Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Der Ältestenrat hat vereinbart, dass in der Haushaltswoche vom 17. März 2003 keine Regierungsbefragung,
keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden
stattfinden sollen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler
Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung vier Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland,
Gerhard Schröder.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der Verantwortung für die Zukunft unseres
Landes habe ich der Regierungserklärung ein doppeltes
Motto vorangestellt. Es beschreibt, worum es heute geht:
Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung.
Wir müssen den Mut aufbringen, für den Frieden zu
kämpfen, solange noch ein Funken Hoffnung besteht,
dass der Krieg vermieden werden kann.
({0})
Wir müssen den Mut aufbringen, in unserem Land jetzt
die Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind,
um wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und der sozialen Entwicklung in Europa zu kommen.
({1})
Die Lage - das spürt jeder hier im Haus, aber auch
draußen - ist international wie national äußerst angespannt. Die Krise um den Irak belastet weltweit die ohnehin labile Konjunktur.
Deutschland hat darüber hinaus - das gilt es ebenfalls
zu sehen - mit einer Wachstumsschwäche zu kämpfen,
die auch strukturelle Ursachen hat. Die Lohnnebenkosten haben eine Höhe erreicht, die für die Arbeitnehmer
zu einer kaum mehr tragbaren Belastung geworden ist
und die auf der Arbeitgeberseite als Hindernis wirkt,
mehr Beschäftigung zu schaffen. Investitionen und Ausgaben für den Konsum sind drastisch zurückgegangen,
übrigens nicht zuletzt, seit an den Börsen allein in
Deutschland während der vergangenen drei Jahre rund
700 Milliarden Euro buchstäblich vernichtet worden
sind.
In dieser Situation muss die Politik handeln, um Vertrauen wieder herzustellen.
({2})
Wir müssen die Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung verbessern.
({3})
Ich möchte Ihnen heute Punkt für Punkt darlegen, welche
Maßnahmen nach Überzeugung der Bundesregierung
vorrangig ergriffen und umgesetzt werden müssen - für
Konjunktur und Haushalt, für Arbeit und Wirtschaft, für
die soziale Absicherung im Alter und bei Krankheit.
Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem
Einzelnen abfordern müssen.
({4})
Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leisten
müssen: Unternehmer und Arbeitnehmer, freiberuflich
Tätige und auch Rentner. Wir werden eine gewaltige gemeinsame Anstrengung unternehmen müssen, um unser
Ziel zu erreichen.
({5})
Aber ich bin sicher: Wir werden es erreichen.
({6})
Bevor ich zu den Einzelheiten komme, verlangt die
dramatische internationale Lage einige deutliche Worte
zur Krise in und um den Irak. In den vergangenen Tagen
und Wochen hat die Bundesregierung ihre Anstrengungen noch einmal verschärft, diese Krise politisch zu lösen. Gemeinsam mit unseren französischen Freunden,
aber auch mit Russland, China und der Mehrheit im
Weltsicherheitsrat sind wir mehr denn je davon überzeugt, dass die Abrüstung von Massenvernichtungsmitteln im Irak mit friedlichen Mitteln herbeigeführt werden
kann und herbeigeführt werden muss.
({7})
Die Berichte der Waffeninspekteure zeigen, dass der Irak
unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft inzwischen besser und auch aktiver kooperiert.
Die Zerstörung der al-Samud-Raketen ist ein sichtbares Zeichen tatsächlicher Abrüstung. Das beweist: Die
Inspektionen und die Inspekteure sind ein wirksames Instrument, das jetzt nicht beendet werden darf.
({8})
Mit einem ausgedehnten Inspektionsregime können wir
nachhaltige und nachprüfbare Abrüstung erreichen. Deshalb war und bleibt es richtig, dass wir auf der Logik des
Friedens beharrt haben, anstatt in eine Logik des Krieges
einzusteigen.
({9})
Der Irak muss unter internationaler Kontrolle umfassend und nachvollziehbar abrüsten, übrigens auch deshalb, damit die Wirtschaftssanktionen, unter denen vor
allen Dingen das irakische Volk leidet, gelockert und
schließlich aufgehoben werden können. Das sind die Bedingungen, unter denen Frieden und Freiheit gedeihen
können. Wir sollten daran festhalten, mit all unserer
Kraft mitzuhelfen, dass diese Bedingungen realisiert
werden können.
({10})
Wir werden sowohl unsere Verantwortung als auch
unsere mitgestaltende Rolle in einer multipolaren Weltordnung des Friedens und des Rechts nur dann umfassend wahrnehmen können, wenn wir das auf der Basis
eines starken und geeinten Europas tun. Es geht um die
Rolle Europas in der internationalen Politik. Aber es
geht auch um die Unabhängigkeit unserer Entscheidungen in der Welt von morgen.
Beides - auch das ist Gegenstand dieser Debatte werden wir nur erhalten können, wenn wir wirtschaftsund sozialpolitisch beweglicher und solidarischer werden, und zwar in Deutschland als dem größten Land in
Europa, was die Wirtschaftskraft angeht, und damit natürlich auch in Europa.
({11})
Diesen Zusammenhang zwischen unseren wirtschaftlichen und damit auch unseren sozialen Möglichkeiten einerseits und unserer eigenen Rolle in Europa und Europas Rolle in der Welt andererseits darf man nicht aus den
Augen verlieren; denn er ist für uns und unsere Gesellschaft genauso wichtig wie für unsere Partner in Europa.
Dieses Europa ist eben mehr als die Summe seiner Institutionen und mehr als ein gemeinsamer Binnenmarkt.
Deutschland hat dazu unter allen Bundesregierungen
entscheidend beigetragen. Europa ist eine Idee, der wir
uns verpflichtet fühlen, eine Idee des geeinten Kontinents, der Kriege und Nationalismen überwunden hat
oder dabei ist, sie zu überwinden. Heute kann und muss
Europa Frieden und Stabilität, Gerechtigkeit und wirtschaftliche Kraft sowie Entwicklungschancen exportieren. Auch dafür müssen wir uns fit machen.
({12})
Deutschland leistet hierzu - das dürfen wir ruhig
selbstbewusst, ja sogar stolz sagen - einen entscheidenden Beitrag, politisch wie finanziell. Wir finanzieren die
Europäische Union zu einem Viertel. Wir zahlen jedes
Jahr rund 7 Milliarden Euro mehr in die europäischen
Kassen ein, als wir zurückbekommen. Das macht uns
mit Abstand zum größten Nettozahler der Gemeinschaft.
Wir akzeptieren das nicht nur, weil diesem Europa die
Überzeugung zugrunde liegt, dass Kooperation besser ist
als Konfrontation - ich denke, darüber sind wir uns in
diesem Hohen Hause einig -, sondern auch, weil unser
europäisches Sozialmodell, das auf Teilhabe beruht statt
auf ungezügelter Herrschaft des Marktes, nur gemeinsam gegen die Stürme der Globalisierung wetterfest gemacht werden kann.
