Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell sind für die verbundene Tagesordnung
dieser Woche weitere Änderungen vereinbart worden:
Nach Einzelplan 04 - Bundeskanzleramt - soll zunächst der Einzelplan 15 - Gesundheit und Soziale
Sicherung - beraten werden. Der Einzelplan 16 - Umwelt - soll bereits heute als letzter Tagesordnungspunkt
aufgerufen werden. Der Einzelplan 05 - Auswärtiges
Amt - soll dafür erst am Donnerstag nach Einzelplan 09
- Wirtschaft und Arbeit - aufgerufen werden.
Darüber hinaus soll die Tagesordnung um einige Zusatzpunkte erweitert werden, die aus der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste ersichtlich sind:
1 Beratung des Antrags der Bundesregierung: Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem EU-geführten Einsatz
auf mazedonischem Territorium zur weiteren Stabilisierung
des Friedensprozesses und zum Schutz von Beobachtern
internationaler Organisationen im Rahmen der weiteren
Implementierung des politischen Rahmenabkommens vom
13. August 2001 auf der Grundlage des Ersuchens des mazedonischen Präsidenten Trajkovski vom 17. Januar 2003 und
der Resolution 1371 ({0}) des Sicherheitsrats der Vereinten
Nationen vom 26. September 2001
- Drucksache 15/696 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hubertus Heil, Klaus
Brandner, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt, Ulrike
Höfken, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Bestimmungen der Post-Universaldienstleistungsverordnung verbraucherfreundlich durchsetzen
- Drucksache 15/615 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({3}) zu dem Antrag der Bundesregierung: Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem EU-geführten Einsatz auf mazedonischem
Territorium zur weiteren Stabilisierung des Friedensprozesses und zum Schutz von Beobachtern internationaler
Organisationen im Rahmen der weiteren Implementierung des politischen Rahmenabkommens vom 13. August
2001 auf der Grundlage des Ersuchens des mazedonischen
Präsidenten Trajkovski vom 17. Januar 2003 und der Resolution 1371 ({4}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 26. September 2001
- Drucksachen 15/..., 15/... Berichterstattung:
.....
- Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß
§ 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/... Berichterstattung:
.....
Des Weiteren mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 31. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur
Regelung des Aufenthalts und der Integration von
Unionsbürgern und Ausländern ({6})
- Drucksachen 15/420, 15/522 überwiesen:
Innenausschuss ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
Der in der 28. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP: Für eine internationale Sicherheitsinitiative für Nordostasien
- Drucksache 15/469 - ({8})
({9})
überwiesen:
Auswärtiger Ausschuss ({10})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Der in der 31. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Dr. Claudia Winterstein, Jürgen
Türk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP: Das neue Gesicht Europas - Kernelemente einer europäischen Verfassung
- Drucksache 15/577 überwiesen:
Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Die genannten Umstellungen führen dazu, dass für
Freitag vorerst keine Plenarberatungen vorgesehen sind.
Angesichts der Entwicklungen im Irak können kurzfristige Änderungen jedoch nicht ausgeschlossen werden,
sodass die Präsenzpflicht für Freitag zunächst bestehen
bleibt.
Wir setzen die Haushaltsberatungen - Tagesordnungspunkt I - fort:
Zweite Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2003 ({12})
- Drucksachen 15/150, 15/402 ({13})
Ich rufe dazu Tagesordnungspunkt I. 13 auf:
Einzelplan 04
Bundeskanzler und Bundeskanzleramt
- Drucksachen 15/554, 15/572 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Gerhard Rübenkönig
Alexander Bonde
Anja Hajduk
Dr. Günter Rexrodt
Es liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/
CSU, ein Änderungsantrag der Fraktion der FDP sowie
ein Änderungsantrag der Abgeordneten Gesine Lötzsch
und Petra Pau vor.
Ich weise darauf hin, dass wir im Anschluss an die
Aussprache über den Einzelplan 04 namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache vier Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({14})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Deutsche Bundestag tritt heute in einer, wie
ich meine, weltpolitisch ernsten Stunde zusammen, um
über den Etat des Bundeskanzlers, das heißt über die Politik der Bundesregierung, zu beraten. Wir wissen, dass
die Lage im Irak sehr ernst ist. Wir hoffen bis zuletzt,
dass Saddam Hussein es noch begreift; aber es ist furchtbar bedrückend, wenn man ohnmächtig zusehen muss,
wie ein Krieg herannaht.
({0})
Wir alle wissen aber auch - ich glaube, in diesem
Punkt ist sich der Deutsche Bundestag einig -: Die Menschen im Irak brauchen wieder Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
({1})
Sie haben genauso wie wir das Recht, in Freiheit zu leben.
({2})
Uns alle eint selbstverständlich der Wunsch, dass das
mit friedlichen Mitteln erreicht wird oder - so muss man
inzwischen ehrlicherweise sagen - erreicht worden
wäre.
Der Schlüssel zu einer friedlichen Lösung lag und
liegt bei dem Diktator Saddam Hussein. Sein Regime
trägt die Verantwortung dafür, dass zwei Angriffskriege
stattgefunden haben und dass gegenüber dem eigenen
Volk skrupellos Gewalt angewendet worden ist. Wir
wissen auch, dass sich der Diktator seit zwölf Jahren
weigert, der Verpflichtung der Völkergemeinschaft
nachzukommen, offen zu legen, wie er seine Massenvernichtungswaffen vernichtet hat. Er muss eindeutig
klarstellen, dass von dort künftig keine Gefahr mehr
ausgeht.
Diktatoren wie Saddam Hussein oder Slobodan
Milosevic tun sich mit der Sprache der Diplomaten und
der Diplomatie ungeheuer schwer. Sie kümmern sich
nicht um humanitäre Argumente und sie kümmern sich
auch nicht um die Not der Menschen im eigenen Land.
({3})
Ich weiß, dass niemand in Deutschland Krieg wollte
oder gar Krieg will; aber es ist doch immer so: Wenn ein
Waffengang als letztes Mittel, als Ultima Ratio, ausgeschlossen wird, dann besteht die große Gefahr, dass Diktatoren das missverstehen. Sie betrachten das dann oft
als einen Freibrief und - das hat die Weltgeschichte immer wieder gezeigt - klammern sich bis zuletzt daran.
({4})
Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung zu Beginn dieser Legislaturperiode - sie ist in
anderen Teilen vielleicht ein Stück überholt; dazu werden wir noch kommen - Ihre tief empfundene Dankbarkeit für das Engagement der Vereinigten Staaten beim
Sieg über die Nazibarbarei zum Ausdruck gebracht. Das
war richtig und das ist, glaube ich, heute noch aktuell.
Wir bedauern die Zuspitzung dieser Krise; aber hier
haben diplomatische Mittel versagt. Saddam hat sich
auch über die Resolution 1441 hinweggesetzt. Er hat
den Druck, insbesondere den diplomatischen Druck, niemals ernst genommen. Dass die Waffeninspektoren
überhaupt arbeiten konnten, lag doch daran, dass ein gewaltiger Aufmarsch von Soldaten am Golf stattgefunden
hat und dass Saddam den Druck gespürt hat.
({5})
Einem Diktator muss eine entschlossene Gemeinschaft gegenüberstehen. Wenn man die Hoffnung nährt,
die Weltgemeinschaft sei sich nicht einig, dann setzt ein
Diktator auf die allerletzte Karte. Sie müssen sich fragen
lassen, ob Sie mit Ihrer Politik bei dem Diktator nicht
auch ein Stück Hoffnung genährt haben.
({6})
- Herr Präsident, es wird in diesem Hause - das ist ein
demokratisches Forum - doch noch möglich sein, Fragen zu stellen. Der Herr Bundeskanzler hat anschließend
Gelegenheit zu antworten. Er braucht Ihr Geschrei nicht.
Wenn er bei seiner Politik auf alle Schreihälse von Ihrer
Seite angewiesen wäre, dann würde es um unser Land
noch sehr viel trüber stehen.
({7})
Ich fand es bedrückend, dass im Sicherheitsrat von
den Deutschen Stimmen gegen die USA gesammelt worden sind.
({8})
Ganz abgesehen davon tue aber auch ich mich sehr
schwer, in allen Punkten das nachzuvollziehen, was
Bush derzeit tut.
Sie können jetzt die Frage stellen - das wäre viel gescheiter, als hier zu schreien -, was wir getan hätten.
Wenn eine Unionsregierung gewählt worden wäre - im
September war es knapp davor -, dann hätte sie von Beginn an den Dialog mit unseren europäischen und amerikanischen Verbündeten gesucht und hätte alles dazu getan, zwischen den französischen Interessen auf der einen
Seite und den amerikanischen Interessen auf der anderen
Seite auszugleichen, so wie Regierungen vor Ihnen, Herr
Bundeskanzler - das waren nicht nur die Regierung
Adenauer oder die Regierung Kohl, sondern das waren
genauso die Regierung Willy Brandt oder die Regierung
Helmut Schmidt -, das auch immer wieder fertig gebracht haben.
({9})
Jetzt kommt mit sehr großer Wahrscheinlichkeit dieser Krieg auf uns zu. Wir wissen, dass schon jetzt, ob wir
das wollen oder nicht, deutsche Soldaten involviert sind.
Deswegen meine herzliche Bitte: Herr Bundeskanzler,
tun Sie alles dafür - Sie haben das gestern, als wir im
Bundeskanzleramt geredet haben, versprochen -, dass
die Soldaten in der Frage, ob der Deutsche Bundestag ihren Einsatz genehmigt hat oder nicht, aus der rechtlichen
Grauzone herauskommen! Es ist, finde ich, eine Zumutung für die Soldatinnen und Soldaten, wenn man anders
handelt.
Ich habe dazu noch einmal nachlesen lassen oder
nachgelesen.
({10})
- Gott im Himmel! Entschuldigung! Dafür haben wir
doch Juristen. Ich bin keiner. Aber ich habe wenigstens
als Vater dafür gesorgt, dass sich die Zahl der Juristen
vermehrt hat. Man wird doch deren Rat noch einholen
dürfen.
({11})
Demnach sagt das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1994 eindeutig: Ohne Zustimmung des Bundestages dürfen Soldaten nur eingesetzt werden, „sofern
die Soldaten dabei nicht in bewaffnete Unternehmungen
einbezogen sind“. Ich kann nicht sehen, wie das, wenn
es zum Krieg kommt, bei einem Einsatz der FuchsSpürpanzer und der Soldaten in den AWACS-Flugzeugen bei der Luftraumüberwachung möglich sein sollte.
Herr Bundeskanzler, es gibt verschiedene Gründe. Ich
kann Sie natürlich politisch verstehen. Ich kann verstehen, dass man sich schwer tut, wenn man auf die Zustimmung - beinahe hätte ich gesagt - solcher Leute angewiesen ist.
({12})
- Entschuldigung, ich habe mich auf Ihr Verhalten vorhin bezogen. Verhalten Sie sich doch bitte so, dass ich
von Kolleginnen und Kollegen sprechen kann! Tun Sie
das doch bei dieser Debatte!
({13})
Ich glaube nicht, dass Ihr Verhalten dem Ernst der Lage
angemessen ist.
({14})
Lassen Sie mich einige Aussagen anführen.
Wiefelspütz wird in den Tickermeldungen aus einem
dpa-Gespräch zitiert:
Wenn wir einen zustimmungsbedürftigen Sachverhalt schaffen würden, wären wir doch mit einem
Bein in diesem Krieg. Genau das wolle Bundeskanzler Schröder ({15}) verhindern. Natürlich hätten die AWACS-Maschinen die Fähigkeit, auch
Iraks Luftraum zu beobachten und kriegsrelevante
Informationen an die USA weiterzugeben. Aber das
darf eben nicht genutzt werden.
Ich kann mir schwer vorstellen, wie das laufen soll.
Ich zitiere aus den Meldungen eine führende Politikerin der Grünen:
... Christine Scheel bezeichnete Bushs Vorgehen als
rechtswidrig. Ich gehe davon aus, dass es gegen das
Völkerrecht verstößt ...
Weiter heißt es:
Der stellvertretende Grünen-Fraktionschef HansChristian Ströbele sagte, er halte die Nutzung der
US-Stützpunkte in Deutschland im Kriegsfall für
verfassungswidrig.
Und so weiter.
Ich sage das nur, weil ich deutlich machen möchte,
dass die Schwierigkeiten auf der Regierungsseite klar
sind. Deswegen muss aber Recht immer Recht bleiben
und unsere Verfassung muss selbstverständlich eingehalten werden.
({16})
Herr Bundeskanzler, Ihre Außenpolitik gefährdet
wichtige Institutionen, denen unser Land, die Bundesrepublik Deutschland, seine Sicherheit verdankt. Sie verantworten ein Stück weit die aufbrechende Spaltung der
Europäischen Union.
({17})
Das ist für mich ein ungeheuer bedrückendes Erlebnis.
Sie verantworten mit die Zerwürfnisse in der NATO und
die nachhaltige Entfremdung in den transatlantischen
Beziehungen.
({18})
Meine Angst ist, dass damit Gefahren weit über den
Tag hinaus für unser Land entstehen. Die globalen Aufgaben - der Kampf gegen den Hunger, der Schutz der
Umwelt, mehr Entwicklungschancen - können doch nur
gelöst werden, wenn die westlichen und auch die europäischen Staaten zusammenstehen.
In dieser außen- und europapolitisch schwierigen Zeit
steht Deutschland zudem noch - das treibt uns auf der
anderen Seite um, Herr Poß - auf brüchigen ökonomischen Fundamenten. Bei unseren Nachbarn geht das
Wort von Deutschland als dem kranken Mann in Europa
um. Wirtschaftsexperten sprechen vom Sanierungsfall
Deutschland.
({19})
Die Kurse unserer Banken und Versicherungsgesellschaften sind im Keller. Die Menschen in diesem Land
machen sich Sorgen um ihre private Altersversorgung
und die Sicherheit ihrer Sparguthaben.
({20})
Das ist doch die bedrückende Wirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland zur Stunde.
({21})
Der Haushalt ist - das habe ich gelernt; ich war früher im
Haushaltsausschuss - das Schicksalsbuch der Nation. Man
darf dieses Schicksalsbuch in seinen Zahlenfundamenten
nicht zum Märchenbuch oder gar zum Lügenbuch machen.
({22})
Dafür muss man sorgen, wenn man Vertrauen zurückgewinnen will.
Die haushaltspolitischen Perspektiven sind düster.
Der Haushalt 2003 ist ein Spiegelbild der Lage in
Deutschland. Ohne Sanierung drohen Abstieg und
Pleite. Sanieren kann nur - Herr Bundeskanzler, das
möchte ich Ihnen sagen -, wer vorher schonungslos die
Wahrheit auf den Tisch legt.
({23})
Wenn es keine schonungslose Diagnose gibt, dann ist
auch die Bereitschaft zu einer harten Therapie nicht gegeben. Deswegen befürchte ich, dass Sie sich schwer tun
werden, all das durchzusetzen, was Sie am vergangenen
Freitag angekündigt haben.
({24})
Tatsache ist: Die Massenarbeitslosigkeit hat eine
noch nie gekannte Höhe erreicht.
({25})
4,7 Millionen Arbeitslose gab es im Februar; das ist die
dritthöchste Zahl aller Zeiten. Jeder zweite Arbeitnehmer macht sich Sorgen um seinen Arbeitsplatz. Tatsache
ist: Deutschlands Wirtschaft ist zum Schlusslicht in Europa geworden und stagniert seit Monaten.
({26})
- Ich nehme den Zwischenruf von der SPD auf, ich
würde das Land schlecht reden: Das ist die übliche Masche.
Ich möchte, wenn Sie darauf besser hören, damit beginnen, Genossen zu zitieren. Genosse Ernst Welteke,
der früher Finanzminister in Hessen war und jetzt Präsident der Bundesbank ist, sagt, Deutschland sei seit zwei
Jahren in einer Phase der Quasistagnation. Genosse
Florian Gerster, früher Sozialminister in RheinlandPfalz, spricht in seiner Eigenschaft als Präsident der
Bundesanstalt für Arbeit ebenfalls von einer Phase der
Stagnation. Deswegen ist es Unfug, wenn Sie dazwischenrufen, wir würden das Land schlecht reden.
({27})
Hören Sie sich doch zumindest die Tatsachen an! Tatsache ist: Das Defizit im Bundeshaushalt hat zu einem
Verfahren wegen Verletzung des Stabilitätspakts geführt.
Tatsache ist: Obwohl die angebliche Rückführung der
Neuverschuldung noch vor wenigen Wochen zum Markenzeichen rot-grüner Politik erklärt worden ist und Herr
Eichel schon für 2004 einen ausgeglichenen Haushalt
versprochen hat, ist dies alles in weiter Ferne.
Tatsache ist, die Krise der Sozialversicherungen ist
nicht mehr zu leugnen: Die Pflegeversicherung ist ein
Pflegefall. Die Krankenversicherung liegt auf der Intensivstation.
({28})
Das System der Altersversorgung leidet an Altersschwäche. In der Arbeitsmarktpolitik herrscht Vollbeschäftigung, allerdings nur bei den deutschen Arbeitsämtern.
({29})
Herr Bundeskanzler, das alles - ob Sie es gerne hören
oder nicht - ist Ergebnis Ihrer Politik. All das hätten Sie
am Freitag bilanzieren müssen. Vielleicht wäre dann die
Einsicht in die Notwendigkeit von Reformen bis hinüber
in den Gewerkschaftsflügel der SPD vorgedrungen.
({30})
Die nächsten Wochen werden zeigen, ob die Ankündigungen, die unter dem Stichwort „Agenda 2010“
großspurig erfolgt sind, wirklich umgesetzt werden. In
Wirklichkeit war es ein Stück Offenbarungseid, ein Eingeständnis des Scheiterns des bisherigen Kurses.
({31})
Das hat es eigentlich noch nie gegeben, dass das, was in
der Regierungserklärung angekündigt worden ist, bereits
nach einem halben Jahr so stark korrigiert werden
musste.
({32})
Diese Rede, Frau Göring-Eckardt, war doch eine flehende, nach innen gerichtete Bitte an die Reihen hier,
endlich das zu tun, was notwendig ist.
({33})
Ich könnte jetzt, wenn ich noch mehr Zeit hätte, die
Pressestimmen zitieren, die es direkt nach dieser Rede
gegeben hat.
({34})
Eine genügt. Das „Handelsblatt“, das ansonsten RotGrün gegenüber nicht sehr kritisch ist, hat geschrieben:
„mehr Murks als Mut“. Das war das Resümee. Wie gesagt, ich habe jede Menge Zitate dabei.
Sie haben sich vorher von Ihrer eigenen Propagandaabteilung - das ist legitim - hochstilisieren lassen. Diese
Rede ist in solche Sphären gehoben worden, dass es gar
nicht gut gehen konnte. Ich kann zu diesem so genannten
großen Wurf nur sagen: Gewogen und für zu leicht befunden, Herr Bundeskanzler. Das war das Urteil der Experten über das, was Sie vorgelegt haben.
({35})
Ich kann Ihnen ein Weiteres nicht ersparen. Ich erinnere mich sehr intensiv an die Zeit der Bundestagswahl,
({36})
an die Fernsehduelle, die da stattgefunden haben, und
auch an Ihre Großspurigkeit, mit der Sie den Kanzlerkandidaten der Union, Ministerpräsident Stoiber, dabei
behandelt haben. Sie haben zu ihm gesagt: „Herr Ministerpräsident, Sie wollen Bundeskanzler werden - Sie
können es nicht.“
({37})
Schauen Sie sich an, wo wir nach einem halben Jahr
stehen! Ich kann nur sagen: Herr Bundeskanzler, Sie
können es nicht!
({38})
Geben Sie Ihr Mandat an die Wählerinnen und Wähler in
der Bundesrepublik Deutschland zurück! Neuwahlen
wären die sauberste Lösung.
({39})
Herr Bundeskanzler, für das, was Sie angekündigt haben, haben Sie doch überhaupt keine Legitimation von
den Wählerinnen und Wählern.
({40})
- Nein, Sie haben keine Legitimation. Ich bringe ein
paar Beispiele. Sie haben am Freitag gesagt, Sie wollen
die Arbeitslosenhilfe auf das Sozialhilfeniveau herunterfahren. Vor der Wahl versprach die SPD „keine Absenkung der künftigen Leistungen auf Sozialhilfeniveau“.
({41})
Ein weiteres Beispiel. Am Freitag wollten Sie den
Kündigungsschutz für Kleinbetriebe ab fünf Mitarbeiter besser handelbar machen. Vor der Wahl lobte die
SPD die Geltung des Kündigungsschutzes in Betrieben
ab fünf Mitarbeitern als Beitrag zum sozialen Frieden.
({42})
Wenn Politik nicht auf Wahrheit gebaut ist, dann wird sie
bei den Menschen keinen Erfolg haben.
({43})
Wir erleben schon über eine lange Zeit die Argumentation mit Ausflüchten. Zunächst war es die nachlassende US-Konjunktur, dann der 11. September, dann der
vermeintlich zu restriktive europäische Stabilitätspakt,
dann die mangelnde Unterstützung seitens der Europäischen Zentralbank. Künftig wird wohl immer wieder
der Irak als Grund herangezogen werden, warum man
die selbst gesteckten Ziele nicht erreichen kann.
Ich sage Ihnen - da stehe ich nicht allein; das sagen
Ihnen auch die Wirtschaftsexperten -: Die Ursachen unserer deutschen Misere sind binnenwirtschaftlicher Natur. Es sind hausgemachte Fehler der Regierung
Schröder: die Rekorddefizite in den öffentlichen Haushalten, die offensichtlich unaufhaltsam steigenden Lohnnebenkosten und die totale Verkrustung des Arbeitsmarktes. All das ist binnenwirtschaftlich bedingt.
Diese Realitätsverweigerung, die da besteht, erinnert
mich an einen Leichtathletiktrainer, der als Ausrede für
die Niederlage seiner Läufer sagt, es habe schlechtes
Wetter geherrscht. Dabei vergisst er, zu sagen, dass die
anderen Läufer in der gleichen Witterung haben starten
müssen.
Der angekündigte zaghafte Kurswechsel war überfällig. Wir wollen, dass Deutschland wieder aufs Siegertreppchen kommt.
({44})
Das ist nur möglich, wenn die notwendigen Reformen
auch durchgesetzt werden.
({45})
Durchsetzen müssen Sie diese Reformen in allererster
Linie in den eigenen Reihen. Es sind nur ganz wenige
Maßnahmen dabei, die im Bundesrat zustimmungspflichtig sind. Die allermeisten Maßnahmen können Sie
mit Ihrer rot-grünen Mehrheit durchsetzen, wenn Sie
diese Mehrheit denn haben. Die Opposition ist kein
Hilfsaggregat und kein Hilfsmotor
({46})
für eine Regierung, die mit dem Rücken zur Wand steht.
Deswegen kann ich nur sagen: Viel Glück und gute
Reise! Setzen Sie durch, was Sie angekündigt haben!
Bei Maßnahmen - wie zum Beispiel bei der Flutopferhilfe -, bei der die Bundesratsmehrheit gebraucht wird,
um das Abkassieren der Kommunen wieder einzustellen,
werden Sie unsere Unterstützung bekommen.
({47})
Herr Bundeskanzler, was Ihnen persönlich fehlt - das
ist ein großes Problem nicht nur für Sie und diese Regierung, sondern inzwischen auch für unser Land -, ist die
Geradlinigkeit.
({48})
Geradlinigkeit ist eine Grundvoraussetzung für Vertrauen. Vor der Wahl galt die Politik der ruhigen Hand;
nach der Wahl hat die hektische Hand eingesetzt, die
planlos gehandelt hat. Ein hakenschlagender Hase auf
der Flucht hat sehr viel mehr Geradlinigkeit, als es die
rot-grüne Politik in den letzten Jahren jemals hatte.
({49})
Unserem Land - Herr Bundeskanzler, das sage ich
aus tiefer Überzeugung - fehlt die politische Führung.
Darunter versteht man das, woran sich die Menschen
festhalten können: die Kalkulierbarkeit der Regierenden.
Aus dieser Kalkulierbarkeit entwickelt sich Vertrauen.
Ich nenne als Beispiel das Hickhack über die Steuererhöhungen - erst waren es 48; am Schluss waren es
noch 33 -, von denen Sie gewusst haben, dass sie im
Bundesrat am Ende keine Mehrheit finden werden. Man
hat trotzdem nach dem Motto „Was zwischendurch geschieht, ist uns egal“ ungeheuer viel Vertrauenskapital
zerstört. Die geplante 50-prozentige Steuererhöhung auf
Firmenwagen beispielsweise wird zwar keinen Euro in
die Kasse bringen; aber sie hat zutiefst Verunsicherung
ausgelöst, unserer Automobilwirtschaft geschadet und
Kaufzurückhaltung bewirkt.
Ein weiteres Beispiel: Sie haben über Monate aufrechterhalten - ich habe gehört, dass es jetzt richtigerweise doch nicht Bestandteil des entsprechenden Gesetzentwurfes ist -, den deutschen Bankkunden gläsern
machen zu wollen. Sie haben ihn damit verunsichert. Ich
finde, eine Politik, die auf die Verunsicherung der Wähler setzt, kann keinen Erfolg haben.
({50})
Wenn Sie mir nicht glauben, dann glauben Sie doch
den Wählerinnen und Wählern in Hessen, Niedersachsen
und Schleswig-Holstein. Die haben Ihnen dafür die entsprechende Quittung gegeben.
({51})
Wenn jetzt eine Änderung Ihrer Politik erfolgen soll,
dann ist das doch nicht einer besseren Einsicht zu verdanken, sondern ausschließlich den Wählerinnen und
Wählern in den drei genannten Bundesländern, die Ihnen
die rote Karte gezeigt haben. Auch in Ihrer Partei mehren sich die Stimmen, die Ihre Politik infrage stellen.
Ich kann nur feststellen: Ich wünsche mir, Ihnen und
unserem Land, dass das, was Sie angekündigt haben,
gelingt. Eckpunkte der Reformen, zum Beispiel der
Reform des Gesundheitswesens, haben wir vorher angekündigt. Sie haben richtigerweise - dafür bedanke ich
mich ausdrücklich - Horst Seehofer wieder freigesprochen. Was hat der Mann, der als unsozial bezeichnet
worden ist, in all den Jahren über sich ergehen lassen
müssen!
({52})
Sie haben die 98-er und die folgende Wahl gewonnen,
indem Sie immer wieder die Geschichte von den unterschiedlichen Zähnen der Armen und der Reichen erzählt
haben. Jetzt haben Sie endlich das gefordert, was
Seehofer vorgeschlagen hat: eine Beteiligung der Menschen an den kleinen Risiken, mehr Verantwortungsübernahme durch den Einzelnen. Das ist der richtige
Weg.
Von der demographischen Formel in der Rente bis hin
zu Lockerungen auf dem Arbeitsmarkt könnte ich Ihnen
nacheinander aufzählen, was alles bereits in unserem
Wahlprogramm stand. Ich kann es Ihnen nur immer wieder zur Lektüre empfehlen. Sie haben daraus abgekupfert. Sie haben bei dem, was Sie erklärt haben, auch die
Beschlüsse unserer Fraktion einbezogen. Das alles ist
richtig. Deswegen fordere ich Sie auf: Haben Sie den
Mut, sich für die Polemik und die Schmutzkübel zu entschuldigen, die Sie zuvor über die Union gegossen haben!
({53})
Auch das gehört zu einem Neuanfang.
Kündigungsschutz genießt bei Ihnen offensichtlich
nur Minister Eichel. Es gibt kaum einen Minister, der so
versagt hat, der so danebenliegt und der sich offensichtlich immer noch im Amt wohl fühlt. Das kann nur damit
zusammenhängen, dass gegenwärtig offensichtlich niemand bereit ist, dieses Amt zu übernehmen.
Verehrter Herr Minister Eichel, wenn ich Ihr Sündenregister aufzählen sollte, würde es meine Redezeit sprengen. Ich möchte nur so viel sagen: Eine weitere Ursache
der Kaufkraftschwäche und des mangelnden Vertrauens
bei uns im Land ist die Tatsache, dass nach Schätzungen
der „Financial Times Deutschland“ inzwischen 1 000 Milliarden Euro durch den Schornstein der Börse gejagt
worden sind. Diese bedrückende Zahl ist nicht nur Buchgeld, sondern schwächt auch die Kaufkraft.
({54})
- Das geht Sie nichts an. Ich habe an der Telekom-Aktie
weniger Geld verloren als andere Leute, weil ich ein
misstrauischer Mensch bin.
({55})
Der rot-grünen Regierung habe ich von Anfang an misstraut.
Herr Bundeskanzler, es lag doch in der Verantwortung
Ihres Finanzministers. Er hat doch den Menschen von
Herrn Krug die dritte Tranche der Telekom-Aktien für
66,50 Euro aufschwatzen lassen. Sie haben also über
Werbeagenturen einen Schwätzer eingestellt, um die
Leute zu belatschern. Dabei sind allein 15 Milliarden
Euro verloren gegangen. Damit haben Sie ein schlechtes
Beispiel für Ehrlichkeit, Klarheit und Wahrheit an der
Börse gegeben. Und es waren die kleinen Leute, die das
Geld verloren haben.
({56})
Eine Umverteilung von der Verkäuferin oder von einem
Industriearbeiter, die mit einer Aktie, die der Bund anbietet, auch privat vorsorgen wollen, hin zu einer angeblichen Haushaltssanierung ist das, was man unter Umverteilung von unten nach oben versteht. Auch hier sind
Wahrheit und Klarheit die Voraussetzungen, um Vertrauen zurückzugewinnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme
zur Verantwortung der Opposition.
({57})
Aufgabe der Opposition in einem demokratischen Land
ist es, Fehlentwicklungen offen zu legen und so weit wie
möglich zu korrigieren.
({58})
Wir können nicht die Probleme des Landes lösen
({59})
ohne Mehrheit im Deutschen Bundestag. Das ist nicht
möglich, das war nie möglich und das wird nie möglich
sein.
({60})
Ich sage noch einmal: Wo wir unbedingt gebraucht
werden und wenn es vernünftig ist, werden wir helfen.
Wir haben das zum Beispiel schon bei der Wiedereinführung einer vernünftigen Lösung für die so genannten geringfügigen Arbeitsverhältnisse gezeigt und wir werden
das auch in anderer Art und Weise tun. Aber Politik ist
natürlich immer wieder ein Bohren dicker Bretter mit einem dünnen Bohrer, um Max Weber zu zitieren.
({61})
Das ist in der Wirtschaftspolitik und in der Sozialpolitik
erforderlich. Max Weber fordert auch eine Politik mit
Leidenschaft und Augenmaß.
Herr Bundeskanzler, ein Letztes: Wer eine Kundgebung in einer niedersächsischen Provinzstadt - Goslar
hat sie, glaube ich, geheißen ({62})
für die passende Bühne der Weltpolitik hält, der hat es
ungeheuer schwer, in Deutschland und darüber hinaus
ernst genommen zu werden.
({63})
Ich meine, meine sehr verehrten Damen und Herren
hier im Hause und dort, wo Sie uns zuschauen: Deutschland braucht Glaubwürdigkeit und Vertrauen, gerade in
dieser schwierigen Zeit. Wenn wir mehr Zukunftschancen für die Deutschen schaffen wollen, wenn wir wollen,
dass die von Konrad Adenauer und Helmut Kohl aufgebauten außen- und europapolitischen Sicherheitsfundamente in der Zukunft weiter halten, dann müssen Vertrauen und Kalkulierbarkeit in die Politik zurückkehren.
Daran haben wir ein gemeinsames Interesse. Herr Bundeskanzler, wenn Sie dies tun, werden wir Sie dabei unterstützen.
Herzlichen Dank.
({64})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Franz Müntefering,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im Irak droht Krieg. Herr Glos hat das eben einen Waffengang genannt. Das hörte sich nach Spaziergang an. Krieg ist aber Zerstörung, Krieg ist Tod, Krieg
ist Elend, Krieg ist Armut. Herr Glos, wenn Sie sagen,
die Menschen im Irak haben ein Recht, in Freiheit zu leben, sage ich: Ja, sie haben vor allem ein Recht, zu leben, und deshalb wollen wir keinen Krieg im Irak.
({0})
Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles
nichts - das bleibt richtig. Deshalb ist und bleibt die
Politik von Gerhard Schröder, Joschka Fischer und dieser Koalition richtig, sich darum zu bemühen, das Gewaltpotenzial, das es im Irak bei Saddam Hussein zweifellos gibt, im Griff zu behalten und das Problem auf
friedlichem Wege zu lösen. Dies war und ist durch eine
intensive, lange Inspektion möglich. Krieg im Irak ist
nicht nötig und deshalb wollen wir ihn nicht.
({1})
Auch wenn sich in den nächsten Stunden und Tagen herausstellen sollte, dass es diesen Krieg doch gibt, so war
es richtig - und wir sind stolz damit -, dass wir in der
Koalition zusammen mit vielen Menschen in unserem
Lande den ehrenwerten Versuch unternommen haben, alles daranzusetzen, was in unseren Kräften stand und
steht, um diesen Krieg zu verhindern.
({2})
Frau Merkel, nun sind Sie an der Reihe; heute ist für
Sie die Stunde der Wahrheit. Lauwarm geht nicht mehr!
({3})
Sie müssen sich heute entscheiden und vor dem Deutschen Bundestag und dem deutschen Volk sagen, ob Sie
angesichts der Situation im Irak die Politik der Bundesregierung unterstützen oder ob Sie den Antrag stellen,
dass sich Deutschland an dem Krieg im Irak mit Soldaten beteiligen solle.
({4})
- Regen Sie sich nicht auf! In diese Alternative haben
Sie sich hineinmanövriert.
({5})
Entweder unterstützen Sie das, was die Bundesregierung
tut, oder Sie unterstützen, wie Sie es gestern angedeutet
haben, Frau Merkel, das, was der US-Präsident gesagt
hat.
({6})
Wenn Sie bei dem mitmachen wollen, was die Vereinigten Staaten tun, dann stellen Sie einen Antrag. Sie werden für ihn keine Mehrheit bekommen, selbst in den eigenen Reihen nicht. Aber dann ist in Deutschland klar,
wer hier was will. Hören Sie auf mit Lauwarm!
({7})
Am Freitag, dem 14. März, hat der Bundeskanzler hier
die Prinzipien und Leitlinien sowie eine Reihe konkreter
Maßnahmen für die wesentlichen politischen Projekte
der nächsten Zeit angesprochen: Gesundheitsreform,
Gemeindefinanzreform, Mittelstand, Wachstum, Arbeitnehmerrechte, Innovation, Jugend. An diesem Freitag
gab es von der Opposition zwei Antworten: eine Antwort Merkel, eine Antwort Stoiber. Was die Meinung der
Union ist, ist dabei nicht richtig klar geworden. Klar geworden ist nur, dass es in Ihrer Fraktion über das Verhalten von Herrn Stoiber Unmut gibt.
Dies beschrieb Herr Seehofer in seinem „Focus“-Interview, als er sagte, bei den Kollegen in der CDU/CSUFraktion herrsche großer Unmut, denn Stoiber habe in
der Rentenpolitik, beim Arbeitslosengeld und beim Kündigungsschutz Positionen bezogen, die nicht abgestimmt
seien. Dies wurde von Herrn Arentz, dem „Enkel“ von
Norbert Blüm, unterstrichen, indem er sagte, die Idee des
CSU-Vorsitzenden, das Gesetz erst in Betrieben ab
20 Mitarbeitern anzuwenden, nähme schlagartig 80 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland den Kündigungsschutz. Konsequenterweise
hat Herr Bosbach - Ihr Stellvertreter, Frau Merkel - geäußert, die CDU/CSU-Fraktion könne jetzt nicht die Frage
beantworten, was sie von den Ankündigungen des Bundeskanzlers mittragen werde und was nicht.
Das ist Ihr Problem: Sie haben seit einem halben Jahr
gefordert, die Regierungsparteien und die Koalition sollten auf den Tisch legen, was sie wollen. Nun haben wir
es auf den Tisch gelegt, aber nun wissen Sie nicht Bescheid, was Sie wollen. Sortieren Sie sich einmal und geben Sie eine klare Antwort! Jetzt ist die Zeit, in der man
dies nicht mehr länger verschieben kann.
({8})
Wir werden noch vor dem Sommer - es bleibt bei unserem Zeitplan - zu den drei großen Paketen Gesundheit, Gemeindefinanzreform sowie Mittelstand und
Wachstum unsere Konzepte auf den Tisch legen. Dann
werden Sie als Opposition gefragt sein, was Sie wirklich
wollen. Im Augenblick ist das nicht zu erkennen, aber
das stört uns nicht. Wir arbeiten daran, die Gesetzentwürfe in den nächsten Wochen vorzulegen. Dann werden
Sie sich entscheiden müssen.
Aber nicht nur Sie, sondern auch die übrige interessierte Öffentlichkeit hat die Rede vom vergangenen
Freitag ohne eine eigene klare Meinung und zum Teil
auch mit der Absicht aufgenommen, Dinge, die gesagt
worden sind, zu verzerren oder falsch darzustellen. In
der „Bild am Sonntag“ wurde auf den Seiten 2 und 3 das
Beispiel einer Familie und ihrer Betroffenheit durch unsere Ankündigung in Bezug auf das Arbeitslosengeld
dargestellt.
({9})
Zu Familienvater Lange, Alter 46, schreibt die „Bild am
Sonntag“: Verliert Lange seinen Job, erhält er zwölf statt
bisher maximal 32 Monate lang Arbeitslosengeld. Ein
46-Jähriger aber bekommt heute nicht 32, sondern maximal 18 Monate lang Arbeitslosengeld. Das muss man
nur wissen und wenn man es weiß, darf man nichts Falsches schreiben.
({10})
Weiterhin steht in der „Bild am Sonntag“, dass
Gabriele Lange, die Ehefrau von Herrn Lange, 44 Jahre
alt, wenn sie arbeitslos wird, künftig nur noch zwölf Monate lang Arbeitslosengeld bekommt. Ein 44-Jähriger
bekommt aber in Deutschland nie länger als zwölf Monate lang Arbeitslosengeld. Auch das muss man wissen
und darf nicht lügen, auch sonntags nicht. Das gilt auch
für die „Bild“-Zeitung.
({11})
Die Kürzung des Arbeitslosengeldes fällt Sozialdemokraten nicht leicht. Darüber gibt es bei uns eine intensive Diskussion, was auch angemessen ist. Man muss
sich aber vor Augen führen: Im Jahre 2001 - das wird
2002 nicht anders gewesen sein - haben 80 Prozent derer,
die in Deutschland Arbeitslosengeld bekommen, dieses
zwölf Monate lang oder kürzer bekommen, 7 Prozent haben es länger als 24 Monate lang bekommen. Vor diesem
Hintergrund sind die Fragen, wer in diesem Land was bezahlt und was zu tun ist, damit die sozialen Sicherungssysteme dauerhaft zu erhalten sind, erlaubt. Wir werden
darauf eine vernünftige Antwort geben, wie der Kanzler
sie bereits angesprochen hat. Unser Gesetzentwurf ist
vertretbar und wir werden ihn auch so beschließen.
({12})
Uns geht es darum, Arbeit zu schaffen, Wohlstand zu
sichern und soziale Gerechtigkeit auf hohem Niveau
dauerhaft möglich zu machen. Dazu brauchen wir einen
Haushalt, der diesen Ansprüchen genügt. Der Haushalt 2003 ist ein solcher.
({13})
Man kann das an einem Punkt klar machen: 1998 musste
der Bundesfinanzminister von jeder Mark Steuern, die er
einnahm, 22 Prozent für Zinszahlungen aufwenden.
Diese Quote ist unter Hans Eichel auf 19 Prozent reduziert worden. Das ist noch nicht das Ergebnis, das wir
letztlich brauchen, aber er muss von jedem Euro, den er
einnimmt, 3 Prozent weniger an Zinsen zahlen, als Sie
das 1998 noch mussten.
({14})
Deshalb sage ich Hans Eichel - ein Finanzminister muss
ja sehr viel aushalten - hier einmal Danke schön für die
Arbeit in diesen vier Jahren und auch für das, was jetzt
zu leisten ist.
({15})
- Ach ja, das wissen Sie doch. Wir alle stecken voller
Ideen dazu, was man noch tun könnte, aber der Finanzminister ist derjenige, der uns sagen muss, was geht und
was nicht. Da sind wir auch ehrlich miteinander. Wir bedrängen ihn auch, aber wir brauchen auf diesem Stuhl jemanden, der uns jeden Tag morgens und abends und
zwischendurch auch noch einmal sagt: Wir müssen in
diesem Land auch sparen, denn wir wollen, dass unsere
Kinder und Kindeskinder von uns noch etwas anderes
erben als Schuldscheine und Hypotheken, Herr
Austermann.
({16})
Stoiber ist am Freitag mit Spendierhosen durch den
Bundestag marschiert. Lesen Sie einmal nach, was er alles gesagt hat. Er ist schon ein Phänomen und hat eine
Rede der besonderen Art gehalten. Er fordert erstens zu
sparen, aber zweitens mehr auszugeben. Die Quadratur
des Kreises ist eine Kleinigkeit gegenüber dem, was
Herr Stoiber da erzählt hat.
({17})
- Frau Merkel lacht dankbar.
({18})
Es geht darum, die Kommunen in diesem Land in die
Situation zu versetzen, ihren Aufgaben gerecht werden
zu können.
({19})
Stadt und Gemeinde sind mehr als die bloße Ansammlung vieler Häuser.
({20})
Wenn wir über Föderalismus und bundesstaatliche Ordnung sprechen - Frau Merkel, auch Sie haben dieses
Thema angesprochen; es ist also von gemeinsamem Interesse -, dann kommt es darauf an, Zeichen zu setzen,
wohin hier die Reise gehen soll. Wir dürfen Kommunalpolitik nicht als ein Untergeschoss der Politik auffassen;
sie ist vielmehr eine tragende Säule der Demokratie. Das
ist ganz klar.
({21})
Weil das so ist, tun wir alles dafür, dass die finanzielle
Situation der Kommunen gestärkt wird.
({22})
- Ihre Politik ist kommunalfeindlich.
({23})
Sie haben am Freitag im Bundesrat das Steuervergünstigungsabbaugesetz abgelehnt. Dieses Gesetz - es enthält
unter anderem die Erhöhung der Körperschaftsteuer hätte den Kommunen in diesem Jahr 300 Millionen Euro
mehr gebracht. Sie haben am Freitag letzter Woche den
Kommunen für dieses Jahr also 300 Millionen Euro verweigert. Das ist Ihre Politik.
({24})
Sie haben durch Ihre Entscheidung am Freitag den
Kommunen zusätzliche Gelder in Höhe von 2,6 Milliarden Euro für das nächste Jahr verweigert. Auch das ist
Ihre Politik. Bis zum Ende dieser Legislaturperiode hätte
es durch das Steuervergünstigungsabbaugesetz 6,5 bis
7 Milliarden Euro mehr für die Städte und Gemeinden
gegeben. Das wollen wir erreichen. Sie jedoch verweigern das. Deshalb ist Ihre Politik kommunalfeindlich.
({25})
Heute Morgen habe ich gehört, dass Ministerpräsident Müller aus dem Saarland gesagt hat, die Erhöhung
der Mehrwertsteuer könne die Lösung sein. Ich bin gespannt. Denn im Moment geht es darum - das ist ein interessanter Punkt -, im Bundesrat die Zustimmung für
die Wiederbelebung der Körperschaftsteuer zu bekommen. Die großen Unternehmen mussten in unserer Regierungszeit bisher weniger Steuern zahlen als jemals
zuvor. Manchen von uns ist es schwer gefallen, das mitzutragen.
({26})
- Es ist interessant, was Sie sagen. Mit Ihrem Zwischenruf zeigen Sie doch, dass Sie der Meinung sind, die Unternehmen sollten Körperschaftsteuer zahlen. Wenn Sie
das wollen, warum lehnen Sie dann unseren Vorschlag
am Freitag im Bundesrat ab? Beschließen Sie das doch
mit uns! Das ist doch ganz einfach.
({27})
Durch die Wiederbelebung der Körperschaftsteuer
wollen wir versuchen, den breiten Schultern mehr aufzuladen, als sie bisher tragen.
({28})
Das haben wir im Gesetz so vorgesehen. Sie sind dagegen. Sie wollen diejenigen schützen, die in diesem Land
dringend wieder Steuern zahlen müssten. Stimmen Sie
der Erhöhung der Körperschaftsteuer zu! Das ist unser
Anliegen.
({29})
Sprechen Sie doch einmal mit Ihren Oberbürgermeistern und Bürgermeistern; ein paar von ihnen müssten Sie
ja noch kennen.
({30})
Lassen Sie sich von ihnen erklären, wie deren Haushalte
eigentlich aussehen. Sie rechnen für die Jahre 2003 und
2004 in ihren Haushalten mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz und dass sie dadurch von uns Geld
bekommen. Auch die Bürgermeister der CDU/CSU
rechnen in ihren Haushalten schon längst mit den Regelungen, die in unserem Gesetz stehen. Sie verweigern es
ihnen, Frau Oberbürgermeisterin von Kiel in spe.
({31})
Außerdem werden die Kommunen in diesem Jahr
etwa 2 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung haben,
weil wir sie vom Beitrag zur Flutopferhilfe entlasten.
Auch aus der Abgeltungsteuer aufgrund der Quasi-Amnestie werden sie zusätzliches Geld haben. Es geht um
2 Milliarden Euro in diesem Jahr. Ich bin gespannt, ob
Sie dem zustimmen. Herr Glos hat sich, was die Flutopferhilfe anging, eben etwas verplappert; zumindest
war es nicht logisch. Er hat gesagt, wir würden den Gemeinden das geben, was ihnen sowieso zusteht. Ich erinnere mich aber, dass Herr Glos, als wir die Entscheidung
getroffen haben, gefordert hat, wir sollten eine Steuersenkung vornehmen. In dem Fall wäre das Geld weg gewesen. Den Gemeinden nun mehr als 1 Milliarde Euro
zu geben ist nur möglich, weil wir in Sachen Flutopfer
so entschieden haben, wie wir entschieden haben. Herr
Glos, das müssten doch auch Sie begreifen, oder?
({32})
Wir werden bis zum Sommer entscheiden, wie wir bei
der Gewerbesteuer weiter verfahren. Wir müssen entscheiden, was die Rolle und Funktion der Gewerbesteuer
in Zukunft sein wird. Die Gemeinden brauchen eine größere Stabilität in ihren Haushalten. Daran arbeiten wir.
Dafür wollen wir sorgen. Äußern aber auch Sie sich
dazu. Bisher kann man nicht erkennen, was die CDU/
CSU eigentlich will. Wie soll Ihrer Meinung die Gewerbesteuer gestaltet werden? Wie soll die gewerbesteuerliche Organschaft aussehen? Wie sollen die freien Berufe einbezogen werden? Wir werden vorschlagen, dass
auch die freien Berufe in Zukunft, wie immer diese
Steuer dann heißt, in die Steuer einbezogen werden. Gewerbebetriebe müssen Gewerbesteuern zahlen. Das soll
in Zukunft auch für die freien Berufe gelten.
({33})
Wir geben den Kommunen und dem privaten Bereich
einen Kreditrahmen für Investitionen. Darüber sprechen Sie nicht viel. Es ist auch vor allen Dingen unsere
Aufgabe, darüber zu sprechen. Dabei geht es um einen
dicken Batzen, nämlich um den Kreditrahmen für die
Kommunen im Umfang von 7 Milliarden Euro. Sie sagen, dass das nicht allen Kommunen hilft, weil viele von
ihnen nicht die Möglichkeit haben, weitere Kredite aufzunehmen. Ich sage Ihnen: Das wissen wir; das ist richtig. Es ist auch kein Trost für diejenigen, die ganz
schwach sind.
Die Hälfte der Kommunen in Deutschland ist aber in
der Lage, solche Angebote zu nutzen, und sie werden sie
auch nutzen. Mit Zinsverbilligungen werden wir den
entsprechenden Impuls geben. Ich bin mir sicher: Mit
dem, was wir den Kommunen durch ein solches zinsverbilligtes Kreditprogramm zur Verfügung stellen, werden
wir viele zusätzliche private Investitionen auslösen.
Wir wollen, dass für das Handwerk und die kleinen und
mittleren Unternehmen in der Region Arbeit vor Ort entsteht.
Wenn Sie so wollen, geht es um niederschwellige Bauarbeit, die man nicht mit riesigen Losen in ganz Europa
ausschreiben muss und die dann von großen Unternehmen möglicherweise von irgendwoher in Europa geleistet wird. Wir wollen ein Programm, von dem die Handwerker und die kleinen und mittleren Unternehmen am
Ort etwas haben und durch das die Menschen Arbeit erhalten. Das ist hiermit angelegt und das funktioniert auch.
({34})
Das gilt natürlich auch für die 8 Milliarden Euro im
privaten Bereich. Die ersten Baransätze stehen in diesem
Haushalt; Walter Schöler hat es gestern erläutert. Mit
dem Haushalt, den wir heute beraten und über den wir
morgen endgültig entscheiden, beschließen wir auch, ob
es die KfW-Programme für die Kommunen und die Privaten gibt. Wer morgen gegen den Haushalt stimmt, der
stimmt auch gegen diese Hilfe für die Kommunen und
für die Privaten und dagegen, dass in Deutschland
Arbeitsplätze entstehen.
({35})
- Wenn Herr Austermann „Lügenbeutel“ zu mir sagt, ist
das fast ein Ehrentitel. Das nehme ich von Ihnen gerne
an, Herr Austermann.
({36})
- Sie gefallen mir nämlich in besonderer Weise. Ich habe
es mir in den letzten Tagen angeschaut. Sie können mich
beschimpfen, wie Sie wollen. Das trifft mich nicht. Dabei bin ich voller Gelassenheit.
({37})
So sind diese Leute eben, wie Herr Glos das gerade gesagt hat. Machen Sie also ruhig weiter.
({38})
Meine Damen und Herren, wir werden hierbei aber
nicht stehen bleiben. Auch im Bereich der energetischen Gebäudesanierung werden wir in diesem Jahr
drauflegen. 160 Millionen Euro stehen dafür im Haushalt. Auch darüber wird heute und morgen abgestimmt
werden. Herr Minister Stolpe und Herr Trittin haben das
in der Koalition miteinander vereinbart.
Was bedeutet das? Das bedeutet, dass wir dazu einladen und Impulse dafür geben, den Gebäudestand in
Deutschland energetisch zu modernisieren. Das hört sich
wie eine Kleinigkeit an. Wir stehen dabei aber vor einer
riesigen Aufgabe. 60 bis 70 Prozent der Gebäude, die im
Jahre 2060 in Deutschland stehen werden, stehen auch
heute schon. Durch diese kommt es zu einem viel zu hohen Energieverbrauch. Wir nehmen die alte Idee von Arbeit und Umwelt, bei der wir in Deutschland schon einmal weiter waren, wieder auf und sagen: Jawohl, man
kann mit einer vernünftigen energetischen Gebäudesanierung dafür sorgen, dass die Umwelt entlastet wird
und dass die kleinen Handwerker und mittleren Unternehmen Arbeit erhalten. 160 Millionen Euro stehen dafür im Haushalt. Stimmen Sie morgen zu und tun Sie ein
gutes Werk für das Handwerk vor Ort.
({39})
In unserem Haushalt gibt es ein Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien. Zu Zeiten von
Helmut Kohl standen dafür 10 Millionen pro Jahr zur
Verfügung; inzwischen sind es 190 Millionen. Dieses
Thema hat hier in den vergangenen Jahren leider keine
große Rolle gespielt. Vielleicht sollten wir uns das ein
wenig genauer anschauen und die Naturkatastrophen der
vergangenen Jahre nicht als Jahrhundertereignisse hinnehmen, so als wären alle Naturkatastrophen dieses Jahrhunderts sozusagen schon abgefeiert. Wir sollten begreifen, dass hiermit etwas auf die Zivilisation zukommt,
womit wir uns auseinander zu setzen haben.
In der letzten Legislaturperiode gab es im Deutschen
Bundestag 16 Abstimmungen, bei denen es um die Frage
ging, ob man mit Energie vernünftiger, sparsamer und
rationeller umgehen kann und ob man die erneuerbaren
Energien stärker als bisher fördern soll. 14-mal haben
Sie dagegen gestimmt - das also zur Frage der Sensibilität in Sachen Umweltpolitik auf der rechten Seite des
Hauses.
({40})
Der eigentliche Punkt für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes ist gestern noch einmal deutlich geworden,
als wir hier über Bildung und Forschung gesprochen
haben. Das war für Sie eine Lehrstunde. Diejenigen von
Ihnen, die dabei waren, werden selbst gemerkt haben,
wie Sie hier jämmerlich eingebrochen sind. Diejenigen,
die nicht da waren, sollten es einmal nachlesen. Frau
Merkel, ich empfehle Ihnen wirklich, nachzulesen, was
sich hier gestern abgespielt hat.
({41})
Die Studierendenquote in Deutschland ist in den letzten Jahren während unserer Regierungszeit von 28,5 auf
35,6 Prozent je Jahrgang gestiegen. Diese Quote werden wir in dieser Legislaturperiode auf 40 Prozent steigern.
({42})
Wir als Koalition geben in dieser Legislaturperiode
8,5 Milliarden Euro für die Ganztagsbetreuung von
Kleinkindern und Kindern im Grundschulalter aus.
4 Milliarden Euro werden für die Ganztagsschulen bereitgestellt. Ab nächstes Jahr werden es je 1,5 Milliarden
Euro pro Jahr für die Kleinkinder sein. Herrn Stoiber
und Herrn Glos aus Bayern sage ich: Krippe hat nicht
nur etwas mit Weihnachten, sondern auch mit der Erziehung von Kindern unter drei Jahren zu tun. Tun Sie in
diesem Punkt einmal etwas!
({43})
Die Mittel im Etat für Bildung und Forschung sind um
25 Prozent gestiegen. Wir haben dafür gesorgt, dass im
Bereich der Biotechnologie der Ansatz von 180 Millionen Euro in 1998 auf 262 Millionen Euro in 2002 erhöht
worden ist. Im Bereich der Informationstechnik wurde
der Ansatz im selben Zeitraum von 478 Millionen Euro
auf 612 Millionen Euro und im Bereich der Gesundheit
von 295 Millionen Euro auf 400 Millionen Euro in diesem Jahr aufgestockt. So werden wir das auch weiter machen.
Der Bundeskanzler hat am Freitag deutlich gemacht,
dass Forschungseinrichtungen im nächsten Jahr mit einer Erhöhung der Mittel um 3 Prozent rechnen können.
Wir wissen, dass sich die Zukunftsfähigkeit unseres
Landes nicht an unserer aktuellen Debatte über bestimmte sozialstaatliche Zusammenhänge messen lässt,
sondern sie entscheidet sich letztlich an der Frage, ob
unser Land innovativ ist, ob wir so viel in die Köpfe und
Herzen der nachwachsenden Generation investieren,
dass der Wohlstand und gleichzeitig die soziale Gerechtigkeit in Deutschland auch morgen und übermorgen auf
hohem Niveau gesichert sind. Vor dieser Aufgabe stehen
wir. Deshalb ist bei der Finanzierung die Innovation das
Wichtigste.
({44})
Das, was wir zu leisten haben, dauert seine Zeit. Wir
alle in Deutschland müssen uns bewusst sein - darüber
müssen wir sprechen, obgleich wir uns fragen müssen,
ob das taktisch klug ist -, dass die Reformpläne, die wir
jetzt nach der Regierungserklärung des Bundeskanzlers
beginnen und noch vor der Sommerpause auf den Tisch
legen werden, die Dinge nicht so schnell verändern werden, wie wir wollen. Es ist ein Problem unserer Zeit,
dass immer eine sofortige Umsetzung mit schnellen Ergebnissen erwartet wird.
Am Wochenende hat sich jemand bei mir darüber beschwert, dass manches nicht klappt. Er war der Ansicht,
dass die Minijobs nach dem Hartz-Konzept ein Flop
seien, weil sie nicht funktionierten. Meine Antwort war:
Guten Morgen! Diese Regelung tritt erst am 1. April dieses Jahres in Kraft. - Dies ist symptomatisch, weil viele
Menschen glauben, die Dinge könnten sofort umgesetzt
werden. Das Verhängnisvolle ist, dass nach einer Regierungserklärung oder einer Ankündigung diese Ideen auf
den Seiten 1 und 2 von bedeutsamen Zeitungen aufgegriffen werden und damit bei den Menschen der Eindruck entsteht, dass diese Ideen schon am Abend desselben Tages realisiert sind. Das ist nicht so.
Wir brauchen Zeit. Für das, was wir jetzt beginnen,
brauchen wir etwa ein Jahr. In dieser Zeit werden wir es
schaffen, von einem heute unvollkommenen Arbeitsmarkt mithilfe des Hartz-Konzeptes zu einem besser organisierten Arbeitsmarkt im Jahre 2004 zu kommen. Wir
müssen es erreichen - wir werden mit der Umsetzung
hoffentlich 2003 beginnen -, 2004 zusätzliche Arbeitsplätze in diesem Lande zu schaffen. Dafür brauchen wir
Ausdauer. Das müssen wir wissen.
({45})
Das kann keine Entschuldigung dafür sein, irgendetwas liegen zu lassen. Wir machen Tempo und werden
auf Fortschritte drängen. Aber ich will ganz realistisch
klar machen: Die angekündigten Reformen und ihre
Umsetzung bis zum Sommer werden nicht dazu führen,
dass alles in kürzester Zeit wieder in Ordnung kommt.
Dabei sehe ich einmal von den Rahmenbedingungen in
der Welt ab, die ebenfalls eine Rolle spielen.
Abschließend möchte ich sagen: Es ist uns mit dem
Fortschritt Ernst. Wir wollen Fortschritte in dem Sinne,
dass sich dieses Land weiterentwickelt. Das bedeutet für
uns Wohlstand und soziale Gerechtigkeit. Diesen Fortschritt werden wir in der Koalition sozialdemokratisch
buchstabieren, wie es sich für Sozialdemokraten gehört:
sozial und demokratisch.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({46})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Wolfgang Bosbach.
Herr Kollege Müntefering, Sie haben es für notwendig befunden, in Ihrer Rede auf ein Interview Bezug zu
nehmen, das ich WDR 5 wenige Stunden nach der Rede
des Bundeskanzlers gegeben habe. Sie haben gesagt, ich
hätte mich in diesem Interview so geäußert: Die Union
weiß nicht, was sie von den Vorschlägen des Bundeskanzlers mittragen kann und was nicht.
Ich habe in diesem Interview gesagt, dass ich die Frage,
was die Union letztendlich im Bundesrat mit unterstützen
wird und was nicht, wenige Stunden nach der Rede des
Bundeskanzlers deshalb nicht beantworten kann, weil wir
weder wissen noch wissen können, was in den Gesetzentwürfen stehen wird, die die Koalition oder die Bundesregierung zur Umsetzung der Vorschläge vorlegen müssen.
({0})
Ich habe das in diesem Interview auch ausführlich begründet: Erstens. Wenige Minuten nach der Rede des
Bundeskanzlers haben sich die ersten prominenten Sozialdemokraten, auch aus Ihren Reihen, zu Wort gemeldet
und erbitterten Widerstand angekündigt, und zwar unter
anderem unter Bezugnahme darauf, dass einige Vorschläge in krassem Gegensatz zu dem stehen, was die
SPD im Bundestagswahlkampf versprochen hat.
Zweitens. Wir haben genau aufgepasst, an welchen Stellen die SPD geklatscht hat und an welchen Stellen nicht.
({1})
Drittens. Wir haben doch Erfahrungen mit den Versprechungen, die Sie machen, wenn es heißt: Wir setzen
die Vorschläge des Bundeskanzlers im Maßstab 1 : 1 um.
Sie haben das dem deutschen Volk feierlich geschworen,
als es zum Beispiel um die Vorschläge des Hartz-Konzeptes ging. Umgesetzt haben Sie einen Teil Hartz, einen
Teil Wasser. Das haben Sie der Bevölkerung nicht versprochen. Wir wollen sehen, ob all das, was der Bundeskanzler gesagt hat, exakt so in den Gesetzentwürfen stehen wird, die diese Regierung vorlegen muss.
({2})
Der Bundeskanzler hat auch gesagt, die Arbeitslosenhilfe solle in der Regel auf dem Niveau der Sozialhilfe
liegen. Was heißt das? Wann soll sie das Sozialhilfeniveau haben und wann nicht? Die Antworten darauf können wir nur einem Gesetzentwurf entnehmen, den es zur
Stunde nicht gibt.
Wenn Sie uns danach fragen, was wir mittragen und
was nicht, fällt die Beantwortung leicht: Wir werden das
mittragen, was den Interessen des Landes dient und die
Probleme löst.
({3})
Wir werden das ablehnen, was den Interessen der Menschen in unserem Land widerspricht. So einfach ist diese
Frage zu beantworten.
({4})
Wenn Sie es als Fraktionsvorsitzender der größten
Fraktion des Bundestages notwendig haben, Zitate zu
fälschen,
({5})
offenbart das Zweierlei: ihren Charakter und die Tatsache, dass Sie keine guten Argumente haben.
({6})
Kollege Müntefering, Sie haben Gelegenheit zur Antwort.
Herr Kollege Bosbach, das Zitat lautet:
Wir können jetzt zu dieser Stunde natürlich gar
nicht die Frage beantworten, was wir denn von den
Ankündigungen des Bundeskanzlers mittragen werden und was nicht.
({0})
Das war an diesem 14. März.
Mir ist an diesem Tag aufgefallen, dass es zwei Reden
gegeben hat, und zwar von Frau Merkel und Herrn Stoiber, die sehr unterschiedlich waren.
({1})
Meine Kritik an Ihrer Reaktion ist gewesen und ist es
auch jetzt: Sie haben zwei Dinge an diesem Freitag nicht
geschafft. Sie hatten selbst keine eigene, in sich geschlossene abgestimmte Meinung
({2})
und Sie waren entgegen allen Ankündigungen nicht vorbereitet.
({3})
Sie haben uns ein halbes Jahr ermahnt: Nun legt einmal
auf den Tisch, was ihr wollt!
({4})
Das hat die Koalition mit einer Vorankündigung von
zwei Wochen getan. Ich war bass erstaunt, was anschließend Frau Merkel und Herr Stoiber gesagt haben, nämlich Dinge, die sich fundamental widersprachen und die
bei Ihnen übrigens auch zu seltsamen Reaktionen geführt haben.
({5})
Was das Klatschen angeht, Herr Bosbach: Wenn in
diesem Bundestag gesagt wird, dass es im Irak doch
Krieg geben müsse, dann klatschen Sozialdemokraten
nicht. Das ist klar. Wenn in diesem Bundestag gesagt
wird, dass man leider das Arbeitslosengeld zusammenstreichen bzw. kürzen müsse und leider die Arbeitslosenhilfe gekürzt werden müsse, klatschen wir nicht.
Weshalb sollen wir denn klatschen? Das ist eine Herausforderung, die sich an die Menschen richtet und uns bitter wehtut. Das wissen wir und damit gehen wir nicht
leichtfertig um. Wenn wir das noch beklatschen würden,
dann hätte ich das Gefühl, ich säße auf Ihrer Seite.
({6})
Sie haben, Herr Bosbach, als Herr Stoiber hier erklärt
hat, er wolle und er werde vorschlagen, dass der Kündigungsschutz in Betrieben mit 20 und weniger Beschäftigten abgeschafft wird, zum Teil geklatscht.
({7})
- Das ist ja hochinteressant. Könnten Sie jetzt auch noch
sagen, weshalb Sie nicht im Saal waren, als Herr Stoiber
sprach?
({8})
Ich möchte Ihnen nur abschließend sagen: Sie waren
nicht im Saal und auch nicht im Bilde.
({9})
Ich erteile das Wort Herrn Kollegen Guido
Westerwelle, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Wenn Sie brav Bitte sagen, dann frage ich einmal, ob
einer in unseren Reihen für Sie ein Paar Stöckelschuhe
hat.
Ich glaube, dass diese Diskussion heute in einem so
ernsten Umfeld stattfindet, dass wir uns mit der entscheidenden Frage zu Beginn auseinander setzen sollten.
Herr Kollege Müntefering, Sie haben heute eine Rede
gehalten, die vor allen Dingen ein Kennzeichen hat.
({1})
Sie haben in dieser Rede eine Arbeitsteilung versucht,
die wir in den Wahlkämpfen, im Bundestagswahlkampf
und in den Landtagswahlkämpfen, schon zweimal erlebt
haben. Die Arbeitsteilung, die Sie in diesem Hause und
vor der deutschen Öffentlichkeit versuchen, sieht wie
folgt aus: Erstens. Wer die Arbeit von Rot-Grün kritisiert, ist gegen Deutschland.
({2})
- Dass dabei noch einer von Ihnen klatscht, veranlasst
mich zu der Bemerkung: Einer muss in jedem Saal der
Dümmste sein, aber Sie müssen sich nicht freiwillig melden.
({3})
Zweitens. Wer wie wir in der Außen- und Sicherheitspolitik eine Haltung vertritt, die sich an der Zugehörigkeit zum Bündnis und der Völkergemeinschaft orientiert,
der wird - das hat der Bundeskanzler selbst getan - zum
Kriegswilligen gestempelt. Ich glaube, wir nehmen in
unserer Zusammenarbeit und auch in dem Ansehen dieses Hauses in der Öffentlichkeit Schaden, wenn wir uns
auf diese Art und Weise auseinander setzen. Wer RotGrün kritisiert, ist nicht gegen Deutschland, sondern gegen die Politik von Rot-Grün, und wer eine andere Außen- und Sicherheitspolitik will, ist kein Kriegswilliger,
sondern ein genauso großer Friedensfreund wie Sie auf
der Seite der Regierungsfraktionen.
({4})
Wir haben nicht zum ersten Mal über eine andere
Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik gesprochen. Wenn Sie nach Alternativen fragen, dann sollten
diese auch aufgezeigt werden.
({5})
Im Januar kam es endlich zu einem Gipfel der Europäischen Union mit einer Erklärung der Staatschefs, in der
ausdrücklich die militärische Intervention als letztes
Mittel zur Beseitigung von Massenvernichtungswaffen
im Irak gebilligt wurde. Hätten Sie diese Haltung von
Anfang an vertreten, befänden wir uns heute nicht so
nahe an einem Krieg. Dass wir heute einem Krieg so
nahe sind, ist dem Versagen der Diplomatie zu verdanken, ausdrücklich auch dem Versagen der deutschen Außenpolitik dieser Regierung.
({6})
Da Sie sich in Ihren Zwischenrufen so heftig dagegen
wehren, will ich einen Ihrer Genossen zitieren,
({7})
der sich heute auf europäischer Ebene zu diesem Thema
geäußert hat. Es handelt sich um den früheren Kollegen
in diesem Hause, Günter Verheugen. Ihr SPD-Kollege
hat als EU-Kommissar heute Vormittag der Europäischen Union vorgeworfen, durch ihre Uneinigkeit in der
Irakfrage an politischem Gewicht zu verlieren. Er hat
festgestellt, der Einfluss Europas werde nicht geltend gemacht, weil alle wie ein Hühnerhaufen durcheinander
liefen. Genau das haben wir kritisiert. Ein besonders
schädliches Huhn, um in diesem Bild zu bleiben, war
diese Regierung.
({8})
Wir alle wollen keinen Krieg, sondern den Frieden.
Aber wir wollen auch Sicherheit in der Welt und wir
wollen nicht, dass ein Diktator in unserer unmittelbaren
Nachbarschaft im Besitz von Massenvernichtungswaffen
ist. Der irakische Diktator Saddam Hussein weigert
sich seit Jahren beharrlich, den einschlägigen Resolutionen zur Entwaffnung des Iraks nachzukommen. Er hat
insgesamt gegen 17 Resolutionen der Vereinten Nationen verstoßen und damit vielfach das Völkerrecht gebrochen. Der irakische Diktator ist nicht das Opfer, sondern
der Täter. Es ist mir wichtig, das in dieser Debatte zu betonen, weil in der öffentlichen Diskussion mittlerweile
Opfer und Täter verwechselt werden.
({9})
Er ist ein Menschenverächter, der sein Volk unterdrückt,
vergewaltigt, mordet und - das muss leider festgestellt
werden - mit biologischen und chemischen Waffen geradezu vergast. Alle, die sich einer Wertegemeinschaft zugehörig fühlen, haben den Auftrag, geschlossen dem
irakischen Diktator entgegenzutreten. Wäre diese Geschlossenheit der Völkergemeinschaft von Anfang an
gewahrt worden, statt sie von beiden Seiten des Atlantiks infrage zu stellen, wären wir heute in einer besseren
Situation.
({10})
Der irakische Diktator kann seinem Volk einen letzten
Dienst erweisen. Er kann ihm Freiheit und Frieden verschaffen, indem er das Land verlässt.
Wir Freien Demokraten bedauern, dass die diplomatischen Bemühungen zur Lösung der Krise bislang nicht
erfolgreich waren. Die Verantwortung für diese Situation
liegt auf beiden Seiten des Atlantiks. Ich betone ausdrücklich - wir haben das von Anfang an, mehrfach
auch im Deutschen Bundestag, vertreten -: Ein - möglicherweise bevorstehender - militärischer Konflikt ohne
klare Legitimation durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kann nicht die Billigung der Freien Demokraten finden.
({11})
Wir haben uns stets am Völkerrecht orientiert. Wir wollen, dass wir in einem europäischen Bündnis, in einem
Bündnis der Völkergemeinschaft handeln. Deswegen
halten wir an unserer Haltung auch nach dem Bush-Ultimatum fest: Wir lehnen jeden nationalen Alleingang
ohne entsprechende Resolution der Vereinten Nationen
ab.
({12})
Für die Freien Demokraten ist und bleibt der Sicherheitsrat die völkerrechtliche Legitimationsinstanz für
Konfliktlösungen. Damit sind wir bei einer sehr sensiblen Frage, über die auch außerhalb dieses Hauses von
Mitgliedern dieses Parlaments diskutiert wird, und zwar
nicht nur von dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Herrn Ströbele. Kollege Ströbele, der,
wie gesagt, immerhin stellvertretender Vorsitzender einer Regierungsfraktion ist, vertritt die Auffassung, es
handle sich bei der geplanten Intervention um einen
„völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“.
({13})
- Nein, Sie müssen genau zuhören, was gesagt wird. Das
sind nämlich ganz feine Unterschiede.
Ich würde mir als Oppositionspolitiker nicht anmaßen - gerade weil ich als Jurist weiß, wie unterschiedlich das Völkerrecht in den einzelnen Ländern interpretiert wird; ich sehe am Nicken, dass die Experten das
genauso sehen -, die deutsche völkerrechtliche Mehrheitsmeinung zum alleinigen Maßstab für die Weltvölkerrechtsmeinung erklären. Hier muss man vorsichtig
sein. Wir als Abgeordnete dürfen aber in einer solchen
Situation wie der jetzigen ein klares Wort der beiden
Verfassungsminister erwarten. Ich möchte von der Justizministerin und vom Innenminister von dieser Stelle
aus hören, wie sie das bewerten; denn sie haben dem
Parlament Rechenschaft abzulegen.
({14})
Sie sind für die Einhaltung der Verfassung zuständig.
Von ihnen dürfen wir also erwarten, dass sie darlegen,
wie die Bundesregierung das bewertet. Sie haben gesagt,
lauwarm komme man nicht weiter. Ich kann dazu nur
sagen: Das richtet sich vor allen Dingen an die Adresse
der Regierung, die sich bisher vor einer klaren juristischen Bewertung drückt.
({15})
Wir müssen - das ist bereits angesprochen worden
und das wird weiterhin angesprochen werden - noch
über einen anderen Punkt reden. Es geht nicht nur um
unsere Kritik an dem Verhalten der deutschen Außenpolitik und der deutschen Diplomatie, sondern auch um
das, was uns möglicherweise konkret bevorsteht. Wir
entscheiden in dieser Woche über die Verlängerung eines
Mandats, das - wir alle hoffen, dass diese Einschätzung
richtig ist - weit sicherer ist als das, worüber wir im
Augenblick diskutieren. Herr Kollege Gerhardt und ich
haben Ihnen, Herr Bundeskanzler, das bereits in dem
gestrigen Gespräch dargelegt, zu dem Sie uns dankenswerterweise eingeladen hatten, um uns zu informieren.
Es muss übrigens positiv erwähnt werden, dass es einen
solchen Gesprächsfaden wieder gibt. Ich appelliere an
Sie - ich hoffe, dass Sie das tun werden -, diesen Gesprächsfaden fortzusetzen. Man kann zwar in solchen
Situationen wie der jetzigen vieles politisch unterschiedlich bewerten. Aber wir alle haben dieselbe Verpflichtung, nämlich das Beste für unser Land zu tun. Sie
können sich aber nicht lauwarm um die Frage herumdrücken: Ist für den Einsatz deutscher Soldaten in
AWACS-Aufklärungsflugzeugen ein entsprechendes
Mandat dieses Parlaments notwendig oder nicht? Sie
müssen gegenüber dem Deutschen Bundestag verbindlich klarstellen, welches Mandat diese Soldaten haben
und wie die unkalkulierbaren Risiken aussehen, die sich
im Laufe eines solchen Mandats ergeben können. Das ist
keine akademische, sondern eine außerordentlich handfeste Frage, die uns natürlich auch in der Praxis beschäftigen muss.
Alle Fraktionen haben Briefe von unseren Soldatinnen und Soldaten bekommen - einige haben hier diese
Debatte verfolgt -, in denen sie fragen, wie sich der
Deutsche Bundestag dazu stellt. Die Verfassungslage in
Deutschland ist klar: Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee und keine Regierungsarmee. Die Verpflichtung jedes Abgeordneten ist, dafür zu sorgen, dass die
Soldaten nicht in eine unklare Situation geraten. Zunächst einmal trägt jeder von uns - gleichgültig ob er der
Opposition, einer der Regierungsfraktionen oder der
Regierung angehört - Verantwortung gegenüber jedem
einzelnen Soldaten, der einen - im Zweifelsfall lebensgefährlichen - Auftrag wahrnimmt.
({16})
Man darf Soldaten wegen eines solchen Auftrags nicht
in eine unklare Rechtslage schicken.
Ich verweise auf ein Schreiben, das mir unser Experte
Günther Nolting dankenswerterweise überlassen hat.
Dieses Schreiben hat eine Truppenkameradschaft aus
Geilenkirchen - sie stellt Mitglieder der Besatzung unserer AWACS-Flugzeuge - an uns gerichtet. Angehörige
dieser Truppenkameradschaft schreiben uns, die deutschen Soldaten befänden sich aufgrund der direkten Unterstellung des Verbandes unter das NATO-Kommando
ohne entsprechenden Parlamentsbeschluss kurzfristig in
einem Kriegseinsatz, ohne dass die verfassungsmäßige
Grundlage eingehalten und damit die rechtliche Absicherung gegeben sei.
Wenn Sie eine Fürsorgepflicht gegenüber diesen Soldaten empfänden und der Meinung wären, diese Soldaten könnten in Schwierigkeiten geraten, dann müssten
Sie sich dem Parlament stellen. Wir sind bereit, Ihnen
das entsprechende Mandat zu geben, weil wir zu unseren
Soldaten stehen. Aber Sie dürfen diese Soldaten auf keinen Fall in solche Schwierigkeiten bringen. Wir wissen
doch auch, warum Sie sich dem Deutschen Bundestag
nicht stellen wollen. Sie wollen das nicht, weil Ihre Regierung dann Probleme bekäme. Wir, die Abgeordneten,
dürfen aber nicht zulassen, dass Soldaten in größte
Schwierigkeiten geraten, nur um Ihnen, Herr Bundeskanzler, Schwierigkeiten mit Ihrer eigenen Koalition zu
ersparen.
({17})
Zu diesem Teil möchte ich zum Schluss Folgendes
sagen: Wir werden in einiger Zeit das, was Sie in diesen
Monaten getan haben, nicht danach bewerten, ob Sie
Stimmungen entsprochen haben. Das war schließlich Ihr
eigentlicher Ansatz. Warum sonst haben Sie eine solche
Frage der nationalen Sicherheit auf einer Wahlkampfveranstaltung in Goslar der Welt mitgeteilt? Es ist ein
großer Qualitätsverlust auf dem Feld der deutschen Außenpolitik, dass solche historischen Fragen auf Wahlkampfveranstaltungen und nicht bei den Vereinten Nationen oder in Brüssel behandelt werden.
({18})
Das ist unerträglich.
Sie werden irgendwann zurückblicken und dann geht
es nicht um die Frage, ob Sie Stimmungen entsprochen
haben. Dann geht es auch nicht um die Frage, ob Sie
Beifall bekommen haben. Dann geht es nämlich um die
Fragen: Was hat Ihre Regierung konkret erreicht und wo
ist Ihre Regierung außenpolitisch tatsächlich angekommen? Ich fürchte - das ist nichts, worüber sich irgendjemand in diesem Hause freut -, dass wir irgendwann
auf diese Zeit zurückblicken und feststellen werden: Es
kam zu diesem Krieg, weil auch wir, die Deutschen, zur
Uneinigkeit des Bündnisses beigetragen haben
({19})
und wir damit den Druck von Saddam Hussein genommen haben. Wir werden feststellen: Dieser Krieg hat
stattgefunden; er hat Menschenleben gekostet und es
gilt, jedes Menschenleben zu betrauern. Wir werden feststellen: Das NATO-Bündnis ist um Jahrzehnte zurückgeworfen worden. Dasselbe gilt für unser Ziel einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.
Ich komme am Schluss dieses Teils meiner Ausführungen zu folgendem Ergebnis: Herr Bundeskanzler, Sie
haben dieses Land nicht nur wirtschaftspolitisch ruiniert,
sondern auch außenpolitisch in eine totale Sackgasse geführt.
({20})
Herr Bundeskanzler, das muss Ihnen ins Stammbuch geschrieben werden.
Wir merken schon jetzt, wie sich die Vorzeichen verändert haben. In der öffentlichen Diskussion ist von
Achsen die Rede - übrigens auch von zahlreichen Ihrer
Kolleginnen und Kollegen -, und zwar von Achsen nicht
mehr im Sinne von Bündnis. Die Achse, die jetzt gemeint ist, ist Berlin-Paris als Alternative zur früheren
Achse mit Washington. Ich habe zu den Vereinigten
Staaten das kritisch gesagt, was gesagt werden muss.
Glauben Sie allen Ernstes, dass der deutschen Außenpolitik gedient ist, wenn eine Achse Berlin-Paris-London-Washington durch eine Achse Paris-Berlin-Moskau-Peking ersetzt wird? Das wird nicht funktionieren!
Man muss doch vorhersehen, was hiermit an historischem Schaden angerichtet wird!
({21})
Jetzt merken wir, wie Sie sich einlassen. Ich kann dieses Kapitel etwas kürzen, weil wir schon am Freitag ausführlich darüber gesprochen haben.
({22})
- Es ist sehr bemerkenswert, wie Sie dazwischenrufen.
Es ist manchmal bedauerlich, dass die Qualität Ihrer Zwischenrufe nicht über die Fernsehgeräte zu den Zuschauerinnen und Zuschauern vordringt. Dass man sich bei einer
solch ernsten Debatte so niveaulos einbringt, wie Sie das
tun, wäre ganz bestimmt auch unserem Volk peinlich.
({23})
Wir merken jetzt, wie Sie sich darauf einrichten und
Ausreden bringen.
({24})
Herr Bundeskanzler, Sie haben das am Freitag bereits intoniert. Bei der zweiten, der eigentlichen Regierungserklärung, die genauso länglich war wie Ihre, nämlich von
Herrn Clement, ist das präzise ausgeführt worden. Spannend ist es, als Abgeordneter einmal beide Regierungserklärungen genau nachzulesen; denn sie stehen in einer
interessanten Spannung zueinander. Sie machen jetzt genau das, was Sie in Wahrheit intellektuell nicht machen
dürfen: Sie finden schon jetzt die Begründung dafür,
dass Sie sowohl haushaltspolitisch als auch wirtschaftspolitisch alle Ihre Ziele, unsere Ziele, verfehlen werden.
Sie sagen schon jetzt - am Freitag haben Sie damit angefangen; Herr Müntefering hat es wieder intoniert -: Wir
werden die Arbeitslosigkeit leider nicht so verringern
können - wegen der Weltlage. Wir werden die Stabilitätskriterien leider nicht einhalten können - wegen der
Weltlage. - Das hat mit der Weltlage nichts zu tun.
({25})
Das hat auch mit Globalisierung nichts zu tun. Das hat
etwas mit schlechter Politik und vor allem auch etwas
mit katastrophalen Rahmenbedingungen für unsere Wirtschaft, verursacht durch die Bundesregierung, zu tun.
({26})
Nichts anderes werden Sie hier vortragen können;
denn die anderen Länder in Europa kommen zurecht; sie
haben bessere Ausgangsvoraussetzungen.
({27})
- Ach, Herr Kollege Eichel! Dass Sie auf der Regierungsbank an der Stelle empört aufschreien, kann ich
nachvollziehen. Aber wer in diesem Hause soll Ihnen
nach den Versprechungen, die Sie vier Wochen vor der
Bundestagswahl gemacht haben, noch irgendetwas abnehmen, Herr Bundesfinanzminister?
({28})
Das schenken Sie sich besser; das können Sie wirklich
einsammeln.
Wir haben erreicht, dass wir über Wirtschaftspolitik
reden, und das muss auch erfolgen. Wir sagen Ihnen: Es
reicht nicht aus, dass Sie in der Wirtschaftspolitik nur
das machen, was Sie am Freitag angekündigt haben, wobei Ihre eigenen Leute das, was Sie angekündigt haben,
schon wieder einrollen. Sie müssen mutiger werden.
({29})
Sie müssen wirklich eine Ruck-Rede halten. Sie müssen
Ihren Worten auch Taten folgen lassen. Sie müssen endlich begreifen: Der Weg der Münteferings - da predigt
man in Wahrheit nur noch Klassenkampf -,
({30})
der Weg, der in der Wirtschaftspolitik des 19. Jahrhunderts begründet ist, führt in der Moderne nicht weiter.
({31})
Wir brauchen in einer Dienstleistungsgesellschaft endlich moderne Strukturen auf dem Arbeitsmarkt. Wir
dürfen nicht mehr von Ihrem Weltbild des Hochofenarbeiters, der Dienstmagd und des Stallknechts ausgehen. Das ist von gestern.
Deswegen brauchen wir niedrigere Steuern. Das
schafft auch höhere Staatseinnahmen. Wir brauchen ein
flexibles Arbeitsrecht. Das schafft Bewegung auf dem
Arbeitsmarkt. Wir brauchen Privatisierung. Wir brauchen Subventionsabbau,
({32})
und zwar tatsächlich auch und gerade da, wo Sie sich
wehren, zum Beispiel bei der Kohle. Wenn wir dieses
Land nicht von der bürokratischen Staatswirtschaft in
eine soziale Marktwirtschaft umwandeln, dann bleibt es
bei der Massenarbeitslosigkeit. Sie wird größer und
nicht kleiner werden - leider.
({33})
Deswegen werden wir uns auch mit denen unter Ihnen
auseinander setzen und auseinander setzen müssen, die aus
den Gewerkschaften kommen; das sind 75 Prozent. Wir
haben im Deutschen Bundestag mittlerweile nicht mehr
das, was im Grundgesetz angelegt ist, nämlich einen fairen
Interessenausgleich der Tarifparteien. Wenn 75 Prozent
von Ihnen selber aus einer Gewerkschaft kommen, dann ist
der im Grundgesetz angelegte Interessenausgleich zwischen den Tarifparteien in Wahrheit aufgehoben.
({34})
Sie vertreten nicht mehr Arbeitnehmerinteressen, sondern Funktionärsinteressen. Wir von der Opposition machen mehr für Arbeitnehmer und Arbeitslose als Sie mit
Ihren roten Fahnen am 1. Mai.
({35})
Ich will zum Schluss noch eine aktuelle Bemerkung
aufgreifen, Herr Bundesinnenminister, die ebenfalls hier
hingehört - auch das muss in großer Klarheit und Nüchternheit hier vorgetragen werden -: Wie Sie, Herr Bundesinnenminister, als Verfassungsminister gestern eine
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes kommentiert haben, nämlich als absurd, rechtsirrtümlich, falsch,
als Fehler, so etwas haben wir noch nicht erlebt.
({36})
Ich sage Ihnen das in großer Klarheit, Herr Schily:
Sie, Herr Kollege Beck von den Grünen und leider auch
Herr Kollege Beckstein von der CSU haben das Verfahren gegen die NPD von Anfang an angestrengt, und
zwar nicht aus juristischen, sondern aus politischen Opportunitätsgründen. Sie sind jetzt gescheitert. Deswegen
möchte ich Sie bitten, Ihr eigenes Versagen in der Prozessführung nicht zu kaschieren, indem Sie jetzt das
höchste deutsche Gericht attackieren.
({37})
Wir befinden uns in einer schwierigen Zeit; das wissen Sie alle. Dass sich diese Debatte heute überwiegend
um Außenpolitik dreht, ist nahe liegend und nachvollziehbar. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren,
wir stehen an einem solchen Tag natürlich auch vor einer
Generalbilanz dessen, was der Bundeskanzler mit seiner
rot-grünen Regierungskoalition zu verantworten hat.
Diese Regierungskoalition ist innenpolitisch, wirtschaftspolitisch, außen- und sicherheitspolitisch auf ganzer Länge gescheitert. Neuwahlen wären wirklich das
Beste für unser Land.
({38})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Abgeordneten Otto Schily.
Herr Kollege Westerwelle, Sie haben mich persönlich
angesprochen, aber falsch zitiert. Ich habe nämlich nicht
das Bundesverfassungsgericht kritisiert, sondern ich
habe mir die Meinung der Mehrheit des Zweiten Senats
des Bundesverfassungsgerichts zu Eigen gemacht.
({0})
Das muss in einer rechtlichen Auseinandersetzung möglich sein.
Sie behaupten hier vor dem Deutschen Bundestag,
was Sie vorher bereits öffentlich erklärt haben, es seien
mir bei der Führung dieses Prozesses Fehler unterlaufen.
({1})
- Hören Sie doch einmal zu! - Ich wäre Ihnen dankbar,
wenn Sie das konkretisieren würden. Konkretisieren Sie
das bitte! Diese Meinung der FDP ist interessant. Ich
habe immer respektiert, dass Sie die Auffassung vertreten haben - diese Auffassung kann man vertreten -, dass
man eine Partei nur politisch bekämpfen und nicht von
dem Verbotsverfahren Gebrauch machen soll. Diese
Meinung habe übrigens auch ich ursprünglich vertreten.
Ich habe mich dann auf der Grundlage der Erkenntnisse,
die wir gewonnen haben, anders entschieden. Ich bin
auch heute noch der Meinung, dass eine Partei, die organisierten Antisemitismus vertritt, in der deutschen Parteienlandschaft keinen Platz haben darf.
({2})
Ich wundere mich schon, dass Sie nicht das zitieren,
was die Mehrheit des Senats gesagt hat, dass es nämlich
auch um die Würde und um die Wahrung des Art. 1 des
Grundgesetzes geht, sodass man von allen Möglichkeiten Gebrauch machen sollte, die ein solches Verfahren
bietet.
Die Auffassung, die auch in einigen Kommentaren
zum Ausdruck kommt, ein Verbotsverfahren könne nur
dann in Betracht gezogen werden, wenn die Exekutive in
Form der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und
der Länder vor Einleitung eines Verfahrens und während
des Verfahrens auf die Beobachtung einer aggressiv verfassungsfeindlichen und antisemitischen Partei verzichtet, halte ich schlicht für falsch; das stimmt.
({3})
Deshalb ist das keine mangelnde Achtung vor dem
Bundesverfassungsgericht. An Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht wird mich hier im Hause niemand
überbieten. Aber ich nehme mir die Freiheit, die Mehrheitsmeinung des Senats zu teilen und die Minderheitsmeinung zu kritisieren.
({4})
Einen Moment, Herr Kollege Westerwelle. Der
Kollege Christian Ströbele möchte auch noch eine
Präsident Wolfgang Thierse
Kurzintervention machen. Dann können Sie auf beide reagieren.
({0})
- Auf wen wollen Sie sich beziehen? Auf den Kollegen
Westerwelle?
({1})
- Wenn Sie sich auf den Kollegen Westerwelle beziehen
wollen, können Sie jetzt Ihre Kurzintervention machen.
Herr Kollege Westerwelle, Sie haben mich angesprochen und gesagt, ich würde deutsche Rechtsregeln bei
der Beurteilung internationaler Konflikte zugrunde legen.
({0})
Deshalb möchte ich Ihnen sagen, wie es nach internationalen Rechtsregeln aussieht.
({1})
Die Resolution der Generalversammlung der Vereinten
Nationen Nr. 3314 vom 14. Dezember 1974 definiert,
was eine internationale Aggression und was ein Angriffskrieg sind. In Art. 1 steht ganz eindeutig:
Aggression bedeutet Anwendung von Waffengewalt durch einen Staat gegen die Souveränität, die
territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit eines anderen Staates...
