruflichen Bildung!
Hören Sie auf mit solchen unsachlichen Zwischenrufen
und hören Sie auf, die nötigen Reformen zu verhindern!
({14})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch eines erwähnen
- wir sind Bildungspolitiker -: Natürlich gehört auch die
Qualität der Schulausbildung in Deutschland schon
längst auf den Prüfstand. Da s wissen wir nicht erst seit
den jüngsten PISA-Studien. Wir Liberale haben immer
gesagt: Die Länder müssen ihre Verantwortung über Änderungen in den entsprechenden Schulgesetzen wahrnehmen; sie müssen die Schulgesetze modernisieren. Es
muss dabei um eine Konzentration auf traditionelle Kulturtechniken - Mathematik, Deutsch, Naturwissenschaften - gehen. Auch die Vermittlung von sozialen Kompetenzen ist ganz wichtig.
Ich will in diesem Zusammenhang noch ein W ort an
die Kollegen von der Union ri chten. Wir haben in diesem Haus über bundeseinheitliche Qualitätsstandards für
Schulen diskutiert. Wir wissen dank der internationalen
Bildungsstudien, dass wir bundeseinheitliche Qualitätsstandards dringend brauchen. Ich möchte Sie davor warnen, den Kurs der unionsgeführten Länder , der einen
Ausstieg aus der Bund-Länder -Vereinbarung über Bildungsplanung vorsieht, zu unterstützen. W enn wir diesem Kurs folgen, fallen wir international wieder zurück.
({15})
Wir brauchen die Bund-Länder -Vereinbarung über Bildungsplanung. Jedenfalls wir Liberale werden dafür eintreten.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Willi Brase.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die aktuelle
Ausbildungssituation
({0})
und das, was die Bundesregierung tun kann, hat Frau
Ministerin Bulmahn eindeutig dar gestellt. Es wird Sie
nicht verwundern, dass wir ihre Aktivitäten bezüglich
der Ausbildungsoffensive sicherlich unterstützen werden.
Ich möchte auf das zurü ckkommen, was in dieser
Runde teilweise dar gestellt wurde. W er in Bezug auf
JUMP so tut, als hätte dieses Programm nichts gebracht,
der hat vergessen, dass wir mit diesem zunächst steuer und dann über die BA in Nürnber g finanzierten Programm weit über 500 000 Jugendliche angesprochen haben, die sonst in der Versenkung verschwunden wären.
({1})
Auch das war eine notwendige staatlich Leistung.
Herr Tauss, möchten Sie eine Zwischenfrage stellen?
({0})
Ich dachte, Sie wollten stehend klatschen.
({1})
Herr Brase, gestatten Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Tauss? - Das ist der Fall.
Herr Tauss, Sie haben das W ort zu einer Zwischenfrage.
Frau Präsidentin, Standing Ovations kommen in diesem Hause gelegentlich vor. Auch der Kollege Brase hat
sie verdient.
Herr Kollege Brase, Sie haben gerade auf das JUMPProgramm hingewiesen. Ic h möchte Sie gerne fragen
- ich teile Ihre Einschätzung dieses Programms -, wie
Sie den Widerspruch beurteilen, der dadurch zum Ausdruck kommt, dass die Union in ihrem Antrag die Abschaffung des JUMP-Programms verlangt, gleichzeitig
aber gestern im Gespräch mit dem V izepräsidenten der
Bundesanstalt für Arbeit kritisiert hat, dass das JUMPProgramm nicht hinreichend ausgefüllt werde. Wie beurteilen Sie diesen W iderspruch im Zusammenhang mit
dem hier Ausgeführten?
Es ist sicherlich nicht meine Aufgabe, zu klären, welche Widersprüche die Union mit sich und in sich trägt.
Es fällt natürlich auf, da ss Unionspolitiker fordern,
JUMP abzuschaffen, in ihren W ahlkreisen aber gleichzeitig feststellen müssen, dass man aufgrund einer mangelnden Ausbildungsbereitschaft bestimmter Betriebe
und Branchen doch zusätzliches öf fentliches Geld
braucht, damit man einen Erfolg verkaufen kann. W er
eine solche Politik formuliert, der macht es sich, wie ich
finde, ein bisschen einfach.
({0})
Ich will in dieser Diskussion darauf eingehen, wo die
Unterschiede liegen und wo ein Systemwechsel in der
beruflichen Bildung vorbereitet werden soll. Frau Pieper,
Sie haben gesagt, Reformbedarf sei gegeben. Dem kann
ich durchaus zustimmen. Ich möchte aber darauf verweisen, dass dieser Reformbedarf nicht erst seit den letzten
fünf Jahren, sondern schon se it zehn oder 15 Jahren besteht. Die Einheit wäre eine gute Chance gewesen, auf
diesem Gebiet einige V erbesserungen auf den W eg zu
bringen.
({1})
Ich möchte nun etwas deutlicher auf die Kernaussagen Ihres Antrages eingehen. Die erste Aussage lautet:
Der Grundgedanke einer Reform ist die Gliederung
der Ausbildung in flexible Grund- und Qualifizierungsbausteine.
({2})
Dabei sollen - ich zitiere er neut - „die Ausbildungsordnungen auf Grundanforderungen“ beschränkt werden.
Ihre zweite Aussage macht dies noch deutlicher: Mit
dieser Neugliederung der Ausbildung werden den Unternehmen „Möglichkeiten eröffnet, neue Berufsausbildungen ... zu entwickeln“. Dies e Aussage, aber auch die
Diktion des Antrages im Übrigen zeigen, dass die Gewerkschaften als Partner bei der Neuor ganisation außen
vor bleiben.
Die Fraktion der FDP will uns hier zwei Forderungen
präsentieren: Erstens soll das auf dem Berufskonzept basierende duale System zerlegt und durch ein System von
Grund- und Qualifizierungsb austeinen ersetzt werden.
Zweitens soll diese Zerleg ung und Ersetzung allein von
den Unternehmen auf den W eg gebracht werden. Dafür
steht die Formulierung, die Neugliederung solle „in
möglichst großer Eigenverantwortung der Unternehmen
und der Sozialpartner“ stattfinden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Pieper?
Selbstverständlich.
Herr Kollege, Sie erinnern sich sicherlich, dass ich
hier Herrn Professor Pütz, den Generalsekretär des Bundesinstituts für Berufsbildung, zitiert und mich auf eine
Anhörung bezogen habe, die mit dem Zentralverband
des Handwerks und anderen Wirtschaftsverbänden stattgefunden hat. Wenn also all diese Sachverständigen eine
Grundausbildung und Qualifizierungsbausteine - Sie
selbst haben in Ihrem Antrag formuliert, dass Sie eine
Reform in diese Richtung an streben - für richtig halten,
warum stellen Sie es dann infrage? Dies ist keine reine
FDP-Position, sondern eine Position von Bildungs- und
Wirtschaftsexperten, die international vertreten wird und
die jungen Menschen mehr Chancen auf dem Ausbildungsmarkt geben wird.
Frau Pieper, Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass
wir mittlerweile 28 Ausbil dungsberufe mit zwölf Abschlüssen auf der ersten Stufe nach zwei Jahren und
16 Abschlüssen auf der zweiten Stufe nach drei Jahren
haben. Ich nenne Ihnen als ein Beispiel den Ausbaufacharbeiter mit den Ausbildungsstufen Trockenbaumonteur,
Wärme-, Kälte- und Schallschutzisolierer , Estrichleger,
Fliesen-, Platten- und Mosaikleger, Stuckateur, Zimmermann/Zimmerin, Textilmaschinenführer usw. Nur bin
ich der Auffassung - ob sie auch von anderen Verbänden
getragen wird, interessiert mich an dieser Stelle nicht -,
dass wir für die jungen Leute heute eine vernünftige und
qualifizierende Berufsausbildung brauchen, die auch das
Berufskonzept beinhaltet. Sie selber schreiben in Ihrem
Antrag, dass für lernschwächere Jugendliche die Möglichkeit gegeben sein müsse, über eine dreieinhalbjährige Ausbildungsphase das zu erreichen, was andere
vielleicht in drei Jahren schaffen. Diesen W iderspruch
müssen Sie also schon aufklären.
({0})
Ich sage ganz deutlich, dass ich glaube - das ist mir
bei Ihrem Antrag klar geworden -, dass die FDP die Beteiligung von Gewerkschaften ein Stück weit beseitigen
will. Sie will das alleinige Unternehmerrecht. Dabei fällt
mir natürlich das ein, was Ihr Parteivorsitzender und andere seit Wochen und Monaten behaupten: Die Gewerkschaften seien eine Plage für unserer Land. Der Kurs, der
auch in diesem Antrag zu m Ausdruck kommt, belegt,
dass nicht die Gewerkschaft en, sondern Sie die T otengräber unseres Systems der beruflichen Bildung sind.
({1})
Sie haben Qualifizierungsbausteine und -module und
im Zusammenhang damit den Streitpunkt der V erkürzung der Ausbildungsdauer angesprochen. Darauf bin
ich eben eingegangen. Ohne Zweifel brauchen wir die
Flexibilisierung der Ausb ildungswege und die Er gänzung der Ausbildungsordnung durch mehr Bausteine gerade für lernschwache und arbeitsmarktferne Jugendliche.
({2})
Ich glaube aber , dass die Op position dies nicht richtig
wertet. Die Bundesregierung tut auf diesem Feld ihre
Pflicht. Sie will die Möglichke iten gestufter Ausbildung
ausbauen, wie sie heute sc hon nach § 26 BBiG existieren; Beispiele dazu habe ich eben dargelegt.
Allerdings hat dies aus un serer Sicht innerhalb des
Systems des Berufskonzeptes stattzufinden. Diese Abstufungen und Qualifizier ungsbausteine müssen genau
zu dem Ziel führen, dass am Ende die Beruflichkeit und
das Berufskonzept stehen, damit gerade jüngere Leute
mit Schwächen ebenfalls eine Chance haben, ihre Beschäftigungsfähigkeit langfristig auch durch lebensbegleitendes Lernen zu behalten bzw. immer wieder zu erlangen.
({3})
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU singt in ihrem Antrag unter anderem das Lied der Erprobungsverordnungen nach § 28 BBiG; sie zielt auf die Möglichkeit,
Ausbildungsordnungen ohne Konsens der Sozialpartner
zu erlassen. Dies sollten wir nur in Ausnahmefällen zulassen; denn wir sind der Au ffassung, dass dadurch die
Situation auf dem Ausbildungs stellenmarkt nicht relevant verändert wird. Mögliche rweise haben Sie aber etwas anderes im Hinterkopf und wollen auch hier ein
Stück weit einen Systemw echsel auf den W eg bringen.
Ich bleibe dabei: Ein Sammelsurium von Bausteinen und
Modulen können wir nicht gebrauchen; vielmehr sollten
und müssen wir dies gemein sam mit den Sozialpartnern
- dazu gehören natürlich die Gewerkschaften - vernünftig auf den W eg bringen. Dies ist notwendig und wird
auch geschehen.
Ich glaube, dass die Diskussion über die Finanzierungsfrage in den nächsten W ochen und Monaten spannend werden wird. Wenn wir uns die vorläufigen Berechnungen des BIBB und des Bundesministeriums für
Bildung und Forschung zu Gemüte führen, dann stellen
wir fest, dass die Unternehme n, die derzeitig ausbilden,
dafür netto circa 14 Milliarden Euro aufwenden. Die öffentliche Hand - Bund, Länder, Kommunen und die europäische Ebene - ergänzt dies mit fast 6 Milliarden Euro.
Angesichts dessen kann ich nur sagen, dass dieses V erhältnis sehr ungesund ist und dass Unternehmen - vor
allem die, die ausbildungsfähig sind - endlich einen weiteren zusätzlichen Beitrag zur Schaf fung von Ausbildungsplätzen leisten müssen.
({4})
Man muss darüber nachdenke n, ob es hierbei nicht
Sinn macht, auch eine Bonus-Malus-Regelung auf den
Weg zu bringen. Dies bedeut ete, dass diejenigen Unternehmen, die Ausbildungsplät ze zur Verfügung stellen,
unterstützt würden und sozu sagen einen Bonus hätten,
während diejenigen, die dies ebenfalls könnten und es
aber - aus welchen Gründen auch immer - nicht machen, ein Stück weit die fina nziellen Lasten mit zu tragen hätten.
({5})
Wir können dies nicht einseitig nur der öf fentlichen
Hand, der Politik, den verschiedenen Ebenen aufbürden.
Das werden wir zukünftig nicht mehr mitmachen.
({6})
- Ich wäre etwas vorsichtig, von neuen Lasten zu sprechen. Denn ich sehe, wie dies teilweise hervorragend in
der Bauindustrie und anderen Bereichen läuft. Es gibt
also Beispiele, über die man nachdenken muss.
Lassen Sie mich noch ein, zwei Punkte ansprechen. In
der Reform der beruflichen Bildung ist wichtig, sich darüber zu verständigen, dass die Verantwortung und die
Möglichkeiten in den Regionen stärker beachtet werden.
Ich plädiere nachdrücklich dafür, dass wir die Rolle, die
Funktion und die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten der örtlichen Berufsbildungsausschüsse
erhöhen, dass wir da, wo es notwendig ist, regionale
Partner mit ins Boot nehmen. Denn ich glaube, dass sie
am besten wissen, wie berufliche Bildung umgesetzt
werden kann und wie wir es schaffen, den Menschen zusätzliche Formen und Möglichkeiten anzubieten.
Meine Damen und Herren, die aktuelle Ausbildungskrise ist nach unserer Auf fassung im Wesentlichen konjunkturbedingt. Sie kann m itnichten der Bundesregierung angelastet werden, wie es die Opposition gern tut.
Diese Krise sollte ein Anlass dafür sein, eine Of fensive
in der beruflichen Bildung zu führen. W ir haben den
Eindruck, dass seit längerer Zeit, seit Mitte der 90er Jahre, das duale System of fensichtlich an Attraktivität
eingebüßt hat. Ein wesent liches Ziel bei der Debatte
sollte sein - das werden wir auf den Weg zu bringen haben -, die Attraktivität des dualen Systems für die jungen Leute zu verbessern. Wir brauchen eine Renaissance
des Facharbeiters, der im dualen Ausbildungssystem
fachlich ausgebildeten Jugendlichen. Es muss klar sein,
dass das duale Ausbildungssystem mit seiner Dif ferenziertheit, mit dem Berufsko nzept, mit der Übertragbarkeit, auch hinsichtlich der europäischen Komponente,
eine echte Alternative zum Studium und zu einer rein
schulischen Laufbahn für junge Leute ist. W enn uns gelingt, das umzusetzen, dann - da bin ich mir sicher werden wir auch wieder me hr Ausbildungsplätze erhalten.
({7})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Frau Pieper, es tut mir Leid. Es hat schon heftig geblinkt. Möchten Sie eine Kurzintervention machen? Nein.
Dann hat der Kollege Hinsken das Wort.
Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Brase, ich pflichte Ihnen bei, wenn
Sie sich eindeutig für das duale Berufsausbildungssystem aussprechen. Da gibt es Gemeinsamkeiten. An dem
System sollte man festhalten . Verehrte Frau Ministerin
Bulmahn, es ist richtig, wenn Sie sagen, dass gerade die
Ausbildung eine der wichtigst en gesellschaftlichen Herausforderungen für uns ist. Auch darüber besteht Konsens. Diese Debatte heute is t aber angesetzt worden, um
einmal genau zu durchleuchten, wo Fehler gemacht worden sind, wo angesetzt werden muss, um wieder mehr
Ausbildungsplätze zu schaffen und vielen Jugendlichen
wieder Perspektiven zu geben, woran es momentan ja
mangelt.
Zu diesem Zeitpunkt gibt Herr Gerster im Rahmen einer Pressekonferenz die neuen Arbeitsmarktzahlen bekannt. Wenn wir leider fest stellen müssen, dass auch zu
Beginn des Frühjahrs die Arbe itslosigkeit fast nicht zurückgeht, wenn die Zahl der Arbeitslosen insgesamt bei
über 4,6 Millionen liegt, wenn 580 000 jugendliche Arbeitslose unter 25 Jahren verzeichnet werden müssen,
dann stimmt das mehr als nachdenklich; es ist katastrophal. Es ist alles zu tun, da mit das möglichst schnell geändert wird.
({0})
Es sind 580 000 Einzelschicksale junger Menschen. Das sind, verehrte Frau Ministerin Bulmahn,
212 000 mehr, als es 1998 - da haben Sie die Regierungsgeschäfte übernommen - waren.
({1})
Das Ausbildungsstellenangebot sinkt radikal, insbesondere in den neuen Bundesländern.
({2})
Im Jahr 2002 gab es 6,8 Prozent weniger Ausbildungsverträge. Viele Jugendliche verlieren den Glauben an
den Staat, weil so viel ve rsprochen wurde und zu guter
Letzt nichts gehalten wurde.
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ganz gleich,
von welcher Seite des Hauses, erleben sicherlich das
Gleiche wie ich, nämlich dass sich in den Sprechstunden, die wir immer wieder du rchführen, Eltern einfinden, die den Jungen oder das Mädchen dabeihaben und
händeringend darum ersuchen, man möge doch mithelfen, dass das Kind endlic h einen Ausbildungsplatz bekommt, den es dringend braucht, um für das Leben gerüstet zu sein. Ihnen zu helf en ist nur zum Teil möglich,
weil nur noch 30 Prozent der Betriebe ausbilden. W arum? - Weil die Lage für sie so schlecht geworden ist,
({3})
weil viele Betriebe aufgrund verfehlter W irtschaftspolitik inzwischen Bankrott gegangen sind. Daraus resultiert, dass 48 Prozent der Jugendlichen keinen Ausbildungsplatz mehr finden.
110 000 betriebliche Ausb ildungsplätze fehlen. Über
50 Prozent der Jugendlichen befinden sich nicht in regulären Ausbildungsverhältnissen, sondern in staatlich finanzierten Ersatzmaßnahmen bzw. in der Warteschleife.
Heute ist von den verschiedensten Rednern von Ihrer
Seite, aber auch von Frau Mi nisterin herausgestellt worden, dass das JUMP-Programm ein Allheilmittel für
die Jugendarbeitslosigkeit war und ist. So wurde es einmal angepriesen. In der Zwischenzeit hat es Milliarden
von D-Mark, Jahr für Jahr 1 Milliarde DM, gekostet.
Jetzt stellen wir fest, dass das JUMP-Programm nicht
das bewirkt hat, was man erwartet hat, und dass die Jugendarbeitslosigkeit damals, bevor das JUMP-Programm aufgelegt worden ist, niedriger war, als sie jetzt
ist.
Gerade für Jugendliche mit Hauptschulabschluss, die
auch eine Zukunftsperspek tive wollen, haben sich die
Chancen auf dem Ausbildungsmarkt deutlich verschlechtert. Die Bundesregierung liefert immer neue
Kreationen und auch in der Namensgebung für Gesetze
sind Sie sehr erfinderisch. So haben Sie ein Programm
„Kapital für Arbeit“ aufgelegt. Doch daran, dass Ausbildungsplätze durch Kredite finanziert werden müssen, erkennt man, dass die deutschen Ausbildungslokomotiven,
Mittelstand und Handwerk, herunter gewirtschaftet worden sind.
({4})
Heute, verehrte Ministerin Bulmahn, schlagen Sie
nun vor, die Geltung der Ausbilder-Eignungsverordnung für fünf Jahre auszusetzen. Auf einen besonderen
Nachweis der Eignung zum Au sbilder sollte Ihrer Meinung nach also verzicht et werden. Dadurch sollen
20 000 zusätzliche Ausbildun gsplätze geschaffen werden. Es ist natürlich zu be grüßen, wenn dadurch zusätzliche Ausbildungsplätze, un d zwar auf dem ersten Arbeitsmarkt, entstehen. Dass sich damit allerdings die
angespannte Lehrstellensituation verbessern lässt, ist unwahrscheinlich, denn Lehrstellen fehlen deshalb, weil
die Unternehmen aufgrund der katastrophalen W irtschaftspolitik von Rot-Grün nicht mehr in dem Maße
wie früher ausbilden. Der Rückgang bei der Zahl der
Lehrstellen liegt deshalb nicht in erster Linie an der Ausbilder-Eignungsverordnung, sondern an den katastrophalen Wirtschaftsbedingungen, die wir haben.
({5})
Gerade im Handwerk bringt eine solche Änderung auf
dem Lehrstellensektor keine Erleichterung, denn in allen
derzeit nicht ausbildenden Betrieben wird durch die
Meisterprüfung bereits das Erfordernis der berufs- und
arbeitspädagogischen Prüfung erfüllt und auch alle Existenzgründer im Handwerk, bei denen ein Betrieb von einem Meister bzw. von einer fachlich geeigneten Person
geleitet wird, bringen diese V oraussetzung mit. Das
Handwerk ist somit zunächst einmal dringend darauf angewiesen, dass es beispiel sweise durch Reformen bei
den Sozialsystemen entlastet wird. Das ist das Gebot der
Stunde.
({6})
Andere Bereiche der W irtschaft warten nun ab, wie
sich die von Ihnen angekündigten Maßnahmen konkret
auswirken. Gerade der Mittelstand hat schlechte Erfahrungen mit der Ankündigungspolitik der Regierung
Schröder gemacht, die v on Ihnen, meine Damen und
Herren, gestützt wird. Mor gens ankündigen, mittags relativieren und am Abend zurückziehen. Ich bin neugierig, wie das bei dem, was Sie jetzt wieder angekündigt
haben, läuft. Deshalb fordere ich Sie, verehrte Frau Ministerin, auf, diesen Vorschlag umgehend zu konkretisieren, damit sich die Betriebe und die einen Ausbildungsplatz suchenden jungen Mens chen darauf einstellen
können.
Der wichtigste Ausbilder in der Bundesrepublik
Deutschland - das steht ja unbestritten fest; das wurde
öfter schon zum Ausdruck gebracht - ist und bleibt der
Mittelstand. Den aber hat man nicht gepflegt, sondern
systematisch vor die W and gefahren. Insolvenzen über
Insolvenzen.
({7})
Ein Pleite gegangener Betrieb kann nämlich keine Ausbildungsplätze mehr zur Verfügung stellen.
({8})
Alleine in der Baubranche sind nämlich in den beiden
letzten Jahren über 18 000 Betriebe von der Bildfläche
verschwunden.
Ich meine, die wichtigste Maßnahme zur Schaf fung
neuer Ausbildungsplätze wäre die Herbeiführung eines
Wirtschaftsaufschwungs. Denn ohne W irtschaftsaufschwung gibt es keinen Au fschwung auf dem Lehrstellenmarkt, den wir so dringend brauchen.
({9})
Darum müssen sich unsere V orstellungen durchsetzen.
Wir müssen möglichst bald das, was S ie hier aufgelegt
haben, korrigieren.
({10})
- Herr Tauss, passen Sie ei nmal auf! Ich gehe ja davon
aus, dass Sie bei dem Antrag, den SPD und Grüne eingebracht haben, haben mitarb eiten dürfen. Da heißt es
nämlich:
In den vergangenen Jahren ist es gelungen, die Ausbildungschancen junger Menschen deutlich zu verbessern.
({11})
Das Bild, das da gezeichnet wird, ist realitätsfern und
entspricht nicht der W ahrheit. Sie leben doch in einer
völlig anderen Welt und haben den Bezug zur Realität,
also zu dem, was draußen los ist, verloren.
({12})
Der Bundeskanzler hat seinerzeit gesagt: Jeder Jugendliche, der einen Ausbildungsplatz braucht, wird einen
Ausbildungsplatz bekommen. - Diese Blase ist geplatzt.
Die Regierung, die den Karren in den Dreck gefahren hat,
kommt mit den führenden Leuten der SPD-Fraktion daher
und droht den Unternehmen, sie hätten in Zukunft eine
Ausbildungsplatzabgabe zu bezahlen, wenn sie nicht bereit seien, auszubilden. So etwas Unverfrorenes ist mir
zeit meines Lebens noch nicht untergekommen.
({13})
Ich weiß, jeder Betrieb ist be reit, auszubilden, aber er
muss diese Ausbildung auch leisten können.
({14})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich deshalb
kurz zusammenfassen, was meiner Meinung nach getan
werden muss; denn die Modernisierung des Systems der
beruflichen Ausbildung ist die Kernfrage für die Zukunft
der dualen Berufsausbildung in Deutschland. Um dieses
System werden wir weltweit beneidet. V iele Länder kopieren es und das soll weiterhin so bleiben.
Deshalb fordern wir erstens die Umgestaltung derjenigen tarifrechtlichen Regelungen, die sich, weil die
Übernahmegarantie für ein Jahr nach der Ausbildung
Bedingung ist, als Hemmnis bei der Einstellung von
Auszubildenden erweisen. Die Tarifparteien sind aufgefordert, diese Hemmnisregelungen zu ändern.
Zweitens.
Herr Kollege Hinsken, wie viele Punkte haben Sie
noch? Die Zeit ist schon um.
Nur noch neun.
({0})
Das ist unmöglich. Sie habe n nur noch einen letzten
Satz, bitte.
Dann geht es uns darum, das erfolglose JUMP-Programm zugunsten einer Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung zu streichen und eine konsequente Modernisierung der Ausbildungsordnungen im
Hinblick auf Differenzierung und Flexibilisierung sowie
hinsichtlich der Ausbildungsdauer und der Praxisorientierung aufzulegen.
Meine Damen und Herren, ich meine, wenn richtig
angesetzt wird, dann werden wieder Ausbildungsplätze
geschaffen. Richtig angesetzt wird dann, wenn eine vernünftige Wirtschaftspolitik gemacht wird. Dazu waren
Sie bisher nicht in der Lage . Sie haben uns so weit gebracht, dass wir heute leider in einem solchen Dilemma
stecken.
Lassen Sie uns - das sage ich vor allen Dingen an die
rechte Seite des Hauses gewandt - über den Bundesrat
und da, wo es sonst möglich ist, alles daransetzen, dass in
der Bundesrepublik Deutschland die Ausbildungsplatzsituation der jungen Leute in Zukunft wieder besser wird,
als es in den letzten viereinhalb Jahren der Fall war.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! In einer Sache sind wir uns einig, sogar mit Herrn
Hinsken, Frau Reiche und Frau Pieper: Es ist klar , dass
ein Sinken der Zahl der Ausbildungsplätze und die geringe Zahl von Betrieben, die ausbilden, nämlich nur
30 Prozent, von uns nicht zu akzeptieren sind.
({0})
Aber ich glaube, da hört es mit der Einigkeit auch schon
auf, wie ich feststelle, wenn ich mir das zu Gemüte führe,
was Frau Reiche hier vorgetragen hat. Frau Reiche hat gesagt, man solle weder in dieser Situation noch grundsätzDr. Thea Dückert
lich Lösungen finden, die auf dem Rücken der Jugendlichen ausgetragen werden. Richtig, Frau Reiche! Aber im
gleichen Atemzug - das vers tehe ich überhaupt nicht sprechen Sie sich hier zum wiederholten Mal gegen das
Jugendsofortprogramm, das JUMP-Programm, aus. Sie
wollen das JUMP-Programm streichen, um die Lohnnebenkosten zu senken. Ich füge in Klammern hinzu: Aber
die Ökosteuer, durch die die Lohnnebenkosten gesenkt
werden, wollen Sie abschaf fen. Wir müssen viele Wege
für die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen finden, um
aus der momentanen S ituation herauszukommen. Aber
wenn Sie gerade jetzt den Jugendlichen, die aufgrund der
geringen Zahl von Angeboten keinen Ausbildungsplatz
finden, auch noch das JUMP-Programm streichen wollen,
ist das auf Kosten der Jugendlichen gedacht.
({1})
Mit dem JUMP-Programm sind über 500 000 Jugendliche erfasst und 60 000 betriebliche sowie 37 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze geschaffen worden.
Ich sage ausdrücklich: Die betrieblichen Ausbildungsplätze sind für die Jugend lichen natürlich das W ichtigste. Aber mit dem JUMP-Programm sind durch eine
aufsuchende Sozialarbeit auch Jugendliche erreicht worden, die arbeitsmarktfern waren und die schon keinen
Ausbildungsplatz mehr gesucht haben, weil sie die Hoffnung aufgegeben hatten. Der Weg, den dieses Programm
geht, ist beschwerlich; deswegen sind die Erfolge, die
damit erreicht worden sind, umso wichtiger.
({2})
Wir müssen in dieser Situation alles daransetzen, damit die Bundesanstalt für Arbeit die Mittel, die für das
JUMP-Programm angesetzt sind, auch wirklich einsetzt.
Die Gelder müssen voll ausg eschöpft werden, und zwar
zügig, damit an die Träger der Projekte in der Jugendarbeit das Signal ausgesendet wird, dass sie weiterhin tätig
bleiben müssen, weil wir sie brauchen werden. Auch
wenn die vielen Maßnahmen, die die Ministerin hier
vorgeschlagen hat, greifen, werden wir angesichts der
wirtschaftlichen Situation, die durch den Irakkrieg noch
verschärft wird, weiterhin die Angebote brauchen, welche über die Träger als Projekte für Jugendliche in Ausbildungsmaßnahmen bereitgestellt werden. Deswegen ist
für uns natürlich die derzeitige Situation nicht zu akzeptieren, wo zum Beispiel Modellprojekte für Jugendliche,
die gut angenommen worden sind, abgebrochen werden.
An dieser Stelle müssen wir Abhilfe schaffen.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass sich im Moment sowohl Kommunen, die Projekte für Jugendliche
angeboten haben, als auch Länder aus der Kofinanzierung zurückziehen.
({3})
Baden-Württemberg zum Beispiel hat diese Projekte
vollständig gestrichen. Obwo hl alle wissen, dass wir
diese Projektangebote auch nach den Reformen in der
Arbeitsmarktpolitik weiter brauchen, wird ihnen jetzt der
Boden entzogen. Ich glaube, dass wir in der jetzigen Situation, in der wir durch ein ungeheures Reformwerk an
vielen Stellen gleichzeitig Baustellen haben, darauf achten müssen, dass nicht auf der einen Seite alte Strukturen
schon abgebaut werden, bevor die Bundesregierung auf
der anderen Seite neue Strukturen aufgebaut hat.
({4})
Wir müssen aber gleichzeitig die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich der Anteil der Betriebe, die ausbilden, von mickerigen 30 Prozent, die im Moment erreicht werden, erhöht. Die Ministerin hat die ehr geizige
Zielmarke von 40 Prozent genannt. Dafür muss viel getan werden. Wir müssen die Zahl der Ausnahmegenehmigungen für Ausbildungsbet riebe mindestens verdoppeln. Ich halte es zum Beispiel auch für völlig
anachronistisch, weiterhin am Meisterbrief als V oraussetzung für Ausbildung festzuhalten. Das alles sind Hürden, die Sie weiter pflege n wollen, die aber abgebaut
werden müssen, um in weit eren Betrieben Ausbildungsmöglichkeiten zu schaffen.
({5})
Wir müssen auch das Angebot der modularen Ausbildung ausweiten. Das ist für beide Seiten wichtig, sowohl für die Betriebe als auch für die Jugendlichen. In
der Biografie eines jungen Mens chen ist es sehr problematisch, wenn er es nicht sc hafft, eine begonnene Ausbildung zu Ende zu führen . Wenn er eine Ausbildung
zum Beispiel wegen der zu hohen Anforderungen im
theoretischen Teil nach einem Jahr abbricht, steht er mit
leeren Händen da.
Achten Sie bitte auf die Zeit, Frau Kollegin!
Ja, Frau Präsidentin, ich ende auch mit einem theoretischen Teil. Ich will an dieser Stelle nur noch sagen, dass
diese Jugendlichen mit der modularen Ausbildung in einem solchen Fall etwas in die Hand bekommen sollten,
woran sie an einem späteren Punkt ihrer Lebensplanung
anknüpfen können, sodass auch eine nicht abgeschlossene Ausbildung eine weitere Einstiegsmöglichkeit in die
berufliche Bildung bietet.
Schönen Dank.
({0})
Eine Kurzintervention des Kollegen Tauss.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Hinsken, Sie haben im Hinblick auf unseren Antragstext
behauptet, die Zahlen bez üglich der Ausbildungsjahre
2000 und 2001 seien falsch. Ich will aus diesem Grunde
noch einmal ausdrücklich bekr äftigen, dass es - im Gegensatz zu Ihrer Regierungszeit bis 1998 - in den Jahren
2000 und 2001 unter unser er Regierungsverantwortung
in Zusammenarbeit mit der W irtschaft tatsächlich erreicht werden konnte, in diesem Land eine ausreichende
Zahl von Ausbildungsplätzen zur V erfügung zu stellen.
Insofern bitte ich Sie, diese Behauptung zurückzuziehen.
Das zum Ersten.
Zum Zweiten bitte ich Sie einfach, zur Kenntnis zu
nehmen, dass allein aufgrund des JUMP-Programmes
mehr als 60 000 Ausbildungsplätze geschaf fen werden
konnten. Obwohl JUMP ke in Ausbildungsplatzprogramm ist, hat sich diese W irkung ergeben. Aus diesem
Grunde habe ich einfach die Bitte, auch mit Rücksicht
auf die betroffenen Jugendlichen, endlich davon abzusehen, das Programm JUMP in dieser Form zu diskreditieren und mit falschen Zahlen in der Öffentlichkeit falsche
Eindrücke zu erwecken.
({0})
Herr Kollege Tauss, ich habe aus Ihrem Antrag zitiert,
der am 1. April verfasst wurd e. Seien Sie froh, dass ich
nicht noch mehr Stellen zitiert habe, sonst müssten Sie in
Sack und Asche gehen. Ich will aber noch eine Stelle
daraus vorlesen:
Erstmals seit vielen Jahr en konnte in den Jahren
2000 und 2001 ein ausrei chendes Angebot an Ausbildungsplätzen zur V erfügung gestellt werden.
Diese positive Entwicklung wurde entscheidend gefördert durch eine Reihe von Maßnahmen, die die
Bundesregierung in Kooperation mit den Sozialpartnern in die Wege geleitet hat.
Wie sieht das Er gebnis aus? Haben Sie mitbekommen, was ich Ihnen dazu gesagt habe? Sie stellen zwar
fest, dass das Jahr 2001 abgehakt ist, aber jetzt befinden
wir uns im Jahr 2003. Jetzt erst haben wir das Er gebnis
der Maßnahmen auf dem T isch, für die Sie verantwortlich zeichnen. Sie haben an den völlig falschen Stellen
angesetzt. Sie haben eine völlig falsche Politik aufgelegt.
Wir sollten einmal partei- und fraktionsüber greifend
über die Ursachen dieser schlechten Situation nachdenken, in der wir uns momentan befinden.
Es gibt viele Ansätze zur Lösung. Ich bin gerne bereit,
Ihnen meine zehn Punkte, die ich zu einem Großteil wegen der fehlenden Redezeit nicht mehr vortragen konnte,
zur Verfügung zu stellen.
({0})
Sie können sie nachlesen und daraus die notwendigen
Schlüsse ziehen. Sicherlich werden Sie etwas dazulernen. Wenn Sie sie befolgen, werden Sie in Zukunft auf
dem richtigen Weg sein.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe Schummer.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Alle Jugendlichen, die könne n und wollen, erhalten einen Ausbildungsplatz. - Das war die Ausbildungsgarantie der Bundesregierung.
({0})
- Gerhard Schröder hat diese Aussage gemeinsam mit
den Arbeitgebern und den Gewerkschaften getroffen.
({1})
Fakt ist - nach den aktuellen Zahlen der Bundesregierung -, dass bis heute 30 000 Schulabgänger aus dem
laufenden Ausbildungsjahr noch nicht mit einem Ausbildungsplatz versorgt sind. Das Bundesinstitut für Berufsbildung beziffert die latente Nachfrage nach Ausbildungsstellen auf etwa 70 000. Das heißt, Sie haben Ihre
Zusage einer Ausbildungsgarantie gebrochen.
({2})
Allein der Abwärtstrend be i der Zahl der Ausbildungsplätze bleibt ungebrochen. Die Ausbildungslücke für das
neue Ausbildungsjahr wird von Monat zu Monat größer.
So gab die Bundesanstalt für Arbeit die Ausbildungslücke für das im September beginnende Ausbildungsjahr
im Januar noch mit 90 000 an. Im Februar wurde diese
Zahl bereits auf 120 000 und heute auf 150 000 geschätzt. Das heißt: Die Dramatik bei der Ausbildungssituation nimmt Monat für Monat zu. - Frau Ministerin
Bulmahn, wenn Sie da von spürbaren Erfolgen Ihrer Politik reden, dann halten Sie auch Gerhard Schröder für
einen guten Kanzler.
({3})
Wir nähern uns of fenkundig einer Ausbildungskatastrophe; denn der Abbau der Ausbildungsplätze beschleunigt sich. Im letzten Jahr waren es 7 Prozent weniger; in diesem Jahr werden es etwa 14 Prozent weniger
Ausbildungsplätze sein. Al lein die Nachfrage nimmt
weiter zu. 580 000 junge Arbeitslose im Alter bis
25 Jahre: Das ist Schröders Ohrfeige für die jungen
Menschen hinsichtlich ihrer Zukunftschancen.
({4})
Wir haben eine Erosion der dualen beruflichen Bildung. Es gibt mehr Schulabgänger in Ersatzmaßnahmen
als in der betrieblichen Ausbildung. Das Verfassungsziel
einer freien Berufswahl ist durch Ihre Politik in weite
Ferne gerückt.
({5})
Qualifizierte und motivierte Arbeitnehmer sind der
wichtigste Standortfaktor Deutschlands im globalen
Wettbewerb. Die Ausbildungszahlen sind auch ein Spiegelbild der wirtschaftlichen Zukunft unseres Landes.
Wer keine Zukunft mehr sieh t und dessen Betrieb ums
Überleben kämpft, hat nicht die Möglichkeit, andere
Existenzen zu retten. Betriebe werden erst dann Auszubildende einstellen, wenn sie für die nächsten drei Jahre
eine gute Auftragslage und zufrieden stellende Gewinne
erwarten.
({6})
Hinter 40 000 Insolvenzen verber gen sich über
400 000 Arbeitsplätze und über 40 000 Ausbildungsplätze, die durch Ihre Finanzpolitik vernichtet wurden.
Dies stimmt in der Tat: Der Schlüssel zur Lösung dieser
Ausbildungsmisere liegt bei Eichel, also in der Steuer -,
Finanz- und Wirtschaftspolitik.
({7})
Fragen Sie die Betriebe! Si e werden Ihnen sagen: Ohne
eine vernünftige Analyse wi rd Ihre Therapie immer
falsch sein. Deshalb helfen solche Zahlen, dass Sie endlich auf den richtigen Weg kommen.
({8})
Bei einer Befragung, warum Betriebe nicht ausbilden,
gab es zwei zentrale Ar gumente: erstens kein Personalbedarf, da zu wenig Aufträge, und zweitens zu hohe
Kosten der Ausbildung. Das heißt, erst wenn Sie bei den
Kosten ansetzen und die Zukunft der Betriebe sichern,
wird es wieder Betriebe geben, die bereit sind, Ausbildungsplätze bereitzustellen.
({9})
Lassen Sie uns also gemein sam an die Tarifparteien,
sowohl an die Politik als auch an die Gewerkschaften
und die Arbeitgeber , appellieren, in den nächsten drei
Jahren die Ausbildungsver gütungen einzufrieren und
mithilfe des Geldes, das die Unternehmen dabei sparen,
zusätzliche Ausbildungsplätze bereitzustellen! In der
Chemiebranche gibt es in diesem Zusammenhang sehr
kreative und interessante T arif- und Betriebsvereinbarungen, die wir nutzen könnten,
({10})
wenn die Politik vernünftig in einem Bündnis für Arbeit
voranmarschieren würde und es nicht gegen die W and
gesetzt hätte.
Was ist Ihr Konzept? Kapital für Ausbildung? Ich
habe mir einmal die Zahlen darüber geben lassen, wie
Ihr Konzept „Kapital für Arbeit“ derzeit läuft. Mit Stand
vom 28. März dieses Jahres wurden - dies teilt die Kreditanstalt für Wiederaufbau mit ({11})
auf diesem W ege bundesweit insgesamt 648 Arbeitsplätze geschaffen. Dafür mu ssten 190 Millionen Euro
mobilisiert werden. Eine solche Nebelkerze gibt es kein
zweites Mal in Deutschland.
({12})
Es geht nicht um Kredite, so ndern um Aufträge für die
Wirtschaft, um die Zukunft und den richtigen Rahmen,
den Sie politisch setzen müssen.
({13})
Der Mittelstand stellt 80 Prozent der Ausbildungsplätze.
Als eine weitere große Maßnahme, mit der Sie den
Mittelstand bzw. das Handwerk fördern wollen, kündigt
Herr Clement an, Existenzgründer vier Jahre von Kammerbeiträgen zu entlasten. Ic h habe einmal bei der Industrie- und Handelskamme r Mittlerer Niederrhein
nachgefragt, was das bringen würde: 5 Euro pro Monat,
also 60 Euro pro Jahr. Mit solchen Nebelkerzen schaffen
Sie weder Ausbildungsplätze noch sichern Sie die Zukunft für unsere Wirtschaft.
({14})
Solange Sie in der Steuerpolitik die Grenzen der Belastbarkeit kleiner und mittlerer Unternehmen testen,
zerstören Sie jede Ausbildungsmotivation.
({15})
Sie lösen kein Problem. Sie sind vielmehr das Problem.
({16})
Die Bundesanstalt für Arbeit rechnet vor, dass die Reduzierung der Lohnnebenkosten bzw . der Sozialversicherungsbeiträge um 1 Prozent dazu führt, dass etwa
80 000 bis 100 000 zusätzliche Arbeits- und Ausbildungsplätze geschaffen werden können. Das wäre der
richtige Weg, um wieder Zukunft für junge Menschen
und die Wirtschaft zu erreichen.
Ihr JUMP-Programm, das Sie heute feiern, hat, wie
Sie selber im Rahmen einer parlamentarischen Anfrage
bestätigt haben, nur bei 30 Prozent der jungen Menschen
dazu geführt, dass diese an schließend eine reguläre Beschäftigung gefunden haben.
({17})
Sie selbst haben den Trägern der Weiterbildung als Qualitätsstandard mitgegeben, dass eine überbetriebliche
Ausbildung nur dann Sinn macht, wenn für den Arbeitnehmer, der ausgebildet wird, eine mindestens 70-prozentige Chance besteht, dass er aus der Arbeitslosigkeit
herauskommt.
({18})
Wenn Sie Ihre im Hartz-Konzept formulierten Qualitätsstandards auf das JUMP-Programm übertragen würden,
dann müssten Sie zu dem Er gebnis kommen, dass es
hoffnungslos gescheitert ist.
({19})
Es wäre sinnvoller, diese Gelder in eine direkte Unterstützung von Ausbildungsbetrieben umzulenken.
({20})
- Mit dem Niveau Ihrer Zurufe können Sie unter dem
Teppich laufen, ohne Wellen zu schlagen. Ein wenig Geduld und Konzentration würden auch Ihnen gut tun.
({21})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte.
Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen eigentlich bewusst
ist, dass gerade durch das JUMP-Programm Jugendliche
erreicht werden, die ansons ten überhaupt keine Chance
gehabt hätten, eine Stelle zu finden.
({0})
Wenn Sie die Erfolge des JUMP-Programms berücksichtigen, können Sie dann vielleicht auch andere Konsequenzen daraus ziehen?
Ich denke, auch Sie kennen Briefe von regionalen Arbeitsämtern, in denen darauf hingewiesen wird, dass derzeit aufgrund von Irritationen sämtliche Maßnahmen zur
Berufsvorbereitung gerade fü r diese Zielgruppe eingespart werden. Die T räger, die Maßnahmen für solche
Zielgruppen unterstützen, sind völlig irritiert, weil sie
nicht mehr wissen, ob sie entsprechende Kurse anbieten
können.
({0})
Von daher kann ich nur em pfehlen, diese Mittel wieder einzusetzen, indem man in V erbindung mit anderen
Maßnahmen, also durch eine Absenkung der Sozialversicherungskosten, mehr Anreize zur Schaffung von Ausbildungsplätzen gibt.
({1})
Die andere Möglichkeit wäre, dass man Ausbildungsbetriebe gezielt entlastet, indem man die Sozialversicherungsbeiträge der Ausbildungsbetriebe für die Auszubildenden anteilig übernimmt.
Aber die Ausgaben für JUMP in Höhe von
1 Milliarde Euro sind nichts im V ergleich zu dem, was
Sie derzeit für die Berufsvo rbereitung zusammenstreichen. Dorthin müssen Sie mehr Geld lenken. Dann geht
es auch den Jugendlichen wieder besser.
({2})
Herr Clement sagte am 30. Januar 2003, dass
51 Prozent der Betriebe in den neuen Bundesländern und
44 Prozent der Betriebe in den alten Bundesländern
überhaupt nicht ausbildungsberechtigt sind. Die Mehrzahl der Ausbildungsbetriebe darf derzeit of fenkundig
nicht ausbilden. Ich habe diesbezüglich eine Anfrage an
das Bildungsministerium gestellt, ob die Zahlen, die
Herr Clement genannt hat, stimmen. Die Antwort von
Herrn Staatssekretär Matschie lautete: Wir können diese
Zahlen weder bestätigen noch dementieren. Fakt ist also:
Zur Ausbildungsmisere kommt noch eine Informationsmisere. Es gibt nicht einmal identische Daten beim Arbeits- und Wirtschaftsministerium und dem Bildungsministerium. Dort müssen Sie anfangen, damit Ihre
Therapie vernünftig ist.
Lassen Sie uns überlegen, ob wir verstärkt Stufenausbildungen - wie etwa bei der Ausbildung vom Verkäufer
zum Kaufmann - möglich machen sollten. Auch theoriegeminderte zweijährige Beru fausbildungen sind denkbar; diese jedoch dürfen keine Sackgasse sein, man muss
auf ihnen weiter aufbauen können. Es sind hervorragende Modelle entwickelt worden, die aber von den Sozialpartnern noch blockiert werden. Die Handelskammer
Hamburg etwa schlägt 100 neue Ausbildungsberufe vor.
({3})
Hierdurch würden neue Beschäftigungsmöglichkeiten
und konkrete Ausbildungsanreize geschaf fen. Sie werden derzeit aber blockiert. Wenn Sie da weiterkämen,
hätten junge Menschen mehr Chancen.
({4})
Unser Antrag ist kein Gesetz, sondern ein Gesprächsangebot, nachdem Ihr Bündnis für Arbeit gescheitert ist. Lassen Sie uns bei aller Kritik hier im Parlament ein überparteiliches Bündnis für Ausbildung
schaffen.
({5})
Wir sind dazu bereit. Aber ändern Sie bitte Ihren Kurs!
({6})
Jetzt hat der Abgeordnete Hans-W erner Bertl das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als der
Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung an die
Verabredung mit der W irtschaft - jeder Ausbildungsplatzsuchende muss einen Ausbildungsplatz bekommen erinnert und gesagt hat, we nn dies nicht eingehalten
werde, müsse es zu einer gesetzlichen Regelung kommen, hat es die altbekannten Proteste gegeben. Der Bundeskanzler hat noch etwas gesagt, was ich unterstreichen
kann: Junge Menschen haben ein Recht auf neue Chancen und zu diesem Recht müssen wir ihnen immer wieder verhelfen.
({0})
Es darf einfach nicht wahr sein, dass in einer der
reichsten Gesellschaften der Welt junge Menschen, die
in diesem Jahr aus der Schule entlassen werden, als Erstes mitgeteilt bekommen: W ir brauchen euch im Moment nicht, ihr seid zu viele, ihr seid - darin gipfelt das
Ganze - zu schlecht. Daneben steht die Forderung nach
solidarischer Einbeziehung in den Generationenvertrag,
für den sie ihre Leistung erbringen sollen.
Die Verantwortung für das duale System liegt eindeutig bei der Wirtschaft, beim Handwerk und bei allen
anderen, die an der Ausbildung im dualen System beteiligt sind.
({1})
Diese Verantwortung kann und darf nicht von der
Konjunktur oder von den schlechten Schulnoten der
Schulabgänger abhängig gemacht werden. Mit
1,7 Millionen Auszubildenden im dualen System in
circa 620 000 Betrieben wird von denjenigen, die ausbilden, eine beachtliche Leistung erbracht. Aber nicht an
sie geht unsere Forderung, sondern an die 1,28 Millionen
Betriebe, die die Berechti gung zur Ausbildung haben,
aber derzeit nicht ausbilden, sowie an die 70 Prozent aller Betriebe, die sich gar ni cht beteiligen. Hier bringen
wenige eine große Leistung für die Volkswirtschaft, die
andere abschöpfen.
({2})
Zurzeit fehlen 110 000 Ausbildungsplätze. Wir müssen damit rechnen, dass im August 50 000 bis
70 000 junge Menschen keinen Ausbildungsplatz bekommen. Dieser Fehlbestand kann nicht mit Hemmnissen, Tarifen, Kündigungsschutz, Betriebsverfassungsgesetz, Steuern, etwa Gewerbesteuern, oder mangelnden
Schulleistungen begründet werden.
({3})
Wenn dieser Ausbildungsplatzmangel eintritt, stellt
sich das duale System - eigentlich eines der beachtlichsten Erfolgsmodelle für berufliche Bildung - selbst infrage. Auch die zunehmenden staatlichen Finanztransfers in dieses System deuten an, dass das duale System
aus dem Blick und auch ei n Stück aus dem Engagement
der Verantwortlichen geraten ist.
Vor 23 Jahren haben wir in diesem Land eine heftige
Auseinandersetzung um die Frage der Zuständigkeit
bei der beruflichen Bildung geführt. Die Wirtschaft hat
das Bundesverfassungsgericht angerufen. Ich will Ihnen
einen Teil des Urteils vortragen: Am 10. Dezember 1980
haben die Verfassungsrichter unter dem großen Beifall
der Wirtschaft in Deutschland erklärt, dass die V erantwortung und die Zuständigkeit für die duale Ausbildung
bei der W irtschaft liege und auch weiterhin liegen
werde. Ich will einen Satz aus dem Urteil zitieren:
Wenn der Staat in Anerkennung dieser Aufgabenstellung den Arbeitgebern die praxisbezogene Berufsausbildung der Jugendlichen überlässt, so muss
er erwarten, dass die gese llschaftliche Gruppe der
Arbeitgeber diese Aufgabe nach Maßgabe ihrer objektiven Möglichkeiten und damit so erfüllt, dass
grundsätzlich alle ausbildungswilligen Jugendlichen eine Chance erhalt en, einen Ausbildungsplatz
zu bekommen.
Im Urteil folgt ein weiterer ganz entscheidender Satz. Er
lautet:
Das gilt auch dann, wenn das freie Spiel der Kräfte
zur Erfüllung der übernom menen Aufgaben nicht
mehr ausreichen sollte.
Vor diesem Hintergrund können wir, wie ich glaube, die
Diskussion um die Auswir kungen der konjunkturellen
Lage und mögliche Einschränkungen daraus beenden.
({4})
Dieses Urteil gilt noch heute und führt die betriebliche
Ausbildung aus der Beliebigkeit heraus.
Es geht mir - das habe ic h bereits deutlich gesagt nicht so sehr um diejenigen, die ausbilden, sondern vielmehr um diejenigen, die ih rer Verantwortung nicht gerecht werden. Es gibt etwa 650 000 Betriebe, die ausbilden können und dürfen, dies aber nicht tun. Insgesamt
70 Prozent der Unternehmen in unserer W irtschaft bedienen sich weitgehend aus der Ausbildungsleistung der
anderen. Es darf nicht nur um die Frage von so genannten Ausbildungshemmnissen gehen. Denn wenn die
Senkung der Belastungen und die Aussetzung der Ausbilder-Eignungsverordnung nicht mehr ausreichen, wie
wir das gerade erleben, dann wird die Frage nach der berühmten zweiten T oilette gestellt, was letztlich das
Ganze ad absurdum führt.
Der Ausbildungsmarkt ist in einer Notsituation. Flexibilität, Kreativität und Verantwortung sind gefragt. Es ist
kein Poker um Abschaf fung von Jugendarbeitsschutzrechten, Kündigungsschutz oder demokratische Mitbestimmung. Das, was jetzt stattfindet, ist für mich ein billiger Klassenkampf auf dem Rücken derjenigen, die in
diesem Jahr aus der Schule entlassen werden.
({5})
Hier ist Kreativität gefragt. Diese Kreativität müssen
wir bis August dieses Jahres bei der Klärung der Frage
an den Tag legen, wo und wie zusätzliche Ausbildungsstellen einzurichten sind. Die Antwort muss in den
nächsten Wochen erfolgen. Es ist zu spät, diese Antwort
erst dann zu geben, wenn wi r ausdiskutiert haben, wie
die Novellierung des Berufs bildungsgesetzes aussehen
soll.
Die Zeit der Appelle und des Bittens um Ausbildung
läuft uns davon. Gefragt ist jetzt die V erantwortung der
Unternehmen. Es bilden zum Beispiel nur 2 Prozent der
Unternehmen im Verbund aus. Alle, die sich in unserem
Land fragen, ob sie ausbild en können, ob die Belastung
für sie alleine zu hoch ist - das ist von Ihnen immer angesprochen worden - oder ob sie das qualitative Spektrum für Ausbildung leisten können, haben die Möglichkeit, Ausbildung im V erbund anzuleiten. Gefragt sind
aber auch diejenigen, die Verbünde organisieren können,
in den Kammern, in den Kommunen und in vielen anderen Organisationen. Diese werden übrigens mit Mitteln
der Bundesanstalt für Arbeit unterstützt. In Deutschland
gibt es im Moment 350 Ausbildungsverbünde, die mit
11,6 Millionen Euro gefördert werden.
Es gibt übrigens auch überbetriebliche und außerbetriebliche Einrichtungen für berufliche Bildung, die
durch Umlagefinanzierung von Kammern und staatliche
Zuschüsse getragen werden. Wenn es richtig ist, dass die
beste Ausbildung im Betrieb stattfindet, dann sollten diejenigen, die dort Verantwortung tragen, sich jetzt dieser
Verantwortung stellen, zumal Hilfen und Unterstützung
sowohl durch das Bundesministerium als auch durch die
Bundesanstalt gegeben sind.
Ich möchte einige Sätze an diejenigen richten, die von
den Schulen kommen. Ich bitte Sie: Warten Sie nicht auf
den Traumberuf. Träume erfüllen sich meist woanders.
Man wird auch nicht für eine n Beruf geboren. Aber Beruf und erfolgreicher Abschl uss ermöglichen ein selbstbestimmtes Leben. Dann lassen sich auch viele T räume
erfüllen.
Abschließend möchte ich an die Unternehmen, die
wir nicht aus der V erantwortung für die berufliche Bildung entlassen können, sa gen: Wenn wir 60 000 oder
70 000 Schulabgänger im Herbst dieses Jahres alleine
lassen, indem wir ihnen keine berufliche Perspektive geben, wird sich der Staat de r Frage der Berufsausbildung
annehmen müssen. Dann soll aber auch keiner anschließend jammern, wenn wir einen großen Teilbereich des so
hoch gelobten dualen System s über Subvention und Ersatz letztendlich zu einer sozialpolitischen Veranstaltung
machen müssen. Das zeigt allerdings auch, dass möglicherweise das Ende dieses Systems aufgrund der mangelnden Verantwortung der Arbeitgeber und der fehlenden Mitwirkung der Betriebe gekommen ist.
Deswegen sind Anstrengungen nötig. Es dürfen nicht
nur Schuldzuweisungen gemacht und dubiose Erklärungen abgegeben werden, die keinem einzigen jungen
Menschen in diesem Land helfen. Wir brauchen Ausbildungsstellen! Die Wirtschaft muss sich der V erantwortung stellen, die sie 1980 für sich angesichts des Urteils
des Bundesverfassungsgerichts gefordert hat.
Vielen Dank.
({6})
Danke schön. - Das W ort hat jetzt die Abgeordnete
Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur gleichen Zeit, zu der wir über die Situation im Bereich der
Berufsausbildung und über den Lehrstellenmangel diskutieren, findet eine Pre ssekonferenz der Bundesanstalt
für Arbeit statt.
Die Arbeitsmarktzahlen sind genauso dramatisch wie
die Situation auf dem Lehrstellenmarkt. Im Februar wurden den Arbeitsämtern bis zu 20 Prozent weniger Lehrstellen gegenüber dem V orjahresmonat gemeldet, nämlich nur 368 000. Das sind 54 000 weniger als noch vor
einem Jahr und 1 14 000 weniger, als benötigt werden.
Die Unternehmer fordern die Regierung auf, aktiv zu
werden und mehr überbetriebliche Ausbildungsplätze zu
schaffen. Diese Ausbildungsplätze sind dann jedoch
steuerfinanziert. Die gleichen Leute, die die Regierung
auffordern, überbetriebliche Ausbildungsplätze zu schaffen, fordern die Regierung au ch auf, Steuern zu senken.
Ich denke, das ist zutiefst verlogen.
({0})
Das Bundesverfassungsgericht verwies bereits im
Jahre 1980 darauf, dass es ei ne - ich zitiere mit Genehmigung der Präsidentin - „V erantwortung der Arbeitgeber für ein ausreichendes Angebot an betrieblichen
Ausbildungsplätzen“ gibt, und mahnte eine gesetzliche
Regelung an. Das war vor 23 Jahren. Wir als PDS fordern eine gesetzliche Ausbildungsumlage. Wer nicht
ausbildet, soll zahlen. Die Einführung einer Ausbildungsumlage wurde von Rot- Grün übrigens bereits in
der Koalitionsvereinbarung im Jahre 1998 festgeschrieben.
Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung
vom 14. März dieses Jahres nur noch vage von einer gesetzlichen Regelung gesprochen, die man einführen
würde, wenn die Unternehmen nicht selbst aktiv werden
würden. Das alles sagte er betont im Konjunktiv . Dieser
Konjunktiv hat die Debattenb eiträge vonseiten der Regierungskoalition auch heute wieder geprägt. Der vorliegende Antrag der Regierungskoalition strotzt nur so von
Appellen an die Wirtschaft. Alle Ausführungen zu konkreten Maßnahmen bezüglich der Unternehmen bleiben
vage. Meine Damen und Herren, wie lange wollen Sie
mit der Ausbildungsumlage noch warten?
In der letzten W oche war ich in meinem W ahlkreis
Lichtenberg im Oberstufenzentrum für Versorgungstechnik und habe mich vor Ort informiert. Es fehlt, so wie
überall, an betrieblichen Ausbildungsplätzen. Ein Großteil der Ausbildungsplätze is t überbetrieblich. Ein Problem, das im Osten besonders häufig auftritt, finde ich
für junge Leute besonders deprimierend: Auszubildende
verlieren ihren Ausbildungsplatz, wenn ihr Betrieb zum
Beispiel wegen der schlech ten Zahlungsmoral und der
niedrigen Kapitaldecke in Konkurs geht; denn Auf fangstrukturen existieren nicht. Ich denke, das ist für einen
Jugendlichen eine Katastro phe: Er hat gute Leistungen
gezeigt und verliert trotz guter Arbeit und Lernerfolge
seine Lehrstelle. Wie soll ein solcher Jugendlicher noch
an die Leistungsgesellschaft glauben?
Meine Damen und Herren, der parteilose Hanauer
Stadtverordnete Jochen Dohm wies in einem Brief an die
Abgeordneten auf die dramatische Lage auf dem Lehrstellenmarkt in Hanau hin. Er machte besonders auf das
Problem aufmerksam, dass Jugendliche ohne Schulabschluss von der Hartz-Ge setzgebung besonders hart
getroffen werden. Das Arbeitsamt in Hanau hat allen
Trägern, die berufsvorbere itende Kurse anbieten, die
Verträge gekündigt.
({1})
Das bedeutet für Hanau den Wegfall von 466 Plätzen bei
berufsvorbereitenden Maßnahmen.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke, die uns Abgeordnete angeschrieben hat, verweist
in einem Brief auf die dramatischen Folgen der Arbeitsmarktpolitik für Jugendliche mit Behinderungen. Die
Bundesarbeitsgemeinschaft schreibt:
Aus jungen Leuten ohne Au sbildung oder berufsvorbereitenden Lehrgängen heute werden Arbeitslose von morgen, Sozialhilfeempfänger auf Dauer.
Ich denke, das kann nicht unser Ziel sein.
Es ist in der heutigen Debatte bereits erwähnt worden:
Nur 30 Prozent aller Betriebe bilden Jugendliche aus.
Die Bundesministerin, Frau Bu lmahn, will die Zahl der
Betriebe auf 40 Prozent erhöhen. Hierzu können wir nur
unser Einverständnis erklären; wir werden Sie unterstützen. Ich mache Ihnen konkrete V orschläge: Machen Sie
Nägel mit Köpfen! Fordern Sie von der W irtschaft, dass
40 Prozent der Betriebe im Jahre 2004 Ausbildungsplätze anbieten müssen! W enn die Zahl nicht erreicht
wird, dann - so sagen Si e als Regierung - kommt im
Jahre 2004 definitiv die Ausbildungsumlage.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael
Kretschmer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
deprimierend, welche Geschichten zum Thema Ausbildung Jugendliche zu berichten haben. Ich habe am
Montag eine zehnte Klasse einer Görlitzer Mittelschule
in meinem W ahlkreis besucht. V on den anwesenden
30 Schülern haben in den vergangenen Wochen viele 40,
50, 60 oder 70 Bewerbungen geschrieben, auf die sie
zum großen Teil keine Antwort oder eine Absage bekommen haben.
Viele ostdeutsche Jugendliche gehen deshalb für eine
Ausbildung schweren Herzens in die alten Bundesländer.
Aus diesem Grunde schlägt die Bundesanstalt für Arbeit
Alarm. Wir haben die Zahlen gehört: Im W esten der
Bundesrepublik sind im Mä rz bis zu 56 000 Lehrstellen
weggebrochen. Das Ausbildungsjahr 2003/2004 droht
zum schwarzen Jahr der Berufsausbildung zu werden. Der DGB spricht von einem Ausbildungsplatzdefizit in nicht gekanntem Ausmaß.