({13})
Um in Europa eine führende Position einnehmen zu
können, haben wir gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien für die beiden bevorstehenden Gipfel in Brüssel und Athen Vorschläge für eine europäische Industriepolitik erarbeitet. Mit diesen Vorschlägen wollen wir
dafür sorgen, dass zum Beispiel die Schiffbau- und die
Chemieindustrie auch in Europa eine Zukunft haben.
Denn die Industrie ist - das ist in Brüssel gelegentlich
vernachlässigt worden - das Fundament unserer Wirtschaft. Deshalb müssen wir die Wettbewerbsfähigkeit
der europäischen Industrie verbessern. Das ist die Grundidee meiner gemeinsamen industriepolitischen Initiative
mit Staatspräsident Chirac und Premierminister Blair,
die wir unseren Partnern in der nächsten Woche auf dem
Gipfel in Brüssel vorlegen werden.
({14})
Meine Damen und Herren, ich habe das Stichwort
„Mut zur Veränderung“ auch und gerade im Innern unseres Landes bereits genannt. Um unserer deutschen Verantwortung in und für Europa gerecht zu werden, müssen wir zum Wandel im Innern bereit sein. Entweder wir
modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft,
oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite
drängen würden.
({15})
Die Struktur unserer Sozialsysteme ist seit 50 Jahren
praktisch unverändert geblieben. An manchen Stellen,
etwa bei der Belastung der Arbeitskosten, führen Instrumente der sozialen Sicherheit heute sogar zu Ungerechtigkeiten. Zwischen 1982 und 1998 sind allein die Lohnnebenkosten von 34 auf fast 42 Prozent gestiegen.
({16})
Daraus ergibt sich nur eine Konsequenz: Der Umbau
des Sozialstaates und seine Erneuerung sind unabweisbar geworden. Dabei geht es nicht darum, ihm den Todesstoß zu geben, sondern ausschließlich darum, die
Substanz des Sozialstaates zu erhalten. Deshalb brauchen wir durchgreifende Veränderungen.
({17})
Hierzu hat die Regierung in den vergangenen Jahren vieles auf den Weg gebracht.
({18})
- Wir sind es gewesen und nicht Sie.
({19})
Wir und nicht Sie haben die kapitalgedeckte private
Vorsorge, die die zweite Säule der Rentenversicherung
darstellt, auf den Weg gebracht.
({20})
Diese private Vorsorge als zweite Säule unter das Dach
der Altersversorgung und Alterssicherung zu stellen, das
haben viele große Länder in Europa noch vor sich. Unter
Ihrer Führung ist mit solchen Reformen nie begonnen
worden, geschweige denn, dass sie je zu Ende gebracht
worden sind.
({21})
Wir haben eine mehrstufige Steuerreform beschlossen, die Bürger und Unternehmen um insgesamt
56 Milliarden Euro entlastet.
({22})
Wir haben die Gesellschaft modernisiert: in der Energiepolitik, im Familienbereich und beim Staatsangehörigkeitsrecht ebenso wie durch eine moderne Zuwanderungsregelung, der Sie sich nicht verschließen dürfen,
wenn Sie ernsthaft für Reformen in diesem Land eintreten wollen.
({23})
Wir haben unsere Investitionen in Forschung verstärkt und damit begonnen, die Bedingungen für schulische und vorschulische Bildung zu verbessern. Es gilt
aber einzuräumen: Wir haben feststellen müssen, dass
diese Schritte nicht ausreichen. Vor allem reicht auch die
Geschwindigkeit, mit der wir unsere Strukturen den veränderten Bedingungen anpassen, nicht aus. Das ist der
Grund, warum wir bei den Veränderungen weitergehen
müssen.
Unsere Agenda 2010 enthält weitreichende Strukturreformen.
({24})
Diese werden Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts
bei Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze bringen.
({25})
Dadurch werden die Gerechtigkeit zwischen den Generationen gesichert und die Fundamente unseres Gemeinwesens gestärkt.
Meine Damen und Herren, ich hatte Ihnen versprochen, die Maßnahmen, die wir in den Bereichen, die ich
genannt habe, planen, Punkt für Punkt zu erläutern.
({26})
Dabei geht es vor allen Dingen um drei Bereiche:
Der erste ist „Konjunktur und Haushalt“. Die dramatische Wirtschaftslage zwingt uns dazu, eine neue Balance
zwischen Konsolidierung, konjunkturellen Impulsen und
steuerlicher Entlastung zu schaffen.
({27})
Wir werden dabei nicht den Weg gehen, einseitig und egoistisch nur diejenigen zu entlasten, die heute aktiv sind,
die Kosten aber durch Verschuldung auf künftige Generationen abzuwälzen. Das ist kein verantwortbarer Weg.
({28})
Deshalb halten wir am Ziel der Haushaltskonsolidierung und am Stabilitätspakt, den wir vereinbart haben,
fest. Nur: Dieser Pakt darf eben nicht statisch interpretiert werden.
({29})
Er lässt Raum und er muss auch Raum lassen für Reaktionen auf unvorhergesehene Ereignisse. Phasen wirtschaftlicher Schwäche - in Deutschland und in Europa
sind wir in einer solchen - dürfen eben nicht durch prozyklische Politik ausgeglichen werden.
({30})
Wir sind uns in Europa mit unseren Partnern einig,
dass wir auch Möglichkeiten zu Reaktionen auf unvorhersehbare Ereignisse brauchen, die möglicherweise als
Folgen der Verschärfung von Krisen in Regionen in der
Welt eintreten. Auch diese Möglichkeit gibt der Stabilitätspakt durchaus her. Wir werden diese Möglichkeiten
zusammen mit unseren Partnern offensiv nutzen.
({31})
Allerdings: Der Verweis auf den Stabilitätspakt und
die europäische Verantwortung darf nicht als Ausrede
benutzt werden, jetzt hier nichts zu tun. Auch in der jetzigen Situation müssen und wollen wir Wachstumsimpulse setzen. Das muss für die Ermunterung privater Investitionen ebenso gelten wie für die öffentlichen
Investitionen, insbesondere für die in den Kommunen.
({32})
Wir sind verpflichtet, gerade in Zeiten geringen Wachstums oder wirtschaftlicher Stagnation die öffentlichen
Investitionen auf hohem Niveau zu halten.
({33})
Der Bund - wir werden das bei den Haushaltsberatungen diskutieren - kommt dieser Verantwortung durchaus
nach.
({34})
Die Investitionen im Bundeshaushalt steigen in diesem
Jahr auf 26,7 Milliarden Euro.
({35})
Wir werden aber auch die Finanz- und Investitionskraft der Kommunen nachhaltig stärken müssen. Dabei
setzen wir auf folgende Maßnahmen:
Erstens. Zur sofortigen Entlastung der Gemeinden beabsichtigt die Bundesregierung, sie von ihrem Beitrag
zur Finanzierung des Flutopferfonds zu befreien.