Dann kommt in Art. 2 ein wichtiger Satz:
Wendet ein Staat als erster Waffengewalt unter Verletzung der Charta an, so stellt dies einen Beweis
des ersten Anscheins für eine Angriffshandlung dar
...
In Art. 5 heißt es:
Ein Angriffskrieg ist ein Verbrechen gegen den
Weltfrieden.
Herr Kollege Westerwelle, auch nach dieser Definition der Vereinten Nationen, die dafür die zuständige Instanz sind und das festgelegt haben, sage ich: Es handelt
sich, wenn morgen oder in den nächsten Tagen der Krieg
beginnen sollte, unter diesen Umständen um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg im Sinne des Grundgesetzes und im Sinne der Resolution und der Definition
der Vereinten Nationen.
Herr Kollege Westerwelle, wir müssen uns mit diesem
ganz wichtigen Punkt auch hier im Deutschen Bundestag
auseinander setzen und dazu Stellung beziehen. Aber wir
sollten dabei nicht vergessen, dass - bei aller Auseinandersetzung und auch bei unterschiedlicher Rechtsauslegung in diesen Details - das Wichtigere ist und auch in
Zukunft bleiben muss: Wie stehen wir zur Position der
Bundesregierung, die auf die Verhinderung eines solchen
Krieges angelegt ist, die auf die Verhinderung dieses
Krieges in den letzten Monaten angelegt war und auf die
Verhinderung und Abkürzung dieses Krieges auch in Zukunft angelegt sein wird? Das ist die Grundsatzfrage.
({2})
Da vermisse ich von Ihnen in der Tat eine klare Stellungnahme.
({3})
Sie, sowohl die CDU/CSU als auch die FDP, haben in
den letzten Monaten nichts unversucht gelassen, um der
Bundesregierung in dieser ganz wichtigen Grundsatzfrage Knüppel zwischen die Beine zu werfen und alles
zu tun, um die Position der Bundesregierung zu schwächen. Darüber sollten Sie nachdenken. Sie selber müssen
erst einmal Tritt fassen und klar definieren: Stehen Sie in
dieser Frage hinter der Bundesregierung oder wollen Sie
die Bundesregierung bei dieser wichtigen Arbeit weiterhin diskreditieren und behindern?
({4})
Kollege Westerwelle, bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Ströbele,
zunächst eine Antwort auf Ihren Beitrag. Ich habe nicht
gesagt, Sie hätten sich im Völkerrecht ausschließlich auf
die deutsche Meinung - nach meiner Einschätzung: die
Mehrheitsmeinung - berufen. Ich habe an der betreffenden Stelle auf einen Zwischenruf geantwortet. Ich will
Ihnen erläutern, was ich meine.
Ich habe ebenfalls im Staatsrecht meine Ausbildung
gemacht.
({0})
- Ich weiß gar nicht, was das Raunen soll. Wir von der
FDP sind der Überzeugung, dass es auch in der Politik
nicht schadet, wenn man mehr zu Ende gebracht hat als
die Fahrschule.
({1})
Ich wusste nicht, dass man sich für eine Berufsausbildung im Bundestag entschuldigen muss.
({2})
- Bei Ihnen ja. Das ist wahr.
Ich will mich mit Ihnen an dieser Stelle auseinander
setzen, Herr Kollege Ströbele. Ich habe gesagt: Wir Abgeordnete haben zunächst einmal ein Recht darauf, zu
erfahren, wie die beiden Verfassungsminister diesen
Sachverhalt bewerten;
({3})
denn diese Minister haben einen entsprechenden Apparat mit Völkerrechtsjuristen. Sie müssen uns, den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, gegenüber mitteilen, ob die Auffassung, die Sie vertreten, die offizielle
Meinung der Bundesregierung ist.
({4})
Im Übrigen will ich Ihnen sagen: Alles, was Sie gesagt haben, vertreten Sie bitte heute und morgen in Ihrer
Koalition; das müssen Sie uns doch nicht sagen. Wenn
Sie, Herr Kollege Ströbele, als Abgeordneter des Deutschen Bundestages zu dem Ergebnis kommen, dass das
ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg ist - wie Sie es
hier gesagt haben -, dann muss ich Ihnen sagen, dass Sie
dann, wenn Sie die Pflichten aus dem Grundgesetz kennen, die Sie als einzelner Abgeordneter haben, Sie entsprechend handeln müssen. Wenn Sie sagen, das sei ein
völkerrechtswidriger Angriffskrieg, dann haben Sie nach
dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland andere Verpflichtungen, als sich einfach nur vor die Kameras zu begeben, Herr Kollege Ströbele.
({5})
Was Sie machen, reicht nicht. Das weiß auch jeder, der
hier sitzt. Ich würde mir nicht herausnehmen, an der Stelle
die Situation so zu bewerten. Ich würde vielmehr abwarten wollen - das ist schon immer Tradition in diesem
Hause gewesen, beispielsweise Anfang der 90er-Jahre,
damals mit anderer Rollenverteilung -, damit die Regierung als erste das Wort bekommt und ihre juristische und
völkerrechtliche Meinung darlegen kann. Dann werden
wir unsere Meinung öffentlich äußern. Andersherum
kann es nicht gehen.
Nun zum dem, was Sie, Herr Kollege Schily, angesprochen haben. Sie machen es sich zu einfach, wenn Sie
sagen, Sie hätten die Mehrheit des Senates auf Ihrer
Seite. Warum ging es überhaupt um die Verfahrenseinstellung? Warum konnte es überhaupt zu dieser Entscheidung kommen? - Weil Sie schlampig geklagt haben, Herr Kollege Schily,
({6})
und weil Sie im Laufe des Verfahrens von einem Fehler
nach dem anderen überrascht worden sind.
Wir sind die einzige Fraktion in diesem Hause, die
dieses Verfahren ganz klar abgelehnt hat. Deswegen machen Sie uns bitte keine Vorwürfe. Was haben wir uns
von Ihnen beschimpfen lassen müssen! Wir sind von
zahlreichen Mitgliedern der Koalitionsfraktionen - beispielsweise von Herrn Stiegler und von Herrn Beck - als
Anwälte und Freunde der Nazis in die rechtsradikale
Ecke gestellt worden. Wir haben von Anfang an gesagt:
Die NPD ist eine widerwärtige Partei. Man muss sie politisch bekämpfen, juristisch geht das schief.
({7})
Wir haben leider - „leider“ betone ich doppelt und dreifach - Recht behalten, weil es genau so gelaufen ist.
Herr Präsident, da ich auf zwei umfangreiche Kurzinterventionen zu verschiedenen Themen eingehen
muss, will ich noch eine letzte Bemerkung machen. Herr
Kollege Schily, wenn wir uns darin einig sind, dass man
den Rechtsradikalismus, übrigens auch den Linksextremismus, in Deutschland politisch bekämpfen muss, dann
möchte ich, dass Sie Ihre Entscheidungen der letzten
fünf Jahre, mit denen Sie die Zuschüsse des Bundes für
die politischen, demokratischen Stiftungen einschließlich der Bundeszentrale für politische Bildung stetig zurückgeführt haben,
({8})
wieder aufheben. Mehr politische Bildung ist in diesen
Zeiten gefragt und nicht weniger. Auf diesen Punkt einzugehen wäre eine angemessene Antwort von Ihnen in
der Haushaltsdebatte gewesen.
({9})
Ich erteile das Wort Kollegin Krista Sager, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben uns am letzten Freitag sehr ausgiebig
mit den innenpolitischen Herausforderungen befasst.
Auch morgen werden wir über die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik sprechen und streiten, so wie wir gestern über die Haushaltspolitik gesprochen und gestritten
haben. Ich denke, die Bürgerinnen und Bürger haben ein
Recht darauf, dass wir uns hier in der Generaldebatte auf
das Thema eines bevorstehenden Irakkrieges konzentrieren. Denn dieses Thema treibt die Menschen in diesem Land um und beunruhigt sie.
Dazu sage ich eines, meine Damen und Herren von
der Opposition: Wir werden auch darüber sprechen müssen, worin wir uns nicht einig sind. So einfach, wie Sie,
Herr Westerwelle und Herr Glos, es sich heute hier gemacht haben, so einfach kann man es sich in dieser
Frage nicht machen.
({0})
Das war wirklich billig. Dazu kann ich nur feststellen:
Die Art und Weise, wie Sie hier wochen- und monatelang in der Irakpolitik herumlaviert haben, halten wir
politisch für zu leicht, auch Sie, Herr Glos. Sie sind gewogen und für zu leicht befunden worden.
({1})
Wenn man sich Ihre Irakpolitik anschaut, dann kommt
man zu dem Ergebnis: Eine Slalomstrecke ist im Vergleich dazu ein Vorbild an Geradlinigkeit. Im Vergleich
mit Ihrer Irakpolitik ist ein Halm im Wind so stabil wie
Stahlbeton. Das muss man feststellen, wenn man sich
Ihre Politik hier anschaut.
({2})
Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land haben
ein tiefes Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Die
Menschen sind in diesen Tagen bedrückt und bestürzt.
Viele empfinden wohl auch Wut und Enttäuschung.
Aber eines betone ich ganz deutlich: Wut darf jetzt unser
Handeln nicht bestimmen. Deswegen finde ich es gut,
dass es zahlreiche Beispiele für ein echtes Mitgefühl mit
den Menschen im Irak, mit den Menschen in dieser Region gibt.
Ich sage aber auch: Dieses Mitgefühl muss ebenso die
Menschen in den USA einschließen, die heute aufgrund
der tiefen Verletzungen im Zusammenhang mit den Ereignissen des 11. September 2001 meinen, dass die USA
ein Vorrecht hätten, jenseits jeder internationalen Ordnung und jeder internationalen Regelung zu handeln.
Auch wenn man diese Position für falsch hält, müssen
wir die Gefühle dieser Menschen in unser Mitgefühl einbeziehen.
({3})
Bei den notwendigen Entscheidungen, die wir jetzt
treffen müssen, werden wir uns nicht von denjenigen irritieren lassen, die völkerrechtliche Diskussionen instrumentalisieren möchten, um der Bundesregierung nur ein
Stöckchen hinzuhalten, um von ihren eigenen Problemen
abzulenken. Wir werden uns davon leiten lassen, dass es
jetzt auch darauf ankommt, die internationalen Strukturen und die internationale Ordnung zu restabilisieren.
Das ist der Maßstab unserer Politik.
({4})
Wir werden einen Krieg erleben, der unnötig, nicht
gerechtfertigt, falsch und überflüssig ist. Wir werden
diesen Krieg nicht verhindern können, so fatal dies auch
ist. Wir werden einen Krieg erleben, der gegen die Mehrheit im Sicherheitsrat, gegen die Mehrheit der Bevölkerung in der Europäischen Union und gegen den Willen
von Millionen Menschen in dieser Welt geführt wird.
Wir werden einen Krieg erleben, zu dem es eine Alternative gibt. Das ist das besonders Fatale: Es gibt eine
Alternative zu diesem Krieg. Das ist die Fortsetzung der
Abrüstung des Iraks mit friedlichen Mitteln.
({5})
Dieser Krieg ist eben nicht das letzte Mittel, Herr Glos,
sondern offensichtlich ein gewolltes Mittel, weil man
sich für eine falsche Strategie entschieden hat. Er ist ein
gewollter Krieg, weil der Weg, der gangbar gewesen
wäre, die Fortsetzung der Arbeit der Waffeninspekteure,
willentlich abgebrochen und beendet worden ist. Das
wäre nicht notwendig gewesen.
({6})
Es ist eine Tatsache, zu der Sie heute keine Stellung
bezogen haben, dass die Bedrohung, die vom Irak hätte
ausgehen können, noch nie so gering war wie heute. Es
ist eine Tatsache, zu der Sie heute keine Stellung bezogen haben, dass die internationale Kontrolle des Irak
noch nie so stark gewesen ist wie im Moment. Es ist ferner eine Tatsache, zu der Sie heute keine Stellung bezogen haben, dass die Arbeit der Waffeninspekteure erfolgreich gewesen ist, dass die Waffeninspekteure selber
gesagt haben, dass sie erfolgreich arbeiten und dass ihre
Arbeit nicht zu Ende ist. Es wäre notwendig gewesen,
diese Arbeit fortzuführen. Gerade auf der Basis des Arbeitsprogramms von Blix wäre das eine gute Perspektive
gewesen.
({7})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat
in diesem Konflikt immer eine klare Haltung gehabt. Sie
hat unermüdlich für einen Strategiewechsel in Richtung
auf eine friedliche Lösung gearbeitet. Das ist richtig gewesen. Die Bundesregierung hat das nicht getan, weil sie
den grausamen Charakter des Regimes im Irak übersehen hat, und sie hat es nicht getan, weil sie das Leid der
Opfer dieses Regimes übersehen hat, sondern sie hat es
getan, weil sie die massiven Risiken und Gefahren dieses
Krieges gesehen hat.
Ich werfe der Opposition in diesem Hause vor, dass
sie sich mit diesen Gefahren und Risiken bis zum heutigen Tage nicht ernsthaft auseinander gesetzt hat.
({8})
Es besteht ja nicht nur das Risiko für die zahllosen unschuldigen Opfer. Das allein ist schon schlimm genug,
wenn man eine Alternative zum Krieg hat. Es besteht
doch auch die Gefahr der zunehmenden Destabilisierung
dieser Region. Es besteht doch auch die Gefahr, dass die
Antiterrorallianz auseinander bricht. Es besteht auch die
Gefahr, dass der Terrorismus mehr Zulauf bekommt und
nicht weniger. Es besteht auch die Gefahr, dass fundamentalistische Bewegungen möglicherweise pro-westliche Regierungen hinwegfegen können. Der Islamismus
hat infolge dieses Konfliktes in Pakistan schon jetzt Zulauf bekommen. Es ist doch eine Gefahr, dass Fundamentalisten tatsächlich in den Besitz von Massenvernichtungswaffen und auch in den Besitz der Atombombe
geraten können.
Wir müssen auch überlegen, was es für die Sicherheit
in der Welt heißt, wenn so genannte Schurkenstaaten
sich anschauen, wie der Irak und wie Nordkorea behandelt werden. Da besteht doch die Gefahr, dass ein Land
wie der Iran erst recht versuchen wird, an die Bombe
heranzukommen. Diese Bemühungen werden nicht weniger werden, wenn hier von der US-Regierung von
vornherein gesagt wird: Wir verfolgen eine Präventiv2722
kriegsstrategie, um die arabische Region zu ordnen und
Schurkenstaaten aufzumischen. Das führt nicht zu mehr
Stabilität und nicht zu mehr Sicherheit in der Welt.
({9})
Meine Damen und Herren, die größte Gefahr von allen ist doch die, dass die Menschen in der islamischen
und in der arabischen Welt den Eindruck bekommen, es
solle ein christlicher Kreuzzug gegen sie eröffnet werden, es gehe hier um eine Konfrontation der Kulturen.
Ich bin froh, dass Millionen Menschen auf der Welt gegen diesen Krieg demonstriert haben, und ich bin auch
ausgesprochen dankbar dafür, dass der Papst sich so eindeutig gegen diesen Krieg positioniert hat.
({10})
Dadurch besteht die Chance, dass die Menschen in der
islamischen und in der arabischen Welt erkennen, dass es
hier nicht um einen Kreuzzug und nicht um einen Konflikt der Kulturen geht.
Ich bin auch besonders dankbar für den Einsatz der
Bundesregierung.
({11})
Die Bundesregierung hat viel Respekt bekommen für ihren Einsatz für eine friedliche Lösung. Sie hat mit ihrem
Einsatz für eine friedliche Lösung aber auch deutlich gemacht, dass es hier nicht um einen Konflikt der Kulturen
geht, sondern dass auch in der westlichen Welt, in der
christlichen Welt, Menschen in diesem Krieg Unrecht
sehen und ihn verhindern wollen.
({12})
Wir sind in Europa als unmittelbare Nachbarn der islamischen Welt auch unmittelbar betroffen. Es ist doch
eine Lehre des alten Europa, dass man mit seinen unmittelbaren Nachbarn in Frieden und in Sicherheit leben
muss und dass das nur eine gemeinsame Sicherheit und
nicht eine Sicherheit gegen die anderen sein kann.
({13})
Meine Damen und Herren, jetzt werfen wir einmal einen Blick auf die Motive der Opposition. Die Motive
der Bundesregierung habe ich dargestellt; es sind ehrenwerte und gute Motive, auch wenn sie letztlich nicht erfolgreich gewesen ist.
({14})
Aber welches sind die Motive der Opposition?
Die FDP erklärt uns, sie lehne den Krieg ab, weil er
wahrscheinlich ohne UN-Legitimation geführt werden
solle. In derselben Erklärung hat sie sich zu dem Ziel des
Regimewechsels positiv geäußert. Ich frage die Vertreter
der FDP, wie sie sich zu diesem Krieg verhalten hätten,
wenn es eine UN-Resolution gegeben hätte, die diesen
Krieg legitimiert. Diese Frage haben Sie hier nicht beantwortet.
({15})
Sie haben sich zu dem Ziel des Regimewechsels und damit auch zu der Strategie eines Präventivkriegs, der zu
diesem Regimewechsel führen soll, positiv geäußert.
Das Einzige, was Sie stört, ist, dass es keine UN-Resolution gibt, die das legitimiert. Das müssten Sie den Menschen aber auch einmal so deutlich sagen; denn damit erklären Sie im Grunde genommen, Sie hätten sich im
Sicherheitsrat für eine kriegslegitimierende Resolution
eingesetzt, wenn Sie dazu Gelegenheit gehabt hätten.
Das wäre in Bezug auf Ihre Position die Wahrheit gewesen.
({16})
Herr Westerwelle, das hätte ich von Ihnen wirklich erwartet, zumal Sie sagten, man hätte sich hier für die Einheit Europas besonders stark machen sollen. Welche
Einheit Europas meinten Sie denn? Wäre das nicht die
Einheit Europas auf Grundlage der Position von Tony
Blair gewesen? Darüber hätten Sie den Menschen hier
reinen Wein einschenken müssen. So viel zu dem von Ihnen gebrauchten Begriff „lauwarm“! Was Sie hier gesagt
haben, stellte in Wirklichkeit eine lauwarme politische
Erklärung dar, weil Sie die entscheidende Antwort
schuldig geblieben sind.
({17})
Meine Damen und Herren, die FDP ist in dieser Frage
wieder nur in einer einzigen Hinsicht berechenbar: Sie
hängt ihr Fähnchen wie immer in den Wind.
({18})
Am 13. März letzten Jahres forderte Herr Westerwelle
die Bundesregierung auf, unverzüglich in Washington
gegen einen möglichen US-Angriff auf den Irak zu
intervenieren. Im März letzten Jahres forderte er
Außenminister Fischer auf, zügigst - also nicht erst
im April, sondern noch im März - nach Washington
zu fahren,
({19})
und begründete dies damit, dass die deutsch-amerikanische Freundschaft es auch verlange, gegen Amerika offene kritische Worte zu finden. Zugleich erklärte er im
März letzten Jahres, er habe den Eindruck, dass sich die
Bundesregierung bereits mit einem Alleingang der USA
gegen den Irak abgefunden habe. Schließlich verlangte
er, Fischer müsse in den USA klar machen, dass die
Europäer ein militärisches Vorgehen gegen Saddam
Hussein ablehnten. - Soweit Herr Westerwelle im März
letzten Jahres.
({20})
Im Herbst letzten Jahres hat er dann behauptet, die
Bundesregierung habe sich viel zu früh festgelegt. Was
ist denn das für eine Position!
({21})
Herr Westerwelle, ich habe in den letzten Monaten nicht
erkennen können, in welchem europäischen Hühnerhof
Sie am liebsten mitgegackert hätten. Das war ganz offensichtlich unklar.
({22})
Bei Ihnen ist nur auf eines Verlass: Sie sind wendig wie
ein Wetterhahn und schwankend wie ein Rohr im Wind.
({23})
Im März letzten Jahres sind Sie für ein bisschen Frieden
eingetreten, im Herbst für ein bisschen Krieg und heute
sind Sie für ein bisschen „Ich weiß nicht mehr recht“.
({24})
Das Einzige, was bei Ihnen immer sicher ist, ist, dass
Sie bei jeder Gelegenheit den Versuch machen werden,
der Bundesregierung ein neues Stöckchen hinzuhalten.
Aber Stöckchen-Hinhalten ist kein Ersatz für eine verantwortungsvolle politische Position in einer so wichtigen Frage.
({25})
Überboten wurde dieses traurige Bild der FDP in den
letzten Monaten in der Tat nur
({26})
von dem traurigen Bild, das die CDU/CSU abgeliefert
hat, allen voran ihre Vorsitzende Angela Merkel.
({27})
Über Herrn Stoiber muss man schon fast kein Wort
mehr verlieren. Im Wahlkampf hat er sich mit der Forderung überschlagen, im Falle eines Krieges müsse es ein
Überflugverbot geben. Wir wissen inzwischen, dass Herr
Stoiber für viele Überraschungen gut ist, sicher auch in
der Zukunft.
({28})
In der Irakfrage hat er sich wie ein Hase im Zickzack
durch die Furchen bewegt. Man musste ja schon Angst
haben, dass Herr Stoiber aus Versehen auf dem Schoß
von Christian Ströbele landet. Das ist Christian Ströbele
zum Glück erspart geblieben.
({29})
Herr Glos, Sie haben heute hier von Geradlinigkeit
gesprochen. Der Einzige, der sich in den letzten Tagen
halbwegs geradlinig geäußert hat, ist der saarländische
CDU-Ministerpräsident Peter Müller.
({30})
Er hat gesagt, die Position „Egal was passiert, wir stehen
an der Seite von Amerika!“ sei nicht seine Haltung. Aber
genau dies ist in den vergangenen Wochen und Monaten
die Haltung von großen Teilen der CDU gewesen. Vor
allen Dingen war es die Position von Angela Merkel.
({31})
Frau Merkel, an Ihrer Position ist wirklich peinlich
und beschämend, dass Sie zu feige sind, den Bürgerinnen und Bürgern reinen Wein über das einzuschenken,
was Sie wirklich wollen.
({32})
Es ist peinlich und unerträglich, wie Sie bis zum gestrigen Tage herumgeeiert sind. Gestern haben Sie gesagt,
Sie unterstützten das Ultimatum der USA. Es bedurfte
dreier Nachfragen, was das denn bezogen auf Ihre Haltung zum Krieg bedeutet. Dann haben Sie endlich gesagt, ja, Sie unterstützten das Ultimatum mit allen Folgen. Das ist aber wirklich zu wenig, wenn es darum geht,
den Bürgerinnen und Bürgern die Wahrheit zu sagen.
Warum stellen Sie sich nicht hin und sagen ehrlich: Ich
bin dafür, dass die Arbeit der Waffeninspekteure beendet
wird, ich bin dafür, dass an die Stelle der Arbeit der Waffeninspekteure der Krieg gegen den Irak tritt. - Das ist
die Frage, um die es geht. Da hätten Sie ehrlich sein
müssen.
({33})
Meine Damen und Herren, wir haben in der Vergangenheit manch schwierige Frage beantworten müssen.
Wir haben uns mancher Auseinandersetzung gestellt und
auch in schwierigen Fällen Verantwortung übernommen: in der Kosovo-Frage, in der Afghanistan-Frage,
auch in der Frage, wie man eine weitere Eskalation in
Mazedonien verhindern kann. Wir haben uns diesen Fragen gestellt und auf all diese Fragen klare Antworten gegeben, genauso wie wir jetzt zum Irakkrieg ganz klar
Nein sagen. Eine solch klare Aussage aber ist von der
CDU eben nicht gekommen.
({34})
Frau Merkel, Sie haben in den letzten Wochen gebetsmühlenartig gesagt, eine zweite Resolution wäre hilfreich. Verschwiegen haben Sie aber, dass diese zweite
Resolution, um die es die ganze Zeit schon ging, von den
USA und Großbritannien als kriegslegitimierend verstanden worden wäre. Als Sie gesagt haben, eine zweite
Resolution wäre hilfreich, hätten Sie für die Bürgerinnen
und Bürgern klar hinzufügen müssen: Ja, ich, Angela
Merkel, würde im Sicherheitsrat einer kriegslegitimierenden Resolution zustimmen. - Diese klare Antwort
sind Sie den Bürgerinnen und Bürgern schuldig geblieben.
({35})
Sie haben wochen- und monatelang versucht, den
Eindruck zu erwecken, die Bundesregierung sei mit ihrer
Haltung zum Irakkrieg isoliert. Ich frage Sie: Wen, glauben Sie, vertreten Sie mit Ihrer Position eigentlich noch
in diesem Land? Sie haben landauf, landab verkündet,
Sie hätten den Eindruck, dass die Bundesregierung isoliert sei, und zwar zu einem Zeitpunkt, als sich die Bundesregierung mit aller Kraft bemüht hat, der Arbeit der
Waffeninspekteure eine Chance zu geben. Ohne die
deutsch-französische Initiative hätte es im Sicherheitsrat
nicht die Haltung gegeben, der Arbeit der Waffeninspekteure die Zeit und die Ressourcen zu geben, die sie
gebraucht haben. Ohne die deutsch-französische Initiative hätte es keinen Beschluss der EU-Außenminister
und keinen Beschluss der europäischen Regierungschefs
gegeben, die damit bewirken wollten, dass es durch die
Arbeit der Waffeninspekteure zu einer friedlichen Abrüstung kommt.
Und was haben Sie gemacht? - Sie haben diese Bemühungen hintertrieben. Sie sind durch Ihre Anbiederei in
den USA der Bundesregierung in den Rücken gefallen.
({36})
Dabei haben Sie ganz genau gewusst, worum es in dieser
Frage geht; das ist für mich das eigentlich Schlimme. Sie
können sich nicht damit herausreden, Sie hätten nicht gewusst, worum es geht. Sie haben bei Ihrem Handeln immer das innenpolitische Kalkül gehabt, das Sie der Bundesregierung versucht haben unterzuschieben.
({37})
Sie haben gehofft, dass die Bundesregierung im
UNO-Sicherheitsrat am Ende mit Syrien alleine dasteht.
Sie waren tief enttäuscht, als sich gezeigt hat, dass der
Sicherheitsrat nicht aus einem Haufen käuflicher Länder
besteht, sondern dass die Länder - das gilt auch für die
kleinen Länder und die Länder Lateinamerikas und Afrikas - Rückgrat gezeigt haben.
({38})
Es wäre Ihnen am liebsten gewesen, wenn das eingetreten wäre, von dem viele ausgegangen sind, nämlich dass
diese Länder am Ende nationalen, strategischen, materiellen und finanziellen Interessen den Vorrang gegeben
hätten.
Sie haben bei der Frage, was die Wahl der richtigen
Strategie in Bezug auf den Irak angeht, von Anfang an
gewusst, worum es geht. Herr Schäuble hat das Thema
am Anfang der Legislaturperiode angesprochen und hat
hier ganz deutlich gesagt, es habe nach dem 11. September in den USA einen Strategiewechsel gegeben dahin
gehend, Präventivkriege führen zu wollen, um so genannte Schurkenstaaten unter Kontrolle zu bringen und
diese als Brückenköpfe für eine politische Neuordnung
der arabischen Welt zu nutzen.
({39})
Er hat weiter gesagt - das können Sie nachlesen -, man
müsse sich mit dieser Strategie der USA auseinander
setzen.
({40})
Die Bundesregierung hat sich - im Gegensatz zu Ihnen - mit dieser Strategie auseinander gesetzt und hat
festgestellt, dass sie hoch gefährlich ist. Deswegen haben wir uns dieser Strategie nicht angeschlossen und
werden es auch nicht tun. Sie dagegen haben sich mit
dieser Strategie nicht auseinander gesetzt, obwohl Sie
genau wussten, worum es geht. Jetzt haben Sie sich im
Grunde zu Helfershelfern gemacht, indem Sie sagten,
Sie teilten das Ultimatum mit allen Konsequenzen.
({41})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schäuble?
Ja.
Frau Kollegin Sager, ich möchte Sie nach der Belegstelle für das Zitat fragen, das Sie mir eben in den Mund
gelegt haben. Ich bin einigermaßen überrascht, welche
bemerkenswerten Ausführungen ich nach dem, was Sie
gesagt haben, gemacht haben soll. Ich kenne diese nicht
und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir die Belegstelle
hierfür nennen würden.
Herr Schäuble, ich habe Sie nicht zitiert.
({0})
- Hören Sie bitte zu! - Ich habe Sie nicht zitiert, sondern
habe lediglich gesagt, dass Sie in dieser Debatte auf
diese entscheidende Frage hingewiesen haben. Das habe
ich im Protokoll nachgelesen und ich bin gerne bereit,
Ihnen diese Stelle herauszusuchen.
Im Herbst letzten Jahres haben Sie gesagt, es gebe in
den USA vor dem Hintergrund der Ereignisse des
11. September eine Strategiedebatte, die in Richtung
eines Präventivkriegs gehe.
({1})
Mit dieser Strategie müsse man sich auseinander setzen.
Das haben Sie sogar eingefordert. Aber Sie selber haben
das, was Sie gefordert haben, nicht erfüllt.
({2})
Und obwohl Sie sich mit dieser Strategie nie ernsthaft
auseinander gesetzt haben, sind sie ihr im Grunde genommen jetzt hinterhergelaufen. Das ist das Schlimme.
({3})
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Schäuble?
Ja.
Frau Kollegin Sager, nachdem ich jetzt doch beruhigt
bin, dass ich offenbar etwas ganz anderes gesagt habe als
das, was Sie gerade vorgetragen haben,
({0})
möchte ich Sie gerne fragen, ob Sie bereit sind, zu bestätigen, dass ich sinngemäß Folgendes gesagt habe: Die
Fragen, die sich die Amerikaner stellen, nämlich was zu
tun ist in einer Zeit, in der die auf gegenseitige Vernichtungsfähigkeit gegründete Abschreckungsstrategie des
Kalten Krieges nicht mehr ausreicht, um in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts Sicherheit zu gewährleisten, müssen wir aufnehmen?
({1})
Ob die Antworten, die die Amerikaner geben, richtig
sind, ist eine ganz andere Frage. Mit den Fragen müssen
wir uns aber beschäftigen.
Herr Schäuble, das, was ich zuerst gesagt habe, haben
Sie offensichtlich nicht wahrnehmen können, weil Sie
noch in Ihre Akte vertieft waren.
({0})
Tatsache ist, dass ich immer gesagt habe: Ich finde es
richtig, dass Sie die Frage bezüglich der Auseinandersetzung mit der amerikanischen Regierungsstrategie aufgeworfen haben. Ich sage nur: Die Bundesregierung hat
sich damit auseinander gesetzt und eine Antwort gefunden, während die CDU/CSU darauf zunächst keine Antwort gegeben hat. Jetzt haben Sie eine fatale Antwort gegeben, weil Sie diese Präventivschlagstrategie offensiv
unterstützen, indem Sie sich zu diesem Ultimatum und
seinen Folgen bekennen.
({1})
Herr Schäuble, ich will Ihnen auch gerne etwas zu
dem, was Sie angesprochen haben, sagen. Natürlich
müssen wir uns mit der veränderten Sicherheitslage in
der Welt auseinander setzen. Ich habe gerade gesagt,
dass die Bundesregierung das sehr deutlich getan hat,
indem sie sich mit den Risiken der jetzigen Präventivschlagstrategie auseinander gesetzt hat. Der Fehler - auch
der US-amerikanischen Regierung - in dieser Frage ist
doch, dass übersehen wird, dass man den internationalen
Terrorismus nicht durch Erstschläge gegen so genannte
Schurkenstaaten bekämpfen kann, weil es beim Terrorismus nicht um Staaten, sondern um international operierende Netzwerke geht. Die entscheidende Frage wird
sein, ob diese Netzwerke durch das, was wir in der Welt
betreiben, stärker oder schwächer werden. Diese Frage
haben Sie falsch beantwortet.
({2})
Meine Damen und Herren, wir werden uns aber auch
damit auseinander setzen müssen, wie es jetzt weitergehen soll. Natürlich ist es fatal, dass hier ein Alleingang
vorgenommen wird, jenseits der internationalen Strukturen und der internationalen Ordnung. Natürlich ist es
auch fatal, dass die einzige militärische Supermacht auf
der Welt alleine über Krieg und Frieden entscheidet. Ich
sage eines aber ganz deutlich: Gerade weil wir nicht akzeptieren, dass die einzige militärische Supermacht auf
der Welt alleine über Krieg und Frieden entscheidet,
müssen wir jetzt verstärkt daran arbeiten, die internationalen Strukturen zu stabilisieren. Das heißt, wir müssen
an den Fortschritten in der europäischen Integration
hart arbeiten. Vor allen Dingen mit Blick auf die osteuropäischen Staaten ist das unbedingt notwendig. Die europäische Integration kann nicht erfolgreich fortgesetzt
werden, wenn wir das NATO-Bündnis als eine Basis dafür nicht stabilisieren. Deswegen ist es auch richtig, dass
die Bundesregierung all ihre Entscheidungen, die sie
jetzt zu treffen hat, auch unter dem Gesichtspunkt trifft,
ob die internationalen Strukturen stabilisiert oder destabilisiert werden.
Wir werden den Dialog über die Sicherheitslage in der
Welt verstärkt führen müssen, mit den europäischen Gesellschaften, mit den USA und mit den Menschen in den
USA. Wir werden darüber reden müssen, dass am
allerwenigsten eine interkulturelle Gesellschaft wie die
USA Konflikte der Kulturen unbeschadet überstehen
kann. Das halte ich für eine zentrale Aufgabe in dem
Dialog, der uns bevorsteht. Wir müssen den Menschen in
den USA deutlich machen, dass wir das Leid und den
Schock, den sie am 11. September erlebt haben, nicht
verkennen, dass dies aber nicht die Ausgangsbasis dafür
sein kann, Leid über die Menschen in anderen Ländern
zu bringen. Das kann nicht die richtige Strategie sein.
Wir werden auch darüber reden müssen, dass das Leid,
das die Menschen in den USA am 11. September erlebt
haben, für eine politische Strategie von Kräften in der
US-Administration missbraucht wurde, die ihre politische Strategie schon längst vor dem 11. September festgelegt hatten.
({3})
Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten
das umsetzen müssen, was der Bundeskanzler am
Freitag als Programm der Regierung dargestellt hat. Wir
wissen, dass vieles von dem, was wir uns vorgenommen
haben, den Menschen in diesem Lande etwas abverlangen wird. Wir wissen, dass dies nicht alles nur frohe Botschaften sind. Aber ich sage klar und deutlich: Wir werden diese Schritte gehen müssen, um unsere sozialen
Sicherungssysteme zukunftssicher zu machen. Wir werden diese Schritte gehen müssen, um die Lohnnebenkosten senken zu können und um Chancen für mehr Beschäftigung zu schaffen.
Es geht nicht darum, eine dauerhafte Ausgrenzung
von Menschen in diesem Land einzig und allein materiell zu kompensieren. Uns geht es darum, den Menschen in diesem Land wirklich die Chance auf Teilhabe
und Beschäftigung zu geben. Das ist das Ziel unserer
Politik und unserer Reformen. Aber wer glaubt, bei der
Verkündigung solcher Schritte „Bravo“ rufen und klatschen zu müssen, der sollte seine Neigungen vielleicht
lieber in irgendwelchen SM-Szenen statt in der Politik
ausleben.
({4})
Die Umsetzung wird nämlich nicht immer sehr angenehm sein, aber sie ist eben notwendig.
({5})
Mit Blick auf die CDU/CSU sage ich: Was wir erlebt
haben, ist ein buntes Schauspiel. Frau Merkel hat erklärt,
der Bundeskanzler müsse endlich einmal konkret werden. Am Freitag war der Bundeskanzler konkret. Aber
wir müssen feststellen, dass dies die CDU/CSU kalt erwischt hat. Kaum wird es in diesem Lande einmal konkret, laufen Sie umher wie ein aufgeschreckter Hühnerhaufen: Merkel gegen Stoiber, Stoiber gegen Merkel,
Seehofer gegen Stoiber, Wulff und von Beust auf der
Seite von Seehofer und Merkel, Koch und Schäuble für
Stoiber.
({6})
Kein Mensch in diesem Lande kann noch erkennen, wohin Sie mit Ihrer Politik wollen.
({7})
Besonders interessant fand ich die Meldung von dpa,
die Fraktion der CDU/CSU sei der Tanker und der Vorsitzende der CSU, Herr Stoiber, sei das Schnellboot. Ich
als Hamburgerin habe mich darüber gewundert und gefragt: Wenn man einem großen Boot helfen will, in einem schwierigen Gewässer den Kurs zu finden, dann ist
ein Bugsierer oder ein Schlepper besser. Ein Schnellboot
bringt in diesem Falle nichts. Herr Stoiber hat sich offensichtlich das Schnellboot ausgesucht, weil er den Tanker
schnell einholen, entern und die Brücke besetzen will.
Bei Ihnen wollen offensichtlich viel zu viele auf die Brücke. Nur diejenige, die auf der Brücke steht, weiß nicht,
wo es lang geht.
({8})
Solange Sie sich in der CDU/CSU nicht geeinigt haben,
ob Sie nun ein Schub-Schub-Verband oder ein SchubSchlepp-Verband sein wollen, so lange sollten Sie von
einer großen Fahrt Abstand nehmen. Ich befürchte, dass
bei Ihnen niemand das Kapitänspatent besitzt.
({9})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Romer?
Nein. - Ich möchte Ihnen zum Schluss meiner Rede
einen guten Tipp aus der christlichen Seefahrt geben,
weil Sie ihn offensichtlich bitter nötig haben. In der
christlichen Seefahrt gibt es eine sichere Regel, an die
man sich auch in der Politik halten sollte: Rot und Grün
markieren das sichere Fahrwasser. Schwarz und Gelb
sind die Markierungen für Gefahren und Untiefen, davon sollte man sich fernhalten.
({0})
Es spricht jetzt der Herr Bundeskanzler Gerhard
Schröder.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Merkel hat den Wunsch geäußert - was ich
verstehe -, nach mir zu reden; deswegen haben wir die
Geschäftsführer um Entschuldigung dafür gebeten, dass
wir ihre Spielchen beenden wollen.
({0})
Das Thema ist wichtig genug. Es kann kein Zweifel
daran bestehen: Ein Krieg im Irak wird immer wahrscheinlicher. Wir haben von Anfang an - das ist in dieser
Debatte auch deutlich geworden - unsere feste Überzeugung klar gemacht, dass wir einen solchen Krieg verhindern wollen.
({1})
Wir haben das in den internationalen Gremien zum Ausdruck gebracht und auch gegenüber der Öffentlichkeit in
diesem Hohen Hause wiederholt deutlich gemacht. Ich
freue mich natürlich über die große Unterstützung, die
diese Position sowohl von der Regierungskoalition als
auch vom deutschen Volk erfährt.
({2})
Gerade in Europa, zumal in Deutschland, hat sich tief
in das kollektive Bewusstsein der Menschen eingegraben
- das ist von Generation zu Generation weitergegeben
worden -, was Krieg für die Menschen bedeutet. Vielleicht liegt hier ein Unterschied in unserer Herangehensweise: Auch das gehört dazu, neben dem, was Frau Sager
- ganz eindrucksvoll, wie ich fand - eben dargestellt hat,
als sie über das Mitgefühl mit denjenigen gesprochen hat,
die als Folge der Ereignisse vom 11. September politisch
handeln und handeln müssen. Auch wenn ich das unterstreiche - dies bringt uns nicht ab von unserer festen und
eindeutigen Position. Ich fand es aber gut und richtig,
dass sie auch auf diesen Teil der politischen und menschlichen Dimension hingewiesen hat.
({3})
Mit den politischen Entscheidungen, die wir getroffen
haben und von denen wir nichts abstreichen werden, haben wir alle miteinander für Klarheit gesorgt. Ich hoffe,
die Union wird das jetzt in gleicher Weise tun. Ich füge
aber hinzu: Wir brauchen auch Besonnenheit in der Argumentation. Emotionen - sie werden uns, aber nicht nur
uns, sondern ganz viele Menschen im Land in den
nächsten Tagen alle miteinander beschäftigen -, so verständlich sie angesichts des Bevorstehens oder gar des
Beginns eines Krieges bei jedem sein mögen, dürfen das
politische Handeln nicht dominieren. Das gilt nach außen und ich hoffe, das gilt auch nach innen.
Die Positionen von Regierung und Opposition sind
kontrovers. Das schafft Klarheit, aber wir sollten uns zusammennehmen und alle unseren Beitrag dazu leisten,
dass die Debatte bei aller notwendigen Polemik, die gar
nicht ausbleiben wird, fair verlaufen wird. Ich denke, das
ist die Erwartung angesichts der schwierigen Situation
der übergroßen Mehrheit der Menschen in unserem
Land. Wir müssen dieser Erwartung gerecht werden.
({4})
Ich sagte: Die Bundesregierung bleibt bei ihrer Haltung.
Wir lehnen ein militärisches Vorgehen gegen den Irak
ab. Die ganz normale Konsequenz ist, dass sich deutsche
Soldaten an Kampfhandlungen nicht beteiligen werden.
({5})
Dies gilt sowohl für die deutschen Soldaten in den
AWACS-Flugzeugen als auch für die deutschen ABCAbwehrkräfte in Kuwait.
Dieses Thema wird, wie das auch hier angeklungen
ist, in den nächsten Tagen natürlich kontrovers und aus
verschiedenen Perspektiven diskutiert werden. Bevor ich
etwas zur Sache sage, will ich deutlich machen: Ich fand
es richtig, dass darauf hingewiesen worden ist - ich
glaube sogar, es war Herr Ströbele, der es getan hat -,
({6})
dass die Frage von Krieg und Frieden die zentrale Frage
ist, mit der wir uns auseinander setzen müssen. Es geht
in erster Linie - immer noch und immer wieder - um die
Frage, was wir dabei tun können, und nicht um die Diskussion über unterschiedliche Meinungen - die es nun
einmal gibt - zu Fragen des Völkerrechts.
({7})
Die NATO-AWACS-Flugzeuge führen über dem Territorium der Türkei Routineflüge durch. Dies geschieht
auf der Basis der Entscheidung des Verteidigungsplanungsausschusses der NATO vom 19. Februar 2003. Ihre
ausschließliche Aufgabe ist die strikt defensive Luftraumüberwachung über der Türkei. Sie leisten - das geht
aus den Rules of Engagement hervor - keinerlei Unterstützung für Einsätze im oder gegen den Irak. Durch
die Zuordnung der AWACS-Flugzeuge zum Befehlsbereich des NATO-Oberbefehlshabers Europa, also des
SACEUR, ist eine strikte Trennlinie zu den Aufgaben
des Kommandeurs des US Central Commands, des amerikanischen Generals Franks, gezogen. Übrigens verfügt
Herr Franks - so ist mir von unseren Fachleuten mitgeteilt worden - für Militäroperationen gegen den Irak
über fast 100 eigene US-AWACS-Flugzeuge.
Räumlich getrennt von diesen und mit gänzlich unterschiedlichem Auftrag überwachen also die NATO-Flugzeuge unter dem Kommando des NATO-Oberbefehlshabers Europa den Luftraum über der Türkei und sichern
ihn. Hier liegt der Grund, warum wir davon überzeugt
sind, dass es dazu keines Beschlusses des Deutschen
Bundestags bedarf.
({8})
- Herr Schäuble, auf Ihren Zwischenruf bezogen: Ich
habe gesagt, wir seien davon überzeugt. Ich habe nicht
gesagt, Sie seien davon überzeugt. Wir sind davon überzeugt, dass das richtig ist, und dieser Überzeugung werden wir auch Rechnung tragen.
({9})
Auch die Aufgaben der deutschen ABC-Abwehrsoldaten sind klar begrenzt. Sie handeln auf der Basis eines
Beschlusses des Deutschen Bundestags - anders wäre es
auch nicht möglich -, nämlich auf der Basis des Beschlusses zu Enduring Freedom, wie Sie wissen. Dieses
Mandat, das der Deutsche Bundestag gegeben hat, ist einziger und ausschließlicher Auftrag dieser Kräfte. Auch
sie werden sich an Einsätzen gegen den Irak nicht beteiligen. Bestandteil dieses Mandats für Enduring Freedom
ist allerdings auch die humanitäre Hilfe in Kuwait. Daher
führen die deutschen ABC-Abwehrsoldaten zusammen
mit kuwaitischen Stellen auch entsprechende Übungen
durch. Noch einmal zur Klarstellung: Dafür gibt es ein
Mandat in all den Punkten, in denen es benutzt wird.
Dazu bedarf es deshalb auch keines neuen Mandats.
({10})
Lassen Sie mich noch ein Wort zur Frage der Sicherung amerikanischer Einrichtungen, zur Nutzung der Basen und zu den Überflugrechten sagen.
Unsere Position zum Irakkrieg - ich habe sie noch
einmal erläutert - haben wir politisch klar definiert. Aber
diese klare Position, die sich von der unserer Bündnispartner - jedenfalls von jener der Vereinigten Staaten
und Großbritanniens - unterscheidet, ändert nichts daran, dass es sich um Bündnispartner und befreundete Nationen handelt.
({11})
Zu diesem Bündnis, zur NATO, gehören Rechte und
Pflichten. Diesen Pflichten, die sich aus dem NATO-Vertrag und den verschiedenen Stationierungsabkommen ergeben, werden wir auch jetzt Rechnung tragen.
({12})
Das ist der Grund, warum ich von Anfang an gesagt
habe: Es mag zwar unterschiedliche völkerrechtliche
Positionen geben, aber vor dem Hintergrund unserer
Bündnisverpflichtungen werden wir die Nutzung der
Basen weiter gestatten, Überflugrechte nicht versagen
und natürlich die Anlagen unserer Freunde und, soweit
nötig, auch ihrer Familien schützen und sichern.
({13})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas unterstreichen, das ich bereits öffentlich zum Ausdruck gebracht habe. Selbstverständlich ist es in einer Zeit zugespitzter internationaler Situation - was gibt es für eine
größere Zuspitzung als einen Krieg im Nahen Osten, im
Irak und um den Irak? - besonders wichtig, den Menschen in unserem Lande deutlich zu machen, dass die
Sicherheitsorgane unseres Landes - des Bundes wie
auch der Länder - keinen Zweifel daran aufkommen lassen werden - das wird sicherlich jede politische Führung
unabhängig von ihrer parteipolitischen Färbung klar stellen -, dass alles Menschenmögliche getan wird, um die
Sicherheit der eigenen Bevölkerung zu gewährleisten.
Das ist auch der Fall. Ich bitte ausdrücklich um Vertrauen in die Sicherheitsorgane und in diejenigen, die die
Sicherheit unseres Landes und damit auch der Menschen
in unserem Land gewährleisten.
({14})
In der Debatte ist - ein bisschen durchsichtig - versucht worden, in der Frage nach den Ursachen Ursache
und Wirkung zu verwechseln. Ich will mich zu dieser
Frage aus guten Gründen nicht weiter äußern.
({15})
Aber darüber nachdenken sollten Sie schon noch einmal,
Herr Westerwelle.
({16})
Denn ich halte es für absurd, Ursache und Wirkung in dieser Form zu verwechseln. Im Übrigen sollten Sie - auch
das ist Ihnen eindrucksvoll vorgehalten worden - sich
darum bemühen, das nachzulesen, wozu Sie die Bundesregierung noch im März und im Sommer vergangenen
Jahres aufgefordert haben
({17})
und mit welcher Begründung Sie dies getan haben.
({18})
Dann würden Ihnen viele Ihrer Worte, die Sie so großspurig ausgesprochen haben, im Hals stecken bleiben. Dessen bin ich mir ganz sicher, meine Damen und Herren.
({19})
Im Übrigen rate ich Ihnen dringend, sich in diesen
Fragen gelegentlich bei Herrn Genscher, dem früheren
Außenminister, kundig zu machen.
({20})
Dann würden Sie auf erstaunliche Gedanken stoßen, die
auch bereits öffentlich geäußert worden sind.
({21})
- Dass das heute Morgen geschehen ist, hat man aber
nicht gemerkt. Das war das Problem.
({22})
Es ist dann auf die Situation in Europa hingewiesen
worden. Natürlich wäre es gut gewesen, wenn man nicht
nur, aber auch in dieser Frage bereits eine Außenpolitik
in Europa gehabt hätte. Natürlich wäre es gut gewesen,
wenn es gelungen wäre, diese in Europa insgesamt zu
verankern, gar keine Frage. Hier hat es gewiss Festlegungen gegeben, auch von uns, aber keineswegs nur
von uns und keineswegs nur öffentlich, sondern auch
hier. Ich finde, hierhin gehört es, oder etwa nicht?
({23})
Natürlich begann mit der offiziellen Erklärung der
Fünf, der sich später viele der Beitrittsländer angeschlossen haben, eine erkennbare politische Differenz in der
Bewertung der Sache, über die wir jetzt reden. Es ist
doch gar keine Frage, dass das so war. Das gilt nicht nur
für den Brief der Fünf, sondern auch für das, was von
verschiedenen Regierungen der Beitrittskandidaten unterschrieben worden ist, gar keine Frage. Aber man
sollte auch verstehen, dass es wenig Sinn macht, sich
noch jetzt darüber zu beklagen. Es hat schon Sinn gemacht, das auszusprechen, was der französische Präsident gesagt hat, nämlich darauf hinzuweisen, dass Europa nicht nur Rechte materieller und immaterieller Art
begründet, sondern auch Pflichten mit sich bringt. Das
war schon in Ordnung. Ich denke, dafür sollte man ihn
nicht kritisieren.
({24})
Man muss auch verstehen, warum in bestimmten Ländern so und nicht anders gehandelt worden ist. Dort hat
man größere Schwierigkeiten, als wir sie - Gott sei Dank in Deutschland haben, Souveränitätsrechte abzutreten,
die man so lange so schmerzlich entbehrt hat. Wir hatten
dazu 50 Jahre Zeit, die anderen noch nicht einmal zwölf.
Diesen Zusammenhang muss man sehen, wenn man das
bewertet, was in Polen, in Tschechien und in anderen
Ländern geschehen ist. Deswegen bleibt die Aufgabe bestehen, während und erst recht nach einer militärischen
Auseinandersetzung dafür zu sorgen, dass diese Differenzen geduldig, aber auch nachhaltig eingeebnet werden.
Auch das ist ein Teil der europäischen Politik, die wir machen.
({25})
Zu dem heute Morgen hier angeklungenen Vorwurf,
Deutschland habe es in letzter Zeit an europäischem
Engagement gemangelt: Wenn ich gelegentlich Rückschau auf Debatten über Außenpolitik und speziell auf
die Vorwürfe halte, die uns wegen mangelndem sorgsamem Umgang im deutsch-französischen Verhältnis gemacht worden sind, dann wundert mich schon gelegentlich die Debatte, die gerade jetzt auch von Ihnen, Herr
Schäuble, geführt wird.
({26})
Ich erinnere mich noch an die Zeit, als Sie sich - so
wurde das genannt - am Stottern des deutsch-französischen Motors im wahrsten Sinne des Wortes delektiert
haben. Jetzt, wo er ganz rund läuft, passt es Ihnen auch
wieder nicht.
({27})
Es ist schon etwas merkwürdig, wie Sie Außenpolitik
nach jeweiliger Befindlichkeit zu formulieren versuchen.
Ich jedenfalls kann nichts Schlechtes daran finden, dass
wir zusammen mit unseren französischen Freunden und
mit anderen intensivst dafür gearbeitet haben, eine militärische Auseinandersetzung im und um den Irak zu verhindern,
({28})
und dass wir weiter intensivst dafür arbeiten, dass das
auch geschieht.
({29})
- Das Gegenteil haben wir erreicht? Was Europa angeht:
Es gab eine Zeit, in der Sie durch das Land gezogen sind
und behauptet haben, wir hätten uns in Europa und erst
recht im Weltsicherheitsrat vollständig isoliert. Davon
kann indessen wirklich keine Rede sein.
({30})
Es ist doch wohl eher Ihre Politik als unsere, die, so wie
die Dinge liegen, im Weltsicherheitsrat keine Mehrheit
finden würde. Auch das sollten Sie gelegentlich einmal
zur Kenntnis nehmen.
({31})
Ich kehre zum Thema Europa zurück. Man kann und
man darf der deutschen Bundesregierung keine Vorwürfe
machen, was ihr Engagement für Europa und speziell für
die Erweiterung Europas angeht, die für die baltischen
Staaten, für die Polen, für die Tschechen und für die anderen, die ich jetzt nicht alle aufführen will, so wichtig
ist. Es sind Frankreich und Deutschland gewesen, die im
Herbst in Brüssel mit dem schwierigen und gelegentlich
auch kritisierten Agrarkompromiss dafür gesorgt haben,
dass wir in Kopenhagen eine wahrhaft historische Entscheidung treffen konnten, die dazu führt, dass auch in
Europa zusammenwächst, was zusammengehört. Das
waren doch französische und deutsche Politik.
({32})
Natürlich wissen wir, dass diese beiden Länder auf
dieser Basis eine besondere Verantwortung dafür haben,
dass der Integrationsprozess, also insbesondere das,
was im Konvent beraten wird, die Neuordnung der Beziehungen der Institutionen in Europa ein wirklicher Erfolg wird. Dafür werden wir ungeachtet der Schwierigkeiten, die es aktuell gibt, arbeiten. Es wird sich sehr
bald zeigen, dass die französisch-deutsche Zusammenarbeit in diesem Fall wieder einmal im Zentrum dessen
steht, worum es geht.
Wenn Deutschland und Frankreich besonders eng zusammenarbeiten, dann werden wir - ich weiß das wohl gelegentlich von dem einen oder anderen Kollegen dahin
gehend kritisiert, diese Zusammenarbeit bestimme in
Europa zu viel voraus. Aber wenn wir nicht besonders eng
zusammenarbeiteten - so sind jedenfalls meine Erfahrungen -, dann werden wir dafür kritisiert, dass wir es nicht getan haben. Insofern glaube ich, dass die französisch-deutsche Zusammenarbeit auch bezogen auf die europäische
Einigung - ich erinnere an die bevorstehenden weiteren
Schritte zur Integration - von riesigem Wert ist. Deswegen
bin ich froh, dass diese Zusammenarbeit gerade zu Zeiten
einer schweren Krise so gut gestaltet werden konnte.
({33})
Lassen Sie mich aus einem bestimmten Grund auf
eine Frage zu sprechen kommen, die hier insbesondere
am letzten Freitag eine Rolle gespielt hat und die in die
eigentlichen Beratungen des Bundeshaushalts natürlich
hineinragt. Ich möchte deutlich sagen: Die Inhalte dessen,
was ich am letzten Freitag unter dem Motto Agenda 2010
vorgestellt habe, werden wir Punkt für Punkt umsetzen.
Ich bin den und dem Vorsitzenden der Koalitionsfraktionen für ihre Unterstützung sehr dankbar.
Es kommt mir darauf an, dass klar wird: Wir lassen
nicht zu, dass der Prozess der Umsetzung durch die - gegenwärtig so schwierige - internationale Lage infrage
gestellt wird. Es ist gerade in einer schwierigen Zeit ganz
wichtig, nicht aufzuhören, den Reformprozess voranzubringen. In einer solchen Zeit muss die Arbeit vielmehr
eher noch verstärkt werden. Das begreife jedenfalls ich
als unsere Aufgabe, als die gemeinsame Aufgabe von
Regierung und Koalition.
({34})
Der drohende Irakkrieg darf nicht als Ausrede dafür
benutzt werden, den Reformprozess, der skizziert worden ist, zu verzögern oder gar in Teilen nicht zu realisieren. Das Gegenteil ist richtig: Gerade in einer schwierigen Zeit brauchen wir diese Reformen und wir werden
dafür sorgen, dass sie realisiert werden.
({35})
Es geht dabei um Strukturreformen. Was die Nachfrageseite betrifft, geht es um das, was unter dem Stichwort
„öffentliche Investitionen“ deutlich geworden ist. Ich
unterstreiche, was der Vorsitzende der SPD-Fraktion hier
zu den kommunalen Investitionen gesagt hat: Es ist
richtig, dass wir den Kommunen mit den 7 Milliarden
Euro, die wir an zinsverbilligten Krediten zur Verfügung
stellen wollen, helfen. Genauso richtig ist es, dass sie die
Möglichkeit behalten oder erhalten müssen, diese Kredite auch in Anspruch zu nehmen; denn nur dann werden
sie in Arbeit umgesetzt werden können.
({36})
Deswegen war es ein großer Fehler - ich unterstreiche
das; übrigens: mehr und mehr wird das auch in den Ländern eingesehen, bei aller denkbaren Kritik an Einzelheiten des Steuerreformgesetzes, das dem Bundesrat vorliegt -, diesen Teil des Gesetzes nicht zu akzeptieren,
sondern abzulehnen, weil das die Basis der Kommunen
für die Realisierung ihrer Aufgaben nicht stärkt, sondern
schmälert. Diese Verantwortung werden Sie auf sich
nehmen müssen.
({37})
Wir haben deutlich gemacht - der Bundesfinanzminister hat es in der gestrigen Debatte gesagt -, dass wir
diesen Prozess eben nicht durch mehr Verschuldung finanzieren. Zugleich haben wir aber auch klar gesagt,
dass die Antwort auf eine sich möglicherweise verschärfende ökonomische Lage - niemand von uns hofft das nicht prozyklische Politik sein darf. Sondern für den
Fall, dass sich Wachstumserwartungen, die wir im Einklang mit allen wichtigen und großen Instituten formuliert haben, so nicht realisieren lassen, aus welchen
Gründen auch immer, müssen die automatischen Stabilisatoren wirken, damit es eben nicht zu einer Verschärfung der Situation kommt, die anderswo ihre Ursachen
hat. Was der Finanzminister dazu gesagt hat, gilt.
({38})
Natürlich müssen wir sowohl im Kreis der Finanzminister im Ecofin-Rat - niemand kann ernsthaft etwas dagegen haben - als auch am Freitag - ich gehe jedenfalls
davon aus - oder jedenfalls im April im Kreis der Staatsund Regierungschefs darüber reden, dass wir dann, wenn
ein Krieg im Irak schwerwiegende ökonomische Folgen
für die Wirtschaft in Europa und für die Wirtschaft der
Mitgliedstaaten hat, auch eine faire Debatte mit der
Kommission darüber führen müssen, was die Alternative
ist.
({39})
Dabei geht es niemandem darum, den Stabilitätspakt einfach wegzudrücken, sondern es geht darum, auf seiner
Basis unter Umständen nötige und vernünftige Entscheidungen zu treffen. Die werden wir dann in aller Offenheit auch hier im deutschen Parlament diskutieren.
({40})
Bei all den Fragen, die die Sozialstaatlichkeit
Deutschlands betreffen, ist deutlich geworden, was
wirklich das Ziel dessen ist, was wir vorhaben. Auch da
kann ich an das anschließen, was hier bereits diskutiert
wurde. Es geht uns darum, unter radikal veränderten
ökonomischen Bedingungen in Deutschland, in Europa
und in der Welt, häufig zusammengefasst - nicht falsch
zusammengefasst - unter dem Stichwort der Globalisierung, die Substanz von Sozialstaatlichkeit zu erhalten.
Dem dienen diese Maßnahmen. Nichts anderem dienen
sie. Das halten wir auch fest.
({41})
Deshalb kommt es darauf an, auf dem Arbeitsmarkt
eine neue Balance zwischen der Sicherheit der Beschäftigten einerseits und der Notwendigkeit der Flexibilität
der Unternehmen andererseits zu finden. Das werden wir
mit den Maßnahmen, die der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit zum Kündigungsschutz, zur Frage des
Zusammenlegens von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
sowie auch zur Frage der Dauer des Bezuges von Arbeitslosengeld dargestellt hat, anstreben und auch Positives erreichen. Ich bitte Sie darum, dies nicht aufzuhalten, sondern dabei mitzuhelfen.
Das Gleiche gilt genauso für die anstehende große
Reform, die wir im Gesundheitswesen brauchen. Dabei
geht es darum, die Strukturen marktnäher zu machen.
Dabei kann sich aber nicht jeder das heraussuchen, was
er gern hätte, sondern da gilt es, die Marktnähe auch
dann gemeinsam durchzusetzen, wenn die Klientel, die
von mangelnder Marktnähe bisher etwas hatte, an der einen oder anderen Stelle einmal aufschreit. Es geht darum, auch dies gemeinsam durchzusetzen.
({42})
Natürlich wissen wir, dass wir im Leistungskatalog
etwas verändern müssen. Das haben wir gesagt und das
werden wir auch tun, genauso wie es am Freitag dargestellt worden ist.
Ich habe sehr genau dem zugehört, was der bayerische Ministerpräsident, Herr Stoiber, dazu gesagt hat.
Darüber müssen wir dann ernsthaft reden. Als es beim
Thema Abbau von Überbürokratisierung, um mehr Bewegung zu schaffen, um die Handwerksordnung ging,
war auf einmal nicht mehr die Rede vom Abbau der Bürokratie und von mehr Flexibilität,
({43})
sondern man hat sich eingegraben und gefordert, dass in
diesem Bereich alles so bleibt, wie es ist. Dazu werden
Sie etwas sagen müssen. Wir werden Sie dazu auffordern.
({44})
Mir kommt es darauf an, dass Folgendes deutlich
wird. Bei der Reformdebatte hat sicher der eine oder andere Nachholbedarf, gar keine Frage. Aber das Ganze
immer nur auf der einen Seite des Hauses abzuladen, das
ist, wie sich an der Diskussion über die Handwerksordnung gezeigt hat und weiter zeigen wird, ein großer Fehler. Das geht Sie in gleicher Weise an und das wird sich
sehr bald herausstellen.
Schließlich und letztlich:
({45})
Es ist sehr interessant, sich anzuschauen, wie die unterschiedlichen Positionen zu dem, was wir am Freitag diskutiert haben, gestaltet worden sind, welcher Verband
und welche Gewerkschaft sich zu welcher Frage wie geäußert hat. Man kann das kurz und präzise zusammenfassen: Den einen ging es nicht weit genug und den anderen ging es zu weit, und zwar in fast allen Fragen. Die
Gefahr, die ich sehe und der wir gemeinsam entgegentreten müssen und werden, ist nun, dass eine Blockade dadurch entsteht, dass sich die unterschiedlichen Kräfte sozusagen gegenseitig aufheben. Das wäre fatal, meine
Damen und Herren.
({46})
Meine herzliche Bitte an die, die es angeht, auch diejenigen, die Öffentlichkeitsarbeit betreiben, ist: Selbst
wenn einem ein einzelner Schritt im Sinne des Ganzen
und der notwendigen Bewegung nicht weit genug geht,
sollte man sich einmal herablassen, diesen Schritt zu begrüßen und zu unterstützen.
({47})
Wenn nämlich die Gefahr der Selbstblockade durch die
unterschiedlichen Maximalpositionen nicht überwunden
wird, dann besteht in der Tat die Gefahr, dass am Ende
weniger herauskommt, als unser Land braucht. Das müssen wir verhindern und das wird die Koalition verhindern.
Deswegen können Sie sich vorstellen, dass ich für die
Unterstützung dankbar bin, die in diesem Prozess sowohl am Freitag als auch heute deutlich geworden ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({48})
Das Wort hat jetzt die Fraktionsvorsitzende der CDU/
CSU, Angela Merkel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte zum Etat des Bundeskanzlers findet in diesem Jahr
in einer besonderen Zeit statt. Jeder vernünftige Mensch
in diesem Lande und auch in diesem Hause hat ein Ziel:
Er möchte Krieg und militärische Aktionen vermeiden.
({0})
Wir alle - mir geht es jedenfalls so, ebenso vielen
Kolleginnen und Kollegen in unserer Fraktion und, wie
ich glaube, auch in anderen Fraktionen - halten deshalb
in diesen Stunden den Atem an. Wir sind betroffen, dass
die Wege, die zu einer friedlichen Lösung hätten führen
können, vielleicht in einer Sackgasse enden. Wir sind
voller Sorge um die Menschen im Irak, um die Soldatinnen und Soldaten und um die Sicherheit.
Wir sind auch unsicher, ob vielleicht andere Länder,
ob unser Land von Anschlägen betroffen ist. Ich weiß genau wie Sie alle in diesem Hause, dass gerade die älteren
Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande Sorge und
Angst haben, weil sie persönlich, anders als ich, Krieg
erleben mussten.
Auch das Gefühl des Ärgers und der Fassungslosigkeit darüber, dass der Westen, dass die demokratischen
Länder sich über diese Sache so haben zerstreiten müssen, kommt dazu. Es gibt die Hoffnung, dass, wenn der
Krieg nicht zu vermeiden ist, er wenigstens wenig Opfer
kostet und schnell vorbei ist. Ich glaube, wir Politiker
können und dürfen uns - wir tun es ja auch nicht - niemals von diesen Emotionen freimachen. Aber wir müssen uns auch genau fragen: Was haben wir zu tun? Dafür
tragen wir die Verantwortung. Wir tragen die Verantwortung genauso für das, was wir nicht tun.
Deshalb ist heute die Stunde, in der wir bei aller Gemeinsamkeit der Gefühle ganz offen und ganz ehrlich,
wie es auch der Bundeskanzler getan hat, über die Alternativen und über die Unterschiede sprechen. Die Fragen
um Frieden und Freiheit können auf gar keinen Fall,
auch nicht in Bezug auf den Irak, so beantwortet werden,
dass man ausschließlich darüber spricht, wie viele Opfer
es jetzt kosten könnte, wenn militärisch eingegriffen
wird, sondern wir müssen uns auch - ich sage nicht ausschließlich - vor Augen führen, wie viele Opfer Saddam
Hussein schon gekostet hat, wie viele Leute er auf dem
Gewissen hat und wie viele es noch kosten könnte, wenn
er weiter im Amt bleibt.
({1})
Wir debattieren in diesem Hause nicht zum ersten
Mal über Krieg und Frieden. Wir haben es oft und leidenschaftlich getan. Vor allen Dingen mussten wir es
tun, obwohl wir alle nach 1989 vielleicht gedacht haben,
diese Debatten blieben uns nach dem Ende des Kalten
Krieges erspart. Wir haben es im Zusammenhang mit
dem Kosovo und auch im Zusammenhang mit Afghanistan getan. Ich weiß, dass es vielen damals gerade auch
hier nicht leicht gefallen ist; es ist auch uns nicht leicht
gefallen.
Die Debatte hatte nur einen Unterschied: Damals war
sich die große Mehrheit in diesem Hause darüber einig,
wie wir uns zu entscheiden hatten. Diesmal gibt es mehr
Uneinigkeit. Deshalb sage ich mit aller Überzeugung:
Fangen wir nicht damit an - leider ist das in den letzten
Wochen immer wieder und auch heute passiert, Herr
Müntefering -, dass unterschwellig der Eindruck erweckt
wird: Wer mit Ihrem Kurs nicht einverstanden ist, der
wolle den Krieg;
({2})
Sie wollen den Frieden, wir wollen den Krieg. Wir werden diese Arbeitsteilung nicht mitmachen und sie wird
auch bei der Bevölkerung nicht ankommen.
({3})
So wie Sie uns das nicht unterstellen
({4})
können, so werden Sie es auch nicht Ihren Kollegen in Europa unterstellen: Tony Blair, dem portugiesischen Ministerpräsidenten, dem spanischen Ministerpräsidenten
({5})
- passen Sie auf, dass Sie niemanden verächtlich machen! -, die alle aus ihrer Überzeugung und mit Leidenschaft dafür eintreten, dass Diktatur verschwindet und
dies möglichst mit friedlichen Mitteln. Das ist das einigende Band.
({6})
Deshalb finde ich es ganz wichtig, dass der Unterschied zwischen uns in diesem Hause nun wirklich nicht
in der Frage besteht, ob wir Krieg oder Frieden wollen.
({7})
Der Unterschied in diesem Hause - ich wiederhole es
gern - besteht nicht darin, ob wir Krieg oder Frieden
wollen. Der Unterschied besteht vielmehr in der Frage,
auf welchem Weg man glaubt, das, was man erreichen
will, am besten zu erreichen. Dabei gibt es Unterschiede.
({8})
Frau Kollegin Merkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Volmer?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage.
({0})
Frau Sager, als Erstes müssen wir aufhören, einem
Phantom hinterherzujagen. Im Falle des Iraks handelt es
sich nicht um einen Präventivschlag, sondern um die
Frage, wie die UNO und der UN-Sicherheitsrat ihre Beschlüsse auch wirklich durchsetzen können.
({1})
Es handelt sich nicht um die erste Resolution, sondern
um die 17. Resolution. Es geht hier natürlich - ich
komme noch darauf zu sprechen - um die Autorität des
UN-Sicherheitsrates und darum, ob er in Zukunft in der
Lage sein wird, wichtige Resolutionen auch durchzusetzen. Diese Durchsetzung muss uns gelingen, egal zu
welchem Ergebnis wir im Zusammenhang mit dem Irak
kommen.
({2})
Die Unterschiede zwischen Ihnen und uns im Zusammenhang mit dem Irak waren schon zu einem ganz frühen Zeitpunkt sichtbar, als Sie nämlich militärische
Mittel von vornherein ausgeschlossen haben. Ich bin der
festen Überzeugung, dass man das in diesem Falle
niemals hätte tun dürfen, genauso wenig, wie man es in
anderen Fällen getan hat. Die einzige Möglichkeit, einen
Diktator zum Einlenken zu bringen, ist, dass man mit der
letzten Konsequenz, also mit militärischen Optionen,
droht. Es ist unsere Überzeugung, dass man so handeln
muss, um 17 Resolutionen Nachdruck verleihen zu können.
({3})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Gestatten Sie überhaupt Zwischenfragen?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfragen.
({0})
Krieg ist niemals die Fortsetzung von Politik mit normalen Mitteln. Das darf Krieg niemals werden. Aber ich
sage auch: So wie wir uns als Deutsche die Entscheidung, ob wir militärische Aktionen billigen, nicht leicht
machen sollten, so dürfen wir es uns wegen unserer Geschichte auch nicht so leicht machen, sie von vornherein
auszuschließen.
({1})
Paul Spiegel hat doch Recht gehabt, als er gesagt hat:
Die KZs sind nicht von Zivilisten, sondern von Soldaten
befreit worden. - Auch das ist Teil der deutschen Geschichte.
({2})
Wir sind der Überzeugung: Der erfolgreichste Weg,
um militärische Aktionen zu vermeiden, wäre gewesen,
dass wir, die Demokraten dieser Welt, also die Europäische Union und ihre Verbündeten, den Druck auf Saddam Hussein gemeinsam erhöht hätten.
({3})
Deshalb ist die Alternative, Herr Müntefering, vor die
Sie uns stellen wollten,
({4})
vollkommen falsch. Es geht doch nicht um die Frage, ob
man Frieden will oder ob man Soldaten in den Irak schicken will. Es geht vielmehr um die Frage - das ist die
Alternative -, ob man es durch Einigkeit der Demokraten, die gemeinsam eine Resolution verabschiedet haben, oder ob man es durch Uneinigkeit besser schafft,
dass diese Resolution durchgesetzt wird.
({5})
Dazu sage ich mit allem Nachdruck - so bedauerlich
es ist; wir werden uns mit dieser Frage noch lange beschäftigen -: Sie haben durch Ihre Haltung, die Einigkeit
nicht befördert hat, den Krieg im Irak wahrscheinlicher
und nicht unwahrscheinlicher gemacht.
({6})
- Herr Poß, regen Sie sich nicht so auf! Sie können es
nachlesen: Vor acht Wochen habe ich dies schon einmal
gesagt. Da haben Sie sich nicht ganz so aufgeregt.
({7})
Jetzt ist die Sache leider sehr schwierig.
Frau Sager, Sie haben von einem EU-Sondergipfel
gesprochen. Wir aber hätten vorgeschlagen,
({8})
einen Gipfel nicht erst im Februar - auf diesem wurde
von der Bundesregierung endlich das akzeptiert, was allgemein unsere Meinung ist, dass militärische Optionen
das letzte Mittel sind -, sondern sehr viel früher abzuhalten.
({9})
Warum nicht im September? Warum nicht im Oktober?
Dann hätte Europa in der Weltgemeinschaft noch etwas
bewirken können.
({10})
Ich sage Ihnen, was wir auch anders gemacht hätten.
Wir hätten bei der Verabschiedung der Resolution 1441
von Anfang an darauf geachtet,
({11})
dass die Inspektionen eine zeitliche Befristung haben.
Eine solche zeitliche Befristung hätte uns die Möglichkeit zu einem koordinierten Aufbau von Inspektionen
gegeben, die Hans Blix nur deswegen sehr erfolgreich
durchführen konnte,
({12})
weil parallel dazu eine militärische Drohkulisse entstanden ist. Das sagt er selbst. Hören Sie ihm doch zu!
({13})
Eines ist doch klar: Diktatoren auf dieser Welt haben
manchmal die Eigenschaft, dass sie auf gar nichts reagieren außer auf militärische Gewalt.
({14})
Wenn es gut läuft, dann reagieren sie auf gemeinschaftlichen Druck, aber eben nicht auf eine zerrissene Weltgemeinschaft. Hier gibt es eine unterschiedliche Wahrnehmung in unserer Welt.
({15})
Wir bedauern im Übrigen so wie Sie, dass die Lage
im UN-Sicherheitsrat jetzt so ist, dass er - ich betone
das - in keine Richtung handlungsfähig ist. Ich füge
hinzu, dass an der Entwicklung des Zustandes, so wie er
jetzt besteht, viele beteiligt gewesen sind. Da nehme ich
die USA überhaupt nicht aus.
({16})
Wir sind hier im deutschen Parlament
({17})
und wir haben über die deutsche Position zu diskutieren.
Ich bin ganz sicher, dass wir es anders gemacht hätten.
Darüber müssen wir in diesem Hause sprechen.
({18})
Eine Entscheidung im UN-Sicherheitsrat ist bedauerlicherweise nicht möglich gewesen, weil ein Veto von
Frankreich, eines von Russland und vielleicht auch eines
von anderen gedroht hätten. Aber eine Entscheidung in
die andere Richtung ist auch nicht möglich gewesen,
weil sonst ein Veto von Amerika und Großbritannien gedroht hätte. Zur Wahrheit der Geschichte gehört,
({19})
dass das eine Veto nicht mehr wert ist als das andere,
sondern dass beide ihre Berechtigung haben und die
UNO deshalb leider nicht der Ort der Entscheidungen
ist, wie ich es mir und wie wahrscheinlich auch Sie es
sich gewünscht hätten.
({20})
Ich muss Ihnen sagen: Ich habe mir in diesen Wochen
und Monaten oft die Frage gestellt, was richtig ist. Jeder
von uns stellt sich diese Frage. Es besteht eine immens
komplizierte Situation. Wenn Sie immer zu 100 Prozent
davon überzeugt sind, dass alles richtig ist, was Sie tun,
dann gehören Sie zu einer anderen Kategorie.
Das, was den Irak anbelangt, wird uns noch lange beschäftigen. Denn dies ist ein Ereignis, das weit über den
heutigen Tag hinausgeht
({21})
und über die Struktur der Welt und die sicherheitspolitische Ordnung viel aussagen wird. Der Bundesaußenminister, der heute nicht hier sein kann, hat oft auf die Risiken hingewiesen, die mit einer militärischen Aktion, mit
einem Krieg im Irak verbunden sind. Das respektiere
ich; darüber habe ich viel nachgedacht.
({22})
Aber ich muss Ihnen sagen: Denken Sie bitte auch darüber nach, was damit verbunden ist, wenn wir gar nichts
tun, wenn wir die 18., 19. und 20. Resolution verabschieden und weitere zwölf Jahre im Irak nichts passiert.
Lassen Sie uns auch über diesen Fall diskutieren, meine
Damen und Herren.
({23})
Anfang der 90er-Jahre - die Außenpolitiker werden
sich erinnern - haben wir in Europa eine leidenschaftliche Diskussion darüber geführt, dass Hans-Dietrich
Genscher und die Bundesregierung damals dafür waren,
Kroatien diplomatische Beziehungen anzubieten. Der
Bundesaußenminister sagt in diesen Tagen oft: Passt auf,
dass es in diesem Raum, im Irak, um den Irak und in
Kurdistan, nicht zu einer Balkanisierung kommt.
({24})
Meine Damen und Herren, damals wurde gesagt: Wie
könnt ihr diplomatische Beziehungen zu Kroatien aufnehmen? Das wird zu einer Zersplitterung und nicht zu
mehr Frieden führen. Vor dem Kosovo-Krieg haben wir
uns gefragt, welche Risiken damit verbunden sind. Das
ist doch vollkommen klar. Trotzdem hat sich im Nachhinein erwiesen, dass diese Region weit entfernt ist von
Stabilität; aber sie ist immerhin stabiler, als sie es früher
war, und Menschenrechtsverletzungen finden in diesem
Raum auch nicht statt.
Über genau dieselben Fragen haben wir jetzt zu entscheiden und wir kommen an vielen Stellen zu anderen
Meinungen als Sie. Das ist doch legitim.
({25})
Wir kommen zu dieser Meinung, genau wie der Bundesaußenminister, im Blick auf die Zukunft des Iran, im
Blick auf die Stabilität der Region und der Länder um
den Irak herum, die erkennbar unter dem Diktator Hussein leiden. Es stellt sich auch die Frage, wie Länder wie
Saudi-Arabien und Jordanien in der Lage sind, Terrorismus zu bekämpfen, wenn sie von einem Machtmonopol
Irak umzingelt werden.
({26})
Und es stellt sich die Frage, wie die Sicherheit Israels
mit einem erstarkenden Irak und einem erstarkenden
Iran zu gewährleisten ist. All diese Fragen treiben uns
gemeinsam um. Diese Fragen haben wir zu beantworten
und sie sind mit einem einfachen Nein und mit Nichtstun
mit Sicherheit nicht zu beantworten.
({27})
Es stellt sich mir eine zweite Frage, die für mich genauso wichtig ist. Wir haben jetzt die Blockade des UNSicherheitsrates erlebt. So etwas muss für die Zukunft
verhindert werden.
({28})
Aber wir sagen - und wir alle in diesem Hause sagen
das -: Das Gewaltmonopol muss bei der UNO liegen.
({29})
- Meine Damen und Herren, ganz ruhig. - Aber die militärische Drohkulisse kann und wird auf absehbare Zeit
von der UNO nicht aufgebaut werden, sondern sie wird
durch Nationalstaaten erzeugt werden.
Kommen wir noch zu den Fragen: Wie sieht es denn
damit aus, mit deutschen, französischen und anderen Fähigkeiten einen wirklichen Beitrag zu einer solchen
Drohkulisse zu leisten? Was können wir denn schaffen,
wenn es um etwas geht?
({30})
Deshalb heißt unsere Schlussfolgerung angesichts der
Lage und bedauerlicherweise: Es ist ein ziemliches Desaster, in dem wir uns befinden. Angesichts dieser Situation haben wir gesagt: Wir unterstützen als letzte Chance
des Friedens das Ultimatum, das dem Diktator Saddam
Hussein gestellt ist.
({31})
Es wäre gut - und ich sage das jetzt mit voller Leidenschaft -, wenn Sie sich wenigstens in diesen 48 Stunden
dazu aufraffen könnten, gemeinsam mit uns dieses Ultimatum zu unterstützen und die letzte Chance zu nutzen,
den Krieg im Irak wirklich zu verhindern.
({32})
Weil die Frage, wie es mit dem Irak weitergeht, eine
Frage von zukunftsträchtiger Bedeutung ist, bin ich froh,
dass der Bundeskanzler sich heute stark für eine Säule
der deutschen Außenpolitik ausgesprochen hat, nämlich
für die Integration Europas und für die politische Union.
({33})
Dass sie durch das, was in den letzten Wochen vorgefallen ist, nicht einfacher geworden ist, liegt auf der Hand.
Aber wir, meine Damen und Herren, werden genauso
weiterarbeiten, wie wir es bis jetzt getan haben:
({34})
durch eine Unterstützung der Konventsarbeit, durch die
Unterstützung der Arbeiten an einem Verfassungsvertrag. Wir werden für eine ausbalancierte Politik sorgen,
die Deutschlands Rolle auch im Hinblick auf alle seine
Nachbarn wirklich gerecht wird.
({35})
Herr Bundeskanzler, ich habe Ihre Bemerkung zu den
mittel- und osteuropäischen Ländern nicht ganz verstanden. Ich weiß nicht, was Sie meinten. Meinten Sie,
sie seien noch nicht ganz erwachsen?
({36})
- Er hat sich ein bisschen kryptisch ausgedrückt. - Ich
rate dazu, dass wir diese Länder ernst nehmen. Wir sollten unseren Nachbarn Polen genauso ernst wie unseren
Nachbarn Frankreich nehmen. Damit fahren wir gut.
({37})
Die Europäische Union darf niemals ein Eliteklub ihrer
Gründungsländer werden.
({38})
Die politische Union wird uns nur gelingen, wenn alle
Mitgliedstaaten gleichermaßen akzeptiert und in diese
Union einbezogen werden.
({39})
Meine Damen und Herren, in diesen Tagen hört man
von Ihnen in Bezug auf die transatlantischen Beziehungen immer: Das sind unsere Freunde und Partner.
Freundschaft beruht immer auf Gegenseitigkeit.
({40})
Das müssen die Amerikaner lernen, aber das müssen
auch die Deutschen beherzigen. Ich kann Ihnen dazu nur
sagen: Wenn schon der Besuch eines Oppositionsführers
in Amerika inzwischen zum Gegenstand von wirklich
absurden Bemerkungen der Regierungsfraktionen geworden ist,
({41})
dann stellen Sie sich selber in die Ecke, meine Damen
und Herren. Man wundert sich außerhalb Deutschlands
über Sie.
({42})
Herr Bundeskanzler, Sie haben heute kein Wort dazu
gesagt, dass eine Achse Paris-Berlin-Moskau und ein
Angebot russischer Politiker, Deutschland Sicherheitsbeistand leisten zu können, nicht das sind, was uns in die
Zukunft führt. Dazu muss man doch ein Wort sagen. So
etwas wird jetzt in deutschen Zeitungen geschrieben und
bleibt hier völlig unwidersprochen. Für uns sind das
transatlantische Verhältnis und die NATO der Sicherheitsverbund; darauf setzen wir und das wollen wir voranbringen.
({43})
Frau Sager, es ist doch vollkommen richtig, dass Herr
Schäuble darauf hingewiesen hat, dass sich nach dem
11. September die Lage verändert habe, dass es eine
neue Sicherheitsarchitektur geben werde,
({44})
dass es neue Bedrohungen geben werde und dass wir auf
diese völlig anderen Bedrohungen anders antworten
müssten.
({45})
Weil dies wahr ist, habe ich auch mit Interesse das Interview des Bundesaußenministers in der „FAZ“ vom
Montag gelesen, in dem er sagt:
Die militärische Überlegenheit Amerikas ist nicht
das Ergebnis eines großen strategischen Masterplans finsterer Kräfte zur Beherrschung der Welt,
sondern eine Tatsache, die sich aus dem Gang der
Geschichte ergeben hat. Insofern geht es nicht darum, hier eine antiamerikanische Stimmung zu verbreiten, wenn ich sage, dass auch wir Europäer auf
diesem Sektor stärker werden müssen …
({46})
Wir müssen unsere militärische Kraft verstärken,
um auch in diesem Sektor als Faktor ernst genommen zu werden.
({47})
Meine Damen und Herren, hier sind wir richtig dabei.
({48})
Denn wenn Sie eine multipolare Welt wirklich wollen,
dann muss Europa ein Pol in dieser Welt sein, der nach
meinem Verständnis im Übrigen freundschaftlich mit
den Amerikanern verbunden ist, und dann muss dieser
Pol ökonomische, aber auch sicherheitspolitische Stärke
aufweisen.
Damit sind wir beim Thema der heutigen Debatte.
Schauen Sie sich bitte Ihren Verteidigungsetat vor dem
Hintergrund der Worte Ihres Außenministers an.
({49})
Er ist in diesem Jahr und er war im letzen und vorletzten
Jahr das genaue Gegenteil dessen, was Sie als politische
Notwendigkeit formulieren. Das ist die Aussage dieses
Etats.
({50})
Deshalb kann ich nur sagen: Machen wir es dann
doch wenigstens so wie Frankreich. Frankreich hat seinen Wehretat um 6 Prozent erhöht. Die französische Verteidigungsministerin läuft freudig umher. Herr Struck,
Sie träumen von so etwas.
({51})
Sich damit, militärisch stark sein zu wollen, zu brüsten,
aber nichts dafür zu tun, ist das, was diese Bundesregierung auszeichnet. Wort und Tat stimmen auf keinem
Feld überein.
({52})
Deshalb ist dieser Haushalt kein Haushalt der Stabilität, sondern ein Haushalt der Stagnation und er ist eine
Farce hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit. Am Ende
dieses Jahres wird nichts stimmen, aber - um das gleich
klar zu stellen - es wird nicht wegen des Irakkrieges
nicht stimmen, sondern weil all Ihre Wirtschaftsdaten
auf weniger als Sand gebaut sind, weil sie zum Teil erfunden, erhofft oder erträumt sind, aber mit der Realität
nichts zu tun haben.
({53})
Herr Müntefering, Sie sprachen von Innovationen
- ich bin doch dabei -, aber schauen Sie bitte einmal auf
die Investitionen, die notwendig sind, damit es überhaupt Innovationen geben kann. Die Fluthilfe war einmalig und nächstes Jahr fehlen auch die Erlöse aus dem
Verkauf der UMTS-Lizenzen. Dann sieht es ganz trübe
aus.
Schauen Sie sich einmal an, was bei den Wissenschaftsorganisationen los ist. Jetzt haben Sie wieder ein
Versprechen auf das nächste Jahr verschoben. Meinen
Sie, dass Ihnen in Deutschland noch irgendeine Wissenschaftsorganisation ein Versprechen für das nächste Jahr
abnehmen wird? Ihr Problem ist, dass Ihnen in Deutschland innenpolitisch überhaupt kein Mensch mehr irgendein Wort glaubt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Jörg Tauss [SPD]: Die DFG
hat sich gerade bedankt!
- Die DFG hat sich bedankt,
({54})
weil sie nach langem Ringen überhaupt noch ein bisschen bekommen hat. Soll ich Ihnen sagen, was sie bekommen hat? Sie hat das bekommen, was Sie voriges
Jahr versprochen haben und was die DFG bereits ausgegeben hat.
({55})
Die Max-Planck-Gesellschaft hat zum Teil noch überhaupt nichts ausgegeben und sitzt da wie Neese. Wenn
sich in Deutschland herumspricht, dass man auf nichts
hoffen kann, werden noch mehr Wissenschaftler weggehen. Sie wissen das viel besser, wenn Sie allein in Ihrem
Kämmerchen sind.
({56})
Der gesamte Wissenschaftshaushalt ist ein einziges Betrübnis.
({57})
Herr Müntefering, er hat mit Innovation leider wenig zu
tun.
({58})
Zu den Kommunen. Herr Müntefering hat heute die
Katze aus dem Sack gelassen und gesagt: Na klar, die
Schwachen bekommen nichts, aber die Starken bekommen etwas, denn sie können noch Kredite aufnehmen.
Da habe ich wieder etwas dazugelernt, nämlich dass die
neue sozialdemokratische Politik offensichtlich die Politik ist, die Starken stärker zu machen und die Schwachen
schwächer zu machen. Das ist etwas ganz Neues. Wenn
das zu Ihrem Prinzip wird, müssen wir uns mehr für die
Schwachen einsetzen.
({59})
Tatsache ist, dass Herr Eichel eine Steuerreform im
Jahre 2000 gemacht hat. Damals hatten Sie Angst vor
dem Vermittlungsausschuss und haben sich die Mehrheit
mehr oder weniger erkauft.
({60})
Diese Steuerreform hat fatale Folgen. Dann haben Sie
den Kommunen noch die Gewerbesteuerumlage weggenommen und bezichtigen uns jetzt, dass wir Steuererhöhungen nicht zustimmen.
Wir stimmen Steuererhöhungen nicht zu, sondern wir
wollen, dass Sie die Gewerbesteuerumlage wieder auf
ihr altes Niveau zurückführen. Dann wird es den Kommunen wieder besser gehen. Das können Sie völlig
mühelos machen.
({61})
Ich wundere mich, dass Sie es nach dem Gegacker
des Wochenendes im Blätterwald
({62})
überhaupt noch wagen, uns wegen kleiner Unterschiede
in zwei Parteien überhaupt anzusprechen.
({63})
Schauen Sie doch lieber, dass Sie Ihre eigenen Mehrheiten zusammenbekommen.
Worin liegt der Unterschied? Das kann ich Ihnen ganz
genau sagen. Im Gegensatz zu Ihnen haben CDU und
CSU ein Modell für den Kündigungsschutz vorgelegt.
({64})
Nach diesem Modell haben Arbeitnehmer bei Neueinstellung die Möglichkeit, zwischen zwei Optionen, einem normalen Kündigungsschutz oder einer Abfindung,
zu wählen.
({65})
Herr Clement hat dieses Modell verworfen, obwohl er
genau weiß, dass es richtig ist; denn es versetzt den Arbeitgeber in die Lage, bereits bei der Einstellung Rechtssicherheit darüber zu haben, wie es bei einer Kündigung
laufen wird. Deshalb werden wir dieses Modell auch
weiterhin vertreten.