Angesichts der aktuellen Lage - das ist mehrfach genannt worden, aber man kann es nicht oft genug wiederholen - ist die Ausbildungsplatzgarantie, von der der
Bundeskanzler und die Bundesbildungsministerin immer
sprechen, der blanke Hohn.
({0})
Gestern haben wir im Aussc huss für Bildung und Forschung einen Vortrag der Bundesanstalt gehört. Dabei ist
deutlich geworden - man hat es uns auf unsere Rückfrage hin bestätigt -: Schon heute wird eine große Anzahl von Jugendlichen in Scheinmaßnahmen geparkt, ein
Jahr später stehen sie wied er ohne eine Ausbildung da
und müssen sich wieder be werben. - Das ist Ihr V erständnis einer Ausbildungsplatzgarantie.
Die Bugwelle aus nicht vermittelten Bewerbern und
neuen Ausbildungsplatzsuchenden wird immer größer .
In diesem Jahr droht sie endgültig über den Köpfen der
Bundesregierung zusammenzuschlagen. Davon betroffen sind Tausende Jugendliche, denen der Start ins Berufsleben unmöglich gemacht wird. Ausbildung ist für
Schulabgänger und für Unternehmen eine Investition in
die Zukunft. Sie können in jeder beliebigen Zeitung lesen, wie stark der Pessimismus in den Unternehmen ist.
Auch Wirtschaftsforschungsinstitute haben das analysiert.
Dem Handwerk in Deutschland, wo immerhin ein
Drittel aller Lehrlinge ausg ebildet werden, sitzt die
blanke Angst um die eigene Existenz im Nacken. Die
Probleme auf dem Ausbildungsmarkt sind hausgemacht.
Nur 50 Prozent aller Unternehmen, die ausbilden können, bilden auch tatsächlich aus.
({1})
- Nein, ich bin nicht staatsgläubig. Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD , sind staatsgläubig. Sie
glauben, mit Appellen an di e Wirtschaft oder einer
Ausbildungsplatzabgabe weiterzukommen. Wir hingegen wollen, dass Sie den Unternehmen die Möglichkeit
geben auszubilden. Hören Sie auf, mit milliardenschweren Programmen diese Probleme von Staats wegen lösen
zu wollen. Das ist der falsche Weg.
({2})
Steuererhöhungen, Verschärfungen im Kündigungsschutz, die Ebbe in den Kassen der Kommunen und Ihr
angekündigter Eingriff in die Handwerksordnungen sorgen für Verunsicherung und haben die wirtschaftliche
Situation in den Unternehmen massiv verschlechtert. Betroffen sind davon besonder s die neuen Bundesländer .
Das hochgejubelte JUMP-Programm mit 1 Milliarde
Euro im Jahr ist speziell im Osten ins Leere gelaufen.
({3})
- Ich komme aus den neuen Bundesländern.
({4})
Ich lade Sie herzlich ein, mi ch in Sachsen zu besuchen.
Sie werden in Görlitz sehen, dass das Programm dort
völlig versagt hat.
({5})
- Herr Tauss, anstatt Wirtschaftsstrukturen aufzubauen
und damit ausreichend Ausbildungsplätze in der betrieblichen und gewerblichen W irtschaft zu schaffen, haben
Sie den leichteren, aber teureren Weg gewählt: Sie haben
sich für den W eg der Staatsintervention entschieden
und 500 000 Jugendliche in ein Programm der aktiven
Arbeitsmarktpolitik gesteckt. Das ist von Ihnen überschwänglich gelobt worden. T atsächlich sind diese
500 000 Jugendlichen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik
ein drastisches Zeichen für Ihr V ersagen in der W irtschaftspolitik in diesem Land.
({6})
Dieser Wert ist im Übrigen gestern im Ausschuss von
Herrn Alt von der Bundesanstalt für Arbeit als der
höchste Wert seit der W iedervereinigung bezeichnet
worden. Auch das zeigt Ihre wirtschaftliche „Kompetenz“, es zeigt, wie Sie ge denken, dieses Land aufzubauen. Das ist nicht unser Weg. Unser Weg ist auch nicht
das Programm „Kapital für Arbeit“, weil Unternehmen
nicht einen Kredit aufnehme n, um jemanden einzustellen, sondern weil sie wachsen und ihren Umsatz steigern
wollen.
Das ist das, was wir von Ihnen erwarten. Schaffen Sie
die Rahmenbedingungen, dami t die Wirtschaft wächst,
damit Ausbildungsplätze bereitgestellt werden können
und die Leute freiwillig Auszubildende und Arbeitnehmer einstellen. Sie haben die Zahlen gehört: 4,6 Millionen Arbeitslose, 42 000 Unternehmen, die in diesem
Jahr vermutlich in Konkurs gehen. Das ist kein Umfeld,
in dem Unternehmen ausbilden. Das ist auch der Grund
dafür, dass Unternehmen in Deutschland nicht ausbilden.
({7})
Der Wert eines Ausbildungsp latzes bemisst sich für
uns an der Qualität des vermittelten Wissens, der Praxisnähe der Ausbildung und de r Chance, unmittelbar nach
dem Abschluss der Lehre einen Arbeitsplatz im ersten
Arbeitsmarkt zu finden. Deswegen ist für uns ganz klar:
Die betriebliche Ausbildung hat vor jedem außerbetrieblichen Bildungsprogramm Vorrang.
({8})
Wir müssen die Ausbildungsfähigkeit und Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen erhöhen. Die Zahlen sind genannt worden, sie sind zu gering.
Lassen Sie uns die Ausbilder-Eignungsverordnung
modernisieren. Wir sind da durchaus offen. Sie haben
1972 diese Verordnung eingeführt. Sie haben sie 1999
reformiert. Warum, bitte schön, haben Sie sie nicht 1999
abgeschafft? Das ist im Übrigen überhaupt die Frage. Es
ist sehr viel von „wir woll en“, „wir könnten“ und „wir
müssten“ geredet worden. Sie regieren dieses Land seit
1998. Sie hätten seit 1998 di e Chance gehabt, etwas zu
verändern. Sie haben es nich t getan. Deshalb sind die
Zahlen, die jetzt vorliegen, ein deutliches Armutszeugnis
für Ihre Politik.
({9})
Zu der Ausbildungsplatzabgabe ist einiges gesagt
worden. Sehen Sie sich an, wie die wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern, aber mittlerweile auch
in den alten Bundesländern is t! In den alten Bundesländern bricht derzeit der Ausbildungsmarkt zusammen:
51 000 Ausbildungsplätze in den alten Bundesländern,
ungefähr 6 000 in den neuen Bundesländern. Das zeigt,
dass eine Ausbildungsplatzabgabe der völlig falsche
Weg ist.
Ich komme zum Schluss und zitiere Nietzsche, der
sagte: „Der Beruf ist das Rückgrat des Lebens.“ Beweisen Sie, meine Damen und Herren vom Bündnis 90/Die
Grünen und von der SPD, dass Sie Rückgrat haben. Ändern Sie Ihre Politik! Gehen Sie mit uns gemeinsam an
die Reform der Ausbildungsverordnung und lassen Sie
uns gemeinsam eine Zukunft für die jungen Leute in
Deutschland schaffen.
Vielen Dank.
({10})
Das war die erste Rede des Kollegen. Ich möchte Ihnen im Namen des ganzen Hauses dazu gratulieren. Sie
mussten sich schon richtig in einem Zwischenrufgewitter bewähren. Herzlichen Glückwunsch.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Dieter
Rossmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte in dieser Debatte der starken W orte einige
Fragen stellen. Herr Hinske n und andere sagten, dieses
Jahr sei das dramatischste Jahr, das wir in Bezug auf die
Ausbildungslücke erlebten. Ich glaube, Sie sollten auf
die Jahre 1996 bis 1998 zurückschauen. Dann wissen
Sie, wo Sie damals standen.
({0})
Wir haben damals hart disk utiert und Sie haben das
Recht, heute hart zu diskutieren. Aber ich möchte dafür
werben, das praxisorientiert zu tun. Ich will versuchen,
das einmal am Beispiel von JUMP mit Ihnen durchzugehen.
Wir erleben, dass Sie auf der Ebene des Bundestages
JUMP vehement kritisieren. Ich erinnere mich aber daran, wie der damalige CDU-Ministerpräsident Barschel
in Schleswig-Holstein auf die großen Ausbildungs- und
Vermittlungsnöte junger Menschen reagiert hat, nämlich
mit einem großartigen Landesprogramm, welches von
der Bundesebene unterstützt worden ist. Es nannte sich
damals „Arbeit für Schleswi g-Holstein“, „Ausbildungsbündnis“ usw. Wenn Sie die Praktiker, die Menschen, die
Verantwortung tragen, die Ministerpräsidenten, die
Oberbürgermeister, die Kommunalpolitiker und diejenigen, die in den Bildungsinstitutionen und Betrieben tätig
sind, fragen würden, dann würden alle so antworten wie
derjenige, der gestern im Ausschuss ein Problem von der
Basis geschildert hat. Er hat gesagt: Die ganze Breite des
Instrumentariums muss erhalten bleiben.
({1})
Ich garantiere Ihnen: W enn Sie ir gendwann wieder
einmal regieren sollten, dann würden auch Sie auf die
ganze Breite des Instrument ariums zurückgreifen, welches jetzt in JUMP gebündelt worden ist. Ihnen ist
schließlich aus der Praxis bekannt, dass über JUMP teilweise betriebliche und überbetriebliche Ausbildungsverhältnisse sowie V orbereitungsmaßnahmen für Menschen, die noch nicht in ei ne betriebliche Ausbildung
eintreten konnten, und Maßnahmen zur Motivierung für
Menschen, sich erneut zu bewerben, mit gefördert worden sind.
Man sollte nicht das Porzellan zerschlagen, von dem
man vielleicht noch selbst essen will.
({2})
Deshalb bitte ich an dieser Stelle um etwas mehr Zurückhaltung, selbst wenn das für Sie nicht wohlfeil sein
mag.
Lassen Sie mich einen we iteren Punkt ansprechen.
Man konnte an mancher Stelle den Eindruck gewinnen,
dass das Berufsbildungsgesetz ein schlechtes Gesetz sei.
Ich will für die SPD-Frakti on ausdrücklich festhalten,
dass das Gesetz in seiner derzeitigen Fassung sehr gut
ist.
({3})
Es hat die hohe Qualität der beruflichen Bildung in
Deutschland über viele Jahre hinweg stabil gehalten. Es
wäre von Vorteil, wenn wir diesen Konsens, der auch
parteipolitische Veränderungen im Bundestag überdauert
hat, auch in Zukunft wahren könnten. Es sind durchaus
einige Veränderungen und Anpassungen nötig, die man
aber gemeinsam und zielgerichtet verwirklichen sollte.
Im Übrigen ist vielleicht ein weiterer Blick in das Berufsbildungsgesetz notwendig, um festzustellen, was alles bereits jetzt möglich ist. Denn ein Gesetz abstrakt zu
verändern, obwohl das geltend e Gesetz allen Forderungen gerecht wird, zeigt, wie wenig man sich bisher mit
dem Gesetz auseinander gesetzt hat.
({4})
Andere Kollegen haben schon ausgeführt, was das
Gesetz in Bezug auf die zweijährige Ausbildung, T eilqualifikation und anderes bereits ermöglicht. W ir werden es Schritt für Schritt ve rbessern und dabei in seiner
Vielfalt erhalten, weil die Auseinandersetzung in der Gesellschaft gezeigt hat, wie un terschiedlich die Erwartungen in der betrieblichen Praxis sind.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Pieper?
Das würde ich gerne machen, aber ich habe nur noch
wenig Redezeit. Deshalb fahre ich lieber fort.
({0})
- Wenn es nicht angerechnet wird, ist es mir recht.
Herr Kollege Rossmann, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass sich nich t nur die Politiker , sondern
auch die Bildungsexperten - ich habe das heute schon
mehrmals ausgeführt - und das zuständige Bundesinstitut mit dem Berufsbildungsgesetz befassen und dass die
Experten darauf hinweisen, dass es nach der geltenden
Fassung des Berufsbildungsgesetzes nicht möglich ist,
durchgängig für alle Berufe eine zweijährige Grundausbildung mit Qualifizierungsbausteinen zuzulassen? Das
ist aber der Weg, den wir beschreiten müssen, um mehr
Flexibilisierung und Dif ferenzierung der Berufsausbildung zu erreichen.
Ich will Ihnen in Fortsetzung meiner Überlegungen
antworten: Wenn man mit vielen Beteiligten in der Praxis spricht, dann hört man vonseiten des Handwerks:
Lasst bloß die Hände von der zweijährigen Ausbildung!
({0})
Wir brauchen hinsichtlich der Qualifikation und der Anforderungen eine dreijährige, hoch qualifizierende Ausbildung.
({1})
- Werfen Sie einen Blick in die Unterlagen und nehmen
Sie Kontakt zu Ihrem örtlichen Handwerk auf! Wenn Sie
denen mit der zweijährigen Ausbildung kommen, werden sie Ihnen sagen, dass sie diese nicht wollen.
Andere Betriebe wünschen sich eine differenziertere
Struktur. Alles in allem lässt sich das im Berufsbildungsgesetz wiederfinden. Dass es eine durchgängige
Meinung in der Theorie wie in der Praxis gäbe, dass eine
gestufte Ausbildung in zwei Jahren und eine anschließende Weiterbildung notwendig seien, deckt sich ebenfalls nicht mit dem, was wir aus der Metallindustrie, der
Elektrobranche und anderen Bereichen hören. Im Gegenteil: Dort werden Forder ungen nach einer größeren
Differenzierung erhoben, denen man noch auf den
Grund gehen kann.
({2})
Erlauben Sie mir, noch einen anderen Punkt anzusprechen, der vertieft werden könnte. Es wurde die Frage gestellt, warum so wenig Betriebe ausbilden. Auch in dieser
Frage zeigt ein Blick in die Geschichte, dass es sich dabei
nicht um einen T rend handelt, der erst mit dem Regierungswechsel 1998 begonnen hat. V ielmehr handelt es
sich um längerfristige Trends, die etwas mit veränderten
Betriebsstrukturen, dem veränderten Verhältnis von großen und kleinen Betrieben und der zunehmenden Zahl
von Existenzgründungen - die Unternehmen beginnen
nicht unbedingt gleich mit dem Ausbildungsbetrieb - zu
tun haben.
Wenn Sie mir nicht glaube n, werfen Sie einen Blick
in den Berufsbildungsbericht 2002! Darin gibt es eine
interessante Statistik in Bezug auf die gesetzlichen Ausbildungsvoraussetzungen nach Betriebsgrößenklassen
und Branchen. W enn es richtig ist, dass nur rund
56 Prozent der Betriebe ausbildungsberechtigt sind,
dann zeigt diese Statistik, dass es in den Kategorien von
ein bis neun Beschäftigten, zehn bis 49, 50 bis 499 und
über 500 ein riesiges Potenzial, insbesondere bei den
kleinen Betrieben, gibt, das noch nicht entdeckt worden
ist. Dabei handelt es sich um das Potenzial der Verbundausbildung in kleinen Betrieben.
({3})
51 Prozent der Betriebe mit bis zu neun Beschäftigten
erfüllen die Ausbildungsvor aussetzungen im Betrieb.
Aber im Verbund können zusätzlich 46 bis 47 Prozent
der Betriebe diese V oraussetzungen erfüllen. Nur ein
sehr kleiner Teil der Betriebe wäre also weder theoretisch noch praktisch in der Lage, auszubilden. Dieses Potenzial müssen wir ausschöpfen, wenn wir mehr Betriebe
in Ausbildung hineinbringen wollen und mehr betriebliche Ausbildungschancen wollen; denn die Alternative
wäre, alles überbetrieblich zu organisieren. Wir wollen
aber, dass die Ausbildung in den Betrieben stattfindet.
Deshalb ist das, was Sie, Frau Ministerin, jetzt auf
den Weg gebracht haben, eine Hilfe. Das Programm
„Kapital für Arbeit“ ist ja vor allen Dingen etwas für
kleine Betriebe. Auch die von Ihnen veranlasste Aussetzung und Überprüfung der Ausbilder -Eignungsverordnung sind eine Erleichterung für die kleinen Betriebe.
Die Maßnahme, die Aufgaben der Lehrstellenentwicklung aus den neuen Bundesländern auch auf die alten zu
übertragen - das ist eine Schlüsselstelle -, wird gerade
die kleinen Betriebe in die Ausbildungsverbünde hineinbringen.
Das sollten wir alle gemeinsam unterstützen. Auch
Sie von der Opposition haben hier die Chance, bewusstseinsverändernd auf die kleinen Betriebe einzuwirken
und darauf hinzuweisen: Ausbildung kostet euch nicht
unendlich viel Geld, sonder n ist eine Chance. Ihr habt
eine gesellschaftliche Brings chuld. Nur so kann die
Wirtschaft in diesem Land wieder Vertrauen fassen. Das
ist eine spezifische Anforder ung an eine Berufsausbildungsreform, bei der wir auch das Berufsbildungsgesetz
berücksichtigen müssen und die wir gemeinsam angehen
sollten.
Sie erlauben noch folgende ideologische, aber auch
zum Nachdenken anregende Bemerkung: W enn man
sich die Statistiken anschaut , aus denen hervorgeht, wie
viele Betriebe in welchen Branchen ausbilden, dann
stellt man fest, dass die Ausbildungsbereitschaft im Nahrungs- und Genussmittel- sowie im Baubereich überproportional hoch ist. Im Baubereich wird faktisch am meisten ausgebildet. Ist das so, weil er durch eine Umlage
gestört oder entlastet wird? Zumindest diese Frage
möchte ich in den Raum st ellen, bevor wir wieder zu
ideologischen Keilereien übergehen.
({4})
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist bereits beendet.
Noch ein S chlussgedanke: Bei allem, was jetzt als
verbaler Schlagabtausch abläuft, müssen wir im Bundestag für eine positive Stimmung zugunsten einer Berufsbildungsreform sorgen. Diese Reform darf nicht als störend empfunden werden. Entscheidend ist dabei auch,
wie wir darüber diskutieren und dass wir die Erwartungen an diese Reform nicht zu hoch schrauben. Wir müssen den Bund, die Länder, die Bundestagsfraktionen und
die Betriebe zur Zusammenarbeit motivieren. Dafür werben wir; denn das ist das W ichtigste. Das sollte es auch
für Sie sein, wenn Sie wieder einmal regieren sollten.
Herr Kollege, das ist doch ein schöner Schlusssatz.
Danke schön.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der V orlagen
auf den Drucksachen 15/653, 15/587, 15/739 und 15/741
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
an die in der T agesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die T agesordnungspunkte 17 a und 17 b so-
wie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:
17 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 31. Juli 2001 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung des Königreiches Thailand
über den Seeverkehr
- Drucksache 15/716 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes
zur Änderung des Gemeindefinanzr eformgesetzes
- Drucksache 15/510 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({2})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Eichhorn, Hannelore Roedel, Dr . Maria Böhmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Benachteiligung von Frauen wirksam bekämpfen - Konsequenzen ziehen aus dem
CEDAW-Bericht der Bundesregierung
- Drucksache 15/740 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lothar
Mark, Hans Büttner ({4}), Detlef
Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten HansChristian Ströbele, Dr . Ludger Volmer, Volker
Beck ({5}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wiederbelebung des Friedensprozesses in Kolumbien
- Drucksache 15/742 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Es handelt sich um Überwe isungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der T agesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/510
soll zusätzlich zur Mitberatung und gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuss überwiesen
werden. Sind Sie einverstanden? - Das scheint der Fall
zu sein. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 b auf:
Beratung der Beschlusse mpfehlung des Rechtsausschusses ({7})
Übersicht 2
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten
Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 15/656 Es handelt sich um eine Beschlussfassung, zu der
keine Aussprache vorgesehen ist. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlusse mpfehlung ist einstimmig
angenommen worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({8}) zu dem Ersten Gesetz zur
Änderung des Gesetzes zur Neur egelung des
Energiewirtschaftsrechts
- Drucksachen 15/197, 15/432, 15/657, 15/712 Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler
Wird das W ort zur Berichterstattung gewünscht? Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? - W ir kommen dann unmittelbar zur Abstimmung. Der V ermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen
Bundestag über die Änderung gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für di e Beschlussempfehlung des
Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/712? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen
worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den W ehrbeauftragten
Jahresbericht 2002 ({9})
- Drucksache 15/500 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionelle n Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vor gesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist auch so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages,
Dr. Willfried Penner. Herzlich willkommen!
Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich sehr für den fre undlichen Gruß, Frau Präsidentin.
Heute ist Veränderung das zentrale Thema der Bundeswehr, ohne dass die seit langem bekannten sonstigen
Angelegenheiten des militärischen Alltags damit bewältigt seien. Veränderung, das bedeutet eine zunehmende
Anzahl von Einsätzen sowie eine zunehmend abstrakter
werdende Notwendigkeit der Landes- und Bündnisverteidigung. Dies hat Auswirkungen auf die Soldaten und
deren Familien und infolgedessen auf die Quantität und
Beschaffenheit der Eingaben und des mündlichen V orbringens. Es kommt nicht von ungefähr , dass die Eingaben aus dem Einsatz mit mehr als 100 Prozent die
höchste Steigerungsquote gegenüber dem V orjahr aufweisen. In konkreten Zahl en: Es gab 1 150 Vorgänge
dieser Art in 2002 gegenüber 570 Eingaben in 2001.
Der Einsatz ist für immer mehr Soldaten zum Bestandteil des Dienstes geworden. Diese Einsätze funktionieren teilweise vorbildlich; aber es gibt unübersehbar
Schwächen, Missstände und Fehler.
Ein Beispiel: Allein zum Auslandsverwendungszuschlag haben mich 450 Eingaben erreicht. Einmal wurde
eine Herabstufung generell beklagt, ein anderes Mal
wurden Umstände zur Ermittlung der Herabstufung kritisiert. In anderen Fällen wurden Einwände gegen eine
zu geringe Einstufung vor gebracht. Es wurde außerdem
kritisiert, dass eine Herabs tufung nach einer Stichtagsregelung für Soldaten eines im Einsatz befindlichen
Kontingents - trotz eines gegebenen Ministerwortes vorgenommen wurde.
Ein weiteres Beispiel: Immer wieder gibt es V ersorgungsfragen an die Adress e des Dienstherrn für den
„Fall des Falles“. Nicht zu ver gessen sind Probleme im
Zusammenhang mit der einges chränkten „Einsatztauglichkeit“ des deutschen No rmen- und V orschriftengeflechts. In einem Fall wurden Soldaten bei einem Auslandseinsatz im Gebir ge die leichten Bergstiefel nicht
ausgegeben, weil diese nach dem Ausstattungssoll nur
für die Gebirgsjäger vorgesehen waren.
({10})
Natürlich gibt es auch Ei ngaben, die mit der Problematik der sechsmonatigen Einsatzdauer - sie hat besonders herbe Auswirkungen für junge Familien - zu tun
haben. Die Eingaben aus dem Einsatz haben übrigens
nicht nur Bedingungen des Einsatzes selbst zum Gegenstand, sondern es geht auch um die künftige Verwendung
im Inland, um Konsequenz en aus der Auflösung der
Stammeinheit, um Umzugskosten, um Fragen zu Reichweite und Umfang des V ersicherungsschutzes, also um
Alltagsfragen, usw.
Ein Problem, für das inzwischen eine Lösung gefunden wurde, ist der mangelhafte Zustand des Feldlazaretts Rajlovac: Der vom Bundesministerium der Verteidigung favorisierte Neubau kann nun endlich beginnen;
das Bundesministerium der Finanzen hat dafür endlich
grünes Licht gegeben - und das ist gut so.
({11})
Die Eingaben bezogen auf Bundeswehr im Inland haben - neben dem Flickenteppich völlig unterschiedlicher
Problemfelder - einen herausragenden Schwerpunkt: die
Personalangelegenheiten.
Gewiss hat das auch mit den Auswirkungen des Attraktivitätsprogramms zu tun, etwa damit, dass die
Kompaniechefs und Einheits führer nunmehr nach A 12
und nicht mehr wie bisher nach A 11 besoldet werden,
was diejenigen zu Zweifeln an der Gerechtigkeit herausforderte, die sich schon au f einem A-12-Dienstposten
bewährt hatten und sich in Folgeverwendungen weiter
mit A 11 zufrieden geben mussten. Man kann den Är ger
eines Hauptmanns schon verstehen, wenn sein Nachfolger auf dem Dienstposten, te ilweise im Dienstgrad niedriger und regelmäßig an Lebensjahren jünger , Nutznießer der Neuregelung wird und damit an ihm vorbeizieht.
Natürlich beschwert sich der Begünstigte nicht.
Auch zur Einführung der neuen Laufbahn der Fachunteroffiziere hat es nicht wenige kritische Stimmen gegeben. Fest steht, das Interesse an dieser neuen Laufbahn
ist groß. Die hohe Anzahl der Bewerber beweist dies: Im
Jahre 2001 gab es im Bereich der Unterof fiziere und
Mannschaften rund 33 000 Bewerber bei den Zentren für
Nachwuchsgewinnung; im Jahre 2002, also nach Einführung der neuen Laufbahn, waren es rund 46 000. Das
bedeutet aber nicht, dass die „alten“ Unteroffiziere nicht
ihre Schwierigkeiten mit den neuen Möglichkeiten hätten. Ihnen fällt es schwer , die „neuen“ Kameraden als
gleichwertig zu akzeptieren, weil sie deren militärische
Qualitäten bezweifeln und sich gegenüber den „Neuen“
zurückgesetzt fühlen.
Überhaupt lassen Unteroffiziere im unmittelbaren Gespräch zunehmend Verdruss, Resignation und berufliche
Unzufriedenheit erkennen. Dies bezieht sich nicht allein
auf die geläufigen Probleme des militärischen Alltags
wie etwa die W underlichkeiten der Militärbürokratie.
Die stärker werdende Bede utung der Bundeswehr als
Einsatzarmee wirkt sich zunehmend zulasten der Soldaten im Inland aus. Mehrf achvertretungen können die
Folge sein und sind die Folge. Ausbilder fehlen, worunter die Ausbildung leiden ka nn. Qualitativ hochwertiges
Gerät wird im Einsatz benö tigt und die Ersatzteillage
wird nach wie vor als nicht zufriedenstellend geschildert.
Es ist ja auch nicht motivierend, wenn ein Fahrzeug wegen Fehlens eines Dichtungsr ings, den man für 50 Cent
überall kaufen kann, wochen lang stillsteht und zugleich
ein weiteres Kraftfahrzeug abgezogen wird. Bisweilen
aber - auch dies ist wahr - lässt sich der Eindruck nicht
von der Hand weisen, dass ge rade bei den Soldaten, die
sich besonders kritisch ä ußern, falsche V orstellungen
über berufliche Chancen au f dem zivilen Arbeitsmarkt
vorherrschen.
Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner
Auch folgender Punkt gehört zum Thema Personalangelegenheiten und war für die Soldaten wichtig: die gesetzlich eröffnete Möglichkeit des vorzeitigen Ausscheidens aus der Bundeswehr für insgesamt 3 000 Soldaten
der Jahrgänge 1956 und älte r bis zum Ende des Jahres
2006. Rund 5 800 Soldaten waren bisher daran interessiert. Sie waren teilweise enttäuscht, weil sie nicht in Betracht kamen. Das dienstliche Interesse am Abbau der
Personalüberhänge ist allein ausschlaggebend dafür, ob
jemand in Betracht kommt od er nicht. Die hohe Anzahl
der vor der üblichen Zeit Ausscheidungswilligen ist allerdings als Indikator im Zusammenhang mit Berufszufriedenheit bemerkenswert.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Qualität des Sanitätswesens ist gewiss auch für die Berufszufriedenheit maßgeblich. Sie nimmt Schaden, wenn
operative Eingriffe in den Bundeswehrkrankenhäusern
nicht stattfinden können, we il Chirurgen, Anästhesisten
und Orthopäden fehlen, da sie im Einsatz unabkömmlich
sind. Noch eines muss ich be richten: Tagesantrittsstärken zwischen 40 und 60 Prozent sind für T ruppenärzte
keine Seltenheit. Jüngst ist mir sogar von einer Tagesantrittsstärke von nur 16 Prozent berichtet worden. Damit
sind Personalprobleme im Bereich der Sanitätsof fiziere
nicht abschließend aufgezählt. Die Zahl der Berufsbewerber ist weiterhin rückläufig. Auf eine Stelle kommen
zwei geeignete Bewerber; die Möglichkeiten, Seiteneinsteiger zu gewinnen, sind eher mäßig.
Frauen in der Bundeswehr , das ist inzwischen ein
Kapitel des militärischen Alltags. Mit anderen W orten:
Sie gehören einfach dazu. Dies spiegelt sich auch in den
Gesprächen und Eingaben wider und unterscheidet sich
vielfach nicht vom Vorbringen ihrer männlichen Kameraden. Das reicht von einer zu langen Bearbeitungsdauer
von Anträgen bis hin zu unerfüllten V ersetzungswünschen.
Aber auch dies ist wahr: Die Zahl der Verstöße gegen
die sexuelle Selbstbestimmung von weiblichen Soldaten
ist angestiegen. Im Berichtsjahr waren es 57, im Jahre
2001 waren es 20. Regelmäßig ging es um plumpe Anmache oder noch plumpere V erbalerotik, ergänzt durch
Betatschen und andere körperliche Kontakte. Durchweg
passt die Bundeswehr auf und reagiert richtig, was gelegentliche Schwächen nicht ausschließt.
Ein Beispiel für eine solche Schwäche in der Reaktion
sei hier berichtet: Ein Oberleutnant zur See betrat in
stark alkoholisiertem Zustand die Stube einer schlafenden Soldatin und legte sich nackt neben sie ins Bett. Als
sie aufwachte, versuchte er sie zu küssen; auf ihre Aufforderung hin verließ er die Stube. Gegen den Soldaten
wurde ein Verweis verhängt. Ich meine, es geht nicht,
dass eine solche Angelegenheit gewissermaßen unter
vier Augen beigelegt wird.
({12})
Eines schätzen die Soldaten im Übrigen ganz und gar
nicht: ein angestrengtes, ja angespanntes Verhalten von
Vorgesetzten im Umgang mit ihnen bis hin zur ungewöhnlichen Wortwahl, und dies nur , um Fehler zu vermeiden.
Frau Präsidentin, meine Da men und Herren, es sieht
so aus, als werde die Phase der Veränderungen in der
Bundeswehr noch Jahre dauern. Jüngsten Äußerungen
des Bundesministers der V erteidigung zufolge werden
die diesbezüglichen Prozesse der Anpassung und Umsteuerung bis weit in das nächste Jahrzehnt reichen und
das sind möglicherweise we itere Standortschließungen,
weniger Panzer, weniger Tiger, Außerdienstnahme von
Waffensystemen der Luftwaffe, Übernahme von Luftgerät und Auftrag von Marinefliegern durch die Luftwaf fe
sowie Außerdienstnahme von Schnellbooten, um die Armee im Einsatz so gut wie möglich ausstatten zu können.
Meine Damen und Herren, es besteht Veranlassung,
darauf hinzuweisen, dass solche Veränderungen nur greifen können, wenn die im engeren Sinne Betrof fenen,
nämlich die Soldaten, auch mittun und sie nicht nur über
sich ergehen lassen. Die Parlamentsarmee Bundeswehr
muss gerade insoweit erfahr en, dass sie tatsächlich eine
Angelegenheit des Parlaments ist.
({13})
Vielleicht gehört dazu auch die große sicherheitspolitische Debatte über die Rolle des vereinigten Deutschlands in der Welt. Sie hätte nach der Wende stattfinden
müssen und ist bis heute ausgeblieben. Nach meiner Einschätzung ist sie für die Justierung der Bundeswehr und
die Orientierung der Soldaten weiterhin geboten.
({14})
Es ist und bleibt politisch unbefriedigend, dass das Bundesverfassungsgericht und nicht das Parlament oder die
Bundesregierung die entsch eidenden diesbezüglichen
politischen Markierungen gesetzt hat.
({15})
Im Übrigen bin und bleibe ich der Überzeugung, dass
gerade eine Bundeswehr im Einsatz eine nach Ost und
West unterschiedliche Besoldung nicht verträgt.
({16})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, eine abschließende Bemerkung: Di e Einsätze mit Beteiligung
deutscher Soldaten sind noch gefährlicher geworden, als
sie es ohnehin schon waren, auch wenn die Bundeswehr
und ihre Soldaten nicht am Krieg im Irak teilnehmen.
Das ist Herausforderung und Verpflichtung für politische
Verantwortung. Unbeschadet politischer Meinungsunterschiede und über die Parteigr enzen hinweg müssen gerade Soldaten im Einsatz wissen und darauf vertrauen
können, dass ihr Dienst po litisch und gesellschaftlich
ganz breit getragen wird.
Schönen Dank fürs Zuhören.
({17})
Lieber Herr Penner, wir haben nicht nur eine Parlamentsarmee, sondern auch einen Parlamentsbeauftragten. Sie tun Ihre Arbeit fü r uns alle, für das Parlament.
Dafür und auch für Ihren Be richt möchte ich mich bedanken.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anita Schäfer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Wehrbeauftragter Dr. Penner, Sie haben in Ihrer
Rede und in Ihrem Jahresbericht 2002 auf zahlreiche Defizite in der Bundeswehr hi ngewiesen. Das liegt in der
Natur eines Mängelberichts. Für Ihren Bericht danke ich
Ihnen auch im Namen meiner Fraktion. Ebenso gilt unser Dank natürlich auch Ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen.
Gemessen an der Truppenstärke der Bundeswehr sind
die über 6 400 Eingaben ein Maximum. Man kann auch
sagen: Noch nie hatten so wenige Soldaten - die Bundeswehr hat den niedrigsten Personalbestand seit dem
Jahr 1961 - so viele Sorgen.
Eine Ursache, wenn nicht die Ursache der hohen Zahl
der Eingaben liegt gerade in der T ruppenstärke. Noch
nie hatten so wenige Soldaten so viele Aufträge zu bewältigen. Auslandseinsätze sind Normalität geworden
und die Aufgaben in der He imat werden nicht weniger;
ganz im Gegenteil. Ich denke nur an die Bewachung
amerikanischer Liegenschaften. Bundeswehr im Einsatz
kann aber nur gut gehen, wenn zu Hause alles in Ordnung ist.
Was ist nun der Kern des 44. Berichts des Wehrbeauftragten? Es ist der dramatische Abstand zwischen dem
rot-grünen Anspruch und der W irklichkeit. Diese Bundesregierung hat einfach ke in Gesamtkonzept, weder in
der Verteidigung, noch in anderen Politikbereichen. Wir
brauchen endlich wieder eine Sicherheitspolitik nach
Bedrohungslage und nicht nach Kassenlage.
({0})
Herr Dr. Penner, leider unterlassen S ie es, aus den
Elementen Ihres Berichts ein Gesamtbild zu zeichnen.
Viele Eingaben liegen genau in diesem Problem begründet. Aber Sie scheuen sich, es deutlich aufzuzeigen. In
Ihrer Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung des Berichts neulich ging Ihre Kritik an der Bundesregierung
weiter. Zu Recht forderten Sie Berechenbarkeit und Führungsverantwortung von der politischen Führung der
Bundeswehr. Hier liegt der Hund begraben: Die Mehrzahl der Soldatinnen und Soldaten fühlt sich einer unberechenbaren und sprunghaften politischen Führung ausgesetzt. Das Gefühl, verantwortungsvoll und weitsichtig
geführt zu werden, fehlt vielen Soldaten. W oher soll es
auch kommen, wenn nur mit kurz- und mittelfristigen
Aktionen regiert wird? Reform über Reform verunsichert die Truppe.
Genau aus diesem Klima ergeben sich die handfesten
Gründe, die zu den vielen Eingaben an den W ehrbeauftragten führen. An drei Themen zeigt sich das. Ich nenne
erstens das Attraktivitätsprogramm, zweitens die Nachwuchswerbung und drittens die Fürsor ge des Dienstherrn.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was den ersten
Punkt angeht, kann ich nur empfehlen: Zu Risiken und
Nebenwirkungen des Attraktivitätsprogramms fragen
Sie Ihren Wehrbeauftragten. - Jede dritte Eingabe betrifft den Bereich Personalführung. Viele der groß angekündigten Maßnahmen hatten nur einen kurzfristigen
Effekt. Wer zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, hatte
Glück. Viele andere wurden benachteiligt. Die an sich
positive Hebung der Stellen für Kompaniechefs nach
A 12 hat erhebliche Probleme mit Folgeverwendungen
gebracht. Dazu ein groteskes Beispiel: Ein Oberleutnant,
Zugführer und Vermessungsingenieur, hat zweimal die
Beförderung zum Batteriechef und damit nach A 12 ausgeschlagen, weil er um seine Folgeverwendung nach
A 11 im Militärgeographischen Dienst fürchtete; die Ereignisse gaben ihm Recht. Das Attraktivitätsprogramm
hatte also zur Folge, dass Leistungsträger durch die
Übernahme von Führungsverantwortung Nachteile erfahren konnten.
Andere Offiziere und Feldwebel mussten erleben,
dass deutlich jüngere Soldaten an ihnen vorbeizogen und
rasant befördert wurden. Diesen Petenten geht es weniger um materielle Nachteile als vielmehr um ihre Anerkennung und Selbstachtung. Ein Petent merkt zu Recht
an, dass solche Ungleichbe handlungen Unruhe bis auf
Kompanieebene bringen und man sich dann die Frage
stellt: Was habe ich falsch gemacht?
Fachunteroffiziere mögen ja helfen, personelle Lücken zu schließen. Es muss aber auch gewährleistet sein,
dass die Seiteneinsteiger mit höherem Dienstgrad den
allgemeinen Anforderungen entsprechen. Gerade die
mangelnde Fähigkeit, Menschen zu führen, erntet aber
viele kritische Stimmen aus der Truppe. Aus Gesprächen
mit jungen Kompaniechefs sind mir deren Sor gen bekannt, dass Fachunterof fiziere nicht überzeugen, dass
die Truppe sie nicht anerkennt. Es ist beklagenswert,
wenn der Dienstgrad nur noch etwas über die Besoldungsgruppe, aber nichts me hr über die Fähigkeit zum
Führen von Soldaten aussagt. Führungskompetenz ist
immer noch das, was die So ldaten am meisten brauchen
und schätzen.
Gleichzeitig fühlen sich ab er altgediente Unterof fiziere und Feldwebel degradiert, weil sie oft die Aufgaben von qualifizierten Ma nnschaftsdienstgraden übernehmen müssen. Ob sich diese Probleme auf eine
Übergangsphase beschränken lassen, bleibt zu bezweifeln. Das Attraktivitätsprogramm hat zu viele Nebenwirkungen. Die militärische Ausbildung der Fachdienstunteroffiziere muss deutlich verbessert werden. Die
Folgeverwendungen der Kompaniechefs müssen angepasst werden.
Ich komme zweitens zur Nachwuchswerbung der
Bundeswehr. Wie sehr die Nachwuchsgewinnung stockt,
zeigt das weiterhin rückläufige Bewerberaufkommen für
Anita Schäfer ({1})
Offizierstellen, ganz besonders für Sanitätsof fizierstellen. Wie nachlässig man an die Nachwuchswerbung
herangeht, zeigen zum Beispi el Fälle, in denen Zeitsoldaten bei der Bewerbung keine V orstellung vermittelt
bekommen, was es heißt, Sold at zu sein. Das V erteidigungsministerium muss hier kräftig nachbessern und den
Bewerbern mehr Informationen geben. Bei allen Äußerungen, angefangen bei dene n des Ministers, muss klar
werden, dass Soldat kein Beruf wie jeder andere ist. Ein
einheitliches soldatisches Berufsbild muss vermittelt
werden.
({2})
Junge Menschen vermissen daher logischerweise eine
klare Perspektive bei der Bundeswehr. Es darf nicht vorkommen, dass Bewerbern nichts über die allgemeine
Grundausbildung gesagt wird. Aus den Petitionen an den
Wehrbeauftragten ergibt sich deutlich die Erkenntnis:
Auf Nachwuchswerbung legt der Verteidigungsminister
nicht seinen Schwerpunkt. Ich fordere daher mehr Engagement von Minister Struck in dieser Sache. Ansonsten hat die Bundesregierung fü r die Einsätze bald keine
Soldaten mehr.
An der Nachwuchswerbung wird aber noch etwas
deutlich: Die rot-grüne Regier ung schafft es nicht, das
Ansehen des Soldatenberufs unter Jugendlichen zu steigern; vermutlich will sie das auch gar nicht. W er eine
Armee in den Einsatz schickt, muss auch hinter ihr stehen. Ich glaube, viele Jugendliche spüren, dass diese Regierung zwar die Bundeswehr braucht, sie aber nicht
schätzt.
({3})
Die Worte Spardiktat und Unterfinanzierung sagen viel
aus. Neben den Verdienstmöglichkeiten ist aber das Ansehen eines Berufs für Juge ndliche der wichtigste Entscheidungsfaktor.
Heute dominiert aber eine Ohne-mich-Einstellung die
Sicht der Jugend auf die Bundeswehr . Das vermeintlich
hohe Ansehen in Meinungs umfragen geht mit weit gehendem Desinteresse einher, wie es der Truppe wirklich
geht. Viele Soldaten meinen auch, ein Desinteresse der
Politik zu spüren. Verteidigungspolitik wird ausschließlich als Sparpolitik empfunden, ausgetragen auf dem Rücken der Soldaten. Die polit ische Symbolik sowie Sinn
und Zweck der Einsätze bleiben nachrangig.
Viele Eingaben an den Wehrbeauftragten zeigen, dass
die Grenze der materiellen wie auch der ideellen Belastbarkeit der Streitkräfte erreicht ist. Die starke Belastung
im Dienst dringt auch nach außen und wird von der Gesellschaft wahrgenommen. Damit bin ich bei meinem
dritten Punkt, der Fürsorge des Dienstherrn angesichts
der starken Belastungen. Fürsor ge muss als ganzheitliche Aufgabe gesehen werden, als der wichtigste Faktor
eines gegenseitigen Treueverhältnisses.
({4})
Fürsorge zeigt sich in Folgendem: in der materiellen
Ausstattung, in der Or ganisation des Dienstes, in der
Rechtsklarheit im Dienst, in der sozialen Absicherung
und besonders darin, dass si ch der Dienstherr um die
menschlichen Probleme der Soldatinnen und Soldaten
kümmert.
Die angesprochene Unterfinanzierung der Bundeswehr hat materielle Defizite entstehen lassen. Mittlerweile sind die Kasernen in den alten Bundesländern oft
in einem schlechteren Zustand als die Kasernen in den
neuen Ländern. Zahlreiche Eingaben beklagen Schäden
und Schimmelbefall in den Unterkünften. Übertriebene
Sparmaßnahmen bei den Heizkosten haben neue Schäden verursacht. Hier wird Sparen teuer und für die
Truppe nicht mehr nachvollziehbar.
Damit ist der vorliegende Be richt auch eine nachhaltige Aufforderung an die Bundesregierung, ihren Soldaten eine menschenwürdige Unterbringung bereitzustellen.
Das gilt auch für die Schiffe und Boote der Marine. In
tropischen Gewässern eing esetzte Einheiten können
nicht ohne Klimaanlagen operieren. Starker Schimmelbefall in den Kajüten darf den Besatzungen nicht zugemutet werden.
Wenn aus Kostengründen zu wenige gepanzerte Fahrzeuge im Einsatzland sind, dann werden die eingesetzten
Soldaten unnötigen Gefahren ausgesetzt. Angesichts der
Diskussion über einen Einsatz im Irak warne ich die
Bundesregierung aber, hierfür geschützte Fahrzeuge aus
anderen Einsätzen abzuziehen.
Einsätze müssen und können sich nur an den vorhandenen Ressourcen ausrichten. Das gilt im Besonderen
für die persönliche Ausstattung der Soldaten.
Die Versorgung mit Kleidung ist ein weiterer Punkt,
der die Stiefmütterlichkeit belegt, mit der Rot-Grün unsere Bundeswehr finanziert. W o, wie in meinem W ahlkreis, kein Geld bereitge stellt wird, um die Soldaten
rechtzeitig und ausreichend auszustatten, liegt es auf der
Hand, dass man von Ausstattungsherstellern die Produktion schon mal zum Selbstko stenpreis verlangt. Das,
meine Damen und Herren, ist nun wirklich die Bankrotterklärung bezüglich der rot- grünen Fürsorge für unsere
Soldaten.
({5})
Eine Vielzahl von Eingaben an den Wehrbeauftragten
richtet sich gegen die Dauer des Auslandseinsatzes von
sechs Monaten. Die Folgen der Trennung von der Familie oder dem Lebenspartner sind schwerwiegend. V iele
Beziehungen geraten in Probleme. Mir persönlich ist ein Fall
bekannt, in dem der kurzfristig befohlene Anschlusse insatz
im Ausland nachweislich zu einer Frühgeburt bei der
Ehefrau des Soldaten geführt hat. Die mangelnde Koordination von Auslandseinsätzen lässt das absolut notwendige Mindestmaß an Fürs orge des Dienstherrn vermissen.
({6})
So ist es auch kein W under, dass immer mehr Soldatenehen scheitern. Die dien stlichen Belastungen haben
Anita Schäfer ({7})
für viele Zeit- und Berufsso ldaten ein solches Ausmaß
erreicht, dass sie vor der Fr age Dienst oder Familie stehen. Ich fordere daher den B undesminister der Verteidigung auf, mit allen Mitteln zu verhindern, dass eine hohe
Scheidungsquote zum Berufs bild des Soldaten gehört.
Der Soldat im Auslandseins atz hat einen existenziellen
Anspruch auf Familienbetreuung. Ein Soldat, der sich
permanent Sorgen um P artner oder Familie machen
muss, ist nur teilweise einsatzfähig.
({8})
Mobilität gehört zwar zum Beruf des Soldaten, die
Stehzeiten im Ausland müssen aber besser or ganisiert
werden. Sie müssen verkürzt werden. Wer die Dauer des
Einsatzes als nebensächlich herunterspielt, verharmlost
das Problem. Für viele jung e Soldaten ist nach dem
Wegfall der traditionellen Abschreckung der sechsmonatige Einsatz die moderne Form der Abschreckung.
Eine weitere organisatorische Frage ist Teilzeitarbeit
für Soldatinnen und Soldaten. Neue, innovative Arbeitszeitmodelle können Familie und Beruf besser vereinbar
machen. Dienstposten in St abs- und Lehrverwendungen
bieten sich an, aber auch die Bereiche Nachwuchswerbung, Öffentlichkeitsarbeit oder Heimatschutz.
Zur Fürsorge des Dienstherrn gehört auch die Rechtsklarheit. Es darf nicht sein, dass Soldaten ohne klare
Rechtsgrundlage in den Eins atz gehen. Es ist geradezu
beschämend für eine Regierung, wenn sie diese trotz aller sich aufwerfenden Fragen stur verweigert. Ganz aktuell ist das Problem der A WACS-Besatzungen. Aber es
gibt auch zahlreiche andere Beispiele. So können betroffene Soldaten zum Beispiel nicht nachvollziehen, dass
die Novelle des MAD-Gesetzes, also ihre Rechtssicherheit, auf dem Altar des rot-grünen Koalitionsfriedens geopfert wurde.
In diesem Zusammenhang ist auch die Anpassung des
Soldatenversorgungsgesetzes kein Privileg, es ist vielmehr eine zwingende Notw endigkeit. Die Bundesregierung kann nicht Menschen nach Afghanistan in einen
lebensgefährlichen Einsatz schicken und die V ersorgungssicherung an den Gefahren einer deutschen Amtsstube ausrichten. Wenn Tod und Verwundung im Einsatzland fast immer zum Rechtsstreit führen, dann
verliert die Truppe den letzten Rest an Vertrauen in die
politische Führung.
Zum Schluss noch ein Wort zu den Reservisten. Eingaben zeigen, dass sich viele Reservisten in der Schwebe
fühlen, was ihre militärisc he Zukunft angeht. Die lange
angekündigte Reservistenkonzeption steht noch immer
aus. Verbunden mit dem Mangel an Personal und Material leiden so Ausbildung und Förderung. Gerade im
Hinblick auf den Heimatschu tz sind aber Reservisten
wichtig. Ich sage: ohne Reservisten kein Heimatschutz.
({9})
Wie dringend diese Frage für unser Land und unsere
Gesellschaft geworden ist, muss ich hier wohl keinem
mehr erklären. Das, lieber Herr Minister Struck, macht
letzten Endes auch deutlich , dass die derzeitigen Planspiele der Koalition, die Wehrpflicht gegebenenfalls aufzugeben, nicht von Vorteil für das Land sind.
({10})
Ich komme zum Schluss: Der 44. Bericht des W ehrbeauftragten hat deutlich ge zeigt, dass die Kluft zwischen dem politischem Anspruch und der Lage in der
Truppe immer größer wird . Diese Regierung hat fast
nichts unternommen, um die Lage der Streitkräfte zu
verbessern. Neben der dramatischen Unterfinanzierung
steht eine zunehmende Di stanz zwischen Bundeswehr
und Politik. Die Soldatinnen und Soldaten spüren, dass
diese Regierung sie zwar braucht, aber nicht wirklich
achtet.
Der diesjährige Bericht de s Wehrbeauftragten lässt
nur einen Schluss zu: Herr Bundeskanzler, Herr Verteidigungsminister,
({11})
kümmern Sie sich mehr um die Bundeswehr . - Der
Kanzler braucht nicht da zu sein; der Bundesminister der
Verteidigung ist wichtig. - Sorgen Sie für eine den Aufträgen angemessene Finanzierung und Organisation.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich erteile das W ort dem Parlamentarischen Staatssekretär Walter Kolbow.
({0})
Herr Präsident! Liebe Ko lleginnen und Kollegen!
Herr Wehrbeauftragter, zunächst darf ich für die Exekutive Ihnen, Herr Dr . Penner, und Ihren Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern für Ihren umfassenden Bericht herzlich
danken. Dieser dritte in Ihre r Amtszeit erstellte Bericht
zeigt: Sie haben wieder be währt über die Grundrechte
der Soldatinnen und Soldaten und die Beachtung der
Grundsätze der inneren Führung gewacht.
Sie haben betont, dass Ihr Bericht kein Zustandsbericht der Bundeswehr, sondern auch, wie immer in den
vergangenen Jahren, ein Mängelbericht ist. Er ist natürlich eine sehr wertvolle Mo mentaufnahme. Er hat sich
mit den Sorgen und dem Ärger unserer Soldatinnen und
Soldaten, aber auch mit den Schwächen und Stärken des
Systems der Bundeswehr zu beschäftigen. Die Einlassungen der höchstgeschätz ten Kollegin Schäfer haben
gezeigt, dass man, wenn einem dieser Bericht nicht
passt, die Dinge natürlich noch schlechter reden kann,
als sie im Bericht des W ehrbeauftragten beschrieben
sind.
Meine Damen und Herren, für uns im Bundesministerium der Verteidigung ist der Jahresbericht des W ehrbeauftragten wieder eine bedeutsame Hilfe und Anregung.
Ich freue mich darüber und danke dem Wehrbeauftragten
dafür, dass er auch positive Seiten herausgestellt hat. Er
hat im Bericht auf die überra genden Leistungen bei der
Bewältigung der Hochwasserkatastrophe an Elbe und
Donau hingewiesen und daraus sehr zu Recht eine hervorragende Akzeptanz der Institution Bundeswehr in der
Gesellschaft und auch im Ausland abgeleitet. Frau
Schäfer, wir brauchen und schätzen die Soldatinnen und
Soldaten. Das gilt nicht nur für die deutsche Gesellschaft, sondern natürlich auch für die, die für sie verantwortlich sind, für die politische Leitung und die militärische Führung. Ich lade Sie herzlich ein zur V erleihung
der Verdienstorden an die Soldatinnen und Soldaten aufgrund ihrer hervorragenden Leistungen bei der Flutkatastrophe.
Sie werden im weiteren Verlauf meiner Ausführungen
sicherlich konstatieren k önnen, dass wir die Soldaten
nicht nur schätzen, sondern auch etwas für sie tun und
aus den aufgezeigten Mängeln Konsequenzen ziehen.
Darauf haben sie, die Soldatinnen und Soldaten, einen
Anspruch, ebenso Sie im Parlament und natürlich auch
der Herr Wehrbeauftragte, der für Sie Kontrollorgan ist.
({0})
Jetzt zu den kritischen Anmerkungen des Herrn
Wehrbeauftragten: Die im Berichtszeitraum sehr hohe
Zahl der Eingaben beweist, dass die Soldatinnen und
Soldaten sich neben der laufenden Umstrukturierung
in besonderem Maße auch der Herausforderung ausgesetzt sehen, die sich aus den umfangreichen Auslandseinsätzen der Bundeswehr ergibt.
Die Auslandseinsätze stellen in der Tat eine enorme organisatorische, personelle und logistische Herausforderung dar. Dies belastet die Soldatinnen und Soldaten sowie deren Angehörige aufs Äußerste. W egen dieser
großen Belastung ist die gewachsene Zahl der Eingaben,
die im Zusammenhang mit den Auslandseinsätzen stehen,
zu erklären. Am meisten wurde die Höhe des Auslandsverwendungszuschlages und die Frage der Stehzeit im
Einsatz thematisiert. Es wurden aber auch - zu Recht Fragen der Betreuung sowi e des Soldatenversor gungsrechts angesprochen. Genau dies sind auch aus Sicht des
Verteidigungsministeriums die Themenbereiche, die der
besonderen Beachtung bedürfen und bei denen es gilt, für
weitere Verbesserungen Sorge zu tragen.
Ich will kurz fünf Schwerpunkte ansprechen.
Erstens: Familienbetreuung. Der Familienbetreuung
kommt eine große Bedeutung zu. Deshalb hat der Bundesminister der Verteidigung im ver gangenen Jahr die
ersten zehn Familienbetreuungszentren mit hauptamtlichem Personal ausgestattet und damit für eine weiter
verbesserte Betreuung der Soldatinnen und Soldaten
Sorge getragen. Unsere Absicht ist - das wissen Sie -,
31 Familienbetreuungszentren mit hauptamtlichen Mitarbeitern aufzubauen. Die positiven Rückmeldungen der
Teilnehmenden im Einsatz und der betroffenen Familien
machen deutlich, dass die Familienbetreuungszentren
und -stellen ihre Aufgaben mit Verantwortungsbewusstsein, mit fachlichem Können und Fingerspitzengefühl
wahrnehmen. An diese Erfolge gilt es anzuknüpfen.
Zweitens: Stehzeit im Einsatz. Die Initiativen im
Verteidigungsausschuss unter anderem vonseiten der
FDP-Fraktion haben dazu beigetragen, dass wir diesem
Thema eine große Beachtung schenken werden. W ir
wissen um die besondere Belastung der Soldatinnen und
Soldaten. Sie sind auch von Ihnen, Frau Kollegin
Schäfer, dargelegt worden. Wir verhehlen keinesfalls, dass
es derzeit eine Notwendigkeit für eine sechsmonatige Stehzeit im Einsatz gibt, die sich aus dem operationellen Bedarf
und der gegenwärtigen Struktur der Bundeswehr - wir wollen sie zu einer Einsatzarmee umbauen - herleitet. Bei einer
viermonatigen Stehzeit müsste der Einzelne im Durchschnitt bereits nach 16 Monaten wieder zu einem Einsatz
herangezogen werden. Verbunden mit der Entscheidung
für eine sechsmonatige Stehzeit wurde die Möglichkeit
der Gewährung von drei W ochen Urlaub während des
Einsatzes eröffnet. Zusätzlich wurde im Rahmen eines
Splittingmodells die flexible Festsetzung der Stehzeit im
Einsatz ermöglicht. Diese Maßnahmen sollen ab Juni
dieses Jahres im vollen Umfang erprobt werden.
Drittens: Soldatenversorgungsgesetz und Auslandsverwendungszuschlag. Es ist eine unserer Aufgaben, in diesem Bereich ständig zu V erbesserungen zu
kommen. Dies tun wir, wie Sie aus den Diskussionen gerade im Verteidigungsausschuss wissen. Die einstimmige
und begrüßenswerte Entschließung des Verteidigungsausschusses, die Versorgungsleistungen bei Auslandseinsätzen unverzüglich zu verbe ssern und auszubauen, entspricht auch den Anforderungen, die sich aus dem Bericht
des Wehrbeauftragten ergeben. Wir werden zu Regelungen beitragen, die besser als bisher den Gefahren im Einsatz Rechnung tragen. Ich rufe Ihnen das Stichwort
„Einsatzunfall“ in Erinnerung. Ein entsprechendes Konzept wird derzeit im Minister ium erarbeitet. Ziel ist es,
durch Änderungen im Soldat enversorgungsgesetz unter
der Überschrift „Einsatzversorgung“ Leistungsverbesserungen zu schaf fen. Unter anderem sollen die in bestimmten Fällen bestehenden Unterschiede zwischen der
Versorgung der Soldatinnen und Soldaten auf Zeit sowie
der Soldatinnen und Soldaten, die freiwillig zusätzlichen
Wehrdienst leisten, und der so genannten qualifizierten
Unfallversorgung der Berufssoldatinnen und -soldaten
ausgeglichen werden.
Viertens: attraktives Laufbahn- und Beförderungsangebot. Dies ist für die künftige Stimmungslage in der
Truppe - wer wollte das bestreiten - von erheblicher Bedeutung. Der Wehrbeauftragte beschreibt in seinem Bericht sehr zutref fend, wie die Motivation durch ein attraktives Laufbahn- und Beförderungsangebot bestimmt
wird. Dem haben wir durch das Attraktivitätsprogramm
Rechnung getragen, dessen Nebenwirkungen nicht so
drastisch sind, wie Sie es mö glicherweise - das tun Sie
sonst nicht, Frau Kollegin - aus politischer Absicht darstellen.
Denn wir haben hier spür bare Beförderungsmöglichkeiten eingeleitet, insbesondere auch bei den Feldwebeldienstgraden. Sie wissen, dass wir durch die Bündelung
der Dienstposten etwas W ichtiges für die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf getan haben. Es ist beabsichtigt,
alle Oberfeldwebel, die im Zusammenhang mit den Beförderungen zum Haupt- oder Stabsfeldwebel nach einer
Verwendungsentscheidung vor dem 1. April 2002 im
Zuge der weiteren Bündelung noch nicht befördert worden sind, im Rahmen der Planstellen des Haushaltes
2003 zu befördern.
Fünftens: Soldatengleichstellungsgesetz und T eilzeitarbeit. Die Erarbeitung eines Soldatengleichstellungsgesetzes und das Auslot en von Möglichkeiten für
Teilzeitarbeit treiben wir mit Nachdruck voran. Der Entwurf eines Soldatengleichstellungsgesetzes ist auf dem
Weg. Auch die Teilzeitarbeit ist Gegenstand ernsthafter
interministerieller Überlegungen mit dem Ziel, unverzüglich - Frau Kollegin Wohlleben, Sie haben sich sehr
intensiv mit dieser Angelegenheit beschäftigt - eigene
und sehr konkrete Vorstellungen zur Umsetzung zu formulieren.
Abschließend ist es mir ein Anliegen, nicht nur grundsätzlich, sondern auch aus Sicht des Bundesministeriums
der Verteidigung auf die innere Führung einzugehen:
Die innere Führung verharrt nicht im Stillstand, sondern
folgt den Forderungen des Generals de Maizière, dass so hat auch der Herr W ehrbeauftragte heute seinen Bericht eingeleitet - „der veränderte Auftrag der Bundeswehr, aber auch das Lebensgefühl und die Lebenswirklichkeit richtungsweisend und bestimmend“ für die
Ausgestaltung der inneren Führung sind.
Das Leitbild von der Rolle des Staatsbürgers und der
Staatsbürgerin in Uniform behält auch unter den Bedingungen einer Bundeswehr im Einsatz unverändert seine
zentrale Bedeutung. Soldatinnen und Soldaten sind immer und gerade in diesen he rausfordernden und für sie
besonders schwierigen Zeiten als politisch denkende und
handelnde Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gefordert.
In diesem Zusammenhang ist der herausragende Stellenwert des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages zu sehen. Diesen Stelle nwert haben wir in dem vorliegenden Bericht nachvollzi ehen können. Er ist nicht
hoch genug einzuschätzen. W ir werden den Bericht auf
der Grundlage der Debatten im V erteidigungsausschuss
und Ihrer heutigen Debattenbeiträge zeitgerecht mit unseren Ergebnissen versehen und können darüber im Deutschen Bundestag noch vor der Sommerpause debattieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.
({1})
Das Wort hat die Abgeordnete Helga Daub, FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Herr Dr. Penner, seitdem die Bundeswehr in Auslandseinsätzen ist, und seit de n Katastropheneinsätzen wie
seinerzeit beim Oderbruch oder im letzten Jahr bei der
Elbeflut ist die Bundeswehr wieder mehr in das Licht der
Öffentlichkeit geraten - und damit natürlich auch der
Bericht des W ehrbeauftragten. Herr Dr . Penner, ich
möchte Ihnen und Ihren Mita rbeitern für die Erstellung
dieses Berichts und auch für die Offenheit in der Bewertung danken.
({0})
Um es vorweg zu sagen: Wie ein roter Faden zieht es
sich durch den Bericht, da ss Soldaten, Soldatinnen und
ihre Familien bei aller Notwendigkeit zu Reformen
Planungssicherheit und Verlässlichkeit - auch bezüglich der Äußerungen des Bu ndeskanzlers und der Kabinettsmitglieder - wollen. W as sie nicht brauchen - wir
alle übrigens nicht -, ist das System: Interview, Dementi,
Gegeninterview, so wie kürzlich beim Thema Finanzausstattung geschehen.
({1})
Wenig hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch das
Interview des Umweltministers zur Reform der Bundeswehr usw.; es sei denn, er will das Dosenpfand am Hindukusch einführen.
({2})
Entgegen den Behauptungen mancher böser Zungen,
beim Wehrbeauftragten werde sich nur ausgeheult und
geklagt, ohne zu leiden, sehen wir eine Bestandsaufnahme, wie es um unsere Bu ndeswehr bestellt ist. Unsere Soldaten sind leistung swillig und leistungsfähig.