({36})
Das bringt Mehreinnahmen in einer Höhe von
800 Millionen Euro.
Zweitens. Das Steuervergünstigungsabbaugesetz und
die Abgeltungsteuer werden voraussichtlich noch in
diesem Jahr zu Mehreinnahmen von rund 1 Milliarde Euro
führen.
({37})
- Eine solche Reaktion von Ihnen habe ich erwartet.
Aber an dieser Stelle zeigt sich, wie Ihre Politik wirklich
ist: alles ablehnen und immer mehr fordern.
({38})
Jede einzelne Maßnahme wird blockiert. Auf jede Blockade, die Sie machen, erfolgt eine neue Forderung. Das
ist vollkommen unverantwortlich. Damit werden Sie nicht
lange durchkommen. Seien Sie sich dessen ganz sicher!
({39})
Drittens. Wir werden die Kommunen ab dem 1. Januar 2004 von der Zahlung für die arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger entlasten. Das heißt, für bis zu
1 Million Sozialhilfeempfänger wird künftig die Bundesanstalt für Arbeit materiell zuständig sein.
({40})
Die Gemeinden werden dadurch in Milliardenhöhe entlastet. Sie gewinnen Gestaltungsspielraum, den sie zum
Beispiel für Investitionen bei der Kinderbetreuung nutzen können.
({41})
Es muss aber auch klar sein: Diese Regelung soll die
Kommunen nicht von ihrer Verantwortung entbinden,
mitzuhelfen und alles dafür zu tun, dass Menschen Arbeit in den Strukturen finden, die bei den Kommunen
aufgebaut worden sind. Die unterschiedliche Finanzierung darf nicht zu geteilter Verantwortung führen.
({42})
Viertens. Die Bundesregierung wird zum 1. Januar 2004 die Gemeindefinanzen grundlegend reformieren. Zurzeit arbeitet eine Kommission,
({43})
an der Sie, wie Sie wissen, beteiligt sind, mit Hochdruck
an einer Umsetzung dieser Reform. Im Mittelpunkt wird
übrigens nach unserer Auffassung eine erneuerte Gewerbesteuer stehen, die die Einnahmen verstetigt und den
Gemeinden mehr Eigenverantwortung gibt.
({44})
Auch an diesem Punkt werden Sie zeigen können, ob Sie
bereit sind, Verantwortung für das Ganze zu übernehmen, oder ob Sie weiterhin allein aus parteipolitischer
Orientierung egoistisch Ihr eigenes Süppchen kochen
wollen.
({45})
Fünftens. Wir werden über die Kreditanstalt für
Wiederaufbau ein Investitionsvolumen in Höhe von
insgesamt 15 Milliarden Euro mobilisieren:
({46})
7 Milliarden Euro für ein kommunales Investitionsprogramm und 8 Milliarden Euro für die private Wohnungsbausanierung. Für dieses Investitionsprogramm wird der
Bund aus eigenen Mitteln eine attraktive Refinanzierung
sicherstellen. Das kommunale Programm ist für längerfristige Projekte in den Bereichen Wasser und Abwasser,
Abfallwirtschaft sowie kommunale und soziale Infrastruktur bestimmt. Dieses Programm - dessen bin ich sicher - sorgt vor allen Dingen für Arbeit in der Bauwirtschaft und im Handwerk. Es kommt den Bürgerinnen
und Bürgern und denen unmittelbar zugute, die in kleinen und mittelständischen Betrieben arbeiten.
({47})
Für Kommunen mit besonderen Strukturproblemen
und überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit werden die
ohnehin attraktiven Zinskonditionen noch einmal deutlich verbessert. Das wird zu mehr Investitionen führen.
Mir liegt aber daran, festzustellen, dass dies kein kurzfristiges und schuldenfinanziertes Konjunkturprogramm
ist. Wir werden dafür weder neue Schulden aufnehmen
noch Steuern erhöhen.
({48})
Dieses Programm ist die notwendige Ergänzung zu
unseren Strukturreformen auf der Angebotsseite, die
ich Ihnen erläutern werde. Beides bedingt einander:
Ohne Strukturreformen verpufft jeder Nachfrageimpuls.
Ohne konjunkturelles Gegensteuern laufen die Reformen indessen ins Leere.
Deswegen setzen wir an beiden Seiten an. Wir werden
- wie geplant - die nächsten Stufen der Steuerreform mit
einem Entlastungsvolumen von rund 7 Milliarden Euro
am 1. Januar 2004 und von 18 Milliarden Euro am
1. Januar 2005 ohne Abstriche umsetzen.
({49})
Der Eingangssteuersatz wird dann gegenüber 1998
von 25,9 auf 15 Prozent und der Spitzensteuersatz von
53 auf 42 Prozent sinken.
({50})
Mehr ist nicht zu verkraften. Das muss man klar gegenüber denjenigen sagen, die als Patentrezept Steuersenkungen, bis der Staat draufzuzahlen hat, anbieten. Auch das
gehört zur Wahrheit in diesem Land.
({51})
Wollte man die Forderungen, die in die Welt gesetzt
werden - sie gehen übrigens keineswegs nur zulasten
des Bundes, sondern auch zulasten der Länder und der
Kommunen; das wissen Sie doch alle -, wirklich realisieren, ginge das nur über eine Neuverschuldung oder
die Erhöhung von Verbrauchsteuern. Anders wäre das
nicht vernünftig finanzierbar.
({52})
Beide Wege, die Erhöhung der Verbrauchsteuern, hier
der Mehrwertsteuer, und eine Verschuldung in dieser
Größenordnung, sind nicht zu verantworten. Deshalb
bleibt es bei den Festlegungen, die wir getroffen haben.
Das ist planbar für die Steuerbürgerinnen und -bürger
und für die Unternehmen und das ist der richtige Weg.
({53})
Wir werden zudem die Abgeltungsteuer auf Zinserträge einführen und dadurch erreichen, dass im Ausland
angelegte Gelder straffrei zurück transferiert werden.
({54})
- Wenn Sie das nicht wollen, müssen Sie das sagen. Der
Sinn der Abgeltungsteuer ist nicht zuletzt derjenige, dass
wir auf diese Weise Geld, das im Ausland liegt, zurückholen. Es ist doch besser, es arbeitet in Leipzig oder Gelsenkirchen, als dass es in Liechtenstein schwarz Zinsen
bringt. Das ist der Sinn dieser Regelung.
({55})
Wir brauchen Kontrollen. Sie sollten unbürokratisch,
aber wirksam sein. Über die Art und Weise, wie das geschieht, sind wir gegenüber denjenigen, die das in der
zweiten Kammer mitzuentscheiden haben, durchaus gesprächsbereit. Über die Ausgestaltung dieser Kontrollen
werden wir mit der Mehrheit im Bundesrat zu reden haben. Ich bin sicher, dass wir aus der Sache heraus eine
Einigung finden, weil das Ziel, das wir verfolgen, vernünftig ist und eigentlich jedem einleuchten müsste.