({66})
Darüber hinaus hat die CSU zusätzlich einen Vorschlag
bezüglich einer Mittelstandskomponente gemacht. Jetzt
warten wir ab, welcher von Ihren drei Vorschlägen auf
den Tisch kommt.
({67})
Wir haben - da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen - noch weiter gehende Vorschläge, die Deutschland
besser tun würden als Ihre.
({68})
Wenn Ihre Vorschläge einigermaßen verträglich sein
sollten, dann werden wir ihnen zustimmen. Aber ich vermute, dass Sie noch lange Zeit damit zubringen werden,
um sich zu einigen, was Sie überhaupt wollen.
({69})
Herr Müntefering, da Sie ständig wiederholen, wie
konkret Sie geworden sind,
({70})
muss ich Sie darauf hinweisen, dass der Bundeskanzler
das, was er uns über die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gesagt hat, schon seit drei Jahren
verkündet. Aber wie immer liegt die Tücke im Detail.
Sollen zum Beispiel die Jobcenter bei der Kommune angesiedelt sein? Wenn ja, welche zusätzlichen Aufgaben
soll dann die Bundesanstalt für Arbeit bekommen? Unser
Vorschlag lautet, den Kommunen mehr Geld zu geben,
weil wir der Meinung sind, dass über die Vermittlung
ortsnah entschieden werden muss. Es kann nicht sein,
dass diejenigen, die gut zu vermitteln sind, zur Bundesanstalt für Arbeit kommen und diejenigen, die schlecht
zu vermitteln sind, bei den armen Kommunen verbleiben. Auf all diese Fragen habe ich von Ihnen noch keine
einzige Antwort bekommen. Herr Gerster, die Kommunen und Sie in der Fraktion sind in diesen Fragen zerstritten und können uns deswegen nichts Konkretes sagen.
Wir warten darauf, dass Sie uns endlich etwas vorlegen, was über allgemeine Bekundungen hinausgeht. Sie
werden es nicht schaffen - das sage ich Ihnen voraus -,
die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen,
ohne die Fragen zur Gemeindefinanzreform zu klären.
Doch davon sind Sie weit entfernt. Sie sind so weit wie
am Anfang der ganzen Diskussion. Wir aber wollen auch
hier Ergebnisse sehen.
({71})
Der Bundeskanzler hat einige richtige Maßnamen
vor; das ist keine Frage. Diese hat er allerdings nur deshalb vorgelegt, weil er am Freitag nach Brüssel muss.
Brüssel hat ihm nämlich Daumenschrauben angelegt:
Wenn Anfang Mai nicht Konzepte auf dem Tisch liegen,
wie Deutschland den Stabilitätspakt auch nur ansatzweise erfüllen will, dann wird Deutschland schwere
Strafen zu erwarten haben. Weil Sie, Herr Bundeskanzler, dort rapportieren müssen, haben Sie endlich die Berichte der OECD und der Bundesbank in die Hand genommen und das getan, von dem wir seit Tag und Jahr
wissen, dass es in Deutschland getan werden muss, jedenfalls ansatzweise. Das ist die Wahrheit. Ohne diesen
Druck hätten Sie gar nichts gemacht.
({72})
Aber, Herr Bundeskanzler, Sie müssen zugeben:
Wenn Sie in Ihrem Kämmerlein sitzen und darüber nachdenken, was Deutschland wirklich braucht, dann muss
doch auch Ihnen klar werden, dass die Agenda 2010
angesichts der Aufgaben, die vor uns liegen, allenfalls
einen kleinen Prolog bekommen hat, der bis zum Juli
dieses Jahres reicht, aber doch niemals mit Maßnahmen
aufgefüllt wurde, die bis zum Jahr 2010 reichen.
Das Problem, das Sie haben, ist - das wird in den
kommenden Wochen noch deutlicher werden -: Sie können den Menschen nicht sagen, wohin die Reise geht.
({73})
Ich möchte in diesem Zusammenhang Goethe zitieren,
der gesagt hat: Die Teile habt ihr in der Hand, allein es
fehlt das einig Band. - Sie haben keine Vorstellung von
der Welt in dieser Zeit.
({74})
Sie sind eine Partei, die im Industriezeitalter stecken geblieben ist und die in Verbänden, Schichten und Klassen
denkt. Sie haben nicht die Kraft, den Menschen in diesem Lande wirklich etwas zuzutrauen. Das unterscheidet
uns. Das wird sich auch in den kommenden Monaten
zeigen.
Herzlichen Dank.
({75})
Es liegen zwei Wünsche nach einer Kurzintervention
vor. Zunächst erhält der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten, Franz Müntefering, und danach der Abgeordnete Ludger Volmer das Wort. Frau Merkel, Sie können dann im Zusammenhang darauf antworten.
({0})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Worterteilung
und die Beurteilung, ob sie korrekt wahrgenommen
wird, ist immer noch Sache des Präsidiums.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Merkel, Sie haben mich an einer bestimmten Stelle angesprochen. Darauf möchte ich eingehen,
denn ich habe mich ein wenig gewundert.
({0})
Diese Stunde, die Diskussion des Kanzleretats am
Mittwochmorgen, ist immer die große Zeit des Parlaments. Das Parlament nimmt sein Recht wahr, die Bundesregierung zu kontrollieren. Das ist eine besondere
Aufgabe der Opposition.
({1})
Ich habe vorhin mit Interesse erfahren, dass Sie nicht
bereit waren, vor dem Bundeskanzler zu sprechen und
die Regierungspolitik zu kritisieren. Sie haben darum gebeten, dass der Bundeskanzler als Erster spricht, damit
Sie antworten können. Das haben wir akzeptiert,
({2})
weil wir uns vorstellen konnten, dass Sie ein Interesse
daran haben, auch auf die außenpolitische Situation einzugehen.
({3})
Ich muss Ihnen aber sagen: Das, was Sie hier abgeliefert haben, war keine Antwort, es war eine vorbereitete
Frechheit und nichts anderes.
({4})
- Es tut mir Leid für Sie.
Sie behaupten, wir hätten durch unsere Politik dazu
beigetragen, dass der Krieg im Irak wahrscheinlicher
wird.
({5})
Ich sage Ihnen: Halten Sie an der Stelle ein!
({6})
Zerstören Sie nicht all das, was in diesem Land unter
Demokraten miteinander gewachsen ist. Halten Sie ein!
({7})
Deshalb war Ihre Bitte, nach dem Kanzler zu reden,
feige und die Art und Weise, wie Sie uns angegangen
sind, frech.
({8})
Ich habe mich aber nicht um meinetwillen gemeldet.
Die deutsche Geschichte zeigt, dass die Sozialdemokraten, seitdem es sie gibt, dazu beigetragen haben, dass
Frieden in diesem Land und darüber hinaus herrschte.
An Krieg und ähnlichen Dingen waren wir nie beteiligt.
So etwas haben wir auch nie mit ausgelöst. Diese geschichtliche Tatsache merken Sie sich einmal!
({9})
Ich habe mich gemeldet, weil Sie durch die Art und
Weise, mit der Sie hier agierten, Millionen Menschen in
diesem Land beschimpft haben.
({10})
Es geht um die Menschen, die in den vergangenen Tagen
unterwegs waren - und immer noch unterwegs sind -,
um zu demonstrieren - Junge und Alte - und um uns Politikern zu sagen, dass sie Angst haben und dass wir dafür sorgen sollen, dass es diesen Krieg nicht gibt. Darum
bemühen wir uns. Sie beschimpfen auch all diejenigen,
die sich in diesen Tagen auf den Weg gemacht und uns
alle miteinander darum gebeten haben, hier aktiv zu sein
und alles Mögliche zu tun, damit weiterhin Frieden
herrscht. Ihre Vorwürfe an diese Menschen und auch an
uns weise ich zurück, Frau Merkel.
({11})
Solange es in Zukunft Menschen gibt, wird es auch
Gewalt auf der Welt geben. Es wird in einer veränderten
Welt immer komplizierter und schwieriger werden, mit
dieser Gewalt klarzukommen. Ich sage Ihnen: Wir stehen vor einer großen Herausforderung, die am Beispiel
Irak exemplarisch zu diskutieren und nachzuvollziehen
ist. Der Bundeskanzler, diese Bundesregierung und diese
Koalition werden mit ihrem Bemühen, bis zum letzten
Augenblick dafür zu kämpfen und zu streiten, dass das
Problem Irak friedlich gelöst werden kann, historisch
Recht behalten. Dafür stehen die Sozialdemokraten, dafür steht diese Koalition.
({12})
Sehr geehrte Frau Merkel, ich wollte Ihnen vorhin
gerne eine Zwischenfrage stellen. Da Sie sie abgelehnt
haben, muss ich Sie nun in einer Kurzintervention mit
dem konfrontieren, was Sie gestern Abend gesagt haben.
Sie haben viel über das geredet, was Sie getan hätten,
wären Sie an der Regierung gewesen. Ich will darüber
sprechen, was Sie tun, während Sie in der Opposition
sind. Sie haben gestern Abend erklärt, Sie unterstützten
das Ultimatum von Präsident Bush.
({0})
Auf Nachfrage von Journalisten - das ist zum Beispiel in
der heutigen Ausgabe der „Berliner Zeitung“ nachzulesen - haben Sie gesagt: „Wenn wir uns hinter das Ultimatum stellen, dann impliziert das alle Folgen, die sich
mit dem Ultimatum ergeben …“
Folge eins: Die Inspektoren sind abgezogen worden.
Damit ist die erfolgs- und hoffnungsträchtige friedliche
Abrüstungsmission gescheitert.
({1})
Auch für diese Folge müssen Sie die Konsequenzen
mittragen.
Folge zwei: Just in diesem Moment geht die Meldung
über die Ticker, dass amerikanische Truppen in die entmilitarisierte Zone im Irak eingerückt sind. Das heißt,
der Krieg beginnt in dieser Minute. Sie, Frau Merkel,
verantworten mit Ihrer Äußerung von gestern Abend
diese fatale Entwicklung mit.
({2})
Frau Merkel, wenn heute oder morgen Nacht der
größte militärische Erstschlag der Kriegsgeschichte verübt wird, dann mögen die 3 000 Waffen, die dort eingesetzt werden, noch so zielgenau sein und mancher
Schlag noch so chirurgisch präzise sein. Es wird Tausende von Toten und Zehntausende von Verletzten sowie
Millionen von Flüchtlingen geben. Diese Konsequenzen,
Frau Merkel, implizieren Sie mit.
({3})
Dazu hätte ich mir von Ihnen eine klare Haltung gewünscht.
Ich sage Ihnen: Ich wundere mich über den Stimmungswechsel in der Union. Zwei Jahre zuvor, im
Frühjahr 2001, hatten wir in den Ausschüssen eine Debatte darüber - hören Sie gut zu -, ob nicht das Embargo
gegenüber dem Irak aufgehoben werden müsse. Diese
Debatte wurde von der CDU/CSU mit der Begründung
angemahnt, der Irak sei doch gar nicht mehr gefährlich
und von ihm gehe keine Gefahr mehr für den Weltfrieden aus.
({4})
Die Bundesregierung - das war teilweise meine
Rolle - hat damals erklärt: Wir müssen über die Aufhebung der Sanktionen reden, aber bitte vergessen Sie
nicht, dass der Irak Potenziale zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen besitzt, die unschädlich gemacht
werden müssen.
Herr Kollege Volmer, Ihnen stehen für eine Kurzintervention nur drei Minuten Redezeit zur Verfügung. Diese
sind jetzt vorbei.
Sorry!
Frau Merkel, Ihre Politik ist inkonsistent. Wie Sie
versuchen, Ihre inneren Widersprüche - Herr Glos hat
heute Morgen erklärt, er verstehe die Politik von Herrn
Bush nicht - zu kaschieren, indem Sie diese Bundesregierung angreifen, ist schändlich.
Herr Kollege Volmer, ich muss Sie jetzt bitten aufzuhören.
Sie betreiben ein schändliches Spiel mit all denjenigen, die eine friedliche Lösung suchen.
({0})
Herr Müntefering, ich weiß nicht, ob wir uns in diesem Hause mit Kindererziehungsmethoden beschäftigen
sollten. Ich nenne nur die Stichworte „Kulleraugen“ - das
war Freitag - und „frech“ von heute.
({0})
- Wofür soll ich mich denn entschuldigen? Herr
Müntefering hat diese Äußerungen gemacht.
Erstens. Ich möchte Sie nur daran erinnern, Herr
Müntefering, dass uns der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland in einer seiner letzten Reden als die
Koalition der Kriegswilligen bezeichnet hat.
({1})
Dies war eine nicht zu überbietende Äußerung, von der
ich noch heute sage, dass sie völlig daneben und ungerechtfertigt war. Genau dazu äußern wir uns und das
können Sie uns nicht verbieten. Das ist in diesem Parlament immer noch möglich.
({2})
Zweitens möchte ich, damit hier keine Missverständnisse bei den Menschen, die uns zuschauen, entstehen, sagen: Ich habe 35 Jahre lang in einem Land gelebt, in dem
man nicht demonstrieren durfte. Deshalb werde ich die
Letzte sein, die nicht respektiert, dass Menschen für das,
was sie für richtig halten, in diesem Land demonstrieren.
({3})
Ich freue mich darüber, dass das möglich ist. Trotzdem erlaube ich mir, ab und zu eine andere Meinung zu haben.
({4})
Drittens. Herr Volmer,
({5})
es ist fatal: Die Bundesregierung hat die Resolution 1441
mit verabschiedet.
({6})
- Die Bundesregierung hat sie auf dem NATO-Gipfel in
Prag ausdrücklich unterstützt, obwohl Deutschland damals noch nicht im UN-Sicherheitsrat war. Damit gilt sie
als politisch mit getragen durch die Bundesregierung.
Das wissen Sie doch auch. Stellen Sie es hier nicht infrage!
({7})
Wie auch immer die Diskussionen im Jahr 2000 gewesen waren: Irgendetwas muss alle in diesem Haus
dazu veranlasst haben, zu sagen, dass der Irak unverzüglich und als letzte Chance abzurüsten hat, weil ihm ansonsten „serious consequences“, ernsthafte Konsequenzen, drohen. Das haben Sie und wir unterstützt. Dabei
sollten wir auch am heutigen Tag bleiben.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte jetzt
doch ein paar Worte sagen. Jeder merkt, dieses Thema
ist für alle Seiten sehr aufwühlend. Ich finde aber, wir
müssen unter uns - das sage ich an alle Seiten gerichtet klarstellen, dass der Krieg nicht in diesem Raum stattfindet, auch nicht in Worten.
({0})
Wir müssen auch morgen wieder zusammenarbeiten. Ich
bitte, daran auch in Zukunft zu denken.
({1})
Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch sagen: In einer wirklich sinnvollen Regelung, die historische Ursachen hat, hat man festgelegt, dass die Leitung der Sitzungen nicht kritisiert werden darf. Es finden permanent
Eingriffe statt. Ich kann Ihnen versichern: Ich kenne die
Geschäftsordnung ziemlich gut und ich weiß, was ich
darf und was nicht. Ich weiß auch, dass Kurzinterventionen drei Minuten dauern dürfen. Diese Zeit einzuhalten
ist wirklich die leichteste Übung. Diese können Sie mir
überlassen.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerhard
Rübenkönig.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Frau
Merkel, das, was Sie heute von sich gegeben haben, bestätigt genau das, was Sie in der „Washington Post“
schon vor einigen Wochen gesagt haben. Sie haben dem
Kanzler unterstellt, er habe Sie als Koalition der Kriegswilligen bezeichnet. Nach Ihrem heutigen Redebeitrag
und Ihrem gestrigen Interview muss ich feststellen, dass
der Kanzler damit völlig richtig liegt. Ich unterstütze von
dieser Stelle aus die Position der Bundesregierung und
der sie tragenden Koalition.
Die Initiativen und die Aktivitäten für den Frieden im
Irak gehen weiter. Wir geben die Hoffnung nicht auf, obwohl die Stunde der Wahrheit, wie Sie es bezeichnen, offensichtlich gekommen ist.
Ich möchte als Haushälter auf das zurückkommen, was
uns in dieser Woche berührt, und auf den Haushaltsplan
eingehen. Ich möchte auch zu dem Thema reden, das der
Kanzler am Freitag, dem 14. März, angesprochen hat,
und darüber, was er von diesem Haus erwartet und was
wir machen wollen.
Wir stehen vor schweren Aufgaben. Das haben die
Verhandlungen über den Haushalt in diesen schwierigen
Wochen gezeigt. Die Wachstumsraten sind seit dem
Ende des kurzen - hören Sie gut zu, meine Damen und
Herren von der Opposition - Wiedervereinigungsbooms,
spätestens jedoch seit 1992 maßgeblich zurückgegangen.
Seit über zehn Jahren leidet die deutsche Volkswirtschaft
an einer viel beschriebenen strukturellen Wachstumsschwäche. Bis 1998 ist diese Wachstumsschwäche durch
eine steigende Staatsverschuldung unter Ihrem damaligen Kanzler Kohl und Bundesfinanzminister Waigel kaschiert worden. Deshalb wurden die Lasten und das
ganze Ausmaß erst sehr spät erkannt und deutlich.
Mit dem Bundeshaushalt 2003 leistet der Bund seinen
Beitrag zum notwendigen Abbau des gesamtstaatlichen
Defizits. Eine nachhaltige Finanzpolitik darf nicht nur
von einer reinen Sparpolitik geprägt sein, sondern muss
die Strukturen des Bundeshaushalts nachhaltig verbessern. Deshalb verbinden wir Konsolidierung mit gestaltender Politik. Alles in allem konnte als Ergebnis der Beratungen ein Gesamtvolumen von 247,9 Milliarden Euro
und eine Nettokreditaufnahme von 18,9 Milliarden Euro
beibehalten werden. Dies ist die geringste Neuverschuldung des Bundes seit der Wiedervereinigung
({0})
und eine Reduzierung gegenüber dem Ergebnis von
2002 um rund 13 Milliarden Euro. Dennoch - und das
sei an dieser Stelle auch gesagt, weil ich gerade in den
letzten Tagen andere Äußerungen gehört habe - werden
die Investitionen mit 26,7 Milliarden Euro unverändert
auf einem sehr hohen Niveau gehalten.
Die Ergebnisse der Beratungen sind eine gute Voraussetzung dafür, das gesamtstaatliche Defizit dieses Jahres
unter 3 Prozent zu halten.
({1})
Bedingung dafür ist natürlich auch - Ihr Zwischenruf
macht es ganz deutlich -, dass die CDU/CSU-regierten
Länder dem Steuervergünstigungsabbaugesetz in einigen
Passagen zustimmen, damit wir die Kommunen und die
Länder, was vorhin angedeutet worden ist, besser stellen
können.
({2})
Ich glaube, dass Sie nicht in der Lage sind, die erforderlichen Maßnahmen zu beschließen. Frau Präsidentin,
ich darf ganz kurz einen Ausschnitt mit der Überschrift
„CDU/CSU - Zänkische Schwestern“ aus dem „Handelsblatt“ von gestern zitieren, der das deutlich macht:
Für die Union neigt sich die bequeme Zeit des bloßen Neinsagens dem Ende zu. Seit der Kanzler mit
dem Mut der Verzweiflung die Pläne zum Umbau
des Sozialstaats in ungewöhnlicher Genauigkeit
- hören Sie genau zu skizziert hat, müssen CDU/CSU ihrerseits Farbe
bekennen. Kaum aber wird es bei den Konservativen konkret, kracht es auch schon mächtig im Gebälk. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel unterbreitet Alternativen, aber diese werden vom CSUVorsitzenden Edmund Stoiber verworfen.
Das ist genau der Punkt, der immer wieder deutlich
wird: dass wir bereit sind, einen Rahmen zu schaffen, in
dem sich die Wachstumskräfte wieder entfalten können.
Ich denke allerdings, dass wir alle bereit sein müssen,
diesen Rahmen auszufüllen, damit unser Land wieder
nach vorne gebracht wird.
In diesem Zusammenhang ist es notwendig, dass Sozialstaat und wirtschaftliche Leistungskraft immer wieder aufs Neue austariert werden. Das ist die Aufgabe,
vor der wir stehen und der wir uns stellen müssen. Dabei
verbieten sich radikale Lösungen, wie sie derzeit täglich
in vielen Zeitungen von neoliberalen Kommentatoren
und auch von einigen von Ihnen angeboten werden. So
können wir den Staat sicherlich nicht reformieren.
({3})
Wir wollen keine andere Gesellschaft in Deutschland.
Wir wollen keine Gesellschaft des Hire and Fire, keine
Entsolidarisierung und Ausgrenzung und keinen schwachen Staat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Maßnahmen, die
der Kanzler in der Regierungserklärung mit der Agenda
2010 vorgestellt hat, die Deutschland voranbringen werden und deren Grundgedanken ich nochmals kurz darstellen möchte, setzen zu Recht an beiden Seiten an. Die
Strukturreformen auf der Angebotsseite werden ihre
positive Wirkung mittelfristig entfalten. Kurzfristig werden die Nachfrageimpulse über die Stärkung kommunaler Investitionen bereits in diesem Jahr positiv wirken.
Eines steht unverändert fest: Ohne Strukturreformen
verpufft jeder Nachfrageimpuls. Ohne konjunkturpolitisches Gegensteuern laufen die Reformen ins Leere. Deswegen verbessern wir die Investitionsbedingungen für
die Kommunen und investieren mehr in die Forschung.
Wir reformieren den Arbeitsmarkt über das Hartz-Konzept hinaus und senken dadurch die Lohnnebenkosten
maßgeblich. Dieses Wachstums- und Beschäftigungskonzept ist in sich schlüssig und in die Zukunft gerichtet.
Die Agenda 2010 wird zu mehr Investitionen führen.
Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition stellen die Gemeinden bereits in diesem Jahr um bis zu
2 Milliarden Euro besser. Im Interesse der Kommunen
bitte ich für die notwendigen Gesetzgebungsvorhaben
auch um Ihre Unterstützung.
Die Besserstellung bringt die Gemeinden in die Lage,
das Investitionsprogramm in Höhe von insgesamt
15 Milliarden Euro zu nutzen. Darüber hinaus werden
die Kommunen ab 1. Januar 2004 von der Zahlung für
die arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger entlastet und die
Gemeindefinanzen reformiert. Dadurch werden die Gemeinden in Milliardenhöhe entlastet. Sie gewinnen Gestaltungsspielraum, den sie zum Beispiel für Investitionen und Kinderbetreuung nutzen können. Zeigen Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
auch hier mehr Mut und seien Sie bereit, diese Reformen
mit uns zu tragen!
({4})
Die Agenda 2010 wird auch zu mehr Beschäftigung führen. Wir werden die Rahmenbedingungen für den Mittelstand deutlich verbessern und das Arbeitsrecht an den Stellen flexibilisieren, an denen sich im Laufe der Jahre - in
Ihrer Regierungszeit! - Beschäftigungshemmnisse gebildet
haben. Eingeführt werden der gleitende Kündigungsschutz,
das Optionswahlrecht, die Sozialauswahl und verbesserte
Regelungen für Existenzgründer. Durch diese Neuregelungen wird die psychologische Hemmschwelle bei Neueinstellungen unseres Erachtens deutlich vermindert.
Gleichzeitig wird aber auch die Handwerksordnung
flexibilisiert. Auch dabei sind Sie gefordert, meine Damen und Herren. Denn bei diesem Konzept handelt es
sich nicht um eine Sackgasse; vielmehr wird es zu einer
deutlichen Zunahme der Existenzgründungen und Beschäftigungsverhältnisse führen.
({5})
Darüber hinaus erhalten Langzeitarbeitslose bessere
Chancen, wieder Arbeit zu finden. Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe werden zusammengelegt, um Zuständigkeit
und Leistungen aus einer Hand sicherzustellen. Gleichzeitig werden Langzeitarbeitslosen, die eine Beschäftigung aufnehmen, für eine bestimmte Zeit deutlich mehr
als die bisherigen 15 Prozent der Transferleistungen belassen. Wir setzen damit ein deutliches Signal für die
Menschen in unserer Gesellschaft, die länger als zwölf
Monate arbeitslos sind.
Die Agenda 2010 entlastet vor allen Dingen diejenigen, die mit ihrer Leistung in stärkerem Maße unser soziales System erhalten. Die Menschen, die in den Betrieben und in den Büros ihre Arbeit tun, erwarten, dass wir
- auch Sie fordern das ja ständig - die Belastung durch
Steuern und Abgaben senken. Wir werden wie geplant
die Steuern zum 1. Januar 2004 und noch einmal zum
1. Januar 2005 senken.
({6})
Zu unseren Maßnahmen zur Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme: Wir erwarten von der RürupKommission ergänzende Vorschläge für eine Anpassung
der Rentenformel. Wir werden, wie es der Bundeskanzler angekündigt hat, versuchen, durch Umsetzung ordnungs- und strukturpolitischer Maßnahmen die KrankenGerhard Rübenkönig
versicherungsbeiträge auf unter 13 Prozent zu drücken.
Des Weiteren werden wir die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für die unter 55-Jährigen auf zwölf Monate
und für die über 55-Jährigen auf 18 Monate begrenzen.
Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Dies fällt uns Sozialdemokraten sicherlich nicht leicht. Aber es gibt keine
andere Alternative. Deshalb ist unsere Entscheidung
richtig. Ich denke, wir werden das auch umsetzen.
({7})
Die Agenda 2010 eröffnet Perspektiven für eine bessere Zukunft. Aus diesem Grund investieren wir in
Bildung und Forschung, in Kinderbetreuung, in Ganztagsschulen, in neue Technologien wie zum Beispiel den
Transrapid und in die Grundlagenforschung deutlich
mehr als Sie während Ihrer Regierungszeit. Deshalb setzen wir in der gegenwärtig schwierigen wirtschaftlichen
Situation ein Zeichen und erhöhen im kommenden Jahr
die Etats der Max-Planck-Gesellschaft und anderer Forschungseinrichtungen um 3 Prozent. Deshalb fördern
wir auch - lassen Sie mich darauf kurz zurückkommen solche notwendigen Technologien wie den Transrapid
mit 2,3 Milliarden Euro. Dies ist kein Unsinnsprojekt,
wie Sie es gestern formuliert haben, Herr Austermann,
und wie auch Ihr ehemaliger Zukunftsminister ständig
behauptet hat. Wir stehen dazu. Wir brauchen solche
neuen Technologien; denn wir sind der Meinung, dass so
ein dringend notwendiger Ruck durch den Wirtschaftsstandort Deutschland geht.
({8})
Lassen Sie mich abschließend Folgendes feststellen:
Wir halten an den Zielen fest, bis 2006 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen und die Maastricht-Kriterien zu beachten, auch wenn der Weg - das sage ich sehr
deutlich - schwieriger geworden ist und auch wenn das
nur bei strikter Ausgabendisziplin und einer wirtschaftlichen Erholung zu meistern ist. Wir haben uns vorgenommen, das Land zu modernisieren, die Zukunftsfähigkeit
Deutschlands zu stärken sowie die Politik der Gerechtigkeit und der Solidarität voranzutreiben. Mit der Agenda
2010 und der Konsolidierung des Bundeshaushalts sorgen wir für mehr Investitionen im Bereich der Kommunen, der Wirtschaft und der privaten Haushalte. Wir
schaffen damit die Voraussetzungen für mehr Beschäftigung, Wachstum und soziale Sicherheit in Deutschland.
Der Bundeshaushalt 2003 trägt diesen Zielen Rechnung. Daher stimmen wir dem Einzelplan 04 wie auch
dem Gesamthaushalt zu.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Ich habe noch einen Ordnungsruf zu erteilen. Herr
Kollege Ramsauer hat in Bezug auf die Fraktionsvorsitzende des Bündnisses 90/Die Grünen gesagt: „Sie sind
eine Dreckschleuder.“
({0})
Ich rufe Sie dafür zur Ordnung.
Außerdem rufe ich Sie dafür zur Ordnung, dass Sie
der amtierenden Präsidentin gestern „Feigheit“ in der
Sitzungsleitung vorgeworfen haben.
({1}): Das ist
richtig! - Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]:
Darf ich mich dazu äußern? - Gegenruf des
Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie
werden gleich rausgetragen, Herr Ramsauer!)
- Nein, Sie dürfen sich zu Ordnungsrufen nicht äußern.
({2})
- Herr Kollege Ramsauer, wenn ich Sie das dritte Mal
zur Ordnung rufe, dann müssen Sie diese Sitzung verlassen. Sie wissen, dass es da einen berühmten Präzedenzfall gibt.
({3})
Bitte, lassen Sie das!
({4})
Jetzt hat der Kollege Kampeter das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach dem Vortrag des Kollegen Rübenkönig zur
Agenda 2010 muss man klar machen, dass dieses Programm auch „4711“ heißen könnte.
({0})
Dieses Programm ist ohne jedwede Perspektive für unser
Land und es enthält keine tief greifende wirtschaftspolitische Analyse. Die Quintessenz der Agenda 2010 wird
sein, dass man den Haushaltsansatz um 1 Million Euro
verändert hat. Soll das ein Zukunftsprogramm mit Blick
auf das Jahr 2010 sein? Das ist eher lächerlich als überzeugend.
({1})
Der Haushaltsentwurf der rot-grünen Bundesregierung ist letztlich ein Dokument wirtschafts- und finanzpolitischer Hilflosigkeit. Die Fakten liegen auf dem
Tisch. Der Sachverständigenrat, die Bundesbank, die
wissenschaftlichen Forschungsinstitute und der Internationale Währungsfonds, sie alle glauben, dass Deutschland vor drei zentralen Herausforderungen steht:
Erstens. Unser Land hat eine tiefe Konjunkturkrise zu
überwinden. Die Binnenkonjunktur liegt am Boden.
Vom Export gehen leichte Impulse aus. Die Bundesregierung setzt im Wesentlichen darauf, dass die amerikanische
Volkswirtschaft zur Lokomotive wird. Während diese
Bundesregierung im außenpolitischen Bereich gegen die
Amerikaner arbeitet, setzt sie im wirtschaftspolitischen
Bereich Hoffnung auf sie.
Zweitens: die Überwindung der hartnäckigen Strukturkrisen. Die Strukturkrisen treffen uns insbesondere
auf dem verkrusteten Arbeitsmarkt. Man kann sie aber
auch im überbordenden Steuersystem identifizieren.
({2})
Drittens - diese Herausforderung wird diese Bundesregierung mit der Agenda 2010 wahrscheinlich nicht bewältigen -: die Überwindung einer vielschichtigen, tief
greifenden Vertrauenskrise in unserem Land.
({3})
Derzeit ist die Vertrauenskrise das Kernübel in der Bundesrepublik. Den Verbraucherinnen und Verbrauchern
fehlt es an Vertrauen; denn sie trauen den staatlichen
Entscheidungsträgern nicht mehr und sie haben angesichts von 5 Millionen Arbeitslosen Sorge um ihren
Arbeitsplatz. Sie verweigern sich dem Konsum. Als
Ausdruck dieser enormen Vertrauenskrise steigt die
Sparquote.
Die Unternehmen reagieren auf diese Vertrauenskrise
dadurch, dass sie Investitionen zurückstellen. Die Anleger bekommen diese Vertrauenskrise dadurch zu spüren,
dass der DAX im internationalen Vergleich sehr viel
stärker als die Aktienindizes der übrigen europäischen
Volkswirtschaften zurückgegangen ist.
({4})
Auch unsere sozialen Sicherungssysteme, insbesondere das Rentensystem, spüren diese Vertrauenskrise;
denn keiner glaubt, dass dieses soziale Sicherungssystem
noch in der Lage ist, Jüngeren dauerhaft Alterseinkünfte
zu sichern.
Die Hauptursache für die vielfältige Vertrauenskrise
in Deutschland hat gewissermaßen ein Gesicht: diese
Bundesregierung. Die falsche Politik von Rot-Grün
muss daher beendet werden.
({5})
Um Deutschland wieder nach vorne zu bringen - darüber diskutieren wir in dieser Woche -, ist es nötig, die
vor uns liegenden Aufgaben entschlossen anzugehen.
Leitlinie und Kompass der Union bleiben dabei die soziale Marktwirtschaft für das 21. Jahrhundert. Mehr
Wettbewerb und weniger Bevormundung, das muss das
Leitmotiv aller Reformschritte der nächsten Wochen,
Monate und Jahre sein. Mehr Eigenverantwortung und
weniger Bürokratie, daran müssen sich alle Gesetzgebungsvorhaben, die uns aus der Krise herausführen
sollen, messen lassen.
Im Hinblick auf das, was der Kollege Müntefering
und der Kollege Rübenkönig heute hier vorgetragen haben, muss man feststellen, dass alle von Rot-Grün geplanten Maßnahmen die Vertrauenskrise in Deutschland
eher verschärfen denn überwinden. Damit wird die falsche Richtung eingeschlagen.
({6})
Wenn der Kollege Müntefering hier die abenteuerliche
Behauptung aufstellt, dass Rot-Grün etwas für die Gemeinden tut, dann zeigt das, dass er offensichtlich schon
lange nicht mehr in einem Rathaus war. In den Rathäusern wird darüber geklagt, dass die falsche Wirtschaftsund Steuerpolitik die Kommunen in das finanzielle Aus
treibt und dass jede Woche ein neues, dramatisches
Steuerloch in den Haushalten entsteht. Kein Kämmerer in
Deutschland freut sich eigentlich über Ihr Programm, mit
dem Sie zinsverbilligte Kredite anbieten; denn die meisten Kommunen in Deutschland dürfen gar keine weiteren
Kredite aufnehmen, weil sie schon überschuldet sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie ignorieren
die Lage in Deutschland. Weil Sie die Wirklichkeit nicht
wahrnehmen wollen, sind Ihre Rezepte völlig falsch.
({7})
Heute ist noch einmal gesagt worden, es würde zur
Verbesserung der Lage in Deutschland beitragen, wenn
wir das Steuererhöhungsgesetz, das am Freitag im Bundesrat abgelehnt worden ist, doch noch in Kraft setzen.
Das ist eine Irreführung. Dahinter steht der alte sozialdemokratische und damit falsche Glaube, dass höhere
Steuersätze zu Steuermehreinnahmen führen.
({8})
Das Gegenteil ist richtig.
({9})
Niedrigere Steuersätze werden unseren Staatshaushalt
eher konsolidieren, weil sie wachstumsförderlich sind.
Deswegen ist die Behauptung des Kollegen Müntefering,
dass dieses Steuersatzerhöhungsprogramm den Kommunen hilft, irreführend. Das ist eine Täuschung. Das darf
hier nicht unwidersprochen bleiben.
Ebenso wenig darf unwidersprochen bleiben, dass die
Forschungsinvestitionen in Deutschland auf einem guten Weg sind. Der Kollege Müntefering hat hier angeführt, dass Innovationen gesichert werden sollen und
dass es darum geht, soziale Gerechtigkeit auf hohem Niveau zu gewährleisten. Ich glaube nicht, dass Innovationen das Ziel haben, soziale Gerechtigkeit zu garantieren.
Vielmehr sollen sie wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten schaffen. Vor diesem Hintergrund ist es schon
einigermaßen erstaunlich, dass die großen Forschungseinrichtungen in Deutschland - ich nenne die MaxPlanck-Institute, ich nenne die Fraunhofer-Gesellschaft
und ich nenne die Deutsche Forschungsgemeinschaft entgegen der Zusage der Bundesregierung nicht die zusätzlichen Mittel bekommen, die sie für ihre Arbeit an
sich benötigen. Das ist ein Schlag gegen den Forschungsstandort Deutschland
({10})
und das ist eine Aufforderung an die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dieses Land, das sich nicht
mehr um seine Forscherinnen und Forscher kümmert,
endlich zu verlassen. Das ist ein Signal, das von diesem
Haushalt ausgeht. Das ist ein wesentlicher Grund dafür,
dass wir den Haushalt ablehnen werden.
({11})
Das gilt auch für die hier bereits angesprochenen
Strohfeuerprogramme mit Zinsvergünstigungen für den
Baubereich. Wir sind in der Bundesrepublik Deutschland derzeit in einer Niedrigzinsphase. Investitionen
werden durch Zinssubventionen nicht in dem Maß gefördert, wie das vielleicht bei den alten Beschäftigungsprogrammen von Rot-Grün noch der Fall war. Diese Strohfeuerprogramme sind so angelegt, glaube ich, dass es
noch nicht einmal ein Strohfeuer geben wird. Die Programme werden verpuffen. Sie werden der Bauwirtschaft keinen wesentlichen Impuls geben. Was wir für
die Bauwirtschaft brauchen, ist eine Veränderung der
steuerlichen Rahmenbedingungen, die es wieder attraktiv machen, im Baubereich zu investieren. Dazu hat die
Regierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Kraft.
({12})
Noch nicht einmal das, für das sich die Regierung
selbst rühmt, klappt, nämlich das Verkaufen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir lesen in der Zeitung von
heute, dass der Regierungssprecher schwer angeschlagen ist, weil die Berliner Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Unterschlagung und anderer Delikte gegen ihn eingeleitet hat.
({13})
Ich wüßte nicht, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einen Regierungssprecher gegeben
hat, der sich einer solchen Herausforderung gegenübergesehen hat.
({14})
Mit jedem Tag, an dem der Bundeskanzler weiter duldet,
dass ein so Beschuldigter für die Regierung spricht - das
mag ein Markenzeichen für schlechte Politik sein -,
({15})
übernimmt er mehr an Verantwortung für das, was der
Grund für die Anklage ist, die offensichtlich vorbereitet
wird. Deshalb fordert die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
in der Debatte über den Etat des Kanzleramts die Entlassung des Regierungssprechers durch den Bundeskanzler.
({16})
Herr Kollege Müntefering, auch wenn Sie glauben,
im Augenblick der Parlamentsdebatte nicht folgen zu
müssen,
({17})
sage ich Ihnen: Im Kern geht es darum, ob die sozialdemokratische Bundestagsfraktion bereit und in der Lage
ist, sich der Herausforderung einer gemeinwohlorientierten Politik in Deutschland zu stellen.
Es gibt in diesem Zusammenhang eine sehr intensive
Diskussion darüber, ob der Staat nicht Opfer organisierter
Interessen ist. Es gibt einige Hinweise darauf, dass es für
Wachstum und Beschäftigung schädlich ist, wenn sich
Fraktionen zu sehr bestimmten Partikularinteressen öffnen.
({18})
Es gibt zum Beispiel eine Analyse eines bekannten
Ökonomen, von Mancur Olson, der das unter dem Titel
„Aufstieg und Niedergang von Nationen“ belegt hat.
Diejenigen, die sich nur den Interessengruppen widmen und ausschließlich deren Interessen im Gesetzgebungsverfahren einzubringen versuchen, wirken beim
Niedergang von Nationen mit.
({19})
Die starke Verflechtung einer bestimmten Interessengruppe mit Ihrer Bundestagsfraktion ist, glaube ich, eine
wesentliche Wachstumsbremse in der Bundesrepublik
Deutschland. Das muss hier vor dem Forum der deutschen Öffentlichkeit deutlich ausgesprochen werden.
({20})
Wir sind sehr dafür, die Kompetenz von Verbänden oder
Institutionen einzubeziehen. Aber man muss, wenn es Vorschläge gibt - wir haben ja in der Bundesrepublik kein Erkenntnis-, sondern ein Handlungsdefizit -, auch handeln.
Ich will am Beispiel des Papieres der Bundesbank einmal aufzeigen, in welche falsche Richtung Ihre wirtschaftspolitischen Rezepte zum gegenwärtigen Zeitpunkt
gehen. Die Bundesbank ist deswegen unverdächtig, eine
besondere Nähe zu den wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Opposition zu haben, weil an ihrer Spitze ein gestandener Sozialdemokrat steht. Sie genießt in der Bevölkerung ein hohes Maß an Vertrauen. Die Vorschläge, die
sie vor wenigen Tagen unterbreitet hat, lassen an Klarheit
nichts vermissen: Die Bundesbank fordert eine Konsolidierung auf der Ausgabenseite, insbesondere beim staatlichen Konsum, weil sich dies in der Vergangenheit als am
erfolgreichsten für die Erreichung der Maastricht-Kriterien erwiesen hat. Das Gegenteil macht diese Bundesregierung: Der staatliche Konsum wird erhöht und die
Investitionen werden gesenkt. Die Vorschläge der Bundesbank finden keine Berücksichtigung. Das schadet unserem Land, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({21})
Die Bundesbank fordert, dass die gesamtwirtschaftlichen Annahmen einer Konsolidierungsstrategie vorsichtig gesetzt werden. Zu optimistische Prognosen entsprechen nicht einem verlässlichen und vertrauensbildenden
Konsolidierungskurs. Die Wahrheit aber ist, dass diese
Bundesregierung das Wirtschaftswachstum in Deutschland beharrlich zu hoch angibt und die Arbeitslosigkeit
zu niedrig einschätzt. Vor diesem Hintergrund schadet die
Politik der Bundesregierung einem dauerhaften Konsolidierungserfolg in Deutschland.
({22})
Schließlich fordert die Bundesbank die Einbettung
von Konsolidierungsmaßnahmen in erforderliche strukturelle Reformen, um die gesamtwirtschaftlichen Wachstumsperspektiven zu verbessern. Die Wahrheit bei dieser
Bundesregierung aber ist - das ist uns seit der angeblichen Ruckrede vom Freitag klar -, dass es hier nicht
um richtige Reformen, sondern lediglich um Reförmchen geht. Die Reformen werden nicht entschlossen angegangen. Keine der notwendigen Strukturreformen,
beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt, wird vorangetrieben. Lediglich in Teilbereichen werden Rezepte angeboten. Es schadet unserem Land, dass der Ratschlag der
Bundesbank auch in dieser Frage nicht entsprechend berücksichtigt wird und die Beschreibung von Problemen
als Ersatz für Handeln dient.
({23})
Dies gilt leider auch für die Stabilität der gemeinsamen Währung, die wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion durch die Politik der Bundesregierung eher gefährdet als gefördert sehen. In Maastricht haben sich die
Partner des Euroraumes gegenseitig versprochen, die
Stabilität der gemeinsamen Währung durch Haushaltsdisziplin zu sichern. Dem deutschen Finanzminister steht
zwar zum gegenwärtigen Zeitpunkt das Wasser bis zum
Hals; aber er setzt sich nicht für die Einhaltung des
Maastricht-Vertrages ein. Seine Bekenntnisse am gestrigen Tag waren windelweich. Der deutsche Finanzminister wird zum Weichmacher der europäischen Währung.
Das ist gegen das deutsche Interesse. Deswegen werden
wir diese Politik nicht weiter unterstützen.
({24})
Im Verlauf dieser Debatte ist auch einiges zur Privatisierung in Deutschland gesagt worden. Vor wenigen Tagen hat die Deutsche Telekom einen Jahresverlust bekannt gegeben, der mit 24,8 Milliarden Euro höher ist
als die Nettokreditaufnahme des Bundes. Die Bundesregierung sitzt im Aufsichtsrat dieses Unternehmens.
Wir werden im Verlauf der nächsten Wochen und Monate sehr genaue Auskunft darüber verlangen, ob sie ihre
Eigentümerposition im Interesse der Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler so wahrgenommen hat, dass vom deutschen Steuerzahler Schaden abgewendet wird. Denn wir
müssen aus unserem Beteiligungsbesitz bei der Telekom
und den Postunternehmen die Postpensionskassen finanzieren. Der Beteiligungsbesitz liegt durch die miese Politik der Bundesregierung
({25})
deutlich unterhalb von den 580 Milliarden Euro, die wir
in den nächsten Jahren zur Finanzierung der Postpensionen aufbringen müssen.
({26})
Wenn in diesem Zusammenhang auch noch immer
wieder Diskussionen darüber aufkommen, dass große
Banken schlechte Kredite mit Staatsgarantien absichern,
dann ist das angesichts eines Pleitenrekordes im Mittelstand nur noch zynisch zu nennen. Diese Politik schadet
Deutschland. Wir werden sie in umfassender Art und
Weise ablehnen.
Bei den anstehenden Reformarbeiten wird es entscheidend darauf ankommen, dass die Grundzusammenhänge erkennbar bleiben. Es ist dem Sachverständigenrat
zur Begutachtung der wirtschaftlichen Lage zuzustimmen, wenn er in seinem letzten Jahresgutachten schreibt,
dass das Kurieren an den Symptomen nicht weiterhilft.
Ich zitiere:
Notwendig ist vielmehr eine schonungslose Diagnose, denn nur auf ihr lässt sich eine langfristig orientierte, ganzheitliche Therapie aufbauen. Nur durch
grundlegende Strukturreformen kann Deutschland
für die zunehmenden Herausforderungen des weltweiten Wettbewerbs... angemessen gerüstet werden.
Entscheidend ist, Risikobereitschaft, Leistungswillen
und Eigenverantwortlichkeit zu stärken. Die gerechte
Verteilung der Anpassungslasten ist für die Akzeptanz
der Reformen zwar ebenfalls wichtig, aber die Priorität
muss bei Förderung von Wettbewerb und Wachstum liegen. In diesem Sinne werden wir die Politik der Bundesregierung weiterhin kritisch verfolgen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({27})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren seit gestern über den Bundeshaushalt. Ich
finde, wir muten uns und unseren Nerven einiges zu.
Während wir über Haushaltsposten und Einzelpläne
streiten, läuft außerhalb dieses Hauses die Uhr in Richtung Krieg. Es ist ein Krieg, den Hunderte Millionen
Menschen ablehnen, ein Krieg, der Hunderttausende
Menschen treffen wird.
Die PDS im Bundestag hat gestern den Bundestagspräsidenten ersucht, eine Sondersitzung des Bundestages zu diesem Thema einzuberufen. Herr Thierse hat
das mit Verweis auf die Geschäftsordnung abgelehnt, zumal der Bundestag ja sowieso tage. Das tut er, allerdings
nicht ausdrücklich zu diesem bedrückenden Thema. Insofern war ich froh, als heute Morgen mit dem Beitrag
des Bundeskanzlers die Debatte eine andere Wendung zu
nehmen schien. Allerdings hat sich das, wenn ich an
meine letzten zwei Vorredner denke, schon wieder erledigt.
({0})
Herr Merz von der CDU hatte seiner Rede gestern
ähnliche Gedanken vorangestellt. Der Unterschied ist
nur: CDU/CSU könnten kraft Fraktionsstatus eine solche
Debatte auf die Tagesordnung setzen lassen. Die PDS im
Bundestag kann das nicht.
({1})
Dass die CDC/CSU-Fraktion das nicht getan hat, entlarvt die Worte von gestern als pure Polemik.
({2})
Dabei steht die gesamte Haushaltsdebatte unter
Kriegsvorbehalt. Denn die Kriegskosten, die Kriegslasten und die Kriegsverluste werden auch uns heimsuchen.
Das wäre übrigens ein Grund mehr - wenn auch nicht
der wichtigste -, vehement gegen den drohenden Krieg
zu sein.
Der Bundeskanzler hat wiederholt, dass er, die Bundesregierung und die rot-grüne Koalition einen Krieg gegen den Irak weiter ablehnen. Das unterstützen wir ausdrücklich und nicht nur im Bundestag.
Deshalb möchte ich Klartext reden: Beginnen die
USA, wie angekündigt, einen Feldzug gegen den Irak,
dann wäre das Völkerrechtsbruch, Massenmord, ja
Staatsterrorismus. Umso erregter höre ich heute von
Frau Merkel, dass sie und ihre CDU diesen Kurs der
USA-Führung unterstützen, und zwar mit allen denkbaren Folgen. Es tut mir Leid, ich stelle mir die Frage: Sind
Sie wirklich von allen guten Geistern verlassen?
({3})
Mit diesem Kurs werden Sie, Frau Merkel, und wird die
Union der Bundesrepublik ein Fall für das Bundesverfassungsgericht. Denn mit diesen Äußerungen - da
hat die SPD Recht - ist die CDU/CSU Teil der Allianz
der Kriegswilligen. Ich möchte auch sagen - Frau
Merkel hat ja vorhin auf ihre Biografie angespielt -: Das
können Sie unmöglich in der DDR gelernt haben.
({4})
Wir haben den Bundestagspräsidenten im Übrigen
nicht um die Debatte gebeten, um einmal so über Krieg
oder Nichtkrieg zu reden, und auch nicht, um eine
außenpolitische Debatte anzuregen, sondern wir haben
darauf verwiesen, dass wir spätestens mit Kriegsbeginn
ein gravierendes innenpolitisches Problem haben werden.
Das Grundgesetz enthält in Art. 26 ein Friedensgebot
und stellt mit diesem Artikel eine Beteiligung an einem
Angriffskrieg unter Strafe. Auch eine indirekte Beteiligung der Bundesrepublik an Angriffskriegen muss ausgeschlossen werden. Darüber ist zu reden - nicht irgendwann, sondern schnell, und auch nicht irgendwo, sondern
hier im Bundestag und da nicht etwa versteckt in der
Haushaltsdebatte.
Ich finde - das sagen auch Völkerrechtler -: Solange
AWACS-Flugzeuge mit deutscher Besatzung in der
Kriegsregion unterwegs sind, solange Kriegseinsätze
von US-Basen auf deutschem Boden ausgehen und solange Bundeswehrkräfte in der Kriegsregion präsent
sind, so lange haben wir es schon mit einer indirekten
Beteiligung der Bundesrepublik an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu tun.
({5})
Ich stimme also der vom Bundeskanzler heute vorgetragenen Deutung ausdrücklich nicht zu.
Genau bei dieser Frage liegt die Messlatte für die
Grünen. Sie beklagen die Ohnmacht, die uns alle angesichts der Unbeirrbarkeit der US-Führung befällt. Das
verstehe ich sehr gut; das geht sehr vielen Menschen so.
Aber bitte: Nutzen Sie wenigstens die Macht, die Ihnen
als Regierungspartei anheim gestellt wurde! Verhindern
Sie, dass Deutschland durch die Hintertür mitschuldig
wird! Sie würden sonst selbst mitschuldig.
({6})
Alles Recht der Welt stünde auf Ihrer Seite; denn kein
Recht und kein Vertrag zwingt die Bundesrepublik, zum
Helfershelfer zu werden. Sie waren bisher standhaft.
Nun wagen Sie auch den Folgeschritt!
({7})
Ich habe heute das Argument gehört, wir hätten
Rechte und Pflichten als NATO-Partner. Richtig! Auch
Belgien als NATO-Partner hat Rechte und Pflichten und
war trotzdem gestern in der Lage, die Häfen für die USFlottille zu sperren.
({8})
Nun noch ein Wort an die CSU. Ich habe in Debatten
hier schon mehrfach gesagt, dass ich zwölf gute Gründe
kenne, ja nicht CSU zu wählen, und dass der 13. Grund
Beckstein heißt. Bayerns Innenminister hat bereits vor
Wochen gewarnt - nicht vor einem Krieg gegen den
Irak, sondern davor, dass Kriegsflüchtlinge aus dem
Irak die deutschen Lande erreichen könnten. Sie sollten,
so Beckstein, „menschenwürdig in der Kriegsregion untergebracht werden“. Heute lese ich, dass er außerdem
irakische Bürger, welche auf dem Gebiet Bayerns leben,
durch den Staatsschutz überwachen lassen will. Ich weiß
nicht, was ein solcher Zyniker im Beichtstuhl erzählt.
({9})
Aber ich weiß: Als Politiker und Minister ist er eine
kreuzgefährliche Fehlbesetzung.
({10})
Wir können jetzt gern über den Haushalt, auch über
den Kanzlerhaushalt weiter debattieren. Die USA und
die Allianz der Kriegswilligen verschieben derweil die
gesamte Weltarchitektur. Stabiler wird sie dadurch nicht,
auch nicht gerechter und demokratischer - im Gegenteil.
Danke.
({11})
Das Wort hat jetzt die Staatsministerin Christina
Weiss.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicher
könnte man mit einer zackigen Handbewegung die Frage
parieren, ob einem in dem Moment, da der Krieg in die
Welt zieht, der Sinn nach Kultur steht. Doch diese Geste
wäre zu einfach; denn Kultur ist auch in Krisenzeiten
kein Luxusgut,
({0})
sondern eine essenzielle Verständigung über die gemeinsamen Werte des Zusammenlebens der Völker. Darauf
müssen wir pochen.
({1})
Wir haben gesehen, dass es gerade die kreativen und
die kreativsten Köpfe waren, die dem Frieden laut und
vernehmbar das Wort redeten. Die diesjährige Berlinale
geriet zu einem manifesten Auftritt der Neinsager. Amerikanische Schauspielerinnen und Schauspieler wie
Susan Sarandon, Martin Sheen, Dustin Hoffman oder
George Clooney haben gemeinsam mit den deutschen
Kollegen ihre Stimme erhoben. Das ist nicht folgenlos
für sie geblieben. Sie wollten Anstoß geben, Anstoß,
darüber nachzudenken, ob die Sprache der Waffen wirklich die letzte aller Verständigungsmöglichkeiten sein
muss.
Künstlerinnen und Künstler haben uns alle zur Kommunikation aufgerufen, weil sie selbst etwas davon verstehen. Der menschliche Geist wäre findig genug, Eskalationen zu verhindern. Der Umgang mit Kunst ist ein
hervorragendes Wahrnehmungstraining, um zu neuen
und ungewöhnlichen Lösungen zu gelangen, um aus alten Denkmustern auszubrechen.
Das gilt auch für die Haushaltspolitik, um die es heute
geht. Wir stehen vor einem gewaltigen Umbau unserer
Kulturlandschaft. Wir brauchen auch hier Mut zur Veränderung. Da wir nicht zulassen wollen, dass am Ende
allein die Verwaltung überlebt, die Kunst aber weggespart wird, müssen wir Rahmenbedingungen dafür
schaffen, dass die Kultureinrichtungen flexibler und unternehmerischer geführt werden können.
({2})
Der Bund unterstützt daher jene Reformprojekte, die
darauf angelegt sind, die kulturelle Arbeit wirkungsvoller und einfacher zu machen. Der Bund selbst wird mit
gutem Beispiel vorangehen und Reformfreude zum Prinzip erheben. Ich erinnere an die bevorstehende Novelle
zum Filmförderungsgesetz und an den neuen gesetzlichen Rahmen für die Deutsche Welle. Daran werden wir
arbeiten.
Dass es uns mit tragfähigen Reformen ernst ist, lässt
sich am besten an der Rettungsaktion zugunsten des
Deutschen Musikrates ablesen, der längst als Kulturdinosaurier verschrieen war.
({3})
Klare, flache Strukturen, ein gutes kaufmännisches Konzept und effiziente Kontrolle haben dem Musikrat eine
neue Perspektive gegeben und die Projekte gerettet.
({4})
Es hat sich schon herumgesprochen, dass es der
Druck des Bundes war, der die Berliner Opernstiftung
ermöglichte. Zehn Jahre nach Schließung des SchillerTheaters, in denen nicht viel passierte, kann nun zum
ersten Mal davon die Rede sein, dass die Berliner Bühnen an Haupt und Gliedern reformiert werden.
({5})
- Das hat sehr wohl etwas mit dem Haushalt zu tun. Ich habe diesen Prozess durch Moderation vorangetrieben. Wir haben dem Land Berlin verdeutlicht, dass wir
die Probleme nicht durch einfaches Abkaufen lösen können, sondern nur dann Geld einsetzen können, wenn hier
Eigenverantwortung übernommen wird.
({6})
Der neue Hauptstadtkulturvertrag
({7})
wird Innovationen fördern, Reformen unterstützen und
den gesamtstaatlichen Aufgaben Rechnung tragen.
Meine Damen und Herren, wenn ich davon gesprochen habe, dass man in schwierigen Zeiten besonders in
die Köpfe investieren muss, dann gilt das in besonderem
Maße für die neuen Bundesländer. Bei meiner Reise
nach Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und
Thüringen konnte ich mich davon überzeugen, welche
Bedeutung kulturelle Hilfe für die Identität der Städte hat,
welche Hoffnung die Kultur den Menschen gibt und was
sich damit bewegen lässt. Das Programm „Kultur in
den neuen Ländern“ gehört zu den Leuchttürmen einer
Bundespolitik, die die deutsche Einheit beim Wort nimmt.
Neben den Fördermaßnahmen des Solidarpak-tes II und
dem Investitionsförderungsgesetz werden in diesem Jahr
23 Millionen Euro in die neuen Länder fließen.
({8})
Die „FAZ“ schreibt über die Wirkung dieses Programms:
Ein anderes Bild vom Osten Deutschlands scheint
hier auf, ein selbstbewusstes und vor allem der eigenen Kraft zu Veränderungen bewusstes, das die
allbekannten Katastrophenberichte aus der mecklenburgischen Provinz wohltuend konterkariert.
Weiter heißt es, dass die Kulturmillionen „hier sehr gut
und vor allem auf Dauer angelegt sind“. Das sind
12,5 Prozent mehr, als es ursprünglich im Finanzplanansatz vorgesehen war. Das ist ein Erfolg in schwieriger
Haushaltszeit. Wir alle sollten gemeinsam dafür kämpfen, dieses wichtige, Hoffnung machende Programm in
den nächsten Jahren zu verstetigen.
({9})
Der Kulturetat der Bundesregierung zeigt aber auch,
dass wir uns zum Gedenkstättenkonzept zur Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen bekennen. Der
Ansatz aus dem Vorjahr konnte um 10,4 Prozent auf insgesamt 8,5 Millionen Euro erhöht werden.
({10})
Hier zeigt sich, dass diese Regierung aufrecht und wachsam mit der Erinnerung an die nationalsozialistische
Schreckensherrschaft und mit der Chronik der SED-Verbrechen umgeht.
({11})
Wir sind nach wie vor bereit, den großartigen Entwurf
des Schweizer Architekten Peter Zumthor für die
„Topographie des Terrors“ in Berlin zu unterstützen.
({12})
Es bleibt dabei: Der Bund wird bis zu 50 Prozent der gedeckelten Gesamtkosten übernehmen. Wir hoffen sehr,
dass der Berliner Senat endlich die notwendigen Voraussetzungen für den zügigen Weiterbau schafft.
Ich unterstütze an dieser Stelle auch noch einmal ausdrücklich den Vorschlag des Bundespräsidenten, in der
Mitte Berlins eine Gedenkstätte für die Menschen einzurichten, die während der Zeit des Nationalsozialismus
unter Einsatz ihres eigenen Lebens Verfolgten geholfen
und Menschen gerettet haben.
({13})
Frau Ministerin Weiss, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lammert?
Ja, ich erlaube eine Zwischenfrage.
Bitte schön, Herr Lammert.
Frau Staatsministerin, ich würde gern eine Nachfrage
zu Ihrem Hinweis auf die Position der Bundesregierung
zur „Topographie des Terrors“ stellen. Nach meiner Erinnerung gab es neben der Absicht der Bundesregierung,
bis zu einem gedeckelten Betrag 50 Prozent der Mittel
zur Verfügung zu stellen, auch eine zwischen der Bundesregierung und dem Berliner Senat formell oder informell abgestimmte Vorstellung über die Höhe dieses
gedeckelten Betrages. Darauf genau bezieht sich nun
meine Frage: Hat die Bundesregierung den Eindruck
oder die Erkenntnis, dass zu diesem damals von Bundesregierung und Senat vereinbarten gedeckelten Betrag die
Realisierung des Zumthor-Bauwerkes überhaupt noch
möglich ist?
Das befindet sich in Prüfung. Es wird uns gesagt, die
Prüfung könne noch ergeben, dass dieser Entwurf realisiert
werden kann. Sollte das nicht der Fall sein: Wir können
den gedeckelten Betrag der Finanzierung nicht erhöhen.
({0})
Mit der Osterweiterung der Europäischen Union
geht die Nachkriegszeit auf diesem Kontinent ihrem Ende
entgegen. Wir reden viel über die wirtschaftliche, viel zu
selten aber über die kulturelle Dimension der neuen EUBewohner. Wenn die Grenzen zu Polen oder Tschechien
abgebaut werden, wird das Interesse aneinander zunehmen müssen. Uns verbinden gemeinsame Wurzeln und
gemeinsame Traditionen. Wir wollen sie nutzen, um einen
gemeinsamen kulturellen Weg in die Zukunft zu finden.
Es ist eine Aufgabe für uns alle, den Europagedanken
nicht nur als rein wirtschaftliche Angelegenheit zu betrachten, sondern ihn mit kultureller Neugier auszufüllen.
({1})
Kunst kann dabei eine ideale Vermittlerin darstellen.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Günter Nooke von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich will zu Ihrer Vorbemerkung zu den
Künstlern bei der „Berlinale“ nur festhalten: Es wäre
natürlich gut gewesen, wenn die Menschen bei ihrer
Meinung bleiben, egal, wo auf der Welt sie ihren Film
verkaufen, weil so etwas manchmal auch Gefühle gegenüber Amerika weckt und der Eindruck entsteht, als sei es
doch mehr Mittel zum Zweck als in der Sache begründet
gewesen.
({0})
Insofern würde ich das nicht ganz so positiv sehen. Leider war das nicht ganz eindeutig; ich hätte es mir anders
gewünscht.
({1})
Ich möchte zum Haushalt reden und noch einmal das
Problem deutlich machen, dass wir es hier mit Haushaltsansätzen für Kultur und Medien zu tun haben, zu
denen ich bei der Erstellung des Haushalts schon gesagt
habe: Sie lassen vermuten, dass sie deshalb so schlecht
sind, weil der bisherige Amtsinhaber nicht mehr anwesend war und die zukünftige Amtsinhaberin noch nicht
voll im Amt stand. Die miserablen Zahlen, die wir jetzt
haben, lassen leider die Vermutung zu, dass die persönliche Anwesenheit der Staatsministerin eher einen noch
negativeren Einfluss gehabt hat; denn leider hat sich in
den vergangenen Monaten an den Zahlen nichts zum
Guten verändert. Ganz im Gegenteil, mittlerweile muss
sogar der Eindruck entstehen, dass hier eher noch abgebaut wurde.
Um es sehr konkret darzustellen: Der Entwurf vom
Sommer sah noch einen Mittelrückgang um rund
24 Millionen Euro vor. Das ist vielleicht - wie schon im
vergangenen Jahr - nicht ganz zufällig die Summe, die
für die neu gegründete Kulturstiftung des Bundes zur
Verfügung steht. Der neue Entwurf hingegen sieht eine
Kürzung um weitere 12 Millionen Euro vor. Das ist eine
reale Kürzung von über 4 Prozent bei unverändert laufendem Betrieb. Jetzt stehen für die Kultur weniger Mittel zur Verfügung, obwohl ein größeres Engagement des
Bundes - zum Beispiel bei den Stätten des Weltkulturerbes und in Berlin - angekündigt war. Unter den vielen
Sachverhalten des Koalitionsvertrages ist dies einer der
wenigen Punkte, deren Nichteinlösen auch bei der Opposition auf Kritik stößt.
Doch das eigentlich Anstößige ist nicht die überproportionale Kürzung bei der Kultur; viel schlimmer ist
aus unserer Sicht der plan- und ziellose Umgang mit den
Mitteln, die Ihnen zur Verfügung stehen, Frau Staatsministerin. Ich belege dies anhand zweier Beispiele aus
jüngster Geschichte in Berlin, die sich auch auf das beziehen, was Sie gerade ausgeführt haben.
Erstens. Für die kulturelle Nutzung des „Palastes
der Republik“ werde man selbstverständlich keine öffentlichen Gelder ausgeben. So schreibt es auch die Expertenkommission vor. Doch plötzlich stehen im mit
100 Prozent vom Bund finanzierten Hauptstadtkulturfonds Mittel in erheblichen Ausmaß für ein Projekt im
so genannten Palast zur Verfügung. Gleiches gilt für den
Martin-Gropius-Bau: Der Bund übernimmt die Verantwortung für diesen exquisiten Ausstellungsort, ohne ihn
allerdings mit einem ausreichendem Betrag für, salopp
formuliert, Ausstellungsanbahnungen auszustatten. Also
muss auch hier der Hauptstadtkulturfonds wieder herhalten.
Hier greift sich der Bund in die eigene Tasche, und
zwar nicht einmal besonders raffiniert. Es sieht beinahe
wie Mundraub aus, ist aber einfach nur Betrug: Betrug
am Zweck des Hauptstadtkulturfonds und Betrug an den
Künstlerinnen und Künstlern, die ihre Projekte nicht
mehr durchführen können.
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang noch ein
Wort zum Berliner Stadtschloss. Ich habe es oft gesagt,
wiederhole es auch heute und werde es noch öfter sagen:
Dieses Parlament hat mit überwältigender, parteiübergreifender Mehrheit - das wiederhole ich besonders gern vor einem Dreivierteljahr beschlossen, das Schloss wieder zu errichten.
({2})
Die Bundesregierung hat diesen Beschluss zügig umzusetzen und sich nicht Gedanken über Probleme zu machen, die es eigentlich gar nicht geben dürfte.
Zweitens. So verständlich und richtig das Anliegen
der Sinti und Roma ist, ein Mahnmal zum Gedenken
an ihre Opfer der nationalsozialistischen Terrorherrschaft zu errichten, so grundverkehrt ist auch hier der
Weg zu dessen Realisierung. Berlin schafft Fakten, indem es ein Grundstück zur Verfügung stellt, und diktiert
dem Bund mit dem Hinweis auf dessen originäre Zuständigkeit 2 Millionen Euro Baukosten plus jährliche Betriebskosten in Höhe von 300 000 Euro ins Ausgabenbuch. Nun beteiligt sich mit ihrer Zustimmung zu dieser
Zumutung auch die Staatministerin für Kultur und Medien, Frau Weiss, an der Aktion: wohl zuständig, aber
wie in der letzten Zeit immer öfter plan- und ziellos. Besonders schwer wiegt nämlich, dass der Entscheidung
über dieses neue Mahnmal kein Gesamtkonzept zugrunde liegt. Völlig ungewiss ist nach wie vor, wie der
anderen Opfergruppen gedacht werden soll.
Exakt dies ist das Problem, das die beiden Beispiele
illustrieren, auch wenn man es als Kulturpolitiker in diesem Hause nicht gern sagt: Mehr noch als an Geld fehlt
es an seriöser und zukunftsfähiger Planung; mehr noch
als an Geld mangelt es an belastbaren Konzepten. Dies
ist besonders in einer Haushaltsdebatte eine ziemlich deprimierende Erkenntnis. Der erste Schritt hätte hier sein
müssen, dass die Bundesregierung endlich ein Konzept
vorlegt, aus dem ihre Vorstellungen für die Zukunft der
Gedenkstätten hervorgehen. Das ist bis heute nicht geschehen, auch in Ihren Ausführungen nicht, Frau Staatsministerin. Bei dem, was Sie zum Zumthor-Bau gesagt
haben, habe ich eher herausgehört, dass es wahrscheinlich
billiger wäre, die Baustelle komplett zu schließen und
das Geld, das sie an jedem Tag kostet, zu sparen.
Dabei müsste die Gedenkstätten- und Erinnerungskultur längst ein wichtiges Thema für uns sein. Hier
habe ich immer die konstruktive Mitarbeit der CDU/
CSU-Fraktion angeboten. Zum Beispiel ist jetzt die Gedenkstätte „Mittelbau Dora“ in den Haushalt eingestellt.
Die Gedenkstätte in allen Ehren, aber warum wird sie
plötzlich vom Bund finanziert? Welches Kriterium gilt
für den Mittelbau Dora, das für Bautzen nicht gilt?
Ich meine damit auch Folgendes: Der Bund muss sich
nicht nur der NS-Zeit, sondern auch der SED-Diktatur
annehmen.
({3})
Die von Ihnen angesprochenen Themen haben dies wieder deutlich gemacht. Es darf nicht der Eindruck entstehen, die NS-Zeit sei für die Koalition geschichtspolitisch
wichtig und deshalb eine Angelegenheit des Bundes,
während die SED-Zeit nicht Teil gesamtdeutscher Geschichte sei und daher bei den neuen Bundesländern angesiedelt bleiben könne. Deutschland hat bei dem Thema
Diktaturgeschichte eine größere Verantwortung, aber ich
will jetzt gar nicht die Summen, die wir im Zusammenhang mit der „Topographie des Terrors“ diskutieren und
die wir für die Normannenstraße oder für Hohenschönhausen bräuchten, gegenüberstellen.
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit eine konkrete
Frage zum Haushalt 2003 stellen: Wo ist eigentlich der
Haushaltsansatz für die anstehenden Feierlichkeiten anlässlich des besonderen Gedenkens zum 50. Jahrestag des
Volksaufstandes vom 17. Juni? Ich sehe nichts. Auch das
zeigt, wie einseitig Sie Ihre Gedenkstättenpolitik betreiben.
({4})
Nun noch ein Wort zum FDP-Antrag, in dem es um
die Mittel für die Kultur in den neuen Ländern geht.
Das haben Sie dankenswerterweise angesprochen. Ich
stimme mit Ihnen überein, dass manches Geld, das dort
ausgegeben wurde, vielleicht sinnvoller war als so manche Wirtschaftsförderung in Gewerbegebieten, die nicht
genutzt werden. Insofern lautet meine Frage: Warum
sprechen Sie davon, dass dafür Gelder zur Verfügung
stehen, wenn der Etat um 10 Millionen Euro gekürzt
worden ist? Den Mut, ihren eigenen Antrag auf Aufstockung der Mittel auch im Haushaltsausschuss zu stellen, den jetzt die FDP gestellt hat, hatten die Kollegen
von der Koalition nicht. Das ist politisch furchtbar unglaubwürdig und für die Förderung der Kultur in den
neuen Ländern einfach furchtbar. Wir haben jetzt die
Chance, es gemeinsam besser zu machen. Meine sehr
verehrten Damen und Herren von der Koalition, nutzen
Sie die einmalige Chance, diesem Antrag mit uns und
der FDP gemeinsam zuzustimmen und damit etwas für
die Kulturförderung in den neuen Ländern zu tun.
Zum Schluss: Die Verunsicherung bei den Kulturschaffenden ist groß und wächst mit diesem Haushalt
leider auch weiter. Erst steht die Spendenabzugsfähigkeit
zur Disposition, dann der ermäßigte Mehrwertsteuersatz.
Mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz, dessen Titel
übrigens schon die Kulturverträglichkeitsprüfung nicht
hätte überstehen dürfen,
({5})
geschweige denn sein Inhalt, wäre auch dem Handel mit
Kulturgütern insgesamt ein Bärendienst erwiesen worden. Schon in diesem Gesetzesvorhaben sind mehr kulturunverträgliche Sachverhalte versteckt, als ein Staatsminister oder eine Staatsministerin für Kultur in einer
vollen Legislaturperiode wiedergutmachen könnte. Mit
Geld allein ist das nicht zu schaffen.
Weil das so ist, hat Ihnen, verehrte Frau Staatsministerin, die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag
schon zu Ihrem Amtsantritt konstruktive Mitarbeit angeboten. Ich wiederhole das Angebot ausdrücklich, aber irgendwann muss Schluss sein,
({6})
wenn Sie nicht bereit sind, darauf einzugehen. Es könnte
helfen, eklatante Fehlentscheidungen, wie sie hier auch
jetzt wieder getroffen wurden, zu vermeiden, und es
könnte mehr konzeptionelle Verlässlichkeit in die Debatte bringen.
({7})
Danke, dass Sie hier zumindest dafür gesorgt haben,
dass wir heute über Kultur reden konnten, aber wir müssen mehr daraus machen. Frau Staatsministerin, das war
heute zu wenig.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Merkel von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich verstehe Kultur als Mittel, Bindung und Verbindung zu schaffen. Ich glaube,
dass das in der Situation, in der wir uns im Augenblick
befinden, ein ganz wesentlicher Vorteil von Kultur ist,
den wir auch weiterhin fördern müssen.
Ich bin davon überzeugt, dass Kultur als Bindung
und Verbindung zwischen Menschen und Völkern
unter der rot-grünen Regierung in Berlin eine erhebliche
Stärkung erfahren hat,
({0})
weil die Kultur durch die Anbindung der Kulturpolitik
im Bundeskanzleramt an die höchste Stelle angegliedert
wurde.
Mit Frau Dr. Christina Weiss hat die bundesdeutsche Kulturlandschaft eine Streiterin und Mitstreiterin
gewonnen. Ich freue mich, dass ich als neue Abgeordnete mit Ihnen arbeiten kann, und bin sicher, dass der
Kulturbereich von Ihrer Energie, Feinsinnigkeit und
Durchsetzungsfähigkeit profitieren wird.
({1})
Bindungen und Verbindungen brauchen wir in unserem Land und für unser Land. Hätten wir die Bundeskulturstiftung, die erstmalig 1973 von Willy Brandt - der
eine Anregung von Günter Grass aufnahm - vorgeschlagen wurde, nicht Anfang 2002 gegründet, müssten wir
sie jetzt erfinden. Ich weiß, Herr Kampeter war damals
überhaupt nicht von der Idee begeistert, in der Zwischenzeit hat aber auch er damit Frieden geschlossen.
Die Bundeskulturstiftung - auch als Dach für kleinere
Stiftungen gedacht - fördert sowohl national als auch international bedeutsame Vorhaben und wird durch unseren
Haushalt eine Verdoppelung der Mittel, Herr Nooke, erfahren, nämlich von 12,5 Millionen Euro auf 25,565 Millionen Euro.
({2})
Die Bundesregierung und die rot-grüne Koalition haben
hier einen Schwerpunkt gesetzt, und das trotz Haushaltssanierung. Das betone ich besonders, da die Maßnahmen zur Haushaltssanierung auch an diesem Haushalt nicht vorbeigehen konnten.
({3})
Ein weiterer Schwerpunkt ist das Programm „Kultur in den neuen Ländern“. Wir konnten die Zielsetzung der Koalitionsvereinbarung zwar nicht vollständig
erfüllen, aber es ist uns gelungen, 2,5 Millionen Euro
mehr einzustellen, als es im Regierungsentwurf vorgesehen war. Dem Programm stehen vom Bund nun 23 Millionen Euro zur Verfügung. Mit diesen Mitteln werden
überregional bedeutende Kultureinrichtungen in den
neuen Ländern und mit ihnen gefördert. Das bedeutet:
Es wird die Infrastruktur verbessert. An dieser Stelle
kann ich deswegen schon sagen: Wir lehnen den Antrag
der FDP ab.
Im Zusammenhang mit den neuen Ländern möchte
ich auf einen anderen Haushalt verweisen. Ein neues
kulturelles Angebot in Mecklenburg-Vorpommern wird
durch den Haushalt des Ministeriums für Verkehr, Bau-,
Wohnungswesen und Aufbau Ost von Manfred Stolpe
finanziert, nämlich das Ozeaneum in Stralsund. Es
wird zusammen mit dem Meereskundemuseum im
Nordosten unseres Landes die dort bereits vorhandene
Attraktivität steigern.
({4})
Die Aufgaben, die mit dem Kulturetat finanziert werden, sind vielfältig. Sie reichen vom Hauptstadtkulturvertrag - er wird in diesem Jahr neu verhandelt werden
müssen - über die Bonn-Vereinbarung, die gerade abgeschlossen ist, die Förderung von Musik und Literatur bis
zur Pflege von kulturellen Minderheiten und von Gedenkstätten. Bei dieser Aufzählung habe ich sicherlich
noch viele Bereiche vergessen.
Als Beispiele möchte ich nennen: Die Mittel für das
Stasi-Museum „Runde Ecke“ in Leipzig wurden um
50 000 Euro auf 100 000 Euro erhöht und gesichert. In
diesem Zusammenhang muss ich eine Bemerkung an
Herrn Nooke richten: Sie sind doch Mitglied im Kulturausschuss. Dann müssten Sie eigentlich wissen, dass
Frau Weiss eine Überarbeitung des Gedenkstättenkonzepts vorlegen wird. Sie werden mit unter den Ersten
sein, mit denen das diskutiert werden wird.
Eine Vielzahl von Projekten erhalten 2003 erstmalig
Fördermittel. Dazu zählen zum Beispiel das Roma-Theater Pralipe e. V. in Mülheim/Ruhr - Herr Kampeter war
davon nicht sehr begeistert, wir dagegen finden es wichtig, dass es existiert - oder die Unterstützung deutsch-russischer Begegnungen. Außerdem erhält die Zeche Zollverein in Essen als Weltkulturerbe der UNESCO einen
Zuschuss, um das Industriedenkmal vielfältig nutzbar zu
machen. Die Förderung beträgt übrigens 300 000 DM.
({5})
- Sie haben Recht: 300 000 Euro. 300 000 DM wäre zu
wenig.
Ein anderes Weltkulturerbe liegt direkt vor unserer
Tür. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz leistet unter
anderem den Wiederaufbau der Museumsinsel. Dort
wird es eine der größten Baustellen in der Bundesrepublik Deutschland geben, die sicherlich über längere Zeit
bestehen wird. Die Zuschüsse hierfür steigen weiterhin
an. Ich kann Ihnen als Berliner Abgeordnete nur empfehlen: Nehmen Sie sich, falls Sie die Museumsinsel nicht
schon kennen, eine halbe Stunde Zeit, laufen Sie hinter
dem Reichstagsgebäude an der Spree entlang und überqueren Sie die Friedrichstraße. Dann kommen Sie genau
auf die Museumsinsel. Dort können Sie erkennen, welch
ein Schatz, welch ein Erbe der Bundesrepublik Deutschland im Augenblick mit handwerklichem Geschick gehoben wird. Christina Weiss hat formuliert, es handele
sich wahrlich um eine Aufgabe von nationalem Rang.
({6})
Viele von Ihnen waren dabei, als wir in Versailles die
deutsch-französische Freundschaft gefeiert haben. Diese
Freundschaft spiegelt sich ebenfalls im Kulturetat wieder.
Das Berlin-Brandenburgische Institut für deutschfranzösische Zusammenarbeit in Genshagen erhält
900 000 Euro. Das sind 750 000 Euro mehr, als im Regierungsentwurf vorgesehen. Durch Sanierung und Umbau
des Schlosses Genshagen wird gemeinsam mit dem Land
Brandenburg die Grundlage geschaffen, im Umfeld der
Bundeshauptstadt ein deutsch-französisches Begegnungszentrum arbeitsfähig zu machen. Wichtig ist für
mich - ich denke, das gilt auch für Sie -, dass mittelfristig
auch Polen in die Kooperation einbezogen wird.
({7})
Eine weitere herausragende Institution im Kulturhaushalt ist die Deutsche Welle, die den Auftrag hat, als
Stimme Deutschlands in der Welt durch unabhängigen
Journalismus und pluralistische Programmgestaltung
Kenntnisse über Deutschland zu verbreiten. Als Kulturträger vermittelt die Deutsche Welle im Ausland
Deutschland als Kulturnation und wirbt für die deutsche
Sprache. Dies ist außerordentlich wichtig, wenn man bedenkt, wie viele Menschen in autoritär und totalitär regierten Staaten leben, die ihren Bürgern das Recht auf
Presse-, Informations- und Meinungsfreiheit verweigern.
Die Deutsche Welle ist in diesen Ländern, insbesondere
in Krisen- und Konfliktregionen, Garant für objektive,
ungefilterte Information.
Die Deutsche Welle war der erste Fernsehsender,
der internationale Nachrichten nach Afghanistan bringen konnte. Seit August 2002 werden in den beiden
Landessprachen Dari und Paschtu täglich zehn Minuten Weltnachrichten ausgestrahlt. Das Programm wird
vom Auswärtigen Amt finanziert. In diesem Jahr wird
die Deutsche Welle ein neues Haus beziehen, den
Schürmann-Bau.
Ich möchte jetzt von der Deutschen Welle, die für
Deutschland wirbt, zu den Internationalen Filmfestspielen in Berlin kommen, die im Bundeshaushalt verankert sind und ebenfalls für Deutschland werben. Die
Filmförderung nimmt mit 10,7 Millionen Euro im kulturellen Teil und mit 4,7 Millionen Euro im wirtschaftlichen Teil einen nicht unwesentlichen Platz ein. Mit diesen insgesamt 15,4 Millionen Euro wird Unterstützung
für den Film geboten.
Nach dem Umzug der Filmfestspiele an den Potsdamer Platz ist Deutschland für die internationale Filmwirtschaft wieder interessanter geworden. Auch der
deutsche Film spielt wieder mit. Ich finde, der Kinoschlager „Good bye, Lenin!“ ist zu Recht ein Erfolg. Das
Gleiche gilt übrigens auch für den Leiter der Filmfestspiele, Dieter Kosslick. Er hat ein sicheres Gespür für
die Auswahl der Filme und er ist eine Persönlichkeit, die
den Internationalen Filmfestspielen in Berlin gut tut.
({8})
- Ich danke Ihnen, Herr Kampeter.
Die internationalen und auch die nationalen Topschauspielerinnen und -schauspieler, -regisseure und -produzenten machen um Deutschland keinen Bogen mehr,
sondern kommen gern hierher. Ich betone auch noch einmal: Wie politisch diese Berlinale sein kann, zeigte die
beeindruckende Rede von Dustin Hoffman gegen einen
möglichen Krieg im Irak. Das war kein Mittel zum
Zweck.
({9})
Herr Nooke, wenn Sie sich angeschaut hätten, was sich
im Vorfeld der Oscar-Verleihung in Amerika abgespielt
hat, könnten Sie das nicht behaupten.
Ich komme zum Schluss
({10})
noch einmal auf einige Anträge zurück. Herr Kampeter
hat - das war, wie immer, eine Pflichterfüllung - einen
Antrag gestellt, in dem es um die Erhöhung der Mittel
im Bereich des kulturellen Eigenlebens fremder Volksgruppen geht.
({11})
- Ja, genau.
({12})
Ich sagte Ihnen ja: Das war Ihre Pflichtaufgabe. Das tun
Sie immer; auch in den Vorgesprächen haben Sie dies
gesagt. Wir warten also ab. Alle zwei Jahre gibt es einen
Bericht der Bundesregierung, danach wird evaluiert. Ihren Antrag werden wir ablehnen.
Den Antrag von Frau Lötzsch und Frau Pau von der
PDS, in dem es um die Erhöhung des Betrages für die
„Stiftung für das sorbische Volk“ geht, lehnen wir
ebenso ab. Auch hier weise ich darauf hin, dass wir das
Finanzierungsabkommen mit unseren Mitteln mehr als
erfüllen. Wir haben diesen Bereich also gut bedient und
die Mittel für die „Stiftung für das sorbische Volk“ nicht
abgesenkt. Insofern wird auch dieser Antrag von uns
nicht akzeptiert.
Der Gesamtetat der Beauftragten für Kultur und Medien beträgt 883 Millionen Euro. Es war mein Anliegen,
Ihnen aufzuzeigen, wie viele Anstöße und Initiativen
und wie viel Bewegung mit diesem Etat ausgelöst werden. Herr Kampeter und Herr Rexrodt, vielleicht erreichen wir es ja, dass sich auch die CDU/CSU und die
FDP bewegen und diesem Kapitel zustimmen.
({13})
Frau Kollegin Merkel, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor der namentlichen Abstimmung hören wir noch eine Rede. Der Kollege Jens Spahn von der CDU/CSU-Fraktion wird das
Wort erhalten. Auch er hält seine erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich bitte um Aufmerksamkeit.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der
letzten Woche haben wir die 36. Regierungserklärung
des deutschen Bundeskanzlers gehört. Heute beraten wir
über den Bundeshaushalt 2003, der uns spätestens jetzt
wieder in die harte Realität Ihrer und seiner Politik zurückholt.
({0})
Als Vertreter der jüngeren Generation will ich an drei
Punkten beispielhaft darlegen, wo ich mir deutlichere und
mutigere Worte des Bundeskanzlers und mutigere Taten
in dem uns vorgelegten Bundeshaushalt gewünscht hätte.
Erstens. Deutschland braucht ein neues Verhältnis
von Staat und Gesellschaft. Wir müssen den Bürgern
mehr Freiheit und Selbstverantwortung zutrauen. Gerade
auch die jungen Menschen in diesem Land wollen ihr
Leben eigenverantwortlich gestalten. Voraussetzung dafür ist, den Menschen den dafür nötigen Freiraum zu geben, auch den finanziellen Freiraum.
Ich kenne viele gleichaltrige Handwerker aus meinem
Wahlkreis, aus Gronau, Ahaus, Steinfurt oder Rheine,
junge Maurer oder Zimmerleute, die beim Blick auf ihre
Lohnabrechnung Monat für Monat mit der vollen Wucht
der Sozialabgaben in Deutschland konfrontiert werden.
({1})
Sie sind natürlich frustriert und flüchten vielfach in die
Schwarzarbeit. Es ist doch niemandem begreiflich zu
machen, dass in diesem Land ein Handwerker sechs
Stunden arbeiten muss, um sich am Ende von seinem
Nettolohn selbst einen Handwerker für nur eine Stunde
leisten zu können.
({2})
Nicht den Menschen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Sozialdemokratie, sondern dem System muss
man einen Vorwurf machen. Nicht die Menschen zu ächten, wie es der Kanzler am Freitag in seiner Rede verlangt hat, ist der richtige Weg, sondern legale Beschäftigung attraktiver zu machen, das ist der richtige Weg.
({3})
Wir nehmen den Menschen zu viel von ihrem hart
verdienten Geld weg. Parolen zum Konsumverzicht von
Herrn Müntefering - Sie erinnern sich - weisen in die
falsche Richtung; denn die Bürger erwirtschaften all das,
was der Staat verbraucht, nicht umgekehrt.
({4})
In diesem Bewusstsein müssen wir das Verhältnis vom
Staat zu seinen Bürgern neu justieren. Die Menschen
wollen keine sozialistische Bevormundung und Rundumbetreuung.
({5})
Sie wollen eine eigenverantwortliche Teilhabe und Beteiligung.
({6})
Zweitens. Die Wahrung der Generationengerechtigkeit ist die größte sozialpolitische Aufgabe der vor uns
liegenden Jahre. Seit Jahrzehnten - das sage ich ausdrücklich - lebt Deutschland über seine Verhältnisse und
verschiebt die Lasten auf nachfolgende Generationen.
Vor allem die jungen Menschen erwarten von der gesetzlichen Rente kaum noch einen nennenswerten Beitrag zu
ihrer ganz persönlichen Alterssicherung. Ihre verfehlte
Rentenpolitik - steigende Beiträge, Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze und Abschaffung des demographischen Faktors - führt, wenn wir nicht umsteuern, automatisch in den Generationenkonflikt, spätestens dann,
wenn jeder Erwerbstätige mit seinem Einkommen einen
Rentner finanzieren muss.
({7})
Deutschland braucht eine ehrliche Rentenreform mit
realistischen Annahmen für die Zukunft. Dass Ihre Annahmen für die Zukunft bei der „Jahrhundertreform
2001“ nicht realistisch waren, hat der Bundeskanzler am
Freitag in seiner Rede selbst zugegeben. Deutschland
braucht eine Reform, die neben der gesetzlichen Vorsorge die private und die betriebliche Vorsorge stärkt,
eine Reform, die alle gemeinsam - Beitragszahler, Rentner und der Staat - tragen, eine Reform, die bei einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit durch eine Verkürzung
von Bildungszeiten und eine Annäherung des tatsächlichen an das gesetzliche Renteneintrittsalter ansetzt.
Ich hätte mich gefreut, wenn der Bundeskanzler am
Freitag wie auch Ministerin Schmidt nicht bei nebulösen
Andeutungen geblieben wären. Egal ob Rente, Pflege
oder Gesundheit: Die Taktik dieser Bundesregierung ist
immer die gleiche: beschwichtigen, abwiegeln und nur
auf Druck von außen das Nötige zum Zustand der sozialen Sicherungssysteme in diesem Land zugeben.
({8})
Gehen Sie ehrlich mit den Menschen und insbesondere mit den jungen Menschen in diesem Land um. Sagen Sie ihnen offen, wie es um die sozialen Sicherungssysteme steht. Fassen Sie endlich den Mut, das Nötige
anzugehen, statt den tatsächlichen Zustand immer wieder zu verleugnen.
({9})
Drittens. Bildung ist der Schlüssel für individuelle
Lebenschancen und Motor für gesellschaftliche Entwicklungen. Bildung begründet Wohlstand, politische
Mündigkeit, kulturelle Teilhabe und berufliche Perspektiven. Bildung ist damit die eigentliche und neue soziale
Frage in Deutschland. Bildung ist die Schlüsselressource
für die Zukunft dieses Landes. Wenn ich nach China
oder Südostasien schaue, dann weiß ich, mit welchen
Potenzialen wir in Zukunft werden Schritt halten müssen, um unsere Position in der Welt und unseren Lebensstandard zu erhalten und auszubauen. Sie verstehen Bildung in guter sozialdemokratischer Tradition als reine
Geldfrage: Pumpen wir noch ein paar Milliarden ins
System, dann wird es schon klappen. Mindestens genauso wichtig ist es aber, im föderalen Wettbewerb Leistungen von Lernenden und Lehrenden zu fordern, über
Inhalte zu streiten und Werte zu vermitteln.
({10})
Sprechen wir zuerst darüber und dann über die Finanzierung. Alles andere ist Flickschusterei und beraubt uns
unserer Möglichkeiten für die Zukunft.
Als Vertreter der jungen Generation kann ich zusammenfassend von der Bundesregierung diese drei genannten Dinge für eine generationengerechte Politik einfordern: ein gesellschaftliches Klima, in dem Freiheit und
Selbstverantwortung gedeihen können, eine ehrliche
Rentenreform, die die Rentenhöhe mit der Lebenserwartung und der Lebensarbeitszeit verknüpft, und eine gemeinsam mit den Ländern gestaltete leistungsorientierte
Bildungspolitik, die anerkennt, dass Bildung die neue
soziale Frage in Deutschland ist.