Wir können zu Recht stolz auf sie sein.
({3})
Umso wichtiger ist es, sich endlich den Problemen zu
stellen, die im Bericht des W ehrbeauftragten angesprochen werden. Seit Bestehen des Amtes hat es gemessen
an der T ruppenstärke noch ni e eine so hohe Zahl von
Eingaben gegeben.
({4})
Es gibt viele Gründe dafür: Die Bundeswehr befindet
sich im Wandel - das wurde schon öfter angesprochen und dieser Wandel mutet den Soldaten viel zu. Auch deshalb ist es an der Zeit, dass die jetzige Reform angegangen wird, damit sich endlic h jeder darauf einstellen
kann, was passieren wird, und damit nicht schon nach
kurzer Zeit eine Reform der Reform notwendig wird
oder - wie es so schön heißt - nachjustiert werden muss.
Das schulden wir unseren Soldaten.
({5})
Der Wehrbeauftragte hat natürlich Recht: Die Bundeswehr ist ein Großtanker, der nicht beliebig zu manövrieren ist, aber man muss ihm endlich eine Richtung geben. Bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr wird
der Handlungsbedarf besonders deutlich: Die Einsatzdauer von sechs Monaten ist zu lang, die Abstände zwischen den Einsätzen sind zu kurz und der zugesagte
Mindestabstand von zwei Ja hren zwischen zwei Auslandseinsätzen kann nicht eingehalten werden.
Es gibt auch etliche Beschwerden über die Höhe der
Auslandsverwendungszuschläge und über die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hier
- wie in der Gesellschaft üb erhaupt - besteht auch bei
der Bundeswehr Handlungsbedarf; und das nicht erst seit
die Bundeswehr für Frauen geöffnet ist. Der Wehrbeauftragte kommt zu Recht zu dem Schluss, es dürfe auf keinen Fall eine Lage entstehe n, in der sich der einzelne
Soldat zwischen den Belang en des Dienstherren einerseits und seiner Familie andererseits entscheiden muss.
Natürlich weiß der Zeit- und Berufssoldat, dass er
mobil und flexibel sein muss . Dass dies jedoch nicht
überstrapaziert werden sollte , zeigt die im Bericht des
Wehrbeauftragten genannte Tendenz: Wegen der Dauer
und der zunehmenden Häufi gkeit der Auslandseinsätze
verzichten viele Soldaten nach Ablauf der V erpflichtungszeit auf eine W eiterverpflichtung, verkürzen die
Dienstzeit oder verzichten auf eine Übernahme als Berufssoldat. Das ist ein alarmierendes Signal für die Attraktivität der Bundeswehr.
({6})
Hoch qualifizierte Kräfte gehen der Bundeswehr verloren, Motivation im Übrigen auch. Das ist schlecht, wenn
die Bundeswehr eine gute Zukunft haben soll.
Den größten Anstieg der Eingaben verzeichnete der
Bereich Personalfragen. Besonders hervorzuheben ist
der Beförderungsstau der Unteroffiziersdienstgrade. Es
ist natürlich löblich und vernünftig, dass jungen Feldwebeln und Oberfeldwebeln ein attraktiver Beförderungsweg gezeigt wird; solange es der Qualifikation entspricht, versteht sich. Es müsste sich jedoch von selbst
erklären, dass das nicht auf Kosten der Dienstälteren geschehen darf, die sich dann natürlich übergangen fühlen.
Das ist sozialer Sprengstoff in der Truppe.
Dass diese Kritik ernst zu nehmen ist, zeigen die
3 000 Soldaten, die von der Vorruhestandsregelung
schon Gebrauch gemacht haben. 7 000 weitere Anträge
konnten nicht berücksichtigt werden. Diese Zahlen lassen eindeutige Rückschlüsse auf die Berufsunzufriedenheit zu.
({7})
Es ist der frustrierte Beru fssoldat, der immer mehr an
seiner Berufung zweifelt. Hier muss sich endlich etwas
ändern. Ich zitiere aus dem Bericht:
Es sind die aktiven Soldaten, die durch ihre Einstellung zum Dienst die Attraktivität der Streitkräfte ausmachen. Zufriedene Soldaten sind gute Werbeträger.
Das gilt insbesondere für die noch ausstehende Angleichung der Ost- an die Westbesoldung. Mein Kollege
Günther Nolting hat die Situation in der Debatte über
den Einzelplan 14 sehr plas tisch geschildert. W ie soll
man 100 Prozent Einsatz und 100 Prozent Motivation
für nur 90 Prozent des Soldes einfordern?
({8})
Im In- und Ausland erfülle n Soldaten aus den neuen
Bundesländern ihren Auftrag Seite an Seite mit ihren
Kameradinnen und Kameraden aus den alten Bundesländern. Die Ost-West-Besoldungsdifferenz ist durch
nichts mehr gerechtfertigt. Sie wirkt demotivierend und
diskriminierend und ist dahe r schnellstmöglich abzuschaffen. Für die Soldaten fordern wir dies vor 2007 und
2009.
({9})
Dem Verteidigungsminister glaube ich gerne, dass für
ihn die Unterteilung in qua lifizierte und nicht qualifizierte Unfälle genauso zynisch klingt wie für mich. Alle
Fraktionen haben im Januar im Verteidigungsausschuss
festgestellt, dass das Versorgungsrecht entsprechend
den neuen Anforderungen an die Bundeswehr geändert
werden muss. Der Minister versprach, entsprechende
Maßnahmen zu tref fen. Ich bitte ihn herzlich, dies
schnell zu tun.
({10})
Abschließend möchte ich festhalten, dass sich in dem
Bericht des W ehrbeauftragten Forderungen der FDP
wiederfinden. Die in dieser W oche geäußerte Zustimmung zu einem Entsendegesetz - das sagt man allgemein; wir meinen eher ein Mitwirkungs- oder Beteiligungsgesetz - ist ein guter Anfang.
({11})
- Da Sie, Herr Nachtwei, gerade „Richtig!“ gerufen haben, möchte ich Folgendes deutlich sagen: Ich meine,
heute Morgen einige seltsame Töne in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers gehört zu haben. Wir möchten ganz eindeutig feststellen: Für uns gilt das Primat des
Parlamentsvorbehalts, wie groß oder wie klein ein Einsatz auch sein mag. Das muss in der Debatte unstrittig
sein.
({12})
- Dazu passt wunderbar mein Schlusssatz, Herr
Nachtwei: Lassen Sie uns gemeinsam Rechts-, Planungs- und politische Sicherheit für die Bundeswehr
schaffen.
Danke.
({13})
Nun hat der gerade angesprochene Kollege W infried
Nachtwei das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr W ehrbeauftragter,
lieber Herr Penner! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Jahresbericht des W ehrbeauftragten ist kein Zustandsbericht; das ist uns be kannt, aber wahrscheinlich
kaum in der Öf fentlichkeit. Er ist aber auch kein reiner
Mängelbericht, sondern ist zugleich ein Stimmungsbarometer und Problemindikator , der uns wesentliche Hinweise darauf gibt, was zu tun ist. Herr Penner , ich
möchte Ihnen und Ihren Mita rbeiterinnen und Mitarbeitern im Namen meiner Fraktion wieder herzlich für Ihre
Arbeit danken. Wenn ich das zum wiederholten Male
tue, dann ist das in keiner Weise ein Ritual, sondern geschieht aus voller Überzeugung. Wir danken Ihnen.
({0})
Der Bericht des Wehrbeauftragten beinhaltet auch positive Nachrichten. Vor einigen Jahren waren wir sehr
beunruhigt über die zunehm ende Zahl der Meldungen
über bestimmte besondere Vorkommnisse, nämlich über
Ereignisse mit Verdacht auf rechtsextremen oder fremdenfeindlichen Hintergrund. Hier gibt es die erfreuliche Entwicklung, dass zumindest die Zahl der Meldungen dieser besonderen V orkommnisse von fast 200 in
den Vorjahren auf 111 im letzten Jahr deutlich zurückgegangen ist.
Eine zweite gute Nachricht. Die Integration der Soldatinnen in die Bundeswehr ist besser gelaufen, als von
Skeptikern erwartet wurde.
Drittens. Eine weitere sehr gute Nachricht ist - das
wird von allen Kolleginnen und Kollegen so geteilt -,
dass die durchschnittlich 9 000 Soldatinnen und Soldaten, die sich in Auslandseinsätzen befinden, in jedem
Monat entscheidend zur Gewalteindämmung und
Kriegsverhütung beitragen. Au ch vor Ort genießen sie
zu Recht hohes Ansehen.
Schließlich ist positiv - das steht nicht im Bericht, ist
aber für das Parlament sehr interessant -, dass wir so
früh wie nie zuvor begonnen haben, diesen Bericht im
Bundestag zu debattieren.
Das Jahr 2002 war das erste Jahr der neuen großen Einsätze, nämlich der Einsätze in Kabul und im Rahmen der
Bekämpfung des internationa len Terrorismus. Das ging
einher mit einer enormen Steigerung der Belastungen und
Risiken. Aber es schlug sich auch in einem enormen Anstieg von Eingaben - die Zahl der Eingaben ist um fast
32 Prozent gestiegen - nieder. Auch wenn die gerade genannten Rahmenbedingungen sicherlich dazu beigetragen
haben, so ist dieser Anstieg dennoch beunruhigend.
Zu Zeiten des Ost-W est-Konflikts war die Motivationslage für Bundeswehrange hörige noch relativ einfach. Mit den neuen Aufgaben, der neuen politischen
Unübersichtlichkeit und der Einsatzrealität sind die
Rahmenbedingungen für Mo tivation und Einstellung
der Bundeswehrangehörigen zumal angesichts des hohen Anspruchs von Staatsbür gern in Uniform komplizierter geworden.
Der Wehrbeauftragte spricht unter anderem folgende
Problembereiche an, die di e Motivation beeinträchtigen
und Hindernisse für die Re generation und Nachwuchsgewinnung der Streitkräfte sein können:
Erstens geht es eben um diese Nachwuchsgewinnung.
Es gibt immer noch zu viele Klagen über die Arbeit von
Zentren für Nachwuchsgewinnung und W ehrdienstberatern, zum Beispiel über zu lange Bearbeitungszeiten. Bewerberinnen bemängeln, ihnen würden nur die positiven
Seiten des Bundeswehrdienstes dar gestellt, die beanspruchenden und belastenden jedoch weniger . Weiterhin wird
gesagt, die Beratung erfolge oft nur bezogen auf den Bedarf der Truppe und es werd e zu wenig auf neigungsgerechte Verwendungen eingegangen.
Zweitens. Es wird immer deutlicher, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Bundeswehr aus
zwei Gründen auf die Tagesordnung gesetzt worden ist:
Zum einen geschah dies durch den wachsenden Anteil
von Soldatinnen und Alleinerziehenden in den Streitkräften. In einer Studie der Bundeswehruni in Hambur g
wurde festgestellt, dass einer familienorientierten Personalpolitik in der Bundeswehr in Zukunft eine außerordentliche Bedeutung zukommt. Die Notwendigkeit der
Einsatzbereitschaft, des Dienstes in Schif fen und der
Auslandseinsätze ist unstrit tig. Trotzdem muss sich die
Bundeswehr in T eilbereichen Gedanken um flexiblere
Arbeitszeiten, Teilzeitbeschäftigung und Kinderbetreuung machen.
Zum anderen beeinträchtigen vor allem die Auslandseinsätze das Familienleben von Bundeswehrangehörigen. Gerade in Familien m it kleinen Kindern sind die
Entfremdungsprozesse erheblich. Dauer und Häufigkeit
von Auslandseinsätzen mindern inzwischen die Bereitschaft von Soldaten, sich weiter zu verpflichten oder gar
Berufssoldat zu werden. Die Stehzeit von sechs Monaten
ist eines der Probleme, um dessen Lösung sich die Bundesregierung bemüht. Ein anderes Problem sind die Familienbetreuungszentren. Von den zurzeit 19 Familienbetreuungszentren verfügen bisher nur zehn über
hauptamtliches Personal. Nach den Angaben im Bericht
ist die technische Ausstatt ung dieser Familienbetreuungszentren mit Kommunikationsmitteln usw . offensichtlich unzureichend. Dies e Mängel müssen schnell
behoben werden.
Drittens nenne ich das Laufbahn- und Beförderungsangebot. Ein attraktives Laufbahn- und Beförderungsangebot ist entschei dend für die Motivation von
Bundeswehrangehörigen. Hier gab es etliche Attraktivitätssteigerungen. Ihre W irkung ist aber of fenbar zwiespältig. Ich nenne ein Beispiel - andere sind vorher bereits genannt worden -: Bei Unteroffizieren mit Portepee
wurden die zeitlichen Mindes tvoraussetzungen für Beförderungen zum nächsthöheren Dienstgrad verkürzt.
Nun gibt es viel mehr Anwärter als Dienstposten. Hohe
Erwartungen wurden geweckt. Mit der Umsetzung
kommt man jedoch nicht nach.
Viertens komme ich zu den Wehrpflichtigen: Im
Berichtsjahr 2002 stellten insgesamt 189 644 W ehrpflichtige einen KDV-Antrag. Das waren so viele wie
noch nie zuvor seit Bestehen der Bundeswehr . Der
Wehrbeauftragte vermerkt den Zweifel von W ehrpflichtigen an der Wehrpflicht. Diese Zweifel werden vom realen Wehrdienst offenbar noch befördert.
Die 14. Shell-Jugendstudie brachte hierzu folgendes
Ergebnis: Junge Männer lehnen die W ehrpflicht zu
53 Prozent ab
({1})
- schauen Sie sich einmal die Umfragen der Jahre vor
unserer Regierungszeit an; da gibt es keinen großen Unterschied - und junge Männer, die den Wehrdienst abgeleistet haben, lehnen die W ehrpflicht zu 60 Prozent ab.
Das ist ein eklatanter Beleg dafür, dass die Wehrpflicht
gerade für die betrof fene Bevölkerungsgruppe nicht
mehr verständlich und plausibel gemacht werden kann.
Ich denke, mit Behauptungen über die Alternativlosigkeit der Wehrpflicht ist das nicht wegzuwischen.
({2})
Bundeswehrsoldaten - ich glaube, darüber herrscht
wieder völliger Konsens - sind keine Söldner. Der Wehrbeauftragte betont die Erwartung der Soldaten, dass Auslandseinsätze rechtlich einwan dfrei sein müssen. Diese
Erwartung wird von den Soldaten vor allem vor dem
Hintergrund der Irakkrise bzw . des jetzt stattfindenden
Irakkrieges formuliert, der ohne UN-Mandat begonnen
wurde. Weitere Zweifel ergeben sich im Zusammenhang
mit dem Afghanistan-Einsatz, bei dem Bundeswehrangehörige möglicherweise zur V erhaftung von Personen
beitragen, die im amerikanischen Gewahrsam of fenkundig nicht strikt nach dem Völkerrecht behandelt werden.
Bundeswehrangehörige zeigen mit diesen Erwartungen ein klares Rechtsstaatsbewusstsein und erweisen sich
damit als Staatsbürger in Uniform. Das gehört zu den viel
zu wenig wahrgenommenen positiven Nachrichten dieses
Berichtes. Diese Haltung ist zugleich Verpflichtung für
die Politik der Bundesregierun g und der Koalition. Der
Bundeskanzler hat heute Morgen in seiner Regierungserklärung dazu eindeutig Stellung genommen.
Die rot-grüne Koalition und die Bundesregierung stehen für eine Politik der um fassenden, gemeinsamen und
friedlich-vorbeugenden Sicherheit, eine Politik im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen. Rot-Grün steht
für die Stärkung der V ereinten Nationen und die Stärke
des Rechts. Ich meine, dies ist gerade angesichts des
Irakkrieges und der gegenwärtigen Verwilderung der internationalen Sitten zu betonen.
({3})
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
greife zwei Aussagen aus dem Bericht des W ehrbeauf-
tragten für das Jahr 2002 heraus, und zwar nicht irgend-
welche, sondern die meines Erachtens wesentlichen:
a) Die Zahl der Beschwerden von Soldatinnen und Sol-
daten hat zugenommen; b) zugenommen hat auch die
Verunsicherung von Soldatinnen und Soldaten. Die PDS
im Bundestag findet: Das muss ernst genommen werden.
Darüber darf nicht routinemäßig debattiert werden, sondern das muss uns zum Na chdenken anregen. Damit
meine ich nicht nur die hier zitierten Ausstattungsprobleme wie Bergstiefel, Rucksäcke oder Dichtungsringe.
Bei diesen zwei Grundgedanken spielt die soziale Frage
eine große und die Sinnfrage eine noch größere Rolle.
Die soziale Frage ist immer auch eine Ost-WestFrage. Solange Soldatinnen und Soldaten aus den neuen
schlechter als Soldatinnen und Soldaten aus den alten
Bundesländern gestellt werden , so lange geht es ungerecht zu.
({0})
Sie wissen, dass ich nicht über Milliardenaufwendungen
rede. Vielmehr wären mehrere Millionen Euro nötig, um
diese Gerechtigkeitslücke zu schließen. Diese ungelöste
soziale Frage hat übrigens - das ist makaber - eine Hintertür: Wer in den Krieg zieht, ist plötzlich nicht nur vor
Gott, sondern auch vor dem Soldmeister gleichwertig:
gleicher Lohn für gleiche Gefahr oder gar T od? Ich
finde, das ist ein schlimmes Motto.
Damit bin ich bei der Sinnfrage. Immer mehr Wehrpflichtige verweigern den Zwangsdienst. Immer weniger sind bereit, neuen Militär strategien zu folgen. Sie
wollen nicht im Dienste einer Politik stehen, die Kriege
im Zweifelsfall für legitim hält und das Völkerrecht für
störend. Das Machtgebaren der USA schreckt ab und
auf. Schauen Sie sich an, we r in diesen Tagen demonstriert: Das sind jene, die Sie demnächst gerne in der Bundeswehr haben wollen. Dies e Jugendlichen haben gut
zugehört, als Herr Schäuble für die CDU/CSU im November im Bundestag von Pr äventivkriegen redete, die
zu führen seien. Aber sie vernehmen auch, wenn Bundesminister Struck verkündet, die Verteidigung der Bundesrepublik finde am Hinduk usch statt. Diese Jugendlichen merken auf, wenn se lbst Bündnis 90/Die Grünen
die Bundeswehr und Europa hochrüsten wollen.
Für die PDS im Bundestag ist die Sinnfrage der
NATO mitnichten beantwortet, jedenfalls nicht positiv .
Eine zivile Welt braucht andere, neue Instrumente, um
Konflikte zu mindern und zu lösen. Darüber ist angesichts des völkerrechtswidrigen Angrif fskrieges gegen
den Irak, aber auch anhand des vorliegenden Berichts
des Wehrbeauftragten zu reden.
Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird es Sie
wundern - aber ich meine das ganz ernst -, wenn ich sage:
Herr Penner und seine Mitarbeiter haben eine gute Arbeit
gemacht; sie haben eine wichtige Aufgabe. Das ist kein
Widerspruch zu dem, was ich eben vorgetragen habe. Es
ist richtig, dass die PDS die W ehrpflicht abschaffen
möchte. Wir wollen das Militärische zurückdrängen.
Aber auch für die Soldatinnen und Soldaten gilt: Solange
es sie und ihren Beruf gibt, müssen sie gerecht behandelt
werden. Damit es gerechter zugeht, dafür leistet auch der
Wehrbeauftragte einen wichtigen Beitrag.
Danke schön.
({1})
Ich erteile das Wort der Kollegin Karin Evers-Meyer,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrter Herr W ehrbeauftragter! Die öf fentliche
Debatte über den Jahresbericht des Wehrbeauftragten ist
gute Tradition in diesem Hause. Die Sor gen und Probleme unserer Soldatinnen und Soldaten gehen uns alle
an.
Ich möchte auch an dieser Stelle mit dem Dank an den
Wehrbeauftragten Willfried Penner und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beginnen und ihm ausdrücklich
im Namen meiner Fraktion für seine Arbeit danken.
({0})
Sie leisten einen wichtigen Beitrag für das Ansehen unserer Streitkräfte in der Bevölkerung. Auch international
gesehen ist die Institution des Wehrbeauftragten immer
noch einzigartig. Sie sind Ga rant dafür, dass die Sorgen
und Nöte unserer Soldatinnen und Soldaten an uns ungefiltert herangetragen werden.
Der Bericht des W ehrbeauftragten für das Jahr 2002
gibt einen breiten Einblick sowohl in den Alltag unserer
Soldatinnen und Soldaten als auch in die innere Lage der
Bundeswehr insgesamt. In diesem Bericht ist nichts
schöngefärbt. Er ist ein Mä ngelbericht, der aber nicht
- darüber sind wir uns alle einig - auf die Bundeswehr
als Ganzes übertragen werden kann. Einigkeit sollte aber
auch darüber herrschen, dass der vor gelegte Bericht an
vielen Stellen Anlass zum Handeln gibt.
Gerade letzte Woche war ich auf einer dreitägigen Informationsreise bei der Marine. Dabei hatte ich die Gelegenheit, mit Soldatinnen und Soldaten vor Ort zu sprechen. Ich bin auf eine hoch motivierte und gut
ausgebildete Truppe getroffen, die jedoch zu Recht erwartet, dass ihre Sor gen ernst genommen werden. Die
Soldatinnen und Soldaten können erwarten, dass wir uns
nach der Vorlage dieses Beri chts nicht allein in gesellschaftspolitischen Gesamtbetrachtungen verlieren, sondern alsbald auch konkrete Lösungsvorschläge auf den
Tisch legen.
({1})
Die SPD hat das bis heute getan und wird das auch
weiter tun. Ich will mich hier in der Kürze der Zeit auf
ein Themenfeld beschränken, das in besonderem Maße
an mich herangetragen wurde, das aber auch im Bericht
des Wehrbeauftragten eine gewichtige Rolle spielt. Es
geht um die Vereinbarkeit von Familie und Soldatenberuf. Das ist ein zentrales Thema sowohl für die Motivation der Truppe als auch für die Motivation derjenigen, die sich einmal für den Soldatenberuf entscheiden
könnten.
In dem Bericht wird zu diesem Komplex mit Recht
festgestellt, dass sich die Bundeswehr in Zukunft noch
mehr auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf einstellen muss. Sie wird ihr Angebot von der Teilzeitarbeit
bis hin zur Kinderbetreuun g weiter verbessern müssen.
Im Zuge der Neuausrichtu ng der Bundeswehr werden
Auslandseinsätze zunehmend das gesamte Berufsleben
der Soldaten begleiten. Diese Einsätze sind gleichermaßen eine Belastung für die Fa milien daheim als auch für
die Soldaten in den Einsatzgebieten. Gerade Familien
mit kleinen Kindern haben darunter zu leiden, wie wir
gehört haben. Im Bericht lesen wir von Entfremdung,
Verlustängsten und Eifersuc ht, aber auch von zahlreichen zerbrochenen Partnerschaften. Natürlich weiß jeder Soldat und jede Soldatin, worauf er bzw. sie sich bei
der Wahl dieses Berufes einlässt. Soldaten müssen flexibel einsetzbar sein. Die Politik hat jedoch die unbedingte
Pflicht, auch die Belastunge n so gering wie möglich zu
halten.
({2})
Die SPD nimmt diese Pflicht sehr ernst. Denn zur
Fürsorgepflicht des Dienstherrn gegenüber den Soldaten
gehört auch die Betreuung ihrer Familien. Der Aufbau
der Familienbetreuungszentren muss weiter vorangetrieben werden. Die bestehenden Betreuungseinrichtungen müssen personell und materiell in ausreichender
Weise ausgestattet werden.
({3})
Das ist leider immer noch nicht an allen Stellen möglich.
Wir müssen an dem Ziel fest halten, dass keiner der zu
Betreuenden mehr als 100 Kilometer zu einem Familienbetreuungszentrum zurücklegen muss. Insgesamt werden 31 Familienbetreuungszentren mit jeweils fünf Mitarbeitern angestrebt.
Im Rahmen von Auslandseinsätzen müssen Einsatzdauer und Regeneration für unsere Soldatinnen und Soldaten in ein vertretbares Verhältnis gebracht werden. Bei
der Marine konnte ich zum Be ispiel feststellen, dass es
durchaus zu zwei sechsmon atigen Einsätzen innerhalb
von zwei Jahren kommt.
Eine Veränderung bewirken wir sicherlich nicht von
heute auf morgen. Wir werden uns daher erst einmal für
eine Zwischenlösung einsetzen. Denkbar wäre zunächst
eine Einsatzdauer von drei Monaten mit einer Ruhezeit
von einem Jahr. Mittelfristig muss die Struktur, vor allem des Heeres, so geändert werden, dass die Einsatzdauer auf vier Monate bei ei ner zweijährigen Regenerationszeit beschränkt wird.
Dies kann nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Katalog
der Problemstellungen und Lösungsvorschläge sein. Im
Zuge der konsequenten Weiterentwicklung der Bundeswehrreform werden die im Bericht des Wehrbeauftragten
angesprochenen Bereiche jedoch weiter angemessene
Berücksichtigung finden.
Vielen Dank.
({4})
Frau Kollegin Evers-Meyer, das war Ihre erste Rede
im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen im Namen
des ganzen Hauses herzlich gratuliere.
({0})
Ich erteile nun das W ort der Abgeordneten Ursula
Lietz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist mittlerweile ein
guter parlamentarischer Brauch, dass wir einmal jährlich
über den Bericht des W ehrbeauftragten diskutieren und
uns mit den Nöten und Sor gen der Soldaten der Bundeswehr, die ja eine Parlamentsarmee ist, befassen. Wir blicken
übrigens - das erscheint mir erwähnenswert - auf eine
44-jährige Tradition zurück; denn seit 1959 gibt es das
Beschwerderecht der Soldaten und das Amt des Wehrbeauftragten.
Seit fünf Jahren bin ich im Bundestag und habe in
dieser Zeit festgestellt, dass es auch die eher unerfreuliche Tradition gibt, dass sich die Beschwerden wiederholen, dass sie nicht immer ernst genommen und deswegen
nicht bearbeitet werden. So gab es im Berichtsjahr
2002 - das ist schon erwähnt worden - insgesamt 6 436
gemeldete Vorgänge. Das sind 32 Prozent mehr Beschwerden als ein Jahr zuvor.
Ich bin im Gegensatz zu Ih nen, Herr Nachtwei, nicht
der Meinung, dass diese Zunahme nur darauf zurückzuführen ist, dass sich die Soldaten, wie Sie eben ausgeführt haben, bei dem derze itigen Wehrbeauftragten eher
trauen, sich zu beschweren. Das hat andere Gründe, die
Sie teilweise auch schon selber dargelegt haben.
({0})
Ich schlage vor, uns in Zukunft einmal im Jahr einen
Sachstandsbericht des Verteidigungsministeriums vorlegen zu lassen,
({1})
in dem die Punkte, die der Wehrbeauftragte angeprangert
hat, angesprochen werden, u nd uns mitteilen zu lassen,
wie viel davon abgearbeitet worden ist. Das findet derzeit nicht in dem Maße statt, wie ich mir das wünsche.
({2})
Der Zustand, der hier besprochen worden ist, zeigt,
dass in der Bundeswehr einiges im Ar gen liegt. Wer das
verhehlt, nimmt die Soldaten nicht ernst, Herr Kolbow .
Sie haben eine Bundesweh rreform auf den W eg gebracht. Kaum, dass sie auf den Weg gebracht worden ist,
stellt der nächste V erteidigungsminister fest, dass sie
nicht ausreicht. Er kündigt erst für Ende Februar , dann
für Ende März und nun für Ende April verteidigungspolitische Richtlinien an. In der Zwischenzeit fragen sich
viele Soldaten, an welchen Stellen die Kürzungen erfolgen werden. Weil das niemand weiß, herrscht Unsicherheit in der T ruppe. Deshalb fordere ich den V erteidigungsminister, der leider während dieser Diskussion
nicht anwesend ist, auf, im Zusammenhang mit diesem
Thema endlich Klarheit zu schaffen.
({3})
Einer der Punkte, die sich mit schöner Regelmäßigkeit wiederholen, ist die Kl age des W ehrbeauftragten,
dass der Zugriff auf das Intranet der Bundeswehr nicht
möglich sei. Das geht uns genauso, Herr Dr. Penner. Seit
Jahren versuchen wir, Informationen über dieses System
der Bundeswehr zu bekommen. V orschriften, die nur
noch über das Intranet verbreitet und veröf fentlicht werden, stehen uns somit nicht zur V erfügung. Man fragt
sich schon, ob sie nicht zur V erfügung gestellt werden
sollen und, wenn ja, warum nicht. Allerdings haben die
meisten von uns - meine Damen und Herren Kollegen
aus dem Verteidigungsausschuss, ich denke, es geht Ihnen genauso - einen kleine n Dienstweg gefunden, auf
dem wir uns auf andere Art und W eise die Berichte im
Intranet verschaffen können. Trotzdem ist das nicht befriedigend.
Die personellen Engpässe im Sanitätswesen möchte
ich hier besonders hervorheben. Es fehlen nicht nur Sanitätsoffiziere, sondern mittlerweile auch Unteroffiziere.
Dabei hat das Sanitätswesen der Bundeswehr international einen exzellenten Ruf. Wir sind Medical Lead Nation
in multinationalen Einsätzen . Mit diesem Pfund sollten
wir sehr viel mehr wuchern, als wir das bisher getan haben. Wir haben damit aber auch einen guten Ruf zu verlieren. Wenn, wie eben besc hrieben, die Tagesantrittsstärke zwischen 40 und 60 Prozent bzw. möglicherweise
sogar noch darunter liegt und wenn ein T ruppenarzt
heute 1 000 statt wie früher 400 Soldaten betreuen muss,
dann sind die Betreuung der T ruppe in vollem Umfang
und die Qualität der Versorgung nicht mehr gewährleistet. Im Inland herrscht Facharztmangel. W ir stellen fest,
dass in Bundeswehrkrankenhäusern Operationssäle geschlossen und dass Operationen sehr kurzfristig abgesagt
werden müssen. Das alles muss für uns ein böses Alarmzeichen sein. Es handelt sich nicht um Einzelfälle, wie
mir führende Anästhesisten, mit denen ich gesprochen
habe, bestätigt haben.
2 689 Bewerber für den Beruf des Arztes in der Bundeswehr gab es im Jahre 1999. Im Jahre 2002 waren es
nur noch 1 398. 50 Prozent weniger Interesse am Beruf
des Sanitätsoffiziers in der Bundeswehr in drei Jahren!
Das ist für mich eine erschreckende Zahl.
({4})
Im letzten Jahr konnten zum ersten Mal nicht alle Studienplätze für Medizin, die der Bundeswehr zur Verfügung
gestellt werden, besetzt werd en. Das ist ebenfalls ein
Zeichen für die sinkende Attraktivität speziell des Sanitätsdienstes. Auch die Anzahl der Anträge von Sanitätsoffizieren auf Übernahme in die Laufbahn des Berufssoldaten ist rückläufig. Aufgrund einer völlig verfehlten
Gesundheitspolitik in diesem Land verpassen wir die
Chance, jungen Medizinern eine Perspektive in der Bundeswehr zu geben. Stattde ssen gehen die jungen deut3068
schen Ärzte ins Ausland. Man trif ft sie zum Beispiel,
wenn man große Kliniken und Universitäten in Belgien
und in den Niederlanden besucht. Wir bilden sie aus und
dann haben andere Länder den Nutzen. Ich finde das
schade; denn ein junger deutscher Arzt könnte ein gute
Perspektive in der Bundeswehr haben.
Ich wünsche mir ein wirk sames Attraktivitätsprogramm speziell für das Sanitätswesen, das ich gerne zusammen mit dem in das neue Amt berufenen Inspekteur
des Sanitätswesens auflegen würde. Ich kann ihm nur
unsere Sympathie bezeug en und wünsche ihm eine
glückliche Hand und alles Gute für seine neue Aufgabe.
Wenn aber Fachärzte und solche, die es werden wollen, immer häufiger Auslandseinsätze mitmachen müssen, dann ist auch die Kontinuität der Facharztausbildung gefährdet, das heißt, junge Ärzte absolvieren
möglicherweise keine Facharztausbildung, weil sie zu
oft in den Einsatz müssen. Das gefährdet das System der
Ausbildung in den Bundeswe hrkrankenhäusern und damit einmal mehr die Attrakti vität des Sanitätsdienstes.
Das sind die warnenden W orte, die mir bei Besuchen
von Bundeswehrkrankenhäusern immer wieder ans Herz
gelegt werden. Die Häufigkeit der Auslandseinsätze und
die Einsatzdauer im Allgemeinen sind immer wieder
Thema.
Herr Staatssekretär Kolbow hat eben gesagt, dass man
weiterhin auf sechs Monaten bestehen müsse. Herr Verteidigungsminister Struck hat vor einiger Zeit gesagt, dass
er darüber nachdenke, dort, wo es möglich ist, auf eine
Einsatzzeit von vier Monaten zurückzugehen. Ich halte
eine allgemeine Flexibilisierung für die bessere Lösung.
Das tun auch die Soldaten. Man kann das Ganze - viele
Generäle im Ausland tun das bereits - sehr viel flexibler
gestalten, als es zum jetzigen Zeitpunkt geschieht.
Im Sanitätsbereich, in dem Spezialisten immer wieder
zum Einsatz kommen, hilft das allerdings nicht mehr. Ich
bin fest davon überzeugt, dass wir im Laufe der Zeit zu
der Einsicht kommen müssen, dass einfach mehr Ärzte
eingestellt werden müssen, was durch ein Attraktivitätsprogramm ermöglicht werden sollte.
Das Vertrauen verspielt man auch - ich spreche diesen Fall zum ersten Mal an -, wenn einem Vater falsche
und mangelhafte Berichte üb er den Tod seines Sohnes
im Kosovo vor drei Jahren gegeben werden. Ich habe
diese Familie drei Jahre lang begleitet. V or einigen Monaten habe ich an Verteidigungsminister Struck in dieser
Angelegenheit einen Brief mit der Bitte um ein vertrauliches Gespräch geschrieben. Von ihm persönlich habe ich
bis heute weder eine Bestä tigung des Eingangs dieses
Schreibens bekommen noch das Angebot zu einem Gesprächstermin. Ich möchte dieses Gespräch führen, damit diese Familie endlich zur Ruhe kommt. Ich bedaure,
dass das bis jetzt nicht der Fall ist.
Einen weiteren Beweis für die Notwendigkeit der Institution des Wehrbeauftragten ist das Lazarett in Rajlovac.
Nur weil ein vor Ort tätiger Soldat den Wehrbeauftragten
informiert hat, haben wir überhaupt von den schrecklichen Zuständen im dortigen Krankenhaus erfahren. Ich
habe es zuvor nicht für mög lich gehalten, dass es innerhalb der Bundeswehr eine Einrichtung, die so verkommen wie dieses Krankenhaus in Rajlovac war, gibt. Wir
haben gemeinsam im Verteidigungsausschuss beschlossen, einen Neubau anzuregen.
Wiederum durch den Bericht eines vor Ort tätigen
Soldaten haben wir feststellen müssen, dass der Neubau
dieses Krankenhauses stockt, und zwar aufgrund einer ,
wie ich finde, unverantwortlichen Blockade des Finanzministers.
({5})
- Es ist ganz genau so. - Mittlerweile soll das Ganze auf
den Weg gebracht sein.
Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz das Schicksal
der Soldaten ansprechen, die aufgrund ihrer früheren Tätigkeit im Radarbereich einer Strahlenexposition ausgesetzt worden sind. Dazu wird es zunächst einen Bericht
geben. Ich werde dazu hier zum entsprechenden Zeitpunkt sicherlich noch einmal Stellung nehmen. Ich hoffe
nur, dass dieser Bericht keine Wiederholung des Berichtes sein wird, den wir aus dem Verteidigungsministerium
bekommen haben.
Ich bin Ihnen, Herr Dr. Penner, und Ihren Mitarbeitern
für das, was Sie geleistet haben, sehr dankbar . Ich bedanke mich für die wirklich gute Zusammenarbeit hier
und im Verteidigungsausschuss.
Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir zugehört haben.
({6})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Rolf Kramer,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Herr W ehrbeauftragter! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wie im Bericht des W ehrbeauftragten richtigerweise festgestellt wird, befindet sich die Bundeswehr
nach wie vor in einem „V eränderungsprozess, der alle
Bereiche vom Auftrag über die Struktur bis hin zur Ausrüstung erfasst“. Ich werde näher auf jene Passagen des
Berichts eingehen, die sich, erstens, mit dem Personal,
also mit den Soldatinnen und Soldaten, befassen und die
sich, zweitens, auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr
beziehen.
Der grundlegende personelle Strukturwandel, den
die Bundeswehr zu bewältigen hat, wird an folgenden
Zahlen deutlich: Im Jahre 2 002 dienten durchschnittlich
295 000 Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr .
Die Zielstärke nach dem Pe rsonalstrukturmodell 2000
beträgt 285 000 Dienstposten, ausgehend von 335 000 in
den 90er-Jahren.
Die besondere Dramatik des personellen Umbaus
wird an den folgenden Zahl en deutlich: Der Anteil der
Grundwehrdienstleistenden sinkt nach dem Personalstrukturmodell von 105 000 auf 53 000 - er wird sich
also halbieren -, während es im Bereich der Unterof fiRolf Kramer
ziere und der Of fiziere, bezogen auf den Istbestand von
Anfang 2002, eines notwendigen Aufwuchses von
20 000 Unteroffizieren und fast 1 200 Offizieren bedarf.
Die Bundeswehr benötigt gut ausgebildete, hoch motivierte Frauen und Männer in allen Tätigkeitsbereichen.
Gerade im Bereich der Zeit- und Berufssoldaten konkurriert die Bundeswehr mit der W irtschaft. Damit sich
Frauen und Männer für eine Tätigkeit bei der Bundeswehr entscheiden, muss eine besondere Attraktivität geboten werden.
Das von der Bundeswehr beschlossene Programm
zur Attraktivitätssteigerung sieht unter anderem folgende Einzelmaßnahmen vor: Die neue Laufbahn der
Fachunteroffiziere wurde eingeführt. Bei der Feldwebellaufbahn wurden die Posten eines Feldwebels des Truppendienstes und eines Feldwebels des Fachdienstes eingerichtet.
Bei der Laufbahn der Feld webel hat sich durch die
Verkürzung der zeitlichen Mindestvoraussetzungen um
ein Jahr und der Bündelung der meisten Dienstposten sowie der Anhebung von mehr als 1 400 Stellen von A 8
nach A 9 einerseits der Beförderungsstau entspannt. Andererseits erfüllen jetzt we sentlich mehr Oberfeldwebel
die Mindestvoraussetzungen für eine Beförderung zum
Hauptfeldwebel. Dass sich, bedingt durch diese Änderungen und die damit verbunde ne Attraktivitätssteigerung für die Laufbahn insgesamt - dies betone ich -, in
Einzelfällen auch individu ell empfundene Benachteiligungen ergeben können, ist evident.
Mit der Bündelung der Dienstposten sind für die Soldatinnen und Soldaten sowie für ihre Familien erhebliche Vorteile verbunden; denn jetzt kann ein Feldwebel
auf seinem Dienstposten bis hin zum Stabsfeldwebel befördert werden, ohne versetzt werden zu müssen.
({0})
In der Laufbahn der Offiziere sind durch die Weisung
des Verteidigungsministers Kompaniechefs jetzt in die
Besoldungsgruppe A 12 eingestuft. Damit waren insgesamt 1 760 Planstellenanhebungen von A 11 nach A 12
verbunden.
Die positiven W irkungen des Attraktivitätssteigerungsprogramms sind unter anderem an den stark gestiegenen Bewerberzahlen für di e Laufbahnen der Feldwebel, der Unteroffiziere und der Mannschaften abzulesen.
Den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr gilt
unser Dank für ihre aktive Mitarbeit bei den notwendigen Strukturveränderungen.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme
nun zu einem weiteren Aspe kt im Bericht des W ehrbeauftragten, den Auslandseinsätzen der Bundeswehr .
Gerade an diesen Auslands einsätzen wird der W andel
der Bundeswehr hin zu eine r Armee im Einsatz - genauer gesagt: im Friedenseinsatz - deutlich. Insgesamt
waren bisher fast 100 000 Soldatinnen und Soldaten im
Auslandseinsatz, im ver gangenen Jahr ungefähr 9 000
pro Monat. Auch vor dem Hi ntergrund der aktuellen Situation und Diskussion wird allein daran deutlich: W ir
leisten unseren Anteil an völkerrechtlich eindeutig legitimierten Einsätzen für die friedliche Entwicklung auf diesem Globus. Unsere Soldatinnen und Soldaten erfüllen
ihre häufig gefährlichen Au fgaben vorbildlich und mit
hoher Professionalität.
({2})
Nimmt man alle Einsätze, die entweder durch die NATO
oder durch die Vereinten Nationen legitimiert sind, und
sieht man vom gegenwärtigen Irakkrieg einmal ab, dann
stellt die Bundeswehr weltweit das zweitgrößte Kontingent.
Es ist vollkommen klar, dass sich die Soldatinnen und
Soldaten immer sicher sein müssen, dass sie ihren Dienst
auf rechtlich einwandfreien Grundlagen leisten. Dies gilt
im Inland wie im Ausland. Für diese Bringschuld des
Parlaments steht die Koali tion ein. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner letzten Entscheidung die Position der Regierung und der si e tragenden Parteien gestützt.
Mit besonderem Interesse habe ich die Ausführungen
des Wehrbeauftragten zur inneren Führung gelesen.
Seine Schlussfolgerung, „das Prinzip der inneren Führung hat sich auch bei Auslandseinsätzen bewährt“, kann
uneingeschränkt unterstützt werden. Der Bundestag hat
durch die Einsetzung des Unterausschusses „Innere Führung“ entschieden, sich vor dem Hintergrund der gewandelten Aufgaben der Bundeswehr intensiv mit den
Grundlagen der inneren Führung auseinander zu setzen.
Dass auch in Zukunft die tragenden und bewährten
Grundsätze der inneren Führung weiter gelten, muss
nicht besonders betont werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der W ehrbeauftragte klassifiziert seinen Bericht folgendermaßen:
Auch dieser Bericht ist der Natur der Sache nach
ein Mängelbericht; er spiegelt also nicht den Zustand der Bundeswehr insgesamt wider. Der Bericht
gibt Erkenntnisse wieder , die aus Eingaben von
Soldaten, Gesprächen mit Soldaten und anderen Erkenntnisquellen gewonnen wurden.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Dieser Bericht gibt uns für
die Zukunft Handlungsanleitu ngen für die Bereiche, in
denen es Mängel zu beseitigen gilt, zeigt uns aber in erster Linie, dass die Bundeswehr auf dem richtigen W eg
ist.
Wir bedanken uns bei allen, die durch ihren Einsatz
den Frieden auf dieser Welt ein wenig sicherer machen,
und ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({3})
Ich gratuliere auch Ihnen, Herr Kollege Kramer, herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag und
verbinde dies mit allen guten Wünschen für Ihre weitere
parlamentarische Arbeit.
({0})
Nun hat das Wort die Abgeordnete Christa Reichard,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Herr W ehrbeauftragter! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Dem Dank des Hauses an
Sie, Herr W ehrbeauftragter, und an Ihre Mitarbeiter
schließe ich mich natürlich an. Ich finde es besonders
gut, dass Sie mit vielen Besuchen bei der Truppe vor Ort
in deren Situation Einblick nehmen und diese dadurch
viel besser beurteilen können, als wenn Sie nur am
Schreibtisch säßen.
Besonders interessant ist für mich und meine Fraktion
nicht nur, wie die Mängel im Einzelfall abgestellt werden, sondern auch, was über den Einzelfall hinaus passiert und wie den Empfehlungen der Berichte der vergangenen Jahre aus Ihrem Hause Rechnung getragen
wurde. Ich stimme zu, dass es durchaus nicht nur um
eine Mängelliste geht. So un terstütze ich beispielsweise
ausdrücklich die Würdigung des Einsatzes der Soldaten bei der Flutkatastr ophe. Mit etwa 44 000 eingesetzten Soldaten war dies der größte Katastropheneinsatz
der Bundeswehr. Die Klagen einiger Soldaten, daran
nicht beteiligt worden zu sein, machen die große Bereitschaft und den Wunsch zu helfen nur noch deutlicher.
({0})
Als Dresdnerin mit einer intensiven Erinnerung an die
Fluttage danke ich - wie ic h gehört habe, tun Sie dies
auch - den Soldaten auch von dieser Stelle aus für ihren
Einsatz noch einmal ausdrücklich und herzlich.
({1})
Meine Damen und Herren, als Berichterstatterin für
die Bereiche Betreuung und Seelsorge möchte ich mich
auf diesen Ausschnitt des Berichtes begrenzen. Ich habe
auch in den bisherigen Reden schon einige Kommentare
dazu gehört. Auf die Thematik der Auswirkungen der
Auslandseinsätze auf die So ldaten und ihre Familien
wird so umfangreich wie in keinem früheren Bericht eingegangen. Das finde ich auch gut und richtig.
Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Studien des
Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr über
die Auslandseinsätze im Rahmen von KFOR halte ich
dies für besonders wichtig. Do rt heißt es, dass nur jeder
fünfte Soldat das Gefühl hat, ihm und seiner Familie
werde von den Streitkräften ausreichende Hilfe zuteil. Ist
das nicht alarmierend, meine Damen und Herren? Ich
hoffe, dass der W ehrbeauftragte zu diesen SOWI-Berichten - anders als zum Intr anet der Bundeswehr - Zugang hat, auch wenn sie nicht veröffentlicht werden. Gespräche mit Soldaten haben mir deutlich gemacht, dass
die Motivation im Einsatz ganz entscheidend von der Familienbetreuung zu Hause und den Möglichkeiten, miteinander zu kommunizieren, abhängt.
Ich bin froh, dass erkennbar zunehmend die Meinung
vorherrscht, dass Famili enbetreuung kein weiches
Thema ist, kein „Gedöns“, wie der Bundeskanzler zu sagen pflegte, sondern ein zentrales Feld der Fürsor ge für
die Soldatinnen und Soldaten sowie ihre Familien.
({2})
Meine Damen und Herren, ha ben Sie sich schon einmal klar gemacht, was die lange und häufige T rennung
gerade bei Familien mit kl einen Kindern bedeutet und
wie die Berichterstattung in den Medien auf die Angehörigen der Soldatinnen und So ldaten wirkt? Viele Frauen
fühlen sich überfordert, die Kinder alleine zu erziehen;
oft tritt eine Entfremdung zwischen Vätern und Kindern
ein und es kommt zu Ess- und Schlafstörungen. Auch
die Rückkehr ist oft mit Problemen verbunden. Einige
Väter kommen mit den selbstständiger gewordenen Familien nicht mehr zurecht und flüchten sich in den
nächsten Einsatz.
Die unzureichende Information über Einsatzbeginn
und Einsatzland belastet Soldaten und ihre Familien; das
können Sie sich sicherlich vorstellen. Es soll sogar vorgekommen sein, dass sich So ldaten fünfmal von ihren
Lieben mit dem Hinweis ve rabschiedet haben, heute
geht es nun wirklich los, um am Abend desselben Tages
doch wieder zu den verblüf ften Angehörigen zurückzukehren: Der Abmarsch hatte wieder nicht stattgefunden.
Dies ist eine Achterbahn der Emotionen nicht nur für die
Soldaten, sondern auch für ihre Partner und nicht zuletzt
für ihre Kinder.
In den vorangegangenen Berichten des W ehrbeauftragten nahm Familienbetreuung weit weniger Raum ein,
aber bereits 2002 wurden flächendeckend Familienbetreuungszentren mit hauptamtlichem Personal gefordert. 2001 wurde die Entscheidung kritisiert, zunächst
nur einen zweijährigen Probelauf mit hauptamtlichem
Personal in acht bis zehn Zentren durchzuführen. Im Bericht 2002, den wir heute deba ttieren, wird ausführlich
geschildert, welche besonderen Belastungen die Soldatenfamilien zu tragen haben und dass daran zahlreiche
Partnerschaften und Familien zerbrochen sind.
Der Wehrbeauftragte weist da rauf hin, dass eine erfolgreiche Arbeit der Betreuungszentren von deren personeller und materieller Ausstattung sowie einem zeitgerechten und umfassenden In formationsfluss abhängt.
Wieder wird eine schnells tmögliche Ausstattung mit
hauptamtlichem Personal gefordert. Ich frage den Herrn
Verteidigungsminister - ich hof fe, der Staatssekretär
wird ihm das ausrichten -: W arum gehen Sie mit den
Soldatenfamilien so nach lässig um? Nehmen Sie die
Alarmsignale nicht wahr?
Das Konfliktpotenzial für das Familienleben führt bereits jetzt dazu, dass Soldaten nach Ablauf der Verpflichtungszeit von einer W eiterverpflichtung Abstand nehmen, ihre Dienstzeit verkürzen oder auf eine Übernahme
Christa Reichard ({3})
als Berufssoldat verzichten wollen. Es soll sich dabei - so
der Wehrbeauftragte - oft um die qualifiziertesten Kameraden handeln.
Herr Minister, es ist höchste Zeit, den Probelauf mit
Familienschicksalen zu beenden und endlich eine wirklich flächendeckende professionelle hauptamtliche Familienbetreuung einzurichten. Ergänzend dazu sollen die
hervorragenden Initiativen der Soldatenfrauen durch
versicherungsrechtlichen Schutz und durch Infrastruktur
der Bundeswehr unterstützt werden. Zu Recht werden
das Forum für Soldatenfamilien sowie die Initiative
„Frau zu Frau“ besonders ge würdigt und wird ihre Arbeit als unverzichtbare Hilfe im Rahmen der Betreuungsveranstaltungen bezeichnet.
Auch die Katholische Arbeitsgemeinschaft für Soldatenbetreuung widmet sich verstärkt den Soldatenfamilien. Die Evangelische und die Katholische Arbeitsgemeinschaft für Soldatenbetreuung leisten darüber hinaus
einen wichtigen Beitrag für die Soldaten in Deutschland
und bei Auslandseinsätzen in den Oasen. Die Soldaten in
Kabul warten sehnsüchtig darauf, dass auch dort eine
Oase gebaut wird. Dies steht zwar nicht im Bericht, wird
aber bei den Seelsor gern vor Ort immer wieder angemahnt.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Bei der Neugestaltung des Heimbetreuungswesens ist
darauf zu achten, dass der bisherige Leistungsstandard
erhalten bleibt und bestehende Beteiligungsrechte nicht
verkürzt werden.
In Auswertung der Berichte des W ehrbeauftragten
und anderer Dokumente fordert die CDU/CSU-Fraktion
dringend ein neues, umfassendes Betreuungskonzept für
Soldaten und ihre Familien im Inland und im Ausland.
Ich danke Ihnen.
({0})
Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Ulrike
Merten, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter
Herr Wehrbeauftragter, auch ich möchte mich wie alle
meine Kolleginnen und Kollegen zu Beginn meiner Ausführungen bei Ihnen und Ih ren Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern für diesen aufschlussreichen Bericht bedanken. Er benennt wie immer ganz konkret Beschwerden
und Beschwernisse der Sold aten. Wie wir hier schon
mehrfach gehört haben, liegt das in der Natur der Sache;
denn im Mittelpunkt steht nicht so sehr das Plus, sondern
eher das Manko.
Frau Kollegin Schäfer, ich will dann doch ein Wort zu
Ihren Ausführungen und zu dem sagen, was die Kollegin
Reichard eben vorgetragen hat. Wenn man dem Bild, das
Sie vor dem Hintergrund dessen zeichnen, was Sie dem
Bericht meinen entnehmen zu können, Glauben schenken könnte, dann müssten die Bundeswehrsoldaten nicht
zuletzt in den internationa len Einsätzen mit den Fähigkeiten von Yogis ausgestattet sein, die sich 40 Tage einmauern lassen können und danach ganz fidel wieder
herauskommen. Wir wissen natürlich, dass die Bundeswehrsoldaten und die -soldatinnen ganz hervorragende
Leistungen erbringen und auch hohe Anerkennung finden.
Das geht nicht nur mit Motivation und guter Ausbi ldung,
sondern dazu gehört auch eine entsprechende Ausrüstung und Ausstattung. Dazu ge hört schließlich eine entsprechende Haltung und Fürsor gepflicht des Dienstherrn. Das ist gegeben. Desw egen stimmt das, was Sie
dem Bericht des W ehrbeauftragten glauben entnehmen
zu können, einfach nicht.
({0})
Frau Kollegin Lietz, Sie sind auch schon etwas länger
dabei. Sie haben, glaube ich, auch schon mehrfach zum
Bericht des W ehrbeauftragten gesprochen. Ich weiß,
dass seitens der Bundesregierung sehr wohl eine Stellungnahme zu dem abgegeben wird, was der Wehrbeauftragte in seinem Bericht an Mängeln aufführt und an Erfordernissen in den Raum stellt. Sie müssten das
eigentlich auch wissen.
Lassen Sie mich noch eines sagen - Frau Kollegin
Lietz, es wäre schön, wenn Sie mir zuhörten, auch wenn
wir jetzt schon am Ende der Debatte sind -:
({1})
Ich nehme es Ihnen durchaus ab, dass Sie diese Familie,
von der Sie eben gesprochen haben, intensiv begleitet
haben und davon auch tief betrof fen sind. Ich halte es
nur schlechterdings für einigermaßen ungewöhnlich, so
einen Fall hier im Plenum anzusprechen. Das gehört, wie
ich glaube, nicht hierhin, das hätte man an anderer Stelle
machen können.
({2})
So viel wollte ich gerne dazu sagen.
Ich habe meine Ausführungen damit begonnen, dass
im Mittelpunkt dieses Berichts mehr das Manko als das
Plus steht. Aber gerade darin und auch im Vergleich mit
vorhergehenden Berichten liegt ja der besondere Aufschluss. Wenn man diesen Bericht für sich nimmt, ermöglicht er einen Blick in das innere Gefüge und die innere Ordnung der Bundeswehr . Wir als Parlament tun
gut daran, diesen jährlichen Bericht des Wehrbeauftragten nicht nur als Auftrag zur Abarbeitung einer Mängeloder Beschwerdeliste aufzufassen. Zugleich besteht immer wieder die Chance, mit dem gesamten Parlament
über den Zustand und die innere Befindlichkeit unserer
Streitkräfte zu debattieren.
Es ist wohl wahr , dass die spezifische Aufgabe des
Wehrbeauftragten unter an derem darin besteht, V orgängen nachzugehen, die auf eine V erletzung von
Grundrechten der Soldaten oder der Grundsätze der inneren Führung schließen lassen. Aber wie wir als Abgeordnete mit dem Bericht umgehen, gibt Zeugnis darüber,
wie ernst wir wirklich den Be griff der Parlamentsarmee
nehmen. Wir können diesen Bericht zwar mit Dankbarkeit für die getane Arbeit und auch mit einer gewissen
Geschäftsmäßigkeit und Routine zur Kenntnis nehmen,
wir können aber auch den An lass nutzen, über die sich
abzeichnenden Veränderungen bis tief in das Berufsbild
der Soldatinnen und Soldaten hinein eine Debatte anzustoßen, die in die gesamte Gesellschaft hineinwirkt.
Meine Damen und Herren, die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr setzen ganz offensichtlich hohes
Vertrauen in die Institution des W ehrbeauftragten,
denn die gestiegene Anzahl der Eingaben im Berichtsjahr 2002 ist ja keineswegs , wie es die Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition hier teilweise geltend machen wollten, nur ein Beleg für bestehende Beschwernisse. Hier wird doch auch deutlich, dass die Soldatinnen
und Soldaten um ihre Rechte wissen und Vertrauen nicht
nur zum Wehrbeauftragten,
({3})
sondern eben auch zu dieser Bundesregierung haben und
relativ sicher sind, dass ihre Beschwerden nicht ungehört
verhallen.
({4})
Sie wissen also um ihre Rechte - das will ich auch noch
sagen - und drängen natürlic h erst einmal darauf, dass
Abhilfe bezüglich der in ihren Beschwerden und Eingaben angesprochenen Punkte geschaffen wird. Sie
drängen damit aber auch darauf, dass sich das Parlament
wirklich als Ganzes, und zwar jenseits von Truppenbesuchen in Wahlkreisen oder von Entsendebeschlüssen im
Bundestag, mit ihrer beruflic hen Wirklichkeit auseinander setzt. Darauf haben sie, wie ich finde, auch einen
Anspruch. Wir tun gut daran, dies jenseits einer geschäftsmäßigen Routine zu machen.
Es ist schon viel über di e erhöhte Anzahl von Eingaben gesprochen worden. W ir haben auch gehört, woran
das liegt. Ich muss all das nicht wiederholen. Die Erfordernisse, die sich aus den Auslandseinsätzen er geben,
haben wir hier inzwischen wirklich eingehend erörtert.
Ich will daher noch einmal auf einen Aspekt eingehen,
der sich neben den ganz pr aktischen Anliegen, die einmal mehr in dem Bericht des W ehrbeauftragten zum
Ausdruck kommen, ganz generell aufdrängt: W enn es
richtig ist, dass wir inmitten tief greifender sicherheitsund gesellschaftspolitischer Veränderungen stehen, die
eben auch von der Bundeswehr Neuorientierungen
verlangen - wir wissen, dass das so ist -, dann müssen
wir uns auch fragen, wie wi r damit eigentlich jenseits
fachlicher und militärischer Überlegungen umgehen.
Was bedeuten zum Beispiel die veränderten Rahmenbedingungen für das Prinzip der inneren Führung? Ich
nenne hier nur als Beispiel und stellvertretend den W andel des Konflikt- und Kriegsbildes, die Entwicklungen
in Kultur und Gesellschaft, aber auch die Kooperation
mit internationalen Partnern in multinationalen Einsätzen.
Als weiteres Beispiel nenne ich die Bildung; sie ist
ein Schlüsselfaktor für die Innovation der Streitkräfte
und die Weiterentwicklung der inneren Führung. Auch
hier stellt sich die Frage: En tspricht eigentlich das, was
wir an Bildung und Ausbildu ng vermitteln, noch dem
neuen Bild der Streitkräfte und den Erfordernissen?
Müssen wir uns damit nicht stärker auseinander setzen?
Was ist mit dem System der Personalauswahl und
Personalförderung? Brauchen wir nicht gerade in diesen
Zeiten Vorgesetzte, militärische Führer , die über eine
ausgeprägte politische und ethische Urteilsfähigkeit verfügen?
All diesen Dingen sollten wir in dem Unterausschuss
Innere Führung, den wir angeregt haben und der sich
demnächst konstituiert, nachgehen. Das kann ganz
fruchtbar werden, wenn wir zwei Dinge tun: wenn wir
die Debatte, die wir dort führen, zum einen ins P arlament tragen und es damit üb er den Bericht des Wehrbeauftragten hinaus mit diesen Fragen befassen und zum
anderen diese Debatte in die Gesellschaft hineintragen,
sodass sie zwischen der Bundeswehr , dem Parlament
und der Gesellschaft geführt werden kann. Damit können wir im besten Fall de r Weiterentwicklung des
Rechtsstaats und des Gemeinwesens dienen. Ich fände es
gut, wenn wir dahin kämen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Jahresberichts
des Wehrbeauftragten 2002 auf Drucksache 15/500 an
den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie da-
mit einverstanden? - Das ist ganz of fenkundig der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die T agesordnungspunkte 6 a und 6 b
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Leo
Dautzenberg, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Aufhebung des V ermögensteuergesetzes
- Drucksache 15/196 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksache 15/436 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Florian Pronold
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Aufh ebung des
Vermögensteuergesetzes
- Drucksache 15/408 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vor gesehen. - Dazu höre
ich keinen W iderspruch. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Florian Pronold für die SPD-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich gehe von einem
positiven Menschenbild aus. Deswegen glaube ich auch
an die Lernfähigkeit der Un ion und der FDP. Daher bin
ich verwundert, dass Sie in dieser Art und Weise einen
Antrag stellen.
({0})
Ich will mich trotzdem in die sachliche Auseinandersetzung über den vorliegenden Entwurf begeben.
Wir halten als SPD daran fest, dass das Gesetz zur
Vermögensteuer, das derzeit keine Anwendung findet,
bestehen bleibt, und lehnen den von der Union sowie
den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf ab, und zwar
aus mehreren Gründen.
Zunächst ist zu fragen - das ist vielleicht historisch
wichtig -: Warum ist es dazu gekommen, dass die V ermögensteuer nicht mehr erhoben werden kann? Die Ursache fällt in Ihre Regierungszeit und damit in Ihre Verantwortung. Es ist Ihr Versäumnis
({1})
- natürlich! -, weil Sie nichts unternommen haben, um
die ungleiche Bewertung von Geldvermögen und
Grundstücksvermögen zu ändern und weil Sie das Vermögensteuergesetz derzeit im Bundesrat blockieren. Sie
haben die V ermögensteuer verfassungswidrig werden
lassen.
({2})
- Natürlich ist es eine Länders teuer; das ist unbestritten.
Trotzdem ist das für viele eine wichtige Frage, gerade
angesichts der Situation einiger Länderhaushalte. V ielleicht ist uns die Union bald dankbar , dass wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Ich denke da zum Beispiel
an Hessen. Sie wissen, dass der Herr M inisterpräsident
Koch seinen Haushalt nur deshalb hat verfassungskonform aufstellen können, weil er die Mehreinnahmen aus
dem Steuervergünstigungsabbaugesetz bereits eingestellt
hatte. Jetzt blockiert er dieses Gesetz.
({3})
Wenn er damit erfolgreich ist, dann wird er einen verfassungswidrigen Haushalt haben. V ielleicht wird er uns,
wenn er die V ermögensteuer doch braucht, damit sein
Haushalt verfassungsgemäß ist, dankbar sein, wenn wir
ihm dabei behilflich waren, indem wir dem vorliegenden
Entwurf nicht zugestimmt haben.
({4})
Die Bilanz Ihrer Politik lässt sich sehr schön nach
dem Matthäus-Prinzip zusammenfassen: Wer schon hat,
dem wird noch gegeben.