({56})
Es muss in diesem Zusammenhang Verlass darauf sein,
dass mit dieser Operation nur diese und keine anderen
Ziele verfolgt werden.
Wir werden Gewinne aus Veräußerungen - das ist
beschlossen - in Zukunft besteuern. Die Kehrseite ist,
dass deshalb die Substanz von Vermögen steuerfrei bleiben kann. Auch das muss klargestellt werden.
({57})
Arbeit und Wirtschaft, das ist das Herzstück unserer
Reformagenda. Eine dynamisch wachsende Wirtschaft
und eine hohe Beschäftigungsquote sind die Voraussetzungen für einen leistungsfähigen Sozialstaat und damit
für eine funktionierende soziale Marktwirtschaft. Wir
wollen das Ziel nicht aufgeben, dass jeder, der arbeiten
kann und will, dazu auch die Möglichkeit bekommt.
Wir haben die Arbeitsmärkte deshalb für neue Formen der Beschäftigung und der Selbstständigkeit geöffnet. Wir haben das Programm „Kapital für Arbeit“
aufgelegt. Wir haben die Bedingungen für die Vermittlung der Arbeitslosen durchgreifend verbessert. Wir haben Rechte und Pflichten der Arbeitsuchenden in ein
neues Gleichgewicht gebracht.
Wir sind dabei, die Bundesanstalt für Arbeit so umzubauen, dass sie ihrer eigentlichen Aufgabe nachkommen
kann, nämlich Arbeitslose in Arbeit zu vermitteln und
sie nicht bloß zu verwalten.
({58})
In den letzten Monaten haben wir - teilweise auch gemeinsam - erhebliche Anstrengungen unternommen,
den Arbeitsmarkt weiter zu flexibilisieren: Wir haben die
Zeit- und Leiharbeit von bürokratischen Beschränkungen befreit und so aufgewertet, dass die Unternehmen
ihren Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften flexibel decken können. Wir haben die gering bezahlten Jobs bis
800 Euro massiv von Abgaben entlastet.
({59})
- Ich dachte, Sie hätten sich daran beteiligt. Das ist doch
nicht schlimm. Es kann durchaus auch einmal etwas Vernünftiges aus Ihren Reihen kommen. Das ist doch keine
Frage.
({60})
Diese Rahmenbedingungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit werden wir weiter deutlich verbessern.
Unser System der Arbeitsvermittlung hat unverkennbare Schwächen. Zu Zeiten der Vollbeschäftigung
fiel das nicht weiter ins Gewicht und dann haben wir uns
20 Jahre Diskussionen geleistet, ohne die Fehlentwicklungen zu korrigieren.
Wir haben die nötigen Reformen angepackt. Aber
jetzt müssen die Unternehmen, die offene Stellen zu besetzen haben, diese Angebote einer erneuerten Arbeitsverwaltung auch annehmen.
({61})
Wir haben die Möglichkeiten zur befristeten Beschäftigung verlängert, wie es gefordert worden ist, für die
über 50-Jährigen sogar ohne zeitliche Grenze. Auch das
ist eine Maßnahme, um ältere Arbeitslose wieder in Beschäftigung zu bringen. Ich appelliere an die Wirtschaft,
das auch zu tun. Denn es ist nicht Sache der Bundesregierung, sondern der Unternehmen, so zu verfahren,
dass auch jemand, der 50 oder älter ist, im Betrieb seine
Chance behält oder wiederbekommt. Das ist eine Verantwortung, die nicht nur bei der Politik abzuladen ist, sondern die die ganze Gesellschaft und speziell die Wirtschaft angeht. Auch sie müssen Verantwortung für das
Gemeinwesen übernehmen.
({62})
Wir werden den Arbeitsmarkt über die Hartz-Reformen hinaus öffnen, Schwarzarbeit zurückdrängen und
unsere Bemühungen verstärken, dass genügend Ausbildungsplätze bereitgestellt werden. Aber es muss auch
klar sein: Obwohl wir bei der gesetzlichen Umsetzung
der Hartz-Vorschläge zügig gearbeitet haben, wird es
durchaus eine Zeit dauern, bis die entsprechenden Reformen auf dem Arbeitsmarkt greifen. Einfach die aktive
Arbeitsmarktpolitik, vor allem in den ostdeutschen
Bundesländern, zurückzufahren, noch bevor die neuen
Strukturen aufgebaut sind und ihre Wirkung entfalten
können - das kann nicht die Lösung sein und das wird
auch nicht die Lösung sein.
({63})
Wir werden speziell in Ostdeutschland für eine Übergangszeit noch einen zweiten Arbeitsmarkt brauchen.
Das gilt übrigens nicht nur für Ostdeutschland, sondern
auch für andere besonders benachteiligte Regionen.
({64})
Meine Damen und Herren, wir können es nicht dabei
belassen, die Bedingungen für die Wirtschaft und die Arbeitsmärkte zu verbessern. Wir müssen auch über das
System unserer Hilfen nachdenken und uns fragen: Sind
die sozialen Hilfen wirklich Hilfen für die, die sie brauchen?
({65})
Ich akzeptiere nicht, dass Menschen, die arbeiten wollen
und können, zum Sozialamt gehen müssen, während andere, die dem Arbeitsmarkt womöglich gar nicht zur
Verfügung stehen, Arbeitslosenhilfe beziehen.
({66})
Ich akzeptiere auch nicht, dass Menschen, die gleichermaßen bereit sind zu arbeiten, Hilfen in unterschiedlicher Höhe bekommen. Ich denke, das kann keine erfolgreiche Integration sein.
Wir brauchen deshalb Zuständigkeiten und Leistungen aus einer Hand. Damit steigern wir die Chancen derer, die arbeiten können und wollen. Das ist der Grund,
warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe - auch
das gilt es auszusprechen -, die in der Regel dem Niveau
der Sozialhilfe entsprechen wird.
({67})
- Herr Schauerte, wenn Sie noch einen Moment zuhören
könnten. Es kommt ja noch etwas.
({68})
Wir kommen gleichzeitig den Menschen entgegen,
denen wir mehr abverlangen müssen. So werden wir damit Schluss machen, dass Langzeitarbeitslose, die einen
Job annehmen, sämtliche Ansprüche auf Transferleistungen verlieren. Deswegen werden wir eine bestimmte Zeit
Langzeitarbeitslosen, die eine Beschäftigung aufnehmen, deutlich mehr als die bisherigen 15 Prozent der
Transfers belassen. Das soll und wird ein Anreiz für die
Aufnahme von Arbeit sein.
({69})
Ich denke, wir setzen damit ein eindeutiges Signal für
diejenigen Menschen in unserer Gesellschaft, die länger
als zwölf Monate arbeitslos sind. Niemandem aber wird
künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt - wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern -, der wird mit
Sanktionen rechnen müssen.