({11})
Nirgendwo sind im vorgelegten Bundeshaushalt die
notwendigen großen Neuerungen zu sehen, die unser
Land so dringend braucht. Nun mögen einige der Dinge,
die der Kanzler am Freitag hier angesprochen hat, punktuell in die richtige Richtung weisen. Das Schlimme ist,
dass die jungen Menschen in diesem Land mittlerweile
ein ironisch-gleichgültiges Verhältnis zu seiner unsteten
Ankündigungspolitik haben.
({12})
Elmar Brandts Schröder-Song mit dem viel sagenden
Titel „Alles wird gut“ mag dem Letzten als Beweis für
diesen Ansehensverlust dienen.
({13})
Wenn wir hier im Deutschen Bundestag dazu beitragen wollen, den zukünftigen Generationen ein anständig
bestelltes Land zu hinterlassen, brauchen wir zuallererst
eines: einen verlässlichen, einen wirklich mutigen, einen
durchsetzungsstarken und konfliktbereiten Kanzler.
({14})
Kurzum: Ein neuer Kanzler, wahlweise eine neue Kanzlerin, wäre ein wirkliches Zeichen des Aufbruchs.
({15})
Herr Kollege Spahn, ich gratuliere auch Ihnen im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 04 in der Ausschussfassung. Hierzu liegen Ihnen drei Änderungsanträge vor,
über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 15/650? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung
der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 15/680? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung von
CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Wir kommen zum Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau auf Drucksache
15/662. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei
Zustimmung der beiden fraktionslosen Kolleginnen
abgelehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzelplan 04 in der Ausschussfassung. Die Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Haben jetzt alle Kolleginnen und Kollegen ihre
Stimmkarte abgegeben? - Das scheint der Fall zu sein.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen
Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
({1})
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Entwurf eines Gesetzes über
die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2003, hier: Einzelplan 04 - Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes -, bekannt. Abgegebene Stimmen 578. Mit Ja haben gestimmt 300, mit Nein haben gestimmt 278. Es
gab keine Enthaltungen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 579;
davon
ja: 300
nein: 279
Ja
SPD
Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Sabine Bätzing
Ernst Bahr ({0})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({1})
Klaus Barthel ({2})
Sören Bartol
Uwe Karl Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({3})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Marco Bülow
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner ({5})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Hans Martin Bury
Marion Caspers-Merk
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Dr. Peter Wilhelm Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Marga Elser
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({6})
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({7})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack
({8})
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({9})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({10})
Walter Hoffmann
({11})
Iris Hoffmann ({12})
Frank Hofmann ({13})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Klaus-Werner Jonas
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h.c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Heinz Köhler
Fritz Rudolf Körper
Walter Kolbow
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Dr. Uwe Küster
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({14})
Christine Lehder
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Gabriele Lösekrug-Möller
Götz-Peter Lohmann
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Caren Marks
Christoph Matschie
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Petra-Eveline Merkel
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Ursula Mogg
Michael Müller ({15})
Christian Müller ({16})
Dr. Rolf Mützenich
Gesine Multhaupt
Volker Neumann ({17})
Dietmar Nietan
Dr. Erika Ober
Holger Ortel
Heinrich Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Reinhold Robbe
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({18})
Michael Roth ({19})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({20})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({21})
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Horst Schmidbauer
({22})
Ulla Schmidt ({23})
Dagmar Schmidt ({24})
Wilhelm Schmidt ({25})
Heinz Schmitt ({26})
Carsten Schneider
Walter Schöler
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Olaf Scholz
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Brigitte Schulte ({27})
Reinhard Schultz
({28})
Swen Schulz ({29})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({30})
Dr. Eva Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Reinhard Weis ({31})
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({32})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Jürgen Wieczorek ({33})
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({34})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
({35})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Helmut Zöllmer
Dr. Christoph Zöpel
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({36})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Volker Beck ({37})
Cornelia Behm
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Jutta Dümpe-Krüger
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Katrin-Dagmar GöringEckardt
Anja Margarete Helena
Hajduk
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Peter Hettlich
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Fritz Kuhn
Undine Kurth ({38})
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({39})
Christa Nickels
Simone Probst
Claudia Roth ({40})
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({41})
Werner Schulz ({42})
Petra Selg
Ursula Sowa
Rainder Steenblock
Silke von Stokar von
Neuforn
Jürgen Trittin
Marianne Tritz
Hubert Wendel Ulrich
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({43})
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({44})
Veronika Maria Bellmann
Dr. Christoph Georg Bergner
Otto Bernhardt
Dr. Rolf Bietmann
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({45})
Dr. Wolfgang Bötsch
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Helge Braun
Paul Breuer
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Hartmut Büttner
({46})
Verena Butalikakis
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({47})
Peter H. Carstensen
({48})
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Albert Deß
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Vera Dominke
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({49})
Georg Fahrenschon
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({50})
Dirk Fischer ({51})
Axel E. Fischer ({52})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({53})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Roland Gewalt
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Tanja Gönner
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Kurt-Dieter Grill
Reinhard Grindel
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger-Heinrich Haibach
Gerda Hasselfeldt
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Siegfried Helias
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Joachim Hörster
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Dieter Peter Jahr
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Irmgard Karwatzki
Bernhard Nikolaus Kaster
Siegfried Kauder ({54})
Volker Kauder
Gerlinde Kaupa
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Kristina Köhler
Norbert Königshofen
Manfred Kolbe
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Günter Krings
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn ({55})
Dr. Karl A. Lamers
({56})
Barbara Lanzinger
Karl-Josef Laumann
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({57})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({58})
Dorothee Mantel
Erwin Marschewski
({59})
Stephan Mayer ({60})
Conny Mayer ({61})
Dr. Martin Mayer
({62})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer ({63})
Doris Meyer ({64})
Maria Michalk
Hans Michelbach
Klaus Minkel
Marlene Mortler
Stefan Müller ({65})
Bernward Müller ({66})
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Bernd Neumann ({67})
Henry Nitzsche
Michaela Noll
Claudia Nolte
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Melanie Oßwald
Eduard Oswald
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Christa Reichard ({68})
Katherina Reiche
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Roedel
Dr. Norbert Röttgen
Franz-Xaver Romer
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Albert Rupprecht ({69})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({70})
Hartmut Schauerte
Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({71})
Andreas Schmidt ({72})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Kurt Segner
Matthias Sehling
Marion Seib
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Christian von Stetten
Gero Storjohann
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({73})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Angelika Volquartz
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marko Wanderwitz
Peter Weiß ({74})
Gerald Weiß ({75})
Ingo Wellenreuther
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({76})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Willi Zylajew
FDP
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Jörg van Essen
Horst Friedrich ({77})
Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther ({78})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
Christoph Georg Hartmann
({79})
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({80})
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Andreas Pinkwart
Dr. Günter Rexrodt
Marita Sehn
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Fraktionslose Abgeordnete
Petra Pau
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Rauber, Helmut
CDU/CSU
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe die Punkte I. 19 a und 19 b auf:
a) hier: Einzelplan 15
Bundesministerium für Gesundheit und Soziale
Sicherung
- Drucksachen 15/563, 15/572 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Waltraud Lehn
Anja Hajduk
Otto Fricke
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
der Vorschriften zum diagnoseorientierten Fallpauschalensystem für Krankenhäuser - Fallpauschalenänderungsgesetz ({81})
- Drucksache 15/614 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({82})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Dr. Michael Luther von der CDU/
CSU-Fraktion.
({83})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In
diesen Tagen bewegt uns und die Menschen im Land die
weltpolitische Lage mehr als die Innenpolitik. Das ist
mehr als verständlich. Auch ich habe Sorge. Wir müssen
alles dafür tun, die Krise und die Folgen für unser Land
zu bewältigen. Trotzdem müssen wir als Bundespolitiker
unsere Tagesaufgaben erledigen. Dazu gehört, dass wir
über den Bundeshaushalt 2003 abschließend beraten.
Vor einem Jahr hat Bundesfinanzminister Eichel gemeint, der Bundeshaushalt 2002 sei auf Kante genäht.
Was heißt das? Ursprünglich waren 21,1 Milliarden
Euro Neuverschuldung vorgesehen. Gelandet sind wir
aber bei 31,8 Milliarden Euro Neuverschuldung. Auf
Kante genäht heißt also 10 Milliarden Euro mehr Neuverschuldung.
({0})
Herr Eichel, wenn Sie für dieses Jahr wieder ein Bild
gebrauchen wollen, dann sagen Sie bitte nicht wieder,
dieser Haushalt sei auf Kante genäht. Ich sage Ihnen:
Der jetzige Haushalt ist auf Sand gebaut.
({1})
Ich werde die Risiken des Bundeshaushalts anhand
des Einzelplans für Gesundheit und Soziale Sicherung
klar benennen. Der Einzelplan 15 hat ein Volumen von
82 Milliarden Euro. Er ist also mit Abstand der größte
Einzelplan. Leider kann die Ministerin nicht in vollem
Umfang über diese Summe verfügen; denn davon gehen
77 Milliarden Euro an die Rentenversicherung. Der
Zuschuss an die Rentenversicherung macht mittlerweile 31 Prozent des Gesamthaushaltes aus. Diese dramatische Entwicklung wird noch deutlicher, wenn man
die Entwicklung der letzten drei Jahre betrachtet: Der
Zuschuss an die Rentenkasse belief sich im Jahre 2001
auf 69 Milliarden Euro, 2002 auf 72 Milliarden Euro
und 2003, wie gesagt, auf 77 Milliarden Euro. Dahinter
steckt eine folgenschwere Entwicklung in der gesetzlichen Rentenkasse.
Heute erkennt der Bundeskanzler an, dass die Annahmen über die Rentenentwicklung - ich zitiere aus seiner
Regierungserklärung vom letzten Freitag - „zu pessimistisch im Bezug auf die durchschnittliche Lebenserwartung“ waren. Was heißt das? Das heißt doch, dass der
Bundeskanzler einen demographischen Faktor einführen
will, dass er sich aber noch nicht traut, das dem deutschen
Volk direkt zu sagen. Genau dies haben wir im Übrigen
schon vor der Bundestagswahl 1998 auf den Weg gebracht. Aber Sie haben das - auf Ihrer so genannten Garantiekarte stand damals die Parole „Mehr soziale Gerechtigkeit“ und auch, dass Sie die Fehler der KohlRegierung beseitigen wollten - 1998 wieder zurückgeführt. Später sind Sie dann in die steuerfinanzierte Rente
eingestiegen. Damit haben Sie - das ist heute festzustellen - überhaupt kein Problem gelöst. Wir brauchen nach
wie vor - das ist mittlerweile allgemein anerkannt - eine
nachhaltige Rentenreform, die wir als CDU/CSU schon
vor 1998 vorausschauend begonnen hatten.
({2})
Jetzt gibt es zusätzlich ein katastrophales Haushaltsstrukturproblem.
Das beschreibt allerdings noch nicht die ganze Wahrheit. Die Rentenbeiträge hätten 2002 versicherungsmathematisch steigen müssen. Die Steigerung für 2003
hätte noch höher ausfallen müssen, als es von der Koalition letztendlich beschlossen worden ist. Um ihr Ziel zu
erreichen, hat die Koalition faktisch zweimal einen Kredit aus der Schwankungsreserve aufgenommen. Ich erinnere: 2001 betrug der Zielhorizont in Bezug auf die
Schwankungsreserve noch eine Monatszahlrate. 2002
haben Sie diesen Zielhorizont auf 0,8 einer Monatszahlrate abgesenkt. Erreicht haben Sie 0,66. 2003 soll der
Zielhorizont auf 0,5 sinken. Er wird wahrscheinlich wesentlich niedriger sein.
Ich möchte denen, die nicht wissen, was das ist, kurz
die Schwankungsreserve erklären. Sie ist nötig, um
Schwankungen zwischen den Einnahmen der Rentenkasse, also den Beiträgen, und den Ausgaben, also den
Rentenzahlungen, auszugleichen. Der Monat Oktober ist
erfahrungsgemäß immer kritisch, weil die Schwankungsreserve im Jahresverlauf leicht abnimmt. Sie kann
erst am Jahresende, beispielsweise durch Rentenabgaben
auf das Weihnachtsgeld, wieder aufgefüllt werden.
Der Bundesrechnungshof warnt uns in seinem Bericht
vom 4. Dezember 2002, dass die - ich zitiere - „voraussichtlich verfügbaren kurzfristigen Mittel zeitweilig
nicht ausreichen“ werden. Das heißt, die Aushöhlung der
liquiden Mittel der Schwankungsreserve durch die Bundesregierung ist mittlerweile gefährlich für den Bundeshaushalt.
Ich glaube, das sieht die Koalition inzwischen genauso. Warum sonst soll durch das Haushaltsgesetz
plötzlich erlaubt sein, dass der Bundeszuschuss in Höhe
von 77 Milliarden Euro nicht mehr in zwölf gleichen
Monatsraten, sondern vorfristig an die Rentenkassen
überwiesen wird? Damit wollen Sie eine - auch von Ihnen erwartete - Zahlungsunfähigkeit der Rentenkasse im
Laufe dieses Jahres verhindern; sonst würde die Rentenkasse über die Bundesgarantie direkt auf den Bundeshaushalt zugreifen.
Die Renten werden monatlich pünktlich gezahlt, weil
der Bundeshaushalt gegebenenfalls einspringt. Durch
diesen Passus im Gesetz wollen Sie jedoch verhindern,
dass der Haushaltsausschuss, der Deutsche Bundestag
und das deutsche Volk von den Hintergründen dafür erfahren.
({3})
Das können wir nicht mitmachen. Wir von der Union
wollen diesen Verschleierungsparagraphen deshalb aus
dem Haushaltsgesetz streichen.
({4})
Die momentane Rentenfinanzierung bringt aufgrund
des dramatischen Anwachsens des Bundeszuschusses
zunehmend enorme Haushaltsstrukturprobleme mit sich.
Durch die Aushöhlung der Schwankungsreserve kommen auf den Bundeshaushalt erhebliche Risiken zu. Deshalb ist der Bundeshaushalt 2003 im Hinblick auf
Einzelplan 15 eben nicht „auf Kante genäht“, sondern
auf Sand gebaut.
({5})
Nun möchte ich ein Wort zur Gesundheitsreform sagen. Der Bundeskanzler hat in seiner Rede am letzten
Freitag auch auf die Notwendigkeit einer Gesundheitsreform hingewiesen. Ich will nicht auf die einzelnen Vorschläge eingehen; das werden meine Fraktionskollegen
im Folgenden sicherlich tun. Ich will etwas zur Haushaltsrelevanz sagen. Ich zitiere hier wiederum den Kanzler:
Außerdem werden wir das tun müssen, was wir im
Rahmen der Rentenstrukturreform vorgemacht haben: die Befreiung der gesetzlichen Krankenversicherung von einer Reihe so genannter versicherungsfremder Leistungen.
({6})
Das heißt, der Bundeskanzler will auch in diesem Bereich den Einstieg in die Steuerfinanzierung.
Ich habe gerade versucht, eindrucksvoll aufzuzeigen,
({7})
welche Folgen diese Entwicklung hat. Wenn man glaubt,
damit die Probleme einer Sozialversicherungskasse lösen zu können, dann ist man auf dem Holzweg.
({8})
Ich befürchte: Wegen des mangelnden Mutes der SPD
und der Grünen zu Reformen wäre das Ergebnis einer
Gesundheitsreform lediglich der Einstieg in die Steuerfinanzierung. Damit wäre eine Steuerspirale in Gang gesetzt. Das Ende dieser Entwicklung ist für mich nicht absehbar. Wir, die Haushälter, dürfen den eingeschlagenen
Weg auf keinen Fall mitmachen.
({9})
Wir brauchen eine grundlegende Gesundheitsreform,
die beitragssenkend wirkt. Wenn es dazu kommt, dann
kann man sicherlich auch über andere Fragen nachdenken. Das darf aber erst dann und nicht vorher geschehen.
Zu einer grundlegenden Gesundheitsreform gehören
- das will ich ehrlich sagen - Ehrlichkeit und Mut; denn
man muss den Bürgern sagen, was auf sie zukommt.
Momentan verschieben Sie alle Entscheidungen auf
Kommissionen. Frau Schmidt, Sie haben in Ihrem Ministerium gute Beamte. Die können eine Gesundheitsreform verfassen. Sie müssen ihnen nur klare Vorgaben
machen. Legen Sie das Ergebnis dann bitte dem Parlament vor, lassen Sie die Experten im Parlament, im Gesundheitsausschuss, darüber beraten und lassen Sie ihnen Zeit dafür! Wenn Sie diesen Weg beschreiten, dann
werden Sie feststellen, dass am Ende auch etwas Vernünftiges dabei herauskommt.
({10})
Ganz nebenbei - das will ich hier auch noch festhalten können Sie dann die 1 Million Euro, die die RürupKommission kostet, einsparen.
({11})
Frau Ministerin, Ihr bisheriges Stückwerkeln bringt
nichts. Die Leute trauen Ihnen Reformen nicht mehr zu.
Nur eines ist sicher: Rot-Grün ist für eine seriöse Haushaltspolitik ein Risiko.
({12})
Der Haushalt ist vor dem Hintergrund Ihrer Pläne zur
Gesundheitsreform eben nicht auf Kante genäht, sondern
auf Sand gebaut.
({13})
Lassen Sie mich dazu kommen, wie Sie letztlich weitere Haushaltsrisiken eingebaut haben. Ich will als erstes
Beispiel die Versorgungsbezüge für Beschädigte nennen. 2002 betrug der Bedarf dafür 2,99 Milliarden Euro.
Dabei hatten Sie sich um 50 Millionen Euro verschätzt;
Sie hatten zu wenig etatisiert. Es geht hierbei um die
Kriegsopferfürsorge, bei der die Fallzahlen altersbedingt
sinken. Die Statistiker sagen, dass sie von 2002 auf 2003
um 8 Prozent sinken werden. Im Haushaltsentwurf haben Sie ein Minus von 9 Prozent zugrunde gelegt. Nach
meiner Rechnung sind das also rund 26 Millionen Euro
zu wenig.
Es kommt ein neues Problem hinzu, die Beschaffung
der Pockenimpfstoffe. Auch dafür musste der Haushalt
herhalten. Was machen Sie? - Sie ziehen bei diesem
Titel weitere 13 Millionen Euro ab. Am Jahresende werden wir feststellen - das prognostiziere ich -: In diesem
Haushaltstitel werden mindestens rund 40 Millionen
Euro fehlen.
Zweites Beispiel: die Beteiligung des Bundes an der
knappschaftlichen Rentenversicherung. Etatisiert waren 7,321 Milliarden Euro. Sie brauchen Geld für den
Pockenimpfstoff. Was machen Sie also? - Sie runden
den Ansatz bei diesem Haushaltstitel ab und schon haben Sie 21 Millionen Euro zur Verfügung, die für die
Beschaffung von Pockenimpfstoff aufgewendet werden
können. Ich frage Sie: Ist das ein seriöses Herangehen in
der Haushaltspolitik?
Ein drittes Beispiel: der zusätzliche Zuschuss des
Bundes an die Rentenversicherung der Arbeiter und
Angestellten. In § 213 des SGB VI war vorgesehen,
dass aus dem Ökosteueraufkommen im Jahr 2003
9,51002 Milliarden Euro an die Rentenkasse fließen.
Dann mussten Sie die Grundsicherung finanzieren. Was
haben Sie gemacht? - Sie haben einfach 400 Millionen
Euro dort weggenommen und an eine andere Stelle verschoben. Diese 400 Millionen Euro, die eigentlich als
Zuschuss für die Rentenkassen gedacht waren, fehlen
dort heute.
Diese drei Beispiele zeigen, wie Rot-Grün Haushaltspolitik versteht. Deshalb sage ich noch einmal: Dieser
Haushalt ist nicht auf Kante genäht, sondern - Frau Lehn
lacht; sie weiß schon, was kommt - auf Sand gebaut.
In dieser Woche wird vielen bewusst, in welch
schwieriger Sicherheitslage wir uns befinden. Aber die
Bedrohung in Deutschland durch terroristische Angriffe ist nicht erst seit dieser Woche bekannt, sondern
bereits vor allem der Bundesregierung seit Sommer letzten Jahres. Deshalb hat die Bundesregierung richtigerweise zum Beispiel Pockenimpfstoff beschafft. Wie das
Parlament darüber informiert worden ist und wie die
Finanzierung erfolgte, ist
({14})
ein Kapitel für sich. Zu dem Thema hatten wir hier kürzlich auch eine Aktuelle Stunde.
({15})
Dabei - davon bin ich fest überzeugt - darf es nicht
bleiben, sondern es muss weitergehen. Man muss die ÖfDr. Michael Luther
fentlichkeit informieren. Man muss die Öffentlichkeit
vorbereiten, und zwar offen und ehrlich.
({16})
Für alle Eventualitäten müssen Vorbereitungen getroffen werden. Wer wäre dafür zum Beispiel besser prädestiniert als die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung? Mir ist während der Haushaltsberatungen unklar
geblieben, warum Sie der BZgA in dem Titel „Gesundheitliche Aufklärung der Bevölkerung“ 10 Prozent streichen. Ich finde, das ist falsch. Wir wollten die BZgA
arbeitsfähig halten und sind deshalb der Meinung, dass
gerade dieser Titel hätte aufgestockt werden müssen.
An diesem Beispiel kann man zeigen, was man auch
an vielen anderen Stellen im Haushalt zeigen könnte: Sie
setzen die Schwerpunkte im Haushalt falsch. Ob der
Plan das wert ist, was man von ihm sagt, wird man sehen. Ich vermute, am Jahresende wird vieles überhaupt
nicht mehr stimmen. Meine feste Überzeugung als Haushälter ist: Dieser Haushalt ist nicht auf Kante genäht,
sondern auf Sand gebaut.
Meine Damen und Herren, ab diesem Jahr sind die
Fachbereiche Gesundheit und soziale Sicherung zusammengelegt. Das ist ein richtiger Schritt, der große Chancen bietet. Das Ministerium muss sich erst finden; das ist
mehr als verständlich. Deshalb habe ich als Haushälter
meine konstruktive Unterstützung angeboten.
Ich hoffe nun, dass Sie, Frau Schmidt, die großen
Chancen, die dieses neue Ministerium bietet, im Interesse Deutschlands nutzen. Sie könnten als echte Reformministerin für die sozialen Sicherungssysteme in die
Geschichte eingehen.
({17})
Wenn Sie es gut machen, dann haben Sie auch die Union
hinter sich. Aber aufgrund dessen, was wir bislang wissen, kann man nur eines feststellen: Sie machen es zurzeit sehr schlecht.
({18})
Deshalb müssen wir das als Opposition entsprechend
kritisieren.
({19})
Lassen Sie mich noch einen Satz anfügen. Es waren
intensive Haushaltsberatungen und es gehört sich, dass
man an dieser Stelle den Mitarbeitern des Ministeriums
dankt, die uns aktiv begleitet haben. Das sei an dieser
Stelle getan.
({20})
Mein Schlusssatz: Ob der Haushalt das wert ist, was
das Papier gekostet hat, auf dem er gedruckt ist,
({21})
wird sich am Jahresende zeigen. Wir können diesen
Haushalt nur ablehnen.
({22})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Lehn von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Haushalt 2003 des Bundesministeriums für Gesundheit und
Soziale Sicherung ist zweifellos ein wichtiger, aber er ist
auch ein schwieriger Haushalt. Mit rund 82 Milliarden
Euro ist der Einzelplan 15 der größte Einzeletat im Bundeshaushalt und er bindet immerhin rund 30 Prozent der
gesamten Ausgaben. Diese Zahlen belegen, welche Bedeutung, aber auch welche Verantwortung diesem Einzelplan zukommt.
Der größte Ausgabenblock ist hierbei mit 77,6 Milliarden Euro die Sozialversicherung. Allein 73,1 Milliarden Euro stehen dabei als Zuschuss zur Rentenversicherung zur Verfügung. Davon kommen 17,3 Milliarden
Euro aus dem Aufkommen der Ökosteuer. Allein die
letzte Stufe der Ökosteuer bringt der Rentenversicherung
seit dem 1. Januar dieses Jahres 3 Milliarden Euro an
Mehreinnahmen.
({0})
Nun kritisiert die Opposition nach wie vor heftig die
Ökosteuer. Herr Stoiber hat am vergangenen Freitag
hier zum wiederholten Male ihre Abschaffung gefordert.
Wenn die Opposition das will, dann muss sie auch sagen,
was das im Endeffekt bedeutet. Es bedeutet nämlich,
dass sich der Beitragssatz in der Rentenversicherung um
1,7 Prozent auf über 21 Prozent erhöhen würde
({1})
oder - das ist die Alternative - die Rente um den entsprechenden Betrag bei allen Rentnerinnen und Rentnern gekürzt werden müsste. Das wäre die Folge.
Aber vielleicht will die Opposition ja auch die Beiträge zur Kindererziehung, die inzwischen über 12 Milliarden Euro ausmachen, komplett einstampfen.
Frau Kollegin Lehn, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Bergner?
Ja, selbstverständlich.
Frau Kollegin, ehe Sie noch weitere Loblieder auf die
Ich werde das noch ausweiten.
- möchte ich Sie fragen, wie Sie es mit Ihrem Gerechtigkeitssinn vereinbaren können, dass eine große Zahl
von Bürgerinnen und Bürgern Ökosteuer zahlen müssen,
die von der gesetzlichen Rentenversicherung keine einzige Leistung erhalten.
({0})
Ich finde, das ist wirklich eine außerordentlich gute
Frage. Ich hatte mir schon überlegt, wie ich den Inhalt
dieser Antwort in meine Rede einbaue. Insoweit kann
ich Ihnen nur danken. Es ist so - das wissen auch Sie -,
dass Sie seit vielen, vielen Jahren Lasten in die Sozialversicherungssysteme geschoben haben, die dort nichts
zu suchen haben. Es hat in den letzten 16 Jahren insgesamt eine Zunahme der Fremdleistungen gegeben, die so
gewaltig ist, dass man sagen muss, dass die Versicherten
zu einem ganz erheblichen Teil den Aufbau Ost finanziert haben.
Um die Ungerechtigkeiten zu beseitigen, wenn nur
ein Teil und nicht die gesamte Bevölkerung diese Lasten
trägt, haben wir die Ökosteuer eingeführt. Das eben ist
ein beispielloser Beitrag zu mehr Gerechtigkeit, unterstützt durch die Möglichkeit, Energieverbrauch selbst zu
steuern, indem man zum Beispiel darauf achtet, ein Auto
zu fahren, das weniger Benzin verbraucht, oder dafür
Sorge trägt, dass durch den Schornstein nicht unnötig
Energie verpufft. Dadurch, dass den Menschen solche
Steuerungsmöglichkeiten gegeben sind, wird dem Gerechtigkeitsgedanken auch Rechnung getragen.
({0})
Ich muss sagen: Wenn die Koalition die Ökosteuer
nicht eingeführt hätte - Sie müssten uns im Nachhinein
eigentlich dankbar sein -, hätten wir heute eine noch
verschärftere Diskussion darüber, wie schlimm und wie
schädlich es gewesen ist, den Aufbau Ost über die Sozialversicherungssysteme zu finanzieren.
({1})
Ehrlich gesagt: Der Spaß, in diesen Zeiten Haushaltspolitik zu machen, hält sich durchaus in engen Grenzen.
({2})
Aber es überkommt mich geradezu ein Grauen, wenn ich
mir vorstelle, dass die Opposition derzeit tatsächlich verantwortlich entscheiden müsste;
({3})
vor allem, wenn ich mir die Themen Irak sowie Krieg
und Frieden und die Ausführungen von Frau Merkel
dazu heute Morgen vor Augen halte. Aber das gilt auch
für andere Themen: Fällt die Ökosteuer weg, müssten
die Renten runter oder die Beiträge rauf. Weiterhin wurden wir mit Milliardenforderungen während der Etatberatungen in den Ausschüssen und auch im Haushaltsausschuss permanent konfrontiert. Dies hätte bedeutet:
Schulden - wie zu Zeiten von Kohl und Waigel ({4})
rauf.
Oder nehmen wir die Forderung nach 7 Prozent - Herr
Austermann, da hat Ihnen ja Frau Merkel aus der Seele
gesprochen - zusätzlich für Verteidigungsausgaben. Da
frage ich Sie, Herr Austermann: Woher denn nehmen?
({5})
Diese Antwort sind Sie immer schuldig geblieben. Das
ist eine unsaubere, unredliche und auch eine verlogene
Politik, wenn man so agiert.
({6})
Nein, so geht es nicht. Die Zeit der Streudosengeschenke
ist schon lange vorbei. Wer den Sozialstaat im Kern erhalten will, der darf heute weder Schulden machen noch
darf er auf gerecht verteilte Einnahmen verzichten.
Lassen Sie mich noch einmal auf die Rente zurückkommen. Ohne die Rentenreform und ohne die Ökosteuer würden die Beiträge zur Rentenversicherung, wie
schon gesagt, auf 21,2 Prozent steigen. Die Rentenreform 2001 war richtig. Die ersten Zahlen zeigen: Wir
sind mit dem Aufbau einer kapitalgedeckten privaten
Vorsorge als zweiter Säule der Rentenversicherung auf einem guten Weg. Bis zum Ende letzten Jahres haben immerhin 5,4 Millionen Verträge zur individuellen Altersversorgung abgeschlossen werden können.
Dabei hat vor allem die betriebliche Altersvorsorge
einen starken Zulauf. Die Bundesregierung geht davon
aus, dass in den nächsten Jahren circa zwei Drittel bis
drei Viertel der Beschäftigten ihre zusätzliche Altersversorgung über eine Betriebsrente aufbauen werden. Die
betriebliche Altersvorsorge steht, nachdem sie 16 Jahre
unter der Kohl-Regierung praktisch vergessen worden
ist, vor einer starken Wiederbelebung. Auch dies ist ein
großer Erfolg der Riester-Rente, den die Opposition
nach wie vor leugnet.
({7})
Die Rente, Herr Luther, ist sicher.
({8})
Ich finde es problematisch, dass Sie versuchen, die Menschen an dieser Stelle zu verunsichern. Denn zusätzlich
zu der Bundesgarantie, die immer greift und die dafür
sorgt, dass der Rentner und die Rentnerin jeden Monat
pünktlich ihre Rente bekommen, hat der Gesetzgeber
ausdrücklich die Möglichkeit eingeräumt, dass auch ein
Monat quasi im Vorgriff ausgezahlt werden kann. Dies
ist eine weitere Möglichkeit, auf die bei Liquiditätsengpässen zurückgegriffen werden kann.
Es liegt doch im Interesse von Haushaltswahrheit und
-klarheit, wenn man das nicht als Spardose auffasst, sondern wenn man die vorgesehenen Möglichkeiten nutzt
und nicht mehr Geld zurückstellt, als tatsächlich erforderlich ist. Der Rentenversicherungsträger bleibt stets
uneingeschränkt handlungsfähig.
Der Zuschuss zur Rentenversicherung unterliegt
derzeit im Wesentlichen zwei großen Einflüssen, auf die
ich eingehen möchte.
Zum einen wirkt sich die Arbeitslosigkeit direkt auf
den Zuschuss aus. Das muss uns durchaus Sorgen bereiten. Mit steigenden Arbeitslosenzahlen entstehen der
Rentenversicherung Beitragsausfälle, die durch Bundeszuschüsse ausgeglichen werden müssen. Deshalb haben
wir in der letzten Zeit einen permanenten und auch erheblichen Anstieg des Zuschusses.
Zum anderen möchte ich angesichts der Tatsache,
dass Herrn Luther und der CDU/CSU offensichtlich immer nur der demographische Faktor einfällt, wenn es um
die Frage geht, wie man im Bereich der Rente zu sinnvollen Veränderungen kommen kann, Folgendes sagen:
Wir haben bereits bewiesen, dass wir mit der Schaffung
einer zusätzlichen Säule andere Wege gehen können.
Aber lassen Sie mich auf eine Fehlentwicklung zu
sprechen kommen. Für das Zusatzversorgungssystem
Ost müssen inzwischen 2,5 Milliarden Euro bereitgestellt werden. Wohlgemerkt, ich rede von einer Zusatzrente. Die Tendenz ist steigend. Die Anzahl der Rentner
und Rentnerinnen, die nach dem Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz, einem Gesetz aus der
Kohl-Ära, und der Rechtsprechung des Bundesozialgerichtes Anspruch auf höhere Renten haben, nimmt
weiterhin zu. Allein von 2002 auf 2003 sind hier
500 Millionen Euro zusätzliche Ausgaben erwachsen.
Es kann meines Erachtens doch nicht richtig sein,
dass wir 13 Jahre nach der Wiedervereinigung eine Rentenformel Ost haben, die es vielen Rentenbeziehern in
den neuen Bundesländern erlaubt, sich auf dem Klagewege höhere Renten als die Rentner in Westdeutschland
zu erstreiten, nur weil es damals diese Zusatzversorgungssysteme gab, in die weder sie noch andere je eingezahlt haben. Wenn man diese Fehlentwicklung erkennt, dann muss man an dieser Stelle gegensteuern. Das
kann nur durch die Politik erfolgen.
({9})
Frau Kollegin Lehn, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Luther?
Ja, selbstverständlich.
Herr Luther, bitte.
Ich habe Fragen zu Ihrer Bemerkung hinsichtlich des
Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes.
Sind Sie mit mir einer Meinung, dass das ursprüngliche
Gesetz für viele eine niedrigere Rente vorgesehen hatte,
dass aber das Bundesverfassungsgericht mit dem Verweis, dass es sich um eine Besitzstandswahrung aus
DDR-Zeit handelt, alle Versuche, mehr Gerechtigkeit bei
der Rente zu schaffen, letztendlich zunichte gemacht hat,
was dazu führt, dass mehr Rente gezahlt werden muss?
Sind Sie ferner mit mir einer Meinung, dass das nicht
den Bundeshaushalt, sondern im Wesentlichen die Haushalte der neuen Länder belastet und dass man vor dem
Hintergrund, dass man den Aufbau Ost nicht aus den
Augen verlieren darf, hier Kompensationen schaffen
muss, um die neuen Bundesländer nicht finanziell abzukoppeln?
({0})
Ich bin davon überzeugt, Herr Luther, dass sicherlich
niemand, als dieses Gesetz erarbeitet worden ist, damit
gerechnet hat, dass sich nach und nach alle Gruppen der
Rentenbezieher aus Ostdeutschland einklagen werden.
Dieses Gesetz ist aber mit einer derart heißen Nadel gestrickt worden, dass sich die Sozialgerichte - jedenfalls
im Moment - auf der Grundlage eines Urteils eines Bundesgerichtes in die Lage versetzt sehen - das entspricht
dem bestehenden Recht -, so zu entscheiden, dass das
quasi eine Öffnung für eine unbegrenzte Zahl von Betroffenen nach sich zieht.
Diese Erkenntnis besteht inzwischen seit langer Zeit.
Denn das, was Sie ansprechen, ist neun Jahre alt.
({0})
- Nein, das ist nicht neu. - In dieser Zeit musste man
eingreifen. Das Genannte ist eine der Möglichkeiten, um
Fehlentwicklungen zu korrigieren.
Ich behaupte nicht, dass wir unterschiedlicher Auffassung sind, was die Behebung dieses Problemes angeht.
Denn wir werden das gemeinsam lösen können und lösen müssen. Ich wollte darauf hinweisen, dass eine Korrektur bei den Ausgaben nicht zwangsläufig bedeutet,
dass man den demographischen Faktor, so wie ihn
Norbert Blüm angelegt hat, einführen muss.
Meine Damen und Herren, neben der Sozialversicherung umfasst der Haushalt weitere Aufgaben, die zwar
quantitativ nicht sehr umfangreich, dafür aber nicht weniger wichtig in ihrer Bedeutung sind. So haben wir im
Haushalt 2003 22 Millionen Euro für Modellprogramme
im Bereich der Rehabilitation und rund 14 Millionen
Euro für Modellprogramme im Bereich der Pflege vorgesehen. Für das „Europäische Jahr der Menschen mit
Behinderungen“ stehen 4 Millionen Euro zur Verfügung.
Rund 153 Millionen Euro haben wir im Haushalt für
die Beschaffung von Impfstoffen eingesetzt. Damit sind
wir in der Lage, bis Ende des Jahres für 82 Millionen
Bundesbürger, also für die gesamte Bevölkerung, 100 Millionen Dosen Impfstoffe in zentralen Depots vorzuhalten.
Jeder von uns hofft, dass wir diesen Impfstoff nicht
einsetzen müssen. Aber ich glaube, dass es wichtig und
richtig war, angesichts einer nicht wahrscheinlichen, aber
immerhin möglichen Bedrohungslage die Gefahrenabwehr im Sinne einer Vollversorgung der Bevölkerung sicherzustellen.
Der Bundeskanzler hat am vergangenen Freitag in
seiner Rede zur Vorstellung der Agenda 2010 betont,
dass es zur Konsolidierung des Haushaltes und zum Abbau der Verschuldung überhaupt keine Alternative gibt.
Sie bleiben wichtige Ziele der Bundesregierung.
Der Bundeskanzler hat außerdem deutlich gemacht,
welche Maßnahmen erforderlich sein werden, um in
Deutschland mehr Wachstum und Beschäftigung zu erreichen und damit einen leistungsfähigen Sozialstaat zu
sichern. Von diesen Maßnahmen ist auch und gerade der
Sozial- und Gesundheitsbereich erheblich betroffen.
Dies wird sich noch nicht in diesem Haushalt, aber zweifelsohne in den zukünftigen Haushalten, und dort überwiegend unmittelbar in den Sozialversicherungssystemen, niederschlagen.
In der Gesundheitspolitik werden wir grundlegende
Fragen zu beantworten haben. Unser Gesundheitssystem ist heute nicht mehr nur ein Sozialsystem, sondern
auch ein großer, in einer alternden Wohlstandsgesellschaft wachsender Wirtschaftszweig mit einem Volumen
von mehr als 200 Milliarden Euro pro Jahr.
({1})
Wir werden klären müssen, ob wir wie FDP ausschließlich mehr Geld in dieses System pumpen
({2})
und damit einen Selbstbedienungsladen für die Anbieter
von Gesundheitsleistungen schaffen wollen oder ob wir
durch Qualitätsverbesserungen und eine effektivere
Steuerung mehr Wirtschaftlichkeit erreichen.
({3})
Wahrscheinlich liegt die Lösung in einem Mix.
Im internationalen Vergleich hat das deutsche Gesundheitswesen immer noch Vorbildfunktion.
({4})
Zu seinen Stärken gehören nach wie vor eine Versorgung
ohne Warteliste, ein umfassender Versicherungsschutz
für alle und ein einheitlicher, vom persönlichen Einkommen unabhängiger Leistungsanspruch, der für alle gleichermaßen nur durch das medizinisch Notwendige definiert wird.
Es gibt aber auch Bereiche, in denen wir unsere Vorbildfunktion längst eingebüßt haben. So liegt die Lebenserwartung in Deutschland mittlerweile unter dem
Durchschnitt in Europa. Sie hat sich in den letzten zehn
Jahren schlechter entwickelt als in unseren Nachbarländern. Bei einem Vergleich der Sterblichkeitsraten nach
einem Schlaganfall, bei Zuckererkrankung oder bei
Darm- oder Brustkrebs mit Frankreich, Italien, England,
Finnland, Schweden, den Niederlanden und auch mit
den USA landet Deutschland immer auf einem der drei
schlechtesten Plätze.
Vom Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion
im Gesundheitswesen wurden gravierende Qualitätsdefizite festgestellt, die zu dieser negativen Entwicklung beigetragen haben. Das deutsche Gesundheitssystem, so die
ernüchternde Schlussfolgerung des Rates, leiste nicht,
was es leisten könne.
Auf der anderen Seite belegt Deutschland im Vergleich mit den erwähnten Ländern für die Zahl der Ärzte
pro Einwohner, für die Zahl der Krankenhausbetten pro
Einwohner und für die durchschnittliche Verweildauer
im Krankenhaus jeweils einen der ersten drei Plätze mit
entsprechenden Auswirkungen für die Beitrags- und
Kostenentwicklung.
Der Sachverständigenrat kommt daher zu dem eindeutigen Urteil, dass die Kosten-Nutzen-Relation im deutschen Gesundheitswesen im internationalen Vergleich
unbefriedigend sei. Die Qualitätsdefizite und die Quantitätsüberhänge im deutschen Gesundheitswesen müssen
abgebaut werden, im Interesse der Finanzierbarkeit des
Systems, im Interesse der Beitragsstabilität, aber vor allen Dingen im Interesse der Patientinnen und Patienten.
Kein anderes europäisches Land überlässt den Wettbewerbern allein die Entscheidung über Leistungsmenge
und Qualitätsanforderungen. Die Bestrebungen der Ministerin, gerade in diesem Bereich weiterzukommen, sind
nicht nur der gebotene, sondern, wie ich finde, auch der
einzig sinnvolle Weg.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, ich komme zum Schluss.
Meine Damen und Herren, weil wir sehr maßvoll eingespart haben, möchte ich zum Schluss auf ein Potenzial
hinweisen, das wir genutzt haben. Durch die Zusammenlegung von drei zu zwei Bundesministerien haben sich
Synergieeffekte ergeben, die auch einen entsprechenden
Stellenabbau in der Zukunft ermöglichen werden. Ich
möchte deshalb zum Schluss beiden Ministern, Frau Ministerin Schmidt ebenso wie Herrn Minister Clement,
ausdrücklich meinen Dank und meine Anerkennung dafür aussprechen, in welch kurzer Zeit sie diese überaus
schwierige Aufgabe der Zusammenlegung gemeistert
haben.
({0})
In meinen Dank schließe ich ausdrücklich die betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
({1})
aber auch die Verhandlungsführer beider Häuser ein, die
mit sehr hoher Leistungsbereitschaft und mit großem
Problemlösungswillen zu einem reibungslosen Gelingen
beigetragen haben.
Ihnen gegenüber stand ein Berichterstatterteam, das
bisweilen ungeduldig, aber bis zur letzten Minute - ich
denke, über alle Parteigrenzen hinweg - fair und konstruktiv gearbeitet hat. Auch bei ihm möchte ich mich
herzlich bedanken.
Vielen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Kollegin
Lehn, ich bin doch arg befremdet darüber, dass Sie
die Haushaltsdebatte zu einem Angriff auf die Ostrentnerinnen und Ostrentner nutzen. Einmal abgesehen davon, dass Ihnen allen bekannt sein dürfte, dass
der Rentenpunkt Ost noch immer wesentlich niedriger ist als der Rentenpunkt West, haben Sie, was die
Zusatzversorgungssysteme betrifft, schlicht die Unwahrheit gesprochen.
({0})
Sie wissen, dass das bei Abschluss des Einigungsvertrages - ich sage es ganz neutral - übersehen wurde und die
rechtlichen Konsequenzen nicht beachtet wurden. Vor
allen Dingen finde ich es nicht fair und nicht redlich, zu
behaupten, die Bürgerinnen und Bürger, die jetzt auf der
Grundlage eines Urteils des Verfassungsgerichts ihre
Rente erstreiten, hätten in diese Systeme nicht eingezahlt. Das stimmt einfach nicht. Sie können die verschiedenen Berufssparten durchgehen und sich zum Beispiel
die Lehrerinnen und Lehrer oder Eisenbahnerinnen und
Eisenbahner anschauen; von ihnen ist sehr wohl eingezahlt worden.
Abschließend weise ich Sie darauf hin, dass immer
gern versucht wird, die Durchschnittsrenten in Ost und
West miteinander zu vergleichen. Insbesondere wird immer betont, dass ein Rentnerehepaar im Osten angeblich
eine höhere Rente als ein Rentnerehepaar im Westen beziehe. Dabei wird aber häufig außer Acht gelassen, dass
die Frauen im Osten ein langes und sehr intensives Berufsleben hatten. Ich bin also arg befremdet und von Ihnen, Frau Kollegin Lehn, auch enttäuscht, dass Sie nach
13 Jahren staatlicher Vereinigung derart wenig Realitätskenntnis besitzen.
Schönen Dank.
({1})
Frau Kollegin Lehn, zur Erwiderung.
Ich bin enttäuscht, dass mir das Wort im Munde verdreht wurde. Mit keinem Wort habe ich die Renterinnen
und Rentner in Ostdeutschland kritisiert. Sie haben
Rechte wahrgenommen, was sie - das ist völlig klar auch dürfen. Aber hier gibt es eine Entwicklung, die niemand so gewollt hat und die dazu führt - hier würde ich
mich an Ihrer Stelle einmal kundig machen -, dass wir
mittlerweile ausschließlich Klagen von Leuten, zum Beispiel Technikern, haben, die nicht im öffentlichen Bereich, sondern in privaten Bereichen gearbeitet haben.
Sie sagen, sie hätten zwar nie eingezahlt, hätten es aber
getan, wenn das System sie damals gelassen hätte; da
das System sie daran gehindert habe, sei es nicht ihre
Schuld, weswegen sie erwarteten, dass sie jetzt so behandelt würden, als hätten sie damals eingezahlt. Dieser
Entwicklung gilt es gegenzusteuern.
Als unangemessen empfinde ich den Angriff auf die
westdeutschen Frauen. Die Tatsache, dass es im Gegensatz zu Westdeutschland, wo Frauen für Familie und
Kinder gesorgt haben und in der Regel nicht oder allenfalls auf Teilzeitbasis arbeiten konnten, in Ostdeutschland mehr Krippen und Ganztagsschulen gab, kann man
den Frauen im Westen nicht vorwerfen. Eine Diskussion,
die an dieser Stelle die Menschen in gute und böse, arbeitende und nicht arbeitende, profitierende und nicht
profitierende unterteilt, empfinde ich als äußerst unglücklich; wir sollten alle miteinander die Finger von ihr
lassen. Wenn aber Systeme dazu führen, dass zusätzliche
Ansprüche, die unberechtigterweise geltend gemacht
werden, auch befriedigt werden müssen, dann muss man
sich die Frage stellen, ob dies Gerechtigkeit für alle bedeutet. Kommt man dann zu dem Ergebnis, dass dies
nicht Gerechtigkeit für alle bedeutet, muss man die entsprechenden Konsequenzen daraus ziehen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Dieter Thomae von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat am Freitag festgelegt, dass
der Gesundheitsbereich einer der entscheidenden Punkte
im Reformkonzept der rot-grünen Regierung sei. Das ist
gut so. Ich bin froh, dass er erkannt hat, dass die bisherige rot-grüne Gesundheitspolitik gescheitert ist.
({0})
Rot-Grün scheint festgestellt zu haben, dass mit Budgetierung ein modernes Gesundheitswesen nicht zu organisieren ist.
Der Kanzler hat Konzepte auf den Tisch gelegt, die
mir sehr bekannt vorgekommen sind. Ich glaubte, RotGrün lege Konzepte auf den Tisch, die die Liberalen seit
zehn Jahren propagieren.
({1})
Sie haben sehr deutlich gesagt, es gebe keine Alternative
dazu, den Mut aufzubringen, über das Leistungspaket zu
reden. Ich war schon erstaunt, dass der Kanzler hier das
Krankengeld genannt hat; das war ein mutiger Schritt.
Noch mehr, meine Damen und Herren, haben mich die
Ausführungen des Bundeskanzlers erstaunt, Selbstbeteiligung und Selbstbehalt einzuführen. Zum ersten Mal
habe ich von der SPD-Seite gehört, dass die Selbstbeteiligung steuernde Wirkung hat.
({2})
Für diese Einsicht habe ich viele Jahre gekämpft. Ich
hoffe, dass sich diese Einsicht bei der SPD insgesamt
durchsetzt, damit eine vernünftige Reform auf den Weg
gebracht wird.
({3})
Angesichts der ökonomischen Situation in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere der hohen Arbeitslosigkeit - wir alle wissen, es sind nicht 4,7 Millionen Arbeitslose, denn wenn man auch die Personen hinzurechnet, die sich in Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen befinden, ist man ganz schnell bei 7 Millionen -,
müssen Regierung und Opposition versuchen, ein Konzept auf den Weg zu bringen.
({4})
Dabei aber muss natürlich auch das berücksichtigt werden, für das wir schon viele Jahre eintreten:
Die Liberalen sind der Auffassung, dass die Freiberuflichkeit eines der tragenden Elemente im Gesundheitswesen ist.
({5})
Die Freiberuflichkeit muss gesichert werden. In den
Staaten, in denen die Freiberuflichkeit angegriffen oder
beseitigt worden ist, ist das Gesundheitswesen erheblich
teurer geworden und sind Wartezeiten und Altersgrenzen
die Konsequenz.
Schauen Sie sich einmal die Niederlande an, die von
SPD und Grünen lange Zeit begeistert beobachtet worden sind! Sie stellen fest, dass heute viele niederländische Patienten über die Grenze nach Deutschland kommen, und zwar sowohl zur ambulanten als auch zur
stationären Versorgung, weil es in ihrem Land nennenswerte Wartezeiten gibt. Die Niederlande können für uns
kein Beispiel sein.
({6})
- Wir haben das nie gesagt. Sie haben doch keine Ahnung, hören Sie doch auf!
({7})
Wir haben nie das Wort „Niederlande“ in den Mund genommen. Der Erhalt der Freiberuflichkeit ist also wichtig.
Sie glauben, dass Sie das Gesundheitswesen über Einzelverträge organisieren könnten. Wenn Sie die Wünsche der Patienten berücksichtigen wollen, gibt es im
Grunde nur eine Möglichkeit: Sie müssen die Kostenerstattung einführen; denn dann steht der Patient im
Mittelpunkt und kann entscheiden, welche Leistung er
zu welchen Preisen und zu welchen Bedingungen in Anspruch nimmt. Das ist der entscheidende Punkt.
({8})
Dazu gehören natürlich auch vernünftige Honorare.
Im Krankenhaus haben wir das mit den DRGs geschafft.
({9})
- Ja, die Bundesländer, in denen wir vertreten waren, haben mitgemacht. Die FDP hat im Bundesrat dafür gestimmt.
({10})
- Dann müssen Sie das beobachten.
Neben den DRGs brauchen wir feste Preise in der ambulanten ärztlichen Versorgung. Wir haben nicht umsonst große Probleme, genügend Nachwuchs für den
ambulanten Bereich zu finden. Viele wissen das, weil sie
die Situation in den neuen Bundesländern kennen. Aber
auch die Situation in den alten Bundesländern ist nicht
viel besser. Die jungen Mediziner gehen aus Deutschland weg, vor allem - es geht nicht nur um die Ethik weil ihre finanzielle Situation nicht vernünftig organisiert ist. Das ist versäumt worden.
({11})
Neben dieser Freiberuflichkeit, der Kostenerstattung
und der Selbstbeteiligung nenne ich einen letzten wichtigen Punkt: Wir müssen die Härtefallregelung neu definieren. Diejenigen, die die Härtefallregelung in Anspruch nehmen, müssen all ihre Einkommen offen legen.
Erst dann haben wir eine vernünftige Härtefallregelung.
Eine Quote von 50 Prozent bei der Inanspruchnahme der
Härtefallregelung kann nicht der Wahrheit entsprechen.
Bei Offenlegung aller Einkommensarten werden nur
15 Prozent unter eine Härtefallregelung fallen.
Wenn wir die von mir angesprochenen Punkte berücksichtigen, haben wir die Voraussetzungen geschaffen, um ein freiheitliches System zu organisieren: ohne
Planwirtschaft, ohne Dirigismus und ohne Budgetierung.
Das wollen die Liberalen. Dann stehen wir gern zu Gesprächen bereit.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Birgitt Bender,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit meinem Vorredner stimme ich überein - bis zum Ende seines ersten Halbsatzes.
({0})
Es ist wahr: Der Gesundheitsbereich ist eines der entscheidenden innenpolitischen Reformfelder. Das hat
auch der Kanzler am Freitag festgestellt. Bis dahin besteht also Einigkeit.
Doch dann hören die Gemeinsamkeiten leider schon
auf, Herr Dr. Thomae. Sie wollen mehr Geld für die
Ärzte und wollen dieses Geld von den Patienten nehmen. Bereits mit diesen wenigen Worten ist Ihr gesundheitspolitisches Konzept umschrieben. Ich kann Ihnen
nur sagen: Das ist nicht unser Weg.
({1})
Wir wissen, dass ein grundlegender Umbau des Hauses
der Gesundheitsversorgung ansteht. Wir arbeiten an den
Bauplänen.
Sehen Sie es mir nach, dass ich mich nun mit den Vorschlägen der größeren Oppositionspartei auseinander
setze. Denn letztendlich brauchen wir die CDU/CSU für
ein gemeinsames Konzept; das wissen wir.
({2})
Auf der Suche nach Ihren Zielen habe ich im Beschluss
des Fraktionsvorstandes CDU/CSU-Bundestagsfraktion
gelesen, man wolle erreichen, dass die Beiträge auf
13 Prozent gesenkt werden. Das finde ich prima.
({3})
Der Kanzler hat sogar von einer Senkung auf unter
13 Prozent gesprochen.
Nun schaue ich mir Ihre Maßnahmen hierzu an, Herr
Kollege Storm. Gestern Abend, als wir zusammen bei
Vertretern der Krankenhäuser waren, haben Sie das
Füllhorn ausgepackt: Sie haben den Krankenhäusern zugestanden, dass sie mehr Stellen brauchen, ihnen
1,7 Milliarden Euro versprochen und gesagt, den Beitragssatzeffekt würden Sie in Kauf nehmen. Dieser
würde - Herr Kollege Storm, rechnen Sie bitte mit 0,17 Beitragssatzpunkte zusätzlich ausmachen.
({4})
Das ist aber noch nicht alles. Eben war ich mit Herrn
Seehofer bei Vertretern der Apotheker. Herr Seehofer
hat den Apothekern versprochen, dafür einzutreten, dass
das Beitragssatzsicherungsgesetz aufgehoben wird.
({5})
Auf meine ausdrückliche Nachfrage hin hat er gesagt, er
meine nicht nur die Apotheker,
({6})
sondern alle, die durch das Beitragssatzsicherungsgesetz
betroffen sind. Das würde bedeuten, dass der Einspareffekt von 2,8 Milliarden Euro verloren ginge.
({7})
Rechnen Sie mit, Herr Kollege Storm: Dadurch würde
sich eine Erhöhung um 0,28 Prozentpunkte ergeben, die
auf den Beitragssatz aufgeschlagen werden müssten.
Wie Sie auf diese Weise jemals einen Beitragssatz von
13 Prozent und weniger erreichen wollen, ist mir vollkommen schleierhaft.
({8})
Heute Morgen hat Herr Seehofer wieder das Thema
Zahnersatz angesprochen. Bei dem Thema sind Sie sich
auch untereinander nicht einig. Erst habe ich gelesen, Sie
wollten Zahnbehandlung als Ganzes herausnehmen.
Dann haben Sie aus sozialen Aspekten Bauchschmerzen
bekommen und davon Abstand genommen. Eine Herausnahme des Zahnersatzes aus dem Katalog - ich
möchte nicht näher darauf eingehen, was dafür oder was
dagegen spricht - würde eine Senkung um 0,4 Beitragssatzpunkte bringen. Das entspricht dem, wie Sie den
Lobbyisten an Mehrausgaben versprochen haben. Dadurch erreichen Sie also nichts, außer dass Sie den Leistungskatalog ausdünnen.
({9})
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition: Das ist kein Konzept.
({10})
Wir brauchen richtige Reformen. Diese gehen wir an.
Wir werden den Leistungserbringern mehr zumuten, ihnen aber auch Chancen bieten.
Ich will von Ihnen wissen: Machen Sie mit, wenn wir
in einem solidarischen Rahmen mehr Wettbewerb organisieren? Machen Sie mit bei der Umstellung des Honorierungssystems für die ambulant tätigen Ärzte?
({11})
Machen Sie mit beim Hausarztmodell? Machen Sie mit
bei der besseren Vernetzung zwischen ambulanter und
stationärer Behandlung? Machen Sie mit beim Ausbau
der integrativen Versorgung? Machen Sie mit, um mehr
Rationalität bei der Arzneimittelverordnung zu erreichen?
Machen Sie mit bei Deregulierung des Arzneimittelhandels? Machen Sie mit, um mehr Vertragsfreiheit für Kassen und Leistungserbringer zu erreichen und damit den
Patienten mehr Wahlmöglichkeiten zu eröffnen?
({12})
Ich will wissen, ob Sie bei diesen Reformen dabei sind
oder ob es Ihnen nur um die Themen Zahnersatz und Zuzahlung geht.
({13})
Ich will wissen: Machen Sie sich zum Sprachrohr aller
Lobbyisten, die immer nur auf die jeweils anderen zeigen und in der Summe alles so lassen wollen, wie es ist?
({14})
Oder stellen Sie sich, wie es notwendig wäre, einer wirklichen Strukturreform?
({15})
Auch wir wissen, dass die gesetzliche Krankenkasse
in der Tat ein Einnahmeproblem hat.
({16})
Dem werden wir uns stellen.
({17})
Uns geht es darum, den Faktor Arbeit zu entlasten. Es
kann nicht dabei bleiben, dass wir die soziale Sicherung
in der Gesundheitsversorgung allein über die Lohneinkommen finanzieren und damit den Faktor Arbeit verteuern.
Die Perspektive der Grünen dazu heißt Bürgerversicherung. Wir wollen alle versichern, und zwar unabhängig von ihrem Erwerbstätigenstatus und ihrem Einkommen. Das wäre die Art von Versorgung, die die größte
Gerechtigkeit beinhalten würde. Wir wissen aber auch,
dass dies keine kurzfristige Perspektive ist.
Deswegen reden wir jetzt zum Beispiel - der Kanzler
hat es angesprochen - über versicherungsfremde Leistungen. Diese werden wir uns genau anschauen. Wir sehen dort Möglichkeiten des Einsparens, etwa beim Sterbegeld.
({18})
Leistungen wie das Mutterschaftsgeld oder die Beitragsfreiheit in der Elternzeit wollen wir aber nicht abschaffen, sondern steuerfinanzieren.
Ein weiterer Vorschlag der Grünen auf der Einnahmeseite lautet, dass auch Vermögenseinkünfte verbeitragt werden; denn es ist nun einmal eine Gerechtigkeitslücke, wenn nur die Einkommen aus abhängiger Arbeit
für die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung herangezogen werden.
({19})
Der Sachverständigenrat hat dies jüngst noch einmal
zum Thema gemacht und eine entsprechende Empfehlung abgegeben. Das würde übrigens 0,4 Beitragssatzpunkte bringen.
Man müsste sich auch die Familienmitversicherung
genauer anschauen; denn es ist zu fragen, warum Frauen,
die keine Kinder erziehen oder Angehörige pflegen,
durch die Gemeinschaft der Beitragszahlenden subventioniert werden sollen. Der Sachverständigenrat hat dazu
ein Splittingverfahren vorgeschlagen. Das würde die
Besserverdienenden in einer Alleinverdienerehe stärker
belasten, die anderen aber nicht. Dieses Modell halten
wir für äußerst diskussionswürdig. Es würde laut Sachverständigenrat übrigens 0,7 bis 0,9 Beitragssatzpunkte
bringen. Auch hier will ich wissen, ob Sie dabei wären.
({20})
Meine Damen und Herren, auch das will ich deutlich sagen: Um das Ziel, auf unter 13 Prozent zu kommen, zu erreichen, wird ein Paket auch Zumutungen für Versicherte
enthalten. Es wird mehr Zuzahlungen geben. Ich bin aber
dagegen, dies als vorgebliches Allheilmittel anzupreisen
und sich damit vor den Strukturreformen zu drücken.
({21})
Der Kanzler hat es angesprochen: Es gibt auch die
Überlegung, einzelne Bereiche auszusteuern. Der Aussteuerung von Unfällen hat er - das finde ich richtig aber ausdrücklich eine Absage erteilt; denn letztlich
hätte die Botschaft gelautet: Leute, hockt vor dem Fernseher und esst Erdnüsse; denn wenn ihr Sport treibt,
kann euch etwas passieren. - So kann Gesundheitsförderung eben nicht aussehen. Wir wollen, dass sich die
Leute bewegen, weil Bewegungsmangel eine der wesentlichen Ursachen unserer Volkskrankheiten ist.
({22})
Das Krankengeld ist von Gesundheitsvorsorgeleistungen klar abgrenzbar, weil es sich um eine Geldleistung
handelt. Nur noch 39 Prozent der Versicherten haben
überhaupt einen solchen Anspruch. Auch daran kann
man erkennen, wie sich die gesetzliche Krankenversicherung verändert hat. Es ist kein Vergnügen, diese Leistung zu streichen, im Interesse der Entlastung des Faktors Arbeit treten wir dem aber näher.
Kurz und gut: Wir brauchen ein Gesamtkonzept, das
die Gesundheitsversorgung verbessert und den Faktor
Arbeit entlastet. Ich will wissen, was die Opposition
dazu beizutragen hat.
({23})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Andreas Storm, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle
haben noch die Rede des Bundeskanzlers vom vergangenen Freitag im Ohr. Wie ein roter Faden zog sich die
Forderung, die Lohnnebenkosten zu senken, durch die
sozialpolitischen Teile der Rede.
Umso verwunderlicher ist es, dass Sie die Hauptforderung in diesem Bereich, nämlich das Absenken der
Sozialabgaben unter die 40-Prozent-Grenze, sang- und
klanglos beerdigt haben.
({0})
Das war kein Zufall, sondern die logische Konsequenz.
Wenn man nämlich unter all diese Maßnahmen einen
Strich zieht, dann wird deutlich: Von einer Absenkung
der Sozialabgaben sind wir trotz der Kanzlervorschläge
meilenweit entfernt. Wenn alle Maßnahmen für das Gesundheitswesen, die der Kanzler am Freitag genannt hat,
realisiert würden, dann würden wir im nächsten Jahr
trotz allem nur mit Mühe unter die 14-Prozent-Marke
kommen; denn der Beitragsdruck bei den Krankenkassen ist im Moment so hoch, dass der Löwenanteil der
geplanten Einsparungen ausschließlich dafür verwendet
werden muss, um ein weiteres Drehen an der Beitragssatzspirale im nächsten Jahr zu verhindern.
({1})
Von dem Ziel eines Beitragssatzes von 13 Prozent bleiben wir meilenweit entfernt.
Es kommt aber noch viel schlimmer. Während bei den
gesetzlichen Krankenkassen eine Trendwende zumindest
in Reichweite ist, sieht es bei der Rentenversicherung
wirklich desaströs aus.
({2})
Der Bundeskanzler hat zur aktuellen Finanzlage der
Rentenkassen am Freitag kein Wort verloren. Einen Tag
vorher, am letzten Donnerstag, hat die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte deutlich gemacht, dass nach
ihrem Kenntnisstand im nächsten Jahr die Beiträge für
die gesetzliche Rentenversicherung auf 19,9 Prozent angehoben werden müssen. Dies würde heißen: Das, was
den Menschen auf der einen Seite durch eine Absenkung
der Krankenkassenbeiträge im Rahmen einer großen Gesundheitsreform gegeben würde, wird auf der anderen
Seite bei den Renten wieder abkassiert. Bei einer solch
dilettantischen Herangehensweise ist es klar, dass von
dieser Rede am Freitag keine positive Signalwirkung
ausgehen konnte.
({3})
Die Rentenversicherungsträger haben darauf hingewiesen: Aus heutiger Sicht droht im nächsten Jahr ein
Beitragssatzanstieg auf 19,9 Prozent. Aber das ist keine
pessimistische, eher eine optimistische Sicht der Dinge.
Wenn infolge der Irakkrise oder etwa einer weiteren Verschlechterung der Arbeitsmarktlage die Beitragseinnahmen noch stärker einbrächen, als das in den ersten beiden Monaten dieses Jahres der Fall war, dann droht im
nächsten Jahr sogar die Überschreitung der 20-ProzentMarke.
Angesichts der massiven Warnungen der Rentenversicherungsträger ist es unverantwortlich, dass sich der
Bundeskanzler des größten Sozialversicherungssystems
nur am Rande angenommen hat. Aber immerhin hat er
eingestanden, dass die angebliche Jahrhundertreform der
Rente von Walter Riester nach 18 Monaten kläglich gescheitert ist. Er hat dazu Folgendes erklärt: Wir waren
bei den Annahmen in Bezug auf die Arbeitsmarktentwicklung zu optimistisch und in Bezug auf die demographische Entwicklung zu pessimistisch. Deswegen brauchen wir eine neue Rentenformel.
({4})
Das ist nichts anderes als das Eingeständnis, dass die
Rentenreform, die Sie noch im vergangenen Jahr mit
Stolz verteidigt haben, kläglich gescheitert ist.
({5})
Man muss sich einmal überlegen, was das Herzstück der
riesterschen Rentenreform war.
Für die gesetzliche Rente galten insbesondere zwei
Kernelemente. Die erste Aussage war: Wir haben die Beitragsentwicklung im Griff. In diesem Jahrzehnt werden
die Beiträge unter 19 Prozent liegen. Bis zum Jahr 2020
werden sie nicht über die 20-Prozent-Marke steigen.
Auch langfristig, bis zum Jahr 2030, werden sie nicht
mehr als 22 Prozent betragen. - Heute müssen Sie eingestehen: Diese Beitragsziele sind für den gesamten Zeitraum nicht mehr erreichbar. In einem Interview mit der
„Welt“ hat Ihr großer Sozialexperte Professor Bert Rürup
bestätigt: Die Beitragsziele sind nicht mehr zu schaffen.
Die 20-Prozent-Marke würde ohne Reformen wahrscheinlich im nächsten Jahr erreicht oder überschritten.
Das zweite Kernelement bei der Reform der gesetzlichen Rentenversicherung war Ihr Versprechen im Hinblick auf das Leistungsniveau: Das so genannte Nettorentenniveau darf nicht unter 67 Prozent sinken.
Bei den Verhandlungen über eine Rentenreform - bei
denen seinerzeit kein Konsens erzielt werden konnte haben wir immer wieder darauf hingewiesen, dass es
grob fahrlässig ist, eine Neuordnung der Rentenfinanzen
vorzunehmen, ohne das wichtige Thema der Neuregelung der steuerlichen Behandlung der Altersversorgung
anzugehen.
({6})
Nun haben Sie das Dilemma. Ich finde übrigens, dass es
inakzeptabel ist, dass der Kanzler das Thema Neuordnung
der Rentenbesteuerung am Freitag nicht erwähnt hat, obwohl die Vorschläge, die die Rürup-Kommission am Beginn dieser Woche vorgelegt hat, bereits überall bekannt
waren. Denn die geplante Neuregelung der Rentenbesteuerung, der Übergang zu einer so genannten nachgelagerten Besteuerung, über den ja im Grundsatz Konsens besteht, betrifft das Nettorentenniveau in zweierlei Weise.
Zum einen wird das Nettoeinkommen der jungen Generation durch die kommende Freistellung der Rentenversicherungsbeiträge höher ausfallen. Schon von daher
sinkt rein rechnerisch das Rentenniveau. Zum anderen
werden in Zukunft die Renten besteuert. Auch das hat
natürlich Auswirkungen auf das Rentenniveau.
Meine Damen und Herren, bei der Vorlage des RürupBerichts wurde zweierlei deutlich. Zum einen werden,
wenn die Vorschläge zur Besteuerung umgesetzt werden,
bereits im Jahr 2005 etwa 4 Millionen Rentnerhaushalte
betroffen sein, nämlich diejenigen Rentnerhaushalte, die
auch über andere Einkunftsarten verfügen. Zum anderen
werden auch diejenigen Jahrgänge, die ab dem Jahre
2014 in den Ruhestand gehen und eine Standardrente also die berühmte Eckrente, die im Moment bei gut
1 000 Euro liegt - bekommen, voll von der Rentenbesteuerung erfasst, selbst dann, wenn sie keine zusätzlichen Einkommen haben.
Jetzt muss man einmal überlegen, um welche Altersjahrgänge es sich handelt. Wer im Jahre 2014 in Rente
geht, der ist heute Anfang 50. Das heißt, dies ist ein
Thema, das nicht nur die ganz Jungen, sondern auch bzw.
vor allen Dingen die mittleren Jahrgänge betrifft. Deswegen besteht bei der Umsetzung der Reform auf den steuerlichen Bereich noch erheblicher Diskussionsbedarf.
Meine Damen und Herren, es kann nicht sein, dass
Sie, wie es das Ministerium noch in der letzten Woche
getan hat, die Warnungen der Rentenversicherungsträger ignorieren und erklären: Wir warten bis November dieses Jahres, um absehen zu können, wie hoch der
Beitrag im nächsten Jahr wird.
({7})
Dann wäre das Kind nämlich in den Brunnen gefallen.
Dann könnten Sie nicht mehr handeln. Denn Sie können
nicht, wie Sie das in den letzten beiden Jahren getan haben, noch einmal in die Rücklagen der Rentenkassen greifen. Da ist nichts mehr drin. Das werden wir schon in diesem Sommer merken. Auch können Sie nicht noch einmal
die Beitragsbemessungsgrenze für die Rentenkassen anheben. Hoffentlich wird Ihnen Ihr grüner Koalitionspartner hier endlich einen Strich durch die Rechnung machen.
Denn ein solches Vorgehen würde zu massiven Zusatzlasten für die künftige Generation führen.
({8})
Das heißt, meine Damen und Herren, dass wir rasch
Klarheit über die tatsächliche Lage der Rentenfinanzen
brauchen. Ich nehme die Ankündigung des Kanzlers
vom Freitag ernst, dass Sie uns noch vor der Sommerpause reinen Wein einschenken und eine klare Bilanz
vorlegen: Wie ist im kommenden Jahr die Situation bei
den Rentenfinanzen? Von welchen Annahmen gehen Sie
bezüglich der langfristigen Entwicklung der Rentenversicherung aus?
({9})
Frau Ministerin, wir sind bereit, mit Ihnen über die
Probleme der Rentenversicherung und auch über eine
neue Rentenformel zu sprechen, aber nur dann, wenn die
Themen „Neuregelung der steuerlichen Behandlung der
Alterseinkünfte“ und „neue Rentenformel“ gemeinsam
angegangen werden. Denn eines ist klar: Wenn die Renten Zug um Zug voll in die Besteuerung fallen und eine
neue Rentenformel gilt - im Klartext: dies bedeutet ja
nicht, dass die Rentenerhöhungen größer, sondern dass
sie kleiner werden -, dann wird auch das Leistungsniveau der Renten für die heute mittlere und die jüngere
Generation sinken.
Deshalb muss man wissen, wo die Grenze für ein akzeptables Niveau der Rente ist, sodass man mit gutem
Gewissen sagen kann, dass man eine angemessene Gegenleistung für die eingezahlten Beiträge bekommt.
Denn eines werden wir nicht mitmachen: eine Demontage der gesetzlichen Rentenversicherung auf Raten. Es
muss rasch Klarheit geschaffen werden.
({10})
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt ansprechen.
Der Bundeskanzler hat stolz verkündet, die RiesterRente sei ein großer Erfolg und ein Einstieg in die kapitalgedeckte Vorsorge. In Wirklichkeit ist die RiesterRente einer der größten Flops aus der ersten Amtszeit
von Gerhard Schröder. Er sagt selber, dass nur etwa
15 Prozent der Anspruchsberechtigten bislang entweder
einen privaten oder betrieblichen Riester-Vertrag abgeschlossen hätten. Das bedeutet nichts anderes, als dass
die große Mehrheit der Menschen in diesem Lande noch
nicht ergänzend vorsorgt.
Insofern ist es völlig inakzeptabel, dass bei der Vorlage des Berichts der Rürup-Kommission am letzten
Montag vorgeschlagen wurde, in Zukunft sollten die traditionellen Vorsorgeformen wie etwa Lebensversicherungen nicht mehr steuerlich begünstigt werden. Wenn
Sie ausschließlich Riester-Produkte begünstigen wollen,
die die Menschen aus guten Gründen bislang nicht annehmen, aber die weit verbreiteten traditionellen Vorsorgeformen in Zukunft diskriminieren, dann wird das Ergebnis sein, dass die ergänzende Vorsorge bei der jungen
Generation noch weniger verbreitet ist als bei der jetzigen Rentnergeneration.
({11})
Deswegen muss eine große Rentenreform auch beinhalten, dass wir von der untauglichen Riester-Rente
({12})
hin zu einer Förderrente wechseln, die attraktiv ist und
von den Menschen angenommen wird, weil sie wissen,
dass sie ihnen etwas bringt.
({13})
Wir sind zu einer gemeinsamen Rentenreform bereit, aber
Sie müssen in Vorlage treten und bitte schön noch bis zur
Sommerpause deutlich machen, wie Sie sowohl die gesetzliche Rentenversicherung als auch die ergänzende private Vorsorge in Zukunft neu ordnen wollen. Der jetzige
Weg führt in der Rentenversicherung an die Wand.
({14})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Kühn-Mengel von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin schon sehr erstaunt darüber, was Sie,
Herr Kollege Storm, gerade gesagt haben. Ganz deutlich: Wir haben die Riester-Reform gemacht und damit
verhindert, dass Rentnerinnen und Rentner in die Sozialhilfe abgleiten. Wir haben das Rentensystem durch die
Einführung einer kapitalgedeckten Säule stabilisiert.
({0})
Sie haben dagegen gestimmt.
({1})
Im Wege der Ökosteuer haben wir dazu beigetragen, das
Rentenniveau überhaupt auf einem vernünftigen Niveau
zu halten. Dort haben Sie genauso wenig zugestimmt
wie beim Beitragssatzsicherungsgesetz und anderen Gesetzen, die dazu gedient haben, unser System zu stabilisieren. Ohne diese Maßnahmen wären wir in einer viel
schwierigeren Situation.
({2})
Wir haben die Erfahrung machen müssen, dass eine
Legislaturperiode zu kurz ist,
({3})
um die Folgen einer über Jahrzehnte verfehlten Gesundheits- und Sozialpolitik zu beseitigen.
({4})
Sie stricken fortwährend an einer Legende, indem Sie so
tun, als hätten Sie uns ein intaktes und blühendes Sozialund Gesundheitswesen überlassen. Dem ist nicht so. In
Wahrheit leidet unsere Regierung nach wie vor an der
Erblast, die Sie uns hinterlassen haben. Ordnungspolitisch gesehen hätten zum Beispiel die Steuerzahler und
Steuerzahlerinnen die vereinigungsbedingten Lasten
schultern müssen, die die Regierung Kohl den Sozialsystemen aufgebürdet hat.
({5})
Diese eklatanten Fehlentscheidungen haben die
Arbeitskosten spürbar und nachhaltig in die Höhe getrieben. Daran kranken unsere Systeme heute noch. Hätten Sie die damals wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch
gebotene Entscheidung anders getroffen, dann wäre der
finanzielle Druck auf unsere Sozialsysteme, mit dem wir
uns heute befassen müssen, wesentlich geringer. Stattdessen haben Sie nur die Vision der blühenden Landschaften kultiviert und sich daran berauscht. Der Rausch
aber ist verflogen. Wir sind jetzt dabei, die Sozialsysteme zu ordnen, zu stabilisieren und zukunftsfest zu machen.
({6})
Das machen wir gemeinsam mit der Ministerin. Sie,
Herr Kollege Thomae, haben doch gegen alles gestimmt,
was das Gesundheitswesen transparenter und in der Qualität attraktiver gemacht hätte.
({7})
Wenn Sie Nachbarländer wie die Niederlande anführen, dann sollten Sie zum Beispiel auch erwähnen, dass
dort etwa 150 Leitlinien für Patienten und Patientinnen
in eine vernünftige Alltagssprache gebracht wurden.
({8})
Genau das wollen wir auch. Wir wollen, dass das von
uns geplante Institut für Qualität in der Medizin die Aufgaben wahrnimmt, Leitlinien zu entwickeln, die Qualität
zu verbessern und vor allem Transparenz herzustellen.
Eines ist klar: Wir haben ein teures Gesundheitswesen. Es ist in vielen Bereichen zu teuer, wenig wirksam
und erlaubt sich viele Doppelstrukturen.
({9})
Vor allem aber ist es zu wenig an den Patienten und Patientinnen orientiert. Das werden wir in der nächsten Zeit
angehen und eine entsprechende Steuerung vornehmen,
um unser Solidarsystem zukunftsfest zu machen.
Wir wollen eine solidarische Finanzierung in der
Krankenversicherung, aber dabei ist auch zu berücksichtigen, dass diese Finanzierung zu stark konjunkturabhängig ist. Wir haben - darauf weisen wir immer wieder hin
- ein Ausgabenproblem.
({10})
Denken Sie an die gestiegenen Arzneimittelausgaben,
die trotz der Vereinbarung der Leistungserbringer in eklatante Höhen gestiegen sind und uns große Probleme
bereiten.
({11})
Wir leisten uns Doppelstrukturen und Fachärzte auf ambulanter wie auf stationärer Ebene. Wir leisten uns geschlossene Sektoren und ein großes Maß an Überversorgung. Zugegebenermaßen gibt es auch eine Unterversorgung. Den
genauen Umfang der Über-, Unter- und Fehlversorgung
haben die Gutachter auf 1 200 Seiten festgehalten.
({12})
Wir sollten darangehen, die notwendigen Instrumente
zu schaffen, die den Wettbewerb fördern, den Patienten
dienen, Transparenz schaffen und vor allem die Qualität
verbessern und die sektoralen Systeme aufbrechen. Das
werden wir in der Strukturreform im Gesundheitswesen
angehen.
({13})
Wir brauchen diese Strukturreform, um sie mit den
Ergebnissen der Rürup-Kommission zu verbinden. Denn
es geht nicht an, möglicherweise frisches Geld in ein
System fließen zu lassen, das über viele Jahre hinweg Ineffizienzen aufgebaut hat.
Richtig ist auch, dass die Krankenversicherungen
nicht allein an die Löhne gebunden und damit konjunkturabhängig werden dürfen. Deswegen sollten wir in der
nächsten Zeit gemeinsam prüfen, ob wir die Einnahmebasis verbreitern und andere Einnahmen zur Finanzierung der Krankenversicherung heranziehen können. Es
wird auch über die versicherungsfremden Leistungen zu
reden sein. Das Mutterschaftsgeld zum Beispiel ist eine
familienpolitisch und gesellschaftspolitisch gewollte
Größe und muss steuerlich finanziert werden. Das ist
ganz selbstverständlich.
Genauso wichtig ist es, dass wir gemeinsam mit allen
Akteuren im Gesundheitsbereich nach Reserven suchen,
die sich noch im System verbergen und die wir ausschöpfen können. Das ist uns Politikern nur gemeinsam
mit den Akteuren im Gesundheitswesen und den Patienten und Patientinnen möglich. Dabei erwarten wir auch
Ihre Mitarbeit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition.
Ich höre nicht auf, zu betonen, dass wir im Prinzip
über eine gute medizinische Infrastruktur und ein funktionstüchtiges System verfügen. Wir müssen aber gleichzeitig daran arbeiten, dass dieses System durchsichtiger
und durchlässiger wird und zur Förderung des Wettbewerbs beiträgt.
Wir werden aber auch gemeinsam mit der Ministerin
an den anderen Säulen der Sozialpolitik zu arbeiten haben. Gesundheits- und Sozialpolitik sind nicht ein bloßes
Anhängsel der Wirtschaftspolitik. Vielmehr sind sie ein
wesentlicher Teil des Kitts, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Deshalb will ich noch kurz etwas zur Pflegeversicherung und zur Sozial- und Arbeitslosenhilfe
ausführen.
Die Pflegeversicherung hat sich in den acht Jahren
ihres Bestehens bewährt. Sie ist und bleibt ein integraler
Bestandteil der Sozialversicherung. Vor kurzem ist sie
wegen ihres Defizits im Jahre 2002 ins Gerede gekommen und eine für ihre Vereinfachungen bekannte Zeitung
hat sie flugs für pleite erklärt. Aber allen Unkenrufen
und aller Panikmache zum Trotz wird sie ihre Leistungen auch in Zukunft erbringen.
Wir werden uns vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und der veränderten Struktur der
Krankheitsfälle in der Pflegeversicherung den Herausforderungen stellen.
Wir werden die Finanzierungsvorschläge der RürupKommission - diese werden noch in diesem Jahr vorliegen - mit unserer Politik verbinden.
Wir werden natürlich auch dem dringenden Reformbedarf im Sozialhilfebereich nachkommen. Wir werden
das - das ist ganz klar - gemeinsam mit den Gewerkschaften, den Kirchen und den Wohlfahrtsverbänden sowie vor dem Hintergrund des Armuts- und Reichtumsberichts machen, den Sie im Übrigen über viele Jahre
hinweg verhindert haben, weil Sie Ihre Umverteilungspolitik verschleiern wollten.
({14})
So werden wir auch in schwierigen Zeiten die Stränge
der Kranken-, der Pflege-, der Renten- und der Unfallversicherung sowie der Sozialhilfe zusammenbinden.
Ich denke, dass nur die deutsche Sozialdemokratie in der
Lage ist, all diese großen Aufgaben gerecht zu erledigen.
({15})
Das Wort hat nun der Kollege Otto Fricke, FDP-Fraktion.
Werter Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Luther hat das schöne Beispiel mit dem Haushalt, der auf
Kante genäht ist, erwähnt. Noch besser ist es, wenn man
im Zusammenhang mit dem Einzelplan 15 sagt - ich
weiß, dass die Ministerin das kann -, dass in diesem
Haushalt sehr viele Luftmaschen gehäkelt sind. Lassen
Sie mich als drittem Haushälter in dieser Runde ein paar
Anmerkungen dazu machen, warum man davon sprechen kann, dass hier Luftmaschen gehäkelt worden sind.
Ich will versuchen - auch wenn manches schon erwähnt
worden ist, aber noch nicht von jedem -, das kurz an einzelnen Punkten darzustellen.
Wir haben uns im Haushaltsausschuss - das ist für
mich, der in diesem Bereich neu ist, bemerkenswert gewesen - regelmäßig mit der Schwankungsreserve und
ihren illiquiden Mitteln auseinander gesetzt, obwohl wir
das auch schon in den letzten Legislaturperioden getan
haben. Aufgrund dessen, was ich nun auch durch die Berichte des Bundesrechnungshofs verstanden habe, bin
ich mir ziemlich sicher - ich werde nicht wetten; denn
das macht ein guter Jurist nicht -, dass wir hier erhebliche Schwierigkeiten bekommen werden, und zwar früher - das gebe ich gerne zu -, als Sie es hoffen. Auch
wenn im Haushaltsgesetz die Möglichkeit geschaffen
wird, Zuschüsse frühzeitig auszuzahlen, muss ich feststellen, dass es so viele Risiken für die Rentenversicherung gibt, dass wir nie und nimmer bis September damit
klar kommen werden.
({0}):
Wetten können Sie mit mir!)
- Wetten können Sie also mit dem Kollegen Kolb abschließen; das ist auch in Ordnung.
Schuld ist nicht nur die hohe Arbeitslosigkeit. Das ist
- hier gebe ich Ihnen Recht - einer der Gründe. Ein weiterer Grund ist - das wissen auch Sie -, dass in allen Bereichen, zum Beispiel beim Weihnachtsgeld sowie beim
13. und 14. Monatsgehalt, eingespart wird, und zwar
nicht nur im öffentlichen Dienst. Ich erwähne nur, dass
die Kommunen - theoretisch - erst 2004 das Weihnachtsgeld für 2003 auszahlen können. Sie wissen, was
das für die Schwankungsreserve bedeutet, die wesentlich
auf den auf das Weihnachtsgeld erhobenen Beiträgen beruht. Ich erinnere auch daran, dass hier in vielen anderen
Bereichen, in denen es - zum Glück - keine Tarifverträge gibt, eingespart wird, um Arbeitsplätze zu erhalten.
Wenn es so kommt, wie ich es befürchte, dann wird
das großes Misstrauen bei den Bürgern hervorrufen, die
entweder in die Rentenversicherung einzahlen oder - für
diese gilt das noch viel mehr - die Leistungen aus der
Rentenversicherung bekommen. Selbst wenn die Bürger
es nicht sofort an dem merken, was ausgezahlt wird, die
Medien werden - wir alle wissen doch, wie sehr wir von
diesen abhängig sind - darüber berichten, und zwar
manchmal auch vereinfachend. Dagegen müssen wir angehen, sei es in der Regierungsverantwortung oder in der
Funktion einer kontrollierenden Opposition.
Die Rentenbesteuerung - dies ist auch im Zusammenhang mit der Riester-Rente zu sehen - wird für Sie,
meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,
ein „wunderbares“ Problem werden, und zwar deswegen, weil Sie die Frage beantworten müssen, wie die
Förderung des Eigentums in den Bereich der Besteuerung so hineingebracht werden kann, dass der Weg zum
Eigentum, der ja wichtig ist, weiterhin offen bleibt.
Ein weiterer Punkt, an dem man sehen kann, dass im
Haushalt Luftmaschen gehäkelt worden sind, ist die
Künstlersozialkasse. Der Zuschuss mag zwar nur - das
ist ein kleiner Titel - 91 Millionen Euro betragen.
Aber auch an dieser Stelle werden wir erleben, dass für
den Zuschuss an die Künstlersozialkasse mehr Geld benötigt wird, als im Moment etatisiert ist. Das Gleiche
wird im Bereich der Beteiligung an der Bundesknappschaft gelten, und das trotz ihrer zusätzlichen Aufgaben.
Ich bin einmal gespannt, welche Zahlungen da notwendig sein werden.
Frau Lehn, ich komme nun zum - bereits angesprochenen - AAÜG. Ich sehe diesen Bereich etwas anders
als Sie. Es geht in diesem Zusammenhang einzig und
allein um die Frage, was durch den Einigungsvertrag
bestandsgeschützt ist. Der Einigungsvertrag und die
entsprechenden Begleitgesetze haben das nicht ausdrücklich geklärt. Diese Klärung nehmen vielmehr die
Gerichte in unserem Land vor.
Man muss einmal ehrlich sein: Es war das Bundessozialgericht - dort sind viele Richter tätig, die vonseiten
der SPD benannt worden sind; das ist keine Richterschelte -, das verkündet hat: Hier besteht ein Anspruch,
da besteht ein Anspruch und dort besteht ein Anspruch.
Ich kann nicht erkennen, dass die Abgeordneten aus den
neuen Bundesländern zu einer Änderung des Bestandsschutzes bereit sind. Wir können den Bestandsschutz in
diesem Punkt nicht ändern. Das heißt, wir müssen auch
auf diesem Gebiet damit rechnen, dass dem Haushaltsausschuss auch weiterhin Vorlagen zukommen, die es
mit sich bringen, dass aus dem Bundeshaushalt mehr
Geld fließen muss. Die dafür notwendigen Entscheidungen werden wahrscheinlich mit den Stimmen der FDP
herbeigeführt; das geht gar nicht anders.
Meiner Meinung nach müssen in den Einzelplan 15
schon zwei Leerstellen eingebaut werden. Ich bin gespannt, ob das bereits im Entwurf für das Haushaltsgesetz 2004, der uns im Sommer dieses Jahres vorgelegt
wird, der Fall sein wird.
Die erste Leerstelle betrifft den Steuerzuschuss für
das Mutterschaftsgeld; sofern es das überhaupt geben
wird.
Die zweite Leerstelle - das ist die letzte Luftmasche,
die ich nennen will - betrifft den Steuerzuschuss für die
Pflegeversicherung. Zu einem solchen Zuschuss mag es
im nächsten Jahr noch nicht kommen. Die Spezialisten
sagen, ein solcher Zuschuss werde 2006 oder 2007 nötig
sein. Aber in anderen Bereichen haben sich die Spezialisten, wie Sie selbst wissen, auch schon einmal geirrt.
Warum sollten sie sich nicht auch in dieser Frage irren?
Bei der Pflegeversicherung - das sage ich selbstkritisch auch in Richtung meiner eigenen Partei - haben wir
Fehler gemacht. Wir haben damals die Kapitaldeckung
der Pflegeversicherung gegen die CDU nicht durchsetzen können.
({1})
Ich bitte Sie: Gehen Sie in sich! Versuchen Sie wenigstens bei dieser Säule unseres sozialen Sicherungssystems
auf die Kapitaldeckung umzuschwenken!
Die Generation, zu der ich gehöre - sie wird oft als
„Generation Golf“ bezeichnet -, ist wohlbehütet groß
geworden. Das will ich gar nicht bestreiten. Es ist uns
gut gegangen. Man hat wenig Bedrohung empfunden.
Der Sozialstaat funktionierte weitgehend und man
dachte, es gehe so weiter. Es geht so aber nicht weiter; es
ist schwieriger geworden. Diese Generation trägt die
Hauptlast. Sie muss nämlich dafür sorgen, dass die Rentenversicherung reformiert wird und dass die Schulden,
die wir alle angehäuft haben, getilgt werden ({2})
unabhängig von der Frage, wer die Schuld daran trägt.