({5})
Ihre Steuerpolitik in 16 Jahren Kohl war durch eine
Umverteilung von unten nach oben gekennzeichnet.
Sie haben während Ihrer Regi erungszeit die Normalverdiener in einer W eise ausgenommen, dass der S heriff
von Nottingham vor Neid erblasst wäre.
({6})
Die Vermögensteuer, gezahlt von den oberen
5 Prozent der Gesellschaft, hat 1996 immerhin umgerechnet 4,5 Milliarden Euro eingebracht. Würde man die
Bewertung der Grundstück e ändern, könnte man sie
heute verfassungskonform wieder erheben. Dann würden wir über einen Betrag von 20 Milliarden Euro für
die Länderhaushalte reden, die von den oberen 5 Prozent
der Gesellschaft bezahlt würden.
({7})
- Warum wir es nicht machen? Die Antwort ist relativ
einfach: weil wir derzeit dafür keine Mehrheit im Bundesrat finden. Sie wissen genauso wie wir, dass wir diese
Mehrheit brauchen.
Ich will Ihnen an einem Be ispiel deutlich machen,
wie sich Ihr Raubzug der Reichen auf Kosten der Armen
ausgewirkt hat.
({8})
Es ist doch eine alte Weisheit: Das, was man den Reichen
schenkt, muss man anderen nehmen. Die Familie Quandt,
Ihnen vielleicht bekannt, besteht aus drei Personen. Als
Sie die Erhebung der Vermögensteuer haben verfassungswidrig werden lassen, hatte diese Familie BMW -Aktien
im Wert von damals 13,5 Milliarden DM in ihrem Besitz.
Darauf musste sie 0,5 Prozent Vermögensteuer zahlen.
Das ist, wie wenn unsereins a Fuf fzgerl aus der Tasche
fällt, sagt man in Niederbayern. Die Nichterhebung der
Vermögensteuer war für diese armen Menschen mit dem
Vermögen von 13,5 Milliarden DM ein schönes Steuergeschenk von immerhin 67,5 Millionen DM.
Wie es so ist, bleibt Gutes nicht lange ungestraft. Deswegen musste man eine Kompensation finden, um dieses
Steuergeschenk zu finanzie ren. Was hat man gemacht?
Man hat die Grunderwerbsteuer um 75 Prozent erhöht.
({9})
- Das war damals eine de r Kompensationen für die
Nichterhebung der Vermögensteuer.
({10})
- Das war etwas anderes. Ab er die Grunderwerbsteuer
wurde erhöht. Das bedeutete für einen Bausparer , der
sich damals für 300 000 DM eine Eigentumswohnung
gekauft hatte: Er hätte vorher 6 000 DM Grunderwerbsteuer zahlen müssen, nac hher, als die V ermögensteuer
nicht mehr erhoben werden konnte, waren es
10 500 DM, also 4 500 DM mehr.
({11})
- Hören Sie einmal zu. - Das bedeutet: 15 000 Bausparer, die sich mühevoll ein Eigenheim ersparen, werden
von Ihnen als leistungsfähiger als die drei Mitglieder der
Familie Quandt betrachtet.
({12})
Es braucht nämlich 15 000 Bausparer, um dieses Steuergeschenk an die Familie Quandt zu finanzieren. Und das
liegt in Ihrer Verantwortung.
({13})
Der jetzt von Ihnen vor gelegte Gesetzentwurf sieht
vor, die Vermögensteuer nicht mehr bundesweit einheitlich zu erheben, sondern di e Frage, ob Vermögensteuer
erhoben wird oder nicht, in die Kompetenz des einzelnen
Landes zu geben. Sie behaupten, die Vermögensteuer sei
ein bürokratisches Monstrum.
({14})
Es sind Gerüchte im Umlauf, die Verwaltungskosten würden ein Drittel der Einnahmen aus der V ermögensteuer
ausmachen, während eine Untersuchung aus NordrheinWestfalen nachweist, dass der V erwaltungsaufwand
11 Prozent beträgt. Vielleicht ist ja Nordrhein-Westfalen
besser organisiert als andere Bundesländer
({15})
und hat deshalb einen niedrigeren Verwaltungsaufwand.
Wenn man die V ermögensteuer verfassungskonform
wieder erheben würde, wäre der Anteil im Übrigen niedriger.
({16})
- Das sind keine Märchen. Das können Sie in der „Süddeutschen Zeitung“ nachlesen. Ich nenne Ihnen gern die
entsprechende Stelle aus dem Jahr 1999 und wir stellen
Ihnen auch gern die entsprechende Untersuchung aus
Nordrhein-Westfalen zur Verfügung. Daraus können Sie
lernen, wie man das vernünftig macht.
({17})
- Ach, Sie waren das, di e im Zusammenhang mit der
Dienstwagenbesteuerung von dem Mitarbeiter, der den
Rolls Royce fährt, gesprochen hat. Jetzt erinnere ich
mich wieder.
({18})
- Das war völlig verkehrt, aber das ist hier nicht das
Thema.
Wenn Sie die Gesetzgebungskompetenz an die Länder geben, haben Sie folgendes Problem: Sowohl die
Rechtseinheit als auch die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse werden natürlich infragegestellt. Das Problem
kennen wir zum Beispiel auch aus der europäischen Debatte. Sie wollen einen St euersenkungswettbewerb in
diesem Bereich. Das Er gebnis wäre - wir alle würden
das nicht gut finden; wir diskutieren darüber gerade im
Zusammenhang mit der Zinsbesteuerung -, dass insgesamt weniger Steuereinnahmen erzielt würden, insbesondere weniger Steuereinnahmen von den oberen
5 Prozent der Gesellschaft, die besonders leistungsfähig
sind. Sie wollen, dass diese Gruppe weniger Steuern
zahlt.
Ihr Gesetzentwurf bedeutet mehr Bürokratie, weil das
Bundesland, das die V ermögensteuer einführt, das gesamte Vermögen des Steuerpf lichtigen zugrunde legen
muss. Wenn dieses Vermögen auf mehrere Bundesländer
verteilt ist, müssen die betreffenden anderen Bundesländer mitwirken, dieses Vermögen zu ermitteln. Das ist ein
relativ kompliziertes Verfahren; denn die Länder ohne
Vermögensteuer werden wahr scheinlich die erforderlichen Bewertungen gar nicht mehr vornehmen. Ihr V orschlag bedeutet also erstens mehr Bürokratie und zweitens, dass er praktisch nich t durchführbar ist. - Ihrem
Lächeln entnehme ich, dass Sie mir zustimmen, Herr
Kollege.
({19})
Was Sie machen, ist typisch. Ihr V orschlag erinnert
mich an die Sache mit den Betriebsprüfern. Einige Länder werben offensichtlich damit, dass es bei ihnen weniger Betriebsprüfungen gibt. Das bedeutet, dass die Betriebe in diesen Ländern real weniger Steuern zahlen
müssen. Auch diese Debatte haben wir in diesem Hause
schon des Öfteren geführt. Ich habe den Eindruck, dass
die mit Ihrem Vorschlag eröffnete Möglichkeit der Steuerverkürzung ein wichtiger Standortfaktor für das eine oder
andere Bundesland sein soll.
({20})
- Das ist keine V erleumdung; das ist die W ahrheit. Sie
wissen ja: Eine V erleumdung ist umso schlimmer , je
mehr sie der Wahrheit entspricht. In diesem Sinne war es
eine ganz schlimme V erleumdung, weil nämlich das,
was ich gesagt habe, wahr ist.
({21})
Ein letzter Punkt. Heute Vormittag konnten wir wieder erkennen, dass die Union den USA in vielen Dingen
sehr nahe steht. Ich würde mich freuen, wenn dieses vasallenähnliche Verhalten, das die Union in der Außenpolitik an den T ag legt, auch bei der V ermögensbesteuerung Einzug finden würde.
({22})
Die USA erzielen nämlich 3,9 Prozent ihrer Steuereinnahmen aus der Vermögensbesteuerung. Die Bundesrepublik dagegen erzielt nur 0,9 Prozent ihrer Steuereinnahmen aus der Vermögensbesteuerung.
({23})
- Doch! Die Erbschaftsteuer gehört zur Vermögensteuer.
Ich nehme an, dass Sie das wi ssen und dass Sie meiner
Belehrung nicht bedürfen.
Sie jammern sonst immer da rüber - meistens unberechtigt -, dass Deutschland Schlusslicht ist. In diesem
Fall trifft es zu: Deutschl and ist zusammen mit Österreich Schlusslicht bei der Vermögensbesteuerung. Aber
der Grundsatz unseres Steuersy stems ist, dass die starken Schultern mehr tragen sollen als die schwachen.
Dieses Prinzip wird durch Ih ren Gesetzentwurf verletzt,
weil nämlich die Reichen außen vor bleiben und sich
arm rechnen können.
({24})
Deswegen werden wir Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Wir bleiben bei dem Prinzip „Robin Hood“
und gehen nicht über zu dem Prinzip „Sherif f von Nottingham“, dem Sie hier folgen.
Vielen Dank.
({25})
Nächster Redner ist de r Abgeordnete Dr . Michael
Meister, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Angesichts des V ortrages des Kollegen Pronold
muss man sagen:
({0})
Man darf sich am heutigen Tage nicht wundern, dass die
Zahl der arbeitslosen Menschen auf 4,6 Millionen gestiegen ist. Ihre Politik, die Sie gerade dar gestellt haben,
hat in den letzten 12 Monaten einen Anstieg der Zahl der
Arbeitslosen von über 400 000 bewirkt. Sie haben von
den Schwächsten der Gesellschaft gesprochen. In diesem
Jahr haben Sie 400 000 Menschen alleine gelassen und
in die Arbeitslosigkeit gedrängt. Das ist eine Folge Ihrer
Politik, die allein aus Ideo logie besteht und keinerlei
Sachkenntnis von den wirtschafts- und finanzpolitischen
Zusammenhängen aufweist.
({1})
Machen Sie endlich Schluss mit dieser Ideologie! Fangen Sie an, Sachkenntnis in Ihre Politik einzubeziehen!
Ich will Ihnen einmal sagen, was die Bundesbank zu
dem, was Sie hier vor getragen haben, feststellt. Ich zitiere den Bericht der Bundesbank aus dem März 2003:
Zudem muss Klarheit darüber bestehen, dass Produktion und Leistung, die Schaf fung von W erten
und Arbeitsplätzen Vorrang vor der Verteilungspolitik haben.
Herr Pronold, das ist eine klare Antwort auf Ihre V erteilungspolitik. Sie ist der fa lsche Weg. Sie richten den
Standort Deutschland, die W irtschaft und die Arbeitsplätze, mit Ihrer Ideologie zugrunde. Hören Sie endlich
auf damit!
({2})
Die Bundesbank sagt in ihrem Bericht noch mehr:
Die gegenwärtige Wachstums- und Vertrauenskrise
findet ihren Ausdruck in der seit Jahren schwachen
Investitionsneigung der Unternehmen. Angesichts
der hohen Unsicherheiten erscheinen die Ertragsaussichten als zu gering.
Deshalb wird nicht investie rt und deshalb ist dringend
Klarheit notwendig.
Ich bedanke mich herzlich dafür, dass Sie Klarheit geschaffen haben. Wir wussten bis zu dieser Minute nicht,
was die SPD im Hinblick auf die V ermögensteuer will.
Es wurde laviert und gesagt, einige SPD-regierte Länder
würden sie möglicherweise wollen. Der Herr Bundeskanzler, der leider nicht anwe send ist - er hätte sich mit
Sicherheit über Ihre Rede gefreut -, hat gesagt, er wolle
keine Vermögensteuer.
({3})
Seit ein paar Minuten wissen wir: Die SPD-Bundestagsfraktion will anders als der Bundeskanzler, der in der Öffentlichkeit das Gegenteil verkündet, die Einführung der
Vermögensteuer in Deutschland.
({4})
- Sie haben eben von diesem Pult aus dar gestellt, dass
Sie die V ermögensteuer wollen. W ir haben das zur
Kenntnis genommen. Seit diesem Zeitpunkt ist klar: Die
SPD-Bundestagsfraktion will in Deutschland eine V ermögensteuer.
({5})
- Ich rege mich nicht auf. Ic h stelle fest: Es gibt einen
Dissens zwischen dem Bundeskanzler und der Fraktion,
die ihn angeblich unterstü tzt. Ich bin Herrn Pronold
dankbar, dass er dies hier so klar vorgetragen hat.
Alle sieben Minuten geht in Deutschland ein Unternehmen verloren. 400 000 Menschen verlieren pro Jahr
durch Ihre Politik, die zu Unternehmensinsolvenzen
führt, ihren Arbeitsplatz. Lehrstellen, die wir in Deutschland dringend benötigen, können nicht geschaf fen werden, da Sie mit Ihrer Politik Unternehmen zugrunde
richten. Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist so niedrig wie
noch nie. Im Maschinenbau zu m Beispiel gibt es einen
Auftragsrückgang.
({6})
Gehen Sie einmal in die Heimatstadt Ihres Bundeskanzlers: Auf der Hannover -Messe in diesem Jahr werden 800 Aussteller weniger sein als in den V orjahren.
Warum kommen weniger Aussteller zur Hannover Messe? Weil Sie eine Wirtschaftspolitik machen, die für
diesen Standort keine Perspektive bietet.
In dieser Situation kündigen Sie den Menschen in
Deutschland an: Die SPD-Bu ndestagsfraktion will weitere Substanzsteuern. In dieser Situation wäre es notwendig gewesen, klar zu sagen: Wir wollen keine Substanzsteuern in Deutschland. Das ist das Signal, das gebraucht
wird. Aber nun besteht Klarheit und nun wissen wir, worüber wir mit Ihnen zu diskutieren haben und womit wir
rechnen können.
Wir brauchen dringend ein höheres Wachstum und
über das Wachstum mehr Steuereinnahmen.
({7})
Herr Pronold, wenn ein um nur 6 Promille höheres
Wachstum gelingen würde, dann hätten wir pro Jahr
3,5 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen. Das ist genau das Volumen, das Sie angeblich anstreben. Machen
Sie endlich eine Politik, di e für mehr W achstum sorgt,
die diese 6 Promille herbeiführt! Dann brauchen Sie in
Deutschland keine Vermögensteuer zu aktivieren.
Wir fordern eine Politik, die endlich Perspektiven
nach vorne schafft und die dafür sor gt, Investitionsklarheit und vernünftige Rahmenbedingungen zu schaf fen.
Ich hätte mir gewünscht, dass wir in der heutigen Abstimmung zu dem Er gebnis kommen: Der Deutsche
Bundestag stellt fest, dass die V ermögensteuer abgeschafft wird.
({8})
Jetzt sagen Sie: W enn wir sie als Bundesgesetz abschaffen, dann wird sie möglicherweise auf Landesebene
wieder eingeführt. Sie hätte n in der Debatte zur ersten
Lesung dieses Gesetzentwu rfes anwesend sein sollen.
Damals hatte ich Ihnen angeboten - die FDP hatte signalisiert, dass sie zustimmt -,
({9})
gemeinsam die Vermögensteuer, die als eine Steuerart
im Grundgesetz verankert ist, aus dem Grundgesetz zu
streichen. Dann wäre sie als Bundessteuer und als Landessteuer nicht mehr vorhanden und dann gäbe es keine
Vermögensteuer mehr. Stimmen Sie unserem V orschlag
zu! Dann brauchen Sie keine Angst mehr zu haben, dass
irgendein Bundesland diese Steuer einführt!
({10})
Das ist eine Ausrede von Ihnen. Sie haben keinen Mut
zu Entscheidungen.
Meine Damen und Herren, dieselbe Substanzbesteuerung betreiben Sie bei der Gewerbesteuer.
({11})
Ich bitte Sie, sich einmal anzuschauen, was momentan
bei der Gewerbesteuer passiert. Sie von den Grünen haben vielleicht nicht gelesen, was Ihre Bundestagskollegen von der SPD vorhaben. Sie sollten einmal nachlesen,
was der Herr Poß dazu gesagt hat. Er hat sich im Rahmen der Gemeindefinanzreform eindeutig für eine Reaktivierung der Substanzbesteuerung ausgesprochen.
({12})
Diese Vorschläge gibt es bei Ihnen.
Sie wollen den Unternehmen in der schwierigen Wirtschaftslage, die wir heute haben, über die Substanzbesteuerung Liquidität entziehen. Sie führen mit drei Bundesländern, mit Schleswig-Ho lstein, Berlin und Nordrhein-Westfalen, eine Debatte über die Erbschaftsteuer.
Sie wollen die Erbschaftste uer erhöhen und auch damit
den Unternehmen Liquidität entziehen. So vertreiben Sie
Unternehmen aus Deutschland. Sie richten Unternehmen
zugrunde und Sie betreiben damit eine Politik nicht gegen die Unternehmer, sondern gegen die Arbeitnehmer ,
die dabei ihren Arbeitsplatz verlieren. Mit Ihrer Politik
treffen Sie die Schwächsten der Gesellschaft. Dafür tragen Sie, Herr Pronold, und Ihre Fraktionskollegen die
Verantwortung.
({13})
Wir als Union fordern eine klare Ansage zur V ermögensteuer. Wir wollen, dass sie in Deutschland gänzlich
verschwindet. Wir fordern ei ne klare Ansage zur Erbschaftsteuer. Wir wollen keine Erhöhung der Erbschaftsteuer und wollen für Betriebsüber gänge Erleichterungen schaffen, damit für diese Nachfolgeregelungen
möglich sind und Betriebe nicht ohne Grund zerstört
werden. Hinsichtlich der Gewerbesteuer wollen wir eine
Gemeindefinanzreform, die keine Substanzbesteuerung
kennt. Wenn wir diese klaren Ansagen machen und
keine Neiddebatte führen, wie Sie es getan haben, dann
kommen wir endlich voran.
Ich möchte Ihnen einige Punkte nennen, zu denen Sie
eine Neiddebatte führen: Mit Ihrer Unternehmensteuerreform 2001 haben Sie dafür gesor gt, dass Körperschaften keine Körperschaftsteuer mehr zahlen, dafür
aber Arbeitnehmer und der Mittelstand eine höhere Steuerlast zu tragen haben.
({14})
Was ist denn das für eine St euerpolitik, bei der Körperschaften keine Steuern zahlen, aber Arbeitnehmer und
Mittelstand herangezogen werden? Was hat das mit sozialer Gerechtigkeit zu tun, von der Sie immer sprechen?
({15})
Sie legen ein Steuervergünstigungsabbaugesetz
vor. Darin steht, dass die Spekulationsfrist für private
Veräußerungsgewinne wegfällt und dass derjenige, der
als Daytrader an der Börse un terwegs ist, seinen Steuersatz um 200 Prozent reduziert bekommt, weil er seine
Gewinne statt mit seinem pe rsönlichen Steuersatz jetzt
nur noch mit 15 Prozent versteuern muss. Das machen
Sie! Sie treten für eine ni edrigere Besteuerung von Spekulationsgewinnen ein. Ist da s eine Politik für soziale
Gerechtigkeit? Ich sage einde utig Nein. So etwas machen wir nicht mit. W ir sind für soziale Gerechtigkeit
und Sie machen Politik für Spekulanten in Deutschland.
({16})
- Doch, so ist es, Frau Hendr icks. Lesen Sie doch nach,
was in dem Entwurf Ihres Steuerver günstigungsabbaugesetzes zur Besteuerung privater V eräußerungsgewinne steht! Lesen Sie nach, was der Wegfall der Spekulationsfrist für den Tageshändler an der Börse bedeutet!
Dieser Wegfall bedeutet für ihn eine Steuersenkung um
200 Prozent. Das wollen wir nicht.
({17})
Das hat nach unserer Meinung mit sozialer Gerechtigkeit
nichts zu tun.
({18})
- Ich rechne es Ihnen gern vor. Dann verstehen Sie auch
einmal Ihren eigenen Gesetzentwurf.
({19})
- Stellen Sie eine Zwischenfrage, dann bekommen Sie es
erläutert.
Sie haben die Steueramnestiepläne angesprochen.
Der Bundeskanzler hat erwartet, dass aufgrund der Amnestieregelung Kapital in Höhe von 100 Milliarden Euro
nach Deutschland zurückkäme. Gleichzeitig diskutieren
Sie hier - Herr Pronold kündigt das an - die W iedereinführung der V ermögensteuer. Glauben Sie denn, dass
auch nur ein einziger Mens ch Geld nach Deutschland
zurückführt, wenn Sie ihm hier mit der Vermögensteuer
drohen? Ihr Bundesfinanzminister ist hier ein Stück weit
realistischer. Er geht nur von Steuermehreinnahmen in
Höhe von 5 Milliarden Euro aus.
Solange Sie davon ausgehen, die V ermögensteuer zu
aktivieren, solange Sie De batten über die Erbschaftsteuer führen, solange Sie den Menschen mit Kontrollmitteilungen drohen, wird es keinen einzigen Menschen
geben, der sein Kapital in ei n Land transferiert und dort
anlegt, in dem das Bankgehe imnis ausgehöhlt wird, in
dem man eine riesige Bürokratie schaf ft, in dem man
plötzlich 300 Millionen Konten kontrollieren möchte.
Mit dieser Kontroll- und Bürokratiewut müssen Sie endlich aufhören. Ihr Wirtschaftsminister sagt, er wolle Bürokratie abbauen. Sie aber tu n in Ihrer Politik genau das
Gegenteil dessen, was Sie in Ihren Sonntagsreden ankündigen.
({20})
Diese Debatte führen wir in einer Situation, in der ein
Herr Lauterbach, der in der vom Bundeskanzler einberufenen Kommission zur Reform der Gesundheitspolitik sitzt, den Leuten droht, dass sie auf ihre Kapitalerträge auch noch eine Ges undheitsabgabe in Höhe von
nahezu 11 Prozent zahlen müssen. Das ist doch ein Witz!
Glauben Sie denn, dass Sie den Finanzmarkt Deutschland mit Vermögensteuer, mit Erbschaftsteuer, mit Kontrollmitteilungen, mit Sozialabgaben auf Kapitalerträge
attraktiv machen können? Das ist der völlig falsche
Weg! Wenn Sie diese Debatten endlich beenden und
Klarheit schaffen würden, dass das alles nicht kommt,
wird Ihre Wirtschaftspolitik an dieser Stelle endlich vernünftig.
({21})
Als das Bundesverfassungsgericht damals die V ermögensteuer als nicht verfa ssungsgemäß angesehen hat
und wir daraufhin diese ausg esetzt haben, haben wir
zwei Steuern erhöht, um den dadurch entstandenen Ausfall zu kompensieren. Das war zum Ersten die Grunderwerbsteuer und zum Zweiten die Erbschaftsteuer. Wenn
ich sage „wir“, heißt das, Sie waren dabei und haben das
mitbeschlossen.
({22})
Nicht allein die Koalition, sondern Sie und auch die
SPD-regierten Länder haben dafür gestimmt.
({23})
Herr Pronold, Sie haben von diesem Pult aus gesagt,
Sie wollten die Vermögensteuer wieder aktivieren. Dann
sollten Sie aber auch diese beiden Steuern, also die Erbschaftsteuer und die Grunderwerbsteuer, wieder senken.
Davon habe ich allerdings nichts gehört. Es muss eine
Korrektur erfolgen. Doch Si e denken grundsätzlich nur
an Steuererhöhungen, die zu höheren Belastungen der
Menschen in diesem Land führen. Dieses Denken ist
falsch. Das muss sich endlic h ändern. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Steuer - und Abgabenlast
senken, damit sich Leistung in Deutschland wieder
lohnt, und dürfen nicht das Gegenteil tun.
({24})
Zum Thema Verwaltung und Bürokratie. Wir sind
glücklich darüber, dass es in Deutschland nur noch eine
Steuer gibt, nämlich die Grundsteuer , die von den Einheitswerten abhängt und dass das bei allen anderen Steuern nicht mehr der Fall ist. W ir sind auch glücklich darüber, dass wir im Rahmen der Gemeindefinanzreform
die Chance haben, die Grundsteuer zu reformieren, damit wir in Zukunft auch bei ihr auf Einheitswerte, Fortschreibungen und Bewertungen von Grundstücken in der
alten Form verzichten können. Das wäre ein großer Fortschritt beim Abbau von Bürokratie und Verwaltung.
({25})
Wenn Sie darüber nachdenken würden, dann würden Sie
etwas für Deutschland tun.
Stattdessen haben Sie von diesem Pult aus vorgeschlagen, eine Steuer einzuführen - die Vermögenssteuer -, für
die man die Einheitswerte br aucht. Das wäre eine vollkommen falsche Entwicklung, die dazu beiträgt, Bürokratie dauerhaft zu etablieren. Nein, Sie sollten Bürokratie an dieser Stelle dauerhaft abbauen.
({26})
Sie haben zu Recht die internationale Ebene angesprochen und haben die USA ausgewählt. Ich will Sie
aber darauf hinweisen, dass es auch in der EU hinsichtlich der Kapitalgesellschafte n den Trend gibt, dass die
nationalen Gesetzgeber immer mehr dazu über gehen,
Substanzsteuern abzuschaffen. Wenn wir innerhalb der
EU wettbewerbsfähig sein wollen, dann müssen auch bei
uns die Substanzsteuern weg. Verlassen Sie den falschen
Weg, der die W ettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt, und
begeben Sie sich mit uns auf den richtigen Weg!
Wenn Sie etwas weniger Ideologie im Kopf hätten
und ein bisschen mehr Sach verstand walten lassen würden, dann könnten wir, wie ich glaube, in der Steuerpolitik vernünftig vorankommen.
({27})
Ich bedauere, dass das noch nicht gelungen ist. Ich bedauere auch, dass die Debatte zur ersten Lesung, in der
wir die Grundpositionen ausget auscht haben, bei Ihnen
zu keinerlei Reaktion geführt hat. Sie sind in Ihrem Vortrag sogar hinter das zurück gefallen, was Sie in der ersten Lesung gesagt haben.
Vielen Dank.
({28})
Das Wort hat nun der Abgeordnete Hubert Ulrich,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Meister, es tut mir Leid, das sagen zu müssen,
aber das, was Sie hier gerade abgeliefert haben,
({0})
war eine ziemlich lächerliche Nummer . Das wissen Sie,
glaube ich, auch selber.
({1})
Sie kennen die Position der rot-grünen Koalition in der
Frage der Vermögensteuer ganz genau. Der Bundeskanzler hat sie vor einigen Monaten sehr deutlich gemacht.
({2})
- Man kann immer versuchen, aus Redebeiträgen das
herauszuinterpretieren, was man gerne hätte. Das hat
aber mit dem, was wir in dieser Koalition wollen, nichts,
aber auch gar nichts zu tun.
({3})
Man kann natürlich lange über den Sinn der V ermögensteuer diskutieren; darüber sind wir uns, wie ich
glaube, einig. Zunächst hört sich das Ziel, das mit der
Vermögensteuer verfolgt wird, sehr gerecht an: Durch
die Besteuerung der hohen Einkommen sollen die Reichen dazu gebracht werden , sich am Steueraufkommen
des Staates zu beteiligen. Doch wenn man genau hinsieht, was diese Koalition in den letzten fünf Jahren an
Entlastung gerade für die Bezieher unterer Einkommen
gebracht hat,
({4})
dann ist das das Gegenteil von dem, was Sie eben gesagt
haben. Auch zu diesem Punkt haben Sie, Herr Meister ,
großen Unsinn erzählt.
({5})
Ich muss die Höhe der Steuersätze nicht wiederholen;
wir kennen sie mittlerweile alle. V on den Steuersätzen,
sowohl dem Eingangs- wie dem Spitzensteuersatz, hätten Sie früher nur geträumt.
({6})
Gerade die Bezieher der un teren und mittleren Einkommen, die mit 12 bis 18 Prozent zum Einkommensteueraufkommen beitragen, wurden von Rot-Grün bis zu
36 Prozent entlastet, und das ohne Vermögensteuer. Das
ist die Realität.
Die Diskussion wird aber erst durch Ihren Antrag so
richtig verrückt, durch nichts anderes.
({7})
Wir haben in diesem Hause nicht den Antrag gestellt, die
Länder in die Lage zu versetzen, die V ermögensteuer
einzuführen. Sie haben das vor geschlagen, nicht diese
Koalition. Ich kann sehr lange darüber nachdenken, was
Sie damit eigentlich bezwecke n wollen. Wir sind nicht
für die Vermögensteuer, und zwar aus guten Gründen: Es
handelt sich bei ihr um eine Substanzsteuer . Sie würde
zur Kapitalflucht beitragen. Es gibt darüber hinaus noch
viele andere Gründe, die Vermögensteuer abzulehnen.
Zudem muss man zwischen einer privaten und einer
betrieblichen Vermögensteuer differenzieren. Die betriebliche Vermögensteuer wäre ganz eindeutig schädlich für die Unternehmen.
({8})
Sie würde unserer Unternehmensteuerreform diametral
entgegenlaufen. Darum kann es wirklich nicht gehen.
Worum geht es bei Ihrem Antrag? W as hätte dieses
Land davon, wenn man eine Unternehmensteuer auf
Landesebene einführen könnte? Zum einen geht es aus
rein rechtlichen Erwägungen praktisch nicht.
({9})
Dafür gibt es eine ganze Re ihe von Gründen; das sagen
sowohl Verfassungs- als auch Steuerrechtler. Ich will es
Ihnen kurz zitieren: Der Steuerrechtler Crezelius hat gesagt, dass die Länder keine eigenen V ermögensteuergesetze erlassen können, weil sie keine Steuer gesetzgebungskompetenz haben. Der V erfassungsrechtler
Siekmann hat gesagt, dass der Landesgesetzgeber nicht
berechtigt ist, Steuergesetze einzuführen, die der Bund
ersatzlos aufgehoben hat.
Zum anderen frage ich: Was würde das in der Praxis
bedeuten? Eine Person wohn t beispielsweise in Nordrhein-Westfalen und hat eine Immobilie in Hessen.
Nordrhein-Westfalen hat in meinem Beispiel die Vermögensteuer eingeführt, Hessen aber nicht. Wie würden Sie
das voneinander abgrenzen? Es gibt eine ganze Menge
praktischer Probleme, so etwas umzusetzen.
({10})
Viel schlimmer bei dieser Diskussion, die die CDU/
CSU hier betreibt, finde ich Folgendes: Diese Regierung
bemüht sich, durch die Abgeltungsteuer Kapital aus
dem Ausland in dieses Land zurückzuholen. Die Diskussion um die Vermögensteuer, die Sie und nicht die rotgrüne Koalition angestoßen haben,
({11})
trägt dazu bei, dass sehr viele Menschen wieder sehr zurückhaltend sein werden. Da s ist schon eine Pervertierung dieser Diskussion, die Sie und nicht diese Koalition
zu verantworten haben.
({12})
Wenn ich böswillig wäre, könnte ich den Faden noch
ein Stück weiter spinnen.
({13})
Ich könnte sagen: Ihre eigentliche Hoffnung ist, dass die
Abgeltungsteuer nicht greift, weshalb Sie die Vermögensteuerdiskussion, die eine reine Geisterdiskussion ist,
immer noch am Leben halten.
({14})
Ich befürchte, dass das Ihre eigentliche Absicht ist.
({15})
Ihnen geht es darum, dieses Land und die Steuerpolitik
der Koalition weiter zu schädigen. Das können Sie hier
ruhig offen zugeben.
Wie gesagt: Für das Bündnis 90/Die Grünen und - so
denke ich - auch für die SPD kann ich nur sagen, dass
wir keine Vermögensteuer wollen.
({16})
Der Kanzler hat das ganz klar erklärt. W eder von der
SPD noch von den Grünen gibt es einen Antrag auf Wiedereinführung der Vermögensteuer; das ist Fakt. Daran
kommen Sie nicht vorbei. Das ist mit ein Grund dafür ,
dass wir Ihrem Antrag nicht zustimmen werden.
Vielen Dank.
({17})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Carl-Ludwig Thiele, FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ulrich, es ist
schon erstaunlich: Wir debattieren hier über ein Gesetz,
welches formal noch besteht, seit dem 1. Januar 1997
aber überhaupt nicht mehr angewandt wird. Wozu haben
wir in unserem Land eigentli ch Gesetze, die nicht angewandt werden und die tatsächlich auch niemand wiederbeleben will? Das Sinnvollste wäre doch, dieses Gesetz
abzuschaffen, weil es keinen Sinn mehr hat.
({0})
Wenn der W irtschaftsminister Clement der Auf fassung ist, wir müssten Bürokratie abbauen, dann kann ich
doch nur fragen: W as machen wir mit diesem Gesetz?
Entweder wird es mit Leben gefüllt oder nicht. Am
2. Februar gab es in Nieder sachsen eine Landtagswahl.
Vor den Landtagswahlen wollte Herr Gabriel es mit Leben füllen.
({1})
Es hat eine lange Diskussi on gegeben, in deren Anschluss es wieder zur Se ite genommen wurde. Nun
schlummert es weiter vor sich hin.
Herr Pronold, jetzt komme ich zu Ihnen. Diese Form
der klassenkämpferischen T öne habe ich nun wirklich
nicht erwartet. Es war wahr scheinlich gut, dass der
Kanzler bei Ihrer Rede nicht anwesend war , weil ich
nicht weiß, ob alle Kolleg innen und Kollegen der SPD
das, was Sie hier gesagt haben, teilen.
({2})
Eines muss man sehen: Natürlich eignet sich die Vermögensteuer hervorragend zur Polemisierung. V or der
Aussetzung der Vermögensteuer resultierten 60 Prozent
der Vermögensteuereinnahmen aus betrieblichem
Vermögen. Es kann doch keinen Sinn er geben, ein Vermögen in einem Betrieb unab hängig von der Ertragsfähigkeit des Betriebs zu besteuern. Wenn der Betrieb leistungsfähig ist, hat er die direkten Steuern zu zahlen.
Wenn er aber nicht leistungsfähig ist, möglicherweise
sogar rote Zahlen schreibt, würde die V ermögensteuer
zusätzlich obendrauf kommen und mit dazu beitragen,
dass weitere Arbeitsplätze abgebaut werden. Das kann
doch nicht der richtige Weg sein.
({3})
Insofern bitte ich in dieser Diskussion um etwas mehr
Redlichkeit, insbesondere da heute bekannt gegeben
wurde, dass die Zahl der Ar beitslosen auf 4,6 Millionen
gestiegen ist. Einige der Gründe dafür sind Rot-Grün
und das so genannte Steuervergünstigungsabbaugesetz, das unser Land ein halbes Prozent W achstum gekostet hat. Die Leute sind verunsichert; denn das Einzige, was sie von Rot-Grün immer hören, ist, dass für die
Lösung eines jeden Problems eine neue Steuer erhoben
oder eine Steuer erhöht werden muss.
({4})
Dazu sagen wir als Liberale ganz klar: Das ist der falsche Weg. Wir müssen bei den Ausgaben ansetzen; denn
alles, was sich der Staat in Form von Einnahmeerhöhungen nimmt,
({5})
fehlt beim Konsum und im investiven Bereich.
({6})
Wir stimmen dem Gesetzentwurf der Union ausdrücklich zu. Ich gehe davon aus, dass wir diese Diskussion in dieser Legislaturperi ode leider noch häufiger zu
führen haben, weil - das hat Herr Pronold sehr deutlich
gesagt - Sie die Vermögensteuer wollen. Aus momentan
opportunistischen Gründen wollen S ie sie zurzeit nicht
wiederbeleben, aber wenn si ch die Lage wieder ändert,
dann glaube ich schon, dass Sie sich der Vermögensteuer
wieder erinnern werden.
Was wir benötigen - auch das ist einer der Gründe,
warum wir den Entwurf der Union unterstützen -, sind
Planbarkeit und Verlässlichkeit. Ein Gesetz, das seit
1997 nicht mehr angewandt wird, muss abgeschafft werden,
({7})
es sei denn, man will es eventuell wiederbeleben. W ir
wollen es abschaffen. Der Weigerung von Ihrer Seite, es
abzuschaffen, entnehme ich, dass Sie es wiederbeleben
wollen. Schaffen Sie Klarheit und hören Sie auf, die
Leute zu verunsichern! Verunsicherung schadet unserem
Standort. Ich hoffe, dass Sie im Sinne der Ruck- oder Vibrationsrede des 14. März 2003 den Mut finden, den einen oder anderen ideologischen Ballast abzuwerfen.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Aufhebung des
Vermögensteuergesetzes auf Drucksache 15/196. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/436, den
Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - W er stimmt dagege n? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit
entfällt nach unserer Geschä ftsordnung die weitere Beratung.
Zum Tagesordnungspunkt 6 b wird interfraktionell
die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache
15/408 an die in der T agesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige V orschläge? - Das ist of fenkundig nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Waldzustandsbericht 2002
- Ergebnisse des forstlichen Umweltmonitorings - Drucksache 15/270 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vor gesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Wir haben das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Thalheim das Wort.
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! „Der Wald kehrt zurück“, so
titelte am 30. März eine große deutsche T ageszeitung.
Ich kann dem nur beipflichten , ist doch in den letzten
Jahrzehnten die bewaldete Fläche in Deutschland stetig
gewachsen, und zwar um rund 100 Quadratkilometer
jährlich.
({1})
- Natürlich in den letzten Jahren noch mehr.
Das ist die gute Nachricht. W ie so häufig im Leben
gibt es natürlich auch beim Thema Wald eine schlechte
Nachricht. Sie lautet, dass sich der Waldzustand in den
letzten Jahren nicht mehr in dem Maße gebessert hat wie
noch vor einigen Jahren. W o liegen die Ursachen? Sicherlich war es leichter , die Schwefelemissionen zu reduzieren als die Schadstoffemissionen, die uns nach wie
vor Probleme bereiten.
Kurz einige Anmerkungen zur Situation der Wälder
in Deutschland. Wir haben nach wie vor auf 44 Prozent
der Waldfläche eine leichte Kronenverlichtung, über ein
Drittel des W aldes dagegen weist keine Schäden aus.
Nahezu unverändert weisen 26 Prozent der Fichtenfläche, 13 Prozent der Kiefer nfläche und 32 Prozent der
Buchenfläche deutliche Blatt- und Nadelverluste auf.
Aber auch hier ist zu dif ferenzieren: Während uns noch
in den letzten Jahren die Laubbäume, insbesondere die
Eiche, große Sorgen bereitet haben, ist hier eine Besserung festzustellen. Aber die Besserung geht im Wesentlichen auf positive Witterungseinflüsse zurück. Die
Witterung war für die Eiche in den letzten Jahren außerordentlich günstig. Wir hatten mit weniger Krankheiten
und Schädlingen zu tun und es hat auch Besserungen der
Luftqualität gegeben.
Das ist auch der Punkt, an dem wir in der Zukunft weiter ansetzen müssen. Auch wenn in der Luftreinhaltung
in den letzten Jahren viel erreicht wurde - ich sprach
schon vom Schwefel -, so zählt doch jede T onne Stickstoff, die weniger emittiert wird. Das heißt: Die Bundesregierung wird ihre konsequente Politik für den Wald fortsetzen, insbesondere bei der Luftreinhaltung. Hier ist die
Verringerung der Schadstoffemissionen aus Kraftwerken
und Industrieanlagen sowie der Tierhaltung zu nennen.
Weiter ist die Energie- und Klimaschutzpolitik aufzuführen. Hier sind insbesondere die Ener gieeinsparung
und die Steigerung der Energieeffizienz zu nennen. Weiterhin ist mit Nachdruck die Ökosteuer zu nennen sowie
die verstärkte Nutzung regenerativer Energien.
Insbesondere in Bezug auf die Nutzung von Holz - da
spielt die wirtschaftliche Seit e eine Rolle - hat die rotgrüne Bundesregierung seit 1998 Maßstäbe gesetzt. Ich
habe selbst erlebt, dass mi r in Bayern auf Bauernversammlungen, auf denen man in der Regel nicht allzu viel
Anerkennung findet, gesagt wo rden ist: Was ihr in Bezug auf die Nutzung von Bioenergie, was Holz und Biogas anbelangt, durchgesetzt habt, verdient unsere Anerkennung. Wenn man das auf einer Bauernversammlung
im Bayerischen Wald hört, dann ist das für einen Sozialdemokraten schon ein sehr schönes Erlebnis. Das zeigt,
was auf diesem Gebiet geleistet wurde.
({2})
Wir müssen beim Thema Luftreinhaltung selbstkritisch
die Agrarpolitik nennen; denn die Ammoniakemissionen
kommen zu rund 50Prozent aus der Landwirtschaft. Es ist
einer der Schwerpunkte unserer Politik, diese Emissionen
zu mindern. Damit sind wir bei der Frage, wie Tierhaltung
betrieben wird, wie Güllebehälter abgedeckt werden und
welche ähnlichen Maßnahmen ergriffen werden können,
um diese Emissionen zu reduzieren.
Natürlich muss auch die Forstwirtschaft ihren Beitrag leisten. Sie tut das durch die Stabilisierung der
Waldökosysteme. Hier ist das forstliche Umweltmonitoring zu nennen, die Bundes waldinventur, die wir gemeinsam mit den Ländern machen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen und die Datenbasis zu verbreitern.
Wir sind auf einem guten W eg, festzustellen, wo noch
Probleme bestehen. Da sind auf alle Fälle die Waldböden
zu nennen, die über Jahrzehnte, wenn man so will, belastet worden sind. Wir werden eine ebenso lange Zeit und
einen langen Atem brauchen, um die Schadstof fbelastung auch der Böden zurückzu führen. Ich bin aber optimistisch, dass uns das bei Fortsetzung der konsequenten
Politik der Bundesregierung auf diesem Gebiet gelingt.
Herzlichen Dank.
({3})
Der nächste Redner ist der Kollege Cajus Julius
Caesar, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wald ist mehr als die Summe aller Bäume. Er ist ein
hochkompliziertes, aber auch ein hochsensibles Ökosystem. Wir von der Union setzen uns für dieses Ökosystem
ein und werden es in besonderer Weise bei unseren politischen Handlungen berücksichtigen. Es hat besondere
Bedeutung für die Erholung suchende Bevölkerung, aber
auch im Rahmen des Bodenschutzes und der Bodenerosion. Wir haben hier keine Gebir gszüge, die entwaldet
sind, wie etwa in Südeuropa.
Der Wald hat große Bedeutung hinsichtlich der CO 2Neutralität wie auch des Klimaschutzes und - nicht zu
vergessen - der immerhin 800 000 Arbeitsplätze, die im
Zusammenhang mit dem Wald stehen. Der Wald ist für
unsere Wirtschaft, insbesondere aber auch für unsere
Natur und Umwelt von großer Bedeutung und das sollten wir besonders anerkennen und achten.
({0})
Insbesondere hinsichtlich der Filterung des W assers
können wir feststellen, dass der W ald wie eine biologische Kläranlage wirkt. Das ist hinsichtlich der Hygiene,
der gesunden Ernährung und - nicht zu ver gessen - der
Speicherfunktion im Zusammenhang mit dem Hochwasserschutz von Bedeutung. Wenn wir über enorme Investitionen für den Hochwasserschutz reden, dann sollten
wir uns insbesondere mit de r Funktion und der Bedeutung des Waldes stärker befassen.
Sie als Regierung haben mit dem W aldzustandsbericht und den Er gebnissen des Umweltmonitorings eine
Zustandsbeschreibung und damit eine Analyse vor gelegt. Uns, der Union, fehlt aber ein Handlungskonzept
der Regierung. Sie werden Ihren eigenen Ansprüchen als
Regierung in diesem Bereich wieder einmal nicht gerecht. Das können wir nicht hinnehmen.
({1})
Das jüngste Beispiel ist die neue W assergesetzgebung. Dort ist vorgesehen, dass der Waldbesitzer zusätzliche Abgaben zu zahlen hat. Das geht nicht an. Derjenige, der für sauberes Wasser sorgt und sicherstellt, dass
Wasser gespeichert wird und langsam abfließt, soll zusätzliche Lasten auf sich nehmen. W ir sind dafür, dass
die Veranlagung nicht nach Flächenmaßstab, sondern
nach einem Vorteilssystem erfolgt, statt dass der W aldbesitzer zusätzlich belastet wird.
Der Waldzustandsbericht beschreibt eindeutig, dass
beispielsweise bei der Eiche leichte V erbesserungen zu
verzeichnen sind. Das hat aber auch etwas mit den Rahmenbedingungen, zum Beispiel mit besseren klimatischen Bedingungen, zu tun. Bekanntlich waren die Niederschlagsmengen im Jahr 2002 besonders hoch. Das hat
aber nichts damit zu tun, dass die Bundesregierung in
besonderer Weise aktiv geworden ist.
Wir geben der Schutzgeme inschaft Deutscher Wald
Recht, die festgestellt hat, dass der Zustand der Wälder
besorgniserregend ist und blei bt. In diesem Bereich besteht ein dringender Handlungsbedarf. Das wird auch am
Beispiel der Kiefer ersichtlich, bei der eine deutliche Zunahme der Schäden zu verzeichnen ist, weil sie auf Böden wächst, die immer schlec hter mit Nährstof fen versorgt sind. Insbesondere is t anzumerken, dass vor allem
bei der Eiche mit ihren hohen Bodenansprüchen drei
Viertel des Baumbestands gesc hädigt sind. Hier besteht
dringender Handlungsbedarf seitens der Bundesregierung. Wenn es darum gehen soll, den Laubwaldanteil
nicht nur zu erhalten, sondern zu vermehren, dann muss
eine Regierung auch bereit sein, etwas dafür zu tun.
({2})
Wenn wir das forstliche Umweltmonitoring betrachten und uns die Stichprobenana lyse noch einmal im Detail vor Augen führen, dann kö nnen wir feststellen, dass
zwar wieder eine Reihe von Statistiken, T abellen und
Daten aufgelistet wurden, da ss aber letztendlich die
Konsequenzen, die daraus gezogen werden sollten, fehlen.
Wir haben zu Zeiten der von der Union geführten Regierung einschneidende Maßnahmen auf den W eg gebracht. Ich nenne das Bund es-Immissionsschutzgesetz,
die Großfeuerungsanlagenverordnung, das Ozongesetz,
die Kleinfeuerungsanlagenverordnung, die Einführung
des Katalysators und etliche Maßnahmen zur Boden-,
Luft- und insbesondere W asserverbesserung. Das hat
dazu geführt, dass die Stickoxidemissionen von 1990 bis
1998 immerhin um 34 Prozent auf 1,78 Millionen Tonnen abgenommen haben.
({3})
Bei den Schwefeldioxidemissionen ist sogar ein Rückgang von 76 Prozent auf nur noch 0,80 Millionen Tonnen zu verzeichnen gewesen. W enn Sie jetzt in Ihrem
Antrag den rapiden Rückgang der Schwefeldioxidemissionen deutlich machen, dann beziehen Sie sich auf eine
Zeitspanne von 1990 bis 2000,
({4})
weil Sie mit den Zahlen Ihrer Regierungszeit nicht glänzen können. Vielmehr müssen Sie die Unionserfolge mit
einbauen.
({5})
Im Hinblick auf die Bodenversauerung ist festzustellen, dass der pH-W ert deutlich zurückgegangen ist und
auf 80 Prozent der Fläche unter fünf liegt. Ein Punkt bedeutet eine zehnfache Versauerung; zwei Punkte bedeuten eine hundertfache Versauerung. Wir haben es in den
vergangenen Jahren in Deutschland mit einer hundertfachen Versauerung zu tun gehabt. Das sollte man sich vor
Augen führen. Deswegen besteht angesichts der T atsache, dass dies nicht nur auf den Boden, sondern auch auf
die Vegetation, die Kleinlebewesen, die Artenvielfalt sowie insbesondere auf das Quell- und Grundwasser erhebliche Auswirkungen hat, dringender Handlungsbedarf. Deshalb verstehe ich überhaupt nicht, dass Sie die
Mittel auch für die Agrarstruktur und die Küstenschutzmaßnahmen zurücknehmen; denn zu diesem Bereich gehören auch Kalkungsmaßnahmen, die der Bodenverbesserung bzw. der Bodenstabilisierung dienen. Ich
verstehe nicht, warum die Regierung nicht bereit ist, hier
mehr zu tun. Statt in eine m Entschließungsantrag allgemein gehaltene Punkte aufzu listen, sollte man endlich
Maßnahmen vor Ort auf den Weg bringen.
({6})
Wir als Union wollen, dass Sie mehr in die Forschung investieren. Die finanziellen Ressourcen sind
dort gut angelegt; denn sie dienen der Ursachenerkundung und dazu, entspreche nde Maßnahmen abzuleiten.
Stattdessen reden Sie in Ihrem Entschließungsantrag von
einer Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform.
Das ist weder öko noch logisc h, sondern nur belastend.
Das ist nicht die Politik der Union. Wir wollen eine praktische Politik für den Wald, für die Waldbesitzer, für die
vor Ort lebenden und arbeit enden Menschen und insbeCajus Caesar
sondere für die Artenvielfalt. Deshalb haben wir - das
sagt auch die Vielzahl unserer Anträge zu diesem Thema
aus - die Initiative er griffen und deutlich gemacht, dass
wir hier mehr Einsatz wollen, als die rot-grüne Bundesregierung bereit ist zu leisten .
({7})
Ich möchte einen weiteren Punkt aus Ihrem Entschließungsantrag ansprechen. Wenn Sie sich einseitig für ein
bestimmtes Zertifizierungssystem einsetzen, dann sollten wir an einem Beispiel be trachten, wie es sich auswirkt. Das FSC-Zertifizierungssystem lässt beispielsweise eine Bodenbearbeitung zur Erzielung einer
Laubholznaturverjüngung nicht zu. Aber wir wollen
doch den Laubholzanteil nicht nur stabilisieren, sondern
- wo möglich - noch weiter erhöhen. Insbesondere die
Buche ist auf Naturverjüngung angewiesen. Das ist Ihre
theoretische Politik. Statt zusammen mit den Waldbesitzern vor Ort etwas auf den W eg zu bringen, setzen Sie
sich einseitig für das FSG-Zertifizierungssystem ein, das
sicherlich für den Großwald und insbesondere für den
Tropenwald, nicht aber für den kleinen Privatwald in der
Bundesrepublik Deutschland geeignet ist.
({8})
Wir haben es in Deutschland nicht mit wenigen Großwaldbesitzern, sondern mit 1,3 Millionen Kleinwaldbesitzern zu tun, von denen jeder im Durchschnitt
3,6 Hektar Wald sein Eigentum nennen darf und die sich
über Generationen hinweg im Schweiße ihres Angesichtes den jetzigen Waldbestand erst geschaffen haben. Das
sollten wir endlich auch im Deutschen Bundestag anerkennen.
({9})
Sie wollen das Bundeswaldgesetz ändern, um weitere bürokratische Hemmnisse einzubauen. Sie wollen in
dem geänderten Gesetz auf den Zentimeter genau vorschreiben, welches noch so kleine Pflänzchen auf welchem Quadratmeter - wenn möglich, würden Sie wahrscheinlich auch die Himme lsrichtung vorgeben - die
Waldbesitzer auf eigene Kosten pflanzen sollen. W ir
wollen hier ein Stück mehr Freiheit. W ir wollen den
Waldbesitzer mitnehmen. Dann haben wir auch etwas
für die Waldwirtschaft, aber insbesondere auch für die
Natur erreicht. In diesem Sinne wollen wir Politik betreiben. Wir wollen mehr Eigenverantwortung statt Reglementierung.
({10})
Mehr Staat bedeutet nicht mehr Erfolg und schon gar
nicht mehr Umweltschutz. W enn Sie beispielsweise im
Hinblick auf die Ausweisung von FFH-Gebieten in
Deutschland - es handelt sich immerhin um
5,2 Millionen Hektar; davon sind 1,9 Millionen Hektar
Wald, von denen sich 450 000 Hektar in privatem und
kommunalem Besitz befinden - zusagen, die Bundesregierung werde für Auflagen entschädigen - Ihr Staatssekretär Berninger hat das auf dem 1. Deutschen Waldgipfel 2001 erklärt -, dann sollte n Sie sich auch an diesen
Worten messen lassen. W as ist bis jetzt geschehen?
Nichts! Man lässt die W aldbesitzer im Regen stehen.
Erst gibt es Auflagen und dann keinerlei Entschädigung.
Das kann nicht die Politik unter Einbeziehung der vor
Ort lebenden und arbeitende n Menschen sein, die mit
dem Wald ihr Einkommen erzielen. Das ist nicht die Politik der Union, sondern die von Rot-Grün. Ihre Auf fassung können wir nicht teilen.
({11})
Wir wollen durch vertragliche Maßnahmen, durch
den Vorrang des Vertragsnaturschutzes nach vorne kommen. Wir wollen dem Rohsto ff Holz durch Marketing
diejenige Bedeutung beimessen, die er verdient hat. W ir
wollen, dass der Biomasse, beispielsweise im Rahmen
des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, diejenige Bedeutung beigemessen wird, die sie verdient hat. W ir wollen
eine standortgerechte W aldvermehrung in unterdurchschnittlich bewaldeten Bereichen. W ir wollen mehr
Kompetenzen für forstliches Personal auch im Bereich
des Naturschutzes. Wir wollen eine unbürokratische, naturnahe Bewirtschaftung mit dem und nicht gegen den
einzelnen Waldbesitzer. Wir setzen uns zudem für den
Erhalt des Tropenwaldes ein.
Wir wollen insbesondere durch ein Sofortprogramm
mit entsprechenden Kalkungsmaßnahmen dafür sor gen,
dass unserer Umwelt, insbesondere unserem Wald, diejenige Bedeutung beigemessen wird, die sie verdient haben. Wir wollen im Verstehen von Ökonomie, Ökologie
und sozialer Komponente vorangehen und mit den vor
Ort lebenden und arbeitenden Bürgern den Wald - unter
Einbeziehung der Biomasse - erhalten, pflegen, weiterentwickeln und nachhaltig bewirtschaften, sodass wir
ihn unseren Kindern gesund übergeben können.
Danke schön.
({12})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Behm,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Erinnern Sie sich noch an die kahlen Ber gkämme im Erzgebirge? Dort war das W aldsterben auch
für den Laien unübersehbar . Wer heute ins Erzgebir ge
fährt, sieht, dass der W ald dort wieder wachsen kann.
Aber es sind lichte und ver graste Ersatzwälder, die von
einem naturnahen Zustand noch weit entfernt sind.
Der Zustand der Erzgebir gswälder belegt aber , dass
wir gegenüber den 80er-Jahren deutliche Fortschritte gemacht haben. Tote Wälder sind hierzulande glücklicherweise kaum noch zu finden. Doch mit den sich schließenden Wunden verschwindet das Problem der
Umweltzerstörung aus dem Bewusstsein. So spricht
heute kaum noch jemand davon, dass mehr als
20 Prozent der Waldflächen deutlich geschädigt sind.
Aber gerade deswegen, gerade wegen dieser Schäden,
ist es für eine Entwarnung leider noch zu früh. Ohne
konzentrierte Maßnahmen zum Waldschutz können unsere Wälder nicht gesunden. Ich bin guter Hof fnung,
dass wir hinsichtlich dieser Maßnahmen mit der Opposition trotz einiger Verbalattacken durchaus eine Einigung
erzielen.
Die Erfolge in der Luftrein haltepolitik sind durchaus
eindrucksvoll.
({0})
So gingen die Emissionen von Stickoxid in den letzten
zehn Jahren um 41 Prozent zurück. Bei Ammoniak betrug der Rückgang 19 Prozent, bei Schwefeldioxid
85 Prozent.
Dennoch sind die W aldschäden seit 1995 kaum zurückgegangen. Das zeigt, wie lang die W irkungszeiträume sind. Das zeigt aber au ch, dass vor allem die versauernden und eutrophierenden Belastungen durch
Stickoxide aus dem V erkehr und durch Ammoniak aus
der Landwirtschaft noch immer zu hoch sind. Das heißt,
wir müssen die Anstrengungen in der Luftreinhaltepolitik fortsetzen.
({1})
Auch die Klimaveränderungen sind eine Gefahr für
die Wälder, und zwar nicht nur weil mehr Stürme zu größeren Windwurfschäden führen; vielmehr verschiebt
sich bei dauerhaft steigenden T emperaturen das Artenspektrum der Pflanzen und Tiere und damit das ökologische Gleichgewicht und der Wald verliert an ökologischer Stabilität.
Wir können gegen die drohenden Klimaveränderungen durchaus etwas tun. Es ist das Gebot der Stunde, den
Ausstoß von Treibhausgasen einzuschränken. Das heißt,
wir müssen die von der Bundesregierung eingeleitete
Politik der Energiewende weg vom Öl und hin zu erneuerbaren Energien auch im Interesse der W aldwirtschaft
konsequent vorantreiben.
({2})
Die Waldschäden und der Klimawandel machen eine
naturnahe Waldwirtschaft noch dringlicher, denn naturnahe Wälder sind stabil er als Monokulturen. Dieses
Ziel einer naturnahen Waldwirtschaft ist nur durch verbindliche Standards zu erreichen, die wir bei der Novellierung des Bundeswaldgesetzes einführen werden. Außerdem fördern wir eine W aldbewirtschaftung, die über
die gesetzlichen Mindeststandards hinausgeht, und werden, auch wenn Sie es nicht hören mögen, die FSC-Zertifizierung der Bundesforste n zügig umsetzen und die
Holzbeschaffung des Bundes entsprechend ausrichten.
({3})
Im Interesse derer, die den Wald bewirtschaften, und
im Interesse unserer Umwelt müssen und wollen wir die
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Forstwirtschaft verbessern; wir denken also durchaus auch an die
Forstwirte und Waldbesitzer. Dazu gehört es, dass mehr
Holz als Rohstof f und Ener gieträger eingesetzt wird.
Dazu gehört es, bei der Novellierung des Bundeswaldgesetzes die Spielräume hin zu niedrigeren Kosten und einer einfacheren Verwaltung zu nutzen. Dazu gehört es
auch, mit der Novellierung de s Bundesjagdgesetzes dafür zu sorgen, dass die Verbissschäden durch waldökologisch tragfähige Schalenwilddichten vermindert werden.
Liebe Kolleginnen und Koll egen, Sie kennen sicher
die großen Schilder mit dem Ahornblatt, die häufig von
der Autobahn aus zu sehen sind. Auf ihnen steht: „Rette
die Bäume - Schütze den Wald - Tu was!“ Das nach wie
vor hohe Schadensniveau des Waldes macht eindringlich
deutlich, dass dieser Aufruf nicht ungehört verhallen darf.
Wir haben es in der Hand, etwas zu tun: Erstens brauchen
wir eine konsequente Fortse tzung der Anstrengungen in
der Luftreinhaltepolitik. Zweitens brauchen wir eine konsequente Fortsetzung der Klimapolitik. Drittens brauchen
wir eine naturnahe Waldwirtschaft. So schaffen wir wieder gesunde und widerstandsfähige Wälder.
Ich danke Ihnen.
({4})
Nächste Rednerin ist di e Kollegin Dr . Christel
Happach-Kasan, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Waldzustandsbericht des Jahres 2002 ist kein Anlass
zum Jubeln; das haben meine Vorredner bereits deutlich
gemacht. Auch wenn den meisten Spazier gängern der
Unterschied zwischen einem geschädigten und einem gesunden Baum nicht sofort au ffällt, Fachleute sehen ihn.
Auch wenn geschädigte Bäume nur schwer zu erkennen
sind, der Zusammenbruch eines Waldes bietet ein dramatisches Bild. Es sind Wälder im Harz und im Erzgebir ge
gestorben. Deren Anblick tut weh; aber in Deutschland ist
der Wald - anders, als es der Begrif f „Waldsterben“ vor
Jahrzehnten nahe legte - nicht gestorben.
Die Schäden beruhen wesentlich auf den Schadstoffeinträgen aus der Luft. Im Zeitraum von 1990 bis 2000
gingen die Einträge von Schwefeldioxid um 85 Prozent,
von Stickstoffdioxid um 41 Prozent und von Ammoniak
um 19 Prozent zurück. Daran zeigt sich, dass die christlich-liberale Regierung erfolgreich war.
({0})
An diese Erfolgsgeschichte kann Rot-Grün leider nicht
anknüpfen.
Die Erfolge im Bereich der Minderung der Einträge
von Stickoxiden und Ammoniak sind noch lange nicht
zufriedenstellend. Es ist bekannt, dass die Stickoxidemissionen aus dem Verkehr stammen, die Ammoniakeinträge aus der Landwirtschaft; dies ist hier gesagt worden. Seltsam ist, dass de r Bericht der Minderung der
Einträge aus der Landwirtschaft zweieinhalb Seiten widmet, der Minderung der sehr viel höheren Einträge aus
dem Verkehr aber noch nicht einmal eine Spalte. Angesichts dessen muss der Eindruck entstehen, dass der
Schutz der Böden vor Schadstof feinträgen für die Bundesregierung nur eine untergeordnete Stellung einnimmt
und die Kritik an der Landwirtschaft wie üblich im V ordergrund steht.
({1})
Die Schadstoffeinträge haben die Waldböden großflächig verändert und in ihrer Funktionsfähigkeit stark beeinträchtigt. Die Säureeinträge haben zur Bodenversauerung, zur Auswaschung vo n Pflanzennährstoffen und
gleichzeitig auch zur Belastung des Grundwassers mit
Schwermetallen geführt. Diese Veränderungen sind allesamt nicht kurzfristig rückgängig zu machen. W ir werden daher noch lange im Parlament über W aldzustandsberichte diskutieren.
Aber was nützen Berichte, wenn daraus keine Konsequenzen gezogen werden? Als Maßnahmen gegen die
Versauerung der Waldböden empfiehlt der Bericht ausdrücklich forstliche Bodenschutzkalkungen und Kompensationsdüngungen. Dieser Empfehlung schließt sich
die FDP an.
({2})
„Nichtstun gibt die Waldböden teilweise irreparablen
Schäden preis und gefährdet die Nachhaltigkeit der
Waldwirtschaft und die Qualität unserer W asserresourcen“, so die ehemalige Umweltministerin des Landes
Rheinland-Pfalz von der SPD. Doch der Entschließungsantrag von SPD und Grünen enthält nichts zum Thema
Kalkungen. Damit verfehlen Sie das eigentliche Thema
und die Maßnahmen, die wir tatsächlich er greifen müssen. Sie konzentrieren sich auf Zertifizierungen. Sie machen, wie mein V orredner verdeutlichte, den Kleinstwaldbesitzern das Leben schwerer; Sie verhindern, dass
diese Besitzer einen kleinen zusätzlichen Erwerb aus ihren Wäldern ziehen können. Das ist der falsche Weg.