({70})
Darüber hinaus reformieren wir das Arbeits- und das
Sozialrecht an den Stellen, an denen sich im Laufe der
Jahre Beschäftigungshemmnisse entwickelt haben. Aber
auch hier vorweg eine Bemerkung: Der Kündigungsschutz, wie er zum Wesen unserer sozialen Marktwirtschaft gehört, ist nicht nur eine soziale, sondern auch
eine ökonomische und eine kulturelle Errungenschaft.
({71})
Unser Land ist nicht durch Gesetze des Dschungels oder
durch bedenkenloses „Hire and Fire“,
({72})
sondern durch selbstbewusste Arbeitnehmer stark geworden, deren Motivation eben nicht Angst ist, sondern
der Wille, gemeinsam mit tüchtigen Unternehmern etwas zu leisten.
({73})
Wir wissen aber, welche gewaltigen Veränderungen
an der ökonomischen Basis unserer Gesellschaft stattfinden. Wir müssen deshalb auch den Kündigungsschutz
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für die
Unternehmen besser handhabbar machen. Das gilt insbesondere für die Kleinbetriebe mit mehr als fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Für sie muss und wird die
psychologische Schwelle bei Neueinstellungen überwunden werden. Der Wirtschafts- und Arbeitsminister
hat dazu Vorschläge entwickelt. Diese werden ohne Abstriche umgesetzt werden.
({74})
- Ich kann Ihnen das gerne erläutern, wenn Sie das wollen. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann das so
genannte Puffermodell nutzen, wonach dann, wenn ein
sechster Mitarbeiter eingestellt wird, wenn also die
Grenze von fünf überschritten wird, der erste Arbeitnehmer quasi in den Kündigungsschutz hineinwächst. Das
Problem ist unter Umständen, dass das schwierig zu kalkulieren ist und dass Arbeitsgerichte Schwierigkeiten bei
der Umsetzung haben. Deswegen hat der Wirtschaftsund Arbeitsminister ein anderes Modell entwickelt, das
vorsieht, dass die Zahl derjenigen, die befristet eingestellt werden - Sie kennen die diesbezüglichen Regelungen -, und die Zahl derjenigen, die als Leih- und Zeitarbeiter eingestellt werden, nicht auf die Obergrenzen für
die Betriebe angerechnet werden. Mein Eindruck ist,
dass dies das wirkungsvollere, das bessere Modell ist.
Deswegen wird es auch umgesetzt werden.
({75})
Aber das wird nicht reichen. Man muss das im Zusammenhang sehen.
Darüber hinaus werden wir - Sie sollten das durchaus
in Kumulation sehen - eine wahlweise Abfindungsregelung bei betriebsbedingten Kündigungen einführen.
Im Falle solcher Kündigungen soll der Arbeitnehmer
zwischen der Klage auf Weiterbeschäftigung und einer
gesetzlich definierten und festgelegten Abfindungsregelung wählen können.
({76})
Schließlich werden wir die Sozialauswahl so umgestalten, dass auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten
die Leistungsträger unter den Beschäftigten im Unternehmen gehalten werden können. Statt der Sozialauswahl nur nach starren Kriterien wie Alter oder Dauer der
Betriebszugehörigkeit sollen in Zukunft die Prioritäten
auch direkt zwischen Arbeitnehmervertretern und Arbeitgebern erarbeitet und verbindlich gemacht werden.
Das erhöht die Planungssicherheit für die Betriebe und
senkt die Hürde für Neueinstellungen.
Dieses Ziel verfolgen wir auch mit einer weiteren
Maßnahme. Für Existenzgründer werden wir die maximale Befristung von Arbeitsverhältnissen auf vier Jahre
verdoppeln. Existenzgründer werden zudem in den ers2486
ten vier Jahren von den Pflichtbeiträgen an die Handwerks- und Industrie- und Handelskammern freigestellt.
({77})
Abgerundet wird diese Strategie für mehr Beschäftigung durch Maßnahmen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit, die immer noch Zuwachsraten hat, die uns alle
beschämen müssen.
({78})
Natürlich ist es ein Gebot der Moral und der Solidarität,
Schwarzarbeit gesellschaftlich zu ächten, es ist aber auch
ein Gebot der gesellschaftlichen und ökonomischen Vernunft. Wir haben bereits durch die Hartz-Reform legale
Beschäftigung attraktiver gemacht.
Für unsere Volkswirtschaft sind Konzerne und Großunternehmen gewiss wichtig. Aber der Motor des
Wachstums ist und bleibt der Mittelstand.
({79})
Mittelständische Unternehmen klagen über hohe Lohnnebenkosten und über bürokratische Vorschriften. Deshalb werden wir kleine Betriebe künftig deutlich besser
stellen. Wir werden das Steuerrecht für Kleinstbetriebe
radikal vereinfachen, die Buchführungspflichten reduzieren und auch damit die Steuerbelastung kräftig senken.
({80})
Mit dem Small Business Act verbessern wir die Startbedingungen in die Selbstständigkeit.
({81})
Wer sich selbstständig macht und damit für sich und andere Arbeitsplätze schafft, der hat unsere Anerkennung
und unsere politische Unterstützung.
({82})
Es darf nicht sein - auch das gilt es klar zu machen -,
dass Unternehmensgründer und viele kleinere Unternehmen inzwischen mehr Zeit für ihre Bankengespräche
aufwenden als für die Entwicklung und Vermarktung ihrer Produkte.
({83})
Wir müssen in diesem Zusammenhang auch deutlich
machen, dass ungeachtet von Schwierigkeiten gerade im
Finanzierungssektor - Schwierigkeiten übrigens, die
auch durch Managementfehler in diesem Bereich entstanden sind und nicht durch die Politik ({84})
die in diesem Markt tätigen Institute ihre eigentliche
Aufgabe, nämlich nicht zuletzt die mittelständische
Wirtschaft mit Finanzierungsmöglichkeiten zu versorgen, besser wahrnehmen müssen, als das in der letzten
Zeit der Fall gewesen ist.
({85})
Die Bundesregierung, die staatlichen Institutionen können nicht an die Stelle der privaten Finanzierungsinstitute treten. Sie können nur ergänzend tätig werden. Deshalb haben wir mit dem Programm „Kapital für Arbeit“
und den so genannten Nachrangdarlehen, die bei der Bewertung der Kreditwürdigkeit wie Eigenkapital behandelt werden können, die Kreditbedingungen für die
Unternehmen verbessert. Aber die langfristigen Refinanzierungsmöglichkeiten müssen durch die privaten Institutionen dargestellt werden.