Ich komme zum Schluss. Früher, meine Damen und
Herren von der Opposition, galt die FDP, wenn sie gesagt hat: „Die Rente ist unsicher“, als böser Bube, der in
die Ecke gestellt worden ist. Heute werden diejenigen in
die Ecke gestellt, die sagen: „Die Rente ist sicher.“
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Fricke, Ihnen ist es vielleicht gut gegangen. Dass es der
ganzen Generation, die Sie auch noch als „Generation
Golf“ bezeichnet haben, gut gegangen ist, weise ich als
Mitglied derselben Generation - ich bin Jahrgang 1966 zurück. Es ist durchaus nicht allen gut gegangen. Auf
diejenigen, denen es nicht immer gut geht, konzentrieren
wir uns trotz der jetzt notwendigen Reformen. Ich
glaube, das ist der Unterschied zwischen uns beiden.
({0})
Nicht erst seit letztem Freitag war und ist klar: Die
Sicherung der Zukunft der Sozialsysteme, die Entlastung
des Faktors Arbeit und die Hebung von Wirtschaftlichkeitsreserven in den Sozialsystemen erfordern Schritte,
die man nicht leichten Herzens geht.
({1})
Die Koalition hat Einzelmaßnahmen auf den Tisch gelegt und viele dieser Maßnahmen sind natürlich kein Anlass für Bravorufe und Begeisterung. Das haben der
Kanzler und auch unsere Fraktionsvorsitzende Krista
Sager ganz richtig festgestellt.
({2})
- Ja, Sie freuen sich darüber.
Uns ist sehr wohl bewusst: Etwa die Ausgliederung
des Krankengeldes aus der gesetzlichen Krankenversicherung oder die Kürzung des Niveaus der Arbeitslosenhilfe ist nur vermittelbar, wenn man sich erstens das Ziel
dieser Schritte vor Augen hält und zweitens eine Perspektive konkreter Chancen für diejenigen eröffnet, die
auf die Leistungen des Sozialstaats angewiesen sind.
({3})
Beides, Ziel und Perspektive, haben wir im Blick.
Es ist unser Ziel, die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme nicht allein auf abhängige Beschäftigung zu stützen. Mit der Riester-Rente haben wir einen
ersten Schritt getan. Neben der faktischen Inanspruchnahme darf man auch die Symbolwirkung des Einstiegs
in dieses zusätzliche Sicherungssystem nicht unterschätzen. Wenn dieser Einstieg vorher gelungen wäre - Sie
haben ihn in Ihrer Regierungszeit nicht geschafft -, dann
wären wir bei der Entwicklung und Entfaltung dieses
Systems jetzt vielleicht insgesamt schon viel weiter. Diesem Zusammenhang sollten Sie sich einmal stellen.
Wir müssen auch eine Perspektive bieten. Wir wollen
denjenigen Menschen, die zuvor etwa als Sozialhilfebeziehende nur begrenzten Zugang zur Sozialversicherung,
zur Arbeitsvermittlung und zu Maßnahmen der aktiven
Arbeitsmarktpolitik hatten, Angebote machen. Klar ist:
Wir müssen unsere Anstrengungen verstärken, um die
Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass auch die
Schwächsten in unserem Land wieder eine Chance auf
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und auch auf Teilhabe am Erwerbsleben haben. Wir haben schon bei der
Politik für Menschen mit Behinderungen, die ich hier
bereits mehrfach als beispielhaft bezeichnet habe, erfolgreich auf Teilhabe statt auf Ausgrenzung gesetzt. Diese
Philosophie des SGB IX, des Neunten Buches Sozialgesetzbuch, muss meiner Ansicht nach auch in anderen
Bereichen der Sozialpolitik als Richtschnur dienen.
Ziel unserer Politik muss es sein, allen Menschen eine
unabhängige Lebensführung zu ermöglichen. Staatliche Unterstützung hat sich in den Dienst genau dieser
Aufgabe, der Ermöglichung einer unabhängigen Lebensführung, zu stellen. Transferleistungen - das sage ich an
Ihre Adresse - sind auch im Dienst dieser Aufgabe zu
sehen, und zwar nicht allein in der Höhe, sondern auch
als Bestandteil eines kompletten Pakets von Angeboten,
um Menschen zu aktivieren und ihnen eine unabhängige
Lebensführung zu ermöglichen. Ansonsten sind Eigenverantwortung und Selbstbestimmung, von denen immer
so viel geredet wird, nur Worthülsen.
({4})
An dieser Stelle frage ich mich, welche Handlungsspielräume uns Sozialpolitikern noch bleiben, wenn einige Arbeitgeberfunktionäre oder auch Herr Stoiber der
Debatte eine Reformlogik aufzwingen wollen, in der die
Wirksamkeit einer Reform nur noch an der Schmerzhaftigkeit ihrer sozialen Einschnitte gemessen wird. Ich
würde mir wünschen, der Exkanzlerkandidat der Union
könnte mir einmal plausibel erklären, welches Ziel mit
einer pauschalen Kürzung der Sozialhilfe für Arbeitsfähige um 25 Prozent erreicht werden soll, außer dem Ergebnis, dass damit ganze Familien unter die Armutsgrenze getrieben werden. Man muss sich einmal klar
machen, was das bedeutet! Das Niveau der Sozialhilfe
beschreibt das soziokulturelle Existenzminimum. Dessen Gewährung stellt meiner Auffassung nach den unantastbaren Kern des Sozialstaatsgebotes unserer Verfassung dar. Darüber, finde ich, sollten wir uns in diesem
Haus schon einig sein. Ich bin auch sehr froh darüber,
dass sich Herr Seehofer in dieser Frage klar gegen den
bayerischen Ministerpräsidenten stellt und mit beiden
Beinen auf dem Boden der Verfassung steht.
Wenn Herr Stoiber schon die gezielte Verarmung als
Sparstrategie empfiehlt, dann sollte er auch so ehrlich
sein, in seiner Modellrechnung die gesellschaftlichen
Folgekosten mit einzubeziehen. Ich kann Ihnen prophezeien: Lateinamerikanische Verhältnisse verkraftet unsere Gesellschaft ohne gleichzeitigen Zuwachs an Kriminalität oder an politischem Extremismus nicht.
({5})
Eine solche Entwicklung würde letztlich richtig teuer
werden.
Im Übrigen ist die Annahme, Sozialhilfe beziehende
Personen seien arbeitsunwillig - dazu muss ich doch
noch kurz ausholen -, empirisch nicht eindeutig belegt;
denn immerhin sind bereits 15 bis 20 Prozent der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger - das sind rund
150 000 Personen, zumeist Haushaltvorstände - regulär
erwerbstätig und beziehen ergänzende Sozialhilfe. Wir
müssen des Weiteren sehen, dass Familien mit Kindern
im Durchschnitt weniger lange Sozialhilfe beziehen als
Alleinstehende, und zwar ganz erheblich weniger lange.
Unterstellt man aber die Logik der so genannten Sozialhilfefalle - Roland Koch und Edmund Stoiber bemühen
diese gern -, dann müsste das genaue Gegenteil festzustellen sein.
({6})
- Den beziehe ich mit ein. - Von vielen wird vorgerechnet, gerade bei Bedarfsgemeinschaften mit Kindern
würde sich die Arbeitsaufnahme nicht lohnen, weil für
sie der Anspruch auf Transferzahlung so hoch sei. Wir
sehen aber, dass sich diese bemühen, aus der Sozialhilfe
herauszukommen. Diese Hängemattenideologie trägt bei
Betrachtung der Realität also offensichtlich nicht sehr
weit.
({7})
Ich würde mir wirklich wünschen, dass wir unsere
Debatte über die Schwächsten in unserer Gesellschaft
endlich wieder sachlich führen. Nehmen wir uns die
Freiheit und den Mut, einmal wieder positiv über eine
Politik der sozialen Gerechtigkeit zu debattieren! Versuchen wir doch einmal, uns nicht gegenseitig mit Kürzungsvorschlägen zu überbieten, sondern machen wir
uns die Mühe, die Politik von ihrem Ende her zu denken. Beantworten wir ehrlich die Frage, welche Gesellschaft wir durch unsere Politik schaffen wollen und in
welchen Verhältnissen wir im Jahre 2010 leben wollen.
Bündnis 90/Die Grünen übernehmen da Verantwortung.
Danke.
({8})
Bevor nun die Kollegin Widmann-Mauz die Aussprache fortsetzt, hat der Kollege Fricke um eine Kurzintervention gebeten.
Herr Kollege Kurth, ich fand es schon etwas platt,
dass Sie bei der Frage, ob es einem gut gegangen ist oder
nicht, auf das Materielle abgehoben haben. Aus meiner
Lebensüberzeugung heraus ist auch das Materielle sicherlich ein nicht unerheblicher Punkt; aber ich glaube,
dass bei der Frage, ob es einem gut geht oder nicht, das
Immaterielle, das Seelische viel wichtiger ist. Sie wissen
nicht, wie meine Zeit war; ich weiß nicht, wie Ihre Zeit
war. Ich kann nur eines sagen: Ich befinde mich als junger Familienvater, wenn ich mir überlege, was die Zukunft für meine Kinder bedeutet, durchaus in einer Reflexion, die mich sehr unsicher macht. Ich glaube, dass
das entsprechend für die Generation, die jetzt kommt,
gilt.
({0})
Zur Erwiderung, bitte schön.
Dass es um Ihre seelische Gesundheit ging, als Sie davon gesprochen haben, dass es Ihnen gut geht, wurde aus
Ihren Ausführungen so nicht erkennbar.
({0})
- Es ging um den Golf, genau. - Es ging um Ihre zukünftigen bzw. jetzigen Belastungen. Sie haben versucht, die
Generationen gegeneinander auszuspielen.
({1})
Genau auf dieses Spiel sollten wir uns nicht einlassen.
Wir sollten neben der Gerechtigkeit zwischen den Generationen nicht die Gerechtigkeit innerhalb der verschiedenen Lebensalterskohorten vergessen.
Ich glaube, wir kommen nur zu einer Gesamtbetrachtung, wenn wir die verschiedenen Komponenten von
Gerechtigkeit - dazu gehören Verteilungsgerechtigkeit,
Zugangsgerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit und Gerechtigkeit zwischen den Generationen ({2})
in ihrer Dimension gleichberechtigt betrachten. Ich habe
ganz erhebliche Zweifel, dass Sie zu dieser gleichgewichtigen und übersichtlichen Betrachtung überhaupt in
der Lage sind.
({3})
Nun hat die Kollegin Widmann-Mauz, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wenn Hans Eichel einen Haushalt vorlegen will, der die
Maastricht-Kriterien erfüllt, muss Ulla Schmidt endlich
handeln. Die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ist ein ganz wesentlicher Beitrag, um die Lohnnebenkosten zu senken, die Wirtschaft zu stärken, Menschen wieder in Arbeit zu bringen und den Haushalt zu
entlasten. Frau Schmidt, Sie sind unser Maastricht-Problem. Gerhard Schröder hat dies erkannt, nur Sie ringen
leider noch mit sich.
Um ganz nüchtern die Bilanz aufzumachen, wo wir in
der gesetzlichen Krankenversicherung stehen, ist es notwendig, noch einmal darzustellen, wie hoch die Verschuldung der Kassen eigentlich ist: Defizit im Jahr
2001 3 Milliarden Euro, im Jahr 2002 3 Milliarden Euro.
Das ist also ein Minus von insgesamt 6 Milliarden Euro,
und das trotz einer Welle von Beitragssatzanhebungen
seit 2001 um mehr als 0,7 Beitragssatzpunkte auf aktuell
14,4 Prozent - Tendenz steigend.
Hinzu kommt: Die Kassen sind massiv verschuldet.
2 Milliarden Euro Schulden in 2002; der Schätzerkreis
hat es gerade bestätigt.
Das ist die Bilanz Ihrer völlig verfehlten Wirtschafts-,
Arbeits- und Gesundheitspolitik.
({0})
Die Leidtragenden sind uns ja bekannt: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Patientinnen und Patienten. Sie
alle zahlen immer höhere Beiträge und bekommen eine
immer schlechtere Versorgung.
Auch das Beitragssatzsicherungsgesetz hat mit den
Minusrunden und Zwangsrabatten nicht zu stabilen Beiträgen geführt. Im Gegenteil, es hat desaströse Konsequenzen für die Versorgung in den Leistungsbereichen.
Ursächlich für diese desolate Situation ist Ihre Politik.
Das Ganze kam ja nicht über Nacht, sondern hat sich
längst abgezeichnet, aber Sie wollten es nie wahrnehmen. Nach den Debattenbeiträgen, die wir von der SPD
bisher gehört haben, scheint mir, dass Sie es nach wie
vor nicht wahrnehmen wollen, obwohl der Sachverständigenrat ein neues Gutachten vorgelegt hat. Frau KühnMengel, ich empfehle Ihnen, dieses Gutachten zu lesen;
denn es macht durchaus deutlich, dass wir das Problem
in der gesetzlichen Krankenversicherung bei den konjunkturellen und strukturellen Wachstumsschwächen der
Finanzierungsgrundlagen sehen müssen. Dies resultiert
aus einem unterdurchschnittlichen Anstieg der Arbeitsentgelte und der steigenden Zahl von Arbeitslosen.
Das heißt aber umgekehrt, ohne Reformmaßnahmen
werden wir keine Stärkung der Finanzierungsbasis in der
gesetzlichen Krankenversicherung erreichen. Dies verkennen Sie, Frau Schmidt, nach wie vor. Ihr Lachen
zeigt es wieder deutlich. Es reicht eben nicht aus, nur
besser zu wirtschaften. Sie müssen die Finanzbasis stärken, sonst haben Sie keine Chance.
Der Sachverständigenrat sagt es Ihnen deutlich. Er
schreibt es Ihnen ins Stammbuch. Der Hinweis auf bestehende Unter-, Über- und Fehlversorgung vermag die
anstehenden Finanzierungsprobleme kurzfristig nicht zu
lösen und auch mittelfristig lediglich abzumildern. Sie
haben dies kontinuierlich ignoriert und bestritten. Sie
verfolgen auch seit Jahr und Tag, seit Sie im Amt sind,
eine allein auf die Ausgabenseite konzentrierte Politik.
Wenn die wenigstens systematisch wäre, könnte man
Verständnis haben. Aber mit Ihren Entscheidungen verschlechtern Sie die Versorgung und führen zu finanziellen Mehrbelastungen. Die Stichworte Bürokratie, DRGs,
DMPs, Aut-idem-Regelung, Zwangsrabatte, Positivlisten und staatliche Anstalten, die Sie planen, sind die
Fortsetzung und das Perpetuum Ihrer Politik.
Der Bundeskanzler hat jetzt erkannt, dass es Zeit ist,
umzusteuern. Er hat deutlich gemacht, dass Sie Ihren
Aufgaben nicht gewachsen sind. Er hat Ihnen am letzten
Freitag offensichtlich das Heft aus der Hand genommen.
Zum wiederholten Mal hat er Ihnen am letzten Freitag
ins Stammbuch geschrieben, was die Inhalte einer
Gesundheitsreform sein müssen. Wir stellen fest: Beim
Bundeskanzler ist ein Sinneswandel zu verzeichnen. Der
Anfang ist angekündigt, das Ende aber mehr als offen.
Es ist ja auch klar. Ottmar Schreiner bringt es so
schön auf den Punkt, wenn er sagt: Die Maßnahmen, die
vorgeschlagen sind, stehen im Widerspruch zu dem, was
wir im Wahlkampf gesagt haben. - Deshalb tut es so unendlich weh und ist das Schweigen in Ihren Reihen teilweise so unendlich groß. Wir haben durchaus Zweifel an
der praktischen Umsetzung. Manche von Ihnen bringen
es auf den Punkt, indem sie sagen: Ja, was ist denn damals bei Hartz am Ende noch übrig geblieben? Oskar
Lafontaine ruft bereits zum Generalwiderstand auf.
({1})
- Ja, Herr Dreßen, Sie bereichern die Debatte ja auch um
nette Zitate.
Sie, Frau Schmidt, ringen nach wie vor mit der Umsetzung. Bleiben Sie dabei, wie Sie einmal so schön gesagt haben, dass es eine Lebensgefahr für unseren Sozialstaat bedeute oder ökonomischer Unsinn sei, wenn
ein Teil der Beiträge in kapitalgedeckte Zusatzversicherungen investiert wird. So haben Sie dies zuletzt beim
Bundeskongress der Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokraten im Dezember letzten Jahres gegeißelt.
Man darf gespannt sein, ob die SPD ihrem Kanzler
bedingungslose Gefolgschaft leistet. Wird denn eins zu
eins umgesetzt oder wird der Kanzler von seiner eigenen
Truppe wieder weich gespült? Dass Skepsis in Ihren Reihen herrscht, haben wir letzte Woche gemerkt. Da
braucht man nicht einmal auf die Beiträge von Kollegen
wie Herrn Dreßen oder Herrn Schösser näher einzugehen.
Wir von der Union würden es begrüßen, wenn auch in
der SPD eine echte Reformbereitschaft zum Durchbruch käme. Wir von der Union haben bereits vor Wochen unsere Vorschläge klar formuliert. Wir sind froh,
dass der Kanzler erkannt hat, dass die Union die besseren Konzepte hat. Sie, Frau Schmidt, sind noch lange
nicht so weit. Das wissen und spüren wir. Deshalb habe
ich große Zweifel, ob aus Ihnen einmal ein echter Horst
Seehofer werden wird.
({2})
Wir haben eine anspruchsvolle Aufgabe vor uns. Wir
müssen ganze Leistungsblöcke aus der gesetzlichen
Krankenversicherung ausgliedern. Wir müssen versicherungsfremde Leistungen umfinanzieren und eine stärkere Eigenbeteiligung der Versicherten und der Patienten
einfordern. Nur so schaffen wir es, den Arbeitgeberbeitrag auf einem niedrigeren Niveau zu stabilisieren. Bei
der grundsätzlich richtigen Auswahl der Instrumente,
wie wir sie in der letzten Woche gehört haben, verhehle
ich allerdings nicht, dass wir bei einzelnen Vorschlägen
des Kanzlers doch ganz erhebliche Probleme haben.
Lassen Sie mich das an dem Beispiel des Krankengeldes deutlich machen. Die Herausnahme des Krankengeldes aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung, so wie es der Kanzler vorgeschlagen
hat, und eine private Absicherung führen an mehreren
Stellen zu größeren Bedenken. Die private Krankenversicherung kalkuliert die Prämien risikoäquivalent, was
zur Folge hat, dass ältere Menschen, chronisch Kranke
und Personen mit Vorerkrankungen kaum einen bezahlbaren Versicherungsschutz finden werden.
Will man diese Personengruppen in den Versicherungsschutz einbeziehen, müsste die Absicherung des
Krankengeldes über Pauschalprämien verpflichtend gemacht werden.
({3})
Die Weigerung der privaten Krankenversicherungen,
dem Ministerium entsprechende Angebote zu unterbreiten, zeigt deutlich, wie wenig Interesse an diesem Geschäft besteht.
({4})
Bliebe also die Absicherung des Risikos durch die gesetzliche Krankenversicherung, allerdings ausschließlich
aus Mitteln der Versicherten. Da aber die Rentner nicht
mehr mit Arbeitsunfähigkeit konfrontiert werden können, haben sie keinen Anlass, eine Zusatzversicherung
zur Absicherung des Krankengeldes abzuschließen. Bisher sind aber die Beiträge der Rentnerinnen und Rentner
auch in die Finanzierung des Krankengeldes geflossen.
Sie könnten also mangels Leistungsanspruchs nicht
mehr zur Beitragszahlung verpflichtet werden. Das heißt
umgekehrt, dass die Absicherung insgesamt teurer wird,
und zwar von 150 auf 218 Euro pro Mitglied, wie uns
dieser Tage vorgerechnet wird.
Darüber hinaus würden die gesetzlichen Krankenkassen gerne bei der Tarifausgestaltung auch die Leistungshöhe und die Bezugsdauer berücksichtigen. Das führt
aber zu einer Benachteiligung der gewerblich Beschäftigten gegenüber den Angestellten im Dienstleistungsgewerbe. Wir haben nämlich keine einheitlichen Tarifverträge in unserem Land. Der Malocher, wie es so schön
heißt, in der Metallindustrie müsste sein Risiko bereits
ab der 42. und der Angestellte im Dienstleistungsbereich
erst ab der 48. Krankheitswoche absichern. Der Malocher müsste also höhere Prämien zahlen als der Angestellte im Dienstleistungsbereich.
({5})
Sagen Sie uns einmal ganz offen, ob Sie sich wieder
an einer Ungleichbehandlung der abhängig Beschäftigten im Vergleich zu den Beamtinnen und Beamten in unserem Land beteiligen wollen, wie Sie es beim Sterbegeld schon einmal getan haben? Die Beamtinnen und
Beamten brauchen nämlich kein Krankengeld, weil sie
nach dem Alimentationsprinzip davon nicht abhängig
sind.
Diese Probleme zeigen, dass es an dieser Stelle große
Schwierigkeiten gibt. Die Frage wird sein, ob das Kanzlerwort, das letzte Woche gesprochen wurde, nicht schon
jetzt in sich zusammenfällt. Oder hat er die Konsequenzen, als er hier am Rednerpult stand, einfach nicht gekannt? Diesem Spott müsste sich Gerhard Schröder gar
nicht aussetzen, wenn er das täte, was bei den Fachleuten
unumstritten ist. Warum bleiben Sie denn auf halbem
Weg stehen? Oder anders gefragt: Warum können Sie
nicht über Ihren Schatten springen? Sie selbst haben
Hürden aufgebaut, die sachlich nicht gerechtfertigt sind.
Entgegen der Behauptung des Bundeskanzlers hat die
Absicherung des Zahnersatzes mit 5 DM weder zu einer
Überforderung der Versicherten noch zu einer schlechteren Mundgesundheit der Kinder geführt. Im Gegenteil:
Es war eine der erfolgreichsten Maßnahmen.
Anders als bei der Herausnahme von Unfällen verhält
es sich bei der Herausnahme der Zahnbehandlung. Hier
gibt es keine Abgrenzungsprobleme, sondern eine klare
Zuordnung der Zuständigkeiten. Verschiebebahnhöfe sind
weitgehend ausgeschlossen. Zudem weist der Bereich der
Zahnbehandlung ein Volumen von 11 Milliarden Euro
auf. Das entspricht einem Entlastungsvolumen von
1,1 Beitragssatzpunkten. Die Herausnahme würde zu einer spürbaren Entlastung der lohnbezogenen Beiträge in
der gesetzlichen Krankenversicherung führen. Eigenverantwortung und Prävention sind in diesem Bereich am
ehesten möglich. Die Versicherten können durch ein verantwortliches Verhalten die Beiträge entscheidend mit beeinflussen.
({6})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme damit zum Schluss. - Es ist doch im
Grunde nicht länger einzusehen, dass wir unsere Kinder
und Enkelkinder mit höheren Beiträgen belasten und damit ganz entscheidend zu Nachteilen in der gesetzlichen
Krankenversicherung beitragen, nur weil unsere Generation zu faul zum Zähneputzen ist. Es gäbe noch vieles zu
erläutern; der Kollege Zöller wird dies nachher fortsetzen.
Sie kommen insgesamt in der Kombination Ihrer Vorschläge, was die versicherungsfremden Leistungen anbelangt, nicht zu dem Entlastungsvolumen, das Sie brauchen, um das gesteckte Ziel eines Beitragssatzes von
13 Prozent überhaupt zu erreichen.
Wir haben Ihnen Vorschläge vorgelegt. Diskutieren
Sie darüber mit uns vorurteilsfrei und ideologiefrei!
Bringen Sie einen schlüssigen Gesetzentwurf in den
Deutschen Bundestag ein! Dann werden wir unsere Verantwortung wahrnehmen und Gespräche nicht verweigern.
({0})
Nun hat die Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung, Frau Schmidt, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Widmann-Mauz, Sie machen mich manchmal sehr
unsicher. Ich frage mich, ob Sie nicht heimlich Mitglied
der SPD geworden sind. Es ist schon das zweite Mal,
dass Sie aus SPD-internen Briefen mit der Überschrift
„Liebe Genossen!“ usw. zitieren. Ich habe das, was Sie
angesprochen haben, nicht gesagt. Man sollte Aussagen
nicht aus dem Zusammenhang reißen. Es wäre also
schön, wenn Sie mir das nächste Mal Ihre Informationen
geben würden.
Es kommt darauf an, was privat abgesichert werden
soll. Das medizinisch Notwendige kann nicht ergänzend
abgesichert werden. Denn die Privatversicherungen nehmen Menschen mit Vorerkrankungen nicht auf. Dass wir
ein Gesundheitssystem haben, in dem alle Menschen unabhängig von ihrem Geldbeutel und ihren Vorerkrankungen sämtliche Leistungen erhalten, ist eine große Errungenschaft, die wir gemeinsam fortsetzen sollten.
({0})
Es geht nicht, einzelne Risiken, die auch medizinisch
Notwendiges umfassen, aus dem Leistungskatalog der
gesetzlichen Krankenkassen herauszunehmen und privat zu versichern. Denn diejenigen Menschen, die krank
sind, oder diejenigen, die schon krank zur Welt kommen,
hätten keine Chance, sich versichern zu lassen, bzw.
müssten, weil Leistungen im Krankheitsfall kaum bezahlbar wären, sehr viel Geld haben. Wenn das mit dem
von Ihnen Zitierte in Einklang steht, dann habe ich das
gesagt; dazu stehe ich.
({1})
Lassen Sie mich aber an diesem Tag zunächst einmal
Dank sagen für die gute Zusammenarbeit, die wir trotz
einiger Differenzen mit den Mitgliedern des Haushaltsausschusses hatten. Am heutigen Tag gilt mein besonderer Dank den Berichterstattern im Haushaltsausschuss
für meinen Geschäftsbereich: Frau Lehn, Frau Hajduk,
Herrn Luther und Herrn Fricke. Wir haben zwar Kontroversen gehabt; wir haben uns aber immer wieder geeinigt. Ich glaube, dass der Haushalt, der heute vorliegt,
eine sehr gute Grundlage für mein Ministerium und die
Arbeit ist.
({2})
Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden,
dass wir uns im Moment in sehr schwierigen Zeiten befinden. Der Kollege Luther hat gesagt, wir seien heute in
einer Situation, in der man sich manchmal frage, ob
mancher Streit, den wir hier führen, eigentlich angemessen ist. Die Menschen - auch wir - sind unsicher, weil
sie nicht wissen, was in den nächsten Stunden passiert.
Trotzdem müssen wir unsere Aufgaben erfüllen; da haben Sie vollkommen Recht.
Wir alle wissen, dass sich in der letzten Zeit die Prognosen zur Beschäftigung, zur Wirtschaftsentwicklung
und zum Wachstum manchmal von Woche zu Woche
verändert haben. Gerade angesichts der schwierigen Situation, in der wir uns befinden, kommt es, wenn wir die
sozialen Sicherungssysteme erhalten, stärken und zukunftsfest machen wollen, darauf an, gemeinsam nach
Wegen zu suchen, damit die Generation, die nach uns
kommt, sich darauf verlassen kann, dass in diesen Zeiten
des Wandels, in denen wir von den Menschen sehr viel
Mobilität einfordern, Sicherheit besteht und niemand in
diesem Staat allein gelassen wird, wenn er in Not ist. Ich
glaube, darauf können wir uns alle verständigen.
({3})
Das wichtigste Ziel im Hinblick auf die Beitragssatzentwicklung und die Risiken in den sozialen Sicherungssystemen ist, Beschäftigung zu schaffen. Hierzu hat der
Bundeskanzler am vergangenen Freitag eine Vielzahl
von Vorschlägen gemacht, zum Beispiel zur Zusammenführung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe, zu
Veränderungen im Zusammenhang mit dem Bürokratieabbau und der mittelständischen Wirtschaft sowie zum
Gesundheitswesen und zur Rente. Die Sozialpolitik kann
keine Arbeitsplätze schaffen. Aber wir müssen schauen,
wie wir den Faktor Arbeit entlasten müssen, und wir bei
der Neuorganisation der Systeme folgende Fragen beantworten: Was gehört zum paritätisch finanzierten Teil eines Sozialversicherungssystems? Was sind gesamtgesellschaftlich notwendige Aufgaben, die erledigt werden
müssen? Wo kann man den Menschen zumuten, etwas
individuell, privat abzusichern? Das muss nicht immer in
einer privaten Versicherung erfolgen, Frau WidmannMauz, sondern man kann auch andere Wege gehen. Man
könnte zum Beispiel das Krankengeld in der gesetzlichen Krankenversicherung belassen, es aber aus der paritätischen Finanzierung herausnehmen, sodass die Arbeitnehmer diesen Teil selber zahlen, weil auf der
anderen Seite die Arbeitgeber die sechs Wochen Lohnfortzahlung auch allein zahlen. So etwa könnten wir es
organisieren.
Ich glaube, es wird darauf ankommen, das Solidarprinzip nicht außer Kraft zu setzen. Deshalb sind wir
gefordert, Regelungen zu finden, die sehr nahe bei den
Menschen sind. Das gilt für die Absicherung des Krankengeldes genauso wie für Leistungen aus der Unfallversicherung. Wir müssen eine Regelung finden, die risikounabhängig allen gleiche Chancen bietet, wenn sie auf
Krankengeld angewiesen sind, auch Leistungen zu bekommen. Dasselbe würde für Leistungen nach einem
Unfall und auch für die Zahnbehandlung gelten, um
diese drei Blöcke einmal zu nennen. Die Menschen müssen unabhängig vom individuellen Risiko durch das Solidarsystem abgesichert sein. Sie müssen in diesen Fällen
notwendige Leistungen unabhängig von der Frage der
individuellen Leistungsfähigkeit bekommen. Das ist die
Herausforderung, die wir annehmen.
({4})
Die Reform wird sich auch dadurch auszeichnen, dass
wir schmerzhafte Einschnitte, die gemacht werden müssen, um die Lohnnebenkosten zu senken, so absichern,
dass sie für die Menschen verkraftbar sind.
Beim Krankengeld müssen wir selbstverständlich
darauf achten, dass die Verkäuferin, die bei Aldi beschäftigt ist und nur sechs Wochen Lohnfortzahlung hat, nicht
schlechter gestellt wird als der Beschäftigte im öffentlichen Dienst, der nach zehn Jahren Zugehörigkeit erheblich länger Anspruch auf Lohnfortzahlung hat. Deshalb
kann der Weg nur sein, in der gesetzlichen Krankenversicherung nach solidarischen Regelungen zu suchen. Damit entlasten wir den Faktor Arbeit und sichern gleichzeitig die Menschen so ab, dass sie im Falle einer
Krankheit nicht auf Sozialhilfe angewiesen sind, weil ihnen kein Krankengeld mehr gezahlt wird. Ich glaube, das
ist der Weg, den wir gemeinsam gehen sollten.
({5})
Unser Ziel ist, den Beitragssatz in der GKV auf unter
13 Prozent zu senken. Sie wissen alle, dass das ein sehr
ehrgeiziges Ziel ist. Bei allen Entwicklungen in diesem
Jahr und auch bei Veränderungen, die im Bereich von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe beschlossen werden, um
mehr Beschäftigung zu schaffen, müssen wir immer beachten, dass sie auch zu Einnahmeausfällen in den sozialen Sicherungssystemen führen können. Das wissen Sie
und das weiß ich auch. Wenn wir dieses Ziel erreichen
wollen, dürfen wir nicht nur auf die nackten Zahlen sehen,
sondern müssen ein Gesamtpaket auf den Weg bringen.
Wir müssen über die Frage der Strukturreform diskutieren. Jeder weiß: Es kann in diesem System nicht
mehr so weitergehen wie bisher. Wir müssen dafür sorgen, dass das Geld der Versicherten effektiv und effizient
eingesetzt wird, dass es genau da ankommt, wo es eigentlich hingehört.
({6})
Dabei werden wir uns mit vielen Lobbyistengruppen in
diesem Lande anlegen müssen; das haben wir heute
Morgen gesehen.
({7})
Es wird schwierig, einen Beitragssatz von unter
13 Prozent zu fordern und gleichzeitig die Apothekerschaft und die Ärzte außen vor zu lassen und bei den
Krankenhäusern alles zurückzunehmen nach dem Motto:
Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. Nach
dieser Methode werden wir keine Gesundheitsreform auf
den Weg bringen, sondern Belastungen fördern.
({8})
Wir müssen vielmehr jeden in diesem System verpflichten, zu fragen: Was kann ich dazu beitragen, dass wir mit
den Geldern der Versicherten sparsam umgehen? Wenn
ich „jeder“ sage, meine ich auch jeden: die Versicherten,
die Patienten genauso wie die Ärztinnen und Ärzte sowie die Apotheker und andere, etwa die, die im Bereich
von Heil- und Hilfsmitteln Leistungen erbringen. Wenn
wir die Über-, Unter- und Fehlversorgungen konsequent
abbauen und Strukturen, die dazu verleiten, dass etwas
doppelt und dreifach gemacht wird, beseitigen, dann ist
dies erst die Voraussetzung dafür, Herr Thomae, dass wir
die Menschen, die in diesem System arbeiten, auch künftig für ihre Arbeit anständig und angemessen bezahlen
können. Wir dürfen das Geld nicht mehr für Dinge ausgeben, die nicht nötig sind.
({9})
Diesen Weg müssen wir gehen. In diesem Zusammenhang müssen wir - da haben Sie völlig Recht - auch mit
dem derzeitigen Honorarverteilungssystem Schluss machen. Man muss eine verlässliche, planbare Vergütung
mit Pauschalen auf den Weg bringen; anderenfalls bleiben die Strukturen, wie sie sind, die Versorgungsbereiche weiterhin voneinander abgegrenzt. Das wollen wir
nicht mehr. Ich hoffe auf Ihre Zustimmung, wenn wir
dieses Thema angehen werden.
({10})
Der Kollege Spahn sprach vorhin davon, es müsste
klar gesagt werden, wohin die Reise geht. Auch Sie wollen unter oder auf 13 Prozent kommen.
Frau Widmann-Mauz, Sie haben einen Antrag vorgelegt, in dem es heißt, Sie wollten den Großhandelsrabatt wieder rückgängig machen; die 600 Millionen
Euro Entlastung sollen also wegfallen.
({11})
Außerdem haben Sie einen Verzicht auf alle Nullrunden
beschlossen. Drittens sagt der Kollege Seehofer, der
heute nicht hier ist, man müsse bei den Glaspalästen der
Krankenkassen etwas machen, während zugleich im
Bundesrat eine Nullrunde auch für die Verwaltungsausgaben der Krankenkassen blockiert wird.
({12})
Mit all diesen Forderungen kommen wir wieder auf
eine Belastung von vielleicht 2 Milliarden Euro; das sind
0,2 Prozent. Dadurch würde es noch viel schwieriger,
auf einen Beitragssatz von 13 Prozent zu kommen. Aber
nachdem Sie jetzt erklärt haben, Sie wollten diesen Weg
mit uns gemeinsam gehen, hoffe ich, dass Sie sich dafür
einsetzen, dass wir einen Schritt nach vorn kommen.
Dies gilt auch für die hochpreisigen Arzneimittel. Frau
Widmann-Mauz, Sie sitzen lange genug im Gesundheitsausschuss und wissen, dass rund 70 Prozent neu eingeführter hochpreisiger Arzneimittel keine medizinischen
Innovationen sind und nicht gegeben werden müssen,
weil es vergleichbare, aber kostengünstigere Arzneimittel
gibt. Nur rund 30 Prozent dieser Arzneimittel stellen
wirkliche Innovationen dar. Wenn wir die Innovationen
und den mit ihnen verbundenen zusätzlichen Nutzen auf
Dauer für alle sicherstellen wollen, dann müssen wir verhindern, dass Arzneimittel ohne zusätzlichen Nutzen zu
dreimal so hohen Kosten abgegeben werden. Anders
werden wir nicht schaffen, was wir uns vorgenommen
haben. Hier darf man es sich nicht zu leicht machen.
({13})
Der dritte Punkt, den ich noch ansprechen möchte, ist die
Steuerfinanzierung, die vom Kollegen Luther kritisiert
worden ist, wenn ich es richtig in Erinnerung habe. - Manchmal lese ich auch das, was meine Kolleginnen und Kollegen
aus der CDU/CSU schreiben. - Ich dachte immer, dass wir
uns in diesem Punkt einig sind, weil wir dies alles schon
lange fordern. Ich bin sehr froh, dass uns jetzt der Einstieg gelingen wird, den wir bei der Rente bereits geschafft haben.
Herr Kollege Luther, es geht nicht um eine Steuerfinanzierung der Rente. Was haben wir gemacht?
({14})
In den letzten zehn Jahren waren wir uns in diesem
Hause immer einig, dass dies der richtige Weg ist. Wir
haben gesagt: Es gibt Leistungen, die die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler zahlen müssen, und es gibt
Leistungen in unserem sozialen Sicherungssystem, bei
denen es ungerecht wäre, sie nur von Arbeitgebern sowie
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zahlen zu lassen.
Solche gesamtgesellschaftlichen Leistungen müssen daher über Steuern finanziert werden. Zum Beispiel zahlen
wir bei der Rente knapp 12 Milliarden Euro über Steuern,
damit Mütter oder Väter - in der Regel sind es Mütter für die ersten drei Jahre der Kindererziehung Beitragszeiten in der Rentenversicherung anerkannt bekommen, sodass Kindererziehung nicht dazu führt, dass man im Alter
Einbußen bei der Rente hat. Ich bin froh, dass wir dies für
die jüngere Generation - die ältere profitiert nicht so sehr
davon - haben sicherstellen können.
Wenn wir alle Bereiche durchforsten, stellen wir fest,
dass wir eine ganze Menge machen können. Bei der Rentenversicherung müssen wir die Einnahmeprobleme
selbstverständlich berücksichtigen. Der Bundeskanzler
hat hier richtigerweise gesagt, dass unsere Berechnungen
der Beschäftigungs- und Wachstumsentwicklung etwas
zu optimistisch waren. Das wissen wir heute alle.
({15})
- Ja, das waren wir. Das waren aber auch alle Institute.
Herr Austermann, Sie sind Haushälter und wissen, dass
alle Institute fast jede Woche etwas anderes sagen. Das
macht es manchmal etwas schwierig. Die Annahmen
waren optimistisch. Schließlich wollen wir alle, dass es
vorwärts geht. Ich als optimistische Frau will, dass es
immer vorwärts geht.
({16})
Wir mussten auf die Prognose, dass die Lebenserwartung - Gott sei Dank - höher ausfällt, reagieren. Deshalb
halte ich es für richtig, dass wir zu Beginn der Arbeit in
der Rürup-Kommission all diejenigen, die diese Prognosen machen, einmal zusammenholen. Ich möchte, dass
wir wissen, wie es wirklich aussieht, damit wir einen
Standpunkt finden und entsprechend handeln können.
Sie haben angesprochen, dass die Beitragsentwicklung in den kommenden Jahren höher sein wird, als wir
sie prognostiziert haben. Dazu sage ich Ihnen: Wir haben
im Gesetz vorgesorgt. Wir haben die private Säule der
Rentenversicherung aufgebaut. Sie hatten dazu keinen
Mut.
({17})
Wir haben vorgesorgt: Wenn sich in der in der Vorausschau zeigt, dass die Beiträge 2030 die 22-ProzentGrenze überschreiten, muss der Staat handeln. Der Staat
wird handeln. Wir werden die Entwicklung beobachten
und zur Nachjustierung der Rentenformel Vorschläge
machen.
Frau Ministerin, sind Sie geneigt, nach Beendigung
Ihrer Redezeit noch eine Zusatzfrage des Kollegen
Storm aufzunehmen?
Wenn Sie es gestatten.
Bitte schön.
({0})
Jetzt glaubt Herr Storm, ihr klatscht für ihn!
Ich bedanke mich zunächst einmal dafür, dass die
SPD-Fraktion klatscht, wenn ich eine Frage stelle.
Frau Ministerin, in der letzen Woche haben Sie noch
erklären lassen, dass Sie mit der Beitragssatzfestsetzung
bis November warten wollen. Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie noch vor der Sommerpause überlegen
wollen, wie die Beitragssatzprobleme, die in der Rentenversicherung im nächsten Jahr drohen, gelöst werden
können und nicht bis zum November warten wollen?
Herr Kollege Storm, Sie beschäftigen sich mit den
Daten zur Rentenversicherung. Auf der Grundlage der
Daten der Rentenversicherungsträger können wir immer
erst im Herbst sagen, wie die Entwicklung im kommenden Jahr aussehen wird. Wir arbeiten aber - das wissen
Sie - mit der Rürup-Kommission. Wenn die Entwicklungen anders sind, als wir sie prognostiziert haben, brauchen wir eine Nachjustierung der Rentenformel.
Dazu gibt es verschiedene Vorschläge. Ein Vorschlag
geht beispielsweise dahin, auf der Einnahmeseite die
Einkommen aller Beitragszahler, auch der Bezieher von
Arbeitslosenhilfe, Arbeitslosengeld usw., einzubeziehen.
Wir werden hier Vorlagen einbringen und im Parlament
dann darüber beraten.
Man kann aber noch nicht sagen, wie die Entwicklung
im nächsten Jahr aussehen wird.
({0})
Es gibt Risiken. Es bestehen aber immer noch Chancen,
dass das Wachstum in diesem Jahr ansteigt, weil die Gesetze, die wir hier zum Teil gemeinsam verabschiedet
haben, greifen. Ich höre Sie noch sagen: Wenn wir die
400-Euro-Jobs regeln, entstehen 800 000 Arbeitsplätze.
- Sie können doch nicht so wenig Vertrauen in Ihre eigenen Reformen haben. Wie die Entwicklung im kommenden Jahr aussehen wird, wissen wir im Herbst,
({1})
weil dann der VDR und die Rentenversicherungsträger
- von denen stammen auch Ihre Zahlen - die Daten vorlegen. Der Präsident der Bundesversicherungsanstalt für
Angestellte hat am vergangenen Sonntag gesagt: Im
kommenden Jahr können die Rentenbeiträge stagnieren,
sinken,
({2})
aber sie können auch steigen. Das sage auch ich Ihnen,
weil man zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr sagen kann.
({3})
Das, was Sie als Letztes gesagt haben, wird so mancher schon vermutet haben.
Nun hat die Abgeordnete Frau Dr. Lötzsch das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesrepublik ist auf dem Weg in die Ich-AG. Die Ich-AG
wird zum Programm. Dabei geht es nicht nur um den
Umbau des Arbeitsmarktes, sondern auch um den Umbau
des Sozialstaates: weg von dem solidarischen System hin
zu einem kommerziellen System. Jeder soll sich um seine
Risiken selber kümmern, ob er kann oder nicht. Die Versicherungen müssen schließlich auch von etwas leben.
Auf diese Weise - so hat uns am Freitag auch der
Bundeskanzler seine Vorhaben verkündet - wird das solidarische Prinzip angegriffen und zerstört, das ein konstituierendes Element unserer Gesellschaft ist. Es wird
sozusagen der Leim aufgelöst, der die Gesellschaft zusammenhält.
Wir als PDS schätzen am bestehenden Gesundheitssystem vor allem drei Dinge: Erstens die solidarische
Versicherung des Krankheitsrisikos, zweitens die paritätische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung durch Unternehmen und Beschäftigte und drittens
den umfangreichen Leistungskatalog, der für alle Menschen gilt, unabhängig von ihrem Krankenversicherungsbeitrag.
({0})
Unentwegt wird darüber geredet, dass unser Gesundheitssystem nicht mehr finanzierbar sei. Alle schauen
wie gebannt auf die Ausgaben. Der Kanzler möchte, wie
er am Freitag gesagt hat, das Krankengeld streichen. Die
Gesundheitsministerin möchte Sportunfälle nicht mehr
durch die Krankenkassen bezahlen lassen. So hat jeder
Politiker eine nette Idee, wo man im Leistungskatalog
noch streichen könnte. Das ist aber keine Strategie; es
wirkt eher hilflos.
Wir als PDS wollen uns in dieses Orchester der Kürzungsvorschläge nicht einreihen, obwohl man gerade
hinsichtlich der explodierenden Medikamentenkosten
Vorschläge machen müsste. Diese sind aus Ihren Reihen
bisher leider noch nicht gekommen. Aber schauen wir
einmal auf die Einnahmeseite. Wo sind Ihre Vorschläge
zur Erhöhung der Einnahmen? Überall wird erklärt, dass
das Gesundheitssystem nicht mehr finanzierbar sei sowie die angeblich hohen Lohnnebenkosten zum Abbau
von Arbeitsplätzen führten und die Schaffung von neuen
Arbeitsplätzen verhinderten. Dies wurde uns schon bei
der Diskussion um die Rentenreform erzählt und war
Anlass für den Ausstieg aus der paritätisch finanzierten
Rente.
Im Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung wird festgestellt - das ist Heft 7/2003 -,
dass das Verhältnis der Gesundheitsausgaben zur Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes relativ konstant ist.
Das heißt, das System wäre auch unter den gegebenen
Bedingungen finanzierbar. Das auffällige Ansteigen der
Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung hat
andere Ursachen. Es ist auf das Zurückbleiben der Bruttolohn- und -gehaltssumme zurückzuführen. Doch dieser
Rückgang ist nicht von Gott gegeben, sondern durch die
Bundesregierung teilweise selbst verursacht: Die Bundesregierung beklagt einerseits die Finanzprobleme der
Krankenkassen, greift andererseits aber unentwegt in
diese Kassen, um Geld für andere Zwecke locker zu machen. Das ist nicht in Ordnung.
Ich habe kürzlich die Bundesregierung gefragt, welche
Auswirkungen die Umsetzung des Hartz-Konzeptes - ich
nenne nur die Minijobs und die Leiharbeit - auf die Kassen haben werde. Hierauf wollte man mir keine konkrete
Antwort geben. Aber jeder kann sich doch an fünf Fingern abzählen, dass billige Leiharbeiter weniger in die
Krankenkassen einzahlen werden als die teuren Stammbelegschaften der Betriebe.
Ich kann noch weitere politische Entscheidungen benennen, die zu Einnahmeverlusten bei der Krankenversicherung führen. Ein Beispiel ist die Absenkung der
Krankenversicherungsbeiträge für Arbeitslosenhilfeempfänger. Das führt pro Jahr zu mindestens 0,6 Milliarden
Euro an Mindereinnahmen für die Krankenkassen. Für
das Jahr 2001 haben die Spitzenverbände der Krankenkassen Einnahmeverluste allein durch politische Entscheidungen von insgesamt 2,5 Milliarden Euro errechnet.
Aber die Bundesregierung greift auch an anderer Stelle
kräftig in die Taschen der Versicherten. Ich hatte im Rahmen der Diskussion um die Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes für Zahnersatz von 7 Prozent auf 16 Prozent den
Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages beauftragt,
die unterschiedlichen Steuersätze für Arzneimittel im europäischen Vergleich darzustellen. Ich hatte mich dafür
interessiert, ob im Sinne einer Steuerharmonisierung im
Rahmen der Europäischen Union die Steuern bei diesen
Produkten angeglichen werden. Das Ergebnis war erstaunlich: In Europa wird außer in Deutschland nur in Dänemark
und Österreich auf Arzneimittel der Standardmehrwertsteuersatz erhoben. In vielen Ländern wird auf verschreibungspflichtige Arzneimittel gar keine Steuer erhoben,
zum Beispiel in Großbritannien oder in Schweden.
({1})
- Diese Länder haben höhere Mehrwertsteuersätze. Aber
da sie auf diese Produkte keine Mehrwertsteuer erheben,
ist Ihre Zwischenbemerkung hinfällig. Sie ergibt keinen
Sinn.
Der Bundesminister saniert seine Haushaltskassen
also über die Krankenversicherung und mithilfe der
Mehrwertsteuer auf Arzneimittel. In dieser Frage kann
ich nur sagen: Weniger Staat! Mit dem willkürlichen Zugriff des Staates auf die Beiträge der Versicherten muss
endlich Schluss sein.
({2})
Wir als PDS fordern erstens die Stärkung der Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Wege
habe ich dargestellt. Zweitens fordern wir die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen durch den Bund.
Drittens fordern wir mehr Geld für die Gesundheitsprävention. Ich glaube, es würde allen in diesem Hause gut
tun und wir würden uns wohl fühlen, wenn wir den Präventionsgedanken verwirklichen. Viertens fordern wir
den Erhalt des Krankengeldes, damit die Leute nicht
krank zur Arbeit gehen müssen, sondern etwas für ihre
Gesundheit tun können. Ansonsten könnte man, wenn
man krank zu Hause bliebe, seine Krankheit nicht mehr
finanzieren.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Nächster Redner in der Aussprache zum Einzelplan 15 ist der Kollege Zöller, CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung: Wenn hier jemand
von Rot spricht, dann spricht er von einem Ausgabeproblem. Spricht jemand von Grün, dann spricht er von einem Einnahmeproblem. Ich bin der Auffassung, dass
man daraus nur eine Schlussfolgerung ziehen kann: Das
Problem ist Rot-Grün.
({0})
Was Sie in der letzten Zeit hier bewegt haben, muss man
einfach mal Revue passieren lassen.
Frau Kühn-Mengel, Sie stellen sich hier hin und sprechen von einer Erblast. Vielleicht war das noch die Rede
von vor vier Jahren. Wenn Sie es wirklich ernst gemeint
haben: Wie kann man von einer Erblast sprechen, wenn
man in der Pflegeversicherung einen Überschuss von
10 Milliarden DM und in der gesetzlichen Krankenversicherung einen Überschuss von mehreren Milliarden bei
gleichzeitig niedrigeren Beiträgen als jetzt übernimmt?
Jetzt sind die Beiträge höher und gleichzeitig besteht ein
Defizit. Es tut mir Leid: Es ist für mich schwer nachvollziehbar, dass Sie von einer Erblast sprechen.
({1})
Frau Ministerin, Sie sagen, dass Sie zum Beispiel bei
den Apothekern etwas tun wollen. Können Sie mir erklären, wieso Sie generell eine Nullrunde verordnen und
dabei einen Bereich herausgreifen, der fast 80 Prozent
der Einsparsumme finanzieren soll? Es wird wohl Ihr
Geheimnis bleiben, wie das sozial gerecht sein soll.
Wir reden heute auch noch über einen weiteren Punkt,
nämlich über die Gesetzgebung zum Fallpauschalenänderungsgesetz. Erst seit knapp drei Monaten besteht für die
deutschen Krankenhäuser die Möglichkeit, ihre stationären Leistungen mit diagnoseorientierten Fallpauschalen
abzurechnen. Gleichzeitig hat die Bundesregierung mit
dem Beitragssatzsicherungsgesetz allen Krankenhäusern,
die nicht auf das neue Fallpauschalensystem umsteigen,
eine Nullrunde verordnet. Die Zustimmung zum neuen
Fallpauschalengesetz wollte man sich mit dem Versprechen der Etaterhöhung um 0,81 Prozent quasi erkaufen.
Vergessen wir bitte nicht: In dem Fallpauschalengesetz werden die Vergütungen in einem Wirtschaftsbereich mit einem Jahresumsatz von weit mehr als 50 Milliarden Euro völlig neu geregelt. Dass bereits nach so
kurzer Zeit Grundsätze dieses Regelungswerkes geändert werden müssen, bestätigt unsere damalige Ablehnung. Es besteht ein völlig unnötiger Zeitdruck und Sie
ignorieren Fachargumente. Jetzt sollen plötzlich nicht
zuzuordnende Fälle ausgenommen werden. Das sind genau die Fälle, bei denen wir seit jeher eine Abrechnung
mit Fallpauschalen für nicht durchführbar hielten. Ein
ernsthafter Dialog mit Fachverbänden, Selbstverwaltungen und Ländern war hier offenbar niemals beabsichtigt.
Der Hauptfehler war, dass Rot-Grün ein Vergütungssystem zu 100 Prozent übernimmt, obwohl dessen Erfinder in seinem Heimatland nur 50 Prozent der Leistungen
damit abrechnet. Dies geschieht nach dem Motto, egal,
ob es funktioniert oder nicht. Dahinter kann doch nur der
Gedanke in Richtung einer Staatsmedizin stecken;
({2})
denn wenn sämtliche Leistungen in Fallgruppen erfasst
werden, genügt eine Senkung des Basisfallwertes, damit
allen Krankenhäusern die Vergütung gekürzt wird. Dies
geschieht unabhängig davon, ob die Krankenhäuser wegen der demographischen oder medizinisch-technischen
Entwicklung, unabweisbarer Fallzahlen oder Kostensteigerungen mehr Geld benötigen. Das ist keine Gesundheitspolitik nach dem medizinisch Notwendigen, sondern nach staatlicher Kassenlage.
({3})
Ich sage Ihnen voraus, dass diese Reform des Gesetzes nicht die letzte Änderung sein wird. Sie haben nämlich die Rechtsprechung bezüglich der Arbeitszeitregelung nicht entsprechend berücksichtigt. Sie werden in
sehr kurzer Zeit wieder nachbessern müssen. Hätten Sie
etwas sorgfältiger gearbeitet und die Vorschläge der
Sachverständigen und auch unsere Vorschläge gebührend geprüft, so hätten Sie gleich zu Beginn einen Gesetzentwurf vorlegen können, der allen Beteiligten weniger Verunsicherung, weniger Zeitverlust und bessere
Kalkulierbarkeit beschert hätte. Aber späte Einsicht ist
besser als keine. Ich empfehle Ihnen im Übrigen die
Lektüre von Faust. Ich meine nicht den „Faust“ von
Goethe, sondern Hans Georg Faust. Er hat in einer sehr
guten Analyse die Probleme untersucht.
({4})
Lassen Sie mich einen zweiten Bereich ansprechen.
In der Pflegeversicherung tickt eine demographische
Zeitbombe. Der Altersaufbau der Bevölkerung wird unsere Sozialsysteme dramatisch verändern. Deshalb ist es
mehr als bedauerlich, dass der Bundeskanzler in seiner
Regierungserklärung das Thema Pflegeversicherung mit
keinem Wort erwähnt hat.
({5})
Wollte der Sachverständigenrat wenige Tage zuvor die
Solidargemeinschaft quasi abschaffen, so wäre es am
Freitag eigentlich die Pflicht des Kanzlers gewesen, dieses Problem aufzugreifen und Stellung zu beziehen. Leider Fehlanzeige!
Dabei sind viele Probleme im stationären Bereich ungelöst. Es ist ein falscher Ansatz, Qualitätsmängel dadurch beheben zu wollen, dass Sie Qualität von außen in
das System hineinbringen, anstelle genügend ausgebildetes Personal zu finanzieren, damit Qualität geleistet
werden kann. In diesem Ansatz unterscheiden wir uns
ganz wesentlich. Auch Personalgewinnungsprobleme
warten auf eine zukunftsweisende Antwort.
Darüber hinaus dürfen wir die Probleme im ambulanten Bereich der häuslichen Krankenpflege nicht einfach
unter den Tisch fallen lassen. Nicht sauber geklärte Zuständigkeiten führen zu Verschiebebahnhöfen von Leistungen häuslicher Krankenpflege in die Pflegeversicherung. Wir sind fest davon überzeugt, dass sich eine
Verbesserung der Pflegequalität auf Dauer nur durch
mehr und besser aus-, weiter- und fortgebildetes Personal bewerkstelligen lässt. Dies bedeutet auch, dass wir
bereit sind, mehr Geld zur Finanzierung von mehr Personal zur Verfügung zu stellen.
({6})
Da die Leistungen der Pflegeversicherung seit ihrer
Einführung im stationären Bereich 1996 unverändert
sind, müssen derzeit die steigenden Kosten allein von
den Heimbewohnern getragen werden. Dadurch werden
immer mehr ältere Menschen zum Sozialfall. Das kann
doch nicht unsere Antwort auf die bestehenden Probleme sein.
Wir haben konkrete Vorschläge auf den Tisch gelegt.
Ich darf an die Maßnahmen zur Verbesserung der Pflegequalität mit Bürokratieabbau, Finanzierung von Personalmehrung und Personalgewinnung oder an die Bundesratsinitiativen erinnern, zum Beispiel das PflegeZukunftssicherungsgesetz, mit dem wir besonders die
Situation von Demenzkranken verbessern wollten, das
Gesetz zur Qualitätssteigerung in der Pflege und das Gesetz zur Personalstärkung in der Pflege. In der vorletzten
Woche ging es um das Hilfsmittelsicherungsgesetz, mit
dem wir verhindern wollen, dass weitere Fehlbuchungen
der Krankenkassen bei den Hilfsmitteln im ambulanten
Bereich zulasten der Pflegeversicherung vorgenommen
werden. Gleichzeitig soll die Sicherstellung der Versorgung der Pflegebedürftigen mit Hilfsmitteln in Pflegeheimen geregelt werden. Dies dient der Rechtsklarheit
und damit auch der Rechtssicherheit.
Zielführende Vorschläge der Union hat die rot-grüne
Mehrheit jedoch überwiegend abgelehnt und die Pflegekassen stattdessen zur Sanierung anderer Haushaltstitel
missbraucht. An dieser Stelle nenne ich das Abschmelzen der Rücklagen der Pflegeversicherung bei gleichzeitigem Ansteigen des Jahresdefizits.
Meine Kolleginnen und Kollegen, wir wollten mit unseren Vorschlägen vor allem dafür Sorge tragen, dass
den wirklichen Bedürfnissen der Menschen - sowohl
den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen als auch denen
der Menschen, die Pflege betreiben - Rechnung getragen
wird und dass die Pflegesituation in den Einrichtungen
insgesamt verbessert wird. Bei dem Versuch, diese Probleme zu lösen, kann ich mich manchmal des Eindrucks
nicht erwehren, dass wir hin und wieder vergessen, dass
es sich hier um Menschen handelt, die von den Auswirkungen unseres Paragraphenwirrwarrs im wahrsten
Sinne des Wortes betroffen sind. Es handelt sich um
Menschen, die unsere besondere Aufmerksamkeit und
Anstrengung brauchen. Dies gilt ganz besonders für Demenzkranke.
Wir als Politiker haben die Pflicht, dafür zu sorgen,
dass der Verwaltungsaufwand in den Einrichtungen aufgrund neuer gesetzlicher Regelungen nicht noch größer
wird und dass dadurch noch weniger Zeit bleibt, um die
Pflege sinnvoll durchführen zu können. Wir haben als
Politiker aber ebenso die Pflicht, zu verhindern, dass
sich immer mehr in Pflegeheimen Beschäftigte mit dem
Gedanken tragen, ihren erlernten Beruf aufzugeben, oder
sich nicht mehr in der Lage sehen, so zu pflegen, wie es
den fachlichen Anforderungen, ihrer Ausbildung und
vor allem dem entspricht, was die pflegebedürftigen
Menschen - worauf sie auch einen Anspruch haben brauchen. Deshalb fordern wir: weniger Bürokratie und
mehr Mitmenschlichkeit.
({7})
Nun hat der Kollege Schmidbauer für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, es ist notwendig, ein paar Sätze zu dem, was
Herr Kollege Zöller eben angeführt hat, zu sagen. In
nächster Zeit werden wir - zwar nicht im Rahmen des
Haushalts, aber generell - noch genügend Gelegenheit
haben, um über das Thema Pflege zu sprechen. Denn das
ist uns ein Kernanliegen, zu dem wir auch inhaltlich stehen. Wir sind uns völlig klar darüber, dass wir immer
wieder vor neuen Herausforderungen stehen werden.
Herr Kollege Zöller, ich wäre Ihnen nur sehr dankbar
gewesen, wenn Sie auch etwas dazu gesagt hätten, wie
Sie die Frage nach der Finanzierung der Mehrkosten im
Pflegebereich, die Sie eben aufgelistet haben, beantworten. Sind Sie denn der Auffassung, dass - nachdem die
Pflegeversicherung bisher ausschließlich von den Arbeitnehmern dieses Landes finanziert wurde - in Zukunft auch die Arbeitgeber einen Beitrag dazu leisten
sollten? Es wäre interessant, einmal zu hören, wie Sie
sich die Zukunft der Pflegeversicherung vorstellen und
auf welcher Basis sie aufgebaut werden soll.
Ein weiterer Punkt: Sie sprechen immer von der Erblast. Aber ich finde, dass wir nur eine Erblast festzustellen haben: dass wir ein sehr teures Gesundheitssystem
vorgefunden haben, zu dem der Sachverständigenrat
sagt, dass es sich vor allem durch Überversorgung, Fehlversorgung und Unterversorgung auszeichne. Wenn dies
keine Erblast ist, dann weiß ich nicht, was mit dem Begriff Erblast in Verbindung zu bringen wäre.
({0})
Wenn Sie dann noch davon sprechen, dass wir in der
gesetzlichen Krankenversicherung 2 Milliarden Euro
von Ihnen geerbt hätten, so verschweigen Sie der Öffentlichkeit nach wie vor, dass ein Jahr bevor Sie abgewählt
worden sind, 30 Prozent der Menschen in unserem
Lande weniger Zahnersatzleistungen in Anspruch nehmen konnten, weil die Differenz zwischen Ihrer Privatregelung und dem, was die Krankenkassen erstatten durften, so groß geworden ist, dass sich ein Drittel der
Menschen keinen Zahnersatz mehr leisten konnte. Das
mussten wir in den nachfolgenden Jahren wieder ausgleichen.
Ich darf Ihnen sagen: Es waren nicht 2 Milliarden
Euro, sondern es war die doppelte Summe, die wir aufwenden mussten, um die Regelungen beim Zahnersatz,
die Sie vorher kaputtgemacht hatten, wieder in Ordnung
zu bringen.
({1})
Wir wollen im Gesundheitswesen mehr Effizienz, mehr
Wirtschaftlichkeit und mehr Gestaltungsmöglichkeiten.
Ich will nun aber zu unserem zentralen Anliegen
kommen, welches heute auch auf der Tagesordnung
steht. Das ist die Einbringung des Gesetzentwurfes
zur Änderung des Fallpauschalengesetzes. Ich möchte
mich zunächst herzlich dafür bedanken, dass es möglich war, dieses Gesetz ganz unbürokratisch auf die Tagesordnung zu setzen. Damit gewinnen wir natürlich
Zeit. Ich hoffe, dass damit ein gutes Signal verbunden
ist und wir mit diesem Gesetz schnell an das Ziel gelangen. Die Krankenhäuser in Deutschland verdienen
es, dass wir ihnen in einer schwierigen Situation dabei
helfen, Entwicklungen im Krankenhausbereich voranzubringen.
({2})
Wir werden noch öfter bei der Krankenhausvergütung
zu einer Fortschreibung kommen müssen, weil das ein
lernendes System ist. Bei einem lernenden System müssen alle Beteiligten aus dem Lernen Konsequenzen ziehen.
({3})
Wir haben aus dem Lernen die Konsequenz ziehen müssen, dass der Gesetzgeber in einigen Bereichen nachjustieren muss. Das ändert aber nichts daran, dass das im
Endeffekt die Fortschreibung einer Erfolgsstory ist.
Ich glaube, dass die Neuorientierung im Krankenhaussektor in Deutschland weniger als im internationalen Vergleich geschätzt wird. Wir sind endlich das
51. Land, das bei einem neuen Vergütungssystem im
Krankenhauswesen angelangt ist. Es führt kein Weg
mehr zurück, sondern es führt nur noch ein Weg in die
Zukunft. Das ist wichtig. Viele haben der Koalition nicht
zugetraut, dass sie den größten Ausgabenblock im Gesundheitswesen, nämlich den Krankenhausbereich, anpackt und ihn neu ordnet. Das lassen wir uns jetzt nicht
kaputtreden.
Jetzt wird endlich Leistung sachgerecht bezahlt und
nach Leistung abgerechnet. Wir haben in diesem neuen
Jahrhundert nicht mehr die Situation, dass die Krankenhäuser nach der Zahl der belegten Betten bezahlt werden, die Menschen also im Bett „festgehalten“ werden
müssen, damit die Erträge des Krankenhauses stimmen.
Mit solchen antiquierten Vorstellungen werden wir die
Zukunft nicht meistern.
({4})
Horst Schmidbauer ({5})
Es müssen Systeme her, die die Leistung ordentlich abbilden.
({6})
Viel wichtiger dabei ist, dass endlich der Patient in
den Mittelpunkt rückt. Wir sehen in den Krankenhäusern, die mit diesen Fallpauschalen arbeiten, dass sich
die Strukturen des Krankenhauses ändern. Der Patient ist
plötzlich Mittelpunkt des Betriebsablaufs, er wird intensiver betreut und versorgt. Man weiß, dass die Gewinner
dieser Entwicklung diejenigen sind, die den Patienten in
den Mittelpunkt stellen und den Betriebsablauf auf ihn
ausrichten. Nur wenn das geschieht, haben die Krankenhäuser die Chance, Fortschritte zu erzielen.
Wir sehen einen weiteren Fortschritt für den Patienten
darin, dass endlich eine ganzheitliche Betrachtung der
Krankengeschichte stattfindet. Wir wollen darüber hinaus den informierten Patienten, was Transparenz und
Qualität erforderlich macht. Das werden wir mit dem
Gesetz konsequent in die Tat umsetzen. Das Gesetz führt
zu mehr Gerechtigkeit.
Es stellte sich die Frage, welche Schlussfolgerungen
wir aus dem Lernprozess ziehen. Es hat sich herauskristallisiert, dass wir eine weitere Differenzierung bei den
Fallpauschalen brauchen. Die Gespräche mit den medizinischen Fachgesellschaften, mit Behindertenorganisationen und mit Selbsthilfeorganisationen haben gezeigt,
dass wir wesentliche Elemente, die in Australien nicht in
den Fallpauschalen geregelt sind, in Deutschland regeln
müssen und auch regeln können.
Deshalb öffnen wir nun das Gesetz und lassen die
Regelung auch für neue Bereiche zu, wie zum Beispiel
Epilepsie, Geriatrie, Pädiatrie und die Behandlung von
schwerstbehinderten Menschen. Von der Öffnung des
Gesetzes für diese wichtigen Personengruppen profitieren die Patienten und letztendlich auch die Krankenhäuser, weil sie eine sachgerechte Vergütung bekommen.
Dafür wollen wir das Gesetz ändern. Wir müssen auch
die Konfliktlösungsmechanismen im Gesetz ändern,
weil wir gesehen haben, dass sich die Selbstverwaltung
im vergangenen Jahr stark blockiert hat. Deswegen ist
auch in diesem Bereich eine Änderung vorgesehen.
Wir müssen leider auch einen Schritt gehen, der uns
sicherlich allen wehtut. Zum 1. Januar 2004 hätte erstmals die Chance bestanden, eine neue Vergütungsform
für Auszubildende in Krankenhäusern in dem Sinne
einzuführen, dass endlich die ausbildenden Krankenhäuser belohnt würden, während die nicht ausbildenden
Krankenhäuser Zahlungen leisten müssten.
({7})
Weil sich die Selbstverwaltungen, das heißt die Krankenhausgesellschaften auf Länderebene, und die Länder
nicht auf ein Verfahren zur Bewertung einigen konnten,
sind wir leider gezwungen, das Gesetz um ein Jahr auf
2005 zu verschieben. Das tut weh, aber wir müssen in
der Anhörung nach Lösungsmöglichkeiten suchen, um
uns in der Zwischenzeit so zu positionieren, dass die mit
dem Gesetzesvorhaben verbundene Ausbildungsinitiative gut laufen kann.
({8})
Ich ärgere mich auch über einen weiteren Aufschub.
Viele Krankenhäuser - 500 in der ersten Stufe, weitere
700 in der zweiten Stufe - wollen in diesem Jahr 2003
mit den neuen Fallpauschalen arbeiten. Die Krankenhäuser stellen sich derzeit mit all ihren Einrichtungen und
allen Beschäftigten darauf ein. Wir hoffen, dass wir am
Donnerstag die Blockade der B-Länder überwinden,
weil sonst die 700 Krankenhäuser nicht die Chance haben
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
- ja, Herr Präsident -, das Konzept umzusetzen. Ich bin
der Meinung, wir dürfen diese 700 Krankenhäuser, die
sich darauf eingestellt haben und motiviert sind, einen
neuen Weg zu beschreiten, nicht gegen die Wand fahren
lassen. Ich bitte die Opposition, ihren Einfluss geltend zu
machen und den Krankenhäusern zu helfen, den neuen
Weg unbeschadet gehen zu können.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 15 - Bundesministerium für Gesundheit und
Soziale Sicherung - in der Ausschussfassung. Wer für
den Einzelplan 15 in dieser Fassung stimmt, den bitte
ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Einzelplan 15 ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition so angenommen.
Wir kommen zum Fallpauschalenänderungsgesetz.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/614 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun Zusatztagesordnungspunkt 1 auf:
1 Beratung des Antrags der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem
EU-geführten Einsatz auf mazedonischem Territorium
zur weiteren Stabilisierung des Friedensprozesses und
zum Schutz von Beobachtern internationaler Organisationen im Rahmen der weiteren Implementierung des politischen Rahmenabkommens vom 13. August 2001 auf der
Grundlage des Ersuchens des mazedonischen Präsidenten
Trajkovski vom 17. Januar 2003 und der Resolution 1371
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
({0}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom
26. September 2001
- Drucksache 15/696 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Eine Aussprache ist dazu nicht vorgesehen. Interfraktionell wird die Überweisung des Antrages auf
Drucksache 15/696 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Darüber besteht offensichtlich Einvernehmen. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt I.15 auf:
Einzelplan 14
Bundesministerium der Verteidigung
Drucksachennummer 15/562, 15/572
Berichterstattung:
Abgeordnete Dietrich Austermann
Bartholomäus Kalb
Dr. Elke Leonard
Jürgen Koppelin
Es liegen drei Änderungsanträge der Fraktion der
CDU/CSU sowie ein Änderungsantrag der FDP-Fraktion vor. Des Weiteren liegt ein Entschließungsantrag der
CDU/CSU-Fraktion vor, über den wir morgen nach der
Schlussabstimmung abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Erster Redner ist der Kollege Dietrich Austermann,
CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zurzeit
sind 9 000 Soldaten - darunter 1 700 Wehrpflichtige und zivile Mitarbeiter weltweit im Einsatz.
Sie sind eingesetzt, um die Freiheit zu sichern und die
Menschenwürde wiederherzustellen. Ich glaube, dass es
notwendig ist, dass wir von dieser Stelle aus für das
ganze Haus und für das ganze Land den Soldaten für ihren schwierigen und gefahrvollen Dienst immer wieder
danken.
({0})
Dies ist angesichts der gegenwärtigen Situation, der damit verbundenen Diskussion und beabsichtigter weiterer Einsätze besonders wichtig; denn die Debatte der
letzten anderthalb Tage wird ja von dem außenpolitischen Problem überlagert, das sich mit den Stichwörtern
„Irakkrise“, „Irakkrieg“ und „Irakeinsatz“ beschreiben
lässt.
Der Bundesverteidigungsminister fasst die Tätigkeit
der Bundeswehr im Ausland unter der etwas plakativen
Überschrift zusammen: „Deutschland wird am Hindukusch verteidigt.“ Ich glaube, dass das durchaus eine angemessene Beschreibung für einen Teil des Auftrags der
Bundeswehr ist, dass dies aber falsch wäre, wenn man
damit den Gesamtauftrag der Bundeswehr definieren
wollte; denn damit verengt man die Tätigkeit der Bundeswehr auf internationale Einsätze, also auf das, was
künftig in stärkerem Maße als Verpflichtung auf die
Soldaten und die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr
zukommt. Die jetzt angestrebte Neuausrichtung der
Bundeswehr darf sich meines Erachtens nicht auf internationale Einsätze beschränken. Sonst müssen die verfassungsmäßigen Grundsätze über Bord geworfen werden.
Schauen wir uns einmal die Entwicklung der Bundeswehr in den letzten Jahrzehnten an. Seit den Pariser
Verträgen ist die Bundesrepublik verpflichtet, einen Beitrag zur Verteidigung der freien Welt zu leisten. Zur Verwirklichung dieser Verpflichtung und zur Einhaltung der
Wehrgesetzgebung wurden entsprechende Gesetze geschaffen: Die Wehrhoheit wurde in Art. 17 a des Grundgesetzes festgeschrieben. Dann wurden ein Soldatenund ein Wehrpflichtgesetz in Kraft gesetzt. Die Verfassung wurde in Art. 87 a geändert, in dem der Auftrag der
Bundeswehr genau umrissen wird. Danach werden - ich
betone das - Streitkräfte zur Verteidigung aufgestellt.
Diese Vorschrift macht deutlich, dass alle anderen Maßnahmen auch noch heute - denn Art. 87 a des Grundgesetzes gilt nach wie vor - die Ausnahme darstellen. Außer zur Verteidigung darf die Bundeswehr nur dort
eingesetzt werden, wo es das Grundgesetz zulässt.
Inzwischen ist es nicht mehr streitig, dass die Soldaten der Bundeswehr im Rahmen der Beistandsverpflichtung des NATO-Vertrags auch außerhalb des NATO-Gebiets eingesetzt werden können. Aus der Beteiligung an
dem kollektiven Sicherheitssystem der UNO und aus einer anderen Vorschrift des Grundgesetzes ergibt sich,
dass Entsendeentscheidungen, die den Einsatz außerhalb des NATO-Gebiets betreffen, möglich sind - außer bei Gefahr im Verzug -, allerdings nur wenn der
Bundestag zugestimmt hat. Das bedeutet, dass alles, was
außerhalb des NATO-Gebiets stattfinden soll, egal ob es
nun um AWACS-Flüge oder um eine Neuausrichtung
der Bundeswehr jenseits der Landesverteidigung geht,
ohne Änderung der Verfassung und ohne Zustimmung
des Bundestags nicht möglich ist.
Wir streiten gelegentlich darüber, wer die Zuständigkeit hat, ob der Minister - das ist für die Kollegen von
besonderer Bedeutung - zum Beispiel die Schließung
von Standorten par ordre du mufti anordnen kann oder
ob es dazu eine Befassung des Parlaments bzw. zumindest eines Teils des Parlaments, des Verteidigungsausschusses und des Haushaltsausschusses, geben muss.
Nach der Rechtslage - darin bin ich mir ziemlich sicher bedarf jede Veränderung der Struktur unserer Bundeswehr - das hat durchaus etwas mit den Finanzen und vor
allem mit dem diesjährigen Haushalt zu tun -, die über
das hinausgeht, was reiner Organisationserlass ist, einer
Diskussion im Parlament. Sie darf also nicht einfach
vom Minister verfügt werden.
Das halte ich deshalb für wichtig, weil die Neuausrichtung der Struktur der Bundeswehr - die Diskussion hat
erst begonnen - in absehbarer Zeit zur Schließung weiterer Standorte beispielsweise in Schleswig-Holstein - in
den nächsten Tagen wird bekannt gegeben, um welche
genau es sich handelt; auch andere Bundesländer werden
betroffen sein - führen wird. Die Schließung von Standorten hängt damit zusammen, dass man der Meinung ist,
die Bundeswehr solle einen völlig anderen Charakter haben. Ich habe Bedenken, ob das mit der Verfassung vereinbar ist. Nach meiner Meinung muss der Bundestag
auch in dem sich abzeichnenden Fall der Bundeswehrsoldaten, die in AWACS-Aufklärern an einem internationalen Einsatz teilnehmen, beteiligt werden. Hier muss
noch einmal unterstrichen werden, dass es ohne diese
Zustimmung nicht geht.
({1})
In dieser Debatte über den Bundeswehretat muss man
feststellen, dass die Verteidigungshaushalte, die RotGrün seit der Regierungsübernahme und damit seit der
Übernahme der Verantwortung für die Bundeswehr vorgelegt hat, zwar unterschiedlich ausgestaltet waren, aber
eigentlich immer das Gleiche zum Ziel hatten: Es wurde
gekürzt, es wurde gestrichen. Die finanzielle Situation
der Bundeswehr hat sich verschlechtert.
({2})
Die Finanzen der Bundeswehr sind zu knapp.
Diesen Zustand hat man mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnet. Man sprach von einem Nothaushalt, von
einem Übergangshaushalt oder einem Brückenhaushalt.
Herr Scharping - er hat die Verantwortung für die Bundeswehr jetzt erfreulicherweise nicht mehr; er hat aber
viel Durcheinander angerichtet - war in dieser Angelegenheit - wie auch in anderen - sehr erfinderisch. Das
hat nicht dazu beigetragen, dass sich die Situation der
Bundeswehr verbessert hat. Eine Reform aus einem
Guss hat es nicht gegeben und es wird sie auch nicht geben, solange die finanzielle Situation nicht konkret verbessert wird.
Jetzt soll offensichtlich eine drastische Reduzierung erfolgen, um finanziellen Spielraum für notwendige Maßnahmen zu bekommen. Eine drastische Reduzierung bedeutet für mich, dass es nach der letzten Bundeswehrreform
unter Scharping, die die Schließung von etwa 70 Standorten
mit sich brachte, zu weiteren 40 bis 50 Standortschließungen und wahrscheinlich zur Auflösung einer Division
kommen wird. Ich bin sehr gespannt, was der Verteidigungsminister heute dazu sagt. Man kennt das ja: An einem
Tag werden von Regierungsmitgliedern Erklärungen abgegeben, die kurz danach - ich denke in diesem Fall an den
28. März, dann wird der Generalinspekteur seine konkreten
Pläne vorlegen - möglicherweise nicht mehr gelten.
Sparbeiträge zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes werden zulasten der Investitionsmöglichkeiten geleistet. Die Bundeswehr ist unterfinanziert und das bleibt
mit dem Etat für dieses Jahr auch so.
Vor etwa einem Jahr hieß es aus dem BMF und aus
dem Verteidigungsministerium noch übereinstimmend:
Wir haben eine klare Größenordnung für den Verteidigungsetat gefunden, nämlich 24,4 Milliarden Euro. Es
hieß, man sei froh darüber, dass das die nächsten Jahre
so beibehalten werden könne.
Wenn Sie sich den heutigen Etat anschauen, dann
werden Sie feststellen: 250 Millionen Euro sind im
Laufe der Etatberatungen verloren gegangen.
({3})
- Ja, eine halbe Milliarde. - Ein Grund dafür ist, dass
man Einsparungen, die in einem Chefgespräch vereinbart wurden, zustimmen musste. Bisher war es so - so
kenne ich es -, dass man zur Kürzung eines Etats entweder eine reale Kürzung - der Etat wird herabgesetzt oder eine globale Minderausgabe vornimmt, was bedeutet, dass an bestimmten Stellen noch Sparbeiträge erbracht werden müssen.
Mittlerweile gibt es eine neue Form, wie man Etatkürzungen vornehmen kann: Gespräche zwischen einem
Minister und dem Finanzminister. In diesen „Chefgesprächen“ wird zugestanden, dass man im Laufe des
Jahres einen bestimmten Betrag einsparen muss. Das hat
den Vorteil, dass ein Etat größer erscheint, als er ist, und
dass die Verbündeten im Ausland, die die genauen Geheimnisse unserer Beratungen nicht kennen, glauben: Die
Deutschen sind wacker und bleiben bei ihrer Linie. In
Wirklichkeit sind im Laufe der Etatberatungen, wie gesagt, eben einmal 250 Millionen Euro verloren gegangen.
Dass das für den Betrieb der Bundeswehr, für Beschaffungsvorhaben der Bundeswehr sowie für Investitionen
der Bundeswehr Konsequenzen hat, dürfte deutlich sein.
Schon jetzt ist klar, dass außer den bereits bekannten
Vorhaben in diesem Jahr und in den Jahren bis 2007
praktisch keine neuen Beschaffungen mehr getätigt
werden können.
({4})
Was das für die Bundeswehr, die gezwungen ist, zu modernisieren, bedeutet, ist für jedermann ersichtlich. Ich
wiederhole: Es werden bis zum Jahre 2007 praktisch
keine neuen Beschaffungen getätigt werden können. Bis
dahin besteht nämlich kein Finanzspielraum. Selbst
wenn Sie die Hälfte der Standorte schließen würden,
würde Sie das nicht in die Lage versetzen, von der eingeschlagenen Linie deutlich abzuweichen, es sei denn, man
beabsichtigt tatsächlich, die Bundeswehr als Steinbruch
anzusehen.
Der Auftrag an den Generalinspekteur, nach Einsparmöglichkeiten zu suchen, ist nur dann zu erfüllen, wenn
die Bundeswehr nicht behutsam reformiert, sondern weiter „durcheinander geschüttelt“ wird. Für Letzteres sprechen allerdings gewisse Ankündigungen. In Schleswig2788
Holstein zum Beispiel wurden falsche Standortentscheidungen getroffen: die Auflösung der Marinefliegereinheit, die Begrenzung der Luftabwehr, die Begrenzung
der Anzahl der Hubschrauber und die Reduzierung der
Anzahl von gepanzerten Fahrzeugen. Wenn man die
Zahl der internationalen Einsätze steigern und die Bundeswehr stärker auf internationale Einsätze ausrichten
will, dann muss man vor allen Dingen auf gepanzerte
Fahrzeuge und nicht auf Holzgewehre oder andere Geräte setzen.
Der Wunsch, weniger gepanzerte Fahrzeuge für das
Heer bereitzustellen, steht auch im Widerspruch zur
Bündnisverpflichtung; denn kein Einsatz im Rahmen einer Krisenreaktion ist ohne diese gepanzerten Fahrzeuge
möglich.
Der Verteidigungsminister weist immer wieder darauf
hin, dass ein gesicherter Etat zur Verfügung steht. Die
scheinbare Anhebung der Investitionssumme ist allerdings nur auf die Umbuchung der Mittel für Auslandseinsätze aus dem allgemeinen Etat in den Verteidigungsetat zurückzuführen. Im Laufe des Jahres dürfte es
schwierig sein, die Mittel für internationale Einsätze aufzubringen, weil der Etatansatz in diesem Jahr rückläufig
ist. In diesem Jahr steht die Entscheidung darüber an,
wer in Afghanistan Lead Nation wird. Die Franzosen
weigern sich bisher, einer Übernahme dieser Funktion
durch die NATO insgesamt zuzustimmen. Das bedeutet,
dass unter Umständen auch Deutschland weitere Kosten
zu tragen hat. Von anderen internationalen Einsätzen, die
sich in diesem Jahr ergeben werden, will ich gar nicht reden.
Nun hat der frühere Verteidigungsminister, den man
leider immer wieder erwähnen muss, weil er viele Stellschrauben im Etat gleichzeitig gedreht und damit viel
Schaden angerichtet hat, aus ideologischen oder aus welchen Gründen auch immer geglaubt, man könne durch
Privatisierungsmaßnahmen eine Fülle von effizienzsteigernden Maßnahmen einleiten. Es wurde die Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb,
GEBB, gegründet. Sie sollte das Ganze verbessern und
gewaltige Erträge erwirtschaften. Sie deckt nach zweieinhalb Jahren Tätigkeit noch nicht einmal ihre eigenen
Kosten, die inzwischen in der Größenordnung von
60 Millionen DM liegen. Ich habe den Eindruck, dass
sich auch die Genossen inzwischen von dem HurraPatriotismus gegenüber der GEBB verabschieden.
Die Fuhrparkgesellschaft, die die gesamten Fahrzeuge der Bundeswehr übernehmen sollte, scheint erfolgreich zu sein, aber nur deshalb, weil offensichtlich
nicht richtig gerechnet wird. Sie ist im Laufe der nächsten vier Jahre teurer, als es der herkömmliche Betrieb
durch die Bundeswehr selbst wäre.
Interessant ist: Inzwischen kümmert sich die EU um
dieses Vorhaben. Sie prüft zurzeit die Mehrwertsteuerbefreiung für die Fuhrparkgesellschaft. Aber nur durch die
Mehrwertsteuerbefreiung der privaten Gesellschaft, die
die Bundeswehr einrichten wollte, gibt es überhaupt nur
den Hauch einer Chance, dass sich diese Maßnahme
rechnen könnte. Dass dann auch noch ein General im
Aufsichtsrat dieser Fuhrparkgesellschaft sitzt, spricht
nicht gerade dafür, dass man auf effektive Abrechnungskontrolle Wert legt.
Das Bekleidungsmanagement ist nur deshalb günstig,
weil man in den letzten Jahren so viel angeschafft hat,
dass zur Zeit nichts anzuschaffen ist.
Das Liegenschaftsmanagement liegt bisher auf Eis.
Die Wunderwaffe Herkules dürfte in diesem Jahr
nicht mehr gezündet werden; das hat inzwischen auch
das Ministerium eingesehen.
Effizienzgewinne sind wegen der tölpelhaften Art der
Privatisierung in den letzten Jahren nicht zu erwarten.
Trotzdem stürzt sich die GEBB jetzt auf neue Vorhaben:
die Optimierung handelsüblicher Güter, die Neuordnung
des Verpflegungswesens usw. Wir können Sie, Herr Minister, nur auffordern, diese Gesellschaft endlich aufzulösen und dem Spuk ein Ende zu machen.
({5})
Sie schadet der Bundeswehr. Sie verwischt Verantwortung. Das ist der größte Unfug, der im Bereich der Bundeswehr angerichtet worden ist.
({6})
Der Anteil des Verteidigungsetats am Bundeshaushalt
sinkt weiter. Er liegt noch bei 9,8 Prozent. Dass das Istergebnis im letzten Jahr ein Plus aufgewiesen hat, ist nur
auf die Verstärkung aus dem Antiterrorpaket zurückzuführen. Der Investitionsanteil wächst nur nominal. Wenn
gleichwohl Finanzierungsspielräume zugunsten von
Neuvorhaben aufgezeigt worden sind, dann betrifft das
nur Vorhaben, die anfinanziert werden, aber nicht auf
Dauer finanziert werden.
Wir sind uns mit dem Ministerium über die Beschaffung
der Großraumtransportflugzeuge einig. Ich glaube, dass
Einigkeit im ganzen Hause besteht, nachdem inzwischen
klar ist, dass die Zahl von 73 nicht mehr gilt, sondern die
Zahl von 60 gilt. Wir haben allerdings Zweifel, ob die auch
vom Vorgänger des jetzigen Ministers geplante Art der
Finanzierung in Ordnung ist. Man möchte eine Zahlung bei
Lieferung. Zurzeit grübeln Finanzministerium und Verteidigungsministerium darüber, wie man das machen kann,
ohne dass es im Haushalt beim Bund oder in der Bilanz, des
Unternehmens, das uns den Kredit vermitteln soll, erscheint. In beiden Fällen wäre das nämlich für die Beteiligten schädlich.
Ich sage Ihnen: Kommen Sie auf die Rechtslage, die
Haushaltsordnung, zurück! Machen Sie das Ganze nach
einem ordentlichen Modell, zumal die Finanzierung
durch Tabaksteuer und Versicherungsteuer längst geregelt sein sollte.
Hinter diesem Thema versteckt sich aber auch noch
etwas ganz anderes, nämlich dass durch die zu geringen
Beschaffungen und den zu geringen Spielraum für die
Modernisierung der Bundeswehr auch unsere deutsche
wehrtechnische Industrie in gewaltige Probleme kommt.
Wenn man das auffangen will, dann muss man endlich
dazu übergehen, auf europäischer Ebene eine Harmonisierung des Exports anzustreben.
Es kann nicht sein, dass wir neben der Tatsache, dass
zu wenig Geld für die Modernisierung der Bundeswehr
vorhanden ist, auch noch den Firmen die Möglichkeit
versagen, innerhalb des NATO-Gebietes Geschäfte zu
machen, die auch zur Aufrechterhaltung der Verteidigungsbereitschaft der NATO-Partner notwendig sind.
Mir leuchtet überhaupt nicht ein, dass man sich hier
noch vor Wochen mit Verve dafür eingesetzt hat, die
Türkei in die Europäische Union aufzunehmen, und
gleichzeitig sagt, Waffenlieferungen dürften nicht stattfinden.
Die Harmonisierung des Exports auf europäischer
Ebene scheint mir notwendig zu sein. Das schließt die
Aufforderung ein - das sage ich auch als norddeutscher
Abgeordneter -, die gewünschte Lieferung von U-Booten
durch HDW an Taiwan zu prüfen. Interessanterweise hat
sich der ehemalige Kollege Opel dafür ausgesprochen.
Meine Damen und Herren, der einzige erfreuliche
Faktor an dem Verteidigungsetat ist, dass die Ausgaben
für Forschung, Entwicklung und Erprobung auf rund
1 Milliarde Euro angestiegen sind. Sie erreichen damit
übrigens gerade einmal das Niveau des Jahres 1984.
Wenn es richtig ist, dass dieser Ausgabenbereich die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr reflektiert, dann liegt
der jetzigen Bundesregierung die Zukunft der Bundeswehr offensichtlich nicht sonderlich am Herzen; denn
dieser Bereich hätte deutlich eher und mehr verstärkt
werden müssen.
Wie es ohne zusätzliche Finanzmittel gelingen soll,
erstens den Reformprozess voranzubringen und die Betriebsstrukturen zu optimieren, zweitens Fähigkeitslücken in Ausrüstungen und Material zu schließen und
drittens den Beitrag der Bundeswehr zur internationalen
Krisenbewältigung in unverändertem Umfang aufrechtzuerhalten, bleibt unerfindlich, wenn man sich die
Finanzplanung anschaut.
Zunächst hieß es, der Generalinspekteur habe den
Auftrag, durch Strecken, Schieben und Streichen Luft im
Etat zu gewinnen. Inzwischen scheint dies zu den Akten
gelegt worden zu sein. Kürzungen der Programmvolumina können erst in späteren Jahren Einsparungen bringen. Also bleibt nur der Eingriff in den Betrieb. Dies bedeutet eine neue Diskussion um Standorte, die sich über
das ganze Bundesgebiet ausdehnen dürfte.