({3})
Wir müssen die vorhandenen naturwissenschaftlichen
Erkenntnisse umsetzen und sollten deshalb die Kalkung
der Wälder stärker unterstützen. W ir wissen, dass dies
wirkt. Das hat Rheinland-Pfalz in zehn Jahren deutlich
bewiesen: Die Artenzahl in de r Krautschicht steigt, die
Regenwurmbesiedlung steigt, die Feinstwurzelintensität
steigt, der Magnesiumgehalt in den Nadeln steigt, die
Verminderung der Kadmiumeinträge ist eindrucksvoll,
die Verminderung der V ergilbung der Fichtennadeln
ebenfalls. Das ist ein Erfolgsprogramm; damit könnten
wir dem Wald helfen.
Die Bundesregierung ist we iterhin aufgefordert, ihre
Politik der Bevormundung zu beenden und für keines
der Zertifikate zu werben. Das staatliche Engagement in
Bezug auf die Zertifizierung ist der falsche Politikansatz.
({4})
Die Menschen kennen die Fo rstsiegel nicht; für das Erreichen von Umweltzielen ha ben wir sehr viel bessere
Instrumente; die Erlössituation verschlechtert sich.
Frau Kollegin, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr
auf Ihrem Rednerpult!
Entschuldigung, ich bin nicht daran gewöhnt. Ich darf
meinen letzten Satz formulie ren: Die Koalition kündigt
mit ihrer Politik die jahrhundertelange Erfolgsgeschichte
der nachhaltigen Bewirtschaftung der Wälder auf.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Letzte Rednerin in dies er Debatte ist Kollegin
Gabriele Hiller-Ohm, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Oktober letzten Jahres ist die Berichterstattung über die
Wälder um 30 Prozent zurückgegangen. Dies belegt eine
Analyse der Schutzgemeinschaft Deutscher W ald. Dieses sinkende Interesse sollte aus folgenden Gründen für
uns alarmierend sein:
Erstens konnte die Vernichtung der letzten großen Urwälder nicht gestoppt werden. Zweitens ist der Zustand
unserer heimischen Wälder weiterhin kritisch; zwei von
drei Bäumen sind krank.
Deshalb braucht der W ald heute mehr denn je eine
starke Lobby, denn wir, die Industrienationen, gefährden
mit unserem enormen Holzverbrauch die Urwälder.
Holz ist nach Rohöl das in der EU zweitwichtigste Importgut. Wir brauchen Holz zur Papierproduktion, als
Heizstoff und als Ener gieträger. Bei Papier können wir
sparen. Ich bedauere sehr, dass die Recyclingquoten derzeit rückläufig sind; das müssen wir ändern.
({0})
Als Energieträger ist Holz allemal richtig und zukunftsweisend. Das zeigt schon die Ökobilanz. Holz als nachwachsender Rohstoff ist eine wichtige Alternative zum
Öl.
({1})
Deshalb müssen wir die wirtschaftlichen Grundlagen der
Holzproduktion schützen und fördern.
Allein in Deutschland sind rund 800 000 Menschen in
der Holzwirtschaft beschäftigt, mehr als in der chemischen Industrie, im Kohlebergbau und in der Stahlerzeugung zusammen. Wir müssen die Rahmenbedingungen
für unsere Waldwirtschaft stärken und die Wettbewerbsfähigkeit langfristig sichern.
({2})
Wie erhalten wir Wälder und Arbeitsplätze? W ie machen wir unsere Wälder fit für die Zukunft? Die Luftschadstoffe müssen weiter reduziert werden, und zwar
drastisch. Wir müssen die W aldwirtschaft auf schonende, nachhaltige Produktion nach den Kriterien guter
fachlicher Praxis umstellen. Zurzeit läuft in der Holzwirtschaft ein wichtiger gesellschaftlicher Diskurs über
diesen Begriff und über diese Kriterien. Ich bin sehr gespannt darauf, was dabei herauskommt.
Wir müssen eine verlässliche Zertifizierung und
Kennzeichnung des so produz ierten Holzes mit einem
hochwertigen Ökosiegel durchsetzen. W ir brauchen
auch eine Erhöhung des Marktanteils des zertifizierten
Holzes.
SPD und Grüne haben in der letzten Legislaturperiode
die Weichen richtig gestellt. Weitreichende Gesetze, Verordnungen und Bestimmungen zum Umwelt- und Klimaschutz wurden in Angr iff genommen und durchgesetzt. Diese Initiativen werd en auch für unsere Wälder
mittelfristig Wirkung zeigen.
({3})
Es sollte möglichst nur noch zertifiziertes Holz aus
zertifizierten Betrieben in den Handel kommen. Die
Bundesregierung bemüht sich zurzeit auf EU-Ebene intensiv um internationale Lösungen.
Rot-Grün hat sich auf die anerkannten Standards des
Ökosiegels FSC festgelegt. Warum haben wir das getan?
Wir haben das gemacht, weil FSC zurzeit die überzeugendsten Standards sowohl in ökologischer als auch in
ökonomischer und sozialer Hinsicht bietet. Außerdem ist
FSC ein international anerkanntes Ökosiegel. W enn wir
Holz importieren, das dieses Siegel trägt, können wir
also sicher sein, dass es nicht aus Raubbau und illegalen
Holzeinschlägen stammt. So schützen wir die Urwälder.
Wir haben viel getan, besonders in den letzten vier
Jahren, Herr Kollege Caesar , aber das alles reicht noch
nicht aus; denn der Zustand unserer Wälder ist seit 1995
nicht besser geworden. W ie kommt das? Durch jahrzehntelange hohe Schadstoffeinträge sind die Waldböden versauert. Das stresst unsere Wälder und ist eine
tickende Zeitbombe für unser Trinkwasser. Die Bundesregierung versucht durch gr oßflächige Kalkungen der
Wälder Schadensbegrenzung. Das ist eine Soforthilfe für
die Wälder, aber keine langfristige Lösung. Es führt kein
Weg daran vorbei, meine Damen und Herren: W ir müssen die Schadstof feinträge reduzieren. Das bedeutet:
noch weniger Stickstoffoxide, noch weniger Ammoniak,
noch weniger Schwefel.
({4})
Wir müssen die rot-grüne Umweltpolitik vor allem in
den Bereichen Verkehr, Landwirtschaft und Energie konsequent fortsetzen.
({5})
- Genau. - Ihnen liegt unser Entschließungsantrag vor .
Darin ist ein umfangreicher Forderungskatalog enthalten. Wir erwarten eine konsequente und zügige Umsetzung unserer Forderungen.
({6})
So machen wir den Wald fit für die Zukunft. Der nächste
Waldzustandsbericht wird mi t Sicherheit positiver ausfallen. Helfen Sie mit! S timmen Sie unserem Entschließungsantrag zu!
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Waldzustandsberichts 2002 auf Drucksache 15/270 an die in der T agesordnung aufgeführten Ausschüsse vor geschlagen.
Der Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Gr ünen auf Drucksache 15/745
soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft sowie
zur Mitberatung an den Ausschuss für W irtschaft und
Arbeit, an den Ausschuss fü r Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit und an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Reform des Kündigungsschutzgesetzes zur
Schaffung von mehr Arbeitsplätzen - V orschlag des Sachverständigenrates jetzt aufgreifen
- Drucksache 15/430 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreivierte lstunde vorgesehen, wobei
die FDP sechs Minuten erhalt en soll. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dirk Niebel, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Leitsatz Nummer eins der sozialdemokratischen Arbeitsmarktphilosophie: „Einmal erreichte Besitzstände sind unantastbar!“ muss am heutigen T ag
wirklich neu überdacht werden.
({0})
Heute hat der V orstandsvorsitzende der Bundesanstalt
für Arbeit die Arbeitsmarktzahlen für März vorgelegt:
({1})
4,6 Millionen Menschen in diesem Land haben keinen
Job, das sind fast 500 000 mehr als im gleichen Monat
des Vorjahres. Wir aber haben es immer noch nicht geschafft, einzusehen, dass arbeitsmarktpolitische Mittel in
Form von Geld einfach nicht ausreichen, um einer großen Zahl von Menschen die Chance zu geben, wieder in
den Arbeitsprozess eintreten zu können, wir darüber hinaus vielmehr Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt verändern müssen.
({2})
Der Bundeskanzler hat am 14. März eine Rede gehalten, mit dem wesentlichen Tenor: Alles wird gut. Er hat
in dieser Rede aber etwas zumindest für Sozialdemokraten Bemerkenswertes festgestellt.
({3})
- Herr Kuhn, Sie erinnern sich, dass die vorvorherige
Bundesregierung unter Helmut Kohl dieses Problem
schon einmal angegangen is t. Wir haben 1997 ja den
Kündigungsschutz geändert, indem wir den Schwellenwert von fünf auf zehn Arbeitnehmer angehoben haben.
({4})
Das hat sogar etwas bewirkt, liebe Kollegin Barnett;
denn in dem kurzen Zeitraum, in dem das Gesetz gegolten hat, sind, wie uns die Kammern, die IHKs und die
Handwerkskammern, mitgeteilt haben, in den Betrieben,
die den sechsten, siebten, achten oder neunten Arbeitnehmer eingestellt haben, überproportional mehr Neueinstellungen vorgenommen worden.
({5})
Das war ein echtes Jobprogramm - ohne einen einzigen
Cent Steuergeld, nur durch ei ne kleine Veränderung einer psychologischen Barriere. Hierdurch wurde Menschen die Chance gegeben, wieder in den Arbeitsprozess
einzutreten.
Mittlerweile hat auch der Bundeskanzler erkannt,
dass diese psychologische Hemmschwelle dazu führt,
dass gerade in den kleinen Betrieben nicht eingestellt
wird. Daran wollen wir anknüpfen. Wir haben deswegen
einen Vorschlag vorgelegt, der nicht nur auf einer Initiative aus der letzten Legislat urperiode, sondern auch auf
den Bemerkungen Ihres Sachverständigenrates im Jahresgutachten 2002/03 basiert.
({6})
- Leider hören sie, Herr Kollege Kolb, nicht auf ihren eigenen Sachverständigenrat, obwohl sie ihn eingesetzt
haben. Da die Regierung leider manchmal nicht zuhört
und es nicht selber macht, müssen wir es im Parlament
nachholen.
Wir wollen dafür sor gen, dass die Menschen die
Chance bekommen, wieder ins Berufsleben einzusteigen. Der Kündigungsschutz stellt tatsächlich für diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben, einen Besitzstand dar.
Er ist aber eine Barriere für diejenigen, die versuchen
wollen, wieder in Arbeit zu kommen, und führt in der
Praxis dazu, dass kleine Betriebe auf andere flexible Instrumente wie Zeitarbeit, Überstunden und befristete
Beschäftigungsverhältnisse ausweichen. W ie wir alle
wissen, rutschen manche Bereiche auch in die Illegalität;
sonst wäre die Schattenwirtschaft nicht die einzige
Boombranche in der Bundesrepublik Deutschland.
({7})
Der Bundeskanzler hat nun gesagt, man müsse etwas
ändern, und ist dabei ein wenig unkonkret geblieben.
Das muss wohl so sein, wenn ihm selbst seine Mitarbeiter etwas Falsches aufschreiben. Er hat sich ja zum Beispiel, wie wir gestern in der Fragestunde noch einmal
eindrucksvoll vom Kollegen Schlauch bestätigt bekommen haben, einfach geirrt, als er gesagt hat, in Zukunft
werden auch Zeitarbeitnehmer nicht mehr beim Kündigungsschutz berücksichtigt; das ist nämlich schon heute
nicht der Fall. Zumindest hat er sich Gedanken gemacht,
wie man das Problem lösen kann,
({8})
als er sagte, befristete Besc häftigungsverhältnisse sollen
in kleinen Betrieben vermehrt möglich werden.
Ich frage mich, warum wir diese von Ihnen früher immer als prekär bezeichneten Beschäftigungsverhältnisse
überproportional fördern sollen, wenn wir dadurch das
Problem nur in die Zukunft verlagern. W arum soll befristete Beschäftigung gefördert werden, wenn man
durch eine Veränderung beim Schwellenwert für dauerhafte Festanstellungen in Betrieben sorgen könnte?
({9})
Denn nach Ablauf der Höchstbefristungszeit baut sich
doch die psychologische Barriere zur Einstellung wieder
vor dem Verantwortlichen für ein kleines Unternehmen
auf. Er steht dann nämlich vor der Frage, ob er jemanden
dauerhaft einstellt und dadu rch zeitlich verzögert den
Schwellenwert übersteigt oder ob er jemand Neuen befristet beschäftigt und die eingearbeitete Arbeitskraft
freisetzt. Eine Beibehaltung dieser Regelungen erscheint
uns nicht als richtig. Deswegen schlagen wir vor , den
Schwellenwert auf 20 Arbeitnehmer pro Betrieb anzuheben und, weil ja befristete Beschäftigungsverhältnisse
schon für zwei Jahre möglich sind, festzulegen, dass der
Kündigungsschutz erst nach Ablauf von zwei Jahren einsetzt. Damit erreichen wir eine rechtliche Gleichstellung.
({10})
Wir wollen darüber hinaus die Option schaf fen, beim
Abschluss des Arbeitsvertrages auf den besonderen
Kündigungsschutz zu verzichten, zugunsten entweder
einer Abfindung oder einer Qualifizierungsabrede, was
im Falle einer Entlassung dazu führt, dass derjenige, der
den Arbeitsplatz verliert, bessere Chancen hat, einen
neuen Arbeitsplatz zu bekommen und wieder am Arbeitsprozess teilzuhaben. Da durch würde auch die Zeit
der Arbeitslosigkeit insgesamt verkürzt.
Wir wollen dafür sor gen, dass die Sozialauswahl
nicht, wie es der Kollege S tiegler gefordert hat, abgeschafft wird, sondern so gestaltet wird, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber etwas davon haben. Denn wir sind
durchaus der Überzeugung, dass Arbeitgeber eine soziale Verpflichtung gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern haben. Wir wollen nur die jetzige Situation
beenden, in der oftmals die Luschen bleiben können und
die Leistungsträger gehen müssen.
Deswegen brauchen wir hinsichtlich der Sozialauswahl im Gesetz drei klar definierte Kriterien: die Dauer
der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die Anzahl der unterhaltspflichtigen Personen. Das war schon
Gesetz, als wir es 1997 geän dert haben. 1999 ist es von
Rot-Grün mit einem der ersten Korrektur gesetze wieder
abgeschafft worden.
({11})
- Da waren Sie, Herr Kuhn , noch nicht Mitglied dieses
Hauses; deswegen können Sie das nicht wissen, wenn
Sie sich nicht eingelesen haben.
({12})
- Herr Dreßen, schreien Sie in Ihren DGB-Veranstaltungen, aber nicht hier.
({13})
Diese drei Kriterien mit der klaren Maßgabe, dass die
Leistungsträger ausgenommen werden können und der
Betrieb definiert, wer der Leistungsträger ist, führen
dazu, dass die sozialen Notwendigkeiten, die der Arbeitgeber zu gewährleisten hat, berücksichtigt werden, dass
aber der Betrieb keine Schädigung dadurch erleidet, dass
die falschen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehen.
({14})
Wir wollen mehr Rechtssicherheit für die Menschen
in diesem Land. Wir wollen mehr Chancen auf Teilhabe
für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf der einen Seite und die Arbeit Suchenden und Arbeitslosen
auf der anderen Seite.
Ein Ammenmärchen wollen wir von Anfang an beenden: Wer nicht dem besonderen Kündigungsschutz des
Kündigungsschutzgesetzes unterliegt, ist nicht rechtlos
in diesem Land.
({15})
Es gelten noch immer die Re gelungen des Bürgerlichen
Gesetzbuches gegen willkürliche Kündigung und gegen
sachfremde Erwägung. V on daher: Kommen Sie mir
nicht mit solchen Geschichten, machen Sie das, was Ihr
Kanzler andeutungsweise gesagt hat, ohne gleich zu widersprechen, ohne sofort in die Betonbarrieren zurückzukehren.
({16})
Machen Sie das schon jetzt und nicht erst am Ende der
Debatte; denn Sie werden es im Endeffekt doch tun.
({17})
Die SPD und ganz besonders die Grünen haben sich zu
einem Kanzlerwahlverein entwickelt. Wir werden es am
Ende dieser Diskussion sehen, wenn wir die gesetzlichen
Rahmenbedingungen auch beim Kündigungsschutz ändern.
Vielen Dank.
({18})
Nächster Redner ist der Kollege W ilfried Schreck,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Arbeitsrecht und T arifverträge ergänzen sich in
Deutschland zu einem dichten Netzwerk geregelter
Arbeitsbeziehungen. Das schafft Sicherheit.
Mit diesen W orten hat der Bundeskanzler in seiner
Grundsatzrede zur Agenda 2010 am 14. März verdeutlicht, worauf der soziale Frieden in unserem Land beruht. Dabei ist das Thema Kündigungsschutz von zentraler Bedeutung.
Als Gesamtbetriebsratsvorsitzender einer Firma, die
vor zwölf Jahren circa 30 000 Mitarbeiter hatte und
heute weniger als 5 000 hat, weiß ich, wovon ich spreche. Wir sind zurzeit nach einer weiteren Fusion zum
dritten Mal in zwölf Jahren dabei, über einen Interessenausgleich und Sozialpläne zu verhandeln.
Gerade der Kündigungsschutz stellt die Betriebsparteien immer wieder vor die Aufgabe, nach Lösungen zu
suchen und diese gemeinsam zu verantworten.
({0})
- Kommt gleich. - Wir haben zum Beispiel Teilzeitmodelle
entwickelt nach der Faustformel: 10 Prozent weniger Arbeitszeit - das ist noch leicht zu vermitteln -, 10 Prozent weniger Gehalt - das ist schon sc hwieriger vermittelbar - und
10 Prozent mehr Beschäftigung, für die sich, denke ich, die
Mühe solcher Diskussionen lohnt. I n bestehenden Betrieben hat das zu weniger Entlassungen geführt, in Neubaukraftwerken zu den berühmten 10 Prozent mehr EinstelWilfried Schreck
lungen. Damit haben wir für über 300 Kolleginnen und
Kollegen Arbeit erhalten bzw . geschaffen. Übrigens ist
das alles passiert in Ausgestaltung bestehender Tarifverträge und mit ausdrücklicher Billigung unserer Gewerkschaft, der IG BCE. - Das wollten Sie doch hören, Herr
Kollege?! So viel kurz zum praktischen Kündigungsschutz.
Wie Sie wissen, hat der Bundeskanzler am 14. März
aber auch auf die Notwen digkeit von Reformen beim
Kündigungsschutz hingewiesen. Heute stehen wir vor
der Frage: Wer hat dazu das bessere Konzept?
({1})
Wir wollen eine Regelung, di e gleichermaßen die Interessen der Arbeitnehmer un d Arbeitgeber wahrt, aber
auch Neueinstellungen, in erster Linie in Kleinbetrieben,
fördert.
({2})
Was schlagen S ie dazu vor? Nehmen wir zum Beispiel Ihre Forderung, den Schwellenwert für die Anwendung des Kündigungsschu tzgesetzes von derzeit
fünf Arbeitnehmern auf 20 Arbeitnehmer anzuheben.
Nach derzeitiger Rechtslage gilt das Kündigungsschutzgesetz erst für Firmen mit mindestens sechs Beschäftigten, das heißt, nur in jede m dritten Betrieb; denn zwei
Drittel aller Unternehmen beschäftigen weniger als
sechs Mitarbeiter.
({3})
Um diese vermeintliche ode r echte Schwellenangst zu
beseitigen, sehen wir vor , dass neu eingestellte Arbeitnehmer mit befristeten Arbeitsverträgen nicht auf den
Schwellenwert von fünf Ar beitnehmern angerechnet
werden.
({4})
Gerade kleine Unternehmen, die die Basis unserer
Volkswirtschaft bilden, können damit mehr Einstellungen vornehmen, ohne in den Geltungsbereich des vermeintlichen Schreckgespenstes Kündigungsschutz zu
kommen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang sicherlich
der Vergleich mit unseren europäischen Nachbarn. In
den Niederlanden benötigen die Arbeitgeber für jede
Kündigung eine staatliche Genehmigung, in Österreich
und Italien ist auch bei gerechtfertigter Kündigung immer eine Abfindung zu zahlen, in Frankreich beginnt der
Kündigungsschutz schon beim ersten Arbeitnehmer. Unser Kündigungsschutz könnte somit für multinationale
Unternehmen geradezu ein Anreiz sein, hier zu investieren. Leider ist das Thema komplexer.
({5})
Im Gegensatz zu der oft gezeichneten Horrorvision
des Kündigungsschutzgesetzes ist das juristische Risiko
eines Unternehmens, einen se chsten Mitarbeiter einzustellen, eher gering.
({6})
Eine Kündigung muss nur ei ne Bedingung erfüllen: Sie
muss begründet sein. Das ist sie, wenn sie als betriebs-,
personen- oder verhaltensbedingt gelten kann. Der offenbar tief verwurzelten Hemmung können wir begegnen, ohne die Angst vor dem V erlust des Arbeitsplatzes
für Millionen von Arbeitnehmern zu schüren, wie Sie es
mit Ihrem Vorschlag zur Anhebung des Schwellenwertes
auf 20 Beschäftigte tun würden. W ir hingegen werden,
wie gesagt, neu eingestellte Arbeitnehmer mit befristeten
Arbeitsverträgen aus der Schwellenwertberechnung herausnehmen.
Was den Wirkungsgrad der von Ihnen beabsichtigten
Anhebung auf 20 Arbeitnehmer angeht, empfehle ich Ihnen Ziffer 470 des von Ihnen angeführten Jahresgutachtens des Sachverständigenrats zur Lektüre. Dort ist zu lesen, dass verschiedene zur Fragestellung des Einflusses
des Kündigungsschutzgesetzes auf die Arbeitslosenquote durchgeführte Untersuchungen zu teilweise recht
unterschiedlichen Ergebnissen führten. Zusammenfassend wird festgestellt:
Der Gesamteindruck ist jedoch, dass sich in diesen
Studien ein verstärkender Einfluss des Kündigungsschutzes auf die Höhe der Arbeitslosigkeit nicht belegen lässt.
Ich komme nicht umhin, im Zusammenhang mit Ihrem
ersten Änderungsversuch aus dem Jahre 1996 - Herr Kollege Niebel, Sie haben darauf hingewiesen - auf den damaligen Bundesarbeitsminister Norbert Blüm zu verweisen, der auf die Frage, was er von der Änderung des
Kündigungsschutzgesetzes halte, antwortete:
Wir haben damals den Schwellenwert von fünf auf
zehn angehoben. Ich habe noch das Handwerk im
Ohr, das 300 000 Arbeitsplätze versprochen hat.
Auf die warte ich heute noch.
Zitat aus der „Lausitzer Rundschau“ vom 7. März 2003.
({7})
Wenn ich Sie, meine Damen und Herren der FDPFraktion, bzw. Ihren arbeit smarktpolitischen Sprecher,
Kollegen Niebel, beim Wort nehmen darf, so werden Sie
uns, wenn unser Gesetzentw urf eingebracht sein wird,
beim Punkt Sozialauswahl voll und ganz unterstützen.
Denn neben starren Kriterien wie Lebensalter, Dauer der
Betriebszugehörigkeit und Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers sollen Prioritäten auch direkt zwischen Arbeitnehmervertretern und Arbeitgebern erarbeitet werden können. Das müsste Ih rem Flexibilisierungsdrang
doch entgegenkommen.
Zu Ihrer Forderung, Arbeitnehmer, deren weitere Beschäftigung im betrieblichen Interesse liegt, explizit aus
der Sozialauswahl herauszunehmen, kann ich nur sagen,
dass dies nach § 1 Abs. 3 Satz 2 Kündigungsschutzgesetz
schon heute möglich ist. Wenn es zurzeit nicht praktikabel ist, muss man es im Gesetz klarstellen bzw . verbessern.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie wollen,
dass Arbeitnehmer mit Absc hluss des Arbeitsvertrages
zwischen der Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes und der Zahlung einer Abfindung durch den Arbeitgeber wählen können.
({9})
Glauben Sie allen Ernstes, dass ein Arbeit Suchender
sich für eine dieser Optionen wirklich frei entscheiden
könnte?
({10})
Ihr Vorschlag lässt dem Arbe itnehmer faktisch nur die
Wahl zwischen dem Verzicht auf den Kündigungsschutz
und dem Verzicht auf die Einstellung.
Wir halten es für sinnvoller , dass erst im Fall der betriebsbedingten Kündigung die Wahlmöglichkeit zwischen einem Abfindungsanspru ch in gesetzlich festgelegter Höhe und einer Klage auf Bestandsschutz zum
Tragen kommt. Zum einen gibt diese Regelung dem Arbeitnehmer die Möglichkeit, in Kenntnis der Umstände
und der Auswirkung der Kü ndigung gleichberechtigt,
sozusagen auf Augenhöhe, mit dem Arbeitgeber zwischen Abfindung und Klage zu wählen. Zum anderen
werden damit Kündigungen für den Arbeitgeber berechenbar und Prozesse vermieden,
({11})
wo es von vornherein nur um die Abfindung geht.
Im Zusammenhang mit der Einführung der Abfindungsoption müssen wir au ch über die notwendigen
Konsequenzen hinsichtlich des Anspruches auf Arbeitslosengeld entscheiden, wo wir wieder auf Sie zählen
dürfen. Aber die Umsetzung Ihrer Forderung, dass sich
Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei Vertragsabschluss auf
die Übernahme von Qualifizierungskosten durch den Arbeitgeber anstelle einer Abfindungszahlung einigen können sollen,
({12})
ist, mit Verlaub, nicht nur nicht praktikabel, sondern geht
auch völlig an der Realität vorbei. W eder der Arbeitgeber noch der Arbeitnehmer wissen bei Abschluss des Arbeitsvertrages, ob und welche Qualifizierungsmaßnahmen bei einem Ausscheiden des Arbeitnehmers notwendig und möglich sind und welche Kosten dann entstehen.
Ihre Forderung, die Frist in § 1 Abs. 1 des Kündigungsschutzgesetzes auf zwei Jahre anzuheben, um sie
mit den gesetzlichen Regelungen für befristete Arbeitsverträge zu harmonisieren, würde alle Arbeitnehmer bis
zum Ablauf der Zweijahresfrist vor noch größere Unsicherheiten stellen, als sie sich im heutigen Erwerbsleben
schon ergeben können. Wenn sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber darauf verständigt haben, dass das Arbeitsverhältnis auf zwei Jahre befristet ist, so ist beiden Beteiligten der rechtliche Status von vornherein klar.
Die Verlängerung der Probezeit auf zwei Jahre - das
beinhaltet Ihr Vorschlag doch ({13})
lässt Menschen zu lange im Ungewissen. Dies ist der Arbeitsmotivation auf Dauer wenig dienlich.
({14})
Die Unterscheidung zwischen befristeten und unbefristeten Arbeitsverträgen ist sachlich richtig. Wir planen aber,
Existenzgründern die Möglichkeit einzuräumen, die befristete Beschäftigung von Arbeitnehmern zu erweitern.
In den neu gegründeten Unternehmen können dann befristete Arbeitsverträge mit einer Dauer bis zu vier Jahren abgeschlossen werden. Das erleichtert Existenzgründern in der schwierigen Aufbauphase des Unternehmens
die Entscheidung für Einstellungen.
Die von Ihnen geforderte dreiwöchige Ausschlussfrist für alle arbeitsrechtlichen Ansprüche lehnen wir ab.
Einerseits müssen Arbeitnehm er nicht erfüllte Entgeltund andere Ansprüche im Rahmen der allgemeinen Verjährungsfristen geltend machen können; andererseits
wollen Arbeitgeber sicherlich nicht auf Lohnrückforderungs- und Schadensersatz ansprüche verzichten. Hier
obliegt es den Tarifparteien, Ausschlussfristen zu vereinbaren, die hinter den allgemeinen Verjährungsfristen zurückbleiben.
Unser Modell des Sozialstaates hat entscheidend zum
Erfolg der deutschen W irtschaft beigetragen und ist ein
Fundament unserer demokratischen Entwicklung. Der
Zusammenhalt einer Gesellschaft ist nicht das Er gebnis
ökonomischer Prozesse, sondern Ergebnis gemeinsamer
Wertvorstellungen.
Sichere Arbeitnehmerrechte wie die im Kündigungsschutzgesetz sind elementare Bestandteile unseres Sozialstaates und damit auch unserer W ettbewerbsfähigkeit.
Dies darf nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Ich
kann daher nur empfehlen, den Antrag der FDP abzulehnen.
({15})
Danke.
({16})
Herr Kollege Schreck, ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause und
wünsche Ihnen persönlich und politisch alles Gute.
({0})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Dr. Rolf Bietmann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Ruf nach einer Reform des Kündigungsschutzgesetzes wird immer lauter . Verbände von Industrie, Handel, Handwerk und freien Berufen beklagen die
mangelnde Flexibilität des Arbeitsrechts. Zwischenzeitlich sehen sich sogar einzelne Gewerkschafter ebenso
wie der von der rot-grünen Bundesregierung als Sachverständiger ausgewählte VW-Vorstand Hartz die unbestreitbare Notwendigkeit, das zum T eil weit verstreute
und komplizierte Recht des Kündigungsschutzes zu vereinfachen.
In den von der Regierun g immer wieder gelobten
Hartz-Vorschlägen wird richtig erkannt, dass der Kündigungsschutz in seiner jetzigen Form ein Einstellungshindernis ist.
({0})
Angesichts einer Massenarbe itslosigkeit von mehr als
4,7 Millionen Menschen können wir uns in Deutschland
Gesetze, die als Einstellungshindernis erkannt worden
sind, nicht länger erlauben.
({1})
Doch statt auf der Grundlage dieser allgemeinen Erkenntnis schnell zu handeln, verzögert die SPD-geführte
Bundesregierung die überfällige Diskussion um die Reform des Kündigungsschutzr echts und beschränkt sich
auf vage Ankündigungen möglicher Veränderungen.
({2})
Angesichts der in Deutschland herrschenden Massenarbeitslosigkeit wird die Wirkung des Gewerkschaftsrats
der SPD deutlich, der zwar , wie man liest, zunehmend
häufiger tagt, aber unfähig ist, notwendige Reformentscheidungen zu treffen, und der damit das Problem der
Massenarbeitslosigkeit in Deutschland verfestigt.
({3})
Es ist überfällig, die Diskussion um die Reform des
deutschen Arbeitsrechts au s den Hinterzimmern dieses
Gewerkschaftsrats herauszuholen und darüber endlich so
wie heute in öffentlicher Sitzung zu diskutieren.
({4})
Die gewerkschaftlich organisierte Hinhaltetaktik ist gerade bei der Reform des Kündigungsschutzes weder aus
Gründen des Sozialschutzes der Arbeitnehmer gerechtfertigt noch angesichts st eigender Massenarbeitslosigkeit politisch vertretbar. Es muss gehandelt werden, und
zwar jetzt.
({5})
Die Union ist sich ihrer besonderen V erantwortung
gegenüber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bewusst. Kündigungsrecht und Kündigungsschutzrecht betreffen schließlich verfassungsrechtlich geschützte Positionen beider Vertragspartner. Es entspricht dem Gebot
des sozialen Staates nach Art. 20 und Art. 28 des
Grundgesetzes, dass die Arbeitnehmer gegen grundlose
oder willkürliche Kündigungen des Arbeitgebers geschützt sind. Beliebige Kündigungen im Sinne einer unbegrenzten Kündigungsfreiheit der Arbeitgeberseite sind
verfassungsrechtlich nicht gedeckt und werden von der
Union nicht akzeptiert.
({6})
Andererseits ergibt sich aus der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit für die Arbeitgeberseite ein verfassungsrechtlich geschütztes Mindestmaß an Kündigungsfreiheit, wiederum gewährleistet durch Art. 2, Art. 12
und Art. 14 des Grundgesetzes.
Das Kündigungsschutzrecht hat daher immer die Aufgabe, einen verfassungsgemä ßen Interessenausgleich
zwischen der Arbeitgeberse ite und der Arbeitnehmerseite zu gewährleisten. Dieser verfassungsgemäße Interessenausgleich wird angesichts der weit gefassten
Generalklauseln des Kündi gungsschutzrechts heute
überwiegend zum Richterrecht, welches das Geschehen
auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland maßgeblich mitsteuert.
Dieses Richterrecht ist au ch für den interessierten
Laien kaum mehr zu überblicken und führt zur Undurchschaubarkeit bei einer Vielzahl formeller und materieller
Rechtsfragen. Die Rechtsunsicherheit gerade beim Kündigungsschutz ist kaum noch steigerungsfähig, zumal die
Rechtsprechung häufigen Schwankungen unterliegt. Das
Ergebnis sind beispielswei se zwei vorhandene Großkommentare zum deutschen Kündigungsschutzrecht mit
bis zu 34 verschiedenen Gese tzesmaterien auf mehr als
3 300 Seiten kommentiert.
({7})
In diesem Dickicht von ju ristischen und richterrechtlichen Regelungen finden sich Unternehmer - Kleinunternehmer schon gar nicht - nicht mehr zurecht.
({8})
Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass es
durch die richterrechtliche Ausprägung des Kündigungsschutzes in Deutschland zeitraubender und schwieriger
ist, einen Arbeitsvertrag aufz ulösen als eine Ehe. Dies
gilt besonders für personen- und verhaltensbedingte
Kündigungen. Das gegenwärtige System des gerichtlichen Kündigungsschutzes ist zeitraubend, kostenträchtig
und ineffizient.
Der Deutsche Arbeitsgerichtstag hat vor einiger Zeit
Aufwand und Praxis der arbeitsgerichtlichen Überprüfbarkeit von Kündigungen gegenübergestellt. In Deutschland werden pro Jahr rund 350 000 Kündigungsschutzprozesse geführt. Zwischen 80 und 90 Prozent dieser
Kündigungsschutzprozesse enden im Er gebnis ohne
streitiges Urteil mit eine r Abfindungszahlung für den
Arbeitnehmer. Daraus folgt, dass der Kündigungsschutz
heute in ein Abfindungsverfahren verwandelt worden
ist.
({9})
Kritiker sprechen nicht ganz ohne Zynismus vom Abfindungshandel.
Die Ineffizienz dieses Sy stems hat verhängnisvolle
Wirkungen auf den Arbeitsmarkt, weil es im derzeitigen
Zustand die Einstellung von Arbeitslosen massiv behindert. Ich sage es noch mal: Auch der von Ihnen immer
wieder zitierte Herr Hartz kommt genau zu dieser Erkenntnis und fordert von den politisch V erantwortlichen
eine Reform, die zu mehr Rechtsklarheit und mehr Flexibilität im Kündigungsschutzrecht führt.
({10})
Die CDU/CSU-Fraktion hat zur Reform des Kündigungsschutzes und wichtiger arbeitsrechtlicher Regelungen ein eigenes Reformwerk entwickelt, welches mit den
Vorstellungen der FDP teilwe ise übereinstimmt, in einzelnen Teilen aber auch abwe icht. Im Kern geht es darum, den Sozialschutz des Arbeitnehmers zu sichern und
gleichzeitig die unternehmerische Entscheidungskompetenz zu konkretisieren.
Vor diesem Hintergrund erscheint der Vorschlag, den
Kündigungsschutz erst ab einer Betriebszugehörigkeit
von mehr als zwei Jahren greifen zu lassen, als nicht unproblematisch. Die hier von vielen vertretene Auf fassung, es könne ohnehin über einen Zweijahreszeitraum
befristet werden, geht nach meiner Ansicht in die falsche
Richtung. Zum einen wäre ei n Arbeitnehmer mit einem
unbefristeten Arbeitsvertrag in den ersten zwei Jahren
seiner Tätigkeit schlechter ge stellt als mit einem befristeten Arbeitsvertrag - im Rahmen der Befristung ist im
Regelfall keine ordentliche Kündigung möglich -, zum
anderen, dies ist der maßge bliche Arbeitsmarktaspekt,
erschwert der Ausschluss des Sozialschutzes von zwei
Jahren die Bereitschaft zum Wechsel von Arbeitsplätzen.
Arbeitnehmer, die einmal dem Kündigungsschutzgesetz
unterfallen, dürften kaum noch bereit sein, dieses Privileg zugunsten einer neuen An stellung aufzugeben. Das
schadet der Fluktuation im Arbeitsmarkt.
Dagegen ist die von der FDP und auch von der CSU
angestoßene Schwellenwertdiskussion zu begrüßen. Gerade Kleinbetriebe mit wenigen Mitarbeitern und regelmäßig ohne größere Kapitala usstattung sind durch das
Kündigungsschutzgesetz erheblichen finanziellen Risiken ausgesetzt. Die jetzige Regelung verhindert vielfach
Neueinstellungen in den innovativen kleinen und mittleren Unternehmen.
Die von der FDP geforderte Einführung enumerativer
Kriterien in der Sozialauswahl bei betriebsbedingten
Kündigungen ist richtig. Hierdurch werden klare Regelungen geschaffen, die die Akzeptanz des Rechts erhöhen. Problematisch ist allerd ings die im Antrag enthaltene Einschränkung der Sozialauswahl, die wiederum zu
rechtlicher Unklarheit bei der Auswahl führt und deswegen - jedenfalls in dieser Form - besser weggelassen
werden sollte; diese Einschränkung der Sozialauswahl
öffnet nämlich Willkür Tür und Tor.
({11})
Wir begrüßen die von Ihnen und von uns ebenfalls geforderte Einführung des Optionsmodells. Hierdurch
wird das Arbeitsrecht um ei n flexibel anwendbares Instrument erweitert, was der Kalkulierbarkeit der Arbeitskosten und vor allem der zügigeren Rechtssicherheit
dient.
({12})
Dieses Modell kann greife n, wenn Arbeitnehmer und
Arbeitgeber es vertraglich vereinbaren. Ich will nicht
verschweigen, dass man dabei noch einmal gesondert
prüfen sollte, ob es richtig ist, dieses Modell auch in den
Fällen der verhaltensbedi ngten Kündigungen anzuwenden; denn bei schuldhaften Arbeitsvertragsverstößen des
Arbeitnehmers kann die Of ferierung von Abfindungsleistungen natürlich geradezu die Provokation des vertragswidrigen Verhaltens beinhalten.
({13})
Deswegen sollte man dies, meine ich, noch einmal prüfen und das Modell bei verh altensbedingten Kündigungen nicht anwenden, wohl aber bei betriebsbedingten
Kündigungen und natürlich auch bei personenbedingten
Kündigungen.
({14})
Im Ergebnis kann ich feststellen, dass mit dem Antrag
der FDP die dringend notwendige Debatte um die Reform des Kündigungsschutzes im Parlament eröf fnet
worden ist. CDU und CSU werden insoweit mit eigenen
Vorschlägen zur Flexibilisierung des deutschen Arbeitsrechts über das Kündigungsschutzrecht hinaus vorstellig
werden;
({15})
denn Veränderungen am Arbeitsmarkt werden wir nur
durch mutige Reformen erzielen. W er heute glaubt, er
könne alles belassen, wie es ist, versündigt sich an den
Millionen Menschen, die in unserem Land auch bei guter Ausbildung nach Arbeit suchen und sie einfach nicht
finden. Wer wie der SPD-Gewerkschaftsrat Neuregelungen blockiert, handelt nicht sozial; er schadet vielmehr
den Massen von Menschen, di e in dieser Republik mit
Recht den Anspruch auf Arbeit erheben.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Hier haben Rot-Grün und die Bundesregierung kläglich versagt. CDU und CSU we rden nicht ruhen, diesen
Missstand aufzuzeigen und die Regierung zum Handeln
im Interesse der Menschen dieses Landes zu zwingen.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will zunächst einmal für meine Fraktion klar zum
Ausdruck bringen: W ir sehen einen Unterschied zwischen einem Marktfundamentalismus ohne soziale Rahmenbedingungen und der sozialen Marktwirtschaft.
Marktfundamentalismus, wie Sie von der FDP ihn oft
predigen, ist nicht unser Ding. W ir haben eine soziale
Marktwirtschaft und der Kündigungsschutz - der Kollege von der Union hat es schon angeführt - ist elementarer Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft.
({0})
Wir streiten also nicht darüber, ob wir Kündigungsschutz
wollen, sondern darüber, wie er richtig gefasst ist, damit
auf der einen Seite die Mens chen geschützt werden und
auf der anderen Seite das nötig e Maß an Flexibilität gewährt wird. Das ist die Basis, von der wir ausgehen müssen.
({1})
- Sie müssen mir nicht mit solchen Zwischenrufen kommen, Herr Kollege. Gegen Ihr Problem hilft im Übrigen
Baldrian. Den gibt es in jeder Apotheke.
Ich will nun etwas dazu sa gen, wie die Flexibilisierung ausgestaltet sein muss. Das richte ich vor allem an
diejenigen, die Skepsis gegenüber den V orschlägen der
Agenda 2010 zum Kündigungsschutz haben. Mir
scheint der Hauptpunkt zu sein, dass die Betriebe, die
sich im Aufbau befinden - dazu zählen vor allem innovative Betriebe, bei denen ma n noch nicht weiß, ob die
innovative Idee des Betriebes in einigen Jahren trägt -,
zögern, ob sie über die Gren ze von fünf Beschäftigten
gehen können und sollen. Ich glaube, dass es aus diesem
Grund richtig ist, einen be stimmten Maßnahmenkatalog
von Flexibilisierungsmöglichkeiten aufzubauen, wie es
der Kanzler in seiner Regi erungserklärung vorgeschlagen hat. Ob man eine Gleitz one einrichtet, wie wir vorgeschlagen haben, oder be fristete Beschäftigungsverhältnisse nicht dazu rechnet, wird man im Einzelnen zu
prüfen haben. Ich glaube, dass beide Möglichkeiten
funktionieren würden und so die starre Grenze, die wir
heute haben, im richtigen Umfang flexibilisiert würde.
Herr Kollege Kuhn, darf Kollege Kolb eine Zwischenfrage stellen?
Nein, das möchte ich nicht.
({0})
- Das macht nichts.
Ich finde es aber sehr wichtig, überhaupt etwas zu
tun, weil es Betriebe gibt , die wegen des Kündigungsschutzes Probleme haben, über die Anzahl von fünf Beschäftigten hinauszugehen. In diesem Zusammenhang ist
anzumerken, dass wir mit der Verbesserung und der Verstärkung der Leiharbeit durch Hartz ein wichtiges Instrument geschaffen haben, das es dem zögernden Firmeninhaber ermöglicht, intelligente Lösungen zu finden,
wenn er nicht weiß, wie sich das Geschäft entwickeln
wird. Er lernt so die Mitarb eiterinnen und Mitarbeiter
kennen und kann, besser als aus jeder Bewerbung, einschätzen, was sie im Betrieb können. W enn sich zeigt,
dass das Geschäft läuft und das Unternehmen wächst,
sind die Mitarbeiter schon vo rhanden, die dann fest in
dem Betrieb eingestellt werden können. Dann wagt man
es auch leichter, die Grenze von fünf Beschäftigten zu
überschreiten. Man muss also den Gesamtkontext sehen.
Hier hat Hartz sicherlich vi el geholfen. Das haben wir
mit Hilfe der Union schon beschlossen.
({1})
Wenn ich mit Unternehmern vor allem kleinerer Betriebe spreche und sie frage, welche Probleme sie mit
dem Kündigungsschutz haben, dann nennen sie oft - das
sind die Kernargumente -, dass es im Streitfall zu einem
Prozess vor dem Arbeitsgericht kommt und es ein langes
Verfahren mit einem erheblic hen Prozessrisiko für die
Betriebsinhaber gibt. In der Regel kommt es aus diesem
Grund am Schluss zu einem V ergleich mit einer Abfindung.
Wir haben vorgeschlagen, das vorher durch eine Vereinbarung über die Höhe de r Abfindung zu regeln. Das
ist eine kluge Lösung; denn dadurch wird das Prozessrisiko gemindert. Außerdem wird verhindert, dass die Arbeitnehmer weiterhin so tun, als würden sie auf V erlängerung des Arbeitsverhältnisses klagen, in W irklichkeit
aber eine Abfindung bekommen wollen. Das ist Unsinn,
das unterbinden wir. Es wird manchen Ärger, den es bei
den Unternehmern wegen des Kündigungsschutzes gibt,
reduzieren.
Herr Niebel, ich glaube aber, dass man eine solche Vereinbarung nicht beim Einstieg in eine Firma treffen kann,
da keine Waffengleichheit herrscht. Die Position desjenigen, der einsteigt, ist sehr schwach. Deswegen muss man
eine solche Vereinbarung tatsächlich nach der Kündigung
treffen. Der Gesetzgeber hat nur die Aufgabe, den Rahmen zu definieren, in dem das Ganze ablaufen soll.
({2})
Wir halten Ihren V orschlag, die Grenze auf 20 Beschäftigte zu erhöhen, für ni cht richtig, weil wir bei der
bestehenden Regelung mit fünf Beschäftigten die Flexibilität, die wir brauchen, bekommen können. Deswegen
werden wir Ihrem Vorschlag nicht zustimmen.
({3})
Ich will zum Abschluss ei nen Punkt ansprechen, der
mir wichtig erscheint. Es gibt manchmal eine Diskussion, ob die Vorbehalte bei den Unternehmern gegen die
Kündigungsschutzregelung symbolisch sind oder tatsächlich bestehen. Gibt es also nur einen gefühlten V orbehalt oder einen tatsächlichen? Dazu habe ich eine ganz
klare Meinung: Die Frage ist völlig irrelevant, weil gefühlte Vorbehalte tatsächliche empirische Wirkungen haben können.
Wer glaubt, der Kündigungsschutz behindere ihn, wird
tatsächlich so handeln, als würde er durch ihn behindert.
Der richtige Weg ist deshalb ein klares Bekenntnis zum
Kündigungsschutz als zentralem Element der sozialen
Marktwirtschaft. Man muss pragmatisch an die Flexibilisierung herangehen. Das tut die Bundesregierung. Deswegen sind wir auf dem richtigen Weg.
Wenn Sie noch die eine oder andere gute Idee haben,
dann bringen Sie sie ein; das wäre natürlich willkommen. Ich glaube aber, dass der Laden auch so läuft. W ir
werden den Kündigungsschutz in Deutschland verbessern.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Kolb.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Kuhn, ich hätte mir natürlich gewünscht, dass Sie eine
Zwischenfrage zulassen. So sehe ich mich veranlasst,
das als Kurzintervention hier anzubringen.
({0})
Sie sagen, dass man irgendetwas tun muss, und stellen
es so dar, als sei es kein richtiges Problem, sondern nur
gefühlt. Außerdem sagen Si e, Sie wissen noch nicht so
recht, was Sie tun wollen. Stimmen Sie mir denn zu,
dass es letztlich entscheide nd darauf ankommt, wie die
Sicht desjenigen ist, der ein neues Arbeitsverhältnis begründen soll? Dabei geht es in entscheidender Weise um
den Arbeitgeber, der Ja oder Nein sagt.
Stimmen Sie mir außerdem zu, dass wir bei der Lösung, die wir anstreben, i mmer im Auge behalten müssen, wie wir in einer möglichst großen Zahl von Fällen
die Dinge so gestalten könn en, dass der Arbeitgeber Ja
sagt?
Herr Kuhn, der Kollege Schr eck hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass zwei Drittel aller Betriebe in Deutschland fünf oder weniger als fü nf Beschäftigte haben. Ich
sage Ihnen: Es ist kein Zufa ll. Es ist eben nicht nur das
Gefühl, sondern es ist tatsächlich eine sehr rigide
Schwelle, die im deutschen Arbeitsrecht eingezogen
wurde. Es gibt Untersuchu ngen bezüglich der W irkungen der Änderung des Kündigungsschutzes im Jahr
1997. Die Handwerkskammer Oberbayern sagt zum Beispiel, dass es deutliche Beschäftigungsef fekte gegeben
hat. Diese wären natürlich um so stärker gewesen, wenn
diese Änderung bestehen geblieben wäre. Leider waren
Sie hier beratungsresistent und haben die Änderung des
Kündigungsschutzes aus dem Jahre 1997 entgegen allen
Warnungen wieder zurückgenommen.
Ich möchte Sie noch auf einen Punkt hinweisen: Es
wäre auf jeden Fall falsch, mit dieser befristeten Lösung
zu arbeiten. Als kleines Unternehmen bekommen Sie
keinen qualifizierten Mitarb eiter, wenn Sie ihm sagen
müssen, dass sie ihn zwar befristet einstellen - gegebenenfalls für die Höchstdauer der Befristung, die jetzt gesetzlich möglich ist -, ihn danach aber nicht übernehmen
können, weil dann der Kündigungsschutz greifen würde.
Mit dieser Perspektive können Sie keinen qualifizierten
Mitarbeiter für Ihr Unternehmen gewinnen. Darauf
kommt es letztlich an.
Letzter Punkt: Wir müssen immer auch die Sicherheit
der verbleibenden Arbeitsplätze in einem Unternehmen
sehen. Gerade wenn es um betriebsbedingte Kündigungen geht, ist es sehr wichtig, dass die Kostenentwicklung, die sich aus der unvermeidlichen Auflösung
von Arbeitsplätzen ergibt, so verläuft, dass der Bestand
der verbleibenden Arbeitsver hältnisse auf Dauer gesichert werden kann. Der Kollege Schreck hat ja gesagt, in
welchem Umfang Anpassungsmaßnahmen teilweise erforderlich sind. Auch von daher ist aus meiner Sicht vom
Beginn des Arbeitsverhältnisses an eine Kalkulierbarkeit
unabdingbar, wenn man zu einer modernen und zukunftsgerichteten Lösung des Kündigungsschutzes kommen will.
Eiern Sie also nicht herum, sondern sagen Sie klar ,
was Sie wollen. Halten Sie bi tte auch im Auge, was für
die Arbeitnehmer letztendlich am besten ist, nämlich
klare und berechenbare Verhältnisse bei der Begründung
des Arbeitsverhältnisses.
({1})
Herr Kollege Kuhn, Sie haben das Recht, zu antworten.
({0})
Machen Sie mal halblang! - Bei dem ersten Punkt,
den Sie angesprochen haben, haben Sie wirklich nicht
zugehört. Ich habe argumentiert, dass aus dem Gefühlten
das Tatsächliche resultiert. In Richtung derjenigen, die
sagen, dass es nur eine symbolische Diskussion ist, sage
ich: Es reicht aus, dass ein Unternehmer einen Hinderungsgrund für eine Einstellung fühlt, um nicht einzustellen.
({0})
- Ich glaube, Sie haben jetzt verstanden, was ich sagen
will.
({1})
- Dann kann ich Ihnen nicht mehr helfen. Es ist doch logisch, oder?
({2})
- Also, ich habe es jetzt zweimal gesagt.
Zweiter Punkt. Sie sagen, man würde für befristete
Stellen keine qualifizierten Mitarbeiter finden.
({3})
Ich glaube, dass Sie in vielen Bereichen unserer W irtschaft die tatsächliche - ({4})
- Interessiert Sie die Antwort eigentlich?
({5})
- Ah ja, wir müssten dann nach draußen gehen und Sie
könnten mir einen Kaffee zahlen. So wäre es möglich.
({6})
- Jetzt hören Sie mal zu, dam it wir vernünftig miteinander reden können.
Zu Ihrer These sage ich Ihnen: In ungeheuer vielen
Bereichen unserer W irtschaft ist die Arbeitsmarktlage
so, dass sich auch für befristete Stellen qualifizierte Mitarbeiter finden lassen - das ist doch logisch -, weil die
Arbeitnehmer wissen, dass ein befristetes Arbeitsverhältnis die Chance bietet, dauerhaft in einem Betrieb zu
arbeiten.
({7})
Die Realität in den Betriebe n ist so, dass die Unternehmer aufgrund der wirtsc haftlichen Situation nicht
wissen, ob sie ein kurzfrist iges Wachstum mit der Einstellung neuer Mitarbeiter auf fangen sollen oder nicht.
Sowohl die Leiharbeit als auch die befristeten Arbeitsverhältnisse bieten hier gute Chancen. Schauen Sie sich
doch einmal die Zahlen zur Leiharbeit an. In Deutschland liegt die Quote bei Leiharbeit bei 1 Prozent, in vergleichbaren Volkswirtschaften sind es 5 Prozent.
({8})
Das müssen wir ändern, damit mehr Leute in Arbeit
kommen. Dadurch gewinnt der Unternehmer Sicherheit;
denn er kann bei einem größeren Auftragsvolumen
Leute einstellen, die nach unserem Modell bereits zwei
Jahre im Betrieb gearbeitet haben, die er kennt und die
hoch qualifiziert sind.
Wenn man sich bemüht, die Grundsätze der sozialen
Marktwirtschaft zu wahren, dann werden wir eine pragmatische Lösung finden. Üb er die Details können wir
uns noch unterhalten. Dabei können Sie sich einbringen.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Dr . Göhner, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Bei allem Streit
über Ideen zur V eränderung des Arbeitsrechtes gibt es
seit wenigen W ochen erstmals einen Konsens: Of fensichtlich ist die Erkenntnis, dass das geltende Arbeitsrecht, insbesondere das Kündigungsschutzrecht, in
Deutschland ein zunehmendes Beschäftigungshemmnis
ist, Grundlage dieses neue n Wettbewerbs auf allen Seiten, Vorschläge zur Veränderung des Arbeitsrechtes zu
machen.
Dieses Beschäftigungshemmnis hat sich durch eine
ausufernde, rechtschöpfende, zum Teil geradezu rechtgestaltende Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, die der
Gesetzgeber durch seinen Gestaltungsraum ermöglicht
hat, und durch zahlreiche Ne uregelungen in den letzten
vier Jahren entwickelt.
({0})
Es ist natürlich zu begrüßen, wenn jetzt zum Teil eine
Umkehr dieses Prozesses stat tfindet. Erster Schritt ist
übrigens die am 1. April dieses Jahres in Kraft getretene
gesetzliche Neuregelung zu Minijobs.
({1})
Das war ein Schritt, um die Verriesterung des Arbeitsrechtes wieder zurückzuführen. Die Vorschläge, die der
Bundeskanzler zur Veränderung beim Thema Sozialauswahl gemacht hat, entsprechen übrigens weit gehend
dem Programm der CDU/CSU und auch dem vor gelegten Antrag der FDP. Er läuft auf den Rechtszustand von
vor 1998 hinaus.
({2})
Ich halte es für richtig, auch in diesem Punkt die Verriesterung des Arbeitsrechtes zurückzunehmen. Übrigens
wäre es für die Bundesregi erung einfach, ein schnelles
Ergebnis zu liefern: Sie braucht wirklich nur den Rechtszustand von vor 1998 herzustellen.
Ich finde es sehr bemerkenswert, was schon an weiteren Änderungen im Arbeitsre cht beschlossen ist und im
Bundesgesetzblatt steht. Das erwähne ich deshalb, Herr
Kuhn, weil man jetzt keinen Popanz aufbauen und sich
als Hüter der sozialen Marktwirtschaft und der Rechte
der Arbeitnehmer darstellen sollte. Es ist nicht so, als ob
wir diejenigen seien, die all das aufgeben wollten.
({3})
Die Tatsache, dass seit Anfang dieses Jahres Arbeitsverhältnisse für Arbeitnehmer ab 52 Jahren ohne Begrenzung sachgrundlos zumindest bis 2006 befristet werden
können, halte ich für richtig. Dies war T eil des Programms der CDU/CSU, dem die SPD im W ahlkampf
heftig widersprochen hat. Die FDP war immer dieser
Meinung; das weiß ich. Imme rhin ist auch dies ein
Schritt, um die Verriesterung des Arbeitsrechtes zurückzunehmen.
Ich muss allerdings sagen, dass Sie mit einem Ihrer
Vorschläge all das wieder konterkarieren könnten, nämlich dem vom Bundeskanzler eingebrachten V orschlag
eines Wahlrechtes für die Arbeitnehmer , bei betriebsbedingten Kündigungen künftig zwischen Abfindung oder
Kündigungsschutzprozess wählen zu können.
Herr Kollege Göhner , gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?
Nein. - Das würde zu einer nachhaltigen Verteuerung des Kündigungsschutzes in Deutschland und zu
noch mehr Rechtsunsicherheit führen.
Nach geltendem Recht erfo lgen etwa 60 Prozent der
betriebsbedingten Kündigungen in Deutschland ohne
Abfindung. Es gibt übrigens Untersuchungen, zum Beispiel von der Hans-Böckler -Stiftung, die besagen, dass
diese Zahl noch höher sei. 75 Prozent der Kündigungen
werden ohne Kündigungsschutzprozess abgewickelt.
Nach dem Vorschlag des Bundeskanzlers gäbe es demgegenüber immer entweder eine gesetzlich geregelte Abfindung für den Arbeitnehmer oder einen Kündigungsschutzprozess, der im Übrigen, wie Herr Kuhn richtig
sagt, in aller Regel auch eine Abfindung regeln würde.
Denken Sie beispielsweise einmal an einen Handwerksbetrieb mit zehn Arbe itnehmern. Wenn der plötzlich keinen Auftrag mehr hat oder nur noch Aufträge, die
nur für die Beschäftigung von zwei oder drei Arbeitnehmern reichen - leider ist das keine theoretische Konstellation, sondern etwas, was wir in der Praxis massenhaft
bei der katastrophalen wirtschaftlichen Lage feststellen -,
dann würde der Betrieb nach diesem V orschlag Abfindungen zu zahlen haben. Da s würde die Existenz dieses
Betriebes massiv gefährden und zusätzlich zu den unstreitig fortgeltenden Kündigungsschutzfristen bis zu sieben Monaten - zum Teil sind sie sogar noch länger - und
zusätzlich zu der von den Arbeitgebern zur Hälfte mitgetragenen Arbeitslosenversicherung eine weitere Verteuerung von Arbeit bedeuten. Sie sollten sich überlegen, ob
Sie tatsächlich an dieser Stelle ein solches Wahlrecht vorlegen können.
Der Vorschlag der FDP und der CDU/CSU zu einer
Optionslösung ist demgegenüber ein vollständig anderer. Er bedeutet durchaus mehr Flexibilität, mehr Rechtssicherheit und vor allem eine Verbesserung von Einstellungschancen. Wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei
Abschluss eines Arbeitsvertr ages künftig vereinbaren
können, anstelle des Kündigungsschutzes bei betriebsbedingten Kündigungen eine gesetzlich geregelte Mindestabfindung vorzusehen, da nn beseitigt das eben die
heute bestehende Unkalkul ierbarkeit des Kündigungsschutzes, die S ie beim Vorschlag der Bundesregierung
behalten.
({0})
Der Vorteil ist: In diesen Fällen weiß der Arbeitnehmer, welche Abfindung er bekommt, und der Arbeitgeber weiß, dass er sich nicht auf einen unkalkulierbaren
langen Rechtsstreit einlassen muss, falls er keine Arbeit
mehr hat, und er kennt die Kosten dieser Lösung.
({1})
Diese Optionslösung hat den Vorteil, dass in allen
Fällen, in denen sich der Kündigungsschutz als Beschäftigungshemmnis auswirkt, Arbeitnehmer und Arbeitgeber eine arbeitsvertragliche Vereinbarung treffen können, die dieses Beschäftigungshindernis beseitigt. Das
nutzt also denjenigen, die keine Arbeit haben, und bedeutet für alle, die heute Arbeit mit Bestandsschutz und
Kündigungsschutz haben, kein e Beeinträchtigung ihrer
Rechte.
Zum hier vorliegenden Antrag der FDP für eine solche Optionsregelung habe ich allerdings einen zentralen
Einwand. Herr Bietmann hat es eben angedeutet. Nach
dem eindeutigen Wortlaut Ihres Antrags würde Ihre Optionsregelung auch bei einer verhaltens- oder personenbedingten Kündigung, die eindeutig der Arbeitnehmer
zu vertreten hätte, von ihm verschuldet, sogar provoziert
wäre, greifen. Das können Sie nicht ernsthaft meinen.
({2})
Deshalb rege ich an, dass Si e Ihren Antrag in diesem
Punkt korrigieren.
Ich glaube, dass wir vor dem Hintergrund des Konsenses, dass das Arbeitsrecht heute ein weitgehendes
Beschäftigungshemmnis darstellt, wirklich überlegen
müssen, wie wir eine Forten twicklung des Kündigungsschutzes und des Arbeitsrechts - übrigens auf mehr Feldern als nur dem Kündigungsschutz - hinbekommen, bei
der nicht die V erteuerung von Arbeit die Folge ist und
bei der Sicherheit und Flexib ilität für Arbeitnehmer und
Betriebe miteinander verb unden werden können. Ich
sehe bei den Vorschlägen der Bundesregierung kein hinreichendes Konzept, mit de m diese Ziele verwirklicht
würden, weil sie gerade das Gegenteil, nämlich eine VerDr. Reinhard Göhner
teuerung des Kündigungsschu tzes bewirken. Das kann
eigentlich nicht Ihre Absicht sein. Deshalb appelliere ich
an Sie, Ihre Vorstellungen in diesem Punkt zu überdenken.
({3})
Ich glaube, dass die Optionslösung im Sinne einer arbeitsvertraglichen Vereinbarung für den Fall einer nur betriebsbedingten Kündigung der richtige Weg wäre. Um es
noch einmal den Kollegen der FDP zu sagen: Das geht
nicht bei allen Kündigungen von Arbeitgeberseite. Aber
für betriebsbedingte Kündigungen sollte es einen solchen
Weg geben. Wir brauchen be i der Fortentwicklung des
Arbeitsrechts die Mischung von mehr Flexibilität und
Sicherheit. Die ist möglich, deshalb verabschieden Sie
sich von Ihrem Vorschlag des Kündigungsschutzrechts.
({4})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Doris Barnett, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es geht doch nichts über gepflegte V orurteile, Herr
Niebel und meine Damen und Herren von der CDU/
CSU. Eines der zumindest v on Ihnen gepflegten Vorurteile scheint zu sein, dass das Kündigungsschutzrecht
unbedingt abzuschaffen sei.