({86})
Es wäre ein Fehler, davon auszugehen, dass Entbürokratisierung und mehr Flexibilität immer nur von der einen Seite der Gesellschaft eingefordert werden könnten
und werden dürften. Nein, wir müssen auch das Handwerksrecht modernisieren und so verschlanken, damit
es im Handwerk wieder mehr Existenzgründungen gibt,
mehr Arbeitsplätze entstehen und die, die es gibt, etwa
durch erleichterte Betriebsübernahmen besser gesichert
werden können, als das in der Vergangenheit der Fall
war.
({87})
Ich will in diesem Zusammenhang drei mir besonders
wichtige Punkte ansprechen:
Erstens. In den Bereichen, wo es auf das Qualitätssiegel des Meisterbriefes besonders ankommt, soll und
muss er auch künftig erhalten bleiben. Das sind alle Bereiche, in denen eine unsachgemäße Ausübung Gefahren
für die Gesundheit oder das Leben anderer verursachen
könnte. Ich weiß, dass das schwer abzugrenzen sein
wird; aber es ist notwendig, auf diesem Gebiet endlich
zu Veränderungen zu kommen.
({88})
Zweitens. Tüchtigen und erfahrenen Gesellen wollen
wir künftig den Aufbau einer selbstständigen Existenz
erleichtern.
({89})
Nach zehn Jahren Berufstätigkeit sollen sie einen
Rechtsanspruch auf die selbstständige Ausübung ihres
Handwerks erhalten.
({90})
Drittens. Zwar nicht innerhalb einer GmbH, aber als
selbstständiger Einzelunternehmer braucht der Chef eines Handwerksbetriebs einen Meisterbrief. Künftig wird
es ausreichen, wenn er einen Meister in seinem Handwerksbetrieb beschäftigt. Auch das schafft mehr Flexibilität und erleichtert Firmenübernahmen, was dringend
notwendig ist.
({91})
- Sie sollten einmal zuhören.
({92})
Ich habe Ihnen klar gesagt, wo es geht und wo es bisher
nicht geht: In einer GmbH hat man bisher keine Probleme. Da gilt das, was ich gesagt habe. In einem Einzelunternehmen gilt das bisher nicht.
({93})
Also werden wir das auch für die Einzelunternehmen
möglich machen, weil das sinnvoll ist, und so geschieht
es auch.
({94})
Arbeitsrecht und Tarifverträge ergänzen sich in
Deutschland zu einem dichten Netz geregelter Arbeitsbeziehungen. Das schafft Sicherheit. Aber es ist häufig
nicht so flexibel und ausdifferenziert, wie es in einer
komplexen Volkswirtschaft im internationalen Wettbewerb sein muss. Die Verantwortlichen - Gesetzgeber wie
Tarifpartner - müssen in Anbetracht der wirtschaftlichen
Situation und der Arbeitsmarktlage ihre Gestaltungsspielräume nutzen, um Neueinstellungen zu erleichtern.
Dazu ist es unabdingbar, dass in den Tarifverträgen Optionen geschaffen werden, die den Betriebspartnern Spielräume bieten, Beschäftigung zu fördern und zu sichern.
Übrigens, in der Praxis gibt es - auch das gilt es einmal klar zu machen - eine Vielzahl erfolgreicher Beispiele für solche Öffnungsklauseln auf dem Boden des
geltenden Tarifvertragsrechtes. Diese Erfolge sollte man
nicht kleinschreiben.
({95})
Diese Erfolge haben Arbeits- und Ausbildungsplätze geschaffen und die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe verbessert.
Dabei ist klar, dass Betriebsvereinbarungen zu Standort- und Arbeitsplatzsicherung, die auf der Grundlage
von Öffnungsklauseln getroffen werden, dem Vorbehalt
der Zustimmung durch die Tarifvertragsparteien unterliegen.
({96})
Es muss aber auch klar sein, dass uns dogmatische
Unbeweglichkeit ebenso wenig voranbringt wie aggressive Angriffe auf das Tarifsystem.
({97})
In den Tarifverträgen muss durch geeignete Regelungen
ein entsprechend flexibler Rahmen geschaffen werden.
Das ist die Herausforderung für die Tarifpartner und es
ist auch ihre Verantwortung. Art. 9 des Grundgesetzes
gibt der Tarifautonomie Verfassungsrang. Aber das ist
nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verpflichtung;
denn Art. 9 verpflichtet die Tarifparteien zugleich, Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt zu
übernehmen. Hier kann und darf niemand Einzelinteressen über die gesamtgesellschaftliche Entwicklung stellen.
({98})
Ich erwarte also, dass sich die Tarifparteien entlang
dessen, was es bereits gibt - aber in weit größerem Umfang -, auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das in
vielen Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht,
wird der Gesetzgeber zu handeln haben.
({99})
Ich möchte zum Thema Arbeitsmarkt unmissverständlich klarstellen: Wir werden das Recht auf Mitbestimmung nicht antasten
({100})
und wir werden auch die Flächentarifverträge nicht abschaffen. Der Flächentarifvertrag schafft, wenn er flexibel gehandhabt wird, gleiche Konkurrenzbedingungen in
einer Branche. Er gibt den Betrieben und den Arbeitnehmern Planungssicherheit und zwingt zur beständigen
Steigerung der Produktivität.
({101})
Mir ist noch etwas wichtig - auch das gehört in eine
solche Debatte -: Ohne mutige und verantwortungsbewusste Betriebsräte - das gilt es zu unterstreichen - würden heute viele Betriebe nicht mehr existieren, meine
Damen und Herren.
({102})
Gerade in schwierigen Zeiten sind es doch Betriebsräte und auch Gewerkschaften, die ihren Beitrag dazu
leisten, dass Betriebe weiter arbeiten können. Natürlich
müssen sich die Gewerkschaften bewegen und erneuern.
Aber - auch das gilt es in einer solchen Debatte einmal
klar zu machen - sie haben so viel für Wohlstand und soziale Sicherheit geleistet, dass die Beleidigungen, die
man gelegentlich aus den Reihen von CDU/CSU und
FDP hört,
({103})
eine geschichtslose Unverschämtheit sind.
({104})
Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang in
eine bestimmte Richtung des Hauses noch einmal daran
erinnern, dass die weitaus größte Zahl unternehmerischer Misserfolge nicht die Gewerkschaften und nicht
die Betriebsräte zu verantworten haben, sondern
({105})
dass sie auch - das gehört ebenfalls in eine solche Debatte, auch wenn Sie das vielleicht nicht hören mögen auf krasse kaufmännische und strategische Fehler im
Management zurückgehen. Diese Fehler werden dann
oft genug noch mit millionenschweren Abfindungen vergütet.
({106})
- Mein Eindruck ist, dass Sie das gern unter den Teppich
kehren würden.
({107})
So wichtig es auf der einen Seite ist, Flexibilität zu fordern, so wichtig ist es auf der anderen Seite, deutlich zu
machen, dass sich auch in der bundesdeutschen Unternehmenskultur etwas bewegen und verändern muss.
Auch dafür wird zu sorgen sein.