Kein vernünftiger Haushälter wert sich gegen den
Versuch, die Bundeswehr sparsamer zu machen. Eine
Reform der Reform Scharpings ist geradezu geboten.
Aber dies darf nicht mit der Brechstange geschehen.
Lassen Sie mich mit einem Hinweis auf den Bericht
des Wehrbeauftragten schließen, der feststellt, dass
sich die Zahl der Beschwerden im letzten Jahr und auch
in den ersten Monaten dieses Jahres erheblich gesteigert
hat. Das hängt mit der Unterfinanzierung der Bundeswehr zusammen. Es hängt damit zusammen, dass immer
mehr Material und Mittel aus dem täglichen Betrieb abgezogen und ins Ausland geschafft werden müssen und
im Inland Lücken entstehen.
Das macht deutlich, dass wir eine Umkehr brauchen.
Deswegen haben wir als CDU/CSU in den Beratungen
eine Erhöhung des Etats um 500 Millionen Euro beantragt. Verbal stützt die Bundesregierung diesen Kurs.
Minister Fischer hat vor kurzem in der Zeitung gesagt,
wir bräuchten eine stärkere Kraft der Militarisierung, die
Europäer müssten sich stärker engagieren. Wenn das so
ist, dann kann man dem Antrag, den wir heute stellen
und in der dritten Lesung noch einmal stellen wollen,
nämlich den Etat um 500 Millionen Euro - 100 Millionen Euro für die Truppe, 400 Millionen Euro für Beschaffungen - aufzustocken, zustimmen. Wir werden die
Zustimmung zum Etat, die früher üblich war, von einer
Rückkehr der Koalition zu einer soliden Verteidigungspolitik abhängig machen.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Elke Leonhard,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Aufgrund der aktuellen Situation zwei Punkte vorweg: Wir sind gegenwärtig Augenzeugen zweier außenund sicherheitspolitischer Ansätze; zum einen der „Militarisierung der Außenpolitik“ und zum anderen einer
„Renaissance der Diplomatie“, die - wenn auch gegenwärtig nicht erfolgreich - an Intensität und Dichte für
Europa und die Vereinten Nationen Geschichte schreiben wird.
Der Helsinki-Prozess dauerte 22 Jahre und die Umsetzung des Korbes III hat die Welt humaner und sicherer gemacht, trotz anfänglicher Skepsis.
Der ehemalige Bundeskanzler der Bundesrepublik
Deutschland Willy Brandt hat am 11. Dezember 1971
anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises in
Oslo gesagt: Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein.
Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen!
Lassen Sie mich zu Beginn ein aufrichtiges Danke an
das Bundesministerium der Verteidigung aussprechen,
stellvertretend seien Minister Dr. Struck und die Herren
Staatssekretäre Wagner, Eickenboom, Biederbick und
Kolbow namentlich genannt. Aber auch die Haushaltsabteilung hat die Bücher offen gelegt. Ebenso gilt mein
Dank den Berichterstattern der CDU/CSU-Fraktion. Wir
haben eben gesehen: Die Sorge ist berechtigt; da reden
wir nicht darum herum. Wir streiten über begründete
Ansätze. Ich werde auf diesen Punkt zurückkommen.
Mein Dank geht auch in Richtung der FDP und natürlich
an meinen Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen.
Mit der gebotenen Sachlichkeit sind wir bemüht, die
Investitionsquote von 24,6 auf 30 Prozent zu steigern.
Ich sage das jetzt, weil viele der Fragen, die Sie aufgeworfen haben, damit beantwortet werden. Die Differenzen liegen eher im Grundsätzlichen und lassen sich
auf die Termini Friedensumfang, Heimatschutztruppe,
Wehrpflicht und Entsendegesetz reduzieren.
Entschiedene Vorbehalte habe ich - wenn ich „ich“
sage, ist es nicht mit der Fraktion abgestimmt - bezüglich der Vorstellung der Opposition zur verfassungsrechtlichen Erweiterung der Aufgaben der Bundeswehr
im Innern. Zur Optimierung der Zusammenarbeit von
Bundeswehr, Polizei, Grenz-, Zivil- und Katastrophenschutz sage ich Ja, aber die bestehenden verfassungsmäßigen Grundlagen reichen dafür schon aus.
({0})
Sie müssen nur konsequenter umgesetzt werden. Die Zusammenarbeit der verschiedenen Institutionen muss in
gemeinsamen Übungen erprobt werden.
Dennoch ist eines festzustellen: Wer das Papier der
Union liest, erkennt, dass es durchaus eine tragfähige
Grundlage für eine weiterführende Diskussion ist, weil
es keine substanziellen Widersprüche gegen die neuen
verteidigungspolitischen Richtlinien erwarten lässt. Die
Schaffung einer Nationalgarde, wie von der FDP vorgeschlagen,
({1})
ist nicht hilfreich. Eine Schattenarmee würde mehr Probleme schaffen, Herr Kollege, als sie zu lösen vorgibt.
Dennoch - das muss auch gesagt werden - enthält das
FDP-Papier klar artikulierte sozial-liberale Grundsätze
sowie die Ablehnung eines Automatismus, der die deutschen Soldaten an allen denkbaren Missionen teilnehmen
lässt. Gefordert - das ist besonders sympathisch - werden
eine „Kultur der Zurückhaltung“ und ein stärkerer Einsatz - ich sagte es schon - von Politik und Diplomatie.
Nun möchte ich zum Haushalt 2003 kommen. Der
Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages hat am
20. Februar 2003 den Regierungsentwurf des Verteidigungshaushaltes 2003 abschließend beraten. Unter Berücksichtigung der ab 2002 bereitgestellten Zusatzmittel
des Antiterrorprogramms von rund 767 Millionen Euro
hat der Verteidigungshaushalt unverändert ein Volumen
von rund 24,4 Milliarden Euro. Der Anteil des Verteidigungshaushaltes an den Gesamtausgaben des Bundes beträgt im kommenden Jahr - es wurde schon gesagt 9,8 Prozent. Im Ergebnis ist dies eine Verstetigung der
Ausgaben gegenüber dem Haushalt 2002.
Innerhalb des Einzelplanes 14 sind eine angemessene
finanzielle Vorsorge für die Fortführung der laufenden
internationalen Einsätze, der geplante Aufwuchs bei den
Zeit- und Berufssoldaten einschließlich der beschlossenen Attraktivitätsmaßnahmen und der sozialverträgliche
Abbau von Zivilpersonal, der dazu beiträgt, dass die Personalausgaben mittelfristig bis auf maximal rund 51 Prozent der Verteidigungsausgaben eingefroren werden
können, berücksichtigt.
Über die Mittel für den notwendigen Ausbildungsund Übungsbetrieb der Streitkräfte und die Finanzierung
laufender Entwicklungs- und Beschaffungsvorhaben,
insbesondere auch der Großvorhaben, die Sie eben angesprochen haben - der Minister wird auf die Einzelheiten
eingehen -, haben wir oft im Berichterstattergespräch
beraten und mittels des Finanzstatuts gesehen, dass sie
solide finanziert sind.
Zu den einzelnen Ausgabenbereichen lässt sich Folgendes festhalten: Die Betriebsausgaben sind rückläufig,
beanspruchen aber mit 18,3 Milliarden Euro immer noch
über drei Viertel des Verteidigungsetats. Personalausgaben sind in Höhe von 12,4 Milliarden Euro veranschlagt.
Die geltende Obergrenze von 12,5 Milliarden Euro wird
trotz der inzwischen bekannten Einkommensverbesserungen voraussichtlich nicht ganz ausgeschöpft werden.
Die Ausgaben für Materialerhaltung und die sonstigen
Betriebsausgaben liegen auf der Höhe der Ausgaben des
Vorjahres. Damit kann der Betrieb der Streitkräfte auch
auf materiellem Gebiet sichergestellt werden.
Die verteidigungsinvestiven Ausgaben betragen im
kommenden Jahr rund 6 Milliarden Euro. Dies entspricht einer Investitionsquote von rund 25 Prozent. Herr
Kollege Austermann, das Desaster gab es im Jahre 1997,
als wir eine Quote von nur 21,4 Prozent hatten. Ich habe
die Reden - damals waren die Rollen anders verteilt des Verteidigungsministers Rühe
({2})
- wenn Sie einen guten hatten, dann haben wir einen
sehr guten Verteidigungsminister - und seiner Kollegen,
die ihn unterstützt haben, nachgelesen. Jetzt liegt die
Quote bei 25 Prozent. Wir werden sie weiter steigern.
({3})
Zum Personal: Auch im Haushalt 2003 wird das
Bundesministerium der Verteidigung durch Planstellenverbesserung die Attraktivität des Dienstes in den
Streitkräften fördern. Im Rahmen des Attraktivitätsprogramms sind nahezu 5 000 Planstellenverbesserungen für Soldaten, im Wesentlichen für Mannschaften und
Unteroffiziere, vorgesehen. Auf dieser Basis werden in
diesem Jahr rund 13 000 Beförderungen möglich, davon
rund 10 700 bei den Unteroffizieren und rund 2 100 bei
den Mannschaftsgraden. Mit rund 200 Planstellenhebungen kann auch im Bereich der mittleren Besoldungsgruppen des Zivilpersonals ein erster Schritt zur Verbesserung der Beförderungsmöglichkeiten getan werden.
Lassen Sie mich noch ein Wort zur Konsolidierung
sagen. Der Verteidigungshaushalt ist weiterhin in die
von der Bundesregierung fortgesetzte Politik der Haushaltskonsolidierung eingebunden, um die aktuellen konjunkturellen Verwerfungen aufzufangen und die jährlichen Zins- und Tilgungsverpflichtungen zu begrenzen.
Nur so können die notwendigen Gestaltungsspielräume
für wichtige Zukunftsinvestitionen auch für den Verteidigungshaushalt zurückgewonnen werden.
Zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes trägt die
Bundeswehr durch den Verzicht in Höhe von 94 Millionen Euro - ich sage das ganz deutlich - auf Einnahmen
aus der Veräußerung von Wehrmaterial sowie auf einen
Teil der Verstärkungsmöglichkeiten zugunsten der internationalen Einsätze bei. Hinzu kommen 151 Millionen
Euro, die im Haushaltsvollzug im Einzelplan 14 zu erwirtschaften sind. Verstärkungsmöglichkeiten des Einzelplans 14 bestehen noch in Höhe von 192 Millionen Euro aus dem gesamten Bundeshaushalt zur Finanzierung der internationalen Einsätze im Zusammenhang
mit der Übernahme der Funktion als Lead Nation in
Afghanistan.
Einige Worte zur Perspektive. Der Minister hat am
5. Dezember 2002 in groben Umrissen die Neuausrichtung der Bundeswehr skizziert und am 21. Februar mit
elf Kriterien die Kerngedanken der neuen verteidigungspolitischen Richtlinien konkretisiert. Er wird voraussichtlich im Mai dieses Jahres die neuen verteidigungspolitischen Richtlinien erlassen. Erst auf der Grundlage
dieser Richtlinien werden wir, wie er treffend formulierte, nicht nur die Leitplanken, sondern auch die Fahrbahnmarkierungen der qualitativen Anpassung an die
neuen außen- und sicherheitspolitischen Notwendigkeiten erkennen.
Die Etablierung eines gesellschaftlichen Diskurses
scheint mir - ich sage „mir“, weil dieser Gedanke nicht
mit der Fraktion abgesprochen ist - erforderlich. Aber
wer will, dass die Soldaten für ihren verantwortlichen
Auftrag auch weiterhin die Akzeptanz der Gesellschaft
und damit die nötige Rückendeckung haben, muss einen
Diskurs, der von den parlamentarischen Gremien und
von den Plenardebatten in die Gesellschaft strömt, etablieren.
Wer den Menschen draußen intensiv zuhört, der wird
erfahren, dass sie Ängste haben. Ich glaube, es ist wichtig, dass die Menschen hören, sehen und fühlen, dass alles dafür getan wird, die Bedrohung zu erkennen und zu
minimieren. Ich bin sicher: Die gegenwärtigen Ängste
der Menschen, die, wie Psychologen und Ökonomen sagen, auch ökonomische Folgen haben, werden in dem
Maße reduziert, wie die Prozesse der Sicherheitspolitik
transparent werden. Insofern steht eine große Aufgabe
vor uns.
Was muss transparent werden?
Erstens. Europa ist nicht zuletzt aufgrund der Veränderungen der sicherheitspolitischen Bedingungen nach
1990 zu einem Stabilitätsraum geworden, der ohne existenzielle Bedrohung ist. Gleichwohl müssen wir gewahr
werden, dass terroristische Bedrohungen und die zunehmende Verbreitung von Massenvernichtungswaffen die
internationale Staatengemeinschaft mit der Gefahr der
Destabilisierung ihrer politischen Ordnungen konfrontieren.
Zweitens. Sicherheit in und für Europa ist unteilbar.
Kein einzelner Staat - auch nicht die USA - kann allein
Frieden, Sicherheit und Stabilität für sich oder sein Umfeld garantieren. Moderne militärische Fähigkeiten bleiben daher Teil einer intelligenten, langfristigen und umfassenden Vorsorge im Hinblick auf unsere Sicherheit.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellen sich komplexere und immer weniger berechenbare Herausforderungen. Das Aufgabenspektrum unserer Streitkräfte ist
damit vielfältiger und differenzierter geworden. Wir lassen uns dabei von dem Prinzip leiten, dass gemeinsame
Risiken und Bedrohungen eine gemeinsame Antwort erfordern. Kooperation mit Partnern und Verbündeten sowie das Zusammenwirken in internationalen Organisationen sind für eine effektive Sicherheitsvorsorge und für
die Bewältigung von Krisen unerlässlich.
({4})
Ein weiterer Punkt in diesem Zusammenhang ist der
intelligente Umgang mit Ressourcen. Er ist ebenso bestimmend für unsere Reformüberlegungen wie der intelligente Umgang mit knappen Ressourcen. Sie werden
künftig noch stärker als bisher vor allem zur Erfüllung
der originär militärischen Aufgaben eingesetzt und - wo
immer möglich und zweckmäßig - durch multinationale
Kooperationen gebündelt werden. So ist es der Bundeswehr beispielsweise gelungen, die Ausgaben für internationale Einsätze seit 1995 zu verzehnfachen, ohne den
Plafond wesentlich zu erhöhen.
({5})
Gleichzeitig ist der Verteidigungshaushalt weiterhin in
die von der Bundesregierung fortgesetzte Politik der
Haushaltskonsolidierung eingebunden.
Wir haben also folgende Situation: Die Bundeswehr
ist erstens zu einer Armee im Einsatz geworden. Derzeit
befinden sich rund 10 000 Soldaten in sechs internationalen Einsätzen. Die Erfahrung aus internationalen Einsätzen zweitens, das mit wachsender Dynamik komplexer werdende sicherheitspolitische Umfeld drittens und
schließlich viertens die Erfahrungen der Bundeswehr bei
der Umsetzung der Reformen machen eine Weiterentwicklung der Reformen zwingend erforderlich. Dies ist
eine ständige Aufgabe. Sie erfordert enorme Anstrengungen bei den Soldaten und den zivilen Mitarbeitern
der Bundeswehr, die seit Jahren erbracht und auch weiterhin erforderlich sein werden.
Lassen Sie mich an dieser Stelle unseren Soldaten
Dank und Respekt aussprechen. Sie sind gegenwärtig
die besten Botschafter der Bundesrepublik Deutschland.
({6})
Sie sichern den Frieden und zivile Prozesse!
({7})
Um an die Rede des Bundeskanzlers vom vergangenen Freitag anzuschließen: Die Bundeswehr hat die
Probleme nicht auf die lange Bank geschoben. Die
Bundeswehr lässt Lösungen nicht an Einzelinteressen
scheitern. Insofern vollzieht sich in der Bundeswehr seit
Jahren beispielhaft, was anderen Bereichen der Gesellschaft, die weit mehr im Blickpunkt stehen, noch bevorsteht.
Der Weg ist klar vorgegeben: Damit die Ausrüstung
der Bundeswehr umfassend modernisiert und den neuen
Fähigkeiten angepasst werden kann, müssen Freiräume
für neue Investitionen geschaffen werden. Die Investitionsausgaben im Verteidigungshaushalt hatten 1997
einen Anteil von 21,6 Prozent; das sagte ich soeben. Für
eine umfassende Modernisierung der Ausrüstung ist - das
haben wir hochgerechnet - eine Investitionsquote von
rund 30 Prozent erforderlich. Wir liegen im Übrigen mit
unserer Quote von 25 Prozent durchaus in der oberen
Spitze des mit vergleichbaren Nationen besetzten Feldes,
müssen uns also nicht verstecken.
Die rot-grüne Koalition hat die Investitionsquote auf
24,7 Prozent im Jahre 2002 angehoben und noch im
Zeitraum des 36. Finanzplanes bis 2006 wird dieser Wert
schrittweise auf über 27 Prozent angehoben.
({8})
Aufgrund des konstanten Plafonds müssen die Betriebsausgaben gesenkt werden.
Der Verteidigungsminister beabsichtigt, bereits 2004
die Bundeswehrplanung an die voraussichtlich verfügbaren Finanzmittel anzupassen. Damit werden erstmals
in der Geschichte der Bundeswehr die militärischen Planungen nicht nur an den militärischen Forderungen ausgerichtet, sondern zusätzlich mit betriebswirtschaftlichen Methoden und Prinzipien in Einklang gebracht.
Das führt zu einer Optimierung der Leistung der Bundeswehr bei neuem Plafond.
Was heißt das konkret? Bei der Suche nach der jeweils optimalen Lösung darf es grundsätzlich keine Tabus geben.
({9})
Umfang, Struktur und Ausstattung bedürfen ständiger,
eingehender und kritischer Prüfungen sowie gegebenenfalls neuer Entscheidungen. Dies haben wir bereits in der
Koalitionsvereinbarung deutlich gemacht. So ist beispielsweise die Umfangzahl von 285 000 Soldaten keine
universelle Naturkonstante. Sie muss sich aus den angesprochenen Randbedingungen ableiten. Wer den Konsolidierungskurs fortsetzen und den investiven Anteil bis
auf 30 Prozent steigern will, kommt nicht umhin, über
die Umfangzahl von 280 000 Soldaten nachzudenken.
Das ist meine Auffassung.
({10})
Ich habe immer wieder gesagt: Man muss redlich sein
und sorgfältig zwischen dem, was schon Mehrheitsmeinung ist, und dem, was man selbst zu verteidigen gedenkt, trennen.
Die Ökonomisierung der Reform - ich würde den
Vorgang so bezeichnen - verlangt weitere intelligente
Ansätze. Dieser Prozess ist in vollem Gange. Lassen Sie
mich exemplarisch die Konzeption der Informationsund Kommunikationstechnologie erwähnen. Der Minister formulierte ebenso treffend wie bildhaft: Der Soldat der Zukunft wird über einen Laptop nicht nur mit seinen Vorgesetzten oder seinen Stäben, sondern mit allen
Stellen verbunden sein. Er muss mit amerikanischen
oder belgischen Kameraden, die im gleichen Auslandseinsatz sind, vernetzt sein können.
({11})
- Das ist noch lange nicht vorbei. - Hierfür haben wir
das Projekt Herkules zur qualitativen Verbesserung der
Infrastruktur und Kommunikation etabliert.
({12})
- Ich war 16 Jahre in Amerika und ich sage Ihnen: Es ist
nicht vorbei. Wir haben bald wieder eine andere Regierung, dann geht es anders weiter.
({13})
- Nicht hier! Damit es keine Missverständnisse gibt:
Nicht in der Bundesrepublik! Die nächsten Wahlen sind
in den Vereinigten Staaten von Amerika!!
({14})
Entgegen den Ratschlägen des Bundesrechnungshofes, dessen Mitarbeitern für ihre Gründlichkeit zu
danken ist, haben wir uns entschieden, grünes Licht für
den nächsten Planungsschritt zu geben, damit nach drei
Jahren Stillstand in diesem so wesentlichen Prozess kein
weiteres Jahr durch unprofessionelle Experimentierschritte vertan wird. Die Lösung heißt: strategische Partnerschaft und Kooperation mit der Wirtschaft.
Die Reform der Bundeswehr ist auf Effektivität und
Nachhaltigkeit angelegt. Sie ist mit der strikten Ökonomisierung beispielhaft für die notwendigen Anstrengungen in anderen Bereichen wie Wirtschaft, Arbeitsmarkt,
Gesundheit und Rentenpolitik. Die Menschen in der
Bundeswehr haben es verdient, dass wir ihre Leistungen
und ihre Reformwilligkeit anerkennen.
({15})
Mit dem Bundeshaushalt 2003 wird ein ausgewogener Verteidigungshaushalt verabschiedet. Er leistet einerseits einen enormen Beitrag zur Konsolidierung und
trägt andererseits zur konsequenten Forsetzung der größten Reform der Bundeswehr mit beispielhaften Reformschritten ohne zusätzliche Ansprüche an den Bundeshaushalt bei.
Herzlichen Dank.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Günther Nolting,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Kollegin Leonhard, wenn Sie im Zusammenhang mit
den transatlantischen Beziehungen davon sprechen, wir
hätten bald eine neue Regierung und dann werde alles
besser, dann kann ich dem nur zustimmen. Wir werden
Sie dabei tatkräftig unterstützen.
Meine Damen und Herren, ich danke zu Beginn
meiner Rede allen Soldatinnen und Soldaten sowie allen
zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr für ihre außerordentlich guten Leistungen, die sie
im letzten Jahr erbracht haben,
({0})
und zwar, Herr Kollege Austermann, sowohl im Ausland
als auch im Inland, zum Teil unter widrigsten Umständen. Wir können auf den Leistungswillen und die Leistungsfähigkeit der Bundeswehrangehörigen stolz sein.
Stolz können wir allerdings nicht auf die Leistungen
der Bundesregierung sein;
({1})
denn diese Bundesregierung gibt der Bundeswehr zwar
immer wieder neue Aufgaben und Aufträge, nicht aber
die dazu nötigen Mittel. Frau Kollegin Leonhard, als Sie
heute den Haushalt bejubelt haben, haben Sie vergessen,
aufzuzeigen, dass aus dem jetzigen Haushalt rund
1,2 Milliarden Euro für Auslandseinsätze bezahlt werden
müssen und dass seit 1999 die Personalkosten um rund
1 Milliarde Euro gestiegen sind. Daher kann ich nur festhalten, dass es um diesen Haushalt schlecht bestellt ist.
({2})
Die Auswirkungen dieser verfehlten Politik sind im
letzten Bericht des Wehrbeauftragten ungeschminkt
dargestellt worden. Auch dazu haben Sie heute nichts
gesagt. Daher zeige ich auf, wie es um die Bundeswehr
wirklich bestellt ist. Wenn mit der Bundeswehr alles in
Ordnung ist, wie Sie sagten, Frau Kollegin Leonhard,
warum haben wir dann einen Anstieg der Eingaben beim
Wehrbeauftragten um 32 Prozent?
({3})
Seit Bestehen des Amtes des Wehrbeauftragten, also seit
1959, hat es noch nie eine so hohe Zahl von Eingaben
gegeben. Warum gibt es dann ein Fehl von circa 1 200
Offizieren und 20 000 Unteroffizieren? Diese Fragen
möchte ich vom Minister beantwortet bekommen. Wer
kann denn ernsthaft von einer hohen Attraktivität des
Dienstes in der Bundeswehr sprechen, Herr Minister
Struck, wenn im vergangenen Jahr von 12 000 Oberfeldwebeln, die die Voraussetzungen zur Beförderung zum
Hauptfeldwebel erfüllten, nur 2 500 befördert wurden?
Warum, Herr Minister Struck, würden mehr als die
Hälfte der Berufssoldaten, die vom Personalanpassungsgesetz betroffen sind, die Bundeswehr vorzeitig verlassen, wenn sie denn könnten? Wenn mit der Bundeswehr
alles in Ordnung ist, wie seitens der Bundesregierung
immer wieder beteuert wird, warum war dann das Bewerberaufkommen bei den Offizieren im Jahre 2002 erneut rückläufig? Warum halbierte sich dann das Bewerberaufkommen bei den Sanitätsoffizieren in den fünf
Jahren rot-grüner Regierung? Warum verweigerten dann
im vergangenen Jahr fast 190 000 Wehrpflichtige, also
rund 45 Prozent eines Jahrgangs, den Wehrdienst? Dieser Fragenkatalog ließe sich problemlos erweitern.
({4})
Die Hauptursache dieser Probleme ist die äußerst
zögerliche Nachsteuerung der Reform der Bundeswehr
durch Minister Struck, die wieder zu kurz greift und
nicht den echten und längst überfälligen Strukturwandel
bringt.
({5})
Der gordische Knoten der Bundeswehr heißt Wehrpflicht. Wird dieser nicht durchgeschlagen, gibt es keine
auch nur mittelfristige Planungssicherheit für die Soldaten und ihre Familien.
Meine Damen und Herren, die FDP hat bereits vor
vier Jahren praktikable Vorstellungen zur Reform der
Bundeswehr vorgelegt. Diese tragen sowohl den sicherheitspolitischen Anforderungen als auch den gesellschaftspolitischen Notwendigkeiten Rechnung. Lange
Zeit wurden unsere Reformvorschläge entweder ignoriert oder als nicht realisierbar abgetan. Doch die
Weizsäcker-Kommission und andere Institutionen mit
Fachverstand griffen die Vorstellungen der FDP auf und
schlossen sich diesen an.
Vier Jahre sind nun vergangen, ohne dass sich für die
Bundeswehr etwas zum Positiven verändert hat. Aber einige Sicherheitspolitiker aus der Union und auch der
SPD sind allmählich aufgewacht und nähern sich wenigstens mit einigen wenigen ihrer zu Papier gebrachten
Gedanken den FDP-Vorschlägen an.
({6})
Die Pläne des Verteidigungsministers jedoch hinken sogar den vorsichtigen Veränderungswünschen seiner eigenen Fraktionskolleginnen und -kollegen hinterher. Seine
Reformvorstellungen sind mutlos und werden darüber
hinaus nur halbherzig weiterverfolgt.
({7})
Herr Minister Struck, Sie sprechen von einer soliden
finanziellen Grundlage für den weiteren Weg der Reformen. Sie behaupten, die Planung bis zum Jahr 2006
sei eine Weichenstellung, um den angeblich erfolgreichen Weg zu Ende gehen zu können. Herr Struck, vergessen Sie dabei eigentlich, dass die von Ihnen gelobte
gleich bleibende Finanzausstattung in Höhe von
24,4 Milliarden Euro realwirtschaftlich eine Absenkung
Ihres Haushaltes pro Jahr bedeutet? Ihre Haushaltslöcher
werden von Jahr zu Jahr größer und mit ihnen die Unzufriedenheit der Bundeswehrangehörigen.
({8})
Angesichts der steigenden Verantwortung und der Ausweitung von Aufträgen ist das aus unserer Sicht unverantwortbar.
Herr Minister Struck, völlig unverständlich ist für
mich in diesem Zusammenhang - ich will nur ein Beispiel nennen - Ihre Entscheidung zum Transportflugzeug A400M. Mir ist schleierhaft, wie Sie bei Streichung der Evakuierungsoption auf eine Bestellung von
60 Transportflugzeugen kommen. Der reinen Logik der
Mathematik folgend, ergibt sich für diesen Fall ein bedeutend geringerer Bedarf.
({9})
Ich empfehle Ihnen eine erneute Überprüfung dieses
Sachverhaltes. Immerhin sind bei Berichtigung dieses
Rechenfehlers weit mehr als 1 Milliarde Euro einzusparen.
({10})
Sie sehen, es gibt viele Möglichkeiten, Gelder einzusparen bzw. umzuschichten. Leider werden diese nicht genutzt.
Jedoch gibt es Bereiche, in denen nicht gespart werden darf. Dazu gehört die Anhebung des Ostsoldes auf
das Westniveau.
({11})
Die Soldaten, die uns seit Jahren die deutsche Einheit
vorleben, werden immer wieder vertröstet. Dieser Zustand ist unhaltbar. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wären Sie bereit, sich alle zwei Jahre - häufig viel öfter - für ein halbes Jahr oder, wie es bei der Marine der
Fall ist, für 180 Tage im Jahr zwecks Auslandseinsatzes von Ihrer Familie zu trennen? Wären Sie bereit,
100 Prozent Leistung im Auslandseinsatz unter harten
Bedingungen zu erbringen, aber zu Hause mit 90 Prozent Gehalt abgespeist zu werden, nur weil Sie aus den
neuen Bundesländern kommen? Das ist keine Armee
der Einheit!
({12})
Die FDP hat ihre Vorstellungen zur Reform der
Bundeswehr wiederholt dargelegt. Unsere Forderungen
lassen sich kurz und klar zusammenfassen: Wir wollen
nicht mehr Soldaten in der Gesamtheit, sondern eine
höhere Zahl einsatzbereiter Soldaten. Wir fordern nicht
mehr, sondern modernere Waffensysteme. Wir brauchen
nicht mehr, sondern leistungsfähigere Großverbände.
Wir brauchen keine gleichartigen, flächendeckenden
Strukturen, sondern Einrichtungen und Standorte, die
auf die militärischen Anforderungen und örtlichen Gegebenheiten ausgerichtet sind. Wir brauchen keine riesigen
Depots und Lager, in denen Material aus Zeiten des Kalten Krieges verrottet, sondern Lagerkapazitäten, die den
Bedarf decken.
Herr Kollege Austermann, Sie haben hier das Entsendegesetz angesprochen. Ich würde lieber von einem
Beteiligungsgesetz sprechen, denn wir wollen für die
bewaffneten Einsätze deutscher Streitkräfte Rechtssicherheit schaffen. Ein entsprechender Antrag der FDP
liegt vor. An dieser Stelle will ich gleich hinzufügen:
Wir wollen die Entscheidung über Auslandseinsätze
nicht auf die Bundesregierung übertragen. Wir haben
eine Parlamentsarmee. Das Parlament muss in Gänze
in der Verantwortung bleiben. Ich hoffe, dass auch die
Union an diesem Grundsatz weiterhin festhält.
({13})
Herr Minister Struck, der Bundeskanzler hat erklärt,
dass es keine Neubefassung des Parlaments mit dem
Mandat für unsere Soldaten, die in Kuwait stationiert
sind, und die Soldaten in den AWACS-Flugzeugen geben soll. Am letzten Mittwoch haben Sie erklärt, dass
Sie das Parlament selbstverständlich beteiligen werden, wenn es zu einem Krieg kommen sollte. Ich fordere Sie auf, heute zu erklären, was nun gilt: Ihre Aussage vom letzten Mittwoch im Verteidigungsausschuss
oder die Aussage des Bundeskanzlers von heute Morgen? In dieser schwierigen Situation brauchen wir
rechtliche und politische Klarheit für unsere Soldatinnen und Soldaten.
Vielen Dank.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestatten Sie mir zunächst eine Vorbemerkung. Wir haben gerade den Antrag der Bundesregierung zur Veränderung des Mazedonienmandats an die Ausschüsse
überwiesen. Gerade in den Stunden vor dem wahrscheinlichen Krieg im Irak ist es meiner Meinung nach
wichtig, darauf hinzuweisen, dass es dieses Mazedonienmandat gibt. Denn der Einsatz in Mazedonien ist hervorragend dafür geeignet, zu zeigen, dass man in dieser
Situation auch anders handeln kann. Er steht nämlich für
eine Politik, die vorbeugend handeln und möglichst ohne
Gewaltanwendung gewaltträchtige Konflikte entschärfen will und dabei erfolgreich ist.
({0})
Darüber hinaus zeigt dieser - wenn auch zurzeit noch
sehr kleine - Einsatz die Bereitschaft und die Fähigkeit
der Europäischen Union, durch die Erledigung ihrer
sicherheitspolitischen Hausaufgaben so etwas endlich alleine zu bewältigen. Dies ist, wie ich finde, ein wichtiger
Hinweis.
({1})
Anfang Dezember 2000 haben wir hier den Einzelplan 14 in erster Lesung beraten. Kurz danach gab der
Minister die ersten Schritte zur Weiterentwicklung der
Bundeswehrreform bekannt. Das waren die Überprüfung der Beschaffungsvorhaben und die Neujustierung
bei den Aufgaben der Bundeswehr. Dabei wurde die Priorität auf die Krisenbewältigung im Dienste der gemeinsamen Sicherheit gesetzt. Inzwischen ist bereits der
dritte Schritt erfolgt, nämlich die Reduzierung von Ausrüstung, um Betriebskosten zu sparen, damit dringend
notwendige Investitionsmittel frei werden.
Folgen wird in den nächsten Monaten die Überprüfung von Umfang, Struktur und Wehrform. Wir begrüßen ausdrücklich die Zusage des Ministers, dass die
Überprüfung der Wehrform nicht erst, wie in der Koalitionsvereinbarung festgelegt, am Ende der Legislaturperiode, sondern schon Ende dieses Jahres oder Anfang
nächsten Jahres erfolgen soll. Denn das entspricht der
Konsequenz, bei den ersten Schritten der Weiterentwicklung der Bundeswehrreform.
Vor vier Wochen hat die CDU/CSU ihren Alternativvorschlag zur Bundeswehrreform vorgelegt. Damals
ging es in der öffentlichen Diskussion vor allem um die
so genannte Heimatverteidigung - mir ist bis heute nicht
klar, was das soll ({2})
und um die faktische Relativierung des Parlamentsvorbehalts. In der kurzen öffentlichen Diskussion um Ihre
Alternativvorschläge wurde dagegen kaum wahrgenommen, dass in ihnen programmatisch die Grundlinie vorgezeichnet wird, die die Unionsführung in diesen
Wochen hinsichtlich des Irakkonfliktes vertritt. Ich will
das an drei Punkten deutlich machen:
Erstens. Wirklich notorisch haben Sie von der
Unionsführung - das betone ich ausdrücklich; denn etliche Kolleginnen und Kollegen in der Union denken
anders - in den letzten Wochen die Arbeit der Rüstungsinspekteure im Irak kleingeredet und haben, um Worte
von gestern aufzugreifen, den einseitigen Abbruch ihrer
erfolgreichen Arbeit ausdrücklich unterstützt.
({3})
Dieses Verhalten steht im Einklang mit Ihrem Papier
zur Bundeswehr. In ihm ist im Grunde genommen nicht
mehr die Rede - man findet höchstens ein oder zwei
Sätze dazu - von anderen Mitteln wie Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung. Kollege Raidel,
Sie wissen selbst, welche wirksamen Maßnahmen und
welche Erfolge es in diesem Bereich gegeben hat. Das ist
also wirklich eine bewährte Politik. Aber das scheint
programmatisch für Sie keine Rolle mehr zu spielen.
Programmatische und reale Politik stehen in diesem Bereich bei Ihnen in einer Linie.
Zweitens. In Ihrem Papier wird, wenn auch in verschlüsselten Formulierungen, deutlich, dass Sie die Tür
nicht nur für präventive militärische Einsätze öffnen
wollen, sondern auch für präventive kriegerische Militäreinsätze. Wenn Sie jetzt das Kriegsultimatum des
amerikanischen Präsidenten mit all seinen Konsequenzen durch Ihre Vorsitzende mittragen, dann unterstützen
Sie im Klartext genau einen solchen Präventivkrieg.
({4})
Und schließlich drittens. Es fällt schon auf, was Sie
inzwischen alles schweigend hinnehmen. Gleichzeitig
höre ich das Getöse Ihrer Kritik an der Politik der Bundesregierung. Sie nehmen die Ultimaten der USA gegenüber den Vereinten Nationen schweigend hin. Das hat es
in der Geschichte der Vereinten Nationen und des Völkerbundes noch nie gegeben.
({5})
Sie schweigen zu den offenkundigen Pressionsversuchen eines ganz wichtigen Mitglieds des Sicherheitsrates
gegenüber vielen anderen, sehr viel kleineren und potenziell erpressbaren Mitgliedern des Sicherheitsrates und
dem deutlichen Übergehen der Mehrheitsmeinung im
Sicherheitsrat.
Dieser Krieg - wenn es zu ihm kommt - wird offenkundig jenseits der Charta der Vereinten Nationen
stattfinden. Vor dem Hintergrund Ihres so genannten alternativen Bundeswehrpapiers ist das offensichtlich kein
Zufall; denn dort - lesen Sie noch einmal nach ({6})
spielen die Vereinten Nationen und die VN-Charta praktisch keine Rolle. Dabei bilden die Vereinten Nationen
und die VN-Charta den entscheidenden einhegenden
Rahmen für den Einsatz von Militär.
({7})
Herr Kollege Nachtwei, denken Sie bitte an Ihre Zeit.
({0})
Wir verrechnen unsere Redezeiten innerhalb der
Fraktion.
Über Jahrzehnte hinweg hat gerade die CDU/CSU
den Charakter des transatlantischen Bündnisses als
Wertegemeinschaft und Partnerschaft demokratischer
Rechtsstaaten betont. Zurzeit verlässt die Regierung der
Vereinigten Staaten dieses Wertefundament und - das
sage ich in dieser Deutlichkeit - verrät die große Tradition ihrer Vorgängerregierungen, ohne die die Vereinten
Nationen und der Völkerbund wohl gar nicht entstanden
wären.
Herr Kollege Nachtwei, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Nein, jetzt nicht. Ich bin bei meinen Schlusssätzen, da
passt das nicht. Sie können meinetwegen eine Kurzintervention abgeben.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie
schweigen nicht nur dazu, Sie unterstützen das jetzt
auch. Wenn Sie an der Regierung wären,
({1})
würden nun auch Bundeswehrsoldaten in den Irakkrieg
geschickt.
({2})
Wir kennen uns lange genug. Deshalb weiß ich, dass
Sie keine Kriegstreiber sind und lieber Frieden wollen.
Warum aber lassen Sie sich derart in den Krieg treiben?
Warum brechen Sie in diesen Tagen mit der Politik der
militärischen Zurückhaltung, die hier bisher Konsens
war? Offenbar sind Ihnen die Werte einer Sicherheitspolitik, die Friedenspolitik sein soll, abhanden gekommen.
({3})
Am Tag der Haushaltsberatung zum Verteidigungsetat
ist das ein äußerst beunruhigendes und für mich auch äußerst bestürzendes Zeichen.
Danke.
({4})
Ich gebe der Kollegin Lenke das Wort zu einer Kurzintervention.
Herr Nachtwei, wir haben heute den Verteidigungshaushalt zu beraten. Ich habe in Ihrer Rede nichts von
Reformen der Bundeswehr und von Haushaltsansätzen
gehört. Das bedauere ich außerordentlich, weil anlässlich dieser Haushaltsberatung gerade die Grünen eine
Aussage in Bezug auf die Wehrpflicht und die Wehrgerechtigkeit hätten machen müssen.
Ich wundere mich schon sehr, dass die grüne Fraktion
die in dieser Republik bestehende Wehr- und Zivildienstungerechtigkeit zulässt. Von Ihnen gab es kein Wort
zur Bundeswehrreform und zur Umgestaltung der Bundeswehr hinsichtlich der Wehrpflicht. Das bedauere ich.
Daher möchte ich Sie fragen, ob Sie als Grüner noch
dazu eine Aussage machen wollen.
({0})
Herr Kollege Nachtwei, bitte.
Frau Kollegin, Sie haben offenkundig nicht ganz zugehört. Ich habe mich nämlich im ersten Teil meiner
Rede sehr wohl auf die laufende Bundeswehrreform
bezogen.
({0})
Ich habe betont, dass die bisher eingeleiteten Schritte
wie Überprüfung der Beschaffungsplanung, Neujustierung der Aufgaben und schließlich eine Abspeckung bei
der Ausrüstung, erste konsequente Maßnahmen im Rahmen der Bundeswehrreform sind. Ich habe auch die
nächsten Schritte genannt.
In diesem Zusammenhang habe ich mich allgemein
zur Wehrform geäußert. Ich habe hier oft genug unsere
Haltung zu unserer Meinung nach legitimen und notwendigen Wehrform deutlich gemacht. Nach Auffassung
der Grünen ist die Zeit der Wehrpflicht abgelaufen. Wir
halten eine Freiwilligenarmee im Sinne einer modernen
und effektiven Bundeswehr für die angemessene Form.
({1})
Dies brauche ich aber nicht bei jeder Rede notorisch zu
wiederholen. Das möchte ich dann sagen, wann ich es
für richtig halte.
({2})
Am heutigen Tag, der unter dem Vorzeichen des Krieges steht, nur wieder über das Wie der Bundeswehrreform zu reden - das ist oft das Kennzeichen dieser Debatte -, aber die ganz entscheidende Frage des Wofür
außer Acht zu lassen, halte ich gerade zum jetzigen Zeitpunkt für unpassend. Die Tatsache, dass sich bei der
CDU/CSU ein Paradigmenwechsel zeigt, muss klar angesprochen werden. Das wurde in dieser Deutlichkeit
leider bisher noch nicht zum Ausdruck gebracht.
Ich bedanke mich für Ihr Angebot, mich zu diesem
Thema ergänzend zu äußern.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Christian Schmidt,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Winfried Nachtwei, irgendetwas
ist heute mit Ihnen durchgegangen. Zur Bundeswehrreform möchte ich Folgendes sagen: Die Frage nach
dem Wie ist der eine Punkt. Die Frage nach dem Wozu
ist der andere Punkt. Auch wir stellen uns diese Fragen
gerade im Hinblick auf die Reihenfolge, in der die Reform der scharpingschen Reform - das darf man inzwischen auch in Koalitionskreisen ungestraft sagen - vorgenommen wird.
Wenn diese Reform dazu führt, dass die vorher festzulegenden Aufgaben und dazu notwendigen Fähigkeiten der Bundeswehr besser entwickelt werden können,
Christian Schmidt ({0})
dann ist sie in Ordnung. Wenn sie nach den Vorgaben
des Bundesministers der Finanzen gestaltet wird, dann
ist sie sehr fragwürdig. Das muss man gerade bei den
Haushaltsberatungen sagen.
Kollege Austermann hat in seinen Ausführungen einen wichtigen Punkt angesprochen. Es ist nicht so, dass
der Verteidigungsetat von der Opposition automatisch
abgelehnt wird. Das ist nie so gewesen. Er muss aber
dann abgelehnt werden, wenn er nicht den Herausforderungen entspricht, die ich gerade definiert habe.
({1})
Manchmal muss man dem Verteidigungsminister in
diesen Kampflinien - um in dieser Sprache zu bleiben sogar helfen, um seinen Etat zu verteidigen, wenn es
Aussicht auf Erfolg gibt.
Kommen wir doch noch einmal auf die aktuelle Frage
zurück. Herr Müntefering hat sich heute Vormittag in
seiner Entgegnung auf Frau Kollegin Merkel in eine Behauptung verstiegen, die ich schlechterdings nicht nachvollziehen kann. Er hat die Gelegenheit nicht ungenutzt
gelassen, die große Sozialdemokratische Partei als die
Partei des Friedens darzustellen und zu suggerieren, alle
anderen Parteien seien dies nicht. Dabei ist ihm eine
kleine Unaufmerksamkeit passiert, indem er gesagt hat,
die SPD habe noch nie für einen Krieg gestimmt.
({2})
Ich möchte nicht bis zum Ersten Weltkrieg und auf
die Fragen, die damals in diesem Haus bzw. im kaiserlichen Reichstag beschlossen worden sind, zurückblicken.
Ich frage Sie nur: Was war denn dann der KosovoKrieg?
({3})
Erfolgte er auf der Basis einer Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen oder nicht? Ich möchte
nur, dass wir - bei allem Pathos - die Kirche im Dorf
lassen. Bei jedem - ich schließe mich selbst sein - ist der
Magen im Moment keine besonders ruhige Gegend.
Man empfindet es als unangenehm und es schmerzt einen, dass wir in eine Situation gekommen sind, in der die
Diplomatie versagt hat und der Ausdruck Ultima Ratio
eine Rolle spielt.
Frau Kollegin Leonhard, an dieser Stelle möchte ich
Ihre Worte von der „Renaissance der Diplomatie“ aufgreifen. Ich glaube, es lohnt sich schon, den Blick auf
uns Europäer zu richten, um zu klären, wo die Diplomatie versagt hat und wo sie bis heute unehrlich gewesen
ist. Joschka Fischer ist unehrlich, wenn er sagt - ({4})
- Hört doch einmal zu!
({5})
- Gut, Herr Erler, wenn Sie nicht zuhören wollen, ist das
Ihr Problem. Aber wenn sich Herr Nachtwei voller Pathos hier hinstellt und sagt, dass er an diesem Tag und in
dieser Stunde nicht über die Wehrpflicht sprechen könne
und über ein anderes Thema sprechen müsse, dann müssen Sie sich das, was ich sage, anhören.
Die Lebenserfahrung zeigt uns, dass man Forderungen nur dann durchsetzen kann, wenn sie mit Sanktionen unterlegt sind.
({6})
Ich werfe Herrn Fischer vor, dass er unehrlich ist, wenn
er so tut, als ginge es nur um die Bereitstellung von Inspektoren und die Möglichkeit, nach Waffen zu suchen,
nicht aber um das politische und militärische Drohszenario.
({7})
Über all die anderen Fragen möchte ich gar nicht diskutieren.
({8})
Wenn man kurz vor Toresschluss sagt, dass man doch
mitmacht und Blauhelme in den Irak schickt - wer auch
immer das gesagt hat, es war nicht der Verteidigungsminister; er wusste, warum -, der muss sich vorhalten
lassen, dass er diese Fragen unseriös, unpräzise und
nicht tiefgehend behandelt hat
({9})
und dass er keine Ahnung von den Konsequenzen hatte,
die zu verhindern gewesen wären.
Auch Herrn Volmer mag manches im Halse stecken
bleiben, wenn er daran denkt, was vor zwei oder drei
Jahren im diplomatischen Bereich nicht getan worden
ist. Wir waren schon einmal in einer solchen Situation.
Übrigens haben wir alle uns bei der Kosovo-Entscheidung fragen müssen, ob wir nicht nach Dayton versagt
haben. Über solche Fragen muss man über die Parteigrenzen hinweg diskutieren.
Lieber Kollege Erler, ich bin allerdings nicht wie andere bereit, hier Zusammenhänge zu konstruieren. Ein
Kollege meinte heute Nachmittag, kurz nachdem Herr
Müntefering gesprochen hat, er müsse noch einmal das
Wort, mit dem wir belegt worden waren, aufgreifen. Dagegen verwahre ich mich energisch. Wir streiten über
vieles. Aber wenn es um meine Friedensgesinnung geht,
lasse ich mir von niemandem etwas vorschreiben. Auch
der großen sozialdemokratischen Bewegung muss klar
sein, dass sie das zu respektieren hat.
({10})
Jetzt komme ich noch auf Ihre Vorlesung zu sprechen,
Herr Kollege Nachtwei. Ich werde Ihnen sofort per Internet und E-Mail unser Papier zur Verfügung stellen.
({11})
Christian Schmidt ({12})
Darin steht - ich zitiere sozusagen uns selbst -:
Prinzipiell wird angesichts denkbarer Szenarien
und einer praktisch nicht gegebenen Vorwarnphase
eine allein reaktive Handlungsweise nicht ausreichen. Politische Maßnahmen genießen prinzipiell
Vorrang. Als Instrumentarium zur Risikominderung
muss das gesamte völkerrechtliche Handlungsspektrum von diplomatischen Maßnahmen, Kontrolle
und Verifikation bis hin zur militärischen Option als
„ultima ratio“ politisch verfügbar sein. Entscheidungen von großer Tragweite müssen in den Foren
der Weltgemeinschaft unter der Prämisse der Erhaltung des Weltfriedens getroffen und dann gemeinschaftlich umgesetzt werden.
Das ist der Punkt, der uns jetzt eine unangenehme
Situation kommentieren lässt. Alle, die wir hier sitzen,
können leider nur kommentieren. Wir sind nicht Handelnde, wir sind nicht aktiv.
Jetzt komme ich zur Bundeswehr. Kein Mensch in der
CDU/CSU hat die Forderung erhoben, die Bundeswehr
solle quasi die letzte verfügbare Heeresdivision, die sie
noch hat, in den Irak entsenden. Nein, wir haben nur von
den Anforderungen gesprochen, die heute zum großen
Teil vom Bundeskanzler akzeptiert sind, zum Beispiel die
Überflugrechte, aber auch die Unterstützung des türkischen Bündnispartners, die Frage der Zahl der Patriot-Raketen und derer, die sie bedienen, die AWACS-Flugzeuge
und die ABC-Abwehrkräfte in Kuwait. Mehr ist übrigens
nie gefordert worden. In diesen Punkten sollten wir uns einigen, damit kein Popanz entsteht, der von den wahren
Fragen ablenkt. Die wahre Frage besteht darin, wie das
Bündnis NATO, die Europäische Union und wir unter
Wahrung unserer Interessen sicherheitspolitisch überleben, wenn dieser Konflikt, was immer wahrscheinlicher
wird, nicht mehr friedlich zu lösen ist und Saddam
Hussein militärisch entwaffnet worden ist.
Damit bin ich bei der Reform der Bundeswehr. Die
Reform, die momentan angedacht wird, muss durchgeführt werden. Sie muss uns befähigen, unsere Interessen
im Bündnis zu vertreten. Das ist nichts Neues. Es ist eine
alte Formulierung, die aber umso mehr Bedeutung hat,
als wir merken, dass wir in Europa in den letzten Jahren
noch nicht einmal in der Lage waren, die Konflikte in
der Region mit europäischen Mitteln zu lösen, die man
als geographischen Hinterhof bezeichnen könnte.
Das Kosovo ist nicht größer als zwei Landkreise und
es hat einer amerikanischen Intervention bedurft. Gott
sei Dank herrscht dort - Sie haben Mazedonien angesprochen - einigermaßen Stabilität, ich will nicht von
Frieden sprechen. Wir hoffen, dass wir nicht auf die
Probe gestellt werden und mehr als die 70 Soldaten, die
lobenswerterweise in Mazedonien im Einsatz sind, in
eine Situation schicken müssen, die wir möglicherweise
wieder nicht ohne die Amerikaner beherrschen können.
Deswegen sei klug und überlege, wie man ein Bündnis halten kann, das nach wie vor die gemeinsame Werteorientierung zur Basis hat. Das ist das transatlantische
Bündnis. Dazu gehört, dass wir die Aufforderung, die
wir alle in Prag unterzeichnet haben, umsetzen.
Herr Kollege Austermann war heute freundlich. Er
hat über den A400M gesprochen und nicht die knifflige
Frage gestellt - aber ich gebe dem Minister jetzt die Gelegenheit, darauf zu antworten -, wie es mit der Zwischenlösung aussieht.
({13})
Auch die muss finanziert werden. Ich habe den Eindruck, dass die Bündnispartner von uns erwarten, dass
wir Lösungen anbieten und diese auch schnellstmöglich
umsetzen.
Das Gleiche gilt übrigens für die politisch äußerst
schwierige Frage der NATO-Response-Force, diese
Einheit, die 21 000 Soldaten umfassen, gemeinsam üben
und nach kurzer Vorwarnzeit einsatzfähig sein soll.
Herr Kollege Nachtwei, Sie werden nicht daran vorbeikommen, darüber reden zu müssen. Ich will nicht den
Parlamentsvorbehalt aufheben. Im Gegenteil: Wenn man
ihn neu strickt, käme man vielleicht zu einem Initiativrecht des Parlaments. Dann würden Sie allerdings gegenwärtig mit einem Antrag konfrontiert, der AWACS betrifft, über den Sie dann abstimmen könnten. Das können
wir gegenwärtig nicht. Die Gründe dafür ergeben sich
aus der Verfassungslage.
Aber zurück zu der Frage des Parlamentsvorbehalts:
Wie wollen Sie die NATO-Response-Force, die nicht nur
innerhalb kürzester Zeit einsatzbereit sein soll, sondern
Kraft ihrer Funktion und Existenz auch ein Instrumentarium der nicht militärischen Sicherheitspolitik ist, als
glaubwürdige Komponente darstellen, wenn davon auszugehen ist, dass sie in vielen Fällen sozusagen nur hinkend eingesetzt werden kann? Ich bin dafür, dass wir uns
im Parlament grundsätzlich die politische Entscheidung
darüber vorbehalten sollten. Aber wir sollten mit der
Flexibilität nicht so weit gehen, dass Instrumente wie die
NATO-Response-Force - sofern es zu ihrer Gründung
kommt; aber sie wird notwendig sein, um die NATO zu
erhalten - politisch und militärisch belastet werden.
Über diese Themen werden wir reden müssen.
Der Kollege Nolting hat das Entsendegesetz angesprochen. Zu dem Gesetz liegt ein Antrag der FDP vor.
Ich habe nichts dagegen, wenn wir auch weiterhin wie
bisher verfahren; wir haben das Thema nämlich sehr
sachlich und nüchtern diskutiert. Wir sollten in dieser
Frage, die das Parlament als Ganzes betrifft, durchaus
versuchen, gemeinsame Wege zu gehen. Wir haben aus
Karlsruhe bereits eine Grundlage erhalten. Über die Ausgestaltung können wir noch reden. Ob wir uns in allen
Fragen einig werden, wird sich dann zeigen.
Ich bin aber - das sage ich an die Bundesregierung
gewandt - durchaus bereit, solche Fragen in einer konstruktiven und diskursiven Weise zu erörtern. Es geht
nämlich darum, den Soldaten ein möglichst hohes Maß
an Rechts- und Einsatzsicherheit zu bieten. Das haben
die Soldaten verdient.
Was die Änderung der Verfassung bei einer Ausdehnung im Zuge der Neuabgrenzung von Aufgabenbereichen angeht, bitte ich Sie: Machen Sie das Thema nicht
Christian Schmidt ({14})
zum ideologischen Popanz! Versuchen Sie, nüchtern zu
überlegen, welche Verpflichtungen wir unserer Bundeswehr auferlegen müssen! Denn letztlich handelt es sich
um eine Frage der äußeren Sicherheit. Insofern geht es
darum, zu prüfen, wo einerseits Fähigkeiten der Bundeswehr nutzbar gemacht werden müssen und wo andererseits die Grenze zur rein polizeilichen Aufgabe verläuft.
Meiner Meinung nach kann es nicht darum gehen,
Planstellen von der Polizei auf die Bundeswehr zu übertragen. Zwar könnte die Bundeswehr mehr Planstellen gut
gebrauchen, aber die Polizei hat eine andere Aufgabenstellung als die Bundeswehr. Das wird auch so bleiben.
Aber es gibt andere Fragestellungen, die vor 20, 30 oder
40 Jahren außerhalb unserer Vorstellungskraft lagen, die
aber heute auf uns zukommen können,
({15})
zum Beispiel eine Bedrohung durch ABC-Waffen, andere Bedrohungslagen, so genannte Renegade-Situationen oder Luftangriffe und die bestimmter Regelungen
bedürfen. Für mich ist die Verfassungsänderung kein
Selbstzweck. Es geht vielmehr darum, nüchtern zu klären, wie wir Rechtssicherheit schaffen und uns sicherheitspolitisch optimal aufstellen können.
({16})
Darüber müssen wir reden.
({17})
- Ich denke, dass auch in der Innenpolitik diese Erkenntnis
gewonnen werden muss. Ich kann diejenigen in der Koalition und in der Regierung, die bei den apodiktischen Äußerungen des Herrn Schily die Stirn gerunzelt haben, nur dazu
ermuntern, bei ihrer Position zu bleiben. Wir aber werden
Herrn Schily auch weiterhin sehr scharf beobachten.
({18})
Die verteidigungspolitischen Richtlinien, die angekündigt sind, werden sich mit der Neudefinition der Aufgaben
beschäftigen. Sie werden sich auch mit der Frage beschäftigen müssen, wo die Bundeswehr zu welchen Zwecken
eingesetzt werden kann. Es ist nicht von einer Bundeswehr auszugehen, die weltweit an allen Gefahrenherden
eingesetzt werden kann. Das ist personell und materiell
nicht zu schaffen und das ist auch nicht die Aufgabe unseres Landes. Im Verbund wird das allerdings bei einer gemeinsamen Interessendefinition notwendig sein.
Daraus ergibt sich die Frage, wie die Bundeswehr
verstanden wird. Wird sie als reine Interventionsarmee
verstanden? Der Satz, dass die Landesverteidigung
Deutschlands am Hindukusch beginne, hat schon etwas
für sich; denn so halten wir Gefahren für unser Land auf
Distanz. Um Landesverteidigung im verfassungsrechtlichen Sinne handelt es sich deswegen aber noch nicht.
Herr Kollege Austermann hat kürzlich darauf hingewiesen, dass sich dann sehr schnell die verfassungsrechtlich
relevante Frage stellen werde, wofür wir unsere Armee
eigentlich aufstellten. Vielleicht muss zukünftig - auch
darüber muss geredet werden - eine Bedrohungsanalyse
erstellt werden, die genau darlegt, ob unser Land oder
unser Bündnis bedroht wird. Ich denke, dies ist Anlass
genug - das ist Ihre Aufgabe -, wieder einmal ein Weißbuch vorzulegen, in dem zu diesen Fragen Stellung genommen wird.
Wenn wir zu dem Schluss kommen sollten, dass die
Landesverteidigung schon am Hindukusch beginnt, dann
brauchen wir die Bundeswehr auch in Hindelang. Das
heißt, wir müssen die Verteidigung der Sicherheit in unserem eigenen Land nach wie vor als Aufgabe sehen. Ich
glaube, dass diejenigen - das richtet sich nicht an Ihren
kleinen Koalitionspartner, sondern an die FDP -, die die
Wehrpflicht beibehalten wollen, dann ein Problem bekommen werden, wenn sie die Landesverteidigung überhaupt nicht mehr im Katalog haben. Wir können die
Landesverteidigung zwar nicht deshalb in den Katalog
aufnehmen, weil wir - das würde ich ablehnen - die
Wehrpflicht beibehalten wollen. Wenn aber das Bedürfnis besteht, die Wehrpflicht beizubehalten - ich meine,
es besteht noch zumindest bei einer latenten Problematik
und bei dem akuten Problem der asymmetrischen Verteidigung in noch sehr viel stärkerem Maße -, dann heißt
das, dass die Wehrpflicht weiterhin ihre Bedeutung hat.
Die Bundeswehr darf dann aber keine reine Einsatzarmee sein. Daran müssen sich die verteidigungspolitischen Richtlinien und die daraus abgeleiteten Planungsweisungen orientieren.
Herr Minister, ich warte darauf, dass Sie Richtlinien
erlassen, damit der Generalinspekteur weiß, wie er die
Bundeswehr umzubauen hat. Schon jetzt Fähigkeiten abzubauen und Standorte zu schließen -
Herr Kollege Schmidt, schauen Sie bitte auf die Uhr
an Ihrem Rednerpult.
({0})
Ich bedanke mich für diesen Hinweis. Ich finde, ich
könnte noch länger über das sprechen, was notwendig ist.
Herr Kollege Schmidt, ich finde nicht, dass Sie noch
länger reden können.
Frau Präsidentin, dann werden wir das zu gegebener
Zeit in den Ausschüssen und in diesem Hause fortsetzen.
({0})
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung,
Dr. Peter Struck.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Nicht nur als ehemaliges Mitglied des Haushaltsausschusses, sondern auch aus fester Überzeugung
gehört es sich, dass ich als Minister gleich zu Beginn den
Berichterstattern für meinen Haushalt danke. Ich tue das
auch, weil ich weiß, dass der Einzelplan 14 ein schwieriger, umfangreicher und in der Materie oft kontrovers diskutierter Haushalt ist. Ich bedanke mich besonders bei
der Kollegin Elke Leonhard, die zum ersten Mal als Berichterstatterin mit dem Einzelplan 14 befasst war, bei
Alexander Bonde, bei Dietrich Austermann, der sich als
Berichterstatter schon länger mit dem Einzelplan 14 befasst, bei Bartholomäus Kalb und bei Jürgen Koppelin.
({0})
Wenn ich das Ergebnis der Beratungen im Haushaltsausschuss - auch nach den intensiven Vorbereitungen
durch die Berichterstatter - bewerte, dann muss ich als
Bundesminister der Verteidigung sagen: Ich kann mit
dem zufrieden sein, was mir die Koalitionsfraktionen beschert haben. Ich wäre noch zufriedener, wenn auch das
Realität werden würde, was die Oppositionsfraktionen
beantragen. Allerdings muss ich als jemand, der auch etwas von Finanzen versteht, sagen: Ich bin natürlich froh,
dass Sie mir mehr Geld geben wollen. Aber ich weiß
ganz genau, dass das Geld nicht da ist. Insofern ist das
nicht mehr als eine Geste. Deshalb verlasse ich mich lieber auf die handfesten Aussagen meiner Fraktion.
({1})
Ich möchte zuerst etwas zu dem Thema Auslandseinsätze sagen. Ich muss nicht betonen, dass ich als
Bundesminister der Verteidigung meinen Soldatinnen
und Soldaten danke, die im Ausland eingesetzt sind. Ich
möchte aber wegen der aktuellen Situation meiner Sorge
über die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten an
den Standorten außerhalb des Bündnisgebiets Ausdruck
verleihen.
Wir wissen, dass die Situation in Afghanistan ohnehin nie ruhig und nie stabil war. Über dem Lager hat es
häufiger Schüsse gegeben. Es ist allerdings überhaupt
nicht auszuschließen, dass diejenigen Kräfte in Afghanistan, die die Präsenz der ausländischen Schutztruppe
ohnehin ablehnen, einen Krieg im Irak zum Anlass nehmen, gegen die ISAF-Truppe verschärft vorzugehen.
Was ich dargestellt habe, gilt auch für die Situation unserer Marinesoldaten am Horn von Afrika und für die Situation der Soldaten auf dem Balkan.
Herr Austermann hat die Frage gestellt: Was wird eigentlich, wenn Deutschland und die Niederlande ihre
bisherige Funktion in Afghanistan nicht mehr wahrnehmen? Wir, die Bundesregierung, arbeiten auf der Grundlage eines Bundestagsbeschlusses, der uns ermächtigt,
bis zum 10. August die so genannte Lead-Nation-Funktion in Kabul wahrzunehmen. Wir versuchen - Herr
Austermann, Sie haben das zu Recht angesprochen -,
der NATO mehr Verantwortung in Afghanistan zu übertragen. Die NATO hat bei der Ausübung des Mandats,
das das Deutsch-Niederländische Korps wahrnimmt, bei
Force Protection, bei Force Generation, bei Kommunikationstechnologien usw. viel geholfen.
Ich glaube allerdings, dass wir eine noch größere
Beteiligung der NATO erreichen sollten. Ich habe am
Wochenende in Athen mit George Robertson darüber gesprochen, der diese Linie durchaus unterstützt. Das gilt
auch für den amerikanischen Präsidenten und den amerikanischen Verteidigungsminister, mit dem ich darüber in
München gesprochen habe. Sie wissen, dass es bei unseren französischen Freunden noch Vorbehalte gibt. Neuerdings gibt es auch bei unseren belgischen Freunden
Vorbehalte.
Wir müssen spätestens im April Klarheit über die
Nachfolge des Deutsch-Niederländischen Korps haben;
denn wenn es schwierig wird, eine andere Nation als
Nachfolger zu finden, dann müssen wir natürlich auch
klären, wie sich Deutschland verhält. Nach den Gesprächen mit den niederländischen Kollegen ist ziemlich
klar, dass die Niederlande ihren Beitrag dort nicht mehr
leisten werden. In den Niederlanden wird eine neue Regierung gebildet. Das bedeutet, dass man über die bisherige Haltung noch einmal nachdenken wird.
Ich strebe nicht an, dafür zu sorgen, dass das DeutschNiederländische Korps seine bisherige Funktion länger
als vorgesehen wahrnimmt. Die Soldatinnen und Soldaten dieses Korps sind einer hohen Belastung ausgesetzt,
auch in finanzieller Hinsicht.
Wenn es nicht gelingt, der NATO eine federführende,
zumindest eine größere Verantwortung zu übertragen,
dann werden wir versuchen, eine Lösung zu finden, die
unterhalb der NATO-Ebene angesiedelt ist. Das Wehen
der NATO-Flagge in Kabul könnte ein Hauptproblem
darstellen, allerdings nicht aus der Sicht der Afghanen.
Präsident Karzai hat mir erklärt, er habe damit überhaupt
keine Schwierigkeiten. Wir werden also versuchen, von
unseren Bündnispartnern unterhalb der NATO-Ebene
mehr Hilfe zu bekommen. Wir werden in diesem Parlament im Einzelnen zu klären haben, wie sich die Rolle
Deutschlands künftig darstellt.
Wir werden auch über die Zukunft des Einsatzes deutscher Soldaten in Mazedonien eine Entscheidung treffen.
Eine meiner schwierigsten Aufgaben als Vorsitzender der
SPD-Bundestagsfraktion war - viele erinnern sich noch
an die entsprechenden Debatten -, eine einheitliche Beschlussfassung zu Mazedonien zu erreichen. Damit waren
bittere Stunden verbunden. Diese Beschlussfassung war
nicht nur in der SPD-, sondern auch in der FDP- und in der
CDU/CSU-Fraktion heftig umstritten.
Wenn man ein Fazit im Hinblick auf den Mazedonien-Einsatz zieht, dann muss man sagen: Es steht außer
Frage, dass der Einsatz in Mazedonien ein Erfolgsmodell
gewesen ist. Die Bedenken, die viele hatten, haben sich
im Nachhinein als völlig unberechtigt erwiesen. Ich bin
jetzt sehr froh darüber - ich denke, das Parlament wird
der entsprechenden Vorlage am Donnerstag, also morgen, zustimmen -, dass die Europäische Union die Führung der internationalen Schutztruppe in Mazedonien
übernimmt; denn es entspricht einer neuen europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Verantwortung
von der NATO zu übernehmen. Diese Verantwortungsübernahme ist ein Beweis für die Leistungsfähigkeit der
Europäischen Union.
({2})
Darauf können wir, auch als Bürger eines wichtigen
Staates in Europa, stolz sein.
Ich will etwas zu dem Thema Standortschließungen
sagen. Herr Kollege Austermann hat es angesprochen.
Das, was er dazu gesagt hat, ist aus der Sicht SchleswigHolsteins - ich erinnere an die Debatten über das
Marinefliegergeschwader 2 - vielleicht verständlich. Ich
will den Hintergrund der Entscheidungen, die ich vom
Generalinspekteur der Bundeswehr erbitte, erläutern. Es
ist völlig klar, dass wir die Reform der Bundeswehr vorantreiben müssen. Wir müssen Stückzahlen weiterhin
senken, wie wir es bei bestimmten Beschaffungsvorhaben getan haben. Die Reduzierung der Stückzahlen und
die damit verbundenen Maßnahmen werden sich für
meine Nachfolgerin oder meinen Nachfolger - ich vermute nicht, dass ich im Jahr 2010 oder 2012 noch Bundesminister der Verteidigung sein werde; man weiß es
aber nicht ({3})
aber nicht finanziell auswirken.
Wir müssen aber auch noch weitere Maßnahmen ergreifen. Wir wollen uns so schnell wie möglich von veraltetem und wartungs- und kostenintensivem Material
trennen. Wir konzentrieren uns bei der Beschaffung auf
das Material, das die Bundeswehr für den Einsatz heute
und auch morgen braucht. Wir verfolgen multinationale
Kooperationslösungen. Wir vermeiden unnötige Redundanzen und gestalten den Betrieb effizient. Das ist
Grundlage für die Weisung des Generalinspekteurs, die
bekanntlich ergangen ist.
Das Heer wird eine ausgewogene Struktur mit in sich
lebensfähigen und zu flexibler Truppeneinteilung befähigten Großverbänden entwickeln und realisieren, alles
unter der Überschrift: Die Bundeswehr im Einsatz. Ich
glaube nicht, dass wir darüber politischen Streit haben
werden.
Wir wollen zum Beispiel die Durchhaltefähigkeit von
Fernmeldepionieren und ABC-Abwehrkräften verbessern. Vor allem die Soldaten sind es, die beim Wehrbeauftragten vorstellig werden. Von Christian Schmidt
und auch von Günther Nolting ist die gestiegene Zahl
von Eingaben beim Wehrbeauftragten angesprochen
worden. Das hat natürlich auch etwas mit den Auslandseinsätzen zu tun. Wenn man mehr Auslandseinsätze
durchführt, braucht man sich nicht darüber zu wundern,
dass es Soldaten gibt, die sich dadurch beschwert fühlen
und das auch vortragen. Ich nehme das alles sehr ernst.
Herr Nolting, Sie haben einige Vorschläge unterbreitet, zum Beispiel zur Besoldungsanpassung Ost/West.
Die Besoldungsanpassung Ost/West würde ich gern machen. Sie scheitert nicht an der Bundesregierung. Sie
wissen, dass wir sie bis zum Jahr 2007 realisiert haben
wollen. Es scheitert an den Ländern und an den Gemeinden in den neuen Ländern, weil sie das Geld nicht erwirtschaften können. Womit sollen sie das bezahlen?
Was das Heer angeht, so werden wir auf das zweite
Los „Tiger“, also 30 Hubschrauber, verzichten. Damit
werden wir im Zeitraum von 2008 bis 2013 zusätzliche
Mittel in Höhe von rund 700 Millionen Euro für Rüstungsinvestitionen freischaufeln.
Die Luftwaffe wird ihre Flugabwehrraketenverbände
„Hawk“ und „Roland“ außer Dienst stellen. Es ist klar,
an welchen Standorten das sein könnte.
Nachdem diese Weisung, mit meiner Zustimmung, ergangen war, hat es in den entsprechenden Standorten sofort Aufregung gegeben. Ich kann das nachvollziehen.
Dazu muss ich Ihnen aber deutlich sagen, meine Damen
und Herren: Man kann nicht einerseits vom Bundesminister der Verteidigung erwarten, dass er seine Aufgaben mit einem bestimmten Finanzrahmen erfüllt - diesen
Finanzrahmen akzeptiere ich; ich bin mit dem Finanzminister gut befreundet; wir bekommen das auch einigermaßen hin; natürlich hätte ich gern ein bisschen
mehr, aber er hat ja nichts -, und auf der anderen Seite
von ihm verlangen, an Waffensystemen oder Standorten
festzuhalten, obwohl sie nicht mehr in sein Konzept zum
Betrieb der Bundeswehr passen. Das - diese Bemerkung
muss erlaubt sein - passt nicht zusammen!
({4})
Wir werden die Situation an jedem einzelnen Standort
noch einmal ausführlich diskutieren.
Wir haben 304 Tornados. Inhalt der Weisung ist, 80 bis
90 Tornados - ich habe gestern zum ersten Mal öffentlich gesagt, dass es auch 100 sein können - außer Betrieb zu nehmen. Dadurch wird die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland überhaupt nicht
beeinträchtigt. Wir sparen aber eine Menge Betriebskosten. Wir können umstrukturieren. Auch das wird natürlich zu Debatten führen. Es wird die Frage gestellt werden: Sind auch die 46 Marineflieger-Tornados aus
Eggebek dabei?
Um auch hier öffentlich etwas zu Schleswig-Holstein
zu sagen, Herr Kollege Austermann: Der 28. März ist
nicht das Fallbeildatum. Der 28. März ist das Datum, zu
dem mir der Generalinspekteur den Vorschlag der Inspekteure der Teilstreitkräfte vorlegen soll. Ich bewerte
ihn dann. Es ist eine politische Entscheidung zu treffen.
Weil es massive Maßnahmen in der Region gibt - ich
weiß von ihnen und sie beeindrucken mich auch -, wollte
ich klarstellen: Das ist nicht der Tag der Entscheidung.
({5})
Bis zur Entscheidung wird es noch etwas länger dauern.
Meine Damen und Herren, ich will Ihre Geduld nicht
überstrapazieren,
({6})
aber ich will noch etwas zu den gestellten Fragen sagen.
Zu Strategic Airlift ist, glaube ich, von Christian
Schmidt gefragt worden. Das heißt, wir wollen Großraum-Lufttransportkapazität schaffen, bis der erste
A400M bei uns steht. Sie wissen, dass wir uns in Prag
verpflichtet haben, dafür die Federführung zu übernehmen. Es hat verschiedene Gespräche mit den anderen
neun Staaten gegeben, die sich an diesem Projekt beteiligen wollen. Es hat Berechnungen gegeben. Das Ergebnis
ist - darüber werden wir noch verhandeln und auf einer
Verteidigungsministerkonferenz voraussichtlich im Juni
entscheiden -, dass es auf ein Mixmodell zwischen Kaufen und Leasen wahrscheinlich von Antonow-Großraumflugzeugen hinausläuft, die in Konkurrenz zu den
großen Boeings, den Galaxys, die Sie ja alle kennen, stehen. Aber wenn man die Daten zur Kenntnis nimmt, die
uns bisher vorgelegt worden sind, dann muss man sagen,
dass das Angebot, das wir da bekommen haben, in wirtschaftlicher Hinsicht das realistischste ist.
Nun erheben die amerikanischen Freunde verständlicherweise einige Einwände. Wir sind aber bei dem Strategic Airlift, auf einem guten Weg.
Dann ist angesprochen worden, wie weit ich mit dem
Kollegen Otto Schily bin, was den Einsatz der Bundeswehr in bestimmten Situationen angeht.
({7})
Der Kollege Otto Schily hat in der Arbeitsgruppe, die
wir eingerichtet haben, jetzt ein so genanntes Luftpolizeigesetz vorgelegt. Es geht um den Frankfurter Fall,
den wir alle kennen.
({8})
Ich glaube, es ist klar, dass ein Eingriff jedenfalls bei einem solchen Fall nur mit einer klaren gesetzlichen Kompetenz für die Luftwaffe erfolgen kann.
({9})
Ob das Luftpolizeigesetz reicht oder ob man nicht
vielleicht, wie die Verteidigungspolitiker der SPD-Fraktion dargelegt haben, auch noch andere Fälle im Kopf
haben muss, zum Beispiel Gefährdungen unseres Landes
terroristischer Art über Wasser, bei denen vielleicht nur
die Marine helfen kann, werden wir klären. Aber die
Antwort auf die Frage ist: Wir werden in Kürze innerhalb der Bundesregierung dazu eine abschließende Entscheidung herbeiführen und diese dann den Koalitionsfraktionen und den zuständigen Ausschüssen vorlegen.
Mit Blick auf den bevorstehenden Irakkrieg will ich
noch etwas zur Situation unserer Soldaten in Kuwait
sagen. Das deutsche ABC-Abwehrkontingent besteht
zurzeit aus knapp 100 Soldaten. Sie werden dort bleiben,
und zwar ausschließlich im Rahmen des Mandates, das
ihnen der Bundestag gegeben hat. Im Falle eines terroristischen Anschlages gegen die im Camp Doha stationierten US-Streitkräfte oder gegen die Zivilbevölkerung des
Landes werden sie humanitäre Hilfe leisten. Die deutschen ABC-Abwehrkräfte werden auch im Falle eines
Krieges gegen den Irak mit unverändertem Auftrag dort
verbleiben.
({10})
Die Abkürzung für das ABC-Abwehrkontingent - ich
musste als Verteidigungsminister auch erst einmal lernen, dass man viel in Abkürzungen denken muss - ist
Combined Joint Task Force Consequence Management,
was nichts anderes heißt, als dass deutsche, amerikanische und tschechische ABC-Abwehrkräfte in dieser Task
Force zusammengefasst sind.
Die Amerikaner haben ihre Abwehrkräfte teilweise
abgezogen. Die Tschechen haben uns mitgeteilt, dass
auch sie ihre Abwehrkräfte abziehen werden, wenn die
Situation im Irak entsprechend ist. Wir erwarten also,
dass die amerikanischen und tschechischen Einheiten
vollständig verlegt werden. Vor diesem Hintergrund gilt
es, den Eigenschutz, die Durchhaltefähigkeit und die Fähigkeit zur Eigendekontamination des in Kuwait verbleibenden deutschen Kontingents zu verbessern.
Das heißt - um das dem Parlament konkret mitzuteilen -, dass wir dieses Kontingent so schnell wie möglich
durch in Deutschland bereitgehaltene Kräfte - der Bereitstellungsbefehl ist gestern ergangen - auf etwa 200
bis 250 Mann verstärken. Das ist zur Erfüllung der Aufgabe und zum Schutz der deutschen Soldaten in Kuwait
erforderlich. Das ist unsere Verantwortung, meine Damen und Herren, und wir werden sie im Interesse der
Soldaten in Kuwait wahrnehmen.
({11})
Zuletzt ein kurzes Wort zum Thema Wehrverfassung. Ich weiß, dass es zwei Fraktionen in diesem Hause
gibt, die die Auffassung vertreten, eine Berufsarmee
könne die Aufgaben, die auf uns zukommen, besser bewältigen als die jetzige Wehrpflichtarmee. Sie wissen,
ich als Bundesminister der Verteidigung vertrete eine andere Auffassung. Ich - genauso wie die Sicherheitspolitiker meiner Fraktion - bin aus verschiedenen Gründen
für die Beibehaltung der Wehrpflicht.
({12})
Was ich aber nicht bestreiten will, ist der Umstand,
dass man, wenn man die Bundeswehr zu einer Armee im
Einsatz macht, natürlich auch zu berücksichtigen hat, in
welcher Weise der Wehrdienst dann ausgestaltet werden
muss. Ich will hier ausdrücklich sagen, dass diejenigen,
die uns beraten, die Mitarbeiter meines Hauses, aber
auch Berater von außerhalb, darüber nachdenken sollen,
wie lange der Wehrdienst dauern soll und welche Aufgaben zu erfüllen sein werden.
Ich schließe also ausdrücklich nicht aus, dass ich den
Koalitionsfraktionen - wenn es geht, noch vor der Sommerpause, wenn nicht, dann danach - einen Vorschlag
über die Ausgestaltung und über die Dauer des Wehrdienstes unterbreiten werde. Wenn der Vorschlag dazu
führen sollte, Herr Kollege Schmidt, dass man das Gesetz über die Wehrpflicht ändern muss, werde ich die
Koalitionsfraktionen darum bitten, das möglichst bald
auf den Weg zu bringen. Denn wenn man zum Beispiel
weniger als neun Monate Wehrpflicht festlegt, braucht
die Bundeswehr eine gewisse Zeit, um das umzustellen.
Insbesondere im Heer ist die Umstellung groß, wenn die
Wehrpflicht um einige Monate gekürzt wird. In dieser
Frage brauchen wir möglichst bald eine Entscheidung
des Parlaments.
Es ist sehr wichtig, wenn ich zum Schluss noch einmal betone: Ich bedanke mich sehr dafür, dass wir in den
grundsätzlichen politischen Fragen, was die Aufgaben
und auch die Fähigkeiten der Bundeswehr angeht, in diesem Hause einen breiten Konsens haben. Das ist im
Sinne unserer Soldatinnen und Soldaten gut und sollte
auch so bleiben.
({13})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Alex
Bonde, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich möchte zum Anfang meiner Rede kurz
einen Zuhörer begrüßen. Ein herzliches Willkommen an
den ehemaligen Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses, Helmut Wieczorek. Schön, dass Sie uns auch
zu später Stunde die Treue halten.
({0})
Rot-Grün hat hinsichtlich des Plafonds des Verteidigungsministeriums Wort gehalten. Der Plafond ist bei
24,4 Milliarden Euro stabil. Dennoch haben wir auch
in diesem Bereich einen notwendigen Konsolidierungsbeitrag in Höhe von 94 Millionen Euro geleistet.
Damit schaffen wir eine verlässliche Basis für weitere
Reformen und für die Modernisierung der Bundeswehr.
Die Opposition hat auch in diesem Feld durch Aufwuchswünsche auf Pump in Höhe von einer halben
Milliarde Euro hier und von über 1 Milliarde Euro im
Verteidigungsausschuss auf sich aufmerksam gemacht;
nicht durch einen seriösen Umgang mit Finanzen.
Ich muss Ihnen sagen, dass ich heute, an einem Tag,
an dem Befürchtungen und Meldungen die ganze Problematik des Einsatzes von Militär deutlich machen,
meine Schwierigkeiten habe, hier nur auf einer Zahlenebene das Militär zu diskutieren.
Ich finde dies auch schwierig in einer Situation, in der
wir sehr deutlich sehen, welche unheilvollen Reize von
militärischen Mitteln ausgehen können und wie hoch
der Reiz des Einsatzes militärischer Mittel sein kann und das, obwohl zivile, friedliche Mittel zur Problemlösung noch nicht ausgeschöpft sind. In der Debatte heute
Morgen hier im Plenum habe ich sehr unterschiedliche
Kulturen im Umgang mit Militär erlebt. Ich muss sagen:
Herrn Glos und Frau Merkel zuzuhören ist schon sehr
beklemmend.
({1})
- Nein, es ist kein Genuss, Herr Schmidt. Ich muss Ihnen
ehrlich sagen: Nach den Argumenten von heute Morgen
- wenn Sie das jetzt noch bestätigen, macht mich das
noch ein Stück weit bedrückter - hatte man zum Teil
schon die Sorge, dass es auch hier im Hause Menschen
gibt, die heute weniger gern über den Haushalt unserer
Soldaten und stattdessen lieber über Marschbefehle für
unsere Soldaten reden wollen.
Herr Austermann, da Sie eben Außenminister Fischer
zitiert haben, muss ich Ihnen sagen: Mir wäre viel wohler, wenn die Opposition in den letzten Wochen und Monaten sehr viel häufiger auf Fischer gehört hätte. Sie
wäre dann jetzt nicht in der Situation, hier rumeiern zu
müssen und nichts darüber sagen zu können, was denn
eigentlich ihre Position zum amerikanischen Ultimatum
ist. Sie wäre auch nicht in der Situation, hier - wenn sie
aufrichtig wäre - zugeben zu müssen, dass sie mit ihrer
Position den Kriegseinsatz, der heute, morgen oder in
den nächsten Tagen stattfinden kann, legitimiert.
Wenn Sie schon nicht auf Außenminister Fischer hören, dann hören Sie doch wenigstens auf Ihren Kollegen
Gröhe, der in einem „Spiegel online“-Artikel von gestern, bezeichnenderweise mit der Überschrift „Müller rudert zurück, Merkel schlingert“, mit der Aussage zitiert
wird, dass er die Unterstützung des Ultimatums durch
die Fraktion nicht mittragen könne, da dies einen Militärschlag einschließt. Ich glaube, wir wissen damit, wer
in dieser Frage auf welcher Seite steht. Da hilft Ihnen
auch das Rumeiern und ein Beschönigen dieser Frage
nichts.
Ich finde es traurig, dass der jahrzehntelange Konsens
in der Weltgemeinschaft bei der Frage des Einsatzes
von Militär bedroht ist. Ich finde es auch sehr bedauerlich, dass dieser Konsens - trotz aller Beschönigungsreden - in diesem Hause offensichtlich nicht mehr existiert.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 14
in der Ausschussfassung. Es liegen drei Änderungsanträge der Fraktion der CDU/CSU sowie ein Änderungsantrag der Fraktion der FDP vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 15/668? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? ({0})
Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der
FDP abgelehnt.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 15/669? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/
CSU und der FDP abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 15/670? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/
CSU und der FDP abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 15/683? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU
und der FDP abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den
Einzelplan 14 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Einzelplan 14 ist mit den Stimmen der Koalition gegen
die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe auf:
Einzelplan 23
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
- Drucksachen 15/568, 15/572 Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Schulte ({1})
Antje Hermenau
Es liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/
CSU sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP vor. Über den Entschließungsantrag werden wir
morgen nach der Schlussabstimmung abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jochen Borchert, CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute einen Haushalt für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der finanziell eine völlig unzureichende Basis für
die deutsche Entwicklungspolitik darstellt.
({0})
Daran ändert auch der Hinweis, der heute sicherlich
wieder kommen wird, auf den Anstieg der ODA-Zahlen
nichts, auch wenn dies immer als Erfolg der Regierungspolitik dargestellt wird. Der Anstieg um 11 Prozent seit
1998 ist fast ausschließlich auf den gestiegenen Schuldenerlass für Entwicklungsländer zurückzuführen.
Trotz dieses Anstiegs werden Sie bei dieser mittelfristigen Finanzplanung auch bei einem noch höheren
Schuldenerlass Ihr Ziel, bis zum Jahr 2006 0,33 Prozent
des Bruttosozialprodukts für die Entwicklungspolitik
auszugeben, ganz sicher nicht erreichen. Die Notwendigkeit eines Schuldenerlasses für hoch verschuldete
Entwicklungsländer möchte ich durchaus unterstreichen. Aber neben einem Schuldenerlass brauchen diese
Länder vor allem eine weitere finanzielle Unterstützung.
Der Vergleich der finanziellen Ausstattung des Einzelplans 23 von 1998 mit dem des Jahres 2003 wird von Ihnen
verständlicherweise nicht so gern dargestellt. Der Einzelplan 23 für das Jahr 2003 hat nach Abschluss der Haushaltsberatungen ein Volumen von 3 768 000 000 Euro. Davon können vom BMZ 30 Millionen Euro nicht eingesetzt
werden. Sie werden vielmehr vom AA, vom Auswärtigen
Amt, bewirtschaftet. Das soll auch in den Jahren 2004 bis
2006 der Fall sein.
Frau Ministerin, dies zeigt: Sie haben sich im Kabinett bei den Haushaltsberatungen nicht gegenüber Ihrem
grünen Kollegen Fischer durchsetzen können.
({1})
Im nächsten Jahr, im Jahr 2004, sollen sogar weitere
50 Millionen Euro aus dem Einzelplan 23 durch das
Auswärtige Amt bewirtschaftet werden. Diesmal sind sie
für Südosteuropa vorgesehen.
Frau Ministerin, bereinigt um diese 30 Millionen Euro,
stehen Ihnen in diesem Jahr lediglich 3 738 000 000 Euro
zur Verfügung. Im Vergleich zum Haushalt 1998, also zu
dem im letzten Jahr vor dem Regierungswechsel - damals
umfasste der Einzelplan 23 4 052 000 000 Euro -, stehen
Ihnen in diesem Jahr 314 Millionen Euro bzw. knapp
8 Prozent weniger zur Verfügung.
({2})
Dies ist wahrlich kein Ruhmesblatt der rot-grünen Entwicklungspolitik.
({3})
Aber auch im Vergleich zum Haushalt 2002 ist die Bilanz negativ. Im vergangenen Jahr hatte der Einzelplan
23 ein Volumen von 3 699 000 000 Euro. Hinzu kamen
152 Millionen Euro aus dem Antiterrorprogramm und
Mittel aus dem Einzelplan 60 für Afghanistan. Damit
konnten Sie über insgesamt 3 851 000 000 Euro verfügen. Im Vergleich zum Jahr 2002 haben Sie in diesem
Jahr 113 Millionen Euro bzw. knapp 3 Prozent weniger
Mittel zur Verfügung. Während der Bundeshaushalt um
rund 0,4 Prozent sinkt, sinkt der Einzelplan 23 um knapp
3 Prozent.
Frau Ministerin, Sie und die Entwicklungspolitik sind
die Verliererinnen der Haushaltsberatungen 2003. Die
Debatte in diesen Tagen hat gezeigt: Der gescheiterte
Versuch einer Haushaltskonsolidierung geht zulasten der
Entwicklungshilfe. Die Haushaltskonsolidierung ist gescheitert; die schmerzhaften Einschnitte in die Entwicklungshilfe bleiben bestehen.
Frau Ministerin, Sie haben in der ersten Lesung des
Haushaltes darauf hingewiesen, dass die Entwicklungspolitik weit mehr umfasst als die Maßnahmen des Einzelplans 23. Auch die Beiträge anderer Ressorts und anderer
staatlicher Ebenen müssten berücksichtigt werden. Wenn
man sich die Zusammenstellung der entwicklungspolitischen Ausgaben, die im Einzelplan 23 veröffentlicht
worden sind, unter Zugrundelegung internationaler
Richtlinien ansieht, dann kommt man zu dem Ergebnis,
dass wir uns gemeinsam fragen sollten, ob alle Mittel
sinnvoll eingesetzt worden sind. Der Zusammenhang
zwischen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit
und den Ausgaben für humanitäre Hilfsmaßnahmen außerhalb der Entwicklungshilfe sowie den Ausgaben der
Gemeinden gemäß dem Asylbewerberleistungsgesetz
leuchtet sicherlich kaum jemandem ein.
Bei dem Hinweis auf die Beiträge anderer Ressorts
stellt sich aber auch die Frage, wie diese Maßnahmen
koordiniert werden. Einer der zentralen Bereiche der
Entwicklungspolitik ist die bilaterale technische Zusammenarbeit. Die Maßnahmen in diesem Bereich werden von der GTZ, der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, durchgeführt. Die GTZ hat ihre
Leistungsfähigkeit auch im internationalen Wettbewerb
mit anderen Durchführungsorganisationen bewiesen.
Welchen Sinn macht es da, dass 23 Millionen Euro der
GTZ durch das Auswärtige Amt bewirtschaftet und in
eigener Regie in Afghanistan eingesetzt werden? Das
BMZ und das AA wollen die Maßnahmen durch monatliche Treffen eines Lenkungsausschusses koordinieren.
Der Zugriff des AA auf die Mittel der TZ erfolgte
nicht, um knappe Mittel möglichst effizient einzusetzen.