Sie beschweren sich auch ständig, dass es in unserem
Land an Investitionen, Aufträgen, Fachkräften und Betriebsmitteln fehle.
({0})
Arbeit sei zwar vorhanden, aber nicht für den erwarteten
Lohn. Die Arbeitskosten seien zu hoch, die Lohnnebenkosten müssten gesenkt werden und die Arbeitnehmer
sollten viel mehr selbst in ihre soziale Sicherheit investieren.
Gleichzeitig soll die Inlandsnachfrage kräftig steigen.
Der Arbeitnehmer von heute soll flexibel, hoch motiviert, bestens ausgebildet - die Ausbildungskosten sollen
am besten von Dritten getragen werden -, höchst verantwortungsbewusst, spendabel für Sicherungssysteme und
höchst spendabel für eine florierende Inlandsnachfrage,
({1})
aber recht bescheiden sein, wenn es um Lohnforderungen und Schutzrechte geht.
Deswegen greift die FDP wieder einmal den Kündigungsschutz auf: Wenn der abgeräumt ist, dann gibt es
auch mehr Arbeitsplätze. Die FDP beruft sich dabei auf
den Sachverständigenrat.
({2})
- Was heißt „Ihren“? Er berät uns alle.
({3})
Sie berufen sich, wie gesagt, auf die Er gebnisse des
Sachverständigenrats und picken sich Ihre Ar gumente
heraus. Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine Frage: Sind
Sachverständige und Weise nicht in Wirklichkeit - wir
haben selbst auch leidige Erfahrungen damit gemacht wie Wegweiser? Sie weisen den W eg, sind ihn aber nie
selbst gegangen und merken deswegen vielleicht nicht,
dass in der Zwischenzeit Um leitungen oder auch andere
Hindernisse aufgetreten sind.
({4})
Ist das Kündigungsschutzgesetz abgesehen von aller
Psychologie und Symb olik wirklich ein Beschäftigungshemmnis? Schrecken kleine Betriebe in Wirklichkeit vor möglichen Einstellungen zurück?
({5})
- Hören Sie doch auf! - Sie können das nicht mit seriösen Zahlen belegen. Das zeigt doch Ihr Feldversuch. Der
Kollege Schreck hat vorhin sogar den ehemaligen Arbeitsminister Blüm zitiert. Welchen besseren Zeugen dafür könnte man denn sonst noch bringen?
({6})
Es gibt 3,5 Millionen Beendigungen von Arbeitsverträgen pro Jahr. Ungefähr die Hälfte davon wird in Form
von Kündigungen von den Arbeitnehmern selbst veranlasst. Das zeigt doch, dass der Arbeitsmarkt in stetiger
Bewegung ist. Es herrscht eine erhebliche Fluktuation.
Entlassungen und Einstellunge n finden täglich in Größenordnungen von Zigtausende n statt. Dabei stellt der
Kündigungsschutz offenbar doch kein so großes Hemmnis dar. Dass die Zahl der Einstellungen bei Betrieben
mit sechs bis neun Beschäftig ten, die Sie derzeit besonders im Blick haben, höher ist als in Kleinstbetrieben
oder in Großbetrieben, ist sicherlich auch bekannt.
({7})
Viele Tarifverträge sorgen für passgenaue Arbeitsverhältnisse. Diese Tarifverträge wurden auch von den Arbeitgebern unterschrieben, Herr Niebel und Herr
Göhner. Oder wollen Sie vielleicht behaupten, die Arbeitgeber seien dazu von de n Gewerkschaften, von denen Sie behaupten, dass niemand mehr hinter ihnen
steht, erpresst worden? Sie sollten einmal Ihre Argumentation auf ihre Stichhaltigkeit überprüfen.
({8})
Nur gegen 11 Prozent der Kündigungen durch die Arbeitgeber wurde mit Klagen vor gegangen. In der Hälfte
dieser Fälle wurde geklagt, weil bereits vorher der Betriebsrat der Kündigung widersprochen hat. Insofern war
das doch für den Arbeitgeber ein deutliches Zeichen dafür, dass die betriebsbedingte Kündigung vielleicht doch
nicht gerechtfertigt war. Dieses Risiko war dem Arbeitgeber bekannt, als er trotzdem auf der Kündigung bestanden hat. So viel zur Rechtssicherheit.
({9})
Lassen Sie uns trotzdem die Ziffern II.3 und II.4 Ihres
Antrags näher betrachten, Herr Niebel. W er das Recht
der Überprüfung der ordnungsgemäßen oder rechtmäßigen Auswahl zur Disposition st ellt - das tun Sie -, weil
der Arbeitnehmer beim Unterschreiben des Arbeitsvertrags auf sein Klagerecht verz ichten und stattdessen Ersatz erhalten soll - entweder in Form einer Abfindung
oder einer Weiterbildung, wobei gegenwärtig niemand
absehen kann, wie sich die Situation nach 15 Jahren darstellt und ob der Arbeitgeber dann noch solvent ist -,
({10})
schafft die Sozialauswahl letztendlich ab. Da können
Sie sagen, was Sie wollen.
({11})
Bisher gilt: Klagen gegen betriebsbedingte Kündigungen sind nur erfolgreich - ich hoffe, Sie geben mir darin
Recht -, wenn die Sozialauswahl nicht stimmt. In dem
Fall entsteht auch ein Abfindungsanspruch. Solche Klagen - das ist richtig - kosten Zeit und Geld und beinhalten ein gewisses Risiko.
({12})
Klagen gegen sozial gerechtfertigte betriebsbedingte
Kündigungen - wenn die Sozi alauswahl stimmt - lösen
keinen Kündigungsschutz un d auch keinen möglichen
Anspruch auf Abfindung aus.
Das FDP-Modell sieht dagegen Abfindungen bzw. einen Weiterbildungsanspruch bei jeder - wahrscheinlich
meinen Sie: betriebsbedingten - Kündigung vor . Haben
Sie sich jemals wirklich ernsthaft mit Arbeitgebern darüber auseinander gesetzt, wie hoch dann das Kostenrisiko
für sie wird? Hier wird - man stelle sich das vor - die
FDP plötzlich zu einem unkalk ulierbaren Risiko für die
deutsche Wirtschaft.
({13})
Oder sollen Abfindungsansprüche doch wieder gerichtlich überprüft werden?
({14})
Den Salto mortale, den Sie, Herr Göhner , eben vollführt
haben, kann ich, ehrlich ge sagt, nicht nachvollziehen.
Sie haben nämlich behauptet, das FDP-Modell sei so
viel besser als unser Vorschlag bzw. als der des Bundeskanzlers.
({15})
Mir ist klar: Die FDP will die Sozialauswahl durch
ein Abfindungsrecht ersetzen.
({16})
- Das ist so, ganz egal, was Sie, Herr Niebel, auch behaupten.
({17})
- Da haben Sie aber die Re chnung ohne den W irt gemacht. Beim Lesen Ihres An trags ist mir ein weiterer
Punkt aufgefallen. Dort heißt unter Ziffer II.3:
Die Arbeitnehmer, deren W eiterbeschäftigung im
berechtigten betrieblichen Interesse liegt, werden
aus der Sozialwahl ausgenommen werden. Wer das
ist, entscheidet die Betriebsleistung.
Ist „Betriebsleistung“ richtig?
({18})
Der vom Bundeskanzler unterbreitete V orschlag
schafft die Sozialauswahl dagegen nicht ab, sondern
macht sie rechtssicher. Es gibt drei leicht nachprüfbare
Kriterien - Sie haben schon darauf hingewiesen -: Alter,
Dauer der Betriebszugehörigkeit und Unterhaltsverpflichtungen.
({19})
Der Bundeskanzler hat außerdem vor geschlagen, dass
sich die Arbeitnehmervertreter mit dem Arbeitgeber einigen, was - daran hat er wohl gedacht - dem Gedanken
des § 125 der Insolvenzordnung entspricht. Das ist,
denke ich, ein gangbarer Weg. Das schafft auf jeden Fall
Rechtssicherheit für alle Beteiligten.
({20})
Die Arbeitnehmer sollen nach unseren V orstellungen
nach betriebsbedingten Kündigungen das Recht haben,
zwischen Abfindung und Klageweg zu wählen. Ich weiß
nicht, was daran so schlimm sein soll, Herr Göhner;
({21})
denn das heißt ja nicht, dass es einen Abfindungsanspruch bei einer berechtigten Kündigung gibt. Über die
Hälfte der von Arbeitgebern ausgesprochenen Kündigungen - darauf habe ich schon vorhin hingewiesen haben den Mangel, dass der Betriebsrat nicht zugestimmt hat. In solchen Fällen besteht für den Arbeitgeber
ein großes Risiko. Wenn der Arbeitnehmer aber mit einer Abfindung einverstanden ist, dann hat der Arbeitgeber nicht mehr das Risiko, ev entuell viel Geld zahlen zu
müssen. Eine solche Regelung ist eine große Erleichterung für die Arbeitgeber. Wenn wir das im Gesetz verankern, dann müssen wir auch keine Sperrzeiten aufheben,
Herr Niebel; denn wer sich gesetzeskonform verhält,
kann später auch nicht bestraft werden.
Die FDP und Ministerpräs ident Stoiber versuchen
jetzt, eine zweite Variante ins Spiel zu bringen. Danach
soll der Kündigungsschutz erst für Betriebe mit mehr als
20 bzw. 80 Mitarbeitern - das will Herr Gillo aus Sachsen - gelten.
({22})
Dazu kann ich nur sagen: T olle Sache! Damit würden
über 4,5 Millionen bzw. fast 11 Millionen Beschäftigte
ihres Rechts beraubt; denn sie unterlägen nicht mehr
dem Kündigungsschutz, wenn man dem folgen würde.
({23})
Der Vorschlag des Bundeskanzlers greift dagegen überhaupt nicht in bestehende Schutzrechte ein; denn für
Betriebe mit weniger als fünf Mitarbeitern gilt das Kündigungsschutzgesetz weiterhin nicht, und zwar auch
dann nicht, wenn sie befristet Beschäftigte zum Beispiel für die Bewältigung von Auftragsspitzen oder für
die Eroberung neuer Märkte einstellen. Das ist für einen atmenden Betrieb viel ve rnünftiger und besser als
die von Ihnen vor geschlagene zweijährige Probezeit,
die sich außerdem konträr zur bisherigen Rechtsprechung verhält.
({24})
Die Vorschläge des Bundeskanzlers er gänzen dies in
zumutbarer Weise, ohne in die Grundstruktur des Kündigungsschutzgesetzes einzugreifen, das dem Schutz vor
Willkür dient. Der geforderte Interessenausgleich wird
verwirklicht und das Vertrauen nicht verletzt. W er aber
an die Substanz des Kündigungsschutzrechts geht, der
will Willkür im Betrieb. Ge nau das ist es, was Sie wollen; denn Sie fordern in Ihrem Antrag, dass die Betriebsleitung entscheiden müsse, wer herausfliegt.
Hören Sie mit Ihren überzogenen Forderungen an die
Arbeitnehmer auf. Sägen Sie nicht den Ast ab, auf dem
Sie sitzen. Auch Sie werden froh sein, wenn es bald wieder genügend Arbeitnehmer gibt. Schließen Sie sich unserer Politik mit Augenmaß an und erarbeiten Sie gemeinsam mit uns ein vernün ftiges Kündigungsschutzgesetz. Das würde allen dienen.
Herzlichen Dank.
({25})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/430 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor geschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen
Für eine Stärkung und Neuorientierung des
Naturschutzes
- Drucksache 14/9852 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreivierte lstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Astrid Klug, SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! W ir diskutieren jetzt
über neue strategische Ansätze im Naturschutz für
Deutschland. Das ist ein sp annendes Thema; denn der
Reichtum eines Landes bemisst sich nicht nur an materiellen Gütern, den wahren Reichtum eines Landes erkennt man vielmehr an der Schönheit und an der Vielfalt
seiner Naturgüter.
({0})
Wenn ich im Frühling bei mir zu Hause im wunderschönen Bliesgau im Südosten des Saarlandes - das Naturschutzgroßvorhaben Saar-Bliesgau/Auf der Lohe ist
ein tolles, aber, wie im Naturschutz üblich, auch ein umstrittenes Naturschutzprojekt - unterwegs bin, die blühenden Bäume genieße - seit ich den Job hier habe,
kommt das leider selten genug vor -, die ersten Maiglöckchen entdecke und das mor gendliche Zwitschern
der Vögel höre, dann ist da s ein Stück Lebensqualität,
die auch die nächsten Generationen noch verdient haben.
Wir müssen heute etwas dafü r tun, dass auch sie die
Möglichkeit haben werden, das zu genießen.
({1})
Eine lebendige, eine lebe nsfähige Natur und die biologische Vielfalt sind die V oraussetzungen für unsere
Existenz, für unsere Zukunft und auch für die Lebensqualität, von der ich eben gesprochen habe. Das wissen
wir alle. Trotzdem befinden wir uns in einer ständigen
Spannung - auch das kennen wir alle -: Naturschutz
kontra Wirtschaftsansiedelung, Naturschutz kontra Straßenbau, Naturschutz kontra Landwirtschaft, Naturschutz
kontra Arbeitsplätze. Damit verbunden sind Konflikte,
die vor allem vor Ort ausg etragen werden. Der Naturschutz zieht dabei noch immer zu oft den Kürzeren.
Das Sondergutachten für eine Stärkung und Neuorientierung des Naturschutzes, das wir heute diskutieren,
versucht, diese Spannung aufzulösen. Dieses Gutachten
benennt offen Hemmnisse und Konflikte, die die Durchsetzung von Naturschutzinteressen behindern, und es
enthält einige sehr intellig ente und sehr pfif fige Vorschläge, wie der Naturschutz stärker strategisch und stärker erfolgsorientiert ausgerichtet werden kann.
({2})
Der Dank der SPD-Bundestagsfraktion gilt ausdrücklich allen Mitgliedern und Mitarbeitern des Rates von
Sachverständigen für Umwelt fragen, die uns eine gute
Arbeitsgrundlage und wichtige Bausteine für eine nationale Naturschutzstrategie übergeben haben.
Wir fangen in Sachen Na turschutz zum Glück nicht
bei null an. W ir haben 2002 das Bundesnaturschutzgesetz novelliert, was von den Sachverständigen ausdrücklich als Fortschritt begrüßt wird. Bundesregierung
und Bundestag haben im letzten Jahr die Nachhaltigkeitsstrategie für Deutschland beschlossen, welche die
Indikatoren definiert und Ziele festschreibt, auch für den
Naturschutz. Wir haben die Bürgerbeteiligung verbessert
und die Rolle der Naturschutzverbände als Anwälte der
Natur gestärkt, auch in dem Wissen, dass die frühzeitige
Einbindung der Öffentlichkeit der Akzeptanz des Naturschutzes dient. Gesetze und hoheitliches Handeln sind
ohne Zweifel notwendig; ab er Überzeugung, Einsicht
und Verhaltensänderung sind noch immer erfolgreicher ,
sinnvoller und im Sinne des Naturschutzes besser.
({3})
Es ist erfreulich, dass dieser Bereich im Gutachten einen breiten Raum einnimmt. W ir müssen diese V orschläge aufgreifen und in diesem Parlament zum Thema
machen, um sie später in konkretes politisches Handeln
umzusetzen.
Wir haben praktische Erfolge erzielt, die Mut machen: Von 1990 bis 2001 ist es gelungen, die Fläche der
Naturschutzgebiete zu verd oppeln. Die W asserqualität
der großen Fließgewässer hat sich erheblich verbessert.
Der Bestand einzelner schutzwürdiger Pflanzen- und
Tierarten konnte in den letzten Jahren stabilisiert und
ihre Population konnte sogar ausgebaut werden.
Aber trotz aller großen und kleinen Erfolge bleibt
noch mehr zu tun. W er das Gutachten liest, kann davor
die Augen nicht verschließen. Zwei Drittel aller in
Deutschland vorkommenden Biotoptypen werden als gefährdet eingestuft, 15 Prozent sind sogar von völliger
Vernichtung bedroht. Fast 40 Prozent der in Deutschland
vorkommenden Tierarten und 28 Prozent der Pflanzenarten sind in ihrem Bestand gefährdet oder sogar schon
ausgestorben. Der Umweltrat legt den Finger in die
Wunde, benennt die Ursachen und formuliert ehr geizige
Ziele.
Das größte Problem ist der Flächenverbrauch. In
den letzten zehn Jahren wurden bundesweit an jedem
Tag zwischen 120 und 130 Hektar Fläche versiegelt; das
sind bis zu 175 Fußballfelder . Die Fläche, die wir in jedem Jahr neu der Natur und damit auch unseren natürlichen Lebensgrundlagen entziehen, entspricht der Hälfte
der Fläche Berlins. Der Sachverständigenrat setzt in seinem Gutachten beim Thema Flächenverbrauch und Flächenzerschneidung einen deutlichen Schwerpunkt. Dies
begrüßen wir ausdrücklich. Wir sehen uns ebenfalls dem
ehrgeizigen Ziel verpflichtet, die Flächeninanspruchnahme bis zum Jahr 2020 auf 30 Hektar zu senken.
Das Gutachten schlägt eine Reform der Wohnbauförderung vor, damit in Zukunft Altbausanierungen, die
städtebauliche Verdichtung und die Umnutzung ehemaliger Industriebrachen Vorrang vor Neubauten auf der grünen Wiese haben. Die von uns, der rot-grünen Koalition,
angestrebte Neugestaltung der Eigenheimzulage gibt
darauf eine erste wichtige Antwort.
Auch die Idee des Umweltrates, mit handelbaren Flächenausweisungsrechten und einem ökologischen kommunalen Finanzausgleich vor Ort Naturschutz und Flächenschonung ökonomisch attraktiv zu machen, hat
einen echten Reiz; denn auch im Naturschutz gilt: Ohne
Moos nix los. Je stärker das ökonomische Gewicht des
Naturschutzes ist, desto größ er ist auch seine Durchsetzungsfähigkeit.
({4})
Sehr geehrte Damen und Herren, die Nachhaltigkeitsstrategie, die wir im letzten Jahr beschlossen haben, war
und ist die Grundlage, der rote Faden unserer Politik.
Eine Naturschutzstrategie, für die das Gutachten Bausteine liefert, ist die fach liche Konkretisierung und Erweiterung für den Bereich Naturschutz, die wir brauchen, weil Nachhaltigkeit ke in Zustand, sondern ein
dynamischer Prozess ist, um den wir ständig und permanent ringen müssen und den wir ständig und permanent
weiterentwickeln müssen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin vor sechs
Monaten mit dem Anspruch in dieses Haus gekommen,
dass Politik für heute nur gut ist, wenn sie auch mor gen
noch richtig ist, und dass si ch alle unsere Diskussionen
und Entscheidungen daran messen lassen müssen, ob sie
nachhaltig und auch morgen und übermorgen noch tragfähig sind. Ich freue mich, da ss ich meine erste Rede in
diesem Parlament zu einem Thema halten durfte, das
diesem Anspruch gerecht wird. Die Natur braucht uns
Menschen nicht, aber wir brauchen die Natur. Sägen wir
also nicht den Ast ab, auf dem wir sitzen, sondern sorgen
wir gemeinsam dafür, dass die Empfehlungen des Sondergutachtens für eine Stärkung und Neuorientierung
des Naturschutzes kein Papiertiger , sondern politische
Realität werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Frau Kollegin Klug, Sie habe n es gerade selber gesagt: Es war Ihre erste Re de in diesem Hohen Hause.
Auch Ihnen gratuliere ich dazu recht herzlich und wünsche Ihnen politisch und persönlich alles Gute.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr . Maria
Flachsbarth, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das vorgelegte
Sondergutachten ist ein sowohl umfangreicher als auch
inhaltsschwerer Bericht, der zahlreiche gute V orschläge
zur Verbesserung des Naturschutzes in Deutschland enthält. Leider - diese kleine Kritik sei mir erlaubt - ist der
Bericht insbesondere in seinen Eingangskapiteln so sehr
mit Fachbegriffen gespickt, dass er ohne Spezialwissen
gar nicht ohne weiteres lesbar ist.
({0})
Oder wissen Sie, meine se hr geehrten Kolleginnen und
Kollegen, welche Bedeutung eudaimonistische Ar gumentationen gegenüber einer holistischen oder sentientistischen haben?
Bei allen Versuchen des Gutachtens, den Naturschutz
nicht nur rechtlich, sondern auch ethisch-philosophisch
zu begründen, sollten seine Verständlichkeit und Lesbarkeit darunter nicht zu sehr leiden, insbesondere dann,
wenn die Gutachterkommissio n es als wichtige Forderung erachtet, die Akzeptanz für den Naturschutz in der
Bevölkerung durch bessere Information und Kommunikation zu verbessern. Schade also, dass der vorliegende
Bericht weite Kreise der interessierten Bevölkerung
nicht erreichen kann.
Bitte erlauben Sie mir noch eine V orbemerkung. Als
Christdemokratin, die aus einigen Richtungen dieses
Hauses in den letzten Wochen häufig und vehement auf
das „C“ im Namen ihrer Partei hingewiesen wurde,
möchte ich es im Rahmen der ethisch-philosophischen
Grundlegung des Naturschutzes nicht versäumen, den
Begriff der Schöpfung in diese Diskussion einzuführen.
Die Bewahrung der Schöpfun g ist ein christliches und
genuin konservatives Anliegen. Der alttestamentliche
Auftrag „Macht euch die Erde untertan“ fordert den
Menschen dazu auf, die Natu r und ihre Ressourcen verantwortlich zu nutzen, das heißt, für sie Sorge zu tragen.
({1})
Meine Damen und Herren, die Natur ist ohne direkten
Bezug zum Menschen in den dicht besiedelten Regionen
Europas bzw. Deutschlands, in denen wir leben, nicht
vorstellbar, unberührte Natur in Nationalparks nach USamerikanischem Vorbild bei uns daher fast nicht darstellbar. Zudem geht der Naturschutz, wie in § 1 des Bundesnaturschutzgesetzes neuerer Fassung definiert, auch weit
über den Schutz seltener oder vom Aussterben bedrohter
Tier- und Pflanzenarten und deren Lebensräume hinaus,
denn er bezieht sich - so das Gesetz - auf die Leistungsfähigkeit des gesamten Naturhaushaltes, die Nutzungsfähigkeit der Natur güter und die V ielfalt, Eigenart und
Schönheit der Landschaft. Unserer Meinung nach muss
sich der Naturschutz in Deutschland daher am Leitbild
der Nachhaltigkeit orientieren.
Mit dem Begrif f Sustainable Development, nachhaltige Entwicklung, machte di e so genannte BrundtlandKommission auf die Herausforderungen einer globalen
Umwelterhaltung und einer gerechten Ressourcenbewirtschaftung aufmerksam und beschloss ein Handlungskonzept, die Agenda 21, als Leitprinzip der Politik.
Gleichzeitig wurde deutlich , dass nachhaltige Politik
nicht allein ökologische Aspekte beinhalten darf, sondern gleichberechtigt und gleichgewichtig ökonomische
und soziale Aspekte berücksichtigen muss.
Da mehr als die Hälfte de s Bundesgebietes landwirtschaftlich und fast ein Drittel forstwirtschaftlich genutzt
werden, kommt der Einbeziehung der Land- und Forstwirtschaft in den Naturschutz eine herausragende Bedeutung zu.
({2})
Zudem ist ein großer T eil der biologischen Vielfalt in
Mitteleuropa erst durch Zurückdrängung des Waldes und
die Schaffung unserer offenen Kulturlandschaften durch
die landwirtschaftliche Nutzung entstanden. Daher sind
auch viele Arten an agrarisc h genutzte Ökosysteme gebunden. Bei einer Verbuschung landwirtschaftlicher Flächen durch Nutzungsaufgabe geht die erwünschte Artenvielfalt verloren.
Die CDU/CSU-Fraktion orientiert sich deshalb am
europäischen Agrarmodell, das eine multifunktionelle
Land- und Forstwirtschaft m it dem Ziel einer wettbewerbsfähigen Erzeugung und Entwicklung der Leistungen in der Landschaftspflege und im Naturschutz sowie
der ländlichen Räume in Einklang zu bringen sucht. Die
effizienteste Form der Pflege ist eine Verbindung der naturschutzfachlichen Anforderungen mit der Nutzung.
({3})
Vertragsnaturschutz und der Einsatz moderner Landtechnik im Rahmen der Präzisionslandwirtschaft ermöglichen unter anderem die Wahrnehmung dieser Aufgabe.
({4})
Doch das Umweltgutachten stellt fest:
Vorbehalte gegen Ziele des Naturschutzes können
nicht verwundern, wenn die betrof fenen Personen
… finanzielle Einbußen oder ähnliche Nachteile
wie etwa Bewirtschaftu ngserschwernisse in Kauf
nehmen müssen.
Und weiter:
Derzeit reicht die Gesamt finanzierung der Agrarumweltmaßnahmen nicht aus ...
Umso verwunderlicher, ja sogar schädlich im Sinne
des Naturschutzes erscheint es, wenn die Mittel der
Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küsten3102
schutz“ im Haushalt 2003 um 107 Millionen Euro auf
764 Millionen Euro gekürzt wurden. Auch Umweltverbände wie der BUND, der NABU, der WWF und andere
fordern den Erhalt der Gemeinschaftsaufgabe und deren
langfristige Absicherung.
({5})
Meine Damen und Herren, noch ein Detail: Die Bundesmittel müssen durch di e Länder mit 60 Prozent kofinanziert werden. Bei der Förderung der Länder für
Agrarumweltmaßnahmen gibt es übrigens gravierende
Unterschiede. Laut Agrarb ericht der Bundesregierung
förderten 2001/02 Baden-Württember g diese Maßnahmen mit 104 Euro je Hektar, Bayern mit 64 Euro je Hektar, Nordrhein-Westfalen mit ganzen 1 1, Niedersachsen
mit 4 und Schleswig-Holstein mit lediglich 1 Euro je
Hektar.
({6})
Die drei letztgenannten Lä nder hatten zum Zeitpunkt
der Untersuchung sozialdemokratische bzw . rot-grüne
Regierungen. Bezüglich des Zugrif fs auf Agrarumweltprogramme der EU hat die Bundesregierung den
deutschen Landwirten mit der Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes eine neue nationale Hürde aufgebaut:
Durch die Ausweitung der gu ten fachlichen Praxis in
Deutschland werden Fördermöglichkeiten der EU bei
zahlreichen Umweltprogrammen in den Ländern aufs
Spiel gesetzt. In anderen eu ropäischen Staaten mit geringeren nationalen Standards sind dieselben Maßnahmen der vor Ort wirtschaft enden Landwirte dann aber
förderfähig. Dies ist ein we iteres Mal ein Stück Wettbewerbsverzerrung durch deutsche Sonderwege.
Ich will einen weiteren Aspekt ansprechen, der zurzeit in einem ganz anderen Zusammenhang diskutiert
wird, jedoch auch in dire ktem Zusammenhang mit der
Thematik Landwirtschaft und Naturschutz steht. Ich
denke an die ener getische Nutzung von Biomasse. Ihre
gezielte Förderung würde eine zusätzliche Einnahmequelle für die Landwirtschaft eröffnen und bei entsprechender Auswahl der Ener giepflanzen eine extensivere
Bewirtschaftung der Nutzflächen ermöglichen. Rasch
wachsende Pflanzen verminde rn zudem die Gefahr der
Bodenerosion. Die Nutzung von Abfallprodukten aus
der Tierhaltung in Biomasseanlagen bringt zudem hygienische Vorteile, senkt die Geruchsbelästigung und ermöglicht eine verbesserte Verfügbarkeit von Pflanzennährstoffen. Das Klimagas Methan wird zur Energieproduktion
genutzt und der CO 2-Ausstoß wird insgesamt vermindert. Die Bündelung der Fördermittel im Rahmen des
EEG und im Rahmen von Agrarumweltprogrammen
wäre daher sinnvoll und würde eine Ef fizienzsteigerung
der Fördermaßnahmen zur Folge haben.
Der Ausbau der ökologisch so vorteilhaften Biomassekraftwerke darf unserer Meinung nach nicht durch die
weit überzogene Verschärfung der Grenzwerte im Rahmen der neuen Kompost- bzw . Klärschlammverordung
behindert werden, die das Verbringen der Reststoffe aus
Biokraftwerken als Dünger auf landwirtschaftlich genutzte Flächen nämlich unmöglich machen würde.
({7})
Lassen Sie mich noch ein paar W orte zum Vertragsnaturschutz sagen. Naturschutz ist nicht an öffentliches
Eigentum gebunden. So kann zum Beispiel das europäische Biotopverbundsystem „Natura 2000“ nicht allein
auf Flächen der öf fentlichen Hand verwirklicht werden.
Naturschutz ist Aufgabe aller und kann nur durch maßgebliche Beteiligung aller Betroffenen an einer eigenverantwortlichen Naturschutzarbeit erreicht werden.
Ein aus der Sicht der CDU/CSU besonders geeignetes
Instrument ist der V ertragsnaturschutz. Er genießt V orrang vor dem hoheitlichen Instrumentarium der Ausweisung von Schutzgebieten mit Ge- und V erboten, wenn
die naturschutzrechtliche Zi elsetzung auch auf diesem
Weg zu erreichen ist. Durch freiwillige V ereinbarungen
und Selbstverpflichtung kann der Eigentümer von
Schutzgebietsflächen dazu beitragen, besonders wichtige
Kleinstrukturelemente wie Hecken, W iesen, Raine und
Äcker mit Wildkräutern zu erhalten. Die Akzeptanz für
den Naturschutz wird durch diese Maßnahmen, wie auch
im Sachverständigenratsgutachten gefordert, höher, weil
die Menschen vor Ort mitgenommen werden und auch
ehrenamtliches Engagement entsprechend gewürdigt
wird. Dazu ist es allerdings notwendig, dass Haushaltsmittel für ganz konkrete Pr ojektarbeit vorgesehen werden.
({8})
Leider weist der ohnehin sc hon reduzierte Haushalt des
BMU für 2003 über die Hälfte seiner Mittel für den Verwaltungshaushalt aus.
In diesem Zusammenhang geht die Empfehlung der
Sachverständigen, die person ellen Kapazitäten in den
Naturschutzbehörden auszubauen, an der finanziellen
Wirklichkeit von Bund, Lä ndern und Kommunen leider
völlig vorbei. Den Vorschlag, Arbeitsfelder, die kein hoheitliches Vorgehen erfordern, auszulagern, unterstützen
wir allerdings nachdrücklich.
({9})
Als mögliche Partner sind W asserversorger, der ehrenamtliche Naturschutz, zum Beispiel die Naturschutzstationen in Niedersachsen, oder auch die Landwirtschaftskammern zu nennen.
Lassen Sie mich zum Ende meiner Ausführungen
noch ein zentrales Anliegen der Sachverständigen nachhaltig unterstützen: die Erar beitung wissenschaftlicher
Grundlagen bzw. Grunddaten. Die Sachverständigen
stellen fest, dass im Bere ich von Natur und Landschaft
die Datenlage uneinheitlich und lückenhaft ist und zudem allgemein anerkannte Erhebungs- und Auswertungsmethoden fehlen. Dies betrif ft insbesondere die
Umsetzung der V ogelschutz- und der FFH-Richtlinie.
Ohne diese Daten ist die Erarbeitung und Überwachung
konkreter regionaler und üb erregionaler Umweltschutzziele aber nicht möglich. Die Erhebung und Bewertung
dieser Daten könnte zuglei ch mit einer Förderung der
mit dieser Aufgabe betraute n Universitäten und Hochschulen verbunden werden. Aber wenn denn diese Daten
vorliegen, dann lassen Sie uns bitte auch seriös mit ihnen
umgehen, meine Damen und Herren.
Die von den Sachverständigen im Sonder gutachten
vielfach aufgestellte Forderung, den Landverbrauch
unter den Wert von 130 Hektar pro Tag zu senken, ist
nur zu unterstützen. Allerdin gs sollte auch nicht verschwiegen werden, dass der Landverbrauch durch Versiegelung längst auf 70 Hektar pro Tag gesenkt werden
konnte. Der höhere Wert ergibt sich nur dann, wenn die
bei Bauvorhaben erforderlichen Ausgleichsflächen in
den Gesamtlandverbrauch einbezogen werden. Dies ist
allerdings keine seriöse Argumentation und fördert eben
nicht die Transparenz und damit die Akzeptanz des Naturschutzes, die wir doch alle gemeinsam wollen.
Herzlichen Dank.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in dieser
Debatte einige Jungfernreden in diesem Hohen Haus erlebt. Auch für Sie, Frau Kollegin Flachsbarth, war es die
erste Rede. Herzlichen Glückwunsch, verbunden mit den
besten Wünschen für Sie persönlich und politisch!
({0})
Nächster Redner ist der Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
glaube - das ist das Erfreuliche an der hohen Beteiligung
von Niedersachsen, die hi er schon geredet haben und
noch reden werden -, dass wir uns in einem Punkt partei- und fraktionsübergreifend einig sind: Der Sachverständigenrat für Umweltfrage n hat mit seinem Sondergutachten gute Arbeit gele istet. Ich will, liebe Frau
Flachsbarth, damit aber nicht in Abrede stellen, dass das
Gutachten, auch wenn es im W esentlichen unter Federführung einer Hannoveranerin, nämlich von Frau Professor von Haaren von der Universität Hannover , erstellt
wurde, in der Tat verständlicher hätte formuliert werden
können. Wir haben das in den Vorgesprächen auch angemerkt, aber Sie wissen ja, wie das mit den Wissenschaftlerinnen und W issenschaftlern ist: Sie legen W ert auf
ihre Fachsprache.
Ich freue mich vor allen Dingen deswegen über dieses
Gutachten, weil es wesentliche Eckpunkte unserer Naturschutzpolitik bestätigt. Sie haben einen angesprochen,
nämlich die Reduzierung des Flächenverbrauchs auf
30 Hektar pro Tag. Dieser Punkt ist bereits Bestandteil
der Nachhaltigkeitsstrategie, die diese Bundesregierung
entwickelt hat. Auf diesem W eg können wir auch die
vorgeschlagene Naturschutzstrategie umsetzen, nämlich
im Rahmen der Fortentwicklung der von uns erarbeiteten Nachhaltigkeitsstrategie.
Meine Damen und Herren, der Sachverständigenrat
prangert auch in anderen Bereichen genau dieselben
Punkte an, die auch wir immer angeprangert haben. Er
sagt: Wir müssen uns darum bemühen, den Naturschutz
in alle Politikbereiche ei nzubringen. Ich werde darauf
noch aus aktuellem Grund zurückkommen. Ferner sagt
er, es sei notwendig, das Bundesnaturschutzgesetz jetzt
auch tatsächlich umzusetzen . Außerdem fordert er die
Länder nachdrücklich auf, über Nachmeldungen für eine
vollständige Meldung von FFH-Gebieten - übrigens
auch ein Fachterminus - zu sorgen. Schließlich fordert er
nachdrücklich, an der Möglichkeit von V erbandsklagen
festzuhalten. Das alles bestätigt in der Summe zu
100 Prozent die Politik dieser Bundesregierung und der
sie tragenden Koalition von SPD und Grünen.
({0})
Ich freue mich, dass auch diejenigen, die aus den Reihen der Opposition hier gesp rochen haben, dazu positiv
Stellung bezogen haben. Zugleich bitte ich Sie aber auch,
sich einmal in den Ländern umzuschauen, die sich zurzeit
bei der Naturschutzpolitik positionieren. Anstatt alles daranzusetzen, das Bundesnaturs chutzgesetz, das nur ein
Rahmengesetz ist - die eigentliche Kompetenz liegt hierfür bei den Ländern -, bis zum Frühjahr 2005 umzusetzen
- da läuft die Frist nämlich ab -, will die neue CDU-FDPKoalition in Hannover, wie ich in der Koalitionsvereinbarung gelesen habe, nicht etwa für eine schnelle Umsetzung sorgen, sondern eine Initiative starten, damit einige
Regelungen aus der gerade novellierten Fassung des Bundesnaturschutzgesetzes zurückgenommen werden. Das
finde ich doch sehr merkwürdig, wie Sie, meine Damen
und Herren von der Opposition , sich vor diesem Hintergrund zu dem Gutachten positiv äußern.
Es geht aber noch weiter : Das Gutachten hat gerade
die Rolle der mündigen Bürgerinnen und Bürger im Naturschutz unterstrichen, indem in ihm festgestellt wurde:
Naturschutz kann man nur mit den Menschen machen.
Das heißt aber auch, dass di e Natur an bestimmten Stellen einen Anwalt braucht. Gerade die naturschutzrechtlichen Regelungen, für deren Rücknahme Ihre Landesregierung in Hannover sich ei nsetzen will, greifen ja den
christlichen Gedanken der Schöpfung auf, indem erstmalig - Herr Göppel wird das wissen, er hat uns ja ordentlich gedrängt - darin enthalten ist,
({1})
dass die Natur auch um ihrer selbst willen zu schützen ist.
({2})
Wir haben dazu gesagt, dass solche Aussagen nichts nützen, wenn die Natur keinen Anwalt hat. Deswegen haben wir in das Naturschutzrecht eingefügt, dass die anerkannten Naturschutzverbände, also diejenigen, die sich
bei Planverfahren für die von Ihnen ja genannten Nutzungen als Anwalt der Natur betätigen, auch Rechte erhalten. Was aber beschließt der Bundesrat unter dem
Vorwand der Planbeschleunigung? Man wolle genau
diese Möglichkeit von Verbandsklagen wieder rückgängig machen, also weniger statt mehr Bür gerbeteiligung im Naturschutz.
({3})
- Lieber Herr Paziorek, Sie sagen, die CDU wolle Naturschutz mit den Menschen machen, und wissen, dass die
von der CDU mit unterzeichnete Aarhus-Konvention,
die übernächstes Jahr in Deutschland bindendes Recht
wird, ein umfassendes Verbandsklagerecht vorsieht. Da
ist es doch nicht konsistent, sondern eher verrückt, wenn
nun CDU/CSU-regierte Bu ndesländer den Bundestag
mit dem Vorschlag behelligen, wir sollten diese Regelung für zwei Jahre wieder aussetzen.
Sie wissen doch, dass die Verbandsklage ausweislich
aller Untersuchungen, zum Beis piel in der Schweiz, die
dieses Instrument länger hat, und in den Bundesländern,
die es haben, nicht etwa zu einer V erlängerung, sondern
zu einer Beschleunigung vo n Planverfahren, aber auch
zu einer verbesserten Abwägung geführt hat.
({4})
Deswegen sollten wir uns bei aller Freude über das,
was hier gesagt worden ist, darüber im Klaren sein, dass
im Naturschutz mehr als in allen anderen Bereichen gilt:
Es nützt nichts, sich nur in Sonntagsreden darauf zu beziehen; man muss ihn im Alltag wirklich praktizieren
und auch die W idersprüche, die sich daraus er geben,
aushalten.
Ein anderes Beispiel, das ich ebenfalls der Koalitionsvereinbarung der CDU und der FDP in Niedersachsen
entnommen habe. Dort steht, man wolle bei Umweltschutzmaßnahmen künftig eine Wettbewerbsverträglichkeitsprüfung einführen.
({5})
Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie hier eben
gesagt haben. Sie haben gesagt, der Naturschutz müsse
Bestandteil aller Politikbereiche werden. W enn Sie eine
Wettbewerbsverträglichkeitsprüfung einführen, dann
kommen Sie genau an den Punkt, an dem wir in den
Auseinandersetzungen über die Naturschutzgebiete waren. Damals hieß es: Ihr sc hafft hier ein Naturschutzgebiet, das aber gefährlich für die touristische Nutzung ist,
denn es verzerrt den W ettbewerb. Deswegen kommt es
nicht infrage.
Die Erfahrung mit dem Naturschutz ist in W irklichkeit eine andere, wie ich am Beispiel des Nationalparks
Bayerischer Wald und des Nationalparks Harz - ich
könnte das aber auch an anderen Beispielen deutlich machen - zeigen kann: Am Ende hat sich diese
Wettbewerbsverträglichkeitsbetrachtung als eine kurzsichtige Betrachtung herausgestellt; denn es hat sich gezeigt, dass der Nationalpark Bayerischer W ald allein im
Landkreis Freyung 30 000 neue Arbeitsplätze geschaffen hat und der Nationalpark Harz inzwischen mit Zustimmung der Gemeinden erweitert wird, weil er sich zu
einem Touristenmagnet entwickelt hat.
Deswegen ist unser Weg, der Weg, den die Sachverständigen an dieser Stelle vorschlagen, nämlich Naturschutz in alle Politikbereiche zu integrieren, einen integrierten Ansatz gerade in der Nachhaltigkeitsstrategie zu
finden, der richtige Weg. Es ist der Weg dieser Koalition.
Wir gehen ihn und wir würd en uns freuen, wenn mehr
Kollegen so mutig wären, di esen Weg im Alltag mitzugehen.
({6})
Lassen Sie mich zum Schl uss eine Bemerkung machen, weil Herr Paziorek da sitzt und die ganze Zeit darauf wartet. Sie haben mir neulich gesagt, ich hätte mich
in der Umweltpolitik verha lten wie Richard Kimble auf
der Flucht. Das hat mich nachdenklich gemacht. Sie haben in diesen Tagen an einer Reihe von Dingen gesehen,
dass ich alles andere als auf der Flucht bin. Darüber hinaus sollten Sie bei diesem V ergleich eines berücksichtigen: Vielleicht haben Sie gedacht, Sie seien der Marshal,
der Herrn Kimble nachstellt. Wenn Sie sich den Film anschauen, werden Sie feststellen: Richard Kimble
({7})
ist unschuldig, er ist der Gute; der Marshal ist der Böse.
In diesem Sinne haben Sie si ch die falsche Rolle ausgesucht, Herr Paziorek.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Brunkhorst, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Erfolg von Naturschutzmaßnahmen hängt
nicht zuletzt von der Akzeptanz des Bürgers ab. Von daher steht für uns Liberale der Mensch im Mittelpunkt aller Überlegungen zum Naturschutz.
({0})
Das hier vorliegende Sondergutachten macht deutlich,
welche Erfolge im Naturschutz schon erzielt worden
sind. Die Kollegin hat bereits einige genannt; ich will sie
nicht wiederholen. Aber der Sachverständigenrat hat den
Teilerfolgen die zugegebenermaßen größeren Defizite,
die es noch gibt, gegenüber gestellt. Er schlägt einen
Maßnahmenkatalog unter dem Oberbegrif f „nationale
Naturschutzstrategie“ vor. Ich erkenne darin diverse Verschärfungen sowohl im Pla nungs- als auch im Naturschutzrecht.
({1})
Dem können wir so nicht uneingeschränkt folgen. Naturschutz wird von den Bür gern in der Regel schon heute
als restriktive und bürokratische Ordnungspolitik wahrgenommen. Das ist häufig so. W ir Liberalen meinen,
dass die verschiedenen Interessenlagen eine ausbalanciertere Gewichtung haben müssen. Zum einen muss die
Lebensqualität durch den Erha lt der Naturhaushalte und
der Vielfalt der Arten gesichert werden. Natürlich müssen auch sozioökonomische Interessen gewahrt werden,
zum Beispiel die Interessen des T ourismus und des
Sports. Die Erfüllung der Anforderungen an die RaumAngelika Brunkhorst
ordnung muss berücksichtigt werden und, ganz wichtig,
das Recht des ländlichen Raumes auf Entwicklung muss
gewahrt bleiben.
({2})
Gerade die quantitativen V orgaben für Biotopverbünde lassen den Eindruck zu, dass der ländliche Raum
peu à peu zum ökologischen Reserveraum werden soll.
Naturschutz ist aber eine Aufgabe, die gesamtgesellschaftlichen Nutzen erbringt. Die derzeitige Lastenverteilung ist jedoch in einer Schieflage. Ich will insbesondere auf die Land- und Forstwirte eingehen, die durch
die Einschränkung ihrer Nu tzungsrechte auch wirtschaftliche Einbußen hinneh men. Sie werden im Moment über Gebühr in die V erpflichtung genommen und
in ihren Eigentumsrechten beschnitten.
({3})
Der Vertragsnaturschutz war ein gutes Instrument,
um den Naturschutz einerseits und eine anteilige Existenzsicherung in der Land- und Forstwirtschaft andererseits unter einen Hut zu bekommen. Ich bedauere sehr ,
dass in der Novelle des B undesnaturschutzgesetzes der
Vertragsnaturschutz quasi ausgehebelt worden ist. Herr
Minister Trittin, hier muss ich leider sagen: Das haben
Ihre Regierungsfraktionen bewirkt.
({4})
Naturschutz ist nur in der Allianz mit der Land- und
Forstwirtschaft möglich. Daher brauchen wir dringend
die auch vom Sachverständigenrat geforderten Agrarumweltprogramme auf nationaler und europäischer Ebene,
in denen vor allen Dingen die Aufträge klar umrissen
werden und für ihre Ausführung eine angemessene Entlohnung vorgesehen wird.
({5})
In diesem Punkt gehen wir ebenfalls mit dem Umweltrat
konform.
Meine Damen und Herren, der Umweltrat geht in seinem Gutachten weiter auf das Problem des Flächenverbrauchs ein, das hier schon angesprochen worden ist.
Der vorgeschlagenen Begrenzung der Flächenversiegelung auf 30 Hektar pro Jahr und im Endef fekt vielleicht
dem völligen Verzicht auf Versiegelung können wir aber
nicht folgen. Ein Flächenver brauch von 130 Hektar pro
Tag ist natürlich völlig unakzeptabel. Aber lassen Sie
mich, genau wie die Kollegin vorhin, auch den Unterschied deutlich machen: Besiedelt ist nicht gleich versiegelt. Da muss man schon noch ein wenig differenzieren.
({6})
Vielmehr sollen die Gemeinden vor Ort eine ökologisch sinnvolle Flächenausweisungspolitik betreiben,
immer Hand in Hand mit de m Bürger vor Ort. Der Bürger, der in der Gemeinde le bt, soll für uns Liberale das
Sagen haben. Das Signal da rf nicht lauten: mehr Gesetze; das Signal muss lauten: mehr Selbstverpflichtung
für den ressourcenschonend en Umgang mit der Natur .
Dahin wollen wir.
({7})
Die FDP ist der Meinung, dass die Fachgesetzgebung
in der V ergangenheit dem Naturschutz schon ausreichend Instrumente in die Hand gegeben hat. Wie auch in
anderen Politikfeldern liegt jedoch - darin stimmen wir
mit dem Sachverständigenrat überein - ein Umsetzungsdefizit vor. Daher begrüßen wir den Vorschlag, die
Umweltbeobachtung zu syst ematisieren und besser zu
koordinieren.
Allerdings muss ich dazu sagen: Die FDP hat bereits
in der letzten Legislaturpe riode Anstrengungen unternommen, ein biogeografisches regional orientiertes Umweltmonitoring durchzusetzen, das satellitenunterstützt
betrieben werden sollte. Die Vertreter der Regierungskoalition haben das Projekt leid er nicht mitgetragen; deshalb war ein so exzellenter Vorschlag nicht umzusetzen.
Für die Zukunft wünsche ich mir eine sehr gute fachliche Zusammenarbeit, die sich insbesondere an den Bedürfnissen der Regionen und der Bürger, die darin leben,
ausrichtet.
Ich möchte zum Schluss sagen: Bei der V erwirklichung aller gesellschaftlichen Prozesse, Projekte, Ziele
und Werte wünsche ich mir neben einer Überprüfung der
Umweltverträglichkeit und der Sozialverträglichkeit
auch eine Überprüfung der Wettbewerbsverträglichkeit.
Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Frau Kollegin Brunkhorst, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, verbunden mit
allen guten Wünschen für Ih re weitere parlamentarische
Arbeit.
({0})
Nun hat die Abgeordnete Gabriele Lösekrug-Möller
das Wort für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hätte
nicht Frau Klug aus dem Saarland hier geredet, hätten
wir die Debatte glatt nach Hannover verlegen können.
Ich halte meine Rede aber lieber hier.
Es ist wieder so weit. Die Lu ft ist lauer, selbst hier in
Berlin. Bei mir zuhause bl ühen die Märzenbecher und
ganze Völkerscharen sind au f den Beinen, um den Blütenteppich am Schweineber g - so heißt dieser Ort bei
uns - anzuschauen. Mor gens - vielleicht tun das einige
von Ihnen - können wir uns von Vogelzwitschern wecken
lassen. Kraniche und Gänse - das haben Sie hof fentlich
alle gemerkt - sind auch schon vorbeigezogen. Kein
Zweifel: Der Frühling ist da. Eigentlich können wir mehr
als froh sein, dass unsere Natur uns immer noch so reich
beschenkt. Denn wir - in diesem Punkt ist das Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen ganz
klar - könnten für die Natur entschieden mehr tun.
Naturschutzpolitik in Deutschland kann auf Erfolge in
den letzten Jahren zurückblicken; das stimmt. Viele gute
Beispiele wurden von meinen Vorrednerinnen und auch
von dem Minister genannt. Aber leider ist genauso richtig: Wir haben immer noch viele Defizite im Naturschutz.
Frau Klug und andere Vorrednerinnen haben zu Recht
als eines der großen Probleme den Flächenverbrauch
herausgestellt. Die Inanspruchnahme von Flächen ist ein
gigantischer naturzerstörerischer Vorgang. Genauso problematisch ist allerdings di e Flächenzerschneidung, die
wir Tag für Tag erleben. Wir alle wissen um den entstehenden Schaden und scheinen ihn locker in Kauf zu nehmen. Solange Kommunen durch die Ausweisung neuer
Baugebiete und Flächen miteinander konkurrieren - teilweise konkurrieren müssen -, solange Gesteinsabbau
sehr lukrativ ist, weil Ersatzmaterial teuer und nicht weit
genug entwickelt ist, so lange werden die Naturschützer
wie Sisyphus Stück für Stück kleine Flächen zurückerobern und gleichzeitig große verlieren - mit Streit und Ärger, mit Nutzungs- und Interessenkonflikten. W eil ich
aus dem Weserbergland komme, kann ich in Sachen Gesteinsabbau viel dazu erzäh len. Insbesondere wenn es
darum geht, Aspekten des Wettbewerbs den Vorrang einzuräumen, ahne ich, was uns in nächster Zeit droht.
Dabei sind wir alle eigentlich einer Meinung: dass die
Bedeutung der Natur für unsere Lebensqualität gar nicht
hoch genug einzuschätzen ist. Obwohl dies allenthalben
bekräftigt wird, gilt für den Naturschutz das so genannte
NIMBY-Problem. Dies ist ein Begrif f aus dem Gutachten. Ich erkläre ihn gerne: NIMBY ist die Schwester von
TINA. Die kennen wir alle, sie heißt auf Deutsch: Da
ist keine Alternative. NIMBY - englisch: not in my
backyard - heißt: Überall, aber nicht bei mir. Dieses Problem treffen wir im Naturschutz häufiger an. Je konkreter Naturschutzmaßnahmen der Entfaltung menschlicher Wünsche entgegenstehen, desto schneller sinkt die
Akzeptanz für diese Regelung.
Das Gutachten zeigt fünf Gruppen von Gründen für
diese Akzeptanzdefizite auf. Ich skizziere sie kurz. Zunächst sind ökonomische Nachteile und ungünstige Rahmenbedingungen finanzieller und or ganisatorischer Art
zu nennen. Dazu gehören allerdings auch - das sollte uns
zu denken geben - eine ma ngelnde Vertrautheit mit
Naturschutzzielen. Zu diesen Gründen zählen ferner
konträre Werthaltungen und Überzeugungen sowie
Kommunikationsformen, die von den Beteiligten als unbefriedigend oder als autoritär erlebt werden. Schließlich
ist noch die Angst vor V erhaltenseinschränkungen, Bevormundung und Fremdbestimmung zu nennen. Allein
diese Aufzählung lässt erkennen, wie weit der Weg sein
wird.
Ich zitiere kurz aus dem Gutachten:
Es muss ein Mindestmaß an Problemdruck und Lösungswillen bei den Akteuren vorhanden sein.
Ein für die Naturschutzprojekte förderlicher Problemdruck entsteht nicht durch einen kritischen Zustand von Natur und Landschaft.
- Das sollte uns zu denken geben. Vielmehr spielen die vo n den Akteuren subjektiv
wahrgenommenen ökonomischen, sozialen oder
politischen Problemlagen eine entscheidende Rolle.
Wir werden sicher im Ausschuss die Gelegenheit haben, über Lösungsansätze zu diskutieren - sie sind in
diesem Gutachten in Fülle enthalten - und Möglichkeiten zur Akzeptanzverbesserung zu besprechen. Sie
reichen von ökonomischen An reizen - zum Glück beschränken sie sich aber nicht darauf - über die Einführung diskursiver Kommunikationsverfahren bis hin zur
Erhaltung von Rechtsmitteln der Verbände.
Ich bin dem Minister dankba r dafür, dass er deutlich
angesprochen hat, welche Gegenbewegung hier am
Werke ist. Es kann nicht sein, dass wir das Verbandsklagerecht, das endlich im Bundesnaturschutzgesetz geregelt worden ist, zurücken twickeln. Allen Ernstes: Das
nimmt uns niemand ab. Wir würden in Europa wieder einen Sonderweg gehen; das wird hier als Argument strapaziert. Das ist mit uns nicht zu machen.
({0})
Ich möchte dem Hause nicht vorenthalten, dass man
dann dem Muster folgt: Die pralle Natur soll auf alle
Fälle bis dicht an die Leitplanken funktionieren. Dann
haben wir auf der Überholspur freie Fahrt. Ich denke, so
kann man allen Ernstes keine Naturschutzpolitik betreiben.
({1})
Schon die „Daten zur Natu r 2002“ zeigten, dass wir
nach wie vor auch auf nationaler Ebene Handlungsbedarf im Hinblick auf den Erhalt der biologischen Vielfalt haben. Aus naturschutzfachlicher Sicht schlägt zum
Beispiel der Sachverständigenrat vor, rote Listen so weiterzuentwickeln, dass sie nicht an politisch-administrativen Grenzen orientiert werden, sondern stärker an biogeographischen Regionen. Das ist der richtige W eg. Ich
denke, in dieser Hinsicht haben wir noch viele Verbesserungen vor uns.
Ich wünsche mir, dass der Naturschutz in Deutschland
auch im Rahmen der Nachha ltigkeitsdebatte einen prominenten Platz einnimmt. Im Sondergutachten wird eine
eigenständige nationale Naturschutzstrategie vorgeschlagen und es werden gute Gründe dafür geliefert. Ob
eigenständige Strategie oder nicht: Das soll so oder so
nicht zur Glaubensfrage werd en. Gerade aber in Bezug
auf den Naturschutz, für den bei den Bundesländern
weitreichende Zuständigkeiten bestehen, müssen wir
sehr sorgfältig prüfen, ob unsere Verantwortung fachlich
ausreichend und politisch zufriedenstellend in der unbestritten sinnvollen nationalen Nachhaltigkeitsstrategie
aufgehoben sein wird. Sicher wird die heute hieran anknüpfende parlamentarische Arbeit dazu interessant
werden.
Aber wenn ich hier schon einmal stehe und zum Naturschutz spreche, möchte ich auf zwei Projekte hinweisen, die von allen Naturschützern begrüßt wurden und
dennoch in ihrer Umsetzung weit hinter unseren ErwarGabriele Lösekrug-Möller
tungen zurückgeblieben sind - zumindest bis jetzt; ich
hoffe, es gibt einen weiter en Impuls -: Das sind die
BVVG-Flächen, circa 100 000 Hektar, deren Übertragung aus dem Eigentum des Bundes in Naturschutzhände ins Stocken geraten ist. Hier muss es vorangehen.
({2})
Und das ist das „grüne Band“. Für diejenigen, die nicht
wissen, was das ist: Das ist jener Streifen, der ehedem
Ost und West trennte und nun als einzigartiges Naturschutzprojekt im besten Sinne Geschichte machen
könnte, gäbe es eine größere Bereitschaft, diese Flächen
für den Naturschutz zu erwe rben. Beide Projekte sind
einzigartige Chancen für den Naturschutz.
({3})
Natürlich haben wir auch Schönes: unsere Großschutzgebiete; sie wurden schon angesprochen. Wir haben mit ihnen die Möglichkeit, zu zeigen, dass es geht:
Mensch und Natur in einem jeweils balancierten Verhältnis Raum zu geben. Der vor kurzem vor gelegte Bericht
„Tourismus in Großschutzgebieten“ zeigt diese Chancen
auf und zeigt auch, dass na turschutzkonforme Angebote
für Menschen möglich und für die regionale Entwicklung vorteilhaft sind. Da ist die Gewichtung von Ökonomie und Ökologie sicher richtig angelegt.
Ich muss zum Schluss kommen, wie ich sehe. Ich habe
eine Aufforderung an Sie alle - denn ich frage mich, ob
wir gute Beispiele sind, was den Naturschutz anbelangt -:
Geben wir uns die Chance, Natur zu erleben! Wie gesagt,
mein Appell ist: Die Märzenb echer blühen, die Luft ist
lau, seien Sie mutig und gehen Sie raus aus dem Bau! Lassen Sie uns nicht immer nur hier sitzen und über Dinge reden, sondern lassen Sie uns etwas tun: die Natur erleben,
wie das Kinder in Waldkindergärten und in grünen Klassenzimmern machen, und das junge Leute ein Jahr lang in
ökologischen Projekten tun! Ich denke, das ist der richtige
Weg. Wenn wir als Mitglieder dieses Parlamentes öfter
nach draußen gingen und nicht nur das im Kopfe hätten,
was wir jeden Tag an Politik machen, sondern auch offen
für die Natur wären,
Frau Kollegin!
- ginge es dem Naturschut z besser. Das sehe ich so
wie TINA. Das ist für mich ohne Alternative.
Vielen Dank.
({0})
Ich bitte die anwesenden Kolleginnen und Kollegen
gleichwohl darum, der gut gemeinten Empfehlung, sich
in der freien Natur aufzuhalten, erst nach Ende der heutigen Sitzung nachzukommen, um eine ordnungsgemäße
Abwicklung unserer Tagesordnung zu ermöglichen.
Nun hat als letzter Redner zu diesem T agesordnungspunkt der Kollege Josef Göppel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte begann heute mit dem Zitat, dass sich der Reichtum
eines Landes auch nach se inem Naturvermögen bemisst
- ungewohnte Töne in eine r Zeit, die vom Kriegslärm
und vom Klagen über schlechte ökonomische Daten erfüllt ist. Wir sehen ja: Hier versammelt ist der positive
harte Kern der Naturliebhaber. Naturschutz ist aber zurzeit ein Thema irgendwo am Rande. Es ist vielleicht interessant zu fragen: W ie kommen wir wieder in die
Mitte?
Wir haben gewaltige Erfolge gehabt. Diese Erfolge
hatten wir aber vor allem dort, wo wir mit technischen
Mitteln Probleme beheben konnten, zum Beispiel bei
der Luftreinhaltung und der W asserreinhaltung. Beim
Naturschutz ist aber nicht in erster Linie neue T echnik
gefordert, sondern Behutsamkeit im Zugriff und Zurückhaltung. Da stecken wir in den Anfängen.
Genau da ist die Debatte fä llig. Herr Kollege Trittin,
die Frage nach einer Naturschutzstrategie stellen die
Gutachter in den Mittelpunkt. Natürlich ist es zweitrangig, ob man eine eigenständige Naturschutzstrategie betreibt oder ob man sie integr iert in die Nachhaltigkeitskonzepte. Eines ist aber sicher: Sie sind in der Regierung
und Sie müssen das jetzt umsetzen. Wir sind uns doch in
den Grundsätzen schnell einig; das haben wir an den bisherigen Reden sofort gemerkt. Es geht jetzt um die konkreten Schritte.
({0})
Ich möchte den Vorschlag machen, alle zu integrieren,
die guten Willens sind. Ob sie Jäger, Kanuten, Sportkletterer, Landschaftsschützer oder wie auch immer heißen:
Es gibt überall gut Gesinnte. Es geht darum, im Rahmen
der Strategieallianzen für den Naturschutz Strukturen
zu finden, um diese Leute einzubinden.
({1})
Sie sind nicht unmittelbar verantwortlich für die Gesetzesvorhaben: neues Waldgesetz, neues Jagdgesetz. Ich
greife da aber eines heraus: Ich hielte es nicht für gut,
wenn man mit diesen Gesetzen Regelungen schüfe, die
bestimmte Gruppen eher zurückdrängen und einengen,
anstatt sie heranzuführen und mehr in die Verantwortung
zu nehmen. Die Menschen, die in die Verantwortung genommen werden, sind in der Re gel auch bereit, mehr zu
tun. Das steht auch ganz kl ar im Gutachten: Unter dem
Punkt 125 loben die Gutachte r zum Beispiel die Konstruktion der deutschen Landschaftspflegeverbände. In
diesen Verbänden arbeiten Landwirte, Naturschützer und
Kommunalpolitiker gleichberechtigt zusammen, auch
wenn nicht alle gegensätzlic hen Interessen sofort überwunden werden können. Wir müssen aber die Strukturen
dafür schaffen. Das ist Ihre Verantwortung. An der konkreten Tat werden wir Sie auch messen.
({2})
Die Frage der Grundsätze is t natürlich auch wichtig.
Ich darf aber daran erinnern, dass der Eigenwert der
Natur zuerst im bayerischen Naturschutzgesetz formuliert und von uns eingebracht wurde. Es freut uns als
CSU-Mandatsträger natürlich sehr, dass das jetzt auch
im Bundesnaturschutzgesetz steht. Das soll Folgerungen
haben. Wenn in einer großen V olkspartei Dinge formuliert werden, über die wir noch diskutieren müssen, dann
werden Kollege Paziorek und die anderen aus der CDU/
CSU das mit großer Freude t un; darauf können Sie sich
verlassen. Für uns und auch für mich gibt es in diesen
Dingen kein Zurück. Eine gute Entwicklung gibt es nur
in der Zusammenschau von intakter Natur und intakter Wirtschaftsentwicklung, aber nicht im Entweder oder. Das ist unsere Position.