({108})
Ich kann Ihnen gleich Beispiele liefern.
({109})
Wir haben gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden
und den Kammern für den Erhalt des dualen Ausbildungssystems gestritten - übrigens ein Ausbildungssystem, um das uns noch immer viele Länder der Welt beneiden.
({110})
Die Bundesregierung hat, wie die Länder und die Kommunen im Übrigen auch, mit diversen Förderprogrammen dafür gesorgt, dass junge Menschen eine Chance
auf Ausbildung und Arbeit bekommen. Wir waren uns
mit den Verbänden der Wirtschaft einig, dass die Verantwortung dafür, dass jede und jeder am Anfang ihres oder
seines Berufslebens nicht in Arbeitslosigkeit fällt, nicht
allein bei der Politik abgeladen werden kann, sondern
dass diese Verantwortung auch bei den Betrieben liegt.
({111})
Aber inzwischen fehlen schon wieder rund 110 000 betriebliche Ausbildungsplätze - Ausbildungsplätze, die
nicht von der Politik geschaffen werden können. 30 Prozent aller Unternehmen bilden aus, viele davon über Bedarf, und ich bin dankbar dafür.
({112})
Aber 70 Prozent der Unternehmen entziehen sich ihrer
sozialen und übrigens auch ökonomischen Verantwortung. Sie sägen damit an dem Ast, auf dem sie selber sitzen.
({113})
Es gehört zum Kernbestand der sozialen Marktwirtschaft, dass sich die unternehmerische Verantwortung
nicht nur auf ein gutes Jahresergebnis erstreckt. Unternehmer und Unternehmen tragen auch gesellschaftliche
Verantwortung. Diese Verantwortung zeigt sich zunächst
und vor allem im Engagement für diejenigen, die am
Anfang ihres Berufslebens stehen. Das ist ein zentrales
Gebot der Wirtschaftsethik, aber auch der blanken Nützlichkeit für unsere Gesellschaft.
({114})
Der Wirtschaft kann nicht erlaubt werden, sich zurückzuziehen, sondern sie muss zu der getroffenen Verabredung zurückkehren.
({115})
Diese lautet: Jeder, der einen Ausbildungsplatz sucht
und ausbildungsfähig ist, muss einen Ausbildungsplatz
bekommen! Davon können wir nicht abweichen.
({116})
Ebenso wie ich die Forderung an die Tarifparteien gerichtet habe, Öffnungsklauseln zu schaffen, damit betriebliche Bündnisse entstehen können, muss ich die
Forderung an die Wirtschaft richten, die gegebene Zusage einzuhalten. Wenn nicht, werden wir auch in diesem Bereich zu einer gesetzlichen Regelung kommen
müssen.
({117})
Jeder weiß, ich bin kein Freund der Ausbildungsabgabe. Aber ohne eine nachhaltige Verbesserung der
Ausbildungsbereitschaft und ohne die Übernahme der
zugesagten Verantwortung für diesen Bereich ist die
Bundesregierung zum Handeln verpflichtet und sie wird
das auch tun.
({118})
Dazu gehört aber auch: Wer bereit ist auszubilden,
dem darf das nicht deshalb versagt werden, weil er bestimmte formale Voraussetzungen nicht erfüllt.
({119})
Deshalb werden wir die entsprechenden Regelungen
so umgestalten, dass jeder, der einen Betrieb mindestens
fünf Jahre lang erfolgreich geführt hat, auch ausbilden
darf.
({120})
Genauso klar muss sein: Junge Menschen haben ein
Recht auf neue Chancen, auf Ausbildung und dieses
Recht muss ihnen die Gesellschaft gewähren. Diesem
Recht - das muss genauso klar festgestellt werden - entspricht allerdings die Pflicht, zumutbare Angebote auch
anzunehmen. Geschieht das nicht, wird das zu Sanktionen führen müssen. Wir werden dafür sorgen, dass das
funktioniert.
Solidarität, der Schutz der Schwächeren und die Absicherung gegen Lebensrisiken sind nicht nur ein Verfassungsauftrag. Sie sind nach meiner festen Überzeugung
das Fundament unserer Gesellschaftsordnung.
({121})
Nicht erst seit den letzten Wochen erleben wir eine
ganz und gar unsinnige Debatte, in der so getan wird, als
stünden wir vor der Alternative, den Sozialstaat abzuschaffen oder so zu erhalten, wie er ist. Wer angesichts
radikal veränderter Bedingungen der ökonomischen Basis unserer Gesellschaft die Frage so stellt, der hat bereits
verloren.
({122})
Es liegt doch auf der Hand, dass eine Gesellschaft wie
die unsere eine wirklich gute Zukunft nur als Sozialstaat
haben kann. Anders als in einem Sozialstaat lässt sich
Zusammenarbeit in komplexen Ordnungen, in einer Gesellschaft, in der sich der Altersaufbau, die Art und
Dauer der Arbeitsverhältnisse, aber auch die kulturellen
Gegebenheiten dramatisch verändern, gar nicht organisieren. Aber wir müssen aufhören - das ist der Kern dessen, was wir vorschlagen -, die Kosten von Sozialleistungen, die der Gesellschaft insgesamt zugute kommen,
immer nur und immer wieder dem Faktor Arbeit aufzubürden.
({123})
Gewiss: Wir werden erhebliche Einsparungen durch
Umstrukturierungen im System und durch Abbau von
Bürokratie erreichen. Aber es wird unausweichlich nötig
sein, Ansprüche und Leistungen zu streichen, Ansprüche
und Leistungen, die schon heute die Jüngeren über Gebühr
belasten und unserem Land Zukunftschancen verbauen.
({124})
Die Menschen in den Betrieben und Büros erwarten,
dass wir die Belastung durch Steuern und Abgaben senken. Ich betone noch einmal: Mit den Stufen 2004 und
2005 werden wir das tun. Durch unsere Maßnahmen zur
Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme senken wir
die Lohnnebenkosten. Das ist gewiss nicht immer einfach und die Maßnahme, die wir zusätzlich durchführen
müssen, ist es erst recht nicht. Wir werden das Arbeitslosengeld für die unter 55-Jährigen auf zwölf und für die
über 55-Jährigen auf 18 Monate begrenzen, weil dies
notwendig ist, um die Lohnnebenkosten im Griff zu behalten. Es ist auch deswegen notwendig, um vor dem
Hintergrund einer veränderten Vermittlungssituation Arbeitsanreize zu geben.
({125})
- Natürlich gibt es darüber keine Begeisterung. Das
kann doch gar nicht anders sein und das habe ich
überhaupt nicht anders erwartet. Es gibt gelegentlich
Maßnahmen, die ergriffen werden müssen und die keine
Begeisterung auslösen, übrigens auch bei mir nicht.
Trotzdem müssen sie sein. Deswegen werden wir sie
auch umsetzen.
({126})
Um auf die Rente zurückzukommen: Die Reform der
Rentenversicherung im Jahr 2001 war sicherlich eine
der wichtigsten rentenpolitischen Entscheidungen seit
der Einführung der dynamischen Rente 1957. Weil darüber so viel und so viel Unsinniges verbreitet worden ist,
will ich sagen: Bis Ende vergangenen Jahres wurden im
Bereich der individuellen Altersvorsorge 3,4 Millionen
Verträge abgeschlossen; bei der betrieblichen Altersvorsorge waren es etwa 2 Millionen. Das sind, bezogen auf
die 35 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in unserem Land, immerhin 15 Prozent.
({127})
Das ist nicht genug - keine Frage. Aber nach einem Jahr
ist das eine ganze Menge.
({128})
Wir müssen uns endlich einmal entscheiden, ob wir einer Reformmaßnahme in einem schwierigen Umfeld, in
einem häufig rechtlich und auch politisch sehr vermachteten Umfeld Zeit geben wollen, ihre Wirkung zu entfalten,
oder ob wir uns nur dranmachen wollen, jeden Ansatz von
Reformen gleich wieder zu zerreden, weil er dem einen zu
weit und dem anderen nicht weit genug geht.
({129})
Gleichwohl gilt, bezogen auf dieses System, dass wir
in unseren Annahmen zu pessimistisch und zu optimistisch zugleich waren: zu optimistisch, was die Beschäftigungsentwicklung anging, und zu pessimistisch im Bezug auf die durchschnittliche Lebenserwartung, die
glücklicherweise - aber mit Problemen für die Altersvorsorge - immer größer wird. Aus diesen beiden Gründen ist es nötig, bei der Rentenversicherung nachzujustieren. Dabei muss der Grundsatz beibehalten werden,
dass die Renten für die alten Menschen so sicher wie nur
irgendwie möglich gemacht werden und die Beiträge bezahlbar bleiben. Das heißt auch, dass wir noch in diesem
Jahr von Herrn Rürup ergänzende Vorschläge erwarten,
wie die Rentenformel angesichts dieser Veränderungen
neu zu fassen und entsprechend anzupassen ist.
({130})
Ich denke, wir sind uns klar darüber, dass alle, aber
auch wirklich alle in der Gesellschaft einen Beitrag leisten müssen. Es betrifft natürlich die Mitglieder der Bundesregierung und auch andere. Deshalb wird es - kein
Zweifel - auch für die Gehälter der Bundesminister und
der Staatssekretäre eine erneute Nullrunde geben.
({131})
Ich denke, es ist selbstverständlich, dass das politische
Personal von Einschnitten nicht verschont bleiben kann.
Noch einen Aspekt: Wie ich höre, haben sich die Länder darauf verständigt, dass auch die Beamten einen Beitrag zur Erneuerung des Sozialstaates und zur Konsolidierung der Länderhaushalte leisten sollen und leisten
werden. Der Bund, der hier die Gesetzgebungsarbeit zu
machen hat, ist durchaus bereit, auf die Vorschläge, die
die Länder untereinander offenbar vereinbart haben, positiv einzugehen. Denn klar ist: Auch aus diesem Bereich
heraus muss es Solidarität geben.
({132})
Es gibt kaum einen Bereich der Politik, den die Menschen mit so hohen Erwartungen, aber auch mit so großen Sorgen betrachten wie die Reformen des Gesundheitswesens. In der Tat, die Reform der gesetzlichen
Krankenversicherung ist der wichtigste, auch notwendigste Teil der innenpolitischen Erneuerung, weil wir nur
mit einer Reform das hohe Niveau der medizinischen
Versorgung für die Zukunft werden sichern können.
Kein Zweifel: Unser heutiges System der gesetzlichen
Krankenversicherung mit mehr als 70 Millionen Mitgliedern ist immer noch enorm leistungsfähig. Qualität und
Standards im deutschen Gesundheitswesen sind im internationalen Vergleich immer noch vorbildlich.
Aber Krisenzeichen auch in diesem System sind unübersehbar. Einnahmen und Ausgaben der Krankenkassen entwickeln sich weiter auseinander. Vor allem gilt:
Die Strategie der Kostendämpfung ist eindeutig an ihre
Grenzen gestoßen. Dabei werden 20 Prozent der Kosten
durch Über- und Fehlversorgung verursacht. Jeder kennt
das und jeder hat Beispiele vor Augen. Wir werden deshalb Änderungen im Interesse der Patienten durchsetzen,
auch und gerade weil das deutsche Gesundheitssystem
verkrustet und in einer Weise vermachtet ist wie kaum
ein anderes gesellschaftliches System.
({133})
Ich hoffe sehr, dass wir in diesem Hohen Haus Einigkeit erzielen können: Das Gefühl einer gemeinsamen
Verantwortung im Gesundheitssystem ist nahezu verschwunden. Viele agieren nach dem Grundsatz des raschen, auch des bedenkenlosen Zugriffs. Eine Mentalität
der Selbstbedienung hat das Gefühl der Solidarität verdrängt. Deshalb sage ich: Hier ist auch in den Haltungen
aller Akteure ein Umdenken notwendig. Wir haben Einnahmeverluste aufgrund hoher Arbeitslosigkeit; der medizinische Fortschritt, der an sich erfreulich ist, wird die
Kosten im Gesundheitssektor weiter nach oben treiben.
Zudem steigt die Zahl der älteren Mitbürgerinnen und
Mitbürger weiter an, die im Durchschnitt weniger einzahlen - das kann auch nicht anders sein -, aber weitaus
mehr Leistungen in Anspruch nehmen.
Anderen Gesellschaften ging oder geht es ganz ähnlich. Dabei zeigt sich die Alternative: Entweder wir lassen die Entwicklung treiben - dann bleibt nur die Einschränkung medizinischer Leistungen oder eine vom
Alter abhängige Zuteilung von medizinischer Versorgung - oder wir entschließen uns zu Reformen, die das
hohe Gut Gesundheit für alle finanzierbar halten. Der
erste Weg ist nicht der Weg, den wir gehen wollen.
({134})
Für uns bleibt es beim Grundsatz: Jede und jeder erhalten die notwendige medizinische Versorgung, und zwar
unabhängig von Alter und Einkommen.
({135})
Das erwarten die Menschen von uns. Sie erwarten auch,
dass wir am Solidarprinzip in der Krankenversicherung
prinzipiell festhalten.
Zur Erneuerung des Gesundheitswesens brauchen wir
aber einschneidende Kurskorrekturen. Ein Teil der notwendigen Maßnahmen wird im zuständigen Ministerium
vorbereitet. Zum Finanzierungsteil wird die RürupKommission bis Mai ihre Vorschläge vorlegen.
Ein paar wesentliche Punkte sind schon jetzt zu nennen. Erfolg werden wir nur haben, wenn zwei Ziele unstrittig sind: hohe Qualität der Gesundheitsversorgung
und kostenbewusstes