Vielmehr ist auch dies die Auswirkung eines rot-grünen
Streits innerhalb des Kabinetts um Einfluss auf die Entwicklungspolitik. Und in diesem Streit unterliegen Sie,
Frau Ministerin, im Gegensatz zu all Ihren Ankündigungen.
Das Auswärtige Amt macht Ihnen inzwischen sogar
die Sprecherrolle bei der Geberkoordinierung streitig.
Das war bisher ein herausragender Bestandteil des
BMZ-Profils. Erhard Eppler muss sich grün ärgern,
wenn er sieht, wie Sie sein Erbe aufs Spiel setzen und
wie Sie hilflos nach Worten suchen, um Ihre Niederlage
zu kaschieren.
({4})
Das Ergebnis der Verteilung der Mittel der Zusammenarbeit auf mehrere Etats ist in erster Linie ein Beschäftigungsprogramm in den Ministerien zulasten einer effizienten Entwicklungspolitik. Ich will dies am
Beispiel eines anderen Ressorts ansprechen. Im Einzelplan 10, Bundesministerium für Verbraucherschutz, sind
in diesem Jahr neu 10 Millionen Euro für die bilaterale
Zusammenarbeit mit der FAO eingestellt worden. Das
BMVEL will die Mittel unter anderem in Afghanistan
einsetzen für den Aufbau staatlicher Strukturen zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung sowie zur Förderung
von Organen der Zivilgesellschaft. Die Projektplanung
will das BMVEL mit der FAO in enger Zusammenarbeit mit dem BMZ, der GTZ, dem AA und dem BMF
vornehmen. Diese Abstimmung soll vorgenommen werden, um Kohärenz und Synergieeffekte der deutschen
bilateralen Entwicklungszusammenarbeit sicherzustellen.
Meine Damen und Herren, Kohärenz und Synergieeffekte wären sichergestellt, wenn diese Mittel und die
Mittel der anderen Ressorts im Einzelplan 23 veranschlagt worden wären und durch die bewährten Instrumente der Entwicklungspolitik eingesetzt würden.
Dann wären weder Lenkungsausschüsse noch Koordinierungsgespräche zwischen den Ministerien nötig.
Hieran zeigt sich: Erfolgreiche Entwicklungspolitik
ist nicht nur eine Frage des Inputs, des Umfangs der zur
Verfügung stehenden Mittel, sondern auch eine Frage
des Outputs, das heißt des effizienten Einsatzes im Rahmen einer konzeptionell überzeugenden Entwicklungspolitik.
({5})
Die Verlagerung der Mittel in andere Ressorts vergrößert
die Probleme einer kohärenten Regierungspolitik und
belastet die Glaubwürdigkeit der deutschen Entwicklungspolitik.
Im Jahr 2002 wurde der Titel 687 05, Aktionsprogramm 2015, als deutscher Beitrag zur Armutsbekämpfung neu eingerichtet. Was verbirgt sich hinter diesem Titel? Hier wurden aus Gründen der
Optik 40 Millionen Euro zusammengefasst und mit
Deckungsvermerken wieder auf eine Vielzahl von
Empfängern verteilt. Das BMZ weist darauf hin,
dass die Erfahrungen positiv seien, da unter anderem der administrative Aufwand gering gehalten
werde, weil keine zusätzlichen Projektbewilligungsverfahren eingeführt werden müssten.
Ohne diesen Sammeltitel, bei einem Verzicht auf
diese Optik, könnten die Mittel gleich für Kirchen, Stiftungen und andere Nichtregierungsorganisationen eingesetzt werden. Die Organisationen wüssten früher, wie
viele Mittel ihnen zur Verfügung stehen, die Planung
und Durchführung der Projekte würde erleichtert und der
administrative Aufwand wäre für alle Beteiligten geringer. Dies wäre ein Beitrag zur immer wieder geforderten
Stärkung der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit.
({6})
Aus der Sicht der Haushälter und auch aus der Sicht
des Parlaments gehen die vielen Deckungsvermerke im
Einzelplan 23 zulasten der Haushaltsklarheit. Auch nach
Abschluss der Haushaltsberatungen bleibt aufgrund der
vielen Deckungsvermerke offen, in welchem Bereich
wie viele Mittel eingesetzt werden. Wenn die Politik der
vergangenen Jahre, immer mehr Deckungsvermerke bei
den einzelnen Haushaltstiteln anzubringen, fortgesetzt
wird, werden wir in Kürze nur noch den Gesamtplafond
für den Einzelplan 23 beschließen und es dann dem
BMZ überlassen, wo die Mittel eingesetzt werden. Wenn
wir das Haushaltsrecht des Parlaments ernst nehmen,
dann kann diese Entwicklung weder im Interesse der
Opposition noch im Interesse der Koalitionsfraktionen
liegen. Der Haushaltsklarheit widerspricht es eben auch,
dass in diesem Jahr 30 Millionen Euro im Einzelplan 23
ausgewiesen werden, die aber nicht dem BMZ, sondern
dem Auswärtigen Amt zur Verfügung stehen.
Insgesamt ist der Einzelplan 23 durch eine fehlende
Gesamtkonzeption und eine Aufsplitterung der finanziellen Ressourcen auf verschiedene Ressorts geprägt. Der
Einzelplan 23 wird in der vorliegenden Form den Herausforderungen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit weder konzeptionell noch finanziell gerecht.
Deshalb lehnen wir den Einzelplan 23 ab.
Vielen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Schulte,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Borchert, wir beide gehören zu den Abgeordneten - ich sehe unseren Ausschussvorsitzenden gerade nicht -, die schon lange in der Politik sind und deswegen auch Erinnerungen an Oppositions- und
Regierungszeiten haben. Wir können uns daher sehr gut
daran erinnern, dass der frühere Berichterstatter zum
Einzelplan 23 - das waren Sie nämlich früher schon einmal - sehr viel Wünschbares vorschlug, aber bei der Regierung von Helmut Kohl leider nicht durchsetzen
konnte. Ich war nun auch ein paar Jahre lang nicht ordentliches Mitglied des Haushaltsausschusses des Bundestages. Gleichwohl stelle ich heute fest, dass es die
Bundesregierung zu Beginn der 90er-Jahre versäumte,
die wohlgeordneten Finanzverhältnisse unter Herrn Kollegen Stoltenberg - er war der letzte Finanzminister, der
den Haushalt halbwegs im Griff hatte - beizubehalten. In
den 90er-Jahren ging die Struktur des Bundeshaushaltes
völlig aus dem Leim, weil großzügig Geschenke an alle
Welt gemacht worden sind. Deshalb haben wir heute das
Problem, dass wir manches Wünschbare leider nicht bezahlen können.
Mir macht es wirklich Spaß, die Welt einmal nicht nur
aus der nationalen Sicht eines Regierungsmitglieds, eines Mitglieds einer Regierungspartei oder einer Oppositionspolitikerin, sondern im internationalen Kontext zu
betrachten, weil man dann lernt, dass die Perspektiven
andere sind. Allerdings hätte ich mir gewünscht, meine
Damen und Herren, dass wir den Haushalt heute in einer
anderen Situation beraten könnten. Ich weiß nicht, ob es
Ihnen genauso geht. In den vielen Jahren meiner politischen Arbeit habe ich zwei besonders schreckliche Situationen erlebt: Ich meine die entsetzliche Erfahrung des
Auseinanderbrechens Jugoslawiens, die damit verbundenen Bürgerkriege und schließlich das militärische Eingreifen bis hin zu Kampfeinsätzen, an denen auch die
Bundeswehr im Jahre 1999 beteiligt war. Ich kann mich
recht gut daran erinnern, wie viel Gewalt und Zerstörung
ich bei den vielen Besuchen gesehen habe, die ich als
Vorsitzende des Ausschusses für zivile Angelegenheiten
der NATO-Parlamentarier ab 1995 auf dem Balkan und
in Bosnien-Herzegowina gemacht habe.
({0})
Das Positive war, dass in den letzten Jahren durch zivile Hilfsorganisationen, durch internationale Organisationen und durch den bedeutenden Einsatz militärischer
Kräfte einiges wieder aufgebaut worden ist. Es ist für
mich schwierig, an dem Abend vor einer zweiten militärischen Eskalation um den Irak - über die auf uns zukommenden Ausmaße wissen wir relativ wenig - über
die Erfolge deutscher Entwicklungspolitik zu sprechen.
Frau Bundesministerin, liebe Heidemarie WieczorekZeul, ich bin völlig anderer Meinung als der Kollege
Borchert.
({1})
Ich finde, Sie, Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im
Ministerium, die Abgeordneten im Fachausschuss sowie
die Außenpolitiker, Wirtschaftspolitiker und Haushaltspolitiker - das sind nicht zuletzt die Kolleginnen und
Kollegen, die ich hier sehe und die an dieser Debatte
teilnehmen - das UN-Ziel, die Armut in der Welt bis
zum Jahr 2015 zu halbieren, mit viel Schwung und Engagement angegangen. Wenn der Finanzminister noch
mehr Geld zur Verfügung gestellt hätte, dann wären wir
schon ein Stück weiter.
({2})
Überlegen Sie einmal, was der militärische Einsatz im
Irak kostet. Was könnte man mit dem Geld alles tun?
Wie viele Waffen würden nicht eingesetzt? Wie viele
Menschen, Soldaten und Zivilisten würden nicht ums
Leben kommen? Wie viel Infrastruktur - die anschließend mit Beträgen in Milliardenhöhe wieder aufgebaut
wird - würde nicht zerstört werden? Wie viele natürliche
Lebensgrundlagen würden bewahrt bleiben?
Dabei haben die Teilnehmer der 55. UN-Generalversammlung in ihrer Millenniumserklärung beschlossen, dass der Anteil der Bevölkerung, deren Einkommen weniger als 1 Dollar pro Tag beträgt, und der
Anteil der Menschen, die Hunger leiden, halbiert werden solle. Sie hatten sich vorgenommen - die Bundesregierung und Heidemarie Wieczorek-Zeul waren dabei
besonders beteiligt -, dass endlich möglichst vielen
Leuten auf der Erde hygienisches Trinkwasser zur Verfügung stehen solle. Außerdem - das scheint mir persönlich das Wichtigste zu sein - sollten Jungen und
Mädchen gleichberechtigten Zugang zu allen Bildungsgängen erhalten.
({3})
Diese Aufgaben zu lösen ist ein Wettlauf gegen die
Zeit, an dem sich sehr viele engagierte Menschen auf der
Welt beteiligen müssen. Ich bin mir sicher, dass Sie dabei auf meiner Seite sind. In diesem Punkt stehen wir
alle beieinander.
Eine hat in den letzten vier Jahren mit aller Kraft, mit
ihrer Durchsetzungsfähigkeit, mit ihrer Zähigkeit und
Brigitte Schulte ({4})
mit ihrem Namen viel geleistet. Frau Bundesministerin,
ich finde, Sie haben der deutschen Entwicklungspolitik
wieder einen Namen und ein Gesicht gegeben. Das sollte
man in aller Deutlichkeit anerkennen.
({5})
Deshalb wollen die Mitglieder des Haushaltsausschusses
und die Berichterstatter - Kollege Borchert bringt das in
seinen Anträgen zum Ausdruck - helfen, damit die gesetzten Ziele von Deutschland realisiert werden können.
Nicht alle Felder der nationalen und internationalen
Politik haben für den Bürger nachvollziehbare Ziele. Anders ist das auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Im Jahr 2002 betrug die Weltbevölkerung
6,211 Milliarden Menschen. Davon lebten - man kann
es auch den Bürgern in Deutschland nicht oft genug sagen - nicht einmal 1,2 Milliarden Menschen in den stärker entwickelten Regionen der Welt, also beispielsweise
bei uns, im westeuropäischen und nordamerikanischen
Teil der Welt, über 5 Milliarden lebten in weniger entwickelten Regionen und 700 Millionen in den ärmsten
Ländern der Erde.
Nur jemand, der an seiner eigenen Zukunft in
Deutschland und der seiner Angehörigen nicht interessiert ist, der kann darüber hinwegsehen, wie die Lage bei
unseren Nachbarn im südlichen und östlichen Mittelmeerraum bereits aussieht. Ich möchte Sie ein bisschen
nachdenklich machen: Marokko hat heute schon eine
Bevölkerung von 31 Millionen. Nach den Prognosen der
UN wird sie bis 2050 auf über 50 Millionen anwachsen.
Algerien hat 31 Millionen Einwohner. Ich kann mich
noch an die Zahlen erinnern, die wir in der Schule gelernt haben; da lag deren Einwohnerzahl bei weit unter
20 Millionen. Sie wird bis 2050 auf 51 Millionen Menschen anwachsen. Ägypten liegt bei 70 Millionen Einwohnern. Als ich das Land vor zehn Jahren privat besucht habe, waren es 60 Millionen Einwohner. Ich
empfand es schon damals als hoffnungslos übervölkert.
Die Bevölkerungszahl Ägyptens wird bis 2050 auf
114 Millionen anwachsen. Die Einwohnerzahl von Palästina wird demnach von 3,4 Millionen auf 11,8 Millionen wachsen. Israel wächst von 6 Millionen auf 10 Millionen Einwohner. Der arabische Anteil der Bevölkerung
ist daran ganz erheblich. Ich meine nicht die besetzten
Gebiete; die habe ich Palästina zugerechnet. Der Irak,
über den wir zurzeit häufig reden, hat eine Bevölkerung
von 24 Millionen Einwohnern.
({6})
Sie wird bis 2050 auf 53,6 Millionen ansteigen. Die Bevölkerung Jordaniens wird sich von 5 Millionen Menschen auf 10 Millionen verdoppeln, die von Syrien von
17 Millionen Menschen auf 36 Millionen. Die Türkei,
deren Zukunft uns besonders wichtig sein muss, hat
heute 69 Millionen Einwohner - denken Sie an die Zahlen, die Sie in der Schule gelernt haben - und wird im
Jahr 2050 auf etwa 100 Millionen Einwohner kommen.
Die Bevölkerung im Iran - es kann uns nicht gleichgültig sein, wie es bei der Nachbarnation des Iraks aussieht wird von heute 72 Millionen Menschen auf 121 Millionen Menschen im Jahr 2050 anwachsen. In Afghanistan
- dort leisten deutsche Soldaten im Moment einen
schweren Dienst - leben heute 23 Millionen Einwohner,
nach den Prognosen der UN sollen es im Jahr 2050
72 Millionen sein.
Wir alle können uns vorstellen, welche Konflikte die
Staaten untereinander um genügend sauberes Trinkwasser und ausreichend Nahrungsmittel aushalten und austragen müssten, wenn sie keine tatkräftige Hilfe - nicht
nur Almosen - von ihren nördlichen Nachbarn erhalten
würden.
({7})
Was für eine Herausforderung angesichts der Zahlen,
die ich genannt habe! Die Milleniumserklärung zur Bekämpfung der Armut ist also keine Lyrik, vor allem,
wenn man bedenkt, dass die Bevölkerungen der von mir
erwähnten Staaten - ich könnte noch mehr nennen mehrheitlich aus Analphabeten bestehen, von denen die
Hälfte jünger als 20 Jahre ist. Dort können weder die
meisten Jungen, geschweige denn die Mädchen auf einen Zugang zu Bildung hoffen.
Um die Lage der Frauen in den von mir nur beispielhaft aufgrund ihrer Nähe zur EU genannten Staaten - ich sage immer, die Menschen könnten von dort
fast zu Fuß, zumindest aber mit dem Schlauchboot
kommen - darf sich der Deutsche Bundestag nicht nur
im Entwicklungshilfeausschuss kümmern und nicht nur
dann, wenn wir den Haushalt beraten. Er muss die Ministerin und die Parlamentarische Staatssekretärin Frau
Eid, die sich bereits darum kümmern, stärker als bisher
unterstützen.
({8})
Über den Haushalt, den wir später verabschieden
werden, kann ich nur sagen: Es stimmt, auch ich
wünschte mir natürlich, er wäre höher. Den höchsten
Anteil am Gesamthaushalt hat dieser Einzelplan 1982
unter der Regierung von Helmut Schmidt gehabt. Später haben Sie es versäumt, ihn auf die gewünschten Anteile zu bringen, und auch heute würde ich den Anteil
gerne erhöhen. Deswegen haben wir auch kein Verständnis gehabt - das sage ich an die Haushälter, die in
der vorangegangenen Legislaturperiode zuständig waren -, dass Sie ihn im Jahre 2000 mithilfe des Finanzministeriums um 8,5 Prozent gekürzt haben. Das ist angesichts der Zahlen, die ich Ihnen genannt habe,
kontraproduktiv.
Herr Kollege Borchert, auch wenn Sie heute nicht nett
geredet haben - ich weiß, dass Sie das besser können -,
muss ich Ihnen sagen: Ich hätte Ihnen bei der Forderung
nach einer Anhebung der Verpflichtungsermächtigung
gerne zugestimmt. Aber der Finanzminister hat keine
Deckung gefunden. Wir könnten den Kollegen Diller
bitten, dass er für den nächsten Haushalt auf jeden Fall
einen entsprechenden Deckungsvorschlag vorbereiten
soll.
Brigitte Schulte ({9})
Zur FDP: Hat sich mein Kollege Jürgen Koppelin
vorsichtshalber verflüchtigt?
({10})
Ich glaube, Ihr Vorschlag, das Ministerium aufzulösen
und die Aufgaben in das Auswärtige Amt einzugliedern,
ist angesichts der vor uns liegenden Aufgaben ein verspäteter Karnevalsscherz.
({11})
Die Bundesrepublik Deutschland hat erfolgreich darum gekämpft, dass Einrichtungen der UN nach Bonn
kommen. Es sind schon einige dort, es könnten aber ruhig noch mehr werden. Das würden sie auch wollen. Besonders erfreulich ist, dass das United Nations Development Programme dabei ist und dass dessen Mitarbeiter
nicht mehr nur am East River sitzen, sondern inzwischen
auch am Rhein arbeiten. Wie ich festgestellt habe, fühlen
sie sich dort auch wohl.
Notwendig wäre es - ich hoffe auf Ihre Unterstützung -,
dass wir die Mittel im nächsten Jahr und in den Jahren
kräftig aufstocken, um gerade diese Programme zu fördern. Auch mir gefällt es nicht, dass viele Aufgaben, die
im Einzelplan 23 gut aufgehoben sind, aufgeteilt werden
auf verschiedene Einzelpläne. Wir haben deswegen den
Auftrag an den Rechnungshof gegeben, zu überprüfen,
ob diese Aufgaben nicht im Einzelplan 23 konzentriert
werden müssten.
Wer in der Weltliga mitspielen will - das wollen wir -,
({12})
der muss im eigenen Interesse mehr für die Entwicklungsarbeit tun, der muss Krankheiten und Analphabetentum, Armut, Familienplanung und Sexualaufklärung
zu seinen Aufgaben machen.
Frau Kollegin, auch wenn es mir schwer fällt, muss
ich Sie an die Überschreitung der Redezeit erinnern.
Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. Die anderen haben auch überzogen.
Meine Damen und Herren, wir haben hervorragende
Leute bei der UN - in Bonn und in New York. Wir haben
aber auch hervorragende Mitarbeiter in unseren internationalen und nationalen Organisationen. Es würde sich
lohnen, all diese hier einmal zu erwähnen. In der Kürze
der Zeit kann ich das leider nicht.
Herr Präsident, Sie gestatten, dass ich noch zwei
letzte Zahlen nenne: Ich finde, es stünde der Bundesrepublik gut an, wenn sie die Zahl der jungen Akademiker,
die sich auf Einladung der Bundesrepublik Deutschland
- dies wurde mit Mitteln aus dem Haushalt finanziert nach ihrem Studium hier in Deutschland weiter qualifiziert haben - sie belief sich im letzten Jahr auf 1 395 -,
und die Zahl der Fach- und Führungskräfte, die wir im
letzten Jahr nach Deutschland geholt haben - es waren
6 446 -, in den nächsten Jahren erhöhen würde.
Noch besser wäre es, wenn die deutschen Unternehmen im Ausland diese, nachdem sie in ihre Heimatländer
zurückgekehrt sind, auch beschäftigen würden. Investitionen in Menschen zahlen sich für die Menschen vielfach aus. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, kämpfen wir gemeinsam weiter für eine
Erhöhung dieses Haushalts!
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Markus Löning, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Kollegin, Sie haben unseren Antrag zur Fusion von
BMZ und AA als Karnevalsscherz bezeichnet.
({0})
- Lieber Herr Ströbele, dann müssten Sie Ihren geschätzten Herrn Außenminister eigentlich als Faschingsprinz bezeichnen; denn auch er wollte ja die Integration
des BMZ in das AA.
({1})
Das war schon damals ein vernünftiger Vorschlag von
ihm und daran hat sich - der Antrag liegt vor - nichts geändert.
Kollege Borchert hat es dargestellt: Der Einzelplan
wird zerfleddert und aus anderen Häusern dirigiert. Ein
Großteil der Entwicklungshilfe - unter finanziellen Aspekten - findet in anderen Häusern statt. Noch sehr viel
entscheidender aber ist: Zum Beispiel aus Afghanistan
hören wir von Reibungsverlusten, die dadurch entstehen,
dass die Abstimmung zwischen dem Auswärtigen Amt
und dem BMZ nicht funktioniert. Geld, Effizienz und
Einsatz gehen hier verloren. Wir setzen uns mit unserem
Entschließungsantrag dafür ein, dass diese Effizienz
wieder hergestellt und im Sinne der Entwicklungshilfe,
zum Beispiel bei der Minenräumung und anderen sinnvollen Projekten - anstatt bei der Verwaltung -, genutzt
wird.
Frau Ministerin, ich habe gerüchteweise gehört, dass
Sie unserem Entschließungsantrag nicht folgen wollen.
Trotzdem möchte ich auf einige Strukturvorschläge für
Ihr Haus eingehen, die Sie in letzter Zeit vorgebracht haben. Man hört das eine oder andere. Teilweise ist es begrüßenswert, teilweise aber auch nicht. Auf einen Punkt
will ich hier besonders eingehen: Sie haben sich
entschlossen, einen größeren Teil Ihres Hauses nach Berlin zu verlegen. Das begrüße ich ausdrücklich. Diesen
Vorschlag finde ich sehr vernünftig. Leider konnten Sie
sich nicht dazu durchringen, Ihr ganzes Haus hierher zu
verlegen und ins AA zu integrieren.
({2})
- Ich kann und darf hier doch wohl Wünsche äußern,
Frau Kollegin. Ich hoffe, das ist durchaus auch in Ihrem
Sinne.
Lieber Herr Kollege, wir sollten der Bundesregierung
aber in der Tat nicht vorwerfen, dass sie sich an geltende
Gesetze hält.
({0})
Gut, trotzdem möchte ich hier noch einmal den
Wunsch äußern: Ich glaube allen Ernstes, dass es der
Entwicklungspolitik gut täte, wenn wir die Kompetenz
in diesem Bereich in Berlin - wo sich die ausländischen
Gesprächspartner befinden und wo sich auch die entsprechenden Institutionen gruppieren - konzentrieren.
Ich glaube, das würde der Entwicklungspolitik schlussendlich größere Durchschlagskraft und Effizienz verschaffen.
Lassen Sie mich noch zu einem anderen Thema kommen, nämlich zu den Entschuldungsstrategien. Frau
Ministerin, Sie tragen Ihr Engagement auf diesem Gebiet
immer mit einem großen Stolz vor sich her. Den Weg,
den die Bundesregierung hier geht, teile ich - wenn auch
mit Abstrichen.
In der letzten Woche aber mussten wir im Ausschuss
in Sachen Bolivien einiges zur Kenntnis nehmen, das
mich bezogen auf die Entschuldungsstrategien schon
sehr nachdenklich gemacht hat. Bolivien hat vor knapp
zwei Jahren seinen Completion Point erreicht und ist um
2 Milliarden US-Dollar entschuldet worden. Der deutsche
Steuerzahler hat sich daran mit 380 Millionen Euro beteiligt. Die bolivianische Regierung bemüht sich nun darum
- diese Situation muss man sich einmal vorstellen -, weitere 35 Millionen Euro als Budgethilfe zu erhalten, um
auf dieser Basis einen nochmaligen Kredit in Höhe von
117 Millionen Euro zu bekommen. Das heißt, sie bemüht
sich um einen Kredit von insgesamt 150 Millionen Euro,
und zwar knapp anderthalb Jahre nach ihrer Entschuldung.
Das ist ein ernstes Warnsignal. Ich habe in meiner
Rede im Dezember des letzten Jahres an dieser Stelle auf
ähnliche Probleme in Uganda hingewiesen. Auch aus
Äthiopien kommen negative Signale. Dort scheint sich
die Lage nicht so zu entwickeln, wie wir uns das wünschen. Wenn wir mit dem Geld der deutschen Steuerzahler entschulden, was die FDP - wie auch ich - im Prinzip
richtig findet, können wir dann, wenn es schief geht,
nicht einfach sagen: Die Kriterien waren vielleicht zu
weich angelegt. Man muss sie ein wenig großzügiger
auslegen. Möglicherweise haben wir nicht genügend entschuldet.
Vielmehr muss man sehr kritisch nachfragen: Ist dies
vielleicht nicht der richtige Weg gewesen? Haben wir an
der einen oder anderen Stelle die Kriterien falsch ausgelegt? Haben wir zu wenig Druck ausgeübt und die Erwartungen an unseren Partner nicht deutlich genug gemacht? Ich glaube, diese Fragen muss man sich allen
Ernstes stellen.
({0})
Ich möchte zum Schluss betonen, dass wir als FDP
der Entschuldungsstrategie nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen. Aber ich habe oft den Eindruck
- wir sehen die Diskussion über das internationale Insolvenzverfahren auf uns zukommen; zu diesem Thema wird
in zwei Wochen eine Anhörung stattfinden -, dass es hier
zwar sehr viel guten Willen gibt, aber mit zu wenig kaufmännischem und politischem Wissen vorgegangen wird,
um überprüfen zu können, ob unsere Partner die gemachten Auflagen tatsächlich einhalten und ob wir diese
Länder mit der Entschuldung in eine Lage versetzen, die
besser ist als vorher. Ich habe an dieser Stelle meine
Zweifel und möchte darauf hinweisen, dass wir das
Thema Entschuldung weiter auf der Tagesordnung halten und kritisch begleiten werden.
({1})
Nun erteile ich dem Abgeordneten Thilo Hoppe,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ruft schon sehr gemischte Gefühle hervor, am Vorabend
eines Krieges über den Haushalt für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu debattieren.
({0})
Es fällt schwer, eine Rede über die Fortschritte in der
Entwicklungszusammenarbeit zu halten, die sich auch
im Haushalt widerspiegeln, wenn man weiß, dass in wenigen Stunden die Bomben fallen, die das Elend nur
noch größer machen.
Es macht mich traurig und wütend, dass in den nächsten Tagen Milliarden für Krieg, Zerstörung und Tod ausgegeben werden, Geld, das dringend für einen ganz anderen Kampf benötigt wird, den Kampf gegen den
Hunger.
({1})
Genaue Zahlen kann es jetzt natürlich noch nicht geben.
Aber Schätzungen aller Experten gehen davon aus, dass
allein in den nächsten beiden Wochen mehr Geld im
Krieg verpulvert wird - im wahrsten Sinne des Wortes -,
als alle Staaten dieser Welt in einem Jahr gemeinsam für
die Entwicklungszusammenarbeit ausgeben.
Dass sich die Bundesregierung mit allem Nachdruck
für eine friedliche Lösung engagiert hat, ist allen Bürgerinnen und Bürgern bewusst. Im Rahmen einer entwicklungspolitischen Debatte möchte ich aber auch die Rolle
der Entwicklungsländer in diesem Konflikt hervorheben.
Besonders betonen möchte ich die Rolle der Entwicklungsländer im Weltsicherheitsrat, die Anerkennung
und Respekt verdient, insbesondere die Haltung der afrikanischen Staaten.
({2})
- Natürlich, ebenso der lateinamerikanischen Staaten! Sie haben trotz massiven Drucks seitens der USA, der
auch die Androhung der Streichung von Entwicklungshilfe beinhaltet haben soll, Rückgrat bewiesen und die
deutsch-französischen Friedensvorschläge unterstützt.
({3})
Sie haben sich in dieser wichtigen Frage allen Unkenrufen zum Trotz als nicht käuflich erwiesen.
Nach diesem Krieg wird nichts mehr so sein, wie es
war - weder politisch noch wirtschaftlich. Der völkerrechtswidrige Präventivschlag gegen den Irak wird die Welt
weiter entzweien, neue Konfliktherde schüren und den
Glauben an Konfliktprävention und Friedenspolitik nachhaltig beeinträchtigen. Auch wird dieser Krieg über die
Menschen im Irak unermessliches Leid bringen; nicht nur
durch die Bomben, sondern auch durch die Unterbrechung
der Nahrungsmittellieferungen und durch die Zerstörung
der Infrastruktur, zum Beispiel der Wasserversorgung.
Es ist Schlimmstes zu befürchten. Aber - auch wenn
das paradox klingt - ich hoffe und bete, dass ich mit diesen Befürchtungen nicht Recht behalten werde, dass in
letzter Sekunde noch ein Wunder geschieht bzw. dass
der Krieg, wenn er nicht mehr verhindert werden kann,
sehr schnell über die Bühne gehen wird.
Wir müssen uns aber auch darauf einstellen, dass dieser Krieg die Not erheblich vergrößert und dass die internationale Gemeinschaft im Bereich der humanitären
Hilfe und des Aufbaus großen Herausforderungen gegenüberstehen wird. Dabei ist es wichtig, darauf zu achten, dass die humanitäre Hilfe nicht instrumentalisiert
wird, dass die Hilfsorganisationen freien Zugang haben
und dass die Vereinten Nationen die humanitäre Hilfe
nach wie vor koordinieren.
Ich denke, in dieser Situation ist es auch für Deutschland sehr wichtig, die humanitäre Hilfe und den Aufbau
unter dem Dach der Vereinten Nationen politisch, finanziell und mit Personal zu unterstützen. Das kann unter
Umständen auch bedeuten, dass wir mit den Mitteln, die
dafür im Haushalt eingestellt sind, nicht auskommen
werden, und dass, zumindest was den Haushalt 2004 betrifft, sowohl im Einzelplan 23 als auch im Einzelplan 05
- ich meine den Bereich der humanitären Hilfe im Haushalt des Auswärtigen Amtes - nachgebessert werden
muss.
Vielleicht wird Sie das, was ich jetzt sage, wundern.
Aber ich mache keinen Hehl daraus, dass ich die Kritik
der Opposition in einem Punkt durchaus teile und unterstützen kann: Es wäre gut gewesen, sowohl im Einzelplan 23 als auch im Bereich der humanitären Hilfe des
Auswärtigen Amtes insgesamt mehr Geld zur Verfügung
zu stellen. Auch mache ich keinen Hehl daraus, dass es
uns Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitikern von der SPD und vom Bündnis 90/Die Grünen
nicht gelungen ist, den Einzelplan 23 von der globalen
Minderausgabe auszunehmen und den Einzelplan 05 von
40 auf 53 Millionen Euro aufzustocken.
Dennoch bin ich froh, dass das BMZ - zu diesem Ergebnis muss man kommen, wenn man die Budgets der
verschiedenen Häuser miteinander vergleicht - noch
recht glimpflich davongekommen ist und dass der Etat
für die Entwicklungszusammenarbeit unter dem Strich
um 2 Prozent angehoben werden konnte.
Das weist in die richtige Richtung. Auch die Schwerpunktsetzung ist richtig: mehr Geld für die Nichtregierungsorganisationen und die Kirchen, mehr für den zivilen
Friedensdienst, mehr für die Nutzung der erneuerbaren
Energien in den Entwicklungsländern und mehr für die
entwicklungspolitische Bildungsarbeit hier bei uns. Unter Letzteres fällt auch eine stärkere Förderung des FairTrade-Sektors mit einer neuen, pfiffigen und professionellen Öffentlichkeitsarbeit.
Ich meine nicht, dass - wie dies von der CDU/CSU
gemacht wird - die bilaterale gegen die multilaterale
Entwicklungszusammenarbeit ausgespielt werden sollte;
denn beide Ebenen müssen sich ergänzen. Statt sich,
trotz berechtigter Kritik an einigen multilateralen Organisationen, von der internationalen Ebene zurückzuziehen, wie Sie das empfehlen, sollte sich Deutschland auf
dieser Ebene eher für Reformen einsetzen. Gerade im
Hinblick auf die ernste Lage am Vorabend eines Krieges
muss es darum gehen, die multilaterale Ebene und die
internationale Zusammenarbeit zu stärken.
Alles in allem kann sich der Einzelplan 23 sehen lassen. Er weist in die richtige Richtung. Aber - wie gesagt,
hier gebe ich der Opposition Recht -: Es sind größere
Anstrengungen - dies bedeutet: auch höhere Haushaltsansätze - nötig, damit wir im Jahre 2006 tatsächlich
unser Etappenziel, 0,33 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen, erreichen.
({4})
Wenn ich den Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU in diesem einen Punkt Recht gebe, dann
möchte ich damit aber nicht sagen, dass ich Ihnen, wenn
Sie an die Regierung gekommen wären, zugetraut hätte,
dies auch umzusetzen. Ihre Haushälterinnen und Haushälter hätten Ihrem Finanzminister bei weitem weniger
Geld für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung gestellt. Unter Kohl hatte die ODA-Quote einen
historischen Tiefstand erreicht. Das wurde schon von
Frau Kollegin Schulte gesagt.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass es in der
Entwicklungspolitik nicht allein auf das Geld und den
Haushalt ankommt. Seit 1998 verstehen wir Entwicklungspolitik auch als internationale Strukturpolitik, als
Querschnittsaufgabe, als einen Beitrag für eine gerechte,
soziale und ökologische Gestaltung der Globalisierung.
Dazu wäre vieles zu sagen, was aber in der mir zur
Verfügung stehenden Redezeit nicht unterzubringen ist.
Exemplarisch möchte ich auf einen Antrag zu den laufenden WTO-Agrarverhandlungen hinweisen, der am
letzten Donnerstag hier in diesem Haus von den Koalitionsfraktionen eingebracht wurde. Das ist ein Antrag,
der auf mehr Kohärenz bezüglich der Agrar- und Entwicklungspolitik zielt, ein Antrag, der sich für den vollständigen Abbau der handelsverzerrenden Agrarexportsubventionen einsetzt und zugleich fordert, dass ein Teil
der dadurch frei werdenden Mittel gezielt für die Entwicklungszusammenarbeit eingesetzt wird, insbesondere
für den Aufbau der ländlichen Struktur und die Stärkung
einer nachhaltigen Landwirtschaft.
Auch so versteht die Koalition umfassende Entwicklungspolitik. Wenn wir auf diesem Weg weiter mutig vorangehen, dann bin ich optimistisch, dass wir einen nennenswerten, wertvollen Beitrag zur Verwirklichung der
Millenniumsziele liefern werden, nämlich bis zum Jahr
2015 die Zahl der in Armut und Hunger lebenden Menschen zu halbieren.
Ganz zum Schluss noch ein Wort zu dem Antrag der
FDP: Rot und Grün lassen sich nicht auseinander dividieren. Sowohl das Auswärtige Amt als auch das BMZ
haben ihre spezifischen wichtigen Aufgaben und ergänzen sich. Das ist auch gut so.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Herr Kollege Hoppe, wir alle teilen Ihre Besorgnis über
die aktuelle weltpolitische Lage. Ich respektiere auch die
Selbstkritik, die Sie in Bezug auf die entwicklungspolitischen Anstrengungen und den BMZ-Etat hier zum Ausdruck gebracht haben.
Man muss schon feststellen, dass der Kollege
Borchert wie üblich Recht mit seiner Voraussage hatte,
dass von Rot-Grün wieder wortreich der untaugliche
Versuch unternommen wird, das Absenken der Entwicklungshilfe, das Zurückbleiben der entwicklungspolitischen Anstrengungen gegenüber Ihren eigenen Erwartungen und Ankündigungen zu kaschieren.
({0})
Sie haben eine merkliche Erhöhung des BMZ-Etats versprochen. Sie geben im Kernbereich der deutschen Entwicklungszusammenarbeit - und das ist der BMZ-Etat weniger aus, als das noch vor fünf Jahren der Fall war.
„Versprochen, gebrochen“ - was sich wie ein rot-grüner
Faden durch Ihre Politik zieht, gilt leider auch für die
Entwicklungspolitik.
({1})
Es ist schon von den Möglichkeiten gesprochen worden, die entwicklungspolitischen Anstrengungen, auch
die berühmte ODA-Quote, zu erhöhen. Es ist angesichts
des in weiter Ferne liegenden 0,7-Prozent-Ziels - das
auch früher schon in weiter Ferne lag - durchaus konsequent, sich Zwischenziele zu setzen. Mit dem 0,33-Prozent-Ziel ist das auch EU-weit erfolgt. Angesichts Ihrer
mittelfristigen Finanzplanung aber muss man feststellen,
dass dieses Ziel auch nicht annähernd zu erreichen sein
wird, jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass etwa
70 Prozent der ODA aus dem BMZ-Haushalt kommen.
Eine andere Möglichkeit, die Erhöhung der ODAQuote zu erreichen, ist hier schon mehrfach angesprochen worden. Sie könnten theoretisch versuchen, den
Schuldenerlass massiv zu verstärken. Ein Schuldenerlass, den wir grundsätzlich unterstützen, macht dann
Sinn, wenn die durch die Entschuldung frei werdenden
Mittel wirklich in die Armutsbekämpfung, die Bildung
und andere entwicklungsfördernde Maßnahmen investiert werden. Wir sehen aber am Beispiel Boliviens, wie
verheerend es sein kann, wenn stattdessen dieses Geld
aufgrund der Haushaltsnot in den allgemeinen Haushalt
eingestellt wird. Der entwicklungsfördernde Effekt einer
solchen Entschuldungsinitiative ist damit verpufft. Das
kann kein Königsweg in der Entwicklungspolitik sein.
({2})
Nun gibt es mit Recht Kritik an der ODA-Quote in
früherer Zeit. Herr Kollege Hoppe, Sie haben es angesprochen, dass auch in unserer Regierungszeit die Zahlen nicht so ausfielen, wie wir sie uns selbst gewünscht
hätten. Es gab aber einen Unterschied: Die ODA-Quote
setzt sich aus der Höhe der öffentlichen Entwicklungshilfe im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt zusammen.
Zu unserer Zeit gab es in Deutschland aber noch wirtschaftliches Wachstum, das zur Senkung der Quote beigetragen hat. Sie sind inzwischen bei einem Wirtschaftswachstum von 0,2 Prozent angekommen, Tendenz
sinkend. Wenn Sie den BMZ-Etat bei 70 Prozent der
ODA belassen, können Sie die ODA-Quote von
0,33 Prozent bis 2006 nur dann erreichen, wenn die
Wirtschaft um fast 5 Prozent jährlich schrumpft. Diese
Art entwicklungspolitischer Innovation stellen wir von
der CDU/CSU uns allerdings nicht vor.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir stimmen in einem überein: Es geht nicht nur um die Quantität der Entwicklungszusammenarbeit, sondern auch um
die Qualität. Dabei kommen wir nicht um die Feststellung herum, dass für uns ein entwicklungspolitisches
Gesamtkonzept bei Rot-Grün nicht erkennbar ist.
Ich will nur ein Beispiel nennen. Sie versuchen zurzeit, im Bundestag und im Bundesrat eine Vielzahl von
Steuererhöhungen auf anderen Gebieten durchzubekommen. Das BMZ hat im vergangenen Jahr eine Studie
über die Durchführbarkeit einer so genannten Devisentransaktionssteuer veröffentlicht, die jetzt im Raum
steht. Bisher hat die Bundesregierung diese Steuer nicht
gefordert. Wir fragen uns nun: Wollen Sie jetzt auch
noch eine solche Devisentransaktionssteuer in die Debatte einbringen? Ist das Ihre Position und/oder die der
gesamten Bundesregierung? Um es deutlich zu sagen:
Wir wollen sie nicht, aber wir würden gerne Ihre Position kennen, damit wir uns mit Ihnen konzeptionell auseinander setzen können. Darauf warten wir noch.
In der jüngsten Überprüfung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, die die OECD vorgenommen hat,
kommt sie zu einem kritischen Ergebnis. Die deutsche
Entwicklungszusammenarbeit wird als ein wenig koordiniertes und untereinander unzureichend kooperierendes, unüberschaubares Instrumentarium dargestellt, das
durch eine zentralistische Entscheidungsstruktur behindert wird.
Es liegt uns fern, zu behaupten, dass alle diese Probleme völlig neu sind, aber wichtig ist für uns die Frage,
in welche Richtung es weitergehen soll. Vor dem Hintergrund der bereits angesprochenen Probleme planen Sie
nun in Ihrem Hause gegen den einstimmigen Willen der
Personalversammlung eine Umstrukturierung im BMZ,
die von Experten unter anderem mit den Begriffen „desaströses Management“ und „Geringschätzung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ qualifiziert wird.
({4})
Daraus folgt für uns: Form und Inhalt Ihrer Planungen
lösen die Strukturprobleme der deutschen Entwicklungszusammenarbeit nicht, sondern sie verschärfen sie.
Unsere Vorstellungen einer modernen Entwicklungszusammenarbeit aus einem Guss gehen davon aus, dass
Entwicklungspolitik ohne humanitäre Beweggründe
nicht sinnvoll betrieben werden kann, dass aber Entwicklungspolitik sowohl im Interesse der Empfängerländer als auch in unserem eigenen nationalen Interesse
liegt, wenn wir sie richtig gestalten.
Ich will kurz ein paar Beispiele skizzieren. Ich denke,
wir müssen den Sektor Bildung und Ausbildung wieder
in den Mittelpunkt der Entwicklungspolitik stellen. Das
ist zurzeit nicht der Fall. Die Verbesserung des Ausbildungsstandes gerade der jungen Menschen ist für die Zukunftschancen der Entwicklungsländer von herausragender Bedeutung. Denn um Hilfe zu einer wirksamen
Selbsthilfe leisten zu können, ist es unerlässlich, Menschen zu qualifizieren und sie dadurch in die Lage zu
versetzen, sich selbst zu helfen.
Ich denke, es ist darüber hinaus in diesem Haus auch unstrittig, dass verstärkte Anstrengungen zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen unternommen werden müssen und dass gleichermaßen verstärkte Anstrengungen
notwendig sind, um die oft mangelhaften staatlichen Rahmenbedingungen in Entwicklungsländern zu verbessern.
Herr Kollege Hoppe, Sie sprachen eben von den afrikanischen Ländern, die sich von den Vereinigten Staaten
nicht haben korrumpieren lassen. Das mag zwar Ihrem
Weltbild entsprechen, aber die Verhältnisse in den allermeisten afrikanischen Staaten zeigen, dass die internen
Rahmenbedingungen alles andere als entwicklungsfördernd sind. Auch das sollten wir wenigstens in der Analyse gemeinsam zur Kenntnis nehmen.
({5})
Ich will noch etwas ansprechen, das unserer Ansicht
nach zu einer Entwicklungspolitik aus einem Guss gehört. Es sollten Hilfen geschaffen werden, dass die Entwicklungsländer erfolgreich am internationalen Wirtschaftsleben teilnehmen können, weil dies nach unserer
Überzeugung der Hauptgarant für Wohlstandsmehrung
auch in den Entwicklungsländern ist. Deswegen habe ich
das, was Sie gerade gesagt haben, sehr interessiert zur
Kenntnis genommen; denn mein Eindruck in der Vergangenheit war, dass wir uns hier weitgehend einig waren. Wir haben in der letzten Legislaturperiode beispielsweise eine Anhörung zur Konsistenz von europäischer
Subventionspolitik und Entwicklungspolitik durchgeführt. Ich stoße aber in letzter Zeit auf Veranstaltungen,
an denen auch Vertreter der jetzigen Regierung teilnehmen, zunehmend auf Skepsis, wenn es um die Öffnung
der Märkte geht, und höre häufig die Frage, ob eine Abschottung der Märkte nicht eher hilfreich für die Entwicklungsländer sei. Daher war es interessant, das heute
so von Ihnen zu hören. Ich möchte für CDU und CSU
ganz deutlich sagen: Es ist natürlich wichtig, dass die
Früchte des Freihandels auch in den Entwicklungsländern gerecht verteilt werden. Aber es ist hier wie auch in
anderen Bereichen: Es muss zuerst das erwirtschaftet
werden, was anschließend gerecht verteilt werden soll.
Deswegen betonen wir weiter - das ist unsere Überzeugung -: Handel ist der beste Entwicklungshelfer.
({6})
Bezogen auf einzelne Ländergruppen - ich denke, gerade in diesen Tagen sind wir uns hierüber einig - wird
auch in Zukunft ein besonderes Augenmerk auf die Intensivierung des Politik- und Kulturdialogs mit den islamischen Entwicklungsländern sowie auf die Intensivierung der Wirtschafts-, der Wissenschafts- und der
Hochschulbeziehungen mit Schwellenländern zu legen
sein. Auch dies ist im gemeinsamen Interesse von Geber- und Nehmerländern.
Nun ist eben behauptet worden, CDU und CSU wollten die bilaterale und die multilaterale Hilfe gegeneinander ausspielen. Das ist mitnichten der Fall. Wir sind sehr
wohl für multilaterale Entwicklungszusammenarbeit.
Aber multilaterale Entwicklungsinstitutionen müssen
sich reformieren. Wir denken dabei natürlich auch an die
Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union.
Es kann doch wohl nicht hingenommen werden, dass das
Geld, das in die europäische Entwicklungszusammenarbeit fließt, in Brüssel nicht abfließt, auf Konten lagert
und so für die Bekämpfung von Hunger und Not in den
Entwicklungsländern nicht zur Verfügung steht. Das
kann doch nicht die Lösung sein.
({7})
Ich möchte in diesem Zusammenhang eine, wie ich
denke, aus Ihrer Sicht eher unverdächtige Zeugin zitieren: Die britische Entwicklungsministerin Claire Short
erklärte erst jüngst, die europäische Entwicklungspolitik
sei eine Schande, und drohte damit, wenn sich nicht bald
etwas ändere, werde man die Beiträge streichen und das
Geld wieder selbst ausgeben. Auch die Deutsche Welthungerhilfe denkt in diese Richtung. Uns ist natürlich
klar, dass so etwas nicht von heute auf morgen möglich
ist. Schließlich gibt es völkerrechtliche Verpflichtungen,
die es einzuhalten gilt. Aber zumindest mittelfristig muss
es eine solche Perspektive geben und darf eine solche
Maßnahme kein Tabu sein. Das Geld muss endlich den
Armen zur Verfügung stehen und darf nicht irgendwo
gelagert werden.
Wir gehen als CDU und CSU eigentlich davon aus,
dass es bei allen Differenzen, die wir hier haben, auch
Themen von gemeinsamem Interesse gibt und auch in
Zukunft geben wird. Eigentlich sollte es das gemeinsame
Interesse von uns Parlamentariern sein, die schleichende
Selbstentmachtung des BMZ zu verhindern, die ja schon
in vollem Gange ist. Natürlich ist der BMZ-Etat und
seine Höhe - im Gegensatz zum Etat des Auswärtigen
Amtes - ein Instrument der politischen Auseinandersetzung. Sie stellen beispielsweise auch Mittel, die das
Auswärtige Amt bewirtschaftet, in den BMZ-Etat ein,
um den Eindruck zu erwecken, Sie täten mehr in diesem
Bereich, als Sie tatsächlich tun. Im Bereich des Stabilitätspaktes Afghanistan und des Stabilitätspaktes Südosteuropa sind bis zum Jahr 2006 240 Millionen Euro vorgesehen, die Sie zum Schein beim BMZ-Etat einstellen,
die Sie aber zur Bewirtschaftung an das Auswärtige Amt
geben.
Eben wurde gesagt, der Entschließungsantrag der
FDP - auch wir weisen ihn mit Abscheu und Empörung
zurück; ich sage das nur, um keinen Zweifel aufkommen
zu lassen - sei ein verspäteter Karnevalsscherz. Meine
Damen und Herren von der Regierung, wenn Sie das so
sehen, dann frage ich, warum Sie vorauseilenden Gehorsam leisten. Im Entschließungsantrag der FDP steht:
„Die finanziellen Mittel aus dem Einzelplan 23 werden
in den Einzelplan 05“ - das ist der Etat des Auswärtigen
Amtes - „übertragen.“ Mit 240 Millionen Euro bis zum
Jahr 2006 leisten Sie vorauseilenden Gehorsam. Lassen
Sie das doch und handeln Sie stattdessen im Sinne der
Haushaltstransparenz und aus inhaltlichen Gründen!
({8})
Das Auswärtige Amt hat eine andere Aufgabe.
Herr Kollege Brauksiepe, ich muss Sie an die Redezeit erinnern.
Jawohl. - Es bleibt also dabei: Es ist nicht nur eine
Frage der Haushaltstransparenz, sondern auch eine Frage
unterschiedlicher inhaltlicher Schwerpunkte und unterschiedlicher Konzepte von AA und BMZ. Mit uns ist
eine solche schleichende Selbstentmachtung nicht zu
machen. Dafür ist uns die Entwicklungszusammenarbeit
viel zu wichtig. Eigentlich sollte der Entwicklungszusammenarbeit doch unser gemeinsames Interesse in diesem Hause gelten.
Vielen Dank.
({0})
Was die gut gemeinten Zwischenrufe angeht: Es geht
hier mit einer freundschaftlichen Strenge zu.
Zum Schluss der Beratungen des Einzelplans 23 hat
die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Frau Wieczorek-Zeul, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An
diesem Abend richten sich unser aller Gedanken an die
Menschen, die von diesem Krieg betroffen sein werden.
Diejenigen, die diesen Krieg beginnen, tragen eine große
Verantwortung und laden die Schuld für das Leid und
den Tod von Hunderttausenden von Menschen auf
sich. Die Entwaffnung dieses Landes, die Entwaffnung
Saddam Husseins wäre dank der Arbeit der UN-Waffeninspekteure ohne Krieg möglich gewesen.
({0})
Dieser Krieg aber wird verheerende Folgen für die Zivilbevölkerung mit sich bringen. Bereits jetzt sind
60 Prozent der Bevölkerung von den Nahrungsmittelhilfen aus dem so genannten Food-for-Oil-Programm vollständig abhängig. Aufgrund des Krieges werden zukünftig etwa 10 Millionen Menschen versorgt werden
müssen. Man schätzt, dass bis zu 3 Millionen Flüchtlinge
entweder versuchen werden, in die Nachbarländer zu
kommen, oder im Land selbst auf der Flucht sein werden.
Eine entsprechende Entwicklung können wir zum Teil
schon jetzt verfolgen.
Ich sage an dieser Stelle: Dieser Krieg ist falsch. Er
bedeutet eine Missachtung jeder moralischen, ethischen
und christlichen Verantwortung. Ich danke den Kirchen,
dass sie unser aller Gewissen dafür geschärft haben.
({1})
Dieser Krieg ist politisch wie im Übrigen auch wirtschaftlich für die gesamte Welt eine Katastrophe. Wenn
Sie vernetzt denken würden - die Kollegen, die sich hier
über die Entschuldung eines Landes wie Bolivien geäußert haben -, wäre Ihnen doch klar: Auf alle Länder
wirkt sich die Kriegsangst in Form sinkender Wachstumsraten aus. Wenn ein Land, das selbst kaum exportieren kann, in einer solchen Situation in wirtschaftliche
Schwierigkeiten gerät, dann dürfen wir das nicht diesem
Land vorwerfen, sondern wir müssen dazu beitragen,
dass sich die Situation verbessert. Dass wir die Auswirkungen dieser Situation gesehen haben, war einer der
Gründe dafür, dass wir gesagt haben: Ein solcher Krieg
ist fatal für alle, aber vor allen Dingen für die schwächsten Entwicklungsländer.
({2})
Wir wissen uns mit den Millionen von Menschen in
der Welt und auch in unserem Land, die gegen diesen
Krieg sind, einig. Wir wollten - wie alle UN-Organisationen - diesen Krieg mit all unseren Möglichkeiten verhindern, weil wir eine humanitäre Katastrophe verhindern wollten. Ich sage aber auch: Gerade deshalb werden
wir den betroffenen Menschen im Irak selbst und in den
Nachbarländern humanitäre Hilfe und Nothilfe leisten;
denn es geht um die Menschen. Wir fordern, dass alle
Mittel, die noch im Food-for-Oil-Programm vorhanden
sind, ausschließlich und umgehend für die Versorgung
der irakischen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und lebensnotwendigen Medikamenten verwendet werden.
({3})
Wir sind in enger Abstimmung mit der EU darauf
vorbereitet, die UN-Hilfsorganisationen bei Ihrer Versorgung und Unterbringung von Menschen auch finanziell
zu unterstützen. Das gilt sowohl für das Welternährungsprogramm als auch für das Internationale Rote Kreuz
und für den UN-Hochkommissar für Flüchtlinge. Dies
habe ich gegenüber Ruud Lubbers, dem zuständigen
UN-Hochkommissar, zum Ausdruck gebracht. Wir werden für diese Initiativen 10 Millionen Euro zusätzlich
zur Verfügung stellen.
Der UN-Sicherheitsrat - das ist heute Morgen und
auch jetzt mehrfach angesprochen worden - hat in seinen Beratungen mit seiner Mehrheit - das gilt auch für
die große Mehrheit in den Vereinten Nationen - den
Wunsch der Völker nach Frieden unüberhörbar artikuliert. Die Völker haben damit deutlich gemacht, dass sie
eine Weltordnung wollen, die dem 21. Jahrhundert entspricht, eine Weltordnung von Partnern und Gleichberechtigten und nicht eine solche der Unterordnung.
({4})
Ich möchte an dieser Stelle besonders den Entwicklungsländern im UN-Sicherheitsrat danken. Sie haben
alle die beschämt, die meinen, Entwicklungsländer ließen sich ihre Zustimmung zu einem Krieg abpressen
oder abkaufen. Sie haben deutlich gemacht, dass sie allen Pressionen zum Trotz eine Weltordnung der Gleichen wollen. Das ist ein ermutigendes Zeichen für die
künftige Weltordnung. Um langfristig Stabilität und
Frieden in der Welt zu schaffen, brauchen wir keine Koalition der Kriegswilligen, sondern wir brauchen eine
multipolare Ordnung des Friedens und des Rechts; denn
gerade sie schützt die Schwächeren in dieser Welt.
({5})
Viele Menschen aus Entwicklungsländern, die ich getroffen habe, und zwar aus allen Regionen der Welt, haben gesagt: Ihr von der Bundesregierung tut auch etwas
für uns. Wir können uns schlechter zur Wehr setzen als
ihr. Wenn ihr dafür kämpft, dass in dieser Welt gleichberechtigt entschieden wird, dann tut ihr auch etwas für
uns. - Wir freuen uns darüber, dass wir das tun konnten.
({6})
Ich warne vor einer neuen Rüstungsspirale. Die Rüstungsausgaben weltweit - das muss man sich vor Augen
halten - sind von 761 Milliarden US-Dollar im Jahr
2000 auf 839 Milliarden US-Dollar im Jahr 2002 gestiegen. Die Finanzmittel dieser Welt werden aber viel
dringlicher im Kampf gegen Hunger, Armut und Krankheit gebraucht.
({7})
Jedes Jahr sterben 10 Millionen Kinder unter fünf
Jahren an vermeidbaren Krankheiten und viele Kinder
haben nicht die Chance, in die Schule zu gehen. Ich halte
es daher für obszön, Mittel in Kriegen zu verschwenden.
Niedrig geschätzt betragen die Kosten eines Irakkriegs
200 Milliarden US-Dollar. Das ist viermal so viel, wie in
der Welt in einem Jahr für Entwicklungszusammenarbeit
ausgegeben wird. Das ist obszön. Wir müssen dazu beitragen, dass das so benannt und auch so erkannt wird.
({8})
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um die
Umsetzung der Resolution 1441
({9})
mit nichtmilitärischen Mitteln.
({10})
Die Nummer dieser Resolution kennt jeder. Ich möchte,
dass die Weltgemeinschaft mit der gleichen Leidenschaft
für die Umsetzung der Resolution 55/2 kämpft. Das ist
die UN-Resolution, die im Jahr 2000 auf der UN-Generalversammlung von der internationalen Gemeinschaft
beschlossen wurde, in der sich die Gemeinschaft vorgenommen hat, eine drastische Reduzierung der weltweiten Armut und des Hungers, den Zugang zu sauberem
Wasser für alle, den Zugang aller Kinder zum Schulunterricht zu erreichen und die Bekämpfung von HIV/Aids
voranzutreiben. Das sind die Aufgaben. Die Nummer
dieser Resolution muss jeder kennen. Die internationale
Gemeinschaft muss alle Anstrengungen unternehmen,
um das zu erreichen, so wie auch wir dies tun.
({11})
Ich möchte an dieser Stelle auch daran erinnern, dass
wir über den Konflikten im Nahen und Mittleren Osten
nicht die Konflikte und den Wiederaufbau in anderen
Regionen vergessen dürfen. Ich gedenke in dieser
Debatte eines guten Freundes unseres Landes, eines
Hoffnungsträgers für die Perspektiven des Balkans,
Zoran Djindjic, der vor wenigen Tagen ermordet wurde
und dessen Tod uns alle erschüttert hat. Er stand für den
Aufbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und für
das friedliche Zusammenleben verschiedener ethnischer
Gruppen. Wir danken ihm für das Engagement, das er
für sein Land, für Frieden und Stabilität sowie gutes Zusammenleben erbracht hat.
({12})
Wir haben in dieser Situation aber auch alle zusammen gespürt, wie wichtig es ist, diese Ordnung in
Südosteuropa weiter zu stabilisieren und den demokratischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau mit mindestens so viel Engagement zu begleiten wie das Eingreifen
während eines Konfliktes. Ich freue mich, dass wir in
den zweieinhalb Jahren unsere Leistungen gegenüber
Serbien und auch gegenüber Zoran Djindjic im Umfang
von 100 Millionen Euro haben erbringen und damit einen Beitrag zur Unterstützung des Aufbaus haben leisten
können. Ich habe zugesagt, dass ich in den nächsten Tagen weitere Gespräche führen werde, damit diese Hilfen
auch für die Zukunft abgesichert und möglicherweise
ausgeweitet werden können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Entwicklungspolitik muss sich aber trotz aller aktuellen Konflikte immer
auch als Krisenprävention verstehen und einbringen.
Übrigens ist - das sage ich denen, die sich da Sorgen machen, damit sie die Relationen sehen können - der Haushalt des BMZ, den natürlich auch ich gern finanziell
noch besser ausgestattet sähe - das werden wir auch
schaffen -, fast doppelt so groß wie der Haushalt des
Auswärtigen Amtes. Uns geht es entwicklungspolitisch
um die Stärkung regionaler Kooperation. Wir wollen,
dass Krisenprävention in den Mittelpunkt gestellt wird.
Wir müssen dazu beitragen, dass die Konkurrenz um natürliche Ressourcen entschärft und der Zugang zu sauberem Trinkwasser ermöglicht wird.
({13})
Das hat praktische Konsequenzen; denn täglich sterben fast 6 000 Kinder an Krankheiten, die durch verschmutztes Wasser übertragen wurden. Es ist doch jede
Anstrengung von uns allen, und zwar in der internationalen Gemeinschaft, wert,
({14})
dass diesem Skandal entgegengewirkt wird und die notwendigen Investitionen, die wir in diesem Haushalt in
einem Umfang von 350 Millionen Euro vorgesehen haben, tatsächlich realisiert werden. Das werden wir tun.
({15})
Wenn ich das sagen darf: Auch da gilt Kohärenz beim
Handel. Da kann man gut von Freihandel reden. Aber
man muss dann auch - Sascha Raabe hat das zusammen
mit anderen in seinem Antrag getan - die Schlussfolgerungen ziehen. Die Entwicklungsländer werden sehr genau beobachten, ob die Versprechen von Doha nach dem
11. September 2001 zur Frage, ob die Welthandelsrunde
eine Entwicklungsländerrunde wird, eingelöst werden
oder nicht. Solange jährlich 350 Milliarden Euro zur Absicherung und Protektion der Agrarmärkte in den Industrieländern verwandt werden, so lange ist in dieser Welt
etwas nicht in Ordnung. Wir müssen dazu beitragen,
dass dieser Skandal beseitigt wird.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht uns um die
weitere konsequente Reform der Strukturen der Entwicklungszusammenarbeit. Ich bin ganz sicher, dass
wir jenseits der einzelnen Formulierungen diese notwendigen Reformen im Interesse der Effizienz gemeinsam
voranbringen werden. Es geht darum, zu verzahnen zwischen dem, was wir an bilateralen Fähigkeiten haben,
was wir in den großen internationalen Organisationen
leisten können und was wir in bestimmten Sektoren zum
Beispiel über die Weltbank voranbringen können.
Höhere Finanzmittel zu haben ist wichtig. Aber ich
weise darauf hin: Während das Soll des Gesamthaushaltes gegenüber 2002 um 1,7 Prozent sinkt, steigt der Plafond des Einzelplans 23 um runde 2 Prozent auf 70 Millionen Euro.
({17})
Einige haben festgestellt, dass auch andere Ressorts
beteiligt sind. Das ist eben das neue Denken. Wir wollen
nicht, dass nur ein Ressort international und global
denkt, sondern wir wollen, dass alle Ressorts mitdenken
und zur Gestaltung der Welt beitragen.
({18})
Meine Güte, da sind Sie wirklich noch weit hinterher.
({19})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe gehört,
was der Bundeskanzler heute Morgen gesagt hat. Ich gestehe: Ich habe Angst vor diesem Krieg, Angst vor der
Gleichgültigkeit einer Kriegsmaschinerie, in der das
Menschenleben nichts mehr zählt; Angst vor den großen
Kriegsstrategen, die in den nächsten Tagen und Wochen
über der angeblichen Faszination von Taktik, militärischem Gerät und Strategie das Leid der Zivilbevölkerung verdunkeln; Angst vor der Gewöhnung an Krieg.
({20})
Aber ich will an dieser Stelle auch sagen: Diese Angst
lähmt mich nicht. Als Mensch, als Politikerin und Entwicklungsministerin stehe ich hier,
({21})
weil ich dieses Gefühl der Angst umsetze in Entschlossenheit, in Handlungswillen und die Überzeugung, dass
es einen Weg gibt, wie die Welt trotz alledem friedlich
gestaltet werden kann.
({22})
Ich muss ehrlich sagen: Als wir Saddam Hussein
schon als Verbrecher bezeichnet haben, da haben die
USA und andere - vermutlich auch mit Ihrer Unterstützung und Kenntnis ({23})
Saddam Hussein noch militärisch ausgerüstet. Da wollen
wir doch einmal ganz offen und ehrlich sein.
({24})
Ihre Heuchelei ist wirklich unerträglich.
Ich will sagen: Wenn wir den Menschen eine Perspektive bieten, sich zu entwickeln, wird es Gerechtigkeit geben. Wenn wir andere Länder und Regierungen als
gleichberechtigte Partner akzeptieren,
({25})
wird es eine multipolare Weltordnung geben, in der die
Stärke des Rechtes gilt. Wenn wir diese Welt gerechter gestalten, wird es friedlichere Verhältnisse geben. Denn Frieden und Gerechtigkeit gehören untrennbar zusammen.
Ich bin davon überzeugt, dass wir diese gerechtere
Weltordnung gemeinsam schaffen und voranbringen
können. Ich bin überzeugt, dass die Bundesregierung mit
ihrer Haltung im Irakkonflikt Frieden und Gerechtigkeit
langfristig gestärkt hat.
({26})
Ich bin überzeugt, dass Frieden und Gerechtigkeit möglich sind. Für diese Art der Entwicklungszusammenarbeit stehe ich mit meiner politischen Überzeugung und
mit unserer Regierung und Koalition.
Ich danke Ihnen.
({27})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 23 - Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - in der Ausschussfassung.
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/
CSU vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für
den Änderungsantrag auf Drucksache 15/672? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist
abgelehnt.
Wer für den Einzelplan 23 in der Fassung des Ausschusses stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der
Einzelplan mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition so angenommen.
Ich rufe nun auf:
Einzelplan 10
Bundesministerium für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft
- Drucksachen 15/560, 15/572 Berichterstattung:
Abgeordneter Jürgen Koppelin
Ernst Bahr ({0})
Franziska Eichstädt-Bohlig
Es liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/
CSU und neun Änderungsanträge der FDP-Fraktion vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Ilse Aigner für die CDC/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Wir beraten heute den
Einzelplan Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Ich werde mich im Wesentlichen auf die Landwirtschaft beschränken. Die Kollegin Ursula Heinen
wird sich dann um die Stellungnahme der Union zum
Verbraucherschutz kümmern.
Vorab möchte ich mich aber noch bei der Kollegin
Eichstädt-Bohlig, beim Herrn Kollegen Koppelin und
beim Herrn Kollegen Bahr für die gute Zusammenarbeit
im Berichterstattergespräch genauso wie bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Ministerin und des
Bundesrechnungshofes für die guten Vorlagen, die wir
bekommen haben, bedanken.
({0})
Die deutsche Landwirtschaft wird derzeit von mehreren Seiten förmlich in die Zange genommen. Auf der einen Seite stehen die fordernden und teilweise auch sehr
misstrauischen Verbraucher, die von unserer Landwirtschaft die höchste Qualität unter Einhaltung aller höheren nationalen Auflagen aus dem Bereich des Tier-,
Landschafts- und Umweltschutzes verlangen. Dies allein
ist an sich nicht zu kritisieren. Ein Problem wird es erst
dann, wenn bei der konkreten Nagelprobe an der Ladentheke aus Preisgründen doch wieder die niedrigeren
Standards akzeptiert und die entsprechenden Produkte
gekauft werden.
Auf der anderen Seite kommen auf die Landwirtschaft sowohl von der EU als auch von der WTO
gravierende Einschnitte zu. Ich sehe nicht, dass die deutsche Ministerin hier eine vehemente Vorkämpferin für
die deutschen Interessen ist und sich auch dafür einsetzt,
dass die Bauern eine verlässliche Basis bekommen.
({1})
Die Agenda 2000 war für einen Zeitraum bis 2006
vorgesehen. Dieser sollte zwingend eingehalten werden.
Frühzeitig vor 2007 sollten die neuen Rahmenbedingungen festgesetzt werden. Wie sollen denn sonst unsere
deutschen Landwirte eine vernünftige Planung vornehmen können?
Zurück zu der heutigen Beratung des Einzelplans 10,
den Sie, Frau Ministerin, vollkommen allein zu verantworten haben. Sie können keine Schuld auf andere
schieben. In diesem Haushalt sind wesentliche Veränderungen vorgesehen.
Die Union hätte die Schwerpunkte anders gesetzt. Wir
haben dies durch Anträge auch dokumentiert. Unter diesen Anträgen waren nicht nur Erhöhungsanträge, wie
uns die Koalitionsseite immer vorwirft, sondern im Wesentlichen Kompensationsvorschläge, die von Ihnen
rundum abgelehnt wurden.
({2})
Im Bereich der landwirtschaftlichen Sozialpolitik
sind weitere Einschnitte durch eine globale Minderausgabe in Höhe von 20 Millionen Euro vorgesehen. Wenn
ich die Statements beim gestrigen Parlamentarischen
Abend richtig verstanden habe, sind sich die landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger mit der Regierung über diese Einschnitte einig. Dies kann ich nur so
interpretieren, dass es bei der Verwaltung offensichtlich
noch erhebliche Einsparpotenziale gibt. Eine erneute
Anhebung der Unfallversicherungsbeiträge für die Bauern können wir mit Sicherheit nicht mittragen. Wir werden ganz genau hinschauen, ob diese Einsparung bei den
Landwirten vorgenommen wird oder ob bei der Verwaltung eingespart wird. Darauf können Sie sich verlassen.
({3})
Dass die Gasölbeihilfe im letzten Haushalt deutlich
gekürzt wurde und jetzt erneut gekürzt wurde, sei der
Vollständigkeit halber nur noch einmal erwähnt und in
Erinnerung gerufen. Diese und weitere Maßnahmen wirken sich eindeutig als Standortnachteil für Deutschland
aus.
Ein wohl einmaliges haushaltstechnisches Vorgehen
ist die Einführung eines Titels ohne Haushaltsmittel.
({4})
Es ist nicht ein Cent im Haushalt dafür vorgesehen. Man
rechnet allerdings mit Mitteln aus einem anderen Bereich, den man offensichtlich als Sparbüchse vorgesehen
hat
({5})
- richtig, so ist es -, nämlich aus dem Bereich der Förderung von Investitionen im Bereich artgerechter Tierhaltung. Das muss man sich ebenfalls genau ansehen. Hier
waren im Haushalt 2002 13 Millionen Euro vorgesehen.
Abgerufen wurden 0 Euro.
({6})
Man könnte nun meinen, dass bei ordentlicher Haushaltsführung dieser Titel im Regierungsentwurf gekürzt
worden wäre. Weit gefehlt! Dieser Titel wurde auf
50 Millionen Euro angehoben. In der Bereinigungssitzung hat die Koalition diesen Titel zwar auf 31 Millionen Euro gekürzt,
({7})
aber auch das ist nicht gerechtfertigt. Vertraglich gebunden sind ganze 860 000 Euro. Das ist wohl das komplette Gegenteil vom Grundsatz der Klarheit und Wahrheit in der Haushaltsführung.
({8})
Nun fragt man sich: Wofür das Ganze? Die Erklärung
liegt eben in einem neuen Titel, dem so genannten Aktionsprogramm „Bäuerliche Landwirtschaft“, der deckungsfähig mit dem vorher genannten Titel sein soll.
Im Gegenzug dazu werden die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des
Küstenschutzes“ um 107 Millionen Euro auf 764 Millionen Euro gekürzt, obwohl praktisch alle Vorschläge aus
diesem Programm über die GAK abgewickelt werden
könnten.
Dazu ein Beispiel. Im Aktionsprogramm waren die
Förderung der Übernahme von bäuerlichen Betrieben
und gegebenenfalls die Existenzgründung in Verbindung
mit neuen Einkommensquellen vorgesehen. In der GAK
wurden dagegen bis 2002 unter anderem gefördert: die
Zuweisung zur Verbilligung von Zinsen für die Förderung der Wiedereinrichtung und Modernisierung bäuerlicher Familienbetriebe, die Zuweisung zur Verbilligung
von Zinsen im Rahmen der Gewährung von Starthilfen
zur Umstrukturierung von landwirtschaftlichen Unternehmen usw., usf.
({9})
- Genau.
Über die eigentlichen Ursachen dafür, warum immer
weniger Kinder von Landwirten den Betrieb übernehmen wollen, hat sich die rot-grüne Regierung offensichtlich keine Gedanken gemacht. Die Landwirtschaft andauernd von nationaler Seite zusätzlich zu belasten
- zweistellige Einkommensrückgänge in den letzten Jahren, Arbeitszeiten von 60 bis 70 und mehr Stunden pro
Woche und dann auch noch der Buhmann der angeblichen Ministerin für Landwirtschaft zu sein - ist für die
Zukunft nicht sonderlich motivierend. Daran wird auch
eine noch so schön klingende Existenzgründungsoffensive nichts ändern.
({10})
All diese Maßnahmen, die in dem so genannten Aktionsprogramm vorgeschlagen werden, sind problemlos
über die Gemeinschaftsaufgabe auszuführen.
({11})
Warum ist aus unserer Sicht eine Förderung über die
GAK besser? - Übrigens, Frau Ministerin, auch die Umweltverbände fordern dies. Der BUND, der Deutsche
Naturschutzring, der NABU und der WWF haben langfristig eine Verstetigung und Absicherung der GAK gefordert. - Der entscheidende Vorteil für die Landwirtschaft selbst ist, dass die Bundesmittel um 60 Prozent
durch Ländermittel aufgestockt werden. Deshalb verliert
die Landwirtschaft durch die vorgesehene Kürzung nicht
nur die Bundesmittel, sondern zusätzlich in diesem
Haushaltsjahr die Förderung der Länder in Höhe von
160 Millionen Euro.
Jetzt bleibt die Frage: Warum wird dieses Programm
an der GAK vorbei neu aufgelegt? Ein gängiges Argument ist, dass die Länder die Mittel nicht abgerufen haben oder sie nicht mehr abrufen werden können.
Schauen wir uns also die letzten Jahre an: In den Jahren
1999, 2000 und 2001 wurden die Mittel zu 98,5, zu 97,6
und zu 98,7 Prozent abgerufen. Als Ergebnis bleibt, dass
die Mittel zwar kontinuierlich gekürzt wurden, die verbleibenden Mittel aber jeweils fast vollständig abgerufen
wurden. Wer sagt denn eigentlich, dass die Mittel bei
gleich hohem Ansatz nicht mehr abgerufen werden?
({12})
- Genau.
Also scheint der Grund an anderer Stelle zu liegen.
Man will damit wohl insbesondere diejenigen Länder
fördern, die nicht dazu bereit sind, ihre landwirtschaftlichen Strukturen im Sinne der Umwelt zu fördern. Zufällig sind dies meist Länder, die der Couleur der Bundesregierung entsprechen oder ihr bis vor kurzem entsprochen
haben.
({13})
Dass es hier gravierende Unterschiede gibt, zeigt die
Förderung der Länder bei Agrarumweltmaßnahmen. Laut Agrarbericht förderte 2001 und 2002 BadenWürttemberg diese Maßnahmen mit 104 Euro pro Hektar, Bayern mit 64 Euro pro Hektar und - jetzt kommt es Nordrhein-Westfalen mit ganzen 11 Euro pro Hektar,
Niedersachsen mit 4 Euro pro Hektar und SchleswigHolstein mit 1 Euro pro Hektar.
({14})
- So ist es. - Da freut man sich in diesen Ländern natürlich, dass man sein eigenes Nichtstun mit einer Bundesförderung vertuschen kann. Da sieht man wieder einmal
den Unterschied zwischen rot-grünem theoretischen Anspruch und praktischem Handeln.
({15})
Dass durch die Bundesprogramme konkurrierend zu
Länderprogrammen Parallelstrukturen aufgebaut werden
und darüber hinaus zur Umsetzung eine zusätzliche Verwaltung im Ministerium aufgebaut werden muss, sei nur
nebenbei bemerkt. Dies trifft praktisch auf alle Programme zu: auf den Ökolandbau, auf tiergerechte Haltungsverfahren, auf Modell- und Demonstrationsvorhaben
und auf das so genannte Aktionsprogramm „Bäuerliche
Landwirtschaft“. Dies ist aus Effizienzgesichtspunkten
kontraproduktiv, sowohl was die verwaltungsmäßige
Umsetzung als auch die Übersichtlichkeit der Förderprogramme betrifft.
({16})
Wir haben deshalb den Bundesrechnungshof gebeten,
diesen Sachverhalt genauestens zu prüfen. Ich gehe davon aus, dass er dies auch tun wird.
Ein Posten im Haushalt ist zwar sehr „gering“; aber er
hat mich erheblich gestört: die einseitige Förderung des
Zertifizierungssystems für Forstwirtschaft, FSC.
({17})
Die Bundesregierung hat laut Koalitionsvereinbarung
beschlossen, allein diese Zertifizierung zuzulassen bzw.
zu bevorzugen. Warum stört mich dies? Weil die Bundesregierung damit eindeutig gegen deutsche Interessen
handelt. Der deutsche Forst und Privatwald ist zu über
60 Prozent der Fläche nach dem vollkommen gleichwertigen europäischen Zertifizierungssystem PEFC zertifiziert. Nur fünf von 16 Bundesländern haben ihren
Staatsforst nach FSC zertifiziert, eines davon nur deshalb, weil es zu dem damaligen Zeitpunkt PEFC noch
nicht gegeben hat.
Worin besteht der Unterschied? FSC wurde in erster
Linie für Länder mit großflächigen Waldbesitzen geschaffen. Kanada zum Beispiel ist solch ein Land.
95 Prozent der Waldflächen sind in staatlichem Besitz.
Sie vergeben den Holzeinschlag über Konzessionen und
man kann nicht immer davon ausgehen, dass die Nutzer
auch die Nachhaltigkeit im Hinterkopf haben.
Diese Struktur trifft mitnichten auf die deutsche
Forstwirtschaft zu. Über die Hälfte der Flächen ist traditionell in Privathand, etwa ein Drittel in Staatshand, der
Rest sind kommunale Flächen. Auf alle Fälle kennzeichnen wesentlich kleinere Flächen diese Struktur.
Diese Besitzer haben seit Jahrzehnten auf eine nachhaltige Waldbewirtschaftung geachtet. Der Begriff
„Nachhaltigkeit“ kommt übrigens direkt aus der Forstwirtschaft. Hier gilt und galt die Regel, immer einen
hundertjährigen Bestand zu haben, um sich selbst und
der nachfolgenden Generation nicht das Wasser abzugraben.
({18})
Um die Verhältnisse in Deutschland noch einmal etwas deutlicher darzustellen: 6,33 Millionen Hektar sind
nach PEFC zertifiziert, ganze 432 000 Hektar nach FSC.
Das ist ein Verhältnis von 93,6 Prozent zu 6,4 Prozent.
Was reitet also die Bundesregierung eigentlich, FSC zu
fördern und auch noch die Verlagerung des Sitzes nach
Deutschland mit 256 000 Euro zu fördern?
({19})
Sollte da vielleicht jemandem in eine Spitzenposition geholfen werden? Oder wollen Sie dadurch besonders den
Import tropischen Holzes fördern?
({20})
Eine Entwicklung ist schließlich nicht nur in diesem
Einzelplan zu hinterfragen: der Aufwuchs bei den Aushilfskräften. Im Jahr 1998 beliefen sich die Ausgaben
für Aushilfskräfte noch auf 4,15 Millionen Euro, im Jahr
2003 beträgt der Ansatz 25,7 Millionen Euro, also fünfmal so viel allein in diesem Haushalt. Selbst wenn ich
zwei Positionen herausrechne, die vorher nicht in diesem
Titel enthalten waren, ist es ein gravierender Aufwuchs.
({21})
Sie können sicher sein, dass wir diese Entwicklung zusammen mit der rasant ansteigenden Summe für Sachverständigengutachten in den nächsten Haushalten äußerst genau unter die Lupe nehmen werden. Ich glaube,
auch der Bundesrechnungshof wird das tun.
({22})
Zum Schluss: Sehr geehrte Frau Ministerin, sorgen
Sie dafür, dass die Bauern verlässlich planen können.
Sorgen Sie dafür, dass die Landwirte für die Erhaltung
unserer Kulturlandschaft auch die Anerkennung erfahren, die sie verdienen. Eine staatliche Pflege unserer
Landschaft ist nicht unser Ziel; ich hoffe, das ist auch
nicht das Ziel der Bundesregierung. Sorgen Sie dafür,
dass unsere Bauern gleiche Wettbewerbsbedingungen
zumindest auf europäischer Ebene haben.
({23})
Sie können von einem 100-Meter-Läufer nicht verlangen, dass er dieselbe Zeit wie seine Konkurrenten läuft,
wenn Sie ihm beide Beine zusammenbinden.
Sehr verehrte Frau Ministerin, stellen Sie in der
nächsten Zeit unter Beweis, dass Sie nicht eine Ministerin gegen Landwirtschaft, sondern eine Ministerin für
Landwirtschaft sind. Ich glaube, unsere Landwirte haben
das durchaus verdient.
Vielen Dank.
({24})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Bahr von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch ich habe die Zusammenarbeit unter uns Haushaltsberichterstattern als angenehm empfunden. Ich
denke, dass wir trotz der unterschiedlichen Auffassungen ganz gut zurechtgekommen sind.
Ihre Aussagen bestätigen eigentlich eher unsere Auffassung. Die Betriebsübernahmen sind ein Problem,
das nicht in der politischen Landschaft an sich liegt, sondern auch in der Struktur der Landwirtschaft. Bereits seit
40, 50 Jahren wollen die jungen Leute die Betriebe, die
nicht mehr rentabel zu bewirtschaften sind, aus diesem
Grund und auch aus anderen Gründen nicht mehr übernehmen. Wir versuchen seit 40 Jahren und länger, gegenzusteuern, aber diese Entwicklung wird sich wohl
nicht aufhalten lassen.
Zu dem, was Sie zur Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und Küstenschutzes“ gesagt
haben, muss ergänzt werden, dass das eben so, wie Sie es
hier vorgestellt haben, nicht möglich ist. Es ist eben
nicht alles aus diesem Bereich bezahlbar und deshalb ist
es sinnvoll, darüber nachzudenken, wie man die bäuerliche Landwirtschaft auf andere Weise fördert. Wir haben
deshalb einen Leertitel eingerichtet, der mit dem Programm, das wir dazu erstellen, die Finanzierung dieser
Förderung sichert. Dass das mit dem Titel „Tiergerechte
Haltungsverfahren“ tauschbar ist, hat seinen Hintergrund
darin, dass der Titel im vergangenen Jahr in der Tat nicht
ausgeschöpft wurde, aber zum Teil eben nicht ausgeschöpft werden konnte bzw. man ihn nicht ausschöpfen
wollte. Ein Grund ist wohl, dass manche Leute in dieser
Republik, gerade unter denen, die diese Tiere, deren Haltung wir verbessern wollen, halten, gedacht haben, nach
dem 22. September würde es keine solche Haltungsregelung mehr geben. Da haben sie sich aber geirrt, wie wir
alle gesehen haben. Wir werden die Haltungsverfahren
so ändern, wie wir es vorgesehen haben. Dies werden
wir fördern müssen; die Deckungsfähigkeit scheint mir
in Ordnung zu sein.
({0})
- So, wie Sie es sagen, ist es nicht.
Zur EU-Agrarreform. Frau Aigner, fast zeitgleich
mit unserer Regierungsübernahme im Jahre 1998 fand
eine Reform der EU-Agrarpolitik statt, in die wir zugunsten der konventionellen Landwirtschaft stark eingebunden waren. Dass uns auch die konventionelle Landwirtschaft am Herzen liegt, haben wir mit unserer
bisherigen Arbeit immer wieder gezeigt. Es ist uns auch
gelungen, diese Landwirtschaft in ihrem Bestand zu sichern und zu stärken.
Ernst Bahr ({1})
Ich werde heute auf die Bereiche etwas näher eingehen, die immer wieder in der Kritik stehen - Sie haben
es zum Teil angesprochen, Frau Aigner - und die eine
moderne Landwirtschaft ausmachen: die Stärkung des
Verbraucherschutzes, Verfahren tiergerechter Haltung
sowie die Förderung, Verarbeitung und Marktfähigkeit
der nachwachsenden Rohstoffe.
Wir haben den Verbraucherschutz gestärkt, indem
wir die Mittel dafür auf über 78 Millionen Euro erhöht
haben. Dieser Aufwuchs kann sich sehen lassen. Ein
großer Anteil kommt der Aufklärung der Verbraucher
zugute. Allein in diesem Bereich haben wir die Mittel
auf 21 Millionen Euro angehoben. Dies entspricht einem
Zuwachs von 60 Prozent und ist auch notwendig.
({2})
Im Gegensatz zur Opposition haben wir erkannt, dass
die Verbraucher zu Recht wissen wollen, was in den Lebensmitteln enthalten ist. Das zeigen nicht zuletzt die
Lebensmittelskandale der Vergangenheit und leider auch
der Gegenwart. Die Leidtragenden sind die Landwirte
und die landwirtschaftlichen Betriebe, weil man in Zeiten der Verunsicherung seine Produkte nur schlecht
absetzen kann. Es gibt keine bessere Werbung für die
landwirtschaftlichen Produkte als eine offene und unvoreingenommene Aufklärung und Information der Verbraucher. Ich wünsche mir, dass sich diese Einsicht auch
in den Reihen der Opposition durchsetzt und sie unsere
politischen Maßnahmen unterstützt.
Mit der Verabschiedung des Verbraucherschutzgesetzes haben wir den Verbraucherschutz gestärkt; in diesem
Bereich können wir einiges vorweisen. Wir haben ein
Bundesinstitut für Risikobewertung eingerichtet und
jetzt mit fast 40 Millionen Euro ausgestattet. Dieses Institut soll die wissenschaftliche Beratung zum gesundheitlichen Verbraucherschutz intensivieren. Wir wollen
damit erreichen, dass in Zusammenarbeit mit den europäischen Behörden der Verbraucherschutz auch über die
Grenzen hinweg besser funktioniert. Damit stellen wir
uns, wie ich glaube, einer wichtigen Aufgabe. Zusammen mit dem Bundesamt für Verbraucherschutz und
Lebensmittelsicherheit werden wir die Qualität der Verbraucheraufklärung deutlich verbessern.
Wichtig ist uns die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit der prüfenden Instanzen; daran wollen wir
mit allen politischen Kräften arbeiten. Hier geht es uns
insbesondere um die Stiftung Warentest, für die wir
eine finanzielle Ausstattung zu besorgen haben, die ihre
Unabhängigkeit sichert.
({3})
- Das werden wir nicht tun, Peter Harry. Wir haben einen Zuschuss von 6,5 Millionen Euro für diese Stiftung
bereitgestellt, mit dem die Stiftung sehr zufrieden ist.
Aber euren Antrag kann man leider schon rein rechnerisch nicht nachvollziehen. Es sollen über fünf Jahre jeweils 12 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden,
die die Stiftung ansparen soll. Davon soll sie Zinsen einnehmen. Von diesen Zinsen soll sie sich jährlich finanzieren. Die Frage ist, wie das gehen soll: Sie soll fünf
Jahre warten, den Betrag ansparen, um dann Zinsen zu
bekommen.
({4})
Selbst wenn man einen Zinssatz von 6 Prozent zugrunde
legte, würde man bei jährlich 3,3 Millionen Euro landen.
Selbst wenn das möglich wäre, wäre das nur die Hälfte
dessen, was wir der Stiftung zur Verfügung stellen. Insofern haben wir einen Schritt in die richtige Richtung getan.
({5})
Wir wollen der Landwirtschaft neue Impulse geben.
Wir wollen ihr helfen, neue Wege zu gehen, und den
bäuerlichen Betrieben eine weit reichende Perspektive
geben. Deswegen gilt unsere Förderung verstärkt den
nachwachsenden Rohstoffen. Allein in diesem Bereich
haben wir 43 Millionen Euro bereitgestellt. Wir hoffen,
dass die Entwicklung von neuen Technologien dazu beiträgt, dass wir in der Landwirtschaft und den nachfolgenden Bereichen Arbeitsplätze erhalten und neue Arbeitsplätze schaffen können. Weltweit zeigt sich, dass
diese Produkte gute Zukunftschancen haben.
Die Entwicklung im Bereich der ökologischen Landwirtschaft zeigt ebenfalls deutlich positive Zeichen.
2001 stieg die Anzahl der Betriebe in diesem Bereich auf
14 702. Das entspricht im Vergleich zum Vorjahr einer
Steigerung um 15 Prozent. Im Vergleich zu 1995 hat sich
die Anzahl der Betriebe sogar verdreifacht und die bearbeitete Fläche verdoppelt. Das zeigt, dass es auf diesem
Gebiet vorwärts geht. Das zeigt sich auch, wenn man das
Einkommen betrachtet. 2001 erzielte jede Arbeitskraft
im Ökolandbau ein Jahreseinkommen von 28 227 Euro.
Das ist ein höheres Einkommen als in der konventionellen Landwirtschaft. Das belegt, dass die Zukunft der
ökologischen Landwirtschaft gesichert ist.
({6})
Wir haben auch die Sicherung der sozialen Systeme
ins Auge gefasst. Wir wollen, dass die Kosten für die
soziale Absicherung der Landwirte weiterhin von uns
mitgetragen werden. Sie wissen, dass das für die Alterssicherung genauso zutrifft wie für die Kranken- und die
Rentenversicherung. Bei der Unfallversicherung haben
wir eine leichte Absenkung vorgenommen. Frau Aigner,
Sie sagten richtigerweise, dass wir diese Absenkung mit
Zustimmung der Unfallversicherer vorgenommen haben.
Insgesamt haben wir diesen Bereich aber um 25 Millionen Euro aufgestockt. Das heißt, dass die sozialen Sicherungssysteme der Landwirtschaft weiterhin gesichert
sind. Dieser Bereich hat im Haushalt des Ministeriums
ein Volumen von 3,8 Milliarden Euro. Man kann nicht
übersehen, dass ein großer Betrag für die soziale Sicherung bereitgestellt wird.
({7})
Ernst Bahr ({8})
Ich bin damit leider am Ende meiner Redezeit angekommen.
({9})
- Peter Harry, ich denke, wir könnten uns noch eine Weile
unterhalten; über andere Themen aber sicherlich mehr und
besser. - Ich denke, ich habe deutlich machen können,
dass wir den Verbraucherschutz stärken wollen. Wir wollen der Landwirtschaft durch die Neuausrichtung unserer
Agrarpolitik eine Perspektive geben, sodass die Arbeitsplätze der Landwirte und im ländlichen Raum insgesamt
gesichert werden. Wir wollen den Bestand der Landwirtschaft, auch der konventionellen Landwirtschaft, sichern.
({10})
Wir haben eine entsprechende finanzielle Ausstattung
zur Verfügung gestellt. Unsere Ziele werden wir umsetzen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Koppelin von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der deutschen Landwirtschaft herrscht Katastrophenstimmung. Die Landwirtschaft leidet nicht nur unter der
schlechten Konjunktur in unserem Land, sondern auch
- das ist bekannt - unter der rot-grünen Steuer- und
Finanzpolitik, die die Einkommenssituation der Landwirte erheblich verschlechtert hat.