({3})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, beim Thema
Flächenverbrauch wurde von allen Rednern darauf hingewiesen, dass wir eine Trendwende brauchen. Ich sitze
seit 30 Jahren im Stadtrat einer Wachstumsgemeinde. Gerade deswegen habe ich große Sympathie für den V orschlag der Gutachter zu handelbaren Flächeninanspruchnahmerechten. Das ist eine Idee, die es wert ist, diskutiert
zu werden. Ich bin sehr dafür, dass wir dies tun. Ob es der
Weisheit letzter Schluss ist, werden wir dann im Detail sehen. Klar ist: Wir müssen Wege finden, um den Trend zu
durchbrechen und die Fläche ninanspruchnahme dorthin
zu lenken, wo der ökonomis che Nutzen am größten ist.
Dazu würde dieses Modell beitragen.
Keine Generation vor uns is t mit den Flächen so verschwenderisch umgegangen un d hat so viele Flächen
überbaut wie unsere Generation. Das ist wahr . Vor
30 Jahren, als ich meine Ausbildung zum Förster begonnen habe, betrug der Anteil der überbauten Fläche in
Deutschland 7 Prozent. Selbst wenn nicht alles endgültig
zubetoniert ist, so ist der Anteil der überbauten Fläche
doch auf 12 Prozent gestiegen. Das ist nahezu eine V erdoppelung. Deswegen brauchen wir eine T rendwende.
Diese wird nicht einfach zu erreichen sein. Ich denke nur
an Kommunalpolitiker auch in meinem W ahlkreis, die
glauben, sie könnten die Güter der Erde - das sind in
diesem Fall die Flächen, die ihnen in ihrem Gemeindebereich zur Verfügung stehen - in einer Generation verbrauchen. Das ist nicht nachhaltig.
({4})
Deswegen ist klar: Gute kons ervative Politik ist auf das
Bewahren gerichtet. Im Naturschutz zeigt sich das schöner als in allen anderen Bereichen.
({5})
Ein letzter Gedanke. W ir müssen darüber nachdenken, wie wir es schaffen, den Naturschutz wieder mitten
in der gesellschaftlichen Diskussion zu platzieren.
({6})
Natürlich berührt es nicht jeden, wenn die Stimme eines
Vogels nicht mehr zu hören oder ein Stück W iese nicht
mehr zu sehen ist. Aber ich denke, jeder wird letztlich
einsehen, dass der Mensch auch im Internetzeitalter ohne
die elementaren Dinge Boden, Wasser, Luft und die Lebewelt, die uns umgibt, nicht in W ohlbefinden leben
kann und dass ohne diese elementaren Dinge auch eine
gute Wirtschaftsentwicklung nicht möglich ist. W ir als
Verantwortliche haben die allererste Pflicht, daran gemeinsam zu wirken. Deswegen freue ich mich sehr, dass
diese Debatte an der Sache orientiert geführt wurde. Abschließend sage ich noch einmal: Herr Kollege T rittin,
Sie sind der zum Handeln V erpflichtete. Sie haben die
Hauptverantwortung. Wir werden das, was Sie tun, mit
Sympathie, aber auch mit kritischem Augenmaß begleiten.
({7})
Herr Kollege Göppel, auch Ihnen darf ich herzlich zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulieren.
({0})
Dem amtierenden Präsidenten steht selbstverständlich
kein Kommentar zum Inhalt einer hier gehaltenen Rede
zu, aber dass es Ihnen gleich bei Ihrer ersten Rede gelungen ist, frei zu reden und dennoch die Redezeit einzuhalten, verdient besonderen Respekt.
({1})
Ich schließe die Aussprac he. Interfraktionell wird
Überweisung der V orlage auf Drucksache 14/9852 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 6
auf:
10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Henry
Nitzsche, Arnold Vaatz, Dr. Michael Luther, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Stadtentwicklung Ost - Mehr Effizienz und
Flexibilität, weniger Regulierung und Bür okratie
- Drucksache 15/352 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim
Günther ({3}), Horst Friedrich ({4}),
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Stadtumbau Ost - ein wichtiger Beitrag zu m
Aufbau Ost
- Drucksache 15/750 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vor gesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das W ort zunächst dem Kollegen Henry Nitzsche für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die W ohnungswirtschaft in den neuen Bundesländern befindet
sich in einer dramatischen Krise. Während unmittelbar
nach der Wende ein sensationeller Aufbruch durch Neubau sowie durch Modernisierung und Instandsetzung der
maroden Wohnungssubstanz zu spüren war, ziehen seit
Ende der 90er-Jahre die Reiter der Apokalypse durch unsere mitteldeutschen Lande. Auf ihrer Spur hinterließen
sie unter den wehenden Fahnen der Arbeitslosigkeit geplünderte Stadtkassen, bettelarme Rathäuser und Geisterstädte, wie Halle-Neustadt mit 90 000 Wegzügen,
Hoyerswerda mit 30 000 Wegzügen sowie Frankfurt/
Oder, Schwedt, Weißwasser und viele andere mehr.
Was tat die Bundesregierung? - Sie tat das Übliche
und setzte eine Kommission, nämlich die LehmannGrube-Kommission, ein.
({0})
Das Ergebnis war für die Fachwelt nicht überraschend:
Sie stellte fest, dass es mindestens 1 Million leer stehender Wohnungen gibt, wobei die Tendenz steigend ist. Es
wurde ein Maßnahmenkatalog vor geschlagen, der von
der Bundesregierung teilweise umgesetzt wurde. Das
Schwert, mit dem man den drei unheimlichen Reitern
begegnen wollte, hieß Stadtumbau Ost. Es wurde herumgereicht, man durfte es bestaunen und man sagte, es
sei bis 2009 1,2 Milliarden Euro schwer.
Am 18. März dieses Jahres nahm ich am Leerstandskongress des GdW in Halle teil. Das Er gebnis war
schockierend: Der Leerstand hat in den letzten Jahren
nochmals zugenommen. Der Präsident des GdW, Lutz
Freitag, sprach bereits von 1,3 Millionen leer stehenden
Wohnungen. Wörtlich sagte er: Die Probleme wachsen
schneller, als die Lösungen wirken.
Viele private Vermieter, aber auch kommunale Unternehmer und Genossenschaften stehen vor der Insolvenz.
Einigkeit besteht bei allen dar über, dass eine solche Insolvenz die Probleme nicht lö st, da nur ein Eigentümerwechsel stattfindet, ohne da ss auch nur eine einzige
Wohnung vom Markt genommen wird. Eine besondere
Dramatik liegt bei den privaten Vermietern. In vielen
Fällen haben sie ihr Eigentum über die DDR-Zeit hinweggerettet oder danach zurückbekommen. Im V ertrauen auf eine positive Entwicklung haben sie sich hoch
verschuldet, um ihren W ohnungsbestand zu sanieren.
Das jetzige Überangebot an Wohnungen führt aber nicht
nur zu Vermietungsschwierigkeiten, auch lässt sich von
einem Mieter keine rentierl iche Miete mehr am M arkt
erzielen. Vielen solchen pr ivaten Eigentümern droht
ebenfalls die Insolvenz.
({1})
Aber nicht nur das: Die ro t-grüne Regierung hat den
Bestandserwerb mit dem Ersa tz der Investitionszulage
für selbst genutzte W ohnungen durch eine bislang wirkungslos gebliebene Innenstadtzulage eher erschwert.
Die jährlichen Förderfälle liegen in den betroffenen Ländern - so muss man sie nenn en - zum Teil im einstelligen Bereich. Den Spitzenplatz nimmt hier der Freistaat
Sachsen mit sage und schreibe 14 Förderfällen - das ist
der Stand vom 1 1. März - ein; das war vorauszusehen.
Frau Gleicke, es wurden sage und schreibe 2 465 Euro
ausgezahlt. Das ist fürwahr ein hervorragendes Förderprogramm. Mit ihm wird die Eigentumsbildung im Bestand mit Sicherheit ein Flop bleiben.
({2})
Meine Damen und Herren, wir müssen hier dringend
handeln. Das gilt natürlich ebenso für die FDP . Ich begrüße den Antrag, der gestern eingetrudelt ist: Spät
kommt er, doch er kommt.
({3})
- Umso besser. - Der Wohnungsmarkt muss schleunigst
wieder funktionieren. Eine Marktbereinigung, die im Interesse aller Beteiligten - sowohl der Vermieter als auch
der Mieter und der Bauwirtschaft - liegt, ist unverzüglich erforderlich.
({4})
Es müssen jährlich nicht nur 30 000 bis 40 000 Wohnungen vom Markt, wie dies die Lehmann-Grube-Kommission vorgeschlagen hat, sondern die doppelte Zahl ist erforderlich. Allein im Freist aat Sachsen müssen jährlich
20 000 Wohnungen vom Markt genommen werden, um
nur den Zuwachs an Leerstand zu kompensieren.
({5})
Nun zu unseren Einzelforder ungen. Die einzelnen Förderelemente müssen stärker verzahnt werden.
Eine Schlüsselposition bei der Klärung der Marktbereinigung nimmt das Altschuldenhilfe-Gesetz ein. Ich
erinnere daran, welche Ge schäftsgrundlage dem Gesetz
zugrunde liegt. Die nunmehr gekappten Altschulden
sollten aus den Mieteinnahme n gedeckt werden. In der
Verordnung der Bundesregi erung zur Umsetzung des
§ 6 a AHG wird neben wirtschaftlichen Schwierigkeiten
ein Mindestleerstand von 15 Prozent des jeweiligen Unternehmens gefordert, um ei ne Entlastung der Altschulden von abgerissenen Wohnungen in Aussicht zu stellen.
Diese Verordnung braucht gar nicht erst auf den Prüfstand gestellt zu werden. Nach Ansicht des GdW muss
sie geändert werden. Er erwartet, dass für jede abgerissene Wohnung die Altschulden übernommen werden.
({6})
Die Entschuldung war bisl ang an eine Landesförderung in mindestens gleicher Höhe geknüpft. In der
Verwaltungsvereinbarung 2002 hat der Bund die Anerkennung der Komplementärmittel der Länder aus dem
Programm „Stadtumbau Ost T eil Rückbau“ definitiv
ausgeschlossen. Der Nachweis dieser Mittel war nicht
nur bürokratisch; er hat auch den Einstieg in die Marktbereinigung im Jahr 2002 unnötig erschwert.
Unsere Fraktion hat mit dem vorliegenden Antrag das
von der Wohnungswirtschaft und den Ostbauministern
aufgezeigte Problem aufgegriffen. Frau Gleicke, Sie haben nunmehr den Bauministern die Anerkennung der
Rückbaumittel für das Programmjahr 2003 angekündigt.
Ich zitiere Ihr Schreiben vom 20. Februar, also knapp einen Monat nach Erscheinen unseres Antrages:
Es hat sich gezeigt, da ss beide Instrumente noch
besser miteinander verzahnt werden müssen, um
den Stadtumbauprozess zu beschleunigen.
Das, Frau Gleicke, ist richtige und konstruktive Opposition. Sie haben sogar eine Formulierung aus unserem
Antrag gewählt. Dazu beglückwünsche ich Sie.
({7})
Frau Gleicke, ich hoffe, dass Sie uns auch bei den weiteren Punkten folgen; denn der Stadtumbau kennt keine
Gewinner und keine Verlierer. Gelingt er nicht, saufen in
den neuen Bundesländern ganze Regionen ab!
Die Bundesregierung hat sich beim Stadtumbauprogramm für eine Abwicklung nach den Regularien der
traditionellen städtebaulichen Erneuerung entschieden. Ob diese Entscheidung dem Problem des Stadtumbaus gerecht wird, bezweifelt zumindest die unternehmerische Wohnungswirtschaft. Der Leerstandskongress
des GdW hat dies klar zum Ausdruck gebracht. Nachdem aber die Entscheidung gefallen ist, muss dafür
Sorge getragen werden, den Programmvollzug reibungslos abzusichern. Richtig Geld steht damit jedoch erst im
vierten Programmjahr zur Verfügung. Bis dahin gibt es
Verpflichtungsermächtigungen, aber wenig Kassenmittel. Die Wohnungswirtschaft wird aber Wohnungen nur
dann abreißen, wenn tatsäc hlich Geld fließt, und zwar
schnell und ohne unnötige Papierchen.
({8})
Aus diesem Grunde haben wir im Freistaat Sachsen
seit zwei Jahren ein eigenes Landesabrissprogramm. Mit
diesem Programm wird für jährlich 25 Millionen Euro
nicht mehr benötigte W ohnungssubstanz abgerissen ohne Verwendungsnachweis, unbürokratisch, schnell,
70 Euro je Quadratmeter Wohnfläche.
Der Stadtumbau darf nicht als alleiniges Interesse der
Wohnungswirtschaft dastehen. Mit dem Stadtumbau
setzt sich eine Kommune mit ihrer derzeitigen Situation
auseinander und sucht nach Strukturen, die der künftigen
demographischen Entwicklung Rechnung tragen. Die
Wohnungswirtschaft hat natürlich ein ureigenes Interesse, möglichst viele Miet er zu behalten. Aber der
Rückbau nicht mehr benötigter Wohnungssubstanz setzt
ein Freilenken von Wohnraum voraus.
Die derzeitige Rechtslage hingegen unterstützt keineswegs das gezielte Freile nken von Wohnungen. Die
Urteile von Halle und Jena kommen nur in dem Fall zur
Anwendung, wenn einzelne Mieter das Auflösen ihres
Mietvertrages bis zum Schluss immer noch nicht akzeptieren wollen. Die W ohnungswirtschaft braucht eine
Kündigungsmöglichkeit bei stadtumbaubedingten Abbrüchen. Es ist nicht hinnehmbar , dass Einzelne den
Stadtumbau nach dem Motto verzögern: Wir warten auf
den goldenen Handschlag.
({9})
Ich komme zu einem weiteren Punkt des vorliegenden
Antrages. Dazu möchte ich aus einer aktuellen Pressemitteilung zitieren:
Stadtumbau Ost - Hemmnisse und Hindernisse beseitigen. Zahlreichen ostdeutschen Wohnungsunternehmen droht die Pleite. Zur Abwendung von Insolvenzen kommen Fusionen der Unternehmer als
denkbare Alternative in Betracht. Diese dürfen
nicht durch 3,5 Prozent Grunderwerbsteuer erschwert oder praktisch unmöglich gemacht werden.
Hier besteht Reformbedarf.
Das sind nicht unsere Hilfst ruppen, sondern das ist eine
Meinung von Ihrer Seite, nä mlich vom Mieterbund. Sie
werden die Präsidentin kenn en, Anke Fuchs. Sie bestätigt den Inhalt unserer Anträge. Der Stadtumbau kann
einzelne Eigentümer so stark tref fen, dass ihre Existenz
infrage gestellt wird. Fusionen sind deshalb dringend erforderlich. Aber die Bereitschaft zum Helfen wird natürlich nicht ziehen, wenn das aufstrebende Unternehmen
für seine finanziellen Bemü hungen zusätzlich mit der
Grunderwerbsteuer belastet wird. W ir reden dabei nicht
von Steuerausfällen. Bleibt es bei der derzeitigen Rechtslage, dann fallen Fusionen aus. Ich bin dem Freistaat
Sachsen dafür dankbar, dass er eine gleichlautende Bundesratsinitiative eingebracht hat. Meine Damen und Herren, Sie haben am nächsten Freitag Gelegenheit, diese
im Bundesrat zu unterstützen.
({10})
Ich komme zum letzten Satz, Herr Präsident. Meine
Damen und Herren der rot-grünen Regierungspartei, fordern Sie mit uns gemeinsam die Bundesregierung auf,
im Sinne unseres Antrags Veränderungen beim Stadtumbau vorzunehmen. Je eher Sie sich unseren Forderungen
anschließen und diese umgesetzt werden, desto schneller
gelingt der Stadtumbau Ost. Frau Staatssekretärin, ich
möchte Ihnen ins Poesiealbum schreiben: Nicht weil die
Dinge schwierig sind, wagen wir sie nicht, sondern weil
wir sie nicht wagen, sind sie so schwierig.
Herzlichen Dank.
({11})
Auch Ihnen, Herr Kollege Nitzsche, herzlichen
Glückwunsch zur ersten Rede im Deutschen Bundestag.
Alle guten Wünsche für die weitere Arbeit.
({0})
Ich erteile das W ort dem Abgeordneten Ernst Kranz
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! V erehrte Kolleginnen
und Kollegen! Herr Nitzsche, wir sind uns darin einig,
dass die Situation der ostdeutschen Länder nach wie vor
unserer besonderen Aufmerks amkeit bedarf. Dies betrifft vor allem auch die Wohnungswirtschaft.
Neben den ganz Deutschlan d betreffenden sich ändernden demographischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ist die ostdeutsche
Wohnungswirtschaft nach wie vor durch eine dramatische Höhe der W ohnungsleerstände geprägt. Die Leerstände haben historische und auch aktuelle Ursachen.
Diese sind zum einen die Wohnungspolitik zu Zeiten der
DDR, als Wohnungen in den Neubaugebieten, den Plattenbausiedlungen, sehr begehrt waren und die Neubaugebiete fast die einzige Möglichkeit boten, eine Mietwohnung mit Komfort zu be kommen, ohne dafür selbst
sehr umständlich und mühsam durch Um- und Ausbau
sorgen zu müssen.
Ein weiterer schwerwiegender Fehler in der W ohnungspolitik bestand darin, dass der in den Innenstädten
vorhandene Altbauwohnungsbestand aufgrund der begrenzten finanziellen Möglichkeiten nicht saniert und
damit dem V erfall weitgehend preisgegeben wurde.
Nach der Wende versuchten deshalb viele Mieter, diese
beiden Wohnbereiche zu verlassen und sich entsprechend ihren finanziellen Möglichkeiten anderen bzw .
neuen Wohnraum zu suchen und zu schaffen.
Dies löste zu Beginn und in der Mitte der 90er -Jahre
die erste Auszugswelle aus den beiden gerade genannten
Wohnbereichen aus. Verstärkt wurde dies durch die bis
heute anhaltende Abwanderungswelle derjenigen, die in
den westlichen Bundesländern ihre größeren Zukunftschancen sehen.
Gerade dieser Fakt führt uns am deutlichsten vor Augen, in welch hohem Maße wi r auch weiterhin verstärkt
Verantwortung für die ostdeutschen Bundesländer wahrzunehmen haben. In der W ohnungspolitik hat deshalb
die Bundesregierung mit wohnungs- und städtebaupolitischen Programmen und Fördermaßnahmen wichtige
Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen eingeleitet.
({0})
Für die spezifischen Probleme der ostdeutschen
Städte und Kommunen ist da her primär das Programm
„Stadtumbau Ost“ konzipiert worden. Für den Stadtumbau Ost werden wir mit den Ländern und Gemeinden bis
2009 zusammen rund 2,7 Milliarden Euro bereitstellen.
Das Programm geht jedoch weit über die Bekämpfung
des reinen Wohnungsleerstandes hinaus. Darauf werde
ich im weiteren Teil meiner Rede noch eingehen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, es ist schon eine sehr kühne Unterstellung - die Sie
in Ihrem Antrag formuliert haben -, dass das Programm
„Stadtumbau Ost“ nicht wirke bzw . die Probleme nicht
lösen könne. 197 Kommunen wurden in das Programm
„Stadtumbau Ost“ im Jahr 2002 aufgenommen.
({1})
Sie erhalten vom Bund und den Ländern 153 Millionen
Euro für den Rückbau von mindestens 45 000 Wohnungen. Bis Ende letzten Jahres wurden 75 Prozent der Bundesmittel und sogar 83 Prozent der Rückbaumittel abgerufen. Dieses Geld kann kurzfristig ausgegeben werden.
Zu einigen Themen im Antrag der CDU/CSU wurden
durch Minister Stolpe am 18. März zum 3. Leerstandskongress des GdW bereits Lösungen präsentiert. Deswegen hinken Sie ein klein bisschen nach.
Gerade auf diesem Kongress wurde im Gegensatz zu
Ihren Ausführungen noch einmal deutlich, dass das Interesse von Wohnungsunternehmen, Kommunen und der
Politik am Stadtumbau Ost stärker denn je ist.
({2})
Niemand hat auf diesem Kongress bestritten, dass das
Programm „Stadtumbau Ost“ als gesamtgesellschaftliche Aufgabe ganz Deutschlands ein Kernelement des
Aufbaus Ost darstellt.
Der Minister führte des Weiteren aus, dass gerade das
Stadtumbauprogramm als ein lernendes Programm von
besonderer Qualität ist. Mit der V erwaltungsvereinbarung 2003 werden Anregungen zur V erbesserung des
Programms aufgenommen. Die Forderung, Rückbaumittel - hören Sie genau zu! - als Komplementärmittel anzuerkennen, ist erfüllt.
({3})
Das war doch Ihre Forderung, nicht wahr?
Eine zeitgerechte Zurverfü gungstellung der Bundesmittel im Rahmen des Programms kann durch die Länder selbst entschieden beeinflusst werden. Es liegt an ihnen, eigene Fördermittel und Bundesmittel geschickt zu
bündeln und zeitnah mit mö glichst geringem bürokratischen Aufwand an die betrof fenen Wohnungsunterneh3112
men weiterzuleiten. Denn di e Anträge laufen alle über
die Länder und nicht über den Bund.
({4})
Auch die von Ihnen angemahnte flexiblere Handhabung des Förderelements W ohneigentumsbildung im
Bestand wird im Rahmen der Verwaltungsvereinbarung
2003 zum Städtebaurecht einfacher und großzügiger gestaltet.
({5})
Eine weitere wichtige Änderung besteht darin, dass
die Länder ermächtigt werden, in der Startphase nicht
mehr wie bisher genau 50 Prozent, sondern mehr als
50 Prozent der Mittel für den Rückbau einzusetzen.
({6})
Dies entspricht zum Beispi el auch einer Forderung im
Antrag der FDP.
Bei der V ergabe der Fördermittel sollen die W ohnungsunternehmen bevorzugt werden, die Unterstützung
nach der Härtefallregelung beantragt haben; denn sie haben es am nötigsten. Es soll auch dafür gesor gt werden,
dass im Rahmen der V erwaltungsvereinbarung die Altschuldenhilfe und der Stadtu mbau Ost wirksam miteinander verzahnt werden können.
Zu begrüßen ist auch der Gesetzentwurf der neuen
Bundesländer - und zwar nicht nur Sachsens - zur
Grunderwerbsteuerbefreiung bei Fusionen von W ohnungsunternehmen und W ohnungsgenossenschaften in
den neuen Ländern für die Jahre 2004 bis 2006.
Das Programm „Stadtumbau Ost“ ist seit einem Jahr
in seiner Umsetzungsphase. Es hat sich sehr viel getan
und es ist bereits viel erre icht worden. Dies ist meiner
Meinung nach vor allem auch Resultat des vorgeschalteten Wettbewerbs, als dessen Ergebnis die Stadtentwicklungskonzepte mit einem integrierten wohnungswirtschaftlichen Teil erstellt wurden.
({7})
Die Initiierung und Durchführung des Wettbewerbs zum
Stadtumbau Ost ist eines der besten Beispiele, wie Kommunen durch den Bund schnell, ef fektiv und unbürokratisch in der für ihre Entwicklung notwendigen Grundsatzarbeit unterstützt und angeregt werden können.
({8})
261 Städte und Gemeinden haben Stadtentwicklungskonzepte mit einem integrie rten wohnungswirtschaftlichen Teil erarbeitet und eingereicht. Mehr als 300 hatten sich zum W ettbewerb angemeldet. Die Qualität der
Arbeiten und Konzepte hängt selbstverständlich wie immer von den handelnden Pe rsonen und ihrem Engagement und dem Willen zur Mitarbeit ab.
Einige Probleme möchte ich noch kurz ansprechen.
Dabei geht es zum einen um die Zusammenarbeit und
Mitarbeit der Wohnungsgesellschaften selber. Sie sind
auf dem örtlichen W ohnungsmarkt Konkurrenten. Die
sie alle betreffenden Probleme können aber nur gemeinsam gelöst werden. Das ist ei n Widerspruch in sich, den
es aber letztendlich in der Praxis zu lösen gilt. Hierbei
gibt es ein unterschiedlic hes Engagement. Für die Gemeinden ist es besonders schwierig, neben den hauptbeteiligten kommunalen Wohnungsunternehmen und den
Genossenschaften auch die privatwirtschaftlichen W ohnungsvermieter sowie Zwis chenerwerber und leider
auch die TLG in die Abstimmung einzubeziehen.
Ein wesentliches Hindernis für einen zügigen Planungsverlauf bilden auch Unklarheiten aufgrund betriebswirtschaftlicher und finanzieller Belastungen bzw .
der notwendige Ausgleich zwischen Wohnungsunternehmen beim Abbruch von W ohnungen oder beim Umbau
im Wohngebiet. Ich meine, das ist ein Aspekt, der bei der
Umsetzung dieser Konzepte gegenwärtig weiter große
Schwierigkeiten bereitet. Er findet zwar genügend Beachtung, muss aber noch verstärkt beachtet werden.
Genau diese Ursachen und Zeiterscheinungen werden
durch die Antwort der Thür inger Landesregierung auf
eine Große Anfrage der SPD bestätigt. Etwas kritikwürdig ist die nur sehr zögerliche und nur ansatzweise V eröffentlichung der konkreten Er gebnisse des W ettbewerbs. In Kürze soll es jedoch eine Dokumentation
geben, in der die 34 ausgezeichneten Konzepte präsentiert werden sollen.
Sowohl das Programm „Stadtumbau Ost“ als auch die
vorliegenden Stadtentwicklungskonzepte der einzelnen
Städte und Gemeinden - das wurde schon betont - sind
nicht statisch. Das Programm wie die Konzepte müssen
ständig weiterentwickelt werden. So hat auch der
3. Leerstandskongress des GdW im letzten Monat einige
neue Tendenzen beraten und aufgezeigt. Wichtig war dabei der Hinweis, dass kleine re Städte nicht ver gessen
werden dürften und dass man sich nicht nur auf Städte
und Mittelzentren konzentrieren sollte.
Positiv und wichtig ist die Erkenntnis, dass gerade in
den kleinen Städten die Zusammenarbeit vor Ort funktionieren muss. Es ist notwendig, Regionalkonzepte auszuarbeiten, in denen auch wohnungswirtschaftliche Fragen eine wichtige Rolle spie len; denn gerade in diesen
Bereichen ist ein Zusammenschluss von kleinen W ohnungsunternehmen oder als er ster Schritt eine gemeinsame Verwaltung wichtig für die weitere wirtschaftliche
Sanierung und Stabilisierung der Unternehmen.
Die Frage, wie die Wohnungsunternehmen mit dauerhaftem Leerstand und abzureißenden W ohnungen von
den Altverbindlichkeiten en tlastet werden können, ist
nochmals ernsthaft zu prüfen; denn mit dem Abriss wird
de facto auch V ermögen der Gesellschaften vernichtet
und es bleiben oft nicht kurzfristig oder mittelfristig zu
verwertende Grundstücke übrig. Die Bundesregierung
hat im Rahmen der Haushaltsverhandlungen 2003 trotz
der Notwendigkeit zur Haushaltskonsolidierung die
Mittel für Härtefälle nach § 6 a des AltschuldenhilfeErnst Kranz
Gesetzes um 300 Millionen Euro auf 658 Millionen Euro
aufgestockt.
({9})
Das ist ein sehr positives Zeichen für die Wohnungswirtschaft. Für das Haushaltsjahr 2004 werden vom Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Mittel in der gleichen Größenordnung beantragt. Damit
beweist der Bund, dass er sich der Situation der W ohnungsunternehmen in den neuen Ländern bewusst ist
und dass er, soweit es in seinen Möglichkeiten steht, immer bereit ist, auf veränder te Bedarfslagen flexibel und
engagiert zu reagieren.
({10})
Die meisten Städte und Ge meinden der ostdeutschen
Bundesländer stehen mitten in einem neuartigen, tief
greifenden Wandel in ihrer Stadtentwicklung. Es geht
dabei nahezu ausschließlich um die Bewältigung vielfältiger demographischer, ökonomischer und struktureller
Prozesse. Wegen der Komplexität müssen wir besonders
darauf achten, dass das Programm „Stadtentwicklung
Ost“ nicht als reines Abrissprogramm gesehen wird bzw.
dazu verkommt. Auch Arch itektur und Baukultur müssen in unserer Gesellschaft und im Stadtumbauprozess
einen höheren Stellenwert erhalten, damit sich das
Bauen bzw. das Umbauen in den ostdeutschen Städten
nicht nur auf technische und betriebswirtschaftliche Aspekte beschränkt.
({11})
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Jawohl, nur noch zwei Sätze.
Die sich wegen der ständigen Entwicklung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wandelnden Anforderungen an Stadt- und Gebäudestrukturen erfordern einen
permanenten Stadtumbau. Um die Stadtentwicklung Ost
auch weiterhin erfolgreich fortzuführen und als echte
Stadtentwicklung auch wirksam werden zu lassen, gilt es
noch einige wichtige Rahm enbedingungen zu verbessern. Die Kommunen, in denen zum größten T eil erarbeitete Stadtentwicklungskonzepte vorliegen, die aber
ständig an die aktuellen Entwicklungen angepasst werden müssen, sind aufgrund ihrer extrem angespannten
Haushalte nur eingeschränkt handlungsfähig. V iele
Kommunen können ihren Anteil an der Finanzierung der
Aufwertungsmaßnahmen nicht oder nur eingeschränkt
aufbringen. Hier ist die Verknüpfung verschiedener Programme auf Bundes- und Landesebene notwendig.
Auch über die von mir schon angesprochene Altschuldenhilfe muss noch einmal diskutiert werden.
Herr Kollege, diese können Sie nun wirklich nicht ein
zweites Mal ansprechen.
({0})
Alles klar. Noch zwei Sätze:
({0})
Die Wohnungsunternehmen brauchen Rechtssicherheit
bei den Grundstücken. Ich verweise in diesem Zusammenhang nur auf die Proble matik des Wiederauflebens
alter Ansprüche.
Herr Kollege, Sie haben ein außer gewöhnlich gnädiges Präsidium. Nur, nach der Ankündigung eines letzten
Satzes und nach fünf weiteren Sätzen nun die beiden abschließenden anzukündigen ist schon ein bisschen
forsch.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Ich schließe ab:
({0})
Die erfolgreiche Fortsetzung des Stadtumbaus Ost verlangt auch in Zukunft von uns allen wichtige politische
Entscheidungen, die diesen Prozess begünstigen und
weiterhin befördern.
Vielen Dank, Herr Präsident, für die Nachsicht.
({1})
Herr Kollege, das war auch Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich habe eine grobe Erinnerung daran,
dass auch ich hier einmal ei ne erste Rede gehalten habe
und dass es einfachere Übungen als diese gibt, vor allen
Dingen, was die Gnadenlosi gkeit des Zeitmanagements
angeht. Deswegen bitte ich um Nachsicht für ein gewisses Maß an unvermeidlicher Intervention. Vonseiten des
Präsidiums alle guten Wünsche für die Arbeit.
Nun hat das W ort der Kollege Joachim Günther für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine se hr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, dass wir in der Analyse des Bereiches Stadtentwicklung, Stadtumbau, fraktionsübergreifend im Wesentlichen übereinstimmen. Im Osten gibt es
1,3 Millionen leer stehende Wohnungen. Mit anderen
Worten - vielleicht kann sich der eine oder andere das so
besser vorstellen -: Jede sechste W ohnung dort steht
leer.
({0})
Joachim Günther ({1})
Meine beiden Vorredner haben einige wesentliche Ursachen dafür genannt, dass jede sechste W ohnung leer
steht. Meiner Ansicht nach - ich sage das, obwohl es
hier um Wohnungsbau geht - sind die fehlenden Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern die Hauptursache für
den dortigen Wohnungsleerstand. Wenn wir dieses Problem nicht lösen, dann brau chen wir über andere Probleme, zum Beispiel Abwanderung - es geht vor allem
um den Wegzug der jungen Generation -, nicht mehr zu
sprechen.
({2})
Im Zusammenhang mit dem W egzug der jungen Generation - auch das war ein Thema der Vorredner - muss
man über die Geburtenrate in Ostdeutschland reflektieren. Sie ist entschieden nied riger als in den alten Bundesländern. Wer einer Statistik - Statistiken sind immer
mit Vorsicht zu genießen - glaubt, der weiß, dass sich
der Umfang der Bevölkerung im Osten bis zum Jahr
2050 doppelt so schnell wie in den alten Bundesländern
zurückentwickeln wird. Vor dieser Situation stehen wir.
Angesichts dessen gilt es, das Übel an seiner W urzel
zu packen. Dieses Übel sind die fehlenden Reformen in
der Wirtschafts- und in der Arbeitsmarktpolitik. W enn
diese Reformen nicht erfo lgreich umgesetzt werden,
dann können wir noch so oft und noch so viel über Städteplanung sprechen, ohne dass es etwas bringt. V erlangen Sie doch von einem Stadtplaner einmal, über eine
Stadt zu sprechen, deren Abwanderungsraten so hoch
wie die von Halle-Neustadt oder Hoyerswerda - davon
war zuvor die Rede - sind! Was soll ein solcher Stadtplaner denn für einen Zeitraum von 20 Jahren planen? Dazu
ist er im Endeffekt gar nicht in der Lage.
Heute geht es darum, wie wir auf die große Anzahl an
Leerständen von W ohnungen von Gesellschaften, Genossenschaften, aber auch von vielen Privateigentümern
im Endeffekt so reagieren, dass diesen geholfen wird.
Die Anträge von CDU/CSU und FDP enthalten dazu
meines Erachtens viele Ansätze, die ich hier nicht wiederholen muss.
Ich unterstütze ausdrücklich das, was Herr Stolpe auf
dem 3. Leerstandskongress in Halle gesagt hat: Der
Stadtumbau Ost ist eine wichtige Voraussetzung für den
Aufbau Ost insgesamt.
({3})
Auf dieser Grundlage muss man auf der einen Seite die
Lösung des Problems des Üb erangebots, also der Leerstände, angehen und auf der anderen Seite dafür sorgen,
dass nicht ganze Landstri che verschwinden. Ich habe
langsam das Gefühl, dass dies in Hoyerswerda der Fall
ist.
Wir müssen die Probleme also gesamtgesellschaftlich
betrachten. Wir müssen denjenigen Gesellschaften, Unternehmen und Privateigentümern helfen, die aufgrund
fehlender Ertragskraft nicht mehr in der Lage sind, die
nötigen Investitionen vorzun ehmen. Schon jetzt ist die
Bauindustrie sehr gebeutelt; viele, die dort beschäftigt
waren, stehen auf der Straße und warten darauf, dass sie
wieder in Arbeit kommen.
Frau Staatssekretärin, das P ositive am P rogramm
„Stadtumbau Ost“ ist, dass die Anzahl der Städte, die unter einem gewissen Druck - anders kann man das nicht
bezeichnen - endlich ein Stadtentwicklungskonzept erarbeitet haben, groß ist. V iele Städte haben versucht, in
dieser Richtung voranzuko mmen, und sie haben zum
Teil bis zum Jahr 2030 geplant. Das sind positive Ergebnisse dieses Programms.
Dieses Programm könnte noch zu einem anderen Problem führen - Stichwort „wohnungspolitische Gerechtigkeit“, wenn es so etwas überhaupt gibt -, nämlich zum
Mikadoeffekt. Wir müssen dafür sorgen, dass diejenigen
Unternehmen, die ihre Wohnungen als erste vom Markt
nehmen, hierfür nicht bestra ft werden und diejenigen
Unternehmen, die damit länger warten, davon profitieren. Das stellt zumindest ein Problem dar . Vielleicht
kann man es in Form eines Lastenausgleichs lösen; wir
können im Ausschuss gern darüber sprechen.
Mit den heute vor gelegten Anträgen werben wir dafür, dass eine flexiblere Gestaltung bei der Inanspruchnahme der Fördermittel ermöglicht wird, dass man sich
etwas vom klassischen Finanzierungsmodus entfernt und
dass starre Aufteilungen aufgeknackt werden, ohne dass
man mit starren Prozentzahlen arbeitet. Die Menschen
vor Ort können am besten en tscheiden, wer auf Abriss,
auf Stadtsanierung und auf Stadtumbau setzen sollte.
Wir müssen drohende Insolvenzen verhindern. Das bedeutet die Mitarbeit der Bu ndesländer. Deshalb werden
wir auch den Antrag der Bundesländer auf Entlastung
von Altschulden unterstützen. Auch hier können wir sicherlich noch darüber reden, wie wir einen Schritt weiterkommen.
({4})
Die FDP wird sich auf jeden Fall strikt dafür einsetzen, dass die privaten Hauseigentümer, die schon den Osten überstanden haben, nicht wieder die Leidtragenden
sind, dass also auch andere Themen wie die W iedereinführung der Vermögensteuer, die Änderung der Bemessungsgrundlage und die Erbschaft- und Schenkungsteuer
aufgegriffen werden. Ich hoffe, wir werden im Ausschuss
eine interessante Diskussion darüber führen und dann zu
schnellem und flexiblem Handeln kommen. W enn ich
Sie alle richtig verstanden habe, sind wir uns einig. Wenn
wir den Bürokraten eine Absage erteilen, kommen wir
auch voran.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Peter Hettlich,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr P räsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In der Beschreibung der Situation sind wir uns
einig. Der Wohnungsleerstand in den neuen Ländern von
circa 1,3 Millionen Wohnungen bedroht nicht nur W ohnungsunternehmen und -genossenschaften, sondern auch
private Haus- und W ohnungseigentümer in ihrer Existenz. An dieser Stelle erinne re ich daran, dass auch im
Gewerbe- und Bürobau erhebliche Leerstände auf den
Markt und die Mietpreise drücken. So gibt es allein in
Leipzig immer noch über 800 000 Quadratmeter unvermieteten Büroraum.
Die Ursache hierfür liegt ei nzig und allein in dem
enormen Überangebot auf den Immobilienmärkten seit
Mitte der 90er-Jahre. Bei den Wohnungen liegt die Ursache interessanterweise noch nicht an der demographischen Entwicklung und de m Wegzug vieler junger
Leute; denn sowohl die Anzahl der Haushalte als auch
die durchschnittliche W ohnfläche je Einwohner sind
zum Beispiel in Sachsen in den letzten Jahren immer
noch gestiegen, was ja eige ntlich zu einer Entspannung
auf dem Wohnungsmarkt hätte führen müssen. Diese ist
aber nicht eingetreten.
Die verfehlte, weil bedarfsunabhängige Förderpolitik
der Kohl-Regierung führte dazu, dass immer mehr sanierte und vor allen Dingen neu gebaute Wohnungen auf
den Markt geworfen wurden.
({0})
- Ich habe es ja selbst mitgemacht. ({1})
Die ersten Leidtragenden waren die kommunalen W ohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften; denn in
ihren Beständen befand sich der Wohnraum mit schlechter Grundsubstanz, dazu noch an marginalen Standorten.
Sie hatten das Problem, dass sie im Wettbewerb mit den
besseren Wohnlagen nur den Kürzeren ziehen konnten.
Dass zudem auch private Haus- und Wohnungseigentümer in Schwierigkeiten ge raten würden, war nur eine
Frage der Zeit. Mancher hatte nämlich die 50-prozentige
Sonderabschreibung gern mitgenommen, dann aber entgegen allen guten Ratschlägen mit Kaltmieten zwischen
15 und 16 DM je Quadratmeter kalkuliert. Für mich ist bis
heute nicht nachvollziehbar, wie man von den Bürgerinnen und Bürgern in den neuen Bundesländern erwarten
konnte, dass sie bei Einkommen Ost Mieten West bezahlen sollten. Für derartiges wirtschaftliches Fehlverhalten
ist die Verantwortung bei diesen Menschen zu suchen. Ich
bin auch der Meinung, dass sie daraus die Konsequenzen
selbst zu tragen haben.
Aufgrund der Befristung der Sonderabschreibungen
konnte ja gar nicht schnel l genug gebaut werden, was
dazu führte, dass der Aufschwung der Bauwirtschaft im
Osten nur über eine kurzfristige Ausweitung der heimischen Kapazitäten und eine erhebliche Auftragsver gabe
an Westfirmen erfolgte. Schon seit Jahren ist im Osten
im Baugewerbe nichts mehr zu holen und die W estfirmen sind schon lange wieder zu Hause. Aber der heimischen Bauwirtschaft hat man in Sachsen dann noch vorgeworfen, sie sei schuld an den Überkapazitäten. An
einem weiteren Abbau der Überkapazitäten werden wir
gar nicht vorbeikommen. Ich kann jedenfalls im Augenblick keine andere Lösung erkennen. Wir können diesen
Abbau allenfalls durch gezielte Fördermaßnahmen zum
Beispiel im Rahmen der Altbausanierungsprogramme
abmildern.
Angesichts dessen frage ich mich allerdings, warum sich
die verehrten Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU
und der FDP so vehement ge gen die geplante Änderung
der Eigenheimzulage wehren. Gerade dadurch nehmen
wir einen Druck vom Wohnungsmarkt, werten insbesondere die Bestandserhaltung auf und entlasten zusätzlich
noch die Haushalte der Länder und Kommunen. Die
Kommunen können mit den dadurch eingesparten Geldern wieder entsprechende Maßnahmen durchführen.
Das hat offensichtlich auch der sächsische Ministerpräsident Milbradt erkannt. Er sagte vor einigen Tagen in der
Presse, dass er im Bereic h der Eigenheimzulage Änderungsbedarf sehe.
({2})
Die Maßnahmen im Rahmen des Stadtumbaus Ost
und die Altschuldenhilfe leisten einen unverzichtbaren und erheblichen Beitrag zur Marktentlastung sowie
zur Erhaltung der Wohnungsbauunternehmen und -genossenschaften und erhalten zudem dringend benötigte
Arbeitsplätze im Baugewerbe. Auch wenn in 2002
noch nicht die angepeilten 40 000 Wohnungen vom
Markt genommen werden konnten, so werden wir dieses Ziel in diesem Jahr sicherlich erreichen und vielleicht sogar übertref fen. In den nächsten acht Jahren
werden wir - wie angestrebt - 350 000 Wohnungen
vom Markt nehmen.
Es gibt nichts, was man nicht noch verbessern könnte.
Im Antrag der Kolleginnen u nd Kollegen gibt es durchaus Punkte, über die wir uns unterhalten können. Das haben Sie eben vor geschlagen, Herr Günther , und ich
stimme Ihnen hier auf jeden Fall zu.
Meine persönlichen Erfahrungen mit Verwaltungsvorschriften haben gezeigt, dass diese nicht unbedingt
mit den Zielen der ihnen zugrunde liegenden Gesetze
deckungsgleich sind. Dies gilt sowohl für den Bund als
auch für die Länder . Ich erinnere mich noch an das
Aufbaubeschleunigungsgesetz in Sachsen von 1994 als
eine Fortschreibung der damaligen Landesbauordnung. Die Verwaltungsvorschrift war viel dicker als das
Gesetz und konterkarierte viele der guten Intentionen
des damaligen Aufbaubeschleunigungsgesetzes. Daher
sollten Schwachstellen durchaus genannt und gegebenenfalls bereinigt werden. In dieser Hinsicht sind wir
für Vorschläge sehr offen.
Wir sollten uns Gedanken darüber machen, ob und
wie wir parallel zum Rückbau der Wohnungen auch den
Rückbau der kommunalen Infrastruktur finanzieren. Wir
müssen uns wirklich Gedanken machen in Bezug auf die
Bereiche Gas, Wasser, Abwasser und Fernwärme. Dort
gibt es gewaltige Probleme.
({3})
- Ich wollte nur darauf hinweisen, dass wir dazu wirklich Überlegungen anstellen müssen. Es steht im Auswertungsteil, aber nicht in dem anderen Teil. Über dieses
Thema müssen wir uns einfach einmal unterhalten. Das
ist ein großes Problem.
Wir haben noch eine ganze Menge zu tun. Die rotgrüne Regierungskoalition ha t die ersten und richtigen
großen Schritte gemacht. Es liegt an Ihnen, ob Sie uns
bei diesem Handeln weiterhin unterstützen. Dazu stehe
ich Ihnen gern zur Verfügung.
Danke schön.
({4})
Nächster Redner ist Kolle ge Manfred Grund, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Stadtumbau Ost braucht einen langen Atem.
Das haben wir nicht nur an der Rede des Kollegen Ernst
Kranz gemerkt. Kollege Kranz, glauben Sie uns: Auch
uns ist am Gelingen des Stadtumbaus Ost gelegen. Wenn
er allerdings gelingen soll, dann muss er wesentlich
schneller, effizienter und besser werden.
({0})
Ein Gelingen des Stadtumbaus Ost setzt einen Strukturwandel in der ostdeutschen Wohnungswirtschaft voraus,
weil 1,3 Millionen leer stehende W ohnungen bedeuten,
dass Angebot und Nachfrage auf dem Immobilienmarkt
einander überhaupt nicht entsprechen.
Wenn wir analysieren, warum der notwendige Strukturwandel in der Wohnungswirtschaft bislang noch nicht
geklappt hat, dann stellen wir fest: Wir haben einerseits
strukturell bedingte Leerstände, also Leerstände aufgrund struktureller Probleme in der V ergangenheit. Andererseits versuchen wir vonseiten der Politik zum T eil
ein bisschen halbherzig, diesen Prozess mit Programmen
zu begleiten.
Alle vorhandenen Programme, die wir auch akzeptieren und anerkennen, schieben diesen Strukturwandel an.
Solange wir jedoch keine se lbstständig handelnden Akteure am ostdeutschen Wohnungsmarkt haben, geht das
Ganze etwas ins Leere. Ich werbe daher nicht nur für unseren Antrag, sondern auch für das, was ich dann noch
im Einzelnen vortragen möchte: dass wir versuchen,
selbstständig handelnde Akteure am W ohnungsmarkt in
den neuen Bundesländern zu bekommen.
({1})
Warum ist ein schnellerer , besserer und ef fizienterer
Stadtumbau Ost so wichtig für den Aufbau Ost? W ir
sprechen sehr viel von den weichen Standortbedingungen. Dazu gehören natürlich das W ohnumfeld und das
Vorhandensein von Städten, in denen man sich wohlfühlt
und angenommen fühlt, aus denen man nicht gern weggeht, sondern von denen man sagt, das ist meine Heimat,
hier möchte ich bleiben. Aufwertung der Städte, verbesserte Lebensqualität und damit verbesserte Standortbedingungen sind nicht nur fü r den Stadtumbau Ost, sondern für den Aufschwung Ost insgesamt sehr wichtig.
Deswegen wurde dieses Thema auch im 13. Jahr der
deutschen Einheit zu dieser späten Stunde noch einmal
auf die Tagesordnung gesetzt. Ich glaube, wir sind gut
beraten, weiter an diesem Thema dranzubleiben.
({2})
Ich möchte etwas zu den Akteuren sagen, die wir vorfinden, so etwa Stadtplane r und Kommunen. Sie allein
können die Verbesserung der Standortstrukturen in den
neuen Bundesländern nicht aus eigener Kraft leisten. Sie
bemühen sich, viele auch mit sichtbaren Erfolgen. Dort,
wo sie erfolgreich arbeiten, merken wir: Wirtschaft und
Infrastruktur kumulieren um diese lebenswerten Städte
herum und der Wegzug hält sich in Grenzen. V on dort,
wo strukturelle Probleme vorhanden sind, wo es nicht
gelingt, sie aus eigenen Kräf ten zu lösen, ziehen die
Menschen weg. Die Probleme, die sie dann hinterlassen,
sind wesentlich größer. Jetzt können wir als Bund und
Länder noch einigermaßen ha ndeln und versuchen einiges anzupacken.
({3})
Ich möchte in diesem Zu sammenhang etwas zu den
Wohnungsbaugesellschaften und zu den Wohnungsbaugenossenschaften sagen. Diese haben noch keine
marktfähigen Strukturen gefunden. Sie sind noch nicht
zu handlungsfähigen Akte uren geworden. Bei einem
Leerstand von zum T eil 30 Prozent werden wir wohl
auch über Fusionen nachdenken müssen, damit diese
Wohnungsbaugesellschaften und W ohnungsbaugenossenschaften zu wirklich ha ndlungsfähigen Akteuren
werden.
Das Problem dabei ist folgendes: Wenn sich zwei Gesellschaften dieser Art zu sammenschließen, müssen sie
Grunderwerbsteuer zahlen und genau das verhindert
solche Zusammenschlüsse. Die Grunderwerbsteuer kann
pro Quadratmeter Wohnfläche durchaus bei 15 Euro liegen. Das summiert sich zu einer Größenordnung, die solche Gesellschaften oder Genossenschaften allein nicht
tragen können.
Die Lösung wäre aus unserer Sicht eine befristete Befreiung von der Pflicht zu r Zahlung der Grunderwerbsteuer. Da die neuen Bundeslä nder das nicht selbst regeln können, haben wir da s zum Gegenstand unseres
Antrags gemacht. Wir werben für eine solche Öffnungsoder Experimentierklausel. Das kostet nicht großartig
Geld. Das hält sich alles in Grenzen. Wir wollen keine
Steuererleichterungen schaffen und auch nicht wesentlich mehr Geld hineingeben, sondern durch den befristeten Verzicht auf die Erhebung der Grunderwerbsteuer
wirklich nur die Möglichkeit schaf fen, dass sich zwei
Genossenschaften oder Gesellschaften zusammenschließen, damit sie effizienter werden, größere Strukturen bekommen, einen höheren W ohnungsbestand verwalten
und das Management qualifizieren können.
({4})
Ich habe bewusst von einer Experimentierklausel
gesprochen. Das ist etwas, was die Bundesregierung, namentlich Bundesminister Stolpe und Bundesminister
Clement, in den letzten Wochen sehr oft an uns herangetragen und auch in die Öf fentlichkeit gebracht hat, ohne
es allerdings im Detail zu unterlegen. Ich werbe dafür ,
dass wir die Möglichkeit bekommen, in den neuen Bundesländern zeitlich befristet von der Erhebung der
Grunderwerbsteuer abzusehen, damit es uns gelingt, in
diesem Bereich Fusionen voranzutreiben, damit wir das,
was ich bereits aufgezählt habe, erreichen: zum Beispiel
überzähligen Wohnraum vom Markt nehmen, leistungsschwache Wohnungsunternehmen von Risiken befreien,
die letztlich auf die Kommunen, Städte und Gemeinden
durchschlagen, die ohnehin große finanzielle Probleme
haben, oder auch auf diejenigen, die Kredite ausgereicht
haben, nämlich Sparkassen und Genossenschaftsbanken.
Von daher werbe ich für diesen Vorschlag.
Ich denke, dass die Stabil isierung der ostdeutschen
Wohnungsunternehmen auch zu einem Stück mehr Normalität in Ostdeutschland beitragen kann. Deswegen
sollte uns allen daran gelegen sein, mit diesem Antrag,
der von der Union gestellt worden ist, oder auch mit dem
von der FDP oder gar mit einem gemeinsamen weiterzukommen. Wir sind da im Interesse der neuen Bundesländer sehr offen.
Herzlichen Dank.
({5})
Der Kollege Grund hat von der Zeitüberschreitung
zweieinhalb Minuten wieder hereingeholt. Das ist von
einem Parlamentarischen Geschäftsführer vorbildlich.
Dafür möchte ich mich bedanken.
({0})
Mit einer leichten Erwartung im Hinterkopf erteile ich
nun der Parlamentarischen Staa tssekretärin Iris Gleicke
das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! W ir alle wissen: Die Ursachen für die
Wohnungsleerstände im Osten sind vielfältig. Es geht
darum, dass unbewohnbare Wohnungen, die noch aus
DDR-Zeiten stammen, vorhanden sind. Es geht auch darum, dass Menschen abgewa ndert, der Arbeit hinterhergezogen sind. Es geht darum, dass Stadt-Umland-W anderungen stattgefunden haben und viele Neubaugebiete
entstanden sind. Es geht na türlich auch darum - das gehört zur Wahrheit dazu -, dass es eine viel zu lange währende sehr üppige steuerliche Förderung für den Neubau
gegeben hat.
Unsere Antwort auf die Le erstandskrise im Osten
heißt: Stadtumbau Ost. Wir wollen den notwendigen
Rückbau von Wohnungen nutzen, um die Städte aufzuwerten, um sie attraktiver zu machen und um sie als
Wohn- und Wirtschaftsstandorte nachhaltig zu stärken.
({0})
Wir müssen verhindern, dass der Leerstand selbst Ursache für weitere Abwanderung wird. Es geht also um
mehr Lebensqualität. Es geht - ich glaube, da sind wir
uns einig - um viel mehr als nur um die Marktbereinigung zugunsten der Wohnungswirtschaft.
({1})
Das Programm „Stadtumbau Ost“ ist jetzt ein Jahr alt.
In den letzten Wochen hat es manch harsche Kritik gegeben. Sehr geehrter Herr Kolle ge Nitzsche, ich halte Ihre
Kritik, die Sie hier geäußert haben, für überzogen. Sie ist
in einigen Punkten auch sc hlichtweg falsch. Es stimmt
nämlich einfach nicht, dass die Leerstände trotz des Programms „Stadtumbau Ost“ angewachsen sind. Das ist
einfach nicht wahr. Das sagt auch der GdW.
Trotzdem begrüßen wir selbstverständlich, dass Sie
einen Antrag vor gelegt haben, denn das gibt uns die
Chance, im Ausschuss weiter über den Stadtumbau zu
reden und die Diskussionen zu versachlichen. Ich darf
mich auch ausdrücklich, Herr Kollege Günther , bei der
FDP bedanken, die gestern m it ihrem Antrag schon zur
Versachlichung beigetragen hat. Der FDP-Antrag unterstreicht nämlich die Notwendigkeit des Programms
„Stadtumbau Ost“.
({2})
Meine Damen und Herren von der Opposition, wir
haben ja schon die meisten Ihrer Forderungen erfüllt.
({3})
Ich möchte hier dazu einiges anmerken: Wir haben es ermöglicht, dass die Bundesmittel für den Rückbau bzw .
für den Abriss auf den nach den Härtefallregeln in § 6 a
des Altschuldenhilfe-Gesetzes erforderlichen Landesbeitrag anrechnungsfähig sind.
({4})
Trotz aller Sparanstrengungen haben wir für diese Härtefallregelung 300 Millionen Euro zusätzlich zur V erfügung gestellt; das ist fast eine Verdopplung. Es stehen
jetzt 658 Millionen Euro für Härtefälle zur V erfügung.
Dieser Beitrag wird auch der Wohnungswirtschaft helfen.
({5})
Wir wissen selber, dass die Förderung von Wohneigentum im Bestand im Rahmen des Programms „Stadtumbau Ost“ nicht gut vorangekommen ist. Deshalb werden wir hier V ereinfachungen vornehmen: W ir heben
einige Beschränkungen auf und wollen eine pauschalierte Förderung einführen.
({6})
Auch das wird dazu führen, dass sich zunehmend Erfolge einstellen werden. Außerdem ermöglichen wir den
Ländern, mehr als 50 Prozent der Mittel für den Rückbau einzusetzen. Wir sind der Meinung, dass auch dieses
dazu führt, dass der Abriss schneller vonstatten geht.
({7})
Das alles zeigt, dass es Ihrer Forderung eigentlich gar
nicht bedurft hätte. Wir beobachten die Wirkung unseres
Programms selbstverständlich sehr genau. W ir haben
von Anfang an gesagt, dass wir ein „lernendes Programm“ wollten; das ist es auch.
({8})
Dieses Programm existiert - ich sage es noch einmal,
Herr Kollege Nitzsche - erst seit einem Jahr und wir haben damit Neuland betreten, denn Abriss war vorher nie
ein Thema für uns. Wir haben hier dennoch viel erreicht.
Ich habe zwar nichts gegen Kritik, aber es är gert mich
dann doch, wenn sich jemand hierher stellt und das
ganze Programm locker floc kig als Flop bezeichnet;
denn der zieht damit auch die Arbeit der Kommunen, der
Stadtplaner und der W ohnungsunternehmen in den
Dreck.
({9})
Meine Damen und Herren, ich bleibe dabei: W ir haben mit der ersten Etappe einiges erreicht. Herr Kollege
Kranz hat schon den W ettbewerb und die vielen Stadtumbaukonzepte angesprochen, die entwickelt worden
sind und einen W eg zum Stadtumbau im Osten aufzeigen, denn ohne Zielbestimmung einen Weg zu beschreiten ist nicht möglich. Wir wollten ja nicht frei nach dem
Motto agieren: Wir bauen auf und reißen nieder , Arbeit
gibt es immer wieder . Gemäß diesem alten S pruch aus
DDR-Zeiten wollten wir die Sa che nicht angehen. Insofern sind integrierte Konzepte wichtig. Mit dem W ettbewerb „Stadtumbau Ost“ haben wir 260 Kommunen
sozusagen angefeuert, solche Konzepte zu erstellen. Die
Auszeichnungen zeigen, dass hi er sehr erfolgreiche Arbeit geleistet wurde. Es ist nun nicht fair, sich hinzustellen und zu sagen: Jetzt sind die Konzepte da, aber warum sind sie noch nicht umgesetzt? - Liebe Leute, es
dauert einfach eine Weile. Natürlich haben wir hier eine
Aufgabe zu bewältigen, die längere Zeit in Anspruch
nimmt.
Wir haben das Programm sehr zügig umgesetzt.
197 Gemeinden wurden in das Stadtumbauprogramm
2002 aufgenommen; sie erhalten von Bund und Ländern
153 Millionen Euro für den Rückbau von mindestens
45 000 Wohnungen. Das ist übrigens etwas mehr als ein
Achtel der 350 000 abzureißenden Wohnungen. Somit
liegen wir vollständig im Plan, da wir in diesem Jahr ein
Achtel abreißen und das Programm auf acht Jahre angelegt ist. Wer kann denn vor diesem Hintergrund behaupten, dass der Stadtumbau nicht in Gang käme? Er kommt
in Gang und das ist auch gut so.
({10})
Wir gehen darüber hinaus davon aus, dass mit zunehmender Abarbeitung auch der Abriss billiger wird, weil
man neue T echnologien finden wird. Auf dem Leerstandskongress, den Sie angesprochen haben, gab es
durchaus interessante Beiträg e, in denen erläutert worden ist, wie man auch billig er abreißen kann. Insofern
gehen wir davon aus, dass im V erlauf des Vollzugs dieses Programms immer mehr W ohnungen abgerissen
werden können.
Neben den Punkten, die wir schon abgearbeitet haben
- zum Beispiel die Bevorz ugung der Wohnungsunternehmen bei der V ergabe von Abrissmitteln, die Härtefallmittel in Anspruch nehmen, oder dass wir uns nicht
mehr so eng auf Förder gebiete begrenzen, sondern im
Einzelfall auch woanders ei nen Abriss ermöglichen -,
will ich hier sehr deutlich sagen: W ir werden Lösungen
finden, die verhindern, dass die Bereitstellung der Kassenmittel in Jahresraten den Rückbau unnötig verzögert.
Wir prüfen derzeit gemeinsam mit den Ländern, wie wir
das Problem lösen können, ohne die öf fentlichen Haushalte zusätzlich zu belasten. Wir wollen praktikable Zwischenfinanzierungen ermöglichen. Ich denke, das ist
ganz wichtig; die Wohnungswirtschaft braucht das. Wir
kommen da auch gut voran.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie wirklich ganz
herzlich, den Stadtumbau mit uns gemeinsam als Chance
zu nutzen und sich dem Th ema sachlich zu nähern.
Ebenso herzlich bitte ich Sie, mit der gleichen Vehemenz
auch die anderen Akteure, nämlich die Länder und Kommunen, aufzufordern, sich dem Stadtumbau zu widmen,
sodass wir vorankommen.
({11})
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der V orlagen auf
den Drucksachen 15/352 und 15/750 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor geschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist of fensichtlich der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Dr . Friedbert Pflüger,
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Gegen Terror, Völkermord und Hungerkatastrophe in Simbabwe, um Destabilisierung des südlichen Afrikas zu vermeiden
- zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Wimmer ({1}), W alter Riester, Karin
Kortmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Katrin
Dagmar Göring-Eckardt, Krista Sager und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Hungerkatastrophe in Simbabwe weiter
bekämpfen - Internationalen Druck auf
die Regierung Simbabwes aufrechterhalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Löning, Ulrich Heinrich, Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Gemeinsame europäisch-afrikanische Initiative zur Lösung der Krise in Simbabwe
starten
- Drucksachen 15/353, 15/428, 15/429, 15/613 Berichterstattung:
Abgeordnete Rudolf Kraus
Brigitte Wimmer ({2})
Hans-Chistian Ströbele
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stun de vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich erteile zunächst dem Abgeordneten Siegmund
Ehrmann für die SPD-Fraktion das Wort.
({3})
Herr Präsident! Meine Da men und Herren! In der
Mitte Februar geführten Debatte über die bedrückende
Situation in Simbabwe stimmten alle Fraktionen in der
Analyse der Ursachen, ihrer Bewertung und den notwendigen Schlussfolgerungen weit gehend überein. Dass wir
uns nunmehr auf einen gemeinsamen Antrag verständigen können, unterstreicht, dass der Deutsche Bundestag
geschlossen dazu beitragen will, den Druck auf Mugabe
und seine Komplizen zu verstärken.
({0})
Die jüngste Entwicklung zeigt, dass in Simbabwe und
seinem Umfeld offenkundig einiges in Bewegung geraten ist. Gerade dieser aktu elle Kontext muss uns darin
bestärken, die mit dem vor liegenden Antrag verbundenen Forderungen umso deutlicher zu erheben. Es geht im
Einzelnen um Folgendes:
Die Regierungen der Entwicklungsgemeinschaft des
Südlichen Afrika müssen gedrängt werden, den Kurswechsel zu flankieren, um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, letztendlich aber auch die W iederherstellung
der landwirtschaftlichen Infrastruktur zu gewährleisten.
({1})
In der Entwicklungsgemeinschaft des Südlichen Afrika
liegt auch der Schlüssel dazu , dass der Konflikt in Simbabwe bewältigt und nicht darüber hinaus getragen wird.
Eine besondere Verantwortung für die Befriedung
- auch das haben wir in der Februardebatte festgestellt kommt der südafrikanischen Regierung und den
NEPAD-Partnerstaaten zu.
Wir haben festgestellt und das in unserem Antrag als
Forderung erhoben, dass es weiterhin richtig ist, die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit ruhen zu lassen.
Bei der desaströsen Ernährungslage ist es aber unerlässlich, humanitäre Sofort maßnahmen der Nichtregierungsorganisationen und der Kirchen zu fördern. Das
versteht sich von selbst.
({2})
Wir machen aber zugleich deutlich: Sobald rechtsstaatliche demokratische V erhältnisse hergestellt sind,
wird sich unser Angebot der Entwicklungszusammenarbeit vornehmlich auf die Förderung einer funktionstüchtigen Landwirtschaft und auf die Stabilisierung des
Rechtsstaates und der Zivilg esellschaft erstrecken müssen. Schließlich entspricht es unserem geopolitischen
Grundverständnis und ist es nur allzu logisch, die Forderung zu erheben, dass die Situation in Simbabwe auf die
Tagesordnung des UN-Sicherheitsrates gehört.
({3})
Staatsminister Bury hat in diesem Hause über die darauf
ausgerichteten Konsultationen der europäischen Staaten
berichtet. Ich hoffe, dass es gelingt, die Vorbehalte Chinas und der afrikanischen Staaten aufzulösen.
Die EU hat zwischenzeitlic h, nämlich Mitte Februar ,
ihre Sanktionen gegen Simbabwe verlängert. Davon
sind Gelder, Vermögenswerte und wirtschaftliche Ressourcen der Regierungsmitglieder und der ihnen nahe
stehenden Personen betroffen. Überdies besteht ein Ausfuhrverbot für Ausrüstungen, die dem Repressionsapparat nützen könnten. Dass di rekte oder indirekte Militärhilfe untersagt bleibt, versteht sich von selbst. Dies ist
sicherlich ein gutes Signal aus Europa, auch wenn es aus
meiner Sicht durch die Plattform, die Mugabe auf dem
französischen Afrika-Gipfel in Paris geboten bekam, getrübt wird.
Gleichwohl haben sich die innenpolitische Situation
und die Ernährungslage in Simbabwe weiter verschärft.
Der Oppositionsbewegung wurde von so manchem
Beobachter nicht mehr allzu viel zugetraut, aber sie entfaltet offenbar neue Kraft und Energie. Ihr Streikaufruf
zum Jahrestag der manipulierten W ahlen wurde landesweit befolgt und hatte ei ne enorme Resonanz. Dem
zweitägigen Streik am 18. und 19. März 2003 folgten in
den großen Städten Harare u nd Bulawayo so viele Beschäftigte, dass nahezu alle Betriebe lahm gelegt waren.
In dieser Situation ist es ein gutes Zeichen, dass die
Oppositionspartei Bewegung für den demokratischen
Wandel trotz der von Mugabes Regime or ganisierten
Gewalt bei den Nachwahlen zum Parlament Ende März
beide neu zu besetzenden Wahlkreise deutlich gewonnen
hat.
({4})
Das verleiht im Übrigen auch dem Ende März ausgelaufenen MDC-Ultimatum an die Regierung Nachdruck.
Die darin erhobenen Forderungen zielten darauf ab, die
politischen Gefangenen freiz ulassen, die Bür gerrechte
wiederherzustellen und die Milizen aufzulösen. Das Ultimatum ist inzwischen abge laufen, ohne dass Mugabe
reagiert hat. Die politische Atmosphäre ist of fenbar extrem angespannt. Es hat al lerdings den Anschein, dass
die Oppositionellen äußerst besonnen agieren.
Dass die Regierung zu allem fähig ist, hat sich in den
letzten Wochen erneut gezeigt. Auf den Streik von Mitte
März reagierte das Regime mit einem brutalen Rachefeldzug. 400 Anhänger der Opposition wurden verhaftet,
davon etwa 250 schwer misshandelt und mit zerschundenen Körpern in Krankenhäuse r eingeliefert. Berichten
zufolge sind die Zustände in den Krankenhäusern, Polizeizellen und Foltercamps unsäglich.
Menschen, die ganz nah dran sind, beobachten eine
neue Qualität von Gewalt. In der V ergangenheit gingen
die Anhänger der Regierungsparteien und die Veteranen
des Buschkrieges eher unkontrolliert und willkürlich vor.
Jetzt sind es Polizeikräfte und Armeeangehörige, die
systematisch agieren und Oppositionelle stellen. Es wird
berichtet, in Bulawayo seien Soldaten anhand von Listen
mit den Namen und Adressen der Oppositionspolitiker
von Tür zu Tür gegangen. Di e Verhafteten wurden sodann auf dem Weg zu den Polizeizellen schwer misshandelt.
Die Ereignisse der letzten W ochen passen zu den
Drohungen von Mugabe. Jene, so Mugabe, die mit dem
Feuer spielten, würden sich nicht nur ihre Finger verbrennen, sondern sogar riskieren, von den Flammen verschlungen zu werden. V ieles deutet darauf hin, dass
Mugabe im W indschatten des Irakkrieges mit denen
Rechnungen begleicht, die sich seinem Machtanspruch
entgegenstellen.
Umso wichtiger ist es, dass nicht nur die Europäische
Union ihre Möglichkeiten wirksam nutzt. Nachhaltig
muss deshalb auch von de n südafrikanischen Staaten,
insbesondere von der NEP AD-Initiative, ein widerspruchsfreies Verhalten erwartet werden. Ich persönlich
werte es als wenig hilfreich, wenn der südafrikanische
Präsident Mbeki apelliert, Simbabwe nach einjähriger
Suspendierung als vermeintlich normalisierten Staat
wieder in den Commonwealth aufzunehmen.
Doch offenbar ist Südafrika zu neuen Positionierungen gegenüber Simbabwe bere it. In der jüngsten Parlamentsdebatte, so wird berich tet, hat Ministerpräsident
Mbeki deutliche Worte gegen die Unterwanderung des
Rechts in Simbabwe formulie rt. Ob Südafrika nicht nur
verbal, sondern auch ökonomisch reagiert, muss sich
noch herausstellen. Es ist richtig, dass die Republik Südafrika aufgrund ihrer hervor gehobenen ökonomischen
und politischen Stellung im südlichen Afrika in besonderer Weise an ihre V erantwortung erinnert und in die
Pflicht genommen wird.
({5})
Ziel der internationalen Staatengemeinschaft muss
sein, den Druck auf Mugabe so zu erhöhen, dass in Simbabwe die Menschen- und Bür gerrechte wiederhergestellt werden und dass sich demokratische Strukturen
entwickeln können.
({6})
Wir können nicht hinnehmen, dass sich despotische
Regime im W indschatten des Irakkonfliktes brachial
durchsetzen. Gelingt es nicht, die Krise in Simbabwe zu
bändigen, wird sich ein daue rhafter regionaler Krisenherd entwickeln, der wie ein Geschwür alle Ansätze für
eine breite politische, ökonomische und soziale Emanzipation zerstört. In diesem Sinne bitte ich, dem Antrag
zuzustimmen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Herr Kollege Ehrmann, auch Ihnen möchte ich im
Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag herzlich gratulieren und wünsche Ihnen alles
Gute für die weitere Arbeit.
({0})
Nun erteile ich dem Kollegen Rudolf Kraus für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Interesse der Weltöffentlichkeit richtet sich derzeit fast ausnahmslos auf den Krieg im Irak. Kriegerische Auseinandersetzungen und Notsituationen vor
allem in Afrika bleiben deshalb weit gehend unbemerkt.
Das kann uns aber nicht daran hindern, von unserer Seite
auf diese Situation hinzuweise n. Es ist notwendig, dass
wenigstens wir die Notsituation dieser Länder weiter beobachten.
({0})
Der weltweite Druck auf das Regime in Simbabwe
darf keinesfalls nachlassen. Der Irakkrieg hat die jüngste
gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Opposition
und Präsident Mugabe überschattet. Am 18. und 19.März
dieses Jahres legte ein Stre ik das gesamte Land lahm.
BBC-Berichten zufolge - mein Vorredner hat es bereits
erwähnt - wurden 400 oder 500 Menschen inhaftiert und
mehrere Hundert verletzt. Menschenrechtsbeobachter berichten von grausamen Misshandlungen. Dass dieser
Streik trotz der Terrorherrschaft Mugabes überhaupt zustande kam, lässt auf die verzweifelte Lage der Bevölkerung schließen.
Simbabwe war früher die Perle Afrikas und hinter Südafrika die stärkste V olkswirtschaft Afrikas. Außerdem
exportierte das Land Nahrungsmittel. Seit nunmehr
23 Jahren regiert Präsident Robert Mugabe. Er hat das
Land mit Korruption, W illkür und Diktatur in ein wirtschaftliches und humanitäre s Desaster gestürzt. W egen
der Enteignung der weißen Farmer ist die Landwirtschaft praktisch zusammengebrochen. Eigenartigerweise
fragt man in der Öf fentlichkeit kaum nach dem Schicksal dieser Farmer. Auch das sollte einmal von uns aufgegriffen werden.
({1})
Nach Angaben des Welternährungsprogramms der
Vereinten Nationen müssten monatlich 200 000 Tonnen
Weizen oder Mais geliefert werden, um die Bevölkerung
zu versorgen. Die Regierung und die Hilfsorganisationen
zusammen können aber höchste ns ein Drittel davon bereitstellen.
Gestern war der Direktor des W elternährungsprogramms bei uns zu Gast im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, im A wZ. Er
sprach im Zusammenhang mit Simbabwe von einer humanitären Katastrophe außerhalb jeder V orstellung.
7,2 Millionen von 13 Millionen Einwohnern sind vom
Hunger bedroht. 75 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Es gibt 780 000 Aidswaisen.
34 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind HIV-infiziert. Dies ist eine grauenvolle Zahl. Man kann sich vorstellen, dass damit natürlich der Ausfall großer Teile der
arbeitsfähigen Bevölkerung verbunden ist. Die Arbeitslosenquote beträgt 80 Prozent. Nach Angaben des IWF
wird die Inflationsrate heuer etwa 500 Prozent betragen.
Die Auslandsschulden des Landes liegen bei circa
5 Milliarden Dollar.
Es gibt Berichte, wonach die Zuteilungen, die von außen in das Land kommen, zwar durch die Regierung verteilt, aber häufig im Zusammenhang mit der Frage, wer
zur Staatspartei gehört und wer nicht, manipuliert werden.
Deutschland, die Bundesrepublik, hat die bilaterale
staatliche Entwicklungszusammenarbeit mit Simbabwe im Mai 2000 weitest ge hend und seit Juni 2002
vollständig eingestellt. Um das Leid der Bevölkerung zu
lindern, unterstützt die Bundesrepublik jedoch Nichtregierungsorganisationen und Kirchen sowie humanitäre
Hilfsprojekte und Nahrungsmittelprogramme. Damit ist
natürlich eine indirekte Hilfe für das Regime selber verbunden. Aber man sollte, so glaube jedenfalls ich, aufgrund des Schicksals der Be völkerung diese unliebsame
Nebenwirkung in Kauf nehmen.
Seit Februar 2002 be stehen außerdem Sanktionen,
die die Europäische Union gegen führende Mitglieder
der Regierung Simbabwes verhängt hat. Diese Sanktionen wurden nun bis Februar 2004 verlängert. Im März
vergangenen Jahres wurde Simbabwe die Mitgliedschaft
im Commonwealth aufgekündigt. Dennoch haben Nigeria und Südafrika die W iederaufnahme Simbabwes gefordert. Das zeigt, dass Mugabe immer noch mit der Unterstützung einiger Staaten im südlichen Afrika rechnen
kann.
Hier ist natürlich insbesondere Südafrika zu nennen.
Dieses Land stellt Simbabwe T reibstoff, Energie und
Kredite zur Verfügung. Der südafrikanische Staatschef
Mbeki nennt seine Politik „sti lle Diplomatie“. Es ist zu
hoffen, dass die auf den Streik folgende W elle der
Gewalt den Präsidenten Mbeki veranlassen könnte, diese
Politik zu überdenken.
Die Konzentration auf die humanitäre Situation im
Irak darf den Blick auf die ka tastrophale Lage in Simbabwe nicht verstellen. Mit dem gemeinsamen Antrag
aller Fraktionen unterstreicht der Bundestag nachdrücklich, dass alle im deutschen Parlament vertretenen Fraktionen in dieser Frage gleicher Auffassung sind.
({2})
Simbabwe braucht einen Kurswechsel in Richtung
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Außerdem muss die
landwirtschaftliche Infrastruktur wiederher gestellt werden. Wie sonst könnten Armut und Arbeitslosigkeit bekämpft werden?
Die Regierungen der Entwic klungsgemeinschaft des
südlichen Afrika tragen eine besondere V erantwortung.
Sie sollten mithelfen, den Druck auf Mugabe zu verstärken. Der von Südafrikas Staa tschef propagierte Weg der
„stillen Diplomatie“ unterstützt Simbabwes Weg in das
Chaos. Die Bundesregierung sollte alles in ihren Kräften
Stehende tun, damit Südafrika seine Haltung gegenüber
diesem korrupten Regime in Simbabwe umgehend überdenkt.
({3})
Der AwZ begrüßt, dass die Bundesregierung angesichts der drohenden Hunger katastrophe die Initiativen
der Kirchen und der Nichtregierungsor ganisationen wie
auch Nahrungsmittelprogramme und humanitäre Hilfsmaßnahmen verstärkt fördern will.
Ich bedanke mich.
({4})
Nächster Redner ist der Abgeordnete Markus Löning
für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Situation in Simbabwe hat sich se it unserer Debatte im Februar leider kein Stück verbessert. Im Gegenteil: W ir
müssen feststellen, dass sich sowohl die Menschenrechtssituation als auch di e Ernährungslage weiter verschlimmert haben.
Die Opposition in Simbabwe hat Mitte März einen
Generalstreik organisiert, an dem sich zwischen 70 und
100 Prozent der Bevölkerung beteiligt haben. Ich glaube,
das ist ein deutliches Signal dafür , wie wenig Rückhalt
Robert Mugabe noch in seinem eigenen Land hat. Ich
glaube auch, dass es ein deutlicher Appell an die internationale Staatengemeinschaft und damit auch an uns ist,
die Bevölkerung in Simbabwe in ihrem Kampf für einen
friedlichen Wandel zu unterstützen.
({0})
Während des Streiks hat es Hunderte von Festnahmen
gegeben; das ist hier scho n erwähnt worden. Unter den
Festgenommenen waren übrigens auch Abgeordnetenkollegen vom MDC. Es gibt Berichte über Misshandlungen an Demonstranten. Es gibt Berichte über Grausamkeiten der Sicherheitsbehörden an Festgenommenen. Es
ist schon schlimm genug, dass dies passiert, und zwar
schon seit Monaten. Was das Ganze noch verschlimmert,
ist, dass das ganz of fensichtlich systematisch betrieben
wird, auf Druck und auf direkten Befehl von Robert
Mugabe. Das müssen wir mit aller Entschiedenheit zurückweisen, meine Damen und Herren.
({1})
Der Prozess gegen den Oppositionsführer wird fortgeführt. Es werden nur Be lastungszeugen gehört. Der
stellvertretende Vorsitzende des MDC ist inzwischen
verhaftet. Auch der Oppositi onsführer selber wird offen
und öffentlich mit Verhaftung bedroht. Das können wir
nicht hinnehmen. W ir können auch nicht die Art und
Weise hinnehmen, wie Mugabe sich schon fast stolz als
Hitler Afrikas bezeichnet. Da s ist unerträglich, meine
Damen und Herren.
({2})
Auch bei der Ernährungslage gibt es leider kein verbessertes Bild. Herr Kraus hat es schon geschildert: Gestern war der Direktor des UN-W elternährungsprogrammes bei uns. Er hat uns ein dramatisches Bild von der
Situation gezeichnet. Die Kornkammer Afrikas, bei der
das Welternährungsprogramm früher selber Getreide
eingekauft hat, ist nicht einmal mehr in der Lage, ein
Drittel ihrer Bevölkerung zu ernähren. Auch die Missstände bei der Verteilung der Nahrungsmittel wurden angesprochen. Die Wirtschaft ist zerschlagen. Es gibt eine
Hyperinflation. Diese Aufzählu ng ließe sich noch fortführen. Es ist wirklich Zeit, das sich in Simbabwe etwas
ändert.
Daher möchte ich noch einmal ausdrücklich begrüßen, dass wir uns hier auf einen gemeinsamen Text geeinigt haben;
({3})
denn es ist aus unserer Si cht wichtig, dass vom Deutschen Bundestag das Signal ausgeht: Wir, das deutsche
Parlament, unterstützen den friedlichen W andel in Simbabwe. Wir unterstützen die Opposition bei ihrem friedlichen Kampf für die Durchsetzung von Menschenrechten, für eine V erbesserung der Ernährungslage, für ein
menschenwürdiges Leben in Simbabwe.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile das W ort dem Abgeordneten Christian
Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege Ehrmann, der Ausschussvorsitzende und
auch der Kollege Löning ha ben die Situation, wie sie
derzeit in Simbabwe ist, ge schildert. Ich will gar nicht
viel hinzufügen; ich will nu r ein paar persönliche Bemerkungen dazu machen.
Für mich ist dieser Anlass , über Simbabwe zu reden,
auch ganz persönlich - ich gl aube, das geht auch anderen aus meiner Fraktion so - eine sehr traurige, schmerzliche Angelegenheit. Es macht uns aber auch wütend,
und zwar nicht nur, weil Simbabwe, das frühere Rhodesien, einmal eines der fort schrittlichsten Länder Afrikas
gewesen ist mit einer funkti onierenden Landwirtschaft
und blühenden Landschaften - es war die Kornkammer
Afrikas -, dem wir jetzt Hilfe geben müssen, weil die
Menschen hungern; Sie haben auf die Einzelheiten hingewiesen. Es macht uns auch wütend, weil der jetzige
Staatspräsident Mugabe früher von uns, von Deutschland aus, mit großer Solidarität und Hilfsbereitschaft begleitet worden ist, als er im Befreiungskampf von der
britischen Kolonialherrschaft als Befreiungskämpfer und
Mitorganisator der Befreiungsbewegung Großes geleistet hat.
Das hat uns zu ungeheuren Hof fnungen Anlass gegeben, weil er nach der Befreiung einen scheinbar vernünftigen Kurs gefahren hat. Er war derjenige, der den Briten
und den englischen Landbesitzern in Rhodesien bzw. im
späteren Simbabwe eine Zukunft zugesagt hat, sie im
Land gelassen hat und versucht hat, das Land gemeinsam mit den ehemaligen Kolo nialherren zu entwickeln.
Mugabe war für mich und andere eine Figur in der Geschichte Afrikas, die - man traut sich das heute fast nicht
mehr zu sagen - eine ähnlic he Signalwirkung hatte wie
Nelson Mandela und andere Persönlichkeiten im südlichen Afrika.
Umso schmerzlicher und trauriger ist es, jetzt feststellen zu müssen, dass viele Ländereien, die nicht mehr den
weißen Farmern gehören, sondern schwarzen Großgrundbesitzern aus der Machtclique von Mugabe, brachliegen. Diese Situation besteht nicht erst seit wenigen
Monaten, sondern schon seit längerer Zeit. Ich war während der Phase der ersten Landbesetzung mit meinem
Ausschuss in Simbabwe. Dort haben wir uns die Lage
angesehen und haben mit den Leuten gesprochen.
Ich sage das alles jetzt aber auch deshalb, weil ich davon ausgehe, dass uns die Botschaft Simbabwes zusieht.
Sie hat sich an den Deutschen Bundestag, vor allem an
die CDU/CSU-Fraktion, gewendet und in einem frechen
Brief anlässlich des ersten An trags, den Sie hier gestellt
haben, Empörendes mitgeteilt: Diese Hungerkatastrophe
und die Zustände, die in Simbabwe herrschen, seien Folgen einer Naturkatastrophe, eines Klimawechsels, einer
Dürre oder einer Regenkatast rophe. Ich kann dieser Regierung nur sagen: Das alles, was sie nach außen verkündet hat, ist nicht wahr.
({0})
Sie versucht, das der W eltgemeinschaft zu verkaufen,
um von dem abzulenken, was Mugabe mit seiner Regierungsmannschaft angerichtet hat. Im Deutschen Bundestag haben wir festgestellt, dass sie durch das, was sie gemacht hat, frühere Sympathie für den neu an die
Regierung gekommen Mugabe und seine Leute, die in
Europa, in Afrika und in de r Welt sehr lange angehalten
hat, verspielt hat.
Heute stellen wir fest - so schmerzlich es auch ist -:
Es gibt keinen anderen Weg, als zu versuchen, dass dortige Regime zu isolieren. Ic h verspreche mir nicht, dass
das Regime nur deshalb in die Knie geht, weil wir die
staatliche Entwicklungszusammenarbeit eingestellt haben. Dieses Vorgehen ist aber ein wichtiges Zeichen für
Afrika und für Europa, das zeigt, dass wir das durchhalten und konsequent betreiben. Das, was der französische
Staatspräsident auf dem Empfang praktiziert hat, muss
ein Ausrutscher bleiben. Ich glaube, der Deutsche Bundestag tut gut daran, das zu kritisieren, bei aller Freundschaft zu Frankreich und zum französischen Staatspräsidenten. Das war nicht richtig. Das kritisieren wir heftig.
({1})
Wenn wir uns fragen, wie es weiter geht, dann muss
klar sein - das er gibt sich auch aus dem gemeinsamen
Antrag -, dass der Schlüssel für den Wechsel dieses Regimes ganz unzweifelhaft be i den Nachbarländern liegt.
Die Verantwortung liegt in erster Linie bei Südafrika.
Südafrika ist das mit Abstand größte und einflussreichste
Land, dessen Staatspräsident nach wie vor sehr enge Beziehungen zu Simbabwe hat. W ir gehen deshalb davon
aus, dass er seinen Einfluss dort geltend machen kann.
Er muss ihn auch geltend machen. Er trägt eine hohe
Verantwortung dafür, dass sich die Verhältnisse dort ändern.
Lassen Sie mich eine le tzte persönliche Bemerkung
machen. Ich bin nach wie vor der Meinung, auch nach
meinem Besuch mit dem Ausschuss in Simbabwe, dass
eine Landreform, eine gerechte Landverteilung in diesem Land notwendig ist. Bei aller Kritik sowie bei allen
Forderungen nach einer grundlegenden Veränderung der
gesellschaftlichen Verhältnisse und der Rücknahme der
Repressionen fordere ich noch immer eine gerechte
Landverteilung.
Herr Kollege, Sie müssten jetzt wirklich zum Ende
kommen.
Diese muss aber dazu führen - das ist mein letzter Satz -,
dass die neuen Farmer die Ländereien in den Stand versetzen, dass sie diese Ländereien nachhaltig und ertragbringend bewirtschaften können. Das heißt: W enn sich
die Verhältnisse dort geändert haben, brauchen sie in der
Entwicklungszusammenarbeit unsere finanzielle Unterstützung, aber auch unsere Unterstützung beim Knowhow. Diese sagen wir ihnen zu. Wir werden sie unterstützen, sobald sich die Verhältnisse dort demokratisiert und
rechtsstaatlich gestaltet haben.
({0})
Letzte Rednerin zu diesem T agesordnungspunkt ist
die Kollegin Anke Eymer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen und Koll eginnen! Wir wissen, dass
die politische Situation in Simbabwe destabil und bedenklich ist. Fortgesetzt fi nden Menschenrechtsverletzungen statt. Millionen von Menschen in Simbabwe sind
durch Hunger und Gewalt gefährdet. Das macht ein
deutlicheres internationales Handeln notwendig.
Es ist begrüßenswert, dass sich die Fraktionen diesbezüglich zu einem gemeinsa men Antrag entschließen
konnten. Bedauerlich ist, da ss der für diesen Monat geplante EU-Afrika-Gipfel in Lissabon nicht stattfinden
kann. Wir erleben in Simbabwe eine politische und humanitäre Katastrophe. Dies geht Hand in Hand mit dem
Niedergang eines noch vor wenigen Jahren wirtschaftlich blühenden Landes. Um einen Regierungswechsel in
Simbabwe zu erreichen, ist die Geschlossenheit der internationalen Staatengemeinschaft unverzichtbar.
Zusätzlich muss den gemeinsamen politischen Aktionen ein nachhaltiges Konzept zugrunde gelegt werden.
Dabei sollten wir auf die Ansätze und Strukturen
schauen, die im südlichen Afrika schon bestehen. Unsere
Bemühungen dürfen aber nich t über den afrikanischen
Anstrengungen stehen. Das könnte als neokoloniale Bevormundung missverstanden werden. Bei der Konfliktlösung und bei der Entwicklung der gesamten Region ist
Afrika in seiner führenden Verantwortungsposition anzuerkennen. Jene Prinzipien des demokratischen Aufbruchs, die im südlichen A frika schon bestehen, gilt es
zu beachten und zu unterstützen. Nur so kann die Afrikanische Union zu einer politisch handlungsfähigen
Anke Eymer ({0})
Organisation werden, die letztlich auf dem gesamten
Kontinent für eine politische und wirtschaftliche Renaissance eintreten kann.
Für die Stabilität und die Akzeptanz ist es wichtig,
Afrika zu einem Produkt seiner eigenen Bevölkerung
und Gesellschaft und damit zu einem gleichberechtigten
Partner für die übrige Welt zu machen.
({1})
Bei der Kardinalfrage geht es darum, dass das aufzubauende Programm ein afrikanisches Programm sein muss.
Die für seine Umsetzung erforderlichen Beziehungen
müssen auf dem Gleichheitsgrundsatz und auf gegenseitigem Respekt beruhen. Das is t die klare Vision, die Afrika für den ef fektiven Umgang mit seinen Problemen
und für seine Entwicklung braucht.
Die Afrikanische Union und die NEPAD sind die geeigneten Instrumente für die praktische Umsetzung des
afrikanischen Potenzials. Im Zeitalter des globalen Wettbewerbs kann Afrika so Einf luss auf der Weltbühne gewinnen. Die Entwicklung, die wir in Deutschland und
Europa unterstützen können, zielt auf eine Verbesserung
der Qualität des Lebens der Menschen. Dabei gilt, dass
die Vorbedingung für die Qualität und die Nachhaltigkeit
der Lebensbedingungen die Qualität der jeweiligen Regierung ist.
Konzeptionell zusammengefasst heißt das interafrikanisch: Afrika muss in die La ge versetzt werden, die Lebensqualität seiner Völker selbst erhalten und fördern zu
können.
({2})
Afrikanische Charakteristika in Kultur und Se lbstbewusstsein sind zu fördern und zu schützen.
({3})
Auf dem W eg zu einer supranationalen und politisch
handlungsfähigen Vereinigung der afrikanischen Staaten ist es für Afrika notwendig, die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politisch en Prozesse selbst in die
Hand nehmen zu können.
Global heißt das, dass eine Modernisierung der Produktionssysteme der Regionen und des Kontinents zu einer Wettbewerbsfähigkeit auf dem W eltmarkt führen
muss. Das darf nicht nur für einzelne Staaten gelten, sondern muss für den gesamten Kontinent gelten. Es beinhaltet die Anerkennung Afrikas als gleichberechtigten
und verlässlichen Partner.
Dies entspricht Überlegungen und Prinzipien, die in
der südafrikanischen Fort-Hare-Universität, der Universität der Schwarzen in Afrika, entwickelt wurden. Es
gilt, diesen Prinzipien durch eine europäische Afrikapolitik zum politischen Erfolg zu verhelfen. Das Ziel einer
solch afrikanischen Entwicklung, die auch bei der konkreten Behandlung der Krise in Simbabwe nicht aus den
Augen verloren werden darf, kann nur im Sinne
Deutschlands und Europas liegen.
Schließen möchte ich mit einem Wort des ehemaligen
Präsidenten der Republik Botsuana, Sir Ketumile
Masire:
Niemand hat jemals wirklich Gewinne, die durch
das Blut und Elend Unschuldiger errungen wurden,
dauerhaft behalten, ohne sein Leben durch das gleiche Schwert zu verlieren, das er selbst geführt hat.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
auf Drucksache 15/613. Der Ausschuss empfiehlt, die
Anträge auf den Drucksachen 15/353, 15/428 und 15/429
zusammenzuführen und unter der Überschrift „Internationalen Druck auf die Regierung Simbabwes aufrechterhalten, um eine Destabilisierung des südlichen Afrikas
zu vermeiden“ in der Ausschussfassung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - W er
stimmt gegen diese Beschlussempfehlung? - Enthaltungen? - Damit ist diese Beschlussempfehlung einstimmig
angenommen.
({0})
Ich rufe nun die T agesordnungspunkte 12 a und 12 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Die Europäische Spallations-Neutronenquelle
({2}) in Deutschland fördern
- Drucksache 15/472 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Christoph
Bergner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Sachgerechte Planungsentscheidungen zum
Bau einer Eur opäischen Spallations-Neutronenquelle ermöglichen
- Drucksache 15/654 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stun de vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Cornelia Pieper für die FDP-Fraktion das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen!
Die Europäische Spallations-Neutronenquelle ist
weltweit das ehr geizigste Projekt für eine neue
Neutronenquelle. Der Weg von der Kernspaltung in
Reaktoren hin zur Neutronenspallation wird eine
Revolution in der Neutronenforschung erzeugen.
Das ist ein Zitat des W issenschaftlichen Direktors des
ESS, Professor Dieter Richter aus Jülich.
({0})
- Meine Damen und Herren von der SPD, da Sie gefragt
haben: Neutronen werden zur Untersuchung der Struktur
unterschiedlichster Materialien verwendet. Diese Forschungsergebnisse sind von enormem wirtschaftlichen
Nutzen.
({1})
Es gibt weltweit zu weni g Neutronenquellen. Ihre
Zahl nimmt im nächsten Jahrzehnt drastisch ab. Von den
derzeit weltweit in Betrieb befindlichen 25 Neutronenquellen werden aus Altersgründen in zehn bis 15 Jahren
etwa zwei Drittel abgeschaltet werden. In Erkenntnis
dieser Situation hat die OECD 1998 empfohlen, nicht
Kernreaktoren, sondern je eine leistungsfähige Spallations-Neutronenquelle in den USA, in Japan und in
Europa zu bauen; denn moderne Spallations-Neutronenquellen können Probleme, die mit Kernreaktoren zusammenhängen, lösen. Eine Spal lations-Neutronenquelle ist
im Gegensatz zu einem Kernreaktor durch Abschalten
des zugehörigen Protonenbe schleunigers einfach und
vollständig abschaltbar. Im Gegensatz zu einem Kernreaktor gibt es keine langle bigen radioaktiven Spaltprodukte. In einer Spallations-Neutronenquelle werden pro
Elementarprozess etwa zehnmal mehr nutzbare Neutronen als in einem Kernreaktor erzeugt.
Die weltweit vor geschlagenen neuen SpallationsNeutronenquellen würden natürlich das Problem des Zugangs zu ausreichend vielen Neutronenquellen lösen.
Auch das ist ein Grund, warum diese hervorragende wissenschaftliche Forschungsleistung auch deutscher W issenschaftler von vielen Experten, aber auch Politikern
unterstützt wird.
({2})
Wir haben gerade mit der Neutronenspallation Spitzenforschungsleistung erreicht. Aber Frau Bulmahn hat
sich zunächst,
({3})
als es um den Antrag für ESS ging, nebulös und zurückhaltend geäußert. Als dann der Wissenschaftsrat im
letzten Jahr eine Förderung nicht empfohlen hatte,
schien sie geradezu erleichtert darüber zu sein, dass das
Projekt vom T isch ist. Frau Bulmahn gab in einem
Schreiben an den W irtschaftsminister von Sachsen-Anhalt, einem der Bewerberländer um den Standort, bekannt:
Die ESS im Kontext aller vorgeschlagenen Großgeräte gesehen ist zwar sehr wertvoll, aber angesichts
der hohen Investitionskosten können nicht alle Projekte realisiert werden, die der Wissenschaftsrat bereits jetzt zur Förderung empfohlen hat. Eine erneute Befassung des W issenschaftsrates mit den
Projektvorschlägen wird an dieser Situation nichts
ändern.
Das werfen wir Ihnen vor , meine Damen und Herren
von der Koalition.
({4})
- Nein. Wir werfen Ihnen vor, dass Ihre Ministerin - Sie
unterstützten ja wohl diese Position - vorzeitig, vor der
Evaluierung im W issenschaftsrat, eine Standortentscheidung für ESS ablehnt. Das ist im Zusammenhang mit den W eichenstellungen zu sehen, die wir gerade auch für die neuen Bu ndesländer in Forschung und
Entwicklung brauchen. Denn Sie wissen ganz genau,
dass laut Bericht der Bundesregierung über die Entscheidung über die Großgeräte von den 975 Millionen Euro
gerade einmal 25 Millionen Euro in den neuen Bundesländern landen,
({5})
obwohl Sie im Koalitionsve rtrag deutlich gemacht haben, dass Sie die neuen Bundesländer mit einem Großforschungsgerät unterstützen wollen. Diese Politik ist
unglaubwürdig, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition.
({6})
Deswegen fordern wir Sie heute mit diesem Antrag,
der auch von Nordrhein-W estfalen und Sachsen unterstützt wird, auf, dass sich auch Deutschland für ESS bewirbt. Die Ministerin hat das aus unterschiedlichen
Gründen in Europa abgelehnt. Wir fordern Sie auf, Ihre
Haltung zu überdenken und die Weichenstellung vorzunehmen, damit die Spitzenforschung nicht nur nach Europa - da wird sie sowies o hinkommen, denn andere
Länder Europas bewerben si ch darum -, sondern nach
Deutschland und möglichst in eine strukturschwache Region kommt. Das muss das Ziel sein.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Kasparick für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren!
Im Februar 2000 war ich im Rahmen meiner Institutsbesuche im Hahn-Meitner -Institut in Berlin. Sie wissen,
dass ich mittlerweile fast a lle ostdeutschen Institute besucht
({0})
und über 500 Interviews gefü hrt habe. Ich weiß allmählich, wie die Situation der W issenschaft im Osten ist.
Das Ergebnis dieses Termins war, dass ich mit Ministerpräsident Höppner diskutiert habe, dass sich mehrere
ostdeutsche Länder um die ESS bewerben sollten.
({1})
Das Ergebnis war, dass es sogar eine parteiüber greifende, gemeinsame Bewerbung des sozialdemokratisch
regierten Landes Sachsen-Anhalt mit dem CDU-regierten Land Sachsen gab. Das Projekt haben wir im Februar
2000 auf den Weg gebracht. Damals haben Sie noch gar
nicht gewusst, dass es die ESS-Projekte überhaupt gibt.
({2})
Außerdem haben wir es hi nbekommen, den wichtigen
Satz in den Koalitionsvertrag aufzunehmen, dass wir
bei der Ansiedlung von ne uen Großforschungsprojekten
vorrangig Ostdeutschland be rücksichtigen wollen, und
zwar aus einem einfachen Gr und: Jeder, der sich mit
Förderprogrammen in Ostdeutschland ein bisschen intensiver beschäftigt und ein bisschen genauer hinschaut,
der sieht, dass wir nur noch eine Chance in Ostdeutschland haben. Die Chance heißt: Ausbau der Forschungsinfrastruktur.
({3})
Deswegen sind diese Großforschungsprojekte so
wichtig.
Den von Ihnen eingebrachten Antrag halte ich für einen Showantrag. Ich will Ih nen auch erklären, warum:
Sie verlangen von der Bundesrepublik Deutschland, sich
auf eine Technologie festzulegen.
({4})
Damit mischen wir uns in einen wissenschaftlichen
Streit über TESLA in Hamb urg und das Hahn-Meitner Institut in Berlin ein, den aber nicht das Parlament, sondern die Wissenschaft entscheiden sollte.
({5})
Wir sollten hier nicht den Streit des W issenschaftsrates weiterführen. Dafür gibt es dieses Gremium schließlich.
Wenn wir uns als Parlamentarier für Deutschland auf
diese Technologie festlegen,
({6})
dann bewegen wir uns auf einem politischen Handlungsfeld, das uns zum einen nicht zusteht und auf dem wir
zum anderen nur verlieren können, weil das eigentlich in
die Zuständigkeit des Wissenschaftsrates fällt.
({7})
Lassen Sie mich deshalb drei Punkte ausführen. Ich
freue mich über jeden Unterstützer , der sich am Kampf
für die Ansiedlung neuer Forschungseinrichtungen in
Ostdeutschland beteiligt.
({8})
Herr Kollege Kasparick, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?
Ja, gerne.
Ich mache es auch kurz. Außerdem weiß der Kollege
Kasparick sicherlich noch, da ss er mir im ver gangenen
Jahr im Mai im neu gewählten Landtag schon einmal
ähnliche Fragen gestellt hat.
Heißt das mit anderen W orten, dass Sie die Position
Ihrer Ministerin, die sich gegen die Förderung der ESS
in Deutschland ausgesprochen hat und auch die Bewerbung von Sachsen und Sachsen-Anhalt nicht unterstützt,
nicht teilen? Denn die Länder sind selbst Antragsteller
und werden das Projekt im W issenschaftsrat erneut vorstellen. Es handelt sich inso fern nicht um eine Initiative
der Bundesregierung, sondern der Länder.
Dazu habe ich selber die Länder extra ermutigt. Nach
unserer Diskussion im Wissenschaftsausschuss habe ich
sofort per E-Mail Professor Pobell ausdrücklich ermutigt, sich erneut zu bewerben,
({0})
weil der Ball nicht bei uns im Parlament, sondern bei
den beiden Bewerberprojekte n in Jülich und in HalleLeipzig liegt.
Ich halte es für richtig, das Handlungsfenster , über
das wir in Bezug auf den W issenschaftsrat noch verfügen, zu nutzen und ihm eine zweite Bewerbung zur Prüfung vorzulegen. Ihre wi ederholte Behauptung, Frau
Pieper, dass die Ministerin das gesamte Projekt und insbesondere einen bestimmten Standort ausgeschlossen
habe, ist falsch.
({1})
Mein Votum ist: Weil es sich um eine gesamtdeutsche
Aufgabe handelt, müssen wir uns hinsichtlich der Frage,
wie wir die Ansiedlung von Großforschungseinrichtungen in Ostdeutschland erreichen können, verbünden. Das
bedeutet, dass wir auch noch einmal über die Konkurrenz der Standorte reden müssen. Es geht nämlich um
eine gesamtdeutsche Aufgabe, und zwar die Entwicklung von fünf Bundesländern.
({2})
Ich werbe sehr dafür, dass das Projekt, das ich im Februar 2000 auf den W eg gebracht habe, weiter verfolgt
wird. Aber der Ball liegt zurzeit nicht im Parlament, sondern bei der Wissenschaft. Erst dann, wenn der W issenschaftsrat votiert hat, liegt der Ball wieder im Parlament.
Ich heiße jeden Unterstützer herzlich willkommen.
Aber Ihr Antrag geht am Ziel vorbei.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Dr . Christoph Bergner
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Tauss, mir war es wichtig, dass meine Rede zu einem
Thema, das eine Zukunftsentscheidung markiert, nicht
einfach zu Protokoll gegeben wird, sondern dass wir
- auch in der Hof fnung, dass sich die Regierung dazu
äußert - eine Debatte führ en, die der W ichtigkeit des
Themas angemessen ist. Denn Ihnen, Herr Kollege,
muss ich sicherlich nicht erklären, dass es sich bei Entscheidungen über wissenschaftliche Großgeräte um Zukunftsentscheidungen für unser Land handelt.
({0})
Wenn wir uns darüber einig sind, würde ich gerne
noch einmal den Bericht über die Investitionen in Großgeräte der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung, den die Ministerin bzw. das zuständige Ministerium dem Ausschuss vorgelegt hat, in Erinnerung rufen.
Neun Projekte standen zur Prüfung an. Eine einzige Entscheidung hat nicht nur in den Oppositionsfraktionen,
sondern auch in den Regierungsfraktionen W iderspruch
gefunden. Das war die Mitteilung des Ministeriums, dass
der Antrag zum Bau der Sp allations-Neutronenquelle
nicht befürwortet wird.
({1})
Weil ich mich etwas wundere, dass Herr Kasparick
die Fronten ein bisschen verwischt, möchte ich auf den
Inhalt des Berichts aufmerksam machen. Die Ministerin
lehnt dieses Projekt ab.
({2})
Das, was ich hieran zu kritisieren habe, ist der Umstand,
dass diese Ablehnung aus unserer Sicht nicht mit schlüssigen Argumenten begründet wird.
({3})
Erstens. Bei der Ablehnung wird nicht berücksichtigt,
dass es sich bei der Neutronenforschung um ein Gebiet
handelt, auf dem Europa und insbesondere Deutschland
weltweit führend sind und dass die Gefahr besteht, dass
wir dann, wenn wir in Zukunft unseren Forschern nicht
die erforderliche Infrastrukt ur bieten können, dieses
Stück Zukunftsfähigkeit und W ettbewerbsfähigkeit
preisgeben. Ich finde, dass dies ein gewichtiges Ar gument sein sollte; denn wir sollten bedenken, dass die
USA und Japan in Hochleistungsanlagen, die sich in der
Bauweise sogar an dem europäischen Vorhaben orientieren, investieren wollen. Wir nehmen also ein Stück Wettbewerbsnachteil wissentlich in Kauf.
({4})
Dies alles spielt aber aus un serer Sicht bei der Entscheidung des Ministeriums nur eine unter geordnete Rolle
und muss deshalb unbedingt neu gewichtet werden.
Zweitens. Die Ablehnung ist auch vom Ministerium
unzureichend begründet worden; denn der Wissenschaftsrat - ich kann nur auf fordern, dessen Votum genau zu lesen - gibt in der Sache kein grundsätzlich ablehnendes Votum gegen de n Bau einer SpallationsNeutronenquelle ab. Der Hinweis, den Hamburger Ringbeschleuniger PETRA zu einer Synchrotronstrahlenquelle auszubauen, macht nach Meinung aller Fachleute
die Option auf ESS nicht überflüssig.
Herr Kollege Ber gner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kasparick?
Darf ich sie bis zum Schluss meiner Rede zurückstellen, um meinen Gedankengang nicht zu unterbrechen?
Aber gerne.
Ich finde es lächerlich, wenn - wohlgemerkt nicht in
den Papieren des Wissenschaftsrates, wohl aber in denen
des Ministeriums - auf Neut ronenquellen hingewiesen
wird, die zwar den gegenwär tigen Kenntnisstand reflektieren, die aber - zu diesem Schluss kommt man, wenn
man die internationale Entwicklung betrachtet - ab 2010
mit Sicherheit als veraltet gelten werden. Insofern ist die
Begründung der Ablehnung, die uns das Ministerium gegeben hat, nicht schlüssig.
Herr Kollege Kasparick, es geht uns nicht darum
- um das an dieser Stelle deutlich zu sagen -, politisch
ein Projekt durchzuboxen, das aus wissenschaftlicher
Perspektive womöglich nicht als förderwürdig betrachtet
wird. Das heißt, am Anfang muss ein zustimmendes Votum des W issenschaftsrates stehen. Nur , der W issenschaftsrat hat den antragstellenden Ländern - darauf hat
schon Kollegin Pieper hingewiesen - eine weitere Prüfung in Aussicht gestellt. Die Bundesregierung sollte
erstens das zweite Antragsverfahren gegenüber dem
Wissenschaftsrat unterstützen - das sehe ich bisher als
nicht gegeben an; hier sollten wir als Parlament ein Wort
mitreden und dafür sollten wir eintreten ({0})
und sollte zweitens - Sie können sich darauf verlassen,
dass wir hier sehr wachsam sein werden - nicht versuchen, den Wissenschaftsrat politisch zu beeinflussen. Ich
möchte auf Folgendes aufmerksam machen: Ich habe in
meiner landespolitischen La ufbahn genügend Beispiele
erfahren, auf welch subtile Weise die Politik versucht
hat, Gremien wie den W issenschaftsrat, der ja nur wissenschaftsinterne Maßstäbe anlegen soll, zu beeinflussen. Herr Kasparick, wenn wir uns einmal über unser
Bundesland unterhalten sollten, dann könnte ich eine
Menge Dinge aus der Frühzeit der Hochschulstandortfestlegungen erzählen.
Wenn ich einige Einzelhe iten und Randbeobachtungen richtig registriert habe - Herr Parlamentarischer
Staatssekretär, im Moment möchte ich noch nicht zu
sehr ins Detail gehen -, dann komme ich zu dem
Schluss: Das Ministerium läuf t auch in diesem Fall Gefahr, das unabhängige Votum des Wissenschaftsrates zu
unterlaufen. Davor kann ic h nur warnen. Auch deshalb
ist das die Stunde des Parlaments.
({1})
Ich habe von der Notwendigkeit dieser Investition gesprochen. Ich habe es bewusst vermieden - Kollege
Kasparick, Sie wissen, dass wir beide gemeinsam mit der
Kollegin Pieper für dasselbe Bundesland reden -, hier einen bestimmten Standort zur Sprache zu bringen; denn
die antragstellenden Länder haben sich darauf verständigt, erst die wissenschaftsinterne Sachentscheidung zu
treffen und dann - ich finde das sehr vernünftig - in einem
zweiten Prüfungsverfahren die Frage der Finanzierung
und des Standortes zu klären.
({2})
Diesem Verfahren sollten wi r uns verpflichtet fühlen,
auch wenn wir wissen, wofür unser Herz jeweils schlägt.
Kollege Rachel wird gleich seine Sicht hier darstellen.
Mein eigentliches Anliegen ist, dazu beizutragen,
dass wir, die Parlamentarier, die Bundesregierung an dieser Stelle vor einem Irrtum bewahren. Ich bin fest davon
überzeugt, dass die Bundesregierung Opfer einer kurzsichtigen Politik wird und ei nem Irrtum unterliegt, den
ich im Interesse der Zukunft der Forschungslandschaft
Deutschland verhindern möchte.
({3})
Um diesen Irrtum zu verm eiden, sollten wir zunächst
unter Zurückstellung aller Standortwünsche dafür eintreten, dass es zu einem fairen V erfahren des W issenschaftsrates kommt und dass der W issenschaftsrat eine
entsprechende Prüfung vornimmt. Ich bin sicher: Die
Politik wird hinterher genug Weisheit an den Tag legen,
wenn es darum geht, die Finanzierung zu klären und den
Standort zu bestimmen. Zunächst brauchen wir ein vorurteilsfreies Votum des Wissenschaftsrates.
Herzlichen Dank.
({4})
Herr Bergner, Sie stehen noch ganz erwartungsvoll
am Rednerpult.
({0})
- Ich möchte nur ungern die Praxis fördern, dass man
erst seine Redezeit ausschöpft, um anschließend durch
die Beantwortung eingesa mmelter Zwischenfragen zu
zusätzlicher Redezeit zu kommen.
({1})
Gerade bei erfahrenen Parl amentariern will ich keine
Absicht unterstellen; aber ich will auch keinen Anlass
für Nachahmungstäter schaf fen. Da ich den Eindruck
habe, dass Sie sich mit diesem Thema innerhalb wie außerhalb der Parlamentsdebatten intensiv beschäftigen,
kann das vielleicht auch bilateral geklärt werden.
({2})
- Das habe ich zur Kenntnis genommen; aber ich bin
hier jetzt der V erwalter der vereinbarten Redezeiten.
Diese Zeiten sind nicht nur erschöpft, sondern überschritten.
({3})
Nun hat der Kollege Dietmar Nietan für die SPDFraktion das Wort.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
Montag der vergangenen Woche hat die Kollegin Flach
als Vorsitzende des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung das Forschungszentrum
in Jülich besucht. Sie hat dort gesagt, die ESS müsse
langfristig auf der politisch en Agenda bleiben. Ich
glaube, alle Wortbeiträge, die wir bis jetzt gehört haben,
zeigen, dass wir uns in diesem Ziel einig sind.
Für mich ist die F rage entscheidend, was wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier tun können, damit
das ehrgeizige Vorhaben ESS wirklich auf der forschungspolitischen Agenda in Deutschland bleibt. Auch
wenn ich viele Ansichten und Forderungen in den Anträgen der FDP und der CDU/CS U durchaus unterstützen
kann, glaube ich nicht - das muss ich hier sehr deutlich
sagen -, dass sie letztlich zielführend sind.
({0})
Ich will das auch begründen. Wenn wir die Kräfte dahin gehend bündeln wollen, dass der Standort der ESS,
wenn sie nach Europa kommt , in Deutschland ist - der
Kollege Bergner hat das eben sehr deutlich gesagt -,
dann dürfen wir die Kräfte jetzt nicht aufsplitten. Ich
glaube, dass die ziemlich ei ndeutige Festlegung auf einen Standort in den neuen Ländern im FDP-Antrag für
unser gemeinsames Ziel zum jetzigen Zeitpunkt nicht
hilfreich ist. Deshalb ist es sinnvoll, diesen Antrag nicht
zu unterstützen.
({1})
Ich will aber auch etwas zum CDU/CSU-Antrag sagen. Die Überschrift dieses Antrags „Sachgerechte Planungsentscheidungen zum Bau einer Europäischen Spallations-Neutronenquelle ermöglichen“ ist - damit Sie
mich richtig verstehen - angemessen. Der Schwerpunkt
Ihres Antrags liegt auf dem zweiten Gutachten. Auch
ich habe bisher die Position vertreten - das sage ich unumwunden -, dass ein zweites Gutachten erstellt werden
muss, und zwar möglichst schnell.
({2})
- Bitte, hören Sie mir zu! - Ist es aber , da wir wissen,
wie und in welchem Rahmen die erste Empfehlung des
Wissenschaftsrates im November zustande gekommen
ist, realistisch, davon auszugehen, dass ein neues Gutachten kurz danach wirklich grundlegend neue und abweichende Empfehlungen enthält? Das sollte sich jeder
überlegen, der dieses Gutach ten zum jetzigen Zeitpunkt
fordert.
Wir haben festgestellt, dass die Bundesregierung bei
den Großforschungseinrichtungen die Prioritätensetzung
aktualisiert hat. Auch ein zweites Gutachten wird an dieser Prioritätensetzung nichts ändern, wobei ich, damit
keine Legenden gebildet werd en, an dieser Stelle unterstreiche, dass die gegenwärti ge Prioritätensetzung nie
eine endgültige Ablehnung aller anderen noch nicht geförderten Großforschungsprojekte darstellt.
Ein Weiteres zur Frage der wissenschaftlichen Notwendigkeit eines zweiten Gutachtens: Wenn Mitte diese
Jahrzehnts - auch das hat Kollege Ber gner angesprochen - in Japan und in den USA starke neue Neutronenquellen in Betrieb genommen werden, dann stellt sich
für mich nicht mehr die Notwendigkeit, wissenschaftlich
zu ergründen, ob es forschungspolitisch notwendig ist, in
Europa eine Neutronenquelle aufzubauen. Das ist evident. Wir sind uns sicherlich darin einig, dass Europa
langfristig - ({3})
- Ich stelle fest, dass ich mit diesen Worten bei Ihnen immer große Emotionen auslöse. Lassen Sie es mich doch
zu Ende bringen.
Es ist doch wirklich eviden t, dass wir, wissenschaftlich gesehen, langfristig in Europa eine Spallations-Neutronenquelle brauchen. Wenn wir uns darin einig sind,
dann sollten wir den Schwerpunkt anders legen. Es ist
sicherlich auch Ihnen, li ebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU und der FD P, nicht entgangen, dass
viele Wissenschaftlerinnen und W issenschaftler der
ESS-Gemeinde auch in Jülich mittlerweile aus genau
diesen Gründen sagen, ein zweites Gutachten sei zum
jetzigen Zeitpunkt nicht mehr erforderlich, viel wichtiger
sei die klare Aussage für eine langfristige Perspektive
für eine Neutronenquelle in Europa. Wenn wir uns darin
einig sind, sollten wir dies auch gemeinsam betonen.
({4})
Ich sage aber auch sehr deutlich, dass wir uns auf dem
Weg dorthin die Chancen hier nicht verbauen sollten.
Deshalb wäre für mich die en tscheidende Frage, die wir
parlamentarisch diskutieren müssen: W as machen wir
mit den drei bestehenden Neutronenquellen sowie dem
hinzukommenden Standort in München?
({5})
- Nein, das ist nichts anderes. Ich will Ihnen das erklären; hören Sie mir doch zu.
Wenn wir hier die ESS weiterhin theoretisch diskutieren und nicht überlegen, wie wir in Zukunft die vorhandenen Kompetenzzentren für Neutr onenforschung
stärken, wenn wir vielleicht sogar eine Diskussion darüber führen, den einen oder anderen Standort zu schließen, weil es ja vier Neutronenquellen gibt, verbauen wir
die Zukunft aller in Deut schland bestehenden Kompetenzzentren.
({6})
Es wäre eine viel sinnvollere parlamentarische Initiative,
darüber nachzudenken, wie wir die derzeitigen Kompetenzzentren stärken können.
({7})
- Sehr geehrte Frau Kollegin Pieper , sehr geehrter Herr
Präsident, ich sehe mich im Moment nicht mehr in der
Lage, in meiner Rede fort zufahren, weil hier nur noch
dazwischengeredet wird.
({8})
Wir haben hier schon Schlimmeres erlebt.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte es für
wichtig, sich darüber zu unterhalten, wie wir die Kompetenzzentren für Neutronenforschung stärken und erhalten. Ich halte es auch für wichtiger, in diesem Hause gemeinsam die Position zu formulieren, dass wir die
langfristige Perspektive ESS für Europa und letztlich
auch für den Standort Deutsc hland erhalten wollen. Dafür brauchen wir eine Strate gie. Es ist aber auch eine
Strategie der Bundesregierung zur Neutronenforschung
erforderlich. Dazu merke ich kritisch an, dass wir eine
solche Strategie im Fachauss chuss rechtzeitig diskutieren und als Parlamentarier in den Bundestag einbringen
sollten,
({0})
damit uns nicht das passiert , was uns bei der Entscheidung über die Großforschungsgeräte passierte, als wir
Parlamentarier am Ende nur noch mitgeteilt bekommen
haben, wozu sich die Regierung entschieden hat.
Möchten Sie eine Sekunde vor Ende Ihrer Redezeit
noch eine Zwischenfrage de s Kollegen Kretschmer zulassen?
Nein, damit ich jetzt zu Ende komme, lasse ich sie
nicht mehr zu.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz der emotionalen Aufwallungen auf der rechten Seite des Hauses bitte
ich Sie: Lassen Sie uns gemeinsam den richtigen W eg
für eine Strategie finden, di e langfristig die Option ESS
offen hält. Wenn uns dies gemeinsam gelingt, tun wir der
Sache den größten Gefallen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Nun hat Herr Kollege Kasparick um das Wort zu einer
Kurzintervention gebeten.
({0})
Dann hat als letzter Redner in dieser Debatte der Kollege Thomas Rachel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Ich freue mich über die
sehr sachliche Diskussion hier im Parlament auch zu
später Stunde. Frau Ministerin Bulmahn hat ohne Not
und ohne Rücksicht auf die fo rtdauernde Debatte in der
Wissenschaft Ende letzten Jahres bekannt gegeben, dass
die Europäische Spallations-Neutronenquelle ESS
nicht zu finanzieren sei u nd Deutschland sich nicht um
eine Ansiedlung bewerben we rde. Es ist eine rückwärts
gewandte Entscheidung der rot-grünen Bundesregierung, der ESS keine Chance mehr zu geben.
({0})
Nachdem das erste Beurteilungsverfahren des W issenschaftsrates auch in der Wissenschaft selber umstritten war, sollte nach unserer Auf fassung eine zweite
Begutachtung stattfinden. Im Rahmen einer zweiten Prüfung könnte die Forschu ngs-Community die vom W issenschaftsrat aufgeworfenen Fragen beantworten und
die angesprochenen Kritikpunkte ausräumen.
Zwischen den Ländern Nordrhein-Westfalen, Sachsen
und Sachsen-Anhalt sowie dem Wissenschaftsrat ist
bereits verabredet worden, ein neues Begutachtungsverfahren durchführen zu wollen. Dabei sollen die Frage
der Finanzierung, aber auch di e Standortfrage erst in einer zweiten Stufe erörtert werden. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt nachdrücklich ein solches Verfahren. Wir
erwarten aber von der Bundesregierung, dass sie diese
zweite Begutachtung ermöglicht.
({1})
Es ist uns vollkommen unverständlich, dass diese Woche
die Abgeordneten von SPD und Grünen sich dem V ersuch, zu einem überparteilichen Antrag zu kommen, verweigert haben und nicht einmal zu dem von Liberalen
und Christdemokraten angebotenen Gespräch erschienen
sind.
({2})
Deutschland darf nicht fahrlässig seine führende
Rolle in der Spallationsforschung an die USA und Japan
verlieren.
Die voreilige Entscheidung von Ministerin Bulmahn
hat sogar die eigenen Parteifreunde verblüf ft und verärgert. Der SPD-Forschungspolitiker T auss ist nach eigenen Angaben in den „Jülicher Nachrichten“ vom
26. Februar 2003 - ich zitiere - „von der Entwicklung
im Forschungsausschuss des Deutschen Bundestages
überrascht worden“.
({3})
Offensichtlich hat die SPD-Bundestagsfraktion keinen
Informationsfluss aus dem Ministerium, geschweige
denn Einfluss auf die Pol itik der SPD-ForschungsminisThomas Rachel
terin. Das ist ein Armutszeugnis, meine Damen und Herren.
Nun hat sich erwartungsgemäß Kollege T auss zu einer Zwischenfrage gemeldet,
({0})
die Kollege Rachel vermutlich zulassen wird.
Mit besonderer Freude, Herr Präsident.
Bitte schön.
Da ich den Artikel leider nicht gelesen habe, bitte ich
Sie, ihn mir freundlicherweise zukommen zu lassen. Ich frage Sie: Geht aus di esem Artikel möglicherweise
auch hervor, dass ich gesagt habe, ich wunderte mich
über die Entscheidung des Wissenschaftsrates und über
die Tatsache, dass an der Entscheidung des W issenschaftsrates wissenschaftliche Zweifel aus der Community angemeldet werden,
({0})
dass sich aber diese V erwunderung wiederum nicht auf
die Bundesregierung bezog? Denn über die Politik der
Bundesregierung braucht man sich nicht zu wundern; sie
ist so klar, dass ein Wunder damit nicht verbunden wäre.
({1})
Das war leider eine typische Vernebelungstaktik vom
Abgeordneten Tauss, denn ich habe Sie mit dem Zitat
konfrontiert, dass Sie gemäß den „Jülicher Nachrichten“
gesagt haben, Sie seien vo n der Entwicklung im Forschungsausschuss des Deutschen Bundestages überrascht worden. Ihre gerade getane Äußerung zeigt, dass
dies die Wahrheit ist.
({0})
Es zeigt, dass die SPD-Fraktio n in dieser Sache auf die
Forschungsministerin keinen Einfluss mehr hat.
({1})
Herr Kollege Tauss, ich bedauere dies übrigens, weil
ich eigentlich von einer Regierungsfraktion - Sie können
übrigens stehen bleiben, weil ich Ihnen noch antworte erwartet hätte,
({2})
dass sie frühzeitig auf dies e Frage Einfluss nimmt. Faktum ist, dass der gesamte Fo rschungsausschuss von der
Entscheidung Frau Bulmahns erst im Nachhinein informiert wurde und wir alle keine Gelegenheit hatten, auf
die forschungs- und haushalt spolitische Prioritätensetzung Einfluss zu nehmen. Dies darf das gesamte Parlament nicht ruhig lassen.
({3})
Enttäuscht ist auch die nordrhein-westfälische Forschungsministerin Hannelore Kraft, übrigens auch SPD.
In einem Brief an die Forschungsministerin schrieb sie:
Ich halte es nicht für angemessen, zum jetzigen
Zeitpunkt abschließende Finanzierungsentscheidungen zu tref fen, die wissenschaftliche Optionen
„erledigen“ und damit Zukunftschancen für den
Wissenschafts- und W irtschaftsstandort Deutschland verspielen.
In diesem Punkt hat Frau Kraft Recht, meine Damen und
Herren. Ich fordere Sie deshalb sehr nachdrücklich auf,
dass Sie den Chancen Rechnung tragen. Frau Kraft hat
auch gesagt - ich zitiere -:
Die Diskussion in unse ren Nachbarländern zur
Neutronenstrahlung und Spallationstechnik scheint
keineswegs so eindeutig zu sein, wie das BMBF behauptet.
Auch die Länder, die den Antrag stellen, glauben, dass
wir europäische Partner für das Projekt finden.
({4})
Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, dafür
Sorge zu tragen, dass im Sinne des W issenschaftsstandorts Deutschland ein zwei tes Begutachtungsverfahren
für die ESS durchgeführt wird, was nur mit Zustimmung
der Bundesregierung erfolgen kann. V or einer erneuten
Entscheidung des Ministeriums müssen die Er gebnisse
dann im Ausschuss erörtert werden.
({5})
Es wäre doch eine schrec kliche Entwicklung, wenn
zu dem Zeitpunkt, zu dem in Amerika die Entscheidung
getroffen wird, die Leistung des betref fenden Projekts
von 1,4 auf 4 Megawatt zu verdreifachen, in Europa das
Aus für ein derart zukunftsträchtiges Projekt kommt.
({6})
Europa ist - wie auch die amerikanischen Dokumente
belegen - in der Neutronenforschung weltweit führend.
Mit dem Aus für die ESS würde Europa diese Führung
mit Sicherheit an die Japaner und Amerikaner verlieren.
Das wollen wir nicht. Desh alb wollen wir eine vorurteilsfreie Prüfung durch den Wissenschaftsrat.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Interfraktionell wird die Überweisung der V orlagen
auf den Drucksachen 15/472 und 15/654 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Ich vermute, dass das trotz der Meinungsverschiedenheiten in der Sache einvernehm lich so beschlossen werden
kann. - Dagegen erhebt sich kein W iderspruch. Dann
darf ich das Einvernehmen feststellen. Die Überweisungen sind so beschlossen.
Wir sind damit am Schlus s unserer heutigen T agesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 4. April 2003, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.