({0})
Für die Landwirte ist in den kommenden Jahren keine
Einkommensverbesserung in Sicht. Auch das Höfesterben - das ist schon angesprochen worden - geht weiter: weitere 17 000 Landwirte haben ihren Hof stillgelegt.
Das macht überaus deutlich, dass die rot-grüne Landwirtschaftspolitik keine Zukunftsperspektiven bietet.
({1})
Die Hoffnungslosigkeit der deutschen Landwirte
zeigt sich auch darin, dass die Investitionen in den Betrieben ebenfalls erheblich zurückgegangen sind. Perspektiven - das ist das Problem - können die Landwirte
von der Bundesministerin Künast nicht erwarten.
Wenn man sich den Einzelplan 10 anschaut, kann
man sehr schnell erkennen, dass für die Ministerin
Künast - obwohl sie offiziell für die Landwirtschaft zuständig ist; das steht auf Seite 2 des Haushaltsplanes die Landwirtschaft überhaupt keinen Stellenwert hat.
({2})
Die Politik von Frau Künast ist auf einen einfachen Nenner zu bringen: Der konventionellen Landwirtschaft
wird der Hals umgedreht. Dafür wird alles, was auch nur
den Namen „Öko“ trägt, mit staatlichen Subventionen
gefördert. Das ist Ihre Politik.
({3})
Als Strafe müssen allerdings alle Landwirte die Ökosteuer zahlen.
Aus dem Munde der Ministerin heißt das: Neuausrichtung der Agrarpolitik. Würde Ministerin Künast
einmal einen Betrieb besuchen, dann würde sie feststellen, wie sehr unsere Landwirte bemüht sind, Produkte
von hoher Qualität auf den Markt zu bringen, und wie
engagiert unsere Landwirte sind, was die Bereiche Umwelt- und Tierschutz angeht. Doch das alles zählt bei
dieser Ministerin nicht, weil sie ihre ideologischen
Scheuklappen aufgesetzt hat.
({4})
Während der bisherigen Haushaltsberatungen haben
wir auch über die knappen Finanzmittel diskutiert. Wir
müssen allerdings feststellen, dass das nicht für den
Haushalt von Frau Künast gilt. Dort fließt der Finanzstrom, allerdings nur in die Bereiche, die sich in irgendeiner Weise „Öko“ nennen. So gibt es, um zwei
Beispiele zu nennen, höhere Beiträge für Ökobetriebe
und es sind üppige finanzielle Polster eingeplant, um
Aufträge für Gutachten zu vergeben. Die Ergebnisse
dieser Gutachten - das kennen wir schon - stehen eigentlich schon fest oder zumindest können wir erahnen,
wie die Ergebnisse aussehen werden. Dafür ist unglaublich viel Geld vorhanden. Der Höhepunkt in diesem
Haushalt ist, dass man Geld für nicht wissenschaftliche
Gutachten, wie die Ministerin das bezeichnet, herausschmeißt. Ich weiß, was damit gemeint ist.
({5})
Frau Künast ist die Spitze der Bewegung und zeigt besonders deutlich, dass die Grünen eine reine Klientelpartei sind und nichts anderes.
({6})
Das macht die Ministerin natürlich auch deswegen, da
bestimmte Bereiche der Landwirtschaft, nämlich die
Ökobetriebe, eine noch schlechtere Ertragslage hätten
als heute, wenn sie diese nicht in diesem Maße päppeln
würde; das weiß sie ganz genau. Das ist zu bedauern; das
muss ich ganz offen sagen.
({7})
Mit diesem Haushalt betreibt Ministerin Künast nach
unserer Auffassung nur ein Ziel - das können Sie sehen,
wenn Sie ihn intensiv lesen -: Sie will die Landwirtschaft spalten. Nichts anderes will sie mit diesem Haushalt erreichen.
({8})
Gerüchteweise hört man, dass die Ministerin auch für
den Verbraucherschutz zuständig sein soll. Ich sage:
gerüchteweise; denn es gibt kaum Aktivitäten des Ministeriums in diesem Bereich. Das wird zum Beispiel beim
Thema BSE deutlich. Der Rechnungshof hat uns mitgeteilt, das Referat Fleischhygiene sei personell ausgedünnt worden, obwohl sich gerade dieses Referat mit
BSE beschäftigt. Das müssen Sie uns erklären.
Ein weiteres Beispiel betrifft die Stiftung Warentest.
Diese Stiftung leistet hervorragende Arbeit. Damit das
so bleibt, fordert die FDP, dass sie als unabhängige Stiftung etabliert wird. Wir wollen, dass diese Stiftung unabhängig von dem Einfluss aus der Politik wird und unabhängig arbeiten kann.
({9})
Ministerin Künast versteht unter Verbraucherschutz
nicht den Schutz der Verbraucher, sondern allein den
Schutz der Verbraucherverbände. Gegenüber den Verbrauchern steht sie mit leeren Händen da. Das ist ihre
Politik.
({10})
Im Ministerium werden - auch das ist sehr interessant - mehr und mehr neue Stellen geschaffen. Wir bestreiten nicht, dass die eine oder andere dieser Stellen
notwendig ist, aber die Zahl der in diesem Ministerium
geschaffenen Stellen ist ein einziger Skandal.
({11})
Da diese Stellen nicht im Bereich des Verbraucherschutzes angesiedelt sind, muss ich fragen, wofür Ministerin Künast diese Stellen braucht. Der Haushalt gibt
Aufklärung und der Bundesrechnungshof hat uns das bestätigt: Die Leitung des Ministeriums mit Frau Künast an
der Spitze saugt sich mit Stellen voll.
({12})
- Es gibt Berichte des Rechnungshofes, in denen das geschrieben steht. Das können Sie nicht bestreiten. Sie
müssen den Rechnungshof kritisieren und nicht mich.
Der Bericht liegt vor. Wenn Sie ihn nicht kennen, dann
stelle ich ihn Ihnen gerne zur Verfügung. Darin können
Sie lesen, wie die Stellen angehoben wurden und wo
sich diese Stellen befinden. Das alles ist vom Bundesrechnungshof kritisiert worden. Darüber haben wir im
Haushaltsausschuss beraten.
Frau Künast verfolgt mit der Schaffung dieser Stellen
nur ein einziges Ziel, nämlich aus dem Landwirtschaftsministerium in der Wilhelmstraße die ideologische Zentrale für Bündnis 90/Die Grünen zu machen. Nichts anderes hat sie vor.
({13})
Die Sorgen der Landwirte interessieren diese Ministerin
überhaupt nicht. Diese sind für sie Nebensache. Hauptsache, sie kann als Heilige für die Legehennen durch das
Land ziehen. Das ist das Ergebnis dieser Politik.
({14})
Deswegen stellen wir fest - Herr Präsident, ich
komme zum Schluss -: Unsere Landwirte haben von
diesem Ministerium nichts zu erwarten. Frau Ministerin,
Sie haben Vorgänger mit großen Namen gehabt. Ich
nenne Josef Ertl, Ignaz Kiechle, Jochen Borchert, der in
unseren Reihen sitzt, oder selbst Karl-Heinz Funke von
den Sozialdemokraten. Deren Politik haben Sie in wenigen Jahren zerschlagen. Sie werden verstehen, dass wir
Ihrem Haushalt nicht zustimmen können.
({15})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Eichstädt-Bohlig vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Aigner und lieber Kollege Koppelin, ich
muss schon sagen, die Katastrophenstimmung, die Sie
hier verbreiten, kann ich überhaupt nicht verstehen.
({0})
Es war Renate Künast, die die Agrarpolitik aus der Krise
herausgeführt hat.
({1})
Sie wollen sich wohl überhaupt nicht mehr an den BSESkandal, die Maul- und Klauenseuche, den Tiermehlfutterskandal, die Schweinepest und den Nitrofen-Skandal
erinnern.
({2})
Wir hatten enorme Probleme im Landwirtschaftsbereich. Im Endeffekt sagen Sie jetzt nichts anderes, als
dass alles wieder dahin zurück soll, wo es bereits vor
zwei bis drei Jahren war.
({3})
Das kann doch wirklich nicht das Ziel sein. Das, was Sie
hier bieten, ist erbärmlich.
({4})
Sie haben überhaupt keine Reformperspektive, sondern handeln sowohl hier als auch da nur schlicht nach
dem Motto: Rollback, Rollback, Rollback.
Kollege Koppelin, ich muss wirklich sagen: Der Satz
mit der ideologischen Zentrale war richtiger Stuss. Das
sollten Sie sich einmal klar machen.
({5})
Es geht nämlich um ganz klare Inhalte, zu denen man
ernsthaft Stellung nehmen muss; man muss über sie
diskutieren. Insofern ist völlig klar: Renate Künast ist
eine Ministerin für die Landwirtschaft,
({6})
die Reformen für eine zukunftsfähige Landwirtschaft anstrebt. Mir ihr wird es kein Zurück in eine Zeit geben, in
der es Skandale, Gift, Chemie und Pestizide gab.
({7})
Es ist also völlig richtig, dass es hier einen ganz klaren
Unterschied gibt.
Kollege Bahr hat eben auch schon darauf hingewiesen, dass wir zu diesen Reformen, für die wir in der
Landwirtschaft zunehmend Unterstützung gewinnen,
stehen.
({8})
- Das ist ziemlich klar. - Es geht eben nicht nur um den
ökologischen Landbau, sondern auch um die konventionelle Landwirtschaft. Unser Haushalt enthält einige Reformbausteine. Diese haben wir gesichert, obwohl wir
teilweise auch Kürzungen vornehmen mussten. Das war
nicht immer ganz leicht. Obwohl wir unser Konsolidierungsziel erreichen wollen, war es uns wichtig, die Reformbausteine zu sichern.
Zu den nachwachsenden Rohstoffen hat Kollege
Bahr das Wichtigste schon gesagt. Hierfür haben wir
63,6 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Das ist ein
wichtiger Baustein, um für die Landwirtschaft neue wirtschaftliche Perspektiven zu eröffnen, um dem Landwirt,
der gleichzeitig Energiewirt ist, neue Chancen zu geben
und um in den anderen Bereichen landwirtschaftliche
Rohstoffe, beispielsweise Hanf, zu Stoffen zu verarbeiten, sodass hier ganz neue Perspektiven eröffnet werden,
anstatt immer nur in dem Bereich zu wirtschaften, in
dem bisher schon gearbeitet wurde.
({9})
Ich komme zum Bereich Ökolandbau. Ich muss ganz
deutlich sagen, dass es nicht darum geht, einfach nur die
Nische Ökolandbau auszuweiten. Das ist der eine Teil. Der
andere Teil ist aber genauso wichtig. Die konventionelle
Landwirtschaft muss mehr Chancen bekommen, naturnah
zu produzieren. Deswegen haben wir das Biosiegel eingeführt, das eben nicht nur für den engeren Bereich des ökologischen Landbaus gedacht ist, sondern durch das auch
die Chance eröffnet wird, im Zwischenbereich ein Siegel
dafür zu erhalten, dass ökologisch, naturverträglich und
gesund produziert wird, sodass entsprechende Nahrungsmittel zur Verfügung gestellt werden können.
({10})
Eigentlich sollten Sie inzwischen so weit sein, dass Sie
das unterstützen, anstatt hier einfach herumzupöbeln.
Das trägt nichts Konstruktives zur Sache bei.
({11})
In meinen nächsten Sätzen komme ich ganz konkret
zur artgerechten Tierhaltung. Im Haushaltsausschuss
haben wir uns intensiv darum gestritten. Ich finde es richtig und wichtig, den Landwirten und dem landwirtschaftlichen Gewerbe - es geht ja nicht nur um die Bauern und
Landwirte selbst, sondern auch um Gewerbestrukturen die Chance zu geben, ihre Ställe und Legehennenbatterien
({12})
Schritt für Schritt umzubauen, damit es zu einer artgerechten Tierhaltung kommt.
Wir können den Tierschutz doch nicht ins Grundgesetz schreiben, entsprechende gesetzliche Regelungen
und Verordnungen weiter befördern und es dabei belassen. Wir wollen eine Politik, in der wir fordern und in
der wir das Geforderte dann auch fördern.
({13})
Das sollte eigentlich Ihre Unterstützung haben. Ich bin
mir sicher, dass es gelingt, die Bauern und Landwirte
schrittweise zu überzeugen, dass sie durch dieses Programm wirklich etwas für ihr eigenes Unternehmen und
für die Tierhaltung in ihrem Bereich tun können.
Ich möchte auf einen weiteren Punkt zu sprechen
kommen. Ich bin erstaunt, dass Sie sich so sehr gegen
das Aktionsprogramm „Bäuerliche Landwirtschaft“
stellen, wohingegen Sie sich gleichzeitig beschweren, es
werde für die traditionellen Landwirte zu wenig getan.
({14})
- Wir warten darauf und werden das ebenso wie die
Fachpolitiker von der Ministerin einfordern. Dann wird
diskutiert und in die Praxis umgesetzt.
({15})
Auf der Grünen Woche hat sich herausgestellt, dass
die Beteiligten genau an diesem Baustein der Reform zur
Stabilisierung des ländlichen Raumes sehr interessiert
sind.
({16})
Genauso verhält es sich mit dem Modellvorhaben und
dem Projekt „Regionen aktiv“.
({17})
Sie sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg dahin, die
Landwirtschaft nicht nur separat, sondern zusammen mit
der Natur zu sehen. Erzeuger sollen mit Verbrauchern
zusammengebracht werden, um so die Landwirtschaft
als integrierte Form wahrzunehmen.
Wenn Sie immer nur jammern können und keine besseren Rezepte haben,
({18})
sollten Sie lieber still sein. Sie können nicht immer nur
das Rollback fordern. Solange Sie keine guten Ideen haben, brauchen wir Ihr Gerede - ich hätte beinahe Geblöke gesagt - nicht ernst zu nehmen. Aber wir sind ja in
der Landwirtschaftsdebatte.
({19})
Ein Wort zum Verbraucherschutz - Kollege Bahr hat
schon einiges dazu gesagt -: Wir wollen und werden Verbraucherschutz und Verbraucherinformationen Schritt für
Schritt ausweiten und intensivieren. Als Erstes werden
wir uns den Nahrungsmittelbereich vornehmen; denn gesunde Ernährung ist sehr wichtig. Aber gesundheitlicher
Verbraucherschutz geht noch weiter. Nicht nur die Nahrungsmittel, sondern auch die Produktsicherheit steht im
Vordergrund. Danach werden wir uns Schritt für Schritt
dem wirtschaftlichen Verbraucherschutz bis hin zu Finanzdienstleistungen zuwenden, bei denen der Verbraucher manchmal übers Ohr gehauen wird. Wir informieren
darüber, was dagegen getan werden kann.
Insofern habe ich überhaupt kein schlechtes Gewissen, dass wir dafür nicht nur Geld, sondern auch ein paar
Stellen bereitgestellt haben. Kollege Koppelin, sagen Sie
einmal konkret, was Sie dagegen haben, wenn wir diesen
Bereich stärken. Ich verstehe die Bedenken der FDP
nicht, aber offenbar braucht sie das, weil sie gegen alles
ist.
({20})
Ich möchte ein paar Worte zur Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ sagen. Wir haben uns gegen Ambitionen
gewandt, hier die Mittel zu kürzen; das wissen Sie ganz
genau. Darüber haben wir intensiv miteinander diskutiert. Aber Sie wissen auch, dass sich inzwischen die
Länder Zug um Zug - das sind nicht nur Schleswig-Holstein und Niedersachsen - aus der Finanzierung zurückziehen.
({21})
- Die Mittel werden immer geringer. Sie haben nicht gesagt, in welcher Höhe die Länder gegenfinanzieren.
({22})
Der Beitrag der Länder wird von Jahr zu Jahr immer geringer. Dem hat sich die Finanzplanung schrittweise angepasst. Aber wir halten die Mittel auf dem Level, den
die Länder mittragen. Richtig ist aber, dass wir darüber
hinaus den Landwirten Angebote zur Reform machen,
wie wir sie eben dargestellt haben.
({23})
Zu den Einsparungen in der landwirtschaftlichen
Sozialpolitik. Sie haben gestern erlebt, dass mit den Verbänden eine einvernehmliche Lösung erzielt wurde. Daher sollte es in diesem Punkt keine Kritik geben. Dass
wir zum Gesamtvolumen der Konsolidierung auch in
diesem Bereich unseren Beitrag zum Sparen erbringen
müssen, sollte nicht weiter strittig sein.
Ich möchte noch ein paar Takte zu Ihren Anträgen sagen. In ihnen spiegelt sich die Grundhaltung wider, gegen alles zu sein. Die CDU/CSU möchte die Mittel für
die Gemeinschaftsaufgabe gerne erhöhen. Das wird
praktisch nicht gelingen, weil die Länder nicht kofinanzieren können. Das ist also ein Luftantrag.
({24})
Zur FDP muss ich sagen: Sie hat in ihren vielen Anträgen - wir haben die rosa Anträge vorhin erhalten nach der Rasenmähermethode die Kürzung aller Mittel
verlangt. Die Landwirtschaft der 80er-Jahre lässt herzlich grüßen. Wir wünschen Ihnen dabei viel Spaß.
({25})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Klöckner von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin neu im Bundestag und dachte immer, dass uns Polemik gegen die Regierung nicht weiterbringt.
({0})
Deswegen bin ich davon ausgegangen, dass eine sachliche Auseinandersetzung hilfreich sein würde. Aber man
stößt sehr schnell an die Grenzen des guten Willens,
wenn man sich anschaut, wie Sie Agrarpolitik betreiben
und den Agrarhaushalt aufstellen.
({1})
Da bleibt wenig Raum für rationales Argumentieren.
Hier wird ein negatives Bild von den Bauern gezeichnet und es wird ein Landwirtschaftstraum geträumt, der
nicht mit den Bauern geträumt wird. Wenn Sie von Ökowiesen sprechen und sagen, dass es den Bauern gut gehe
und wir nicht wüssten, wie es den Bauern gehe, dann
weiß ich nicht, welche Pappmascheebauern Ihnen vorgestellt worden sind.
({2})
Glauben Sie mir: Unsere Bauern verlangen gewiss
keine Wunder. Sie verlangen in ihrer Situation einfach
nur Unterstützung. Liebe Frau Künast, mancher Bauer
wünschte, einmal mit solcher Sorge bedacht zu werden,
wie Sie sie den Blumen, Pflanzen und Tieren zukommen
lassen.
({3})
Leider sind Sie in erster Linie Anwältin Ihrer Partei.
({4})
- Ja, aber das geschieht erst im Jahre 2005, dann sind wir
alle gerettet. - Sie sind viel zu wenig Agrarministerin.
Das ist schade.
({5})
Es heißt, auch die Landwirtschaft müsse ihren Beitrag
zu den BSE-Folgekosten leisten. Das Gleiche wird gesagt, wenn es um die Erhöhung der Mehrwertsteuer oder
um die Ökosteuer geht. Überall sollen die Bauern also
ihren Beitrag leisten. Aber Sie sollten wissen: Kühe
kann man nicht ewig melken.
({6})
- Ja, ein bisschen Futter brauchen sie auch.
Ärger erregend ist die Tatsache, wie und wo Sie
die Kürzungen vornehmen. Wir erwarten mehr Fantasie und Verständnis für die Bauern. Landwirtschaft
hat - das sagt das Wort - nämlich auch etwas mit
Wirtschaften zu tun. Bauern sind auch da, um Einkommen zu erzielen.
({7})
Eines muss klar gesagt werden: Nur wirtschaftlich gesunde Betriebe können auf Dauer nachhaltig arbeiten
und letztlich auch die Auflagen, von denen ihnen immer
mehr gemacht werden, erfüllen. Das, was Sie noch für
den Berufsstand der Bauern übrig haben, ist eine andere
Art der Sterbehilfe.
({8})
Die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe - GAK - werden um 107 Millionen Euro geringer ausfallen. Mit diesen Kürzungen und Umschichtungen setzen Sie in dieser
Zeit gerade die falschen Zeichen.
Sie verhalten sich innerhalb Ihres Agraretats übrigens
sehr widersprüchlich. Auf der einen Seite verlangen Sie
von der EU den Ausbau der zweiten Säule. Auf der anderen Seite streichen Sie in Deutschland die Kofinanzierungsmittel dafür. Der Weg geht einfach in die falsche
Richtung.
({9})
Den Bauern muss angst und bange werden, bedenkt
man, dass mit den gestrichenen Mitteln das Bundesprogramm „Tiergerechte Haltungsverfahren in der Legehennenhaltung“ von 13 auf 50 Millionen Euro aufgestockt
wird. Entfallen sind im Haushalt die Mittel für die Gasölverbilligung. Aber die Ökosteuerbelastung in Höhe
von etwa 460 Millionen Euro dürfen die Bauern wiederum tragen.
Ist Ihnen, liebe Frau Ministerin, eigentlich bewusst,
dass die Landwirtschaft zwischen 1999 und 2002 gut die
Hälfte des Rückgangs der Bundessubventionen, also
400 Millionen Euro, getragen hat? Mittlerweile hat
Deutschland im EU-Vergleich neben dem Vereinigten
Königreich die niedrigsten nationalen Beihilfen. Alle anderen Länder haben also mehr für ihre Landwirtschaft
übrig als Sie.
({10})
Fatal ist, dass der Begriff Wettbewerbsfähigkeit in
der derzeitigen Agrarpolitik der Bundesregierung gar
nicht vorzukommen scheint. Deutlich wird dies an der
belastenden Steuer- und Haushaltspolitik, an der einseitigen und ideologischen Ausrichtung Ihrer Agrarpolitik und an der untragbar gewordenen Bürokratisierung.
({11})
Denn Sie sollten wissen: Gute Produkte werden nicht am
Schreibtisch gemacht. Das wäre nämlich ein Wunder.
({12})
In der jetzigen Zeit sagen Sie ja: Wunder brauchen
manchmal etwas länger. Aber ich sage Ihnen: Wir brauchen keine Wunder. Wir brauchen Taten, die man aber
- gerade wenn man in der Regierung ist - selbst angehen
muss.
({13})
Die eigentumsfeindliche Naturschutzgesetzgebung
und die nationalen Alleingänge zum Schaden der heimischen Landwirtschaft müssen endlich rückgängig gemacht werden. Wir müssen zu einer konstruktiven Zusammenarbeit kommen. Es geht nicht, dass die Bauern
dafür, dass sie gute Arbeit leisten, mit Abzügen, Lasten
und letztlich auch Missachtung belohnt werden.
Wie schon im Jahre 1998 wird die Schaffung leistungs- und wettbewerbsfähiger Betriebe als Ziel Ihrer
Agrarpolitik hingestellt. Wenn Sie das tun wollen - das
hört sich ja sehr gut an; Papier ist auch geduldig -,
dann frage ich Sie: Warum haben Sie vier Jahre lang
das Gegenteil gemacht? Jetzt beginnt das Gleiche
von vorn. Der verhängnisvolle Irrweg, die moderne,
nachhaltige Landwirtschaft und die ökologische
Landwirtschaft gegeneinander auszuspielen, wird leider weiterhin beschritten.
({14})
- Schauen Sie sich doch einmal die einzelnen Haushaltspläne an. Schauen Sie sich doch an, wer gefördert wird.
Fragen Sie die Biobauern, die Biomilch herstellen. Sie
klagen und rüsten jetzt wieder auf konventionelle Produktion um, weil die Preise im Keller sind.
Frau Kollegin Klöckner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ostendorff?
Er kann jetzt mal entspannt sein. Das ist meine erste
Rede. Ich habe ihm auch keine Zwischenfrage gestellt.
({0})
Sie haben vor, in den nächsten zehn Jahren den Anteil
des Ökolandbaus auf 20 Prozent zu puschen. Das ist
doch fern jeglicher Marktmechanismen, das ist Planwirtschaft.
({1})
Sagen Sie nicht, dass Sie nicht zwischen ökologisch
wirtschaftenden und konventionell wirtschaftenden Betrieben unterscheiden. Durch diese Politik werden unsere
einheimischen Ökolandwirte selbst in wirtschaftliche
Schwierigkeiten kommen, weil ein höheres Angebot unweigerlich zu niedrigen Preisen führt.
({2})
Ökonomie durch Ökologie zu ersetzen, das ist der falsche Weg und nicht gerade sehr weise. Man kann zwar
einmal die Worte vertauschen, weil sie beide mit Öko
anfangen, aber das Nachsehen haben dann die Betriebe,
weil sie bluten müssen.
2,5 Millionen Euro sollen für Anzeigen in Zeitschriften ausgegeben werden, hat Staatssekretär Thalheim uns
in der vergangenen Fragestunde geantwortet. Ich habe gefragt, ob er uns sagen könne, ob die Nachfrage gestiegen
sei und ob er eine Korrelation zwischen den geschalteten
Anzeigen und der Nachfrage herstellen könne. Man hört
und staunt und PR-Fachleute schütteln mit dem Kopf:
Das könne man nicht nachvollziehen. Also wird hier Geld
einfach in die Luft geblasen. Er sagte, Image könne man
nicht nachvollziehen. Die Bauern pfeifen auf ein grünäugiges Image, das nur für eine Ministerin kreiert ist.
({3})
Nach Angaben Ihres Ministeriums wurden im vergangenen Jahr 13,56 Millionen Euro für den Posten Aufklärung der Verbraucher im Ernährungsbereich ausgegeben. Sage und schreibe 7,6 Millionen, also mehr als die
Hälfte, wurden in das Biosiegel gebuttert. Dabei gilt
selbst unter den Ökobauern das Biosiegel als Etikettenschwindel. Das ist bitter, eine Art Ökolight.
({4})
Bei Investitionen wird also gekürzt und in einem anderen Bereich, der gar nicht zu den Aufgaben der Bundesregierung gehört, wird plötzlich Geld für Werbung
für Ökoprodukte ausgegeben. Da laufen Sie mit Spendierhosen herum.
({5})
Es kann doch nicht sein, dass einseitig Werbemaßnahmen forciert werden. Wenn ständig Reklame für Umweltschutz betrieben wird, dann sollte das konsequenterweise vom Budget des Herrn Trittin abgezogen werden.
({6})
Ein Auseinanderdividieren der so genannten biologischen und der konventionellen Landwirtschaft ist einfach nur Unsinn. Das tun die Marktteilnehmer nicht, das
tun die Verbraucher nicht und das sollte auch die Politik
bitte sein lassen. Manchmal ist die Welt einfacher, als
man denkt. Gute Produkte sind gute Produkte, egal ob
sie biologisch oder konventionell erzeugt worden sind,
egal ob sie importiert sind oder hier produziert wurden.
Schlechte Produkte bleiben schlechte Produkte.
({7})
Etwas weniger Ideologie und Feindbilder, dafür etwas
mehr Verständnis und Fairness, das wünschen sich die
Bauern. Wenn Sie mit ihnen sprechen würden, dann
würde Ihnen das auch klar werden.
Wir müssen dankbar sein, dass der Bundesrat das so
genannte Steuervergünstigungsabbaugesetz abgelehnt
hat.
({8})
Fragen Sie doch einmal Ihre Kollegen, warum sie
Scheinänderungsanträge eingebracht haben. Gerade vor
den Landtagswahlen haben sie gesagt, sie unterstützten
die Gartenbauern und die Bauern, was die Pauschalierung und die Umsatzsteuer angeht. Als es so weit war,
gab es überhaupt keine Änderungsanträge mehr.
Wo bleibt die Logik bei den Umsatzsteuersätzen für
landwirtschaftliche Vorprodukte und Futtermittel? Darf
jetzt der Kampfhund zu einem Umsatzsteuersatz von
7 Prozent futtern, die arme Kuh aber zu einem Umsatzsteuersatz von 16 Prozent? Das kann es nicht sein. In
Frankreich beträgt der Umsatzsteuersatz 5,5 Prozent.
({9})
Wenn Sie jetzt noch sagen, Sie unterstützten die deutsche Landwirtschaft, dann ist das blanker Hohn.
({10})
Mit dem, was Sie vorhaben, können Sie keine goldene
Kuh gewinnen. Ich glaube, für ein lahmendes Ökokälbchen reicht es auch nicht mehr.
Was müssen wir tun, um die Kuh vom Eis zu bekommen? Dringend erforderlich sind Maßnahmen zur Entbürokratisierung. Wir müssen auch Wettbewerbsbehinderungen der EU im Binnenmarkt unterbinden.
Bei einem Blick in den aktuellen WTO-Antrag der
Koalition wird einem angst und bange.
({11})
Wessen Regierung sind Sie eigentlich? Wen vertreten
Sie? 99 Prozent des Antrags beschäftigen sich mit der
Entwicklungshilfe. Das ist zwar sehr edel und gut, aber
dem nationalen und dem europäischen Markt wird nur
ein Satz gewidmet. Vielleicht verstehen Sie zu wenig
von Entwicklungshilfe; denn die gut funktionierende Zuckermarktordnung hat sehr wohl die Entwicklungsländer
im Blick. Ich möchte im Übrigen keine Produkte essen,
die in Ländern hergestellt werden, in denen die Menschen verhungern müssen.
({12})
Verehrte Ministerin Künast, auch die Union tritt für
gesunde Nahrungsmittel ein, die über jeden Zweifel erhaben sind. Auch die Union tritt für Tier- und Naturschutz ein. Aber die Union tritt auch für diejenigen ein,
die sich der Arbeit in der Landwirtschaft widmen. Wir
wollen keine Politik gegen die Bäuerinnen und Bauern,
sondern wir wollen die Politik mit ihnen und für sie gestalten. Deshalb stimmen wir Ihrem Haushaltsplan auf
keinem Fall zu.
({13})
Frau Kollegin Klöckner, ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Ich erteile dem Kollegen Friedrich Ostendorff zu einer Kurzintervention das Wort.
Frau Kollegin, auch von mir herzlichen Glückwunsch
zu Ihrer ersten Rede.
Es hat mir fern gelegen, Ihnen eine Frage zu stellen.
Vielmehr wollte ich Ihnen nur helfen, zwei wichtige Irrtümer in Ihrer Rede zu korrigieren. Sie können das noch
nicht wissen; Sie sind ja neu hier. Das bin ich zwar auch,
aber ich habe es schon gelernt.
({0})
Das eine hätten Sie allerdings wissen können, nämlich dass wir alle rot-grünen Anträge zur landwirtschaftlichen Besteuerung durchbekommen haben. Das wissen
Sie sicherlich auch.
({1})
Ihre andere Behauptung betrifft die Gasölverbilligung, die seit 1999 nicht mehr im Agrarhaushalt aufgeführt ist.
({2})
Das kann man nachlesen, wenn man sich vorbereitet.
Diese Steuermindereinnahme befindet sich im Etat des
Finanzministers. Das Agrarressort ist seit 1999 nicht
mehr dafür zuständig.
({3})
Wollen Sie etwas erwidern, Frau Kollegin Klöckner?
Bitte schön.
Die Gasölverbilligung war eindeutig bis 2001 im
Agrarhaushalt aufgeführt. Wenn Ihnen das nicht bekannt
ist, dann haben Sie sich nicht gut vorbereitet.
({0})
Ich unterhalte mich auch mit Kollegen von der SPD.
Vielleicht informieren Sie sich auch einmal dort.
({1})
Auch wenn ein Titel nicht im Agrarhaushalt aufgeführt
ist, kann man sich darüber austauschen, wenn es in diesem Zusammenhang etwas zu monieren gibt.
({2})
Man sollte den schwarzen Peter nicht anderen zuschieben.
({3})
- Vielleicht hören Sie zu, wenn ich Ihnen antworten soll.
Ihrer Äußerung, Sie hätten alle Änderungsanträge
durchbekommen, ist entgegenzuhalten: Wenn Sie den
Gartenbauern kurz vor den beiden Wahlen, die kürzlich
stattgefunden haben, versprechen, dass die Mehrwertsteuer für Blumen und Pflanzen nicht von 7 Prozent auf
16 Prozent erhöht wird, ist das zwar zu begrüßen, aber
die Gartenbauern können sich schon langsam darauf vorbereiten, ihre Betriebe zu schließen, weil die Erhöhung
2005 doch erfolgen wird. Ob es besser ist, langsamer zu
sterben als sehr schnell, weiß ich nicht.
({4})
- Das ändert nicht viel.
Sie haben außerdem vielen Bauern versprochen - das
haben wir nachgelesen; die Kopien haben uns im Ausschuss bzw. in der Arbeitsgruppe vorgelegen -, dass der
Vorsteuerabzug für landwirtschaftliche Futtermittel nicht
so umgesetzt wird wie vorgesehen.
({5})
- Es lag etwas Schriftliches vor; es war drin, nachher
nicht mehr. Ich denke, hier steht Behauptung gegen Behauptung. Jeder kann sich selber sein Urteil bilden.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Jella Teuchner von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Klöckner, auch von meiner Seite herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede. Wenn Sie aber Ihre Rede
mit dem Hinweis beginnen, dass Sie die Polemik nicht
fortsetzen wollten bzw. dass Sie kein Verständnis für Polemik hätten, dann sollten Sie sich selber daran halten
und dürfen die Polemik nicht in diesem Maße überziehen.
({0})
Sie, die Sie als ehemalige Weinkönigin mit Sicherheit
auf Anzeigen des Weinhandels und der Winzer angewiesen waren, dürfen eine derartige Aussage nicht machen,
wenn es - Sie haben eine Anzeigenkampagne angesprochen - um Werbemittel geht.
({1})
So etwas wollen wir hier nicht haben.
({2})
- Nein danke, ich lasse keine Zwischenfrage zu.
Wir beraten heute über den Einzelplan 10, den Haushalt für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Ich muss leider feststellen, dass weder Sie, Frau
Aigner, noch Sie, Frau Klöckner, mit einem einzigen
Wort den Verbraucherschutz und den Verbraucherhaushalt angesprochen haben. Sie haben lediglich über den
Landwirtschaftshaushalt geredet.
({3})
Frau Kollegin Teuchner, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Klöckner?
Nein danke.
Wir haben zu Beginn des Jahres 2001 die Kompetenzen für den Verbraucherschutz in einem Ministerium
gebündelt und haben versprochen, dass wir dort einen
Schwerpunkt unserer Politik setzen werden. Wer sich
den Haushalt 2003 genau anschaut, wird erkennen, dass
wir Wort gehalten haben.
({0})
Wir setzen also das fort, was wir schon im letzten Jahr begonnen haben: Trotz Haushaltskonsolidierung setzen wir
Schwerpunkte und stellen die notwendigen Mittel - das
ist eindeutig - zur Verfügung. Mit einem Plus von
18 Prozent bzw. 5,9 Millionen Euro gehört die Verbraucherpolitik dazu. Das ist notwendig. Mit dem Haushalt
2003 setzen wir das, was wir angekündigt haben, auch
um.
({1})
Wir finanzieren mit diesen Mitteln eine Verbraucherpolitik, die weit mehr ist als nur eine Politik für sichere
Lebensmittel. Verbraucherpolitik darf weder auf den gesundheitlichen Verbraucherschutz reduziert noch mit
Wettbewerbspolitik gleichgesetzt werden. Mit den Mitteln für die Verbraucherpolitik stärken wir über die Zuschüsse für die „Verbraucherzentrale Bundesverband“
die Vertretung der Verbraucherinnen und Verbraucher
sowie die rechtliche Vertretung kollektiver Verbraucherinteressen.
({2})
Wir bieten den Konsumenten außerdem über die Mittel für die Stiftung Warentest - im Gegensatz zu manch
anderen haben wir lange Gespräche mit den Verantwortlichen dieser Stiftung geführt - und die Projektförderung
Hilfestellung für eine bewusste Konsumentenentscheidung.
({3})
Wir wissen, dass zuverlässige Informationen eine wichtige Grundlage für eigenverantwortliche Konsumentenentscheidungen sind. Mit diesen Mitteln bieten wir den
Verbraucherinnen und Verbrauchern diese Informationen.
Die Liste der geförderten Projekte zeigt, dass wir im
Haushalt wichtige Impulse setzen. Sie zeigt aber auch,
dass die Finanzierung von Informationen nur ein Teil der
Verbraucherpolitik ist. Der Verbraucher ist ein aktiver
Teilnehmer am Marktgeschehen, der als Einzelner das
Recht auf Schutz hat und der die Möglichkeit zur Gegenwehr braucht. Stärkere Handelsverflechtungen,
grenzüberschreitender Handel sowie komplexer werdende Produkte und Dienstleistungen bedingen eine Verbraucherpolitik, die verstärkt die Grundsätze des Verhältnisses von Verbrauchern und Anbietern regelt. Die
Politik muss Regelungen schaffen, die einen vorsorgenden Verbraucherschutz und die Verantwortlichkeit der
Anbieter über den Einzelfall hinaus sicherstellen.
Wir werden uns weiterhin um den gesundheitlichen
Verbraucherschutz kümmern. Wir werden die Produktsicherheitsrichtlinie so umsetzen, dass das Produktsicherheitsgesetz zu einer Auffangvorschrift für alle
sicherheitsrelevanten Aspekte von Produkten wird. Dazu
gehören verbesserte Kriterien für die Sicherheitsbeurteilung und ein besserer Zugang für die Öffentlichkeit zu
Produktinformationen.
Verbraucherpolitik ist eine Querschnittsaufgabe, die
alle Ressorts betrifft. Es ist eine Aufgabe, die die Zusammenarbeit von EU, Bund und Ländern bedingt. Ich freue
mich, dass wir es geschafft haben, dieser Aufgabe ein
stärkeres Gewicht innerhalb der Politik zu geben.
({4})
Wir haben ein hohes Verbraucherschutzniveau erreicht, sei es beim gesundheitlichen Verbraucherschutz,
sei es beim wirtschaftlichen Verbraucherschutz oder sei
es bei der rechtlichen Stellung der Verbraucherinnen und
Verbraucher. Dieses Verbraucherschutzniveau werden
wir auch auf den sich wandelnden Märkten halten. Wir
greifen dabei die Initiativen der Wirtschaft und der Verbraucherverbände gerne auf. Auch wir sehen in Selbstverpflichtungen eine Möglichkeit, Regelungen einvernehmlich zu treffen. Damit solche Selbstverpflichtungen
Wirkung zeigen, müssen Regelungen für die Nichtumsetzung getroffen werden. Auch außergerichtliche Streitschlichtungsverfahren, die von Verbrauchern und Unternehmen akzeptiert werden, können den Zugang zum
Recht erheblich erleichtern und für schnelle und unbürokratische Lösungen sorgen.
Eigeninitiative ergänzt in vielen Bereichen das bisherige staatliche Handeln. Gleichzeitig entsteht insbesondere durch das Zusammenwachsen Europas ein breiteres, aber auch ein unübersichtlicheres Angebot an
Dienstleistungen und Waren. Die private Altersvorsorge
gewinnt dabei genauso an Bedeutung wie die verschiedensten Angebote zur Aus- und Weiterbildung. Diese
Herausforderung nehmen wir an. Wir geben den Verbraucherinnen und Verbrauchern Informationen und vor
allem die Möglichkeit zur politischen Vertretung.
({5})
In den Haushalt 2003 wurden die dazu notwendigen
Mittel eingestellt.
({6})
Bevor ich der Kollegin Klöckner das Wort zur einer
Kurzintervention erteile, will ich darauf hinweisen, dass
ich wegen der fortgeschrittenen Stunde danach keine
weitere Kurzintervention zulassen werde.
({0})
Ich bitte um Ihr Verständnis.
Frau Kollegin Klöckner, bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Teuchner, es ehrt
Sie, dass Sie an den deutschen Wein denken. Aber es ist
eigentlich schon eine Unverschämtheit, einen solchen
Vergleich mit dem Deutschen Weininstitut zu ziehen.
Das Deutsche Weininstitut - Sie haben dieses Thema
angesprochen - hat einen Plan, aus dem genau hervorgeht, was es mit welcher Werbekampagne, also mit welchen Kaufanreizen, erreichen möchte. Letztlich wird es
einen Bericht darüber geben, ob und wie das, was man
erreichen wollte, erreicht worden ist oder nicht. Planwirtschaft hat nicht nur etwas mit dem Wort „Plan“ zu
tun. Sie sollten sich einmal informieren, was Planwirtschaft wirklich bedeutet.
Frau Teuchner, Sie haben mich vielleicht nicht richtig verstanden. Herr Thalheim antwortete auf eine Frage
in der Fragestunde: Nein, es gibt keine nachweisbaren
Korrelationen in dieser Sache; dabei geht es nur um das
Image. Wenn die Bundesregierung Geld für Imagewerbung ausgibt, dann dürfen wir, die Oppositionspolitiker, schon fragen, für welches Image Geld ausgegeben
wird.
({0})
- „Freiheit für das Ei“ ist für die Bauern wirklich zu wenig.
({1})
Frau Kollegin Teuchner hat das Wort zur Erwiderung.
Fakt ist doch wohl, dass Sie von dem Parlamentarischen Staatssekretär eine Antwort auf Ihre Frage nach
der Anzeigenkampagne, die praktisch erst jetzt anläuft,
bekommen haben.
({0})
Wenn man nicht weiß, ob eine Kampagne angelaufen ist
oder nicht, dann kann man sich nicht in dem von Ihnen
gewünschten Sinne äußern.
Ich kann mich nur daran erinnern, dass seitens der
CMA Anzeigen geschaltet werden, denen ein festgelegtes Konzept zugrunde liegt. Nachdem die entsprechenden Kampagnen gelaufen sind, kann man feststellen,
welchen Effekt sie gehabt haben.
({1})
Ich gehe davon aus, dass Ihnen der Staatssekretär
Thalheim nach Ablauf dieser Kampagne eine Antwort
auf Ihre Frage geben kann. Ich denke, einen unmittelbaren Zusammenhang, wie Sie ihn andeuten, gibt es
nicht.
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Goldmann
von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir müssen den Einzelplan 10 - Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft - unter dem Gesichtspunkt prüfen, ob er die Weichen für eine zukunftsfähige Landwirtschaft richtig stellt. Frau EichstädtBohlig, ich gebe Ihnen Recht: Wir müssen die Weichen
für eine zukunftsfähige Landwirtschaft stellen. Niemand
von uns will, wie Sie es gesagt haben, zu den Skandalen
zurück. Ich würde da auch sehr vorsichtig sein. Sehr
viele Vorgänge, die mit dem Begriff „Skandal“ belegt
sind, waren nicht zu Zeiten der Regierung von Schwarz/
Blau-Gelb, sondern zu Zeiten von Rot-Grün:
({0})
Nitrofen, Nitrofuran, Dioxin, Apolda, Acrylamid. Ich
nenne das nicht „Skandale“, aber die Ereignisse werden
von dem einen oder anderen Verbraucher als Skandal
empfunden. All das ist unter Ihrer Regierung und nicht
unter unserer Regierung in den Medien gewesen.
({1})
- Das ist nicht lange her.
Liebe Frau Eichstädt-Bohlig, lassen Sie uns die Diskussion nicht so platt und so falsch führen nach dem
Motto: Die blöken und stellen Anträge, die uns um Jahrzehnte zurückwerfen. - Lesen Sie sich die Anträge
schlicht und ergreifend einmal durch! Wenn Sie das tun,
werden Sie zu dem Ergebnis kommen, dass unsere Anträge darauf abzielen, unternehmerische Landwirtschaft
im Markt zu halten.
({2})
Herr Ostendorff, da brauchen Sie gar nicht böse zu gucken. Für uns ist unternehmerische Landwirtschaft
durchaus auch im ökologischen Bereich notwendig
und richtig. Dort, wo es durch Kreativität und eigenes
Tun des landwirtschaftlichen Betriebes eine unternehmerische ökologische Chance gibt, soll sie genutzt
werden.
({3})
Wir sollten nur nicht so tun, als ob am ökologischen Wesen die deutsche Landwirtschaft genesen könnte; das ist
der Fehler, der bei diesem Haushalt gemacht wird.
({4})
Frau Eichstädt-Bohlig, ich will nicht wieder unterstellen, dass Sie das nicht wissen, aber es ist doch so: Wir
diskutieren im Moment über Cross Compliance. Es gibt
von der europäischen Ebene 38 Vorschläge dazu, was
eingehalten werden soll.
({5})
- 38.
({6})
- 38! - Wissen Sie eigentlich, dass schon jetzt 35 von
diesen 38 Vorschlägen von deutschen Bauern in guter
fachlicher Praxis eingehalten werden, weil sie selbst die
Verantwortung für ihr agrarisches Tun wahrnehmen,
({7})
da sie ganz genau wissen, dass sie im internationalen
Wettbewerb nur mit Qualitätsprodukten werden bestehen
können? Tun Sie also nicht so, als ob wir den Bauern sagen müssten, was gut für sie ist!
({8})
Wir müssen die Weichen dafür stellen, dass die Bauern
das umsetzen können, von dem sie wissen, dass es gut
für sie ist.
({9})
Genau das passiert mit diesem Haushalt nicht.
Ich bin in Sorge um diesen Haushalt. Ich habe mir das
lange überlegt und mich gefragt, ob ich mit dieser Position falsch liege. Sie gaukeln den Ökobetrieben vor, dass
es für sie eine Marktchance von 10, 12, 15, 20 Prozent
gibt. Diese Marktchance gibt es schlicht und ergreifend
nicht, weil der Qualitäts- und Sicherheitsunterschied
zwischen dem konventionellen Produkt und dem ökologischen Produkt nicht so ist, wie es Ihrer Ideologiewelt
entspricht.
({10})
Wir haben es doch vor kurzem bei der Präsentation einer ernst zu nehmenden Untersuchung der LohmannStiftung erlebt. Herr Ostendorff war dabei. Ich habe es
als normal und richtig empfunden, dass Sie davon betroffen waren. Der Vergleich von Intensiv- und Freilandhaltung, der Vergleich zwischen Intensiv-, Freiland- und
ökologischer Haltung war vernichtend für die ökologische Haltung.
({11})
- Herr Kollege Ostendorff, Sie können sich gern zu einer
Zwischenfrage melden. Ich antworte Ihnen dann auch.
Herr Professor Ellendorf hat eine wissenschaftliche
Untersuchung vorgestellt.
({12})
- Sie könnten einen Ökobeitrag leisten, indem Sie nicht
so furchtbar herumbrüllen.
({13})
Ich finde es unangenehm, wie Sie hier durch Lautstärke
und Aggressivität ein Thema an sich reißen, bei dem Sie
schlichtweg falsch liegen.
({14})
Es waren Kollegen von Ihnen da, die diese wissenschaftliche Untersuchung im Grunde genommen bestätigt haben.
({15})
Sie wissen genauso wie ich - ich kenne mich in der Geflügelwirtschaft aus -, dass dort, wo Geflügel frei läuft,
besondere ökologische Belastungen für den Boden entstehen.
({16})
Reden Sie also nicht so an der Sache vorbei!
({17})
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen. Frau
Künast, Sie betreiben mit dieser grundökologischen
Orientierung meiner Meinung nach eine Politik, die in
die Sackgasse führt, die die ökologisch orientierten Betriebe an die Wand fährt. Die Menschen, die in dieser
Glaubenshaltung - so muss ich fast sagen - wirtschaften,
beuten sich selbst aus. Sie haben mit ihrer Produktorientierung im Regelfall keine Marktchancen.
({18})
- Herr Ostendorff, der Agrarbericht hat es dargelegt. Die
Einbußen bei den konventionellen Landwirten waren erheblich, bei den ökologisch orientierten Landwirten waren sie dramatisch.
({19})
Nehmen Sie doch einfach mal zur Kenntnis, dass Sie
dort auf dem falschen Weg sind.
({20})
Herr Kollege Goldmann, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Ich fordere Frau Künast sehr nachdrücklich auf: Legen Sie Ihre ideologischen Scheuklappen ab. Ich sage
das auch im Hinblick auf die Geflügelpest. Frau Künast,
fordern Sie Ihre Kollegin Höhn in Nordrhein-Westfalen
mit Nachdruck auf, einzustallen. Es ist eine Katastrophe,
dass in Niedersachsen eingestallt werden muss und drei
Kilometer südlich in Nordrhein-Westfalen nicht. Das
versteht kein Mensch. Das ist unfachlich. Das ist in meinen Augen - das sage ich Ihnen ganz ehrlich - ein Verbrechen an der Geflügelwirtschaft und an den Tieren;
({0})
denn die kommen dabei zu Tode und sind die Leidtragenden einer ideologischen Politik, die meiner Meinung
nach keinerlei Rechtfertigung hat.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Weisheit von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Goldmann, ich finde es immer wieder wunderschön, wenn auf der einen Seite der unternehmerische,
selbstständige und wissenschaftlich gut ausgebildete
Landwirt in den Himmel gehoben wird und man ihm auf
der anderen Seite vorschreibt, er solle seine Hühner einstallen.
({0})
- Das ist so! Man braucht das den Leuten nicht vorzuschreiben, sondern sie machen das von allein.
({1})
- Ich lasse keine Zwischenfrage zu, denn ich habe überhaupt keine Lust, die Debatte heute Abend zu verlängern.
Ich möchte auf einen zweiten Punkt eingehen, Herr
Goldmann.
({2})
- Ihre Fachkenntnis bezieht sich natürlich auf das, was
von Professor Ellendorf und von der Lohmann-Stiftung
erzählt wird.
({3})
- Da gehe ich auch nicht mehr hin.
({4})
- Nein, ich habe mich gar nicht erst angemeldet, weil ich
nicht mehr zu Lobbyveranstaltungen gehe, wo die Interessen von vornherein klar sind.
({5})
Der Name Ellendorf spricht für sich. Das wissen wir
doch. Da gibt es eine Geschichte im Zusammenhang mit
Hühnerhaltung in Celle, die ein paar Jahre zurückliegt.
Über den Mann brauchen wir hier nicht zu reden.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Weisheit hat
das Wort.
Dann kommt die nächste Geschichte, Herr Goldmann.
Ich finde es ganz schön frivol, was Sie hier machen.
({0})
- Peter Harry, ich kann meine private Meinung in dem
Zusammenhang durchaus äußern und sagen, dass der
Name für sich spricht und dass ich zu Veranstaltungen
mit ihm nicht gehe. Dann ist der Fall erledigt.
({1})
Ich halte Folgendes für frivol: Seit den BSE-Fällen
ist die Öffentlichkeit wirklich aufmerksam, was Lebensmittel und Verstöße gegen die Lebensmittelsicherheit angeht. Vorher war diese Aufmerksamkeit nicht allzu groß,
obwohl sie auch damals schon vorhanden war. Aber in
den letzten Jahren sind eine ganze Reihe von Dingen
aufgekommen und ruck, zuck aufgeklärt worden.
({2})
- Ja, das sind sie. Sie haben zwar in Fragestunden und
durch endlose Debatten im Ausschuss versucht, das zu
verdrehen, und behauptet, dass die Bundesregierung
schuld sei, dass das nicht funktioniert. Aber was Sie in
dem Zusammenhang probiert haben, war immer erfolglos. Die Arbeit auf Bundesebene funktioniert hervorragend. Es wäre auch ganz schön gewesen, wenn einmal
ein lobendes Wort
({3})
über das Institut für Risikoabschätzung und über das
Bundesamt für Verbraucherschutz gekommen wäre.
({4})
Sie arbeiten nämlich hervorragend.
({5})
Das wäre besser gewesen als die einseitige Polemik.
Eigentlich wollte ich Sie heute loben.
({6})
Nachdem ich mir die Anträge angesehen habe, habe ich
festgestellt: Da werden wenigstens keine Luftnummern
gebaut. Ich meine, die Gesamtdiskussion über den Haushalt war ja schon eine kabarettreife Leistung. Auf der einen Seite wird geklagt, dass der Haushalt von den Einnahmen her sowieso nicht stimme. Auf der anderen Seite
satteln Sie in jedem Ressort Milliarden drauf,
({7})
ohne dass irgendwo ein Ausgleich dafür da ist.
({8})
- Nein, nein, das war sehr kabarettreif, was heute und
gestern geboten wurde.
({9})
Ich habe gesagt: Ich wollte Sie loben, dass Sie das mit
Ihren Anträgen im Bereich des Einzelplanes 10 nicht gemacht haben. Auf der anderen Seite ist es mit dem Lob
schon vorbei. Denn wie Sie einsammeln - das ist klar -,
das ist die alte - ich sage es ganz deutlich - ideologische
Linie gegen alles, was Öko heißt und in eine neue Richtung geht.
({10})
Mit der Linie werden Sie keinen Erfolg haben. Diese
Koalition und die Ministerin werden dagegen Erfolg haben.
Jetzt komme ich zu etwas, von dem Sie überhaupt
nicht denken, dass mir das heute Abend noch einfallen
würde.
({11})
- Ach Peter Harry, hör doch auf mit dem blöden Geschwätz. Das ist wirklich nicht mehr zu ertragen.
({12})
- Doch, natürlich ist sie erfolgreich, auch in der Landwirtschaftspolitik. Ich will jetzt die Ministerin loben.
({13})
- Ja, ja, jetzt lass mich doch einmal ausreden. Das macht
keinen Sinn.
Also liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist kein Rededuell, sondern das Wort hat der Kollege Weisheit.
Wir hatten vor über einem Jahr auch auf Druck der
Opposition permanent und ständig Ärger. Es hieß, diese
Bundesregierung verhindere Pflanzenschutz, sie mache
die Obstbauern kaputt und so fort. In der Zwischenzeit
hat diese Ministerin gemeinsam mit den Naturschutzverbänden, gemeinsam mit den Obstbauern, gemeinsam mit
dem UBA, gemeinsam mit dem neuen Amt - die frühere
BBA - eine Regelung erarbeitet, die den Einsatz von
Plantomycin erlaubt, wenn es unbedingt notwendig ist,
und mit der Lücken im Pflanzenschutz geschlossen wurden. Das ist eine hervorragende und gute Arbeit, die hier
geleistet worden ist. Das nützt den Bauern sehr viel
mehr; das erkennen sie übrigens auch an.
Bei den Abstandsregelungen sind ähnliche Dinge
auf dem Weg. Diese nützen sehr viel mehr als die ständige einseitige Polemik gegen die Ministerin, gegen die
Regierung, gegen die rot-grüne Koalition und alles, was
man neu machen will.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ursula Heinen von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorweg ein Wort zu
Ihnen, Frau Teuchner: Ich fand es schon ein ganz schön
starkes Stück, was Sie vorhin zu meiner Kollegin Julia
Klöckner gesagt haben, als Sie kritisiert haben, wie wir
bei uns die Reden inhaltlich aufteilen, zumal meine Kollegin Ilse Aigner von vornherein gesagt hat, worüber wir
heute sprechen werden. Ich denke, es ist schon eine Entschuldigung dafür fällig, dass Sie so mit uns umgehen.
Ich finde, das entspricht nicht dem Stil des Hohen Hauses.
({0})
Das Zweite. Herr Weisheit, es leuchtet doch ein
- selbst dann, wenn man kein Agrarexperte oder Tierexperte ist -, dass die Übertragungsrate bei der Geflügelpest bei frei laufenden Hühnern wesentlich größer ist
als dann, wenn die Tiere eingestallt sind. Ich denke, das
ist eine Logik, die man nachvollziehen kann. Ansonsten
hätte das Land Niedersachsen nicht so gehandelt, wie
Herr Goldmann es uns eben gesagt hat.
({1})
Ich wollte eigentlich vor allem über Verbraucherschutzpolitik sprechen. Wir haben am vergangenen
Samstag das 20-jährige Jubiläum des Weltverbrauchertags begangen. Dabei ist deutlich geworden, dass Verbraucherpolitik in den letzten 20 Jahren stetig an Bedeutung gewonnen hat. National und international ist die
Verbraucherpolitik immer mehr zu einer Kernaufgabe
des Staates geworden. Dies ist eine Meinung - ich bin
heute gar nicht so sehr auf eine Auseinandersetzung mit
Ihnen aus -, die von Ihnen geteilt wird. Schließlich ist
das Ministerium im Jahre 2001 entsprechend aufgewertet worden und hat eine zusätzliche Bedeutung bekommen.
Aber - das ist das Traurige -: Worte und Taten stimmen hier leider nicht mehr überein. Den Worten der
Bundesregierung und der Ministerin folgen leider keine
Taten. Heute, also zwei Jahre, nachdem das Verbraucherschutzministerium geschaffen wurde, haben wir es nur
noch mit einer reinen Ankündigungspolitik der Ministerin zu tun. Deutliche Impulse und auch ein schlüssiges
Konzept müssen wir heute vermissen.
({2})
Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen. Da ist einmal die auch von Herrn Weisheit vorhin angesprochene
Reorganisation der Behörden. Dass wir dieser Neuordnung sehr skeptisch gegenübergestanden haben, haben
wir hier im Hause und auch im Ausschuss hinlänglich
diskutiert. Wir haben die Trennung, die vorgenommen
worden ist, abgelehnt. Zudem kommt es gerade im Bereich des Risikomanagements entscheidend auf die Fähigkeit zur schnellen Reaktion an. Das zeigen auch die
negativen Erfahrungen mit der Eistorte, die wir vor wenigen Wochen gemacht haben.
Die Trennung hat eben nicht zu einer Vereinfachung
der Kommunikationswege und der Entscheidungsprozesse geführt, sondern sie hat nur ein neues, ein ganz
schwerfälliges System geschaffen, mit dem im Krisenfall nicht effizient reagiert werden kann. Die Zweiteilung
führte im Fall der Eistorte zu einem heillosen Durcheinander, bei dem die eine Hand nicht wusste, was die andere Hand machte. Das Ergebnis waren ein erheblicher
Imageschaden und Umsatzeinbußen für das betroffene
Unternehmen.
({3})
Ich will in Erinnerung rufen: An ein und demselben
Tag hat das Land A Entwarnung, das Land B eine zurückhaltende Bewertung gegeben und das Land C hat
gar eine Gesundheitsgefährdung nicht ausgeschlossen.
Wir müssen uns als mündige Verbraucher fragen: Was
soll das eigentlich? Als Abgeordnete müssen wir sagen:
Hier gibt es einen klaren Bedarf an Koordinierung zwischen den Ländern. Das ist eine Aufgabe, die doch
eigentlich das Bundesamt für Verbraucherschutz und
Lebensmittelsicherheit, jedenfalls nach dem Neuorganisationsgesetz, wahrnehmen sollte.
({4})
Sie, Frau Künast, haben in einem Interview - ich
glaube, in der vergangenen Woche - selbst gesagt, dass
dieses Amt über die „Defizite des Föderalismus hinweghilft“. Doch bei dem einzigen Fall, bei dem das tatsächlich in jüngster Zeit verlangt worden wäre, muss man sagen: Fehlanzeige. Die Regierung hat das Problem aber
selber erkannt; denn anderenfalls wäre es nicht zu erklären, warum Sie bereits im September letzten Jahres ein
Consultingunternehmen beauftragt haben,
({5})
eine exakte Aufgabenabgrenzung zwischen dem Bundesinstitut für Risikobewertung auf der einen Seite und
dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit auf der anderen Seite zu eruieren.
In den Erläuterungen zu dem entsprechenden Haushaltstitel heißt es dieses Jahr:
Bis zu diesem Zeitpunkt
- sprich: bis das Gutachten vorliegt ist die Verlagerung von Stellen und Mitteln auf die
neuen Einrichtungen … als vorläufig zu betrachten.
So steht es im Haushaltsplan. Da frage ich mich: Heißt
das, dass die Stellenverlagerung zwischen den beiden Instituten im Rahmen der Neuorganisation wieder zurückgenommen werden kann, wenn das Gutachten andere Erkenntnisse ergibt? Wo kommen wir da eigentlich hin!
Wir sind gespannt auf Ihre Antwort.
({6})
Das Stichwort Sachverständige hat meine Kollegin
Aigner schon netterweise angesprochen. Ich will nur noch
einen Punkt hinzufügen. Wie kann man den Etatposten für
Sachverständige um 650 000 Euro erhöhen - ursprünglich betrug die Erhöhung 751 000 Euro, von denen Sie
100 000 Euro wieder zurückgenommen haben -, wenn
sich unter Ihrer Obhut zehn Bundesforschungsanstalten,
eine Zentralstelle für Agrardokumentation, das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit,
das Bundesinstitut für Risikobewertung und schließlich
die Wissenschaftlichen Beiräte zur Agrarpolitik - da läuft
zurzeit die Neuberufung - und zur Verbraucher- und Ernährungspolitik befinden? Darüber hinaus gibt es die Lebensmittelbuch-Kommission und die Tierschutz-Kommission. Da fragen wir uns natürlich schon: Wozu
brauchen Sie 650 000 Euro mehr für Sachverständige?
({7})
Um zur Stiftung Warentest zurückzukommen: In diesem Jahr erhält die Stiftung Warentest 6,5 Millionen
Euro. Das ist in der Tat mehr, als sie im Vorjahr zur Verfügung hatte. Deshalb stimmen wir Ihrer Tendenz zu: Es
ist löblich, dass Sie die Stiftung Warentest etwas besser
ausstatten.
Leider sind Sie aber immer noch nicht auf unsere Anregung eingegangen, die Stiftung Warentest tatsächlich
in die Selbstständigkeit zu entlassen. Herr Bahr irrt nämlich, wenn er sagt, dass die Stiftung Warentest angesichts
der 6,5 Millionen Euro, die sie nach wie vor aus dem
Haushalt benötigt - dabei ist sie davon abhängig, wie die
Haushälter konkret damit umgehen -, vollständig unabhängig von der Politik ist.
Wir haben einen Sockelbetrag vorgeschlagen, damit
die Stiftung Warentest in Zukunft weiter vernünftig arbeiten kann. Der sollte - Herr Weisheit, von wegen Gegenvorschläge, die ausgeblieben sein sollen! - über den Titel
„Aufklärung der Verbraucher“ finanziert werden. Sie haben das abgelehnt, auch wenn Sie selbst im Ausschuss
eine entsprechende Notwendigkeit gesehen haben. Ich
denke, heute Abend werden CDU und CSU die Anträge
der FDP unterstützen, die sich damit befassen, die Stiftung Warentest in die Unabhängigkeit zu entlassen.
({8})
Ein anderer Bereich, in dem falsch gespart wird, sind
die Verbraucherzentralen. Sie machen einen hervorragenden Job. Aber sie haben zurzeit erhebliche finanzielle
Probleme. In einigen Bundesländern bzw. in einigen Regionen drohen Schließungen. Das dürften Sie eigentlich
nicht zulassen, wenn Sie es mit der Stellung des Verbraucherschutzes tatsächlich ernst meinen.
Deshalb verlangen wir von Ihnen, dass Sie die Verbraucherzentralen besser ausstatten.
({9})
Denn, Frau Künast, sind die Informationskampagne zur
Legehennenverordnung, für die 500 000 Euro vorgesehen sind, und die Informationskampagne zur Bekanntmachung des neuen Biosiegels, für die 6,5 Millionen
Euro vorgesehen sind, tatsächlich so viel wichtiger als
die Ausstattung der Verbraucherzentralen?
({10})
Oder wird es bei den Verbraucherzentralen so zugehen,
wie Sie es auch in anderen Politikbereichen machen,
nämlich dass Sie den Kommunen eine Mitfinanzierung
aufs Auge drücken?
Dazu ein Beispiel: In der Stadt Köln gibt es seit Mitte
der 90-er Jahre die Verabredung, dass die Stadt mitfinanziert. Es sind mittlerweile fast 50 Prozent geworden, die
wir der ansässigen Verbraucherzentrale geben müssen:
200 000 Euro pro Jahr. Das ist für die Kommunen heutzutage ein ordentlicher Betrag. Deshalb erwarten wir
von Ihnen, dass Sie das ändern.
({11})
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass mit
dieser Bundesregierung Verbraucherpolitik in diesem
Land nur noch unter dem Aspekt der Öffentlichkeitswirkung vollzogen wird. Anders ist die Diskussion, die Sie
pünktlich zur Grünen Woche zum Thema Preisdumping
ins Leben gerufen haben, nicht zu erklären. Der Bundeskanzler hat sie zum Glück kassiert. Aber diese Diskussion taucht immer wieder bei Ihnen auf.
Wir sagen dazu: Jeder soll selbst entscheiden, ob er
beim Discounter oder beim Einzelhändler einkauft. Sie
dürfen nicht vergessen, dass die Menschen heutzutage
dank Ihrer Politik verdammt wenig Geld in der Tasche
haben, um sich teure Nahrungsmittel leisten zu können.
({12})
Dann zu sagen: „Wir machen eine Initiative gegen das
Preisdumping“, ist wirklich eine Verkennung der tatsächlichen Lebensverhältnisse in Deutschland. Mit dem
Gehalt eines Abgeordneten bzw. einer Ministerin kann
man das alles locker bezahlen.
({13})
- Herr Goldmann vielleicht nicht, aber alle anderen.
({14})
Schauen Sie sich aber einmal an, was die Menschen
in diesem Lande wirklich verdienen.
({15})
Seit Beginn dieser Legislaturperiode besteht ein Initiativrecht für Fragen des wirtschaftlichen und rechtlichen Verbraucherschutzes. So weit, so gut! Das begrüßen und das unterstützen wir. Aber wir erwarten uns
davon auch einiges. Es gibt eine ganze Menge Themen,
die zurzeit wirklich auf der Straße liegen und die eine
starke Verbraucherschutzministerin benötigen. Das sind
zum Beispiel Fragen zum Thema Dialer, zur UWG-Novelle, zur Verbraucherkreditrichtlinie, zur Kennzeichnung von Lebensmitteln usw. usw. Ein anderes Thema
ist die Deutsche Bahn, die Sie selber im letzten Winter in
die Öffentlichkeit gerückt haben.
Wir fordern Sie auf, dieses Initiativrecht wirklich zu
nutzen und ein vernünftiges Verbraucherkonzept vorzulegen. Wenn Sie das tun, können wir eine vernünftige
Politik machen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Wolff von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Klöckner, auf Ihre Rede würde ich gern
ganz kurz zu sprechen kommen. Ich habe mich wirklich
gefreut, als Sie hier sagten, Sie wollten keine Polemik,
Sie hätten die Polemik im Ausschuss als sehr negativ
empfunden. Mir geht es in diesem Ausschuss seit 1998
so und ich habe mich gefreut, dass es jemanden gibt, der
das genauso erlebt.
({0})
Aber ich bin nun tief enttäuscht;
({1})
denn alle Reden der Opposition - das muss man auch
einmal festhalten - haben vor Polemik gestrotzt.
({2})
Meine Damen und Herren, 2003 ist kein einfaches
Jahr, auch global gesehen. Deutschland hat wirklich
große wirtschaftliche Aufgaben zu meistern und wir haben niemals einen Hehl daraus gemacht, dass es ein steiniger Weg wird, 1,5 Billionen Staatsschulden abzubauen.
Der Weltwirtschaft machen die Auswirkungen des
11. September 2001 noch immer zu schaffen. Der Zusammenbruch der New Economy und die Skandale an
der Börse haben ihre Wirkung immer noch nicht verloren. Warum bringe ich das an dieser Stelle an? Ganz einfach, weil man die Lage des Bundeshaushaltes eben nicht
isoliert betrachten kann, weil Deutschland eben nicht die
Insel der Glückseligen ist und weil wir morgen mit großer Verantwortung den Haushalt 2003 beschließen werden: selbstbewusst, reformorientiert und sparsam.
({3})
Waltraud Wolff ({4})
Wir können und wollen nicht Geld verteilen, das nicht
da ist. Meine Damen und Herren der Opposition, das war
Ihre Gangart, unsere ist das nicht. Gerade in Bezug auf
unseren Haushaltstitel ist es wichtig, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und da zu investieren, wo die
Mittel zukunftsorientiert, verbraucherschutzorientiert,
umweltschutzgerecht und dem Tierschutz entsprechend
eingesetzt werden. Kurz gesagt: Der Einzelplan 10 ist
Ausdruck einer nachhaltigen Agrarpolitik.
({5})
Nachhaltigkeit bedeutet auch Prävention. Ein Beispiel ist die Hochwasserkatastrophe an der Elbe. Alle
drei Landkreise meines Wahlkreises waren betroffen. Ich
nenne nur das Wörlitzer Gartenreich und das Dörfchen
Gübs, das heute auch bundesweit bekannt ist. Die hochwassergeschädigten Landwirte in ganz Deutschland erhielten durch die Sofortmaßnahmen schnelle Hilfe. Probleme gab es nur, weil sich die Länderregierungen mit
der Auszahlung so schwer getan haben. Mit dem Sonderprogramm Hochwasser stellte das Bundesministerium für Verbraucherschutz 30 Millionen Euro unter anderem zur Deichsicherung und Deichsanierung zur
Verfügung.
({6})
In diesem Jahr ist im Bundeshaushalt ein Betrag von
320 Millionen Euro für den Hochwasserschutz eingestellt. Diese Präventivmaßnahmen sind für die Landwirtschaft von großer Bedeutung. - Es wäre schön, wenn die
Opposition auch einmal zuhören würde. ({7})
Die hochwassergebeutelte Landwirtschaft wurde beispielsweise durch die erhöhte Flächenstilllegungsprämie und auch durch Ausgleichszahlungen von bis zu
50 000 Euro pro Betrieb umgehend direkt unterstützt.
Ich will auch daran erinnern, dass Solidarität heute in
Deutschland noch immer in beeindruckender Weise
praktiziert wird.
({8})
Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass die Menschen in
unserem Land sehr gut verstanden haben, dass wir die
nächste Stufe der Steuerreform um ein Jahr verschoben
haben. Ich komme aus Sachsen-Anhalt, das ist nicht gerade das reichste Land.
({9})
Unsere Pflicht gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern ist es, in extremen Situationen schnell zu helfen.
Gegenüber den Steuerzahlern haben wir aber auch die
Pflicht, einen von Verantwortungsbewusstsein geprägten
Haushalt vorzulegen. Es gilt also, die Haushaltskonsolidierung weiter voranzubringen. Das heißt doch auf gut
Deutsch, wie wir alle wissen: Wir kommen gar nicht umhin, Kürzungen und Einsparungen vorzunehmen. Das
gilt auch für unseren Einzelplan.
Uns war es wichtig, neben der Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme auch Spielräume für die aktive
Gestaltung der Agrar- und Verbraucherpolitik zu eröffnen. Jeder hier im Hause weiß, dass die agrarsoziale Sicherung 71 Prozent des Haushalts ausmacht. Von daher
sind die Optionen ziemlich begrenzt. Dennoch ist es uns
gelungen, hier zukunftsorientierte Schwerpunkte zu setzen, die finanziell solide untersetzt sind.
({10})
Wir haben Raum für die Förderung von tiergerechten
Haltungssystemen, für die weitere Ausweitung des Anbaus von nachwachsenden Rohstoffen und für den ökologischen Landbau geschaffen.
Die Opposition bemängelt die Höhe der Ausgaben für
die tiergerechten Haltungssysteme; das ist hier auch in
mehreren Beiträgen zum Ausdruck gebracht worden.
({11})
Wir wollen die Einführung dieser Systeme unterstützen.
Das Argument, im letzten Jahr sei aus diesem Titel recht
wenig abgeflossen, ist vordergründig richtig.
({12})
- Ja, natürlich, vordergründig ist es richtig; das kann
man auch so diskutieren. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass man neuen Programmen auch eine
Chance geben muss, sich entwickeln zu können.
({13})
Man darf sich bei Neuerungen nicht sofort ins Bockshorn jagen lassen, wenn die erhofften positiven Auswirkungen nicht augenblicklich eintreten; dann würde eigentlich alles stagnieren. An dieser Stelle muss man
auch ein bisschen Weitsicht zeigen.
({14})
Meine Damen und Herren, da es, wie gesagt, um
71 Prozent des Haushalts geht, sage ich noch etwas zur
Sozialpolitik. Uns kommt es darauf an, dass die landwirtschaftliche Sozialversicherung nur in einem vertretbaren
Maß von den Kürzungen in Mitleidenschaft gezogen
wird. Deshalb haben wir uns auf die Glättung der Bundesausgaben für die Unfallversicherung auf 250 000 Euro
verständigt. Diese Zuschüsse werden damit für die
nächste Zukunft stabilisiert. Daneben wird für den Bereich der landwirtschaftlichen Sozialversicherung in diesem Jahr - das ist auch schon angesprochen worden eine globale Minderausgabe von 20 Millionen Euro ausgebracht. Dies war keine Entscheidung vom grünen
Tisch, sondern das haben wir mit dem Bundesverband
der Berufsgenossenschaften besprochen. Hier ist Einvernehmen hergestellt worden, was sich gestern auch auf
dem parlamentarischen Abend gezeigt hat.
Waltraud Wolff ({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss: Die Welt wächst immer mehr zusammen. Die
Regierungskoalition meint es mit ihrem Bekenntnis zur
Erweiterung der EU ernst. Wir meinen es auch mit unseren Ankündigungen zu einer fairen Ausgestaltung der
nächsten WTO-Runde ernst. Dann allerdings werden wir
nicht umhinkommen, die Zuweisungen zu den Marktordnungen weiter abzusenken. Daher bin ich der Auffassung, dass die Bundesregierung den eingeschlagenen
Weg weitergehen muss, der durch Entkoppelung, die
Stärkung der verbraucherorientierten Maßnahmen und
eine umwelt- und tiergerechte Landwirtschaft gekennzeichnet ist. Die Schwerpunkte in diesem Haushalt sind
richtig gesetzt. Deshalb können wir uns darauf freuen,
morgen diesen Haushalt zu beschließen.
Schönen Dank.
({16})
Die Bundesministerin Renate Künast hat jetzt ausnahmsweise als letzte Rednerin das Wort. Normalerweise sollen die Mitglieder der Bundesregierung nicht
als letzte Redner das Wort haben. Aber es hat keinen
Einwand dagegen gegeben.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war
nicht mein spezieller Wunsch; ich hatte das Gefühl, mich
nur den Wünschen anderer gefügt zu haben.
({0})
- Das machen wir gerne. Wir können es noch zehn Jahre
lang so machen, dass ich als Erste rede.
({1})
Das gilt insbesondere dann, Herr Goldmann, wenn das
Vergnügen so wie jetzt ist, dass - ({2})
- Wir können es ja zu einer früheren Uhrzeit machen,
dann wird auch diesem Gesichtspunkt entsprochen.
Ist Ihnen aufgefallen, dass diese Debatte das Gegenteil einer Generaldebatte ist? Einige standen am Rednerpult, machten weit ausholende Bewegungen und sagten,
es werde zu wenig gespart, man müsse vielmehr nach
dem Rasenmäherprinzip - wahrscheinlich mit einem
atombetriebenen Rasenmäher - vorgehen, damit man
möglichst viele Subventionen auf einmal streichen
kann.
({3})
Jetzt fordern Sie das Gegenteil. Sie emotionalisieren und
sagen, wo man überall kein Geld kürzen dürfe, sondern
mehr Geld ausgeben müsse.
({4})
Man muss feststellen - das muss ich Ihnen ehrlich sagen -, dass hier einiges gesagt wurde, was von mangelnder Sachkenntnis zeugt. Frau Heinen hat vorhin kritisiert, dass einige Kooperationen und Koordinationen
durch das Bundesamt nicht stattgefunden haben. Sie kam
auf das schöne Beispiel der Torten zu sprechen. Ich
nehme ja gerne einiges auf meine Schultern; die sind
tragfähig. Sie sollten aber zumindest das ABC der BundLänder-Zuständigkeiten kennen. Wenn Sie möchten,
dass wir die Länderzuständigkeiten aufheben, dann müssen Sie das auch im Rahmen der Föderalismusreform
unterstützen.
({5})
Dann kann kein Bundesland - egal ob es von Rot-Grün
oder der CDU geführt wird - mehr sagen, es sei zuständig. Dann kann nicht jeder Landesvertreter zum Thema
Torte jede Woche eine andere Aussage machen.
({6})
- Frau Heinen, ich weiß, dass Sie einen Satz, den ich geschrieben habe, ansprechen wollen. Ich sage Ihnen: Es
stimmt, wir wollen mehr koordinieren. Wir wollen die
Problemfälle und Auswüchse des Föderalismus mithilfe
des Bundesamtes aufheben. Das haben wir an vielen
Punkten - Stichworte: Acrylamid und Nitrofen - längst
getan. Ich habe aber nicht geschrieben, dass ich die föderale Zuständigkeit aufheben möchte. Wenn Sie mich
aber dazu animieren und mir zusagen, dass Sie zustimmen, dann tue ich das gerne, weil dann in den Bereichen
Lebensmittelsicherheit und Agrarverwaltung manches
besser wird.
({7})
Ich finde es komisch, dass Sie die Einsetzung eines
Consultingunternehmens kritisieren. Das ist nun wirklich bar jeden Wissens über den Aufbau von Organisationen. Das ist nämlich völlig normal. Es gibt einige
Schnittstellen in Bezug auf die Zuständigkeiten. Ich
finde es besser, ein Consultingunternehmen zu beauftragen, das die Arbeitsabläufe bis zum letzten durchspielt,
weil man dann alles sauber klären kann. Wir haben mit
dem Föderalismus an dieser Stelle genug Probleme. Die
Probleme habe im Übrigen nachher nicht ich, sondern
die haben zum Beispiel die Landwirte und die Verbraucher. Die Verbraucher wissen nicht, wie sie sich bei einem Problem verhalten sollen, und die Landwirte haben
Einkommenseinbußen.
Ihre grundsätzlichen Aussagen, die über den Verbraucherschutzbereich hinausgingen, erinnern mich an
die alte Weisheit „Wir selber schaffen unsere Zukunft
und nennen sie Schicksal“. Nach diesem Motto haben
Sie sich heute wieder verhalten. Das tun Sie immer wieder, und zwar auf Kosten der Landwirtschaft, zulasten
der Bäuerinnen und Bauern.
({8})
Sie können so lange reden, wie Sie wollen. Die Post,
die bei uns eingeht, klingt mittlerweile anders: Lieber
unsere Politik, die der Zukunft zugewandt und an den
Erfordernissen der Zukunft orientiert ist, als eine Politik,
die immer nur erzählt, es würde sich nichts verändern.
Mittlerweile verfügt jeder Bauer über einen Internetzugang und weiß, dass es demnächst WTO-Verhandlungen gibt. Es nützt ihm nichts, wenn Sie ihm Sand in die
Augen streuen und so tun, als würde man dort zu keinem
Ergebnis kommen. Wir bereiten die Bauern darauf vor
und zeigen ihnen entsprechende Einnahmemöglichkeiten.
({9})
Der vorliegende Haushalt zeigt, dass wir die Modernisierungslinien zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erneuerung umsetzen. Das will ich Ihnen an einigen Punkten erläutern. Modernisierung - das muss man
an dieser Stelle sagen - heißt Wohlstand für alle und
nicht nur für einige wenige. Auf den Vorwurf, ich würde
die Arbeit meiner Vorgänger zerstören, reagiere ich mit
der Antwort: Ich habe noch gar nicht richtig angefangen,
das alte System zu beenden, nach dem immer nur die
Großen gewinnen und die kleine bäuerliche Landwirtschaft und die Familienbetriebe ziemlich leer ausgehen,
nach dem die Grünlandstandorte und die Milchbauern
bei der Verteilung der großen Prämien immer leer ausgehen. Natürlich werde ich das beenden. Daran werde ich
arbeiten.
({10})
Sie wissen selbst, welch ungeheurer Preisdruck durch
dieses System entsteht. Herr Deß, in Bayern spielen die
vielen kleinen mittelständischen Molkereien die Milchbauern gegeneinander aus. Ich weiß, dass in diesem Bereich Gelder umgeschichtet werden müssen, und zwar
auch aus dem Ackerbaubereich, wo die Bauern so viel
verdienen, dass sie im Zweifelsfall im Winter mehrere
Monate Urlaub machen können.
({11})
Ich will auch die kleinteilige Landwirtschaft und die
Landwirtschaft in benachteiligten Gebieten. Das ist das
Ziel unseres Haushaltes.
({12})
Nachhaltige Landwirtschaft im Bereich des konventionellen und des ökologischen Landbaus heißt für uns,
dass wir zu einer WTO-kompatiblen Produktion kommen und die WTO-Verhandlungen entsprechend
beeinflussen müssen. Dann gilt es, eine Reihe anderer
Themen weiterzuverfolgen, wie zum Beispiel nicht handelsbezogene Kriterien durchzusetzen und Verbraucherschutz zu verankern; auch das gehört in diesen Bereich.
Darüber hinaus ist es richtig, auch wenn Sie das kritisiert
haben, dass sowohl Programme zum Ökolandbau wie zur
bäuerlichen Landwirtschaft in den Bereich der nachhaltigen Landwirtschaft gehören, da wir die einen Betriebe
erhalten und die anderen fördern müssen. Beide Formen
machen Sinn; beide muss es in Deutschland geben.
({13})
- Frau Aigner, Sie haben Recht. Genau das möchte ich
im Rahmen der GAK erreichen. Sie müssen mir dabei
aber helfen. Die GAK ist nämlich nicht darauf ausgerichtet, den bäuerlichen Familienbetrieben zu helfen.
Hier besteht eine Schieflage. Angesichts der Tatsache,
dass die 16 Agrarminister, auch die der B-Länder, bei einer Sitzung des PLANAK-Ausschusses die Fördertatbestände für das nächste Jahr nicht umgeändert haben,
brauche ich Ihre Hilfe, und zwar noch in diesem Jahr.
Diese nehme ich gerne in Anspruch. Ihr Angebot werde
ich nicht vergessen, Frau Aigner.
Wenn wir das Aktionsprogramm „Bäuerliche Landwirtschaft“ in der GAK hätten - das will ich erreichen -,
dann könnten wir viele andere Programme wie zum Beispiel zum Wegebau ersatzlos streichen; denn dieses Aktionsprogramm käme den Bauern wirklich zugute. Dazu
reicht es allerdings nicht aus, hier nur Reden zu halten,
sondern dann müssen Sie sich bei den Landwirtschaftsministern der Bundesländer dafür entsprechend engagiert einsetzen.
({14})
Angesichts der Kürze der Zeit will ich nicht mehr viel
zum Ökolandbauprogramm sagen. Nur so viel: Bei einem Verhältnis von über 700 Millionen Euro zu 30 Millionen Euro - das eine ist eine dreistellige Zahl, das andere eine zweistellige - kann man nicht ernsthaft
behaupten, dass die eine Gruppe die andere wirtschaftlich knebeln und aushungern würde. Ich glaube, man
sollte die Kirche im Dorf lassen.
Es ist wissenschaftlich außerdem noch offen - das
muss ich Ihnen an dieser Stelle sagen -, ob die Inhaltsstoffe der Produkte der beiden verschiedenen Sparten
oder die Produkte selbst unterschiedlich sind oder welche besser sind. Darüber möchte ich jetzt auch nicht diskutieren.
Für mich ist viel spannender, in diesem und dem
nächsten Jahr eine Debatte über Preise zu führen, die für
die Landwirte reell sind, egal ob in der konventionellen
oder der ökologischen Landwirtschaft. Ich freue mich,
dass die Bauern diese Debatte aufgenommen haben,
auch wenn sie neidisch waren, dass sie gerade zur Grünen Woche begonnen hat. Aber ich bin der Meinung,
dass sie in diesen Rahmen gehört hat. Ich freue mich,
dass die Bauern, auch die in Bayern, das Heft in die
Hand genommen haben, sich nun verbünden und sogar
Kartelle bilden wollen, um gegen die ablehnende Haltung der Wirtschaft anzugehen.
({15})
Ich freue mich auch, dass selbst der Einzelhandel in dieser Frage Maßnahmen ergreift. Das werden wir auch
gerne im Rahmen der Debatte um das UWG diskutieren.
Die Reformierung des UWG ist längst beschlossene Sache, was bei einigen Ihrer Redebeiträge dagegen nicht
zum Ausdruck gekommen ist.
({16})
Ich will nun ein Stichwort zum Thema Verbraucherinformation sagen. Dazu wurde hier viel geredet und es
wurden viele Aspekte angesprochen. Ich kann Ihnen nur
sagen: Daran arbeiten wir schon längst. Ich würde mir
wünschen, wenn Sie in dieser Frage nicht nur an mir herummäkeln würden. Legen doch auch Sie hierzu einmal
Vorschläge auf den Tisch.
({17})
Schon Ihre Fraktionsvorsitzende hat gesagt hat, die
CDU/CSU habe in den Städten wegen eines mangelnden
Verbraucherschutzes verloren. Ich fordere Sie auf: Legen
Sie ein Programm vor. Von uns werden Sie noch in diesem Jahr ein Programm bekommen, nämlich einen Aktionsplan zum Verbraucherschutz. So etwas möchte ich
auch von Ihnen gerne lesen. Und ich sage Ihnen: Machen Sie keine mittelalterliche Politik. Legen Sie endlich
ein Angebot für ein Verbraucherinformationsgesetz
vor. Das ist doch an Ihnen gescheitert, weil Sie - zulasten der Bauern und der Verbraucher - die Information
nicht zulassen wollten.
({18})
Meine Damen und Herren, heute sind in dieser Debatte viele Details angesprochen worden, zum Beispiel
auch zum Personalabbau im Bereich der Tierhygiene,
der angeblich zulasten der Bekämpfung von BSE geht.
Ich muss Ihnen empfehlen, sich kundig zu machen, wo
die Stelle zur BSE-Bekämpfung bei uns ressortiert ist.
Das ist nämlich nicht der Bereich der Tierhygiene. Wir
haben nichts zu befürchten. Wir haben die Abteilungen 2
und 3, die nur 16 neue Stellen bekommen haben, trotzdem mit insgesamt 30 Stellen ausgestattet, weil wir umgeschichtet haben. Vielleicht könnten wir noch besser
umschichten; Empfehlungen hierzu nehme ich von Ihnen gerne entgegen.
Wir haben, dem Beschluss folgend, Bonn zu einer
Stadt mit vielen internationalen Organisationen auszubauen, die FEC nach Bonn geholt. Ich weiß gar nicht,
was Sie wollen. Sie haben gedacht, wir würden Bonn zu
einer internationalen Stadt machen und Jobs bieten, aber
in einer Weise, die Ihnen passt. Dass das nicht immer
geht, damit müssen Sie in einer Demokratie leben.
Wir bemühen uns, die GAK zu halten. Ich bitte Sie
von der Opposition, hier nicht nur Krokodilstränen zu
weinen und ganze Stauseen damit zu füllen. Sorgen Sie
dafür, dass die von Ihnen und Ihren Parteien regierten
und geführten Bundesländer in der Föderalismusdebatte
nicht sagen, dass sie die GA gänzlich zerschlagen wollen. Sie erzählen doch Unsinn: Sie heulen hier, machen
und tun und die von Ihnen geführten Bundesländer praktizieren am Ende das genaue Gegenteil.
({19})
Frau Kollegin Künast.
Ich möchte Sie an dieser Stelle um eines bitten: Lassen Sie uns diese Hektik herausnehmen, diesen Haushalt
verabschieden und wieder zu einer positiven und sachorientierten Debatte kommen. Die Bauern und Verbraucher werden es Ihnen danken.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Ich darf darauf hinweisen, dass der nächste Tagesordnungspunkt - er ist zugleich der letzte - zu Protokoll gegeben werden soll. Deswegen bitte ich Sie, noch ein wenig hier zu bleiben, damit wir das ordentlich abwickeln
können.
Wir kommen zur Abstimmung über Einzelplan 10
- Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung
und - in der Ausschussfassung. Es liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und neun Änderungsanträge der Fraktion der FDP vor, über die wir zuerst abstimmen. Ich bitte um Aufmerksamkeit.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 15/673? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 15/675? - Gegenstimmen? - Der
Änderungsantrag ist mit gleichem Stimmenverhältnis
abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 15/677? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit gleichem
Stimmenverhältnis abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 15/678? - Gegenstimmen? - Der
Änderungsantrag ist mit gleichem Stimmenverhältnis
abgelehnt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 15/679? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit gleichem
Stimmenverhältnis abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 15/681? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit gleichem
Stimmenverhältnis abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 15/682? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit gleichem
Stimmenverhältnis abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 15/684? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit gleichem
Stimmenverhältnis abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 15/686? - Gegenstimmen? - Das
gleiche Ergebnis.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 15/697? - Gegenstimmen? - Gleiches Stimmenverhältnis.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den
Einzelplan 10 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Einzelplan 10 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Ich rufe auf:
Einzelplan 16
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
- Drucksachen 15/564, 15/572 Berichterstattung:
Abgeordnete Elke Ferner
Albrecht Feibel
Otto Fricke
Es liegen drei Änderungsanträge der Fraktion der
FDP vor. Mit Ihrem Einverständnis sollen alle Reden zu
Protokoll gegeben werden. Gibt es Widerspruch? - Das
ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung über den
Einzelplan 16 - Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - in der Ausschussfassung.
Zunächst stimmen wir über die Änderungsanträge der
FDP-Fraktion ab. Wer stimmt für den Änderungsantrag
auf Drucksache 15/687? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion
und Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf
Drucksache 15/688? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung von CDU/CSU und FDP
abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf
Drucksache 15/689? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion und
Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
Abstimmung über den Einzelplan 16 in der Ausschussfassung: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Einzelplan 16 ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
von CDU/CSU und FDP angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 20. März 2003,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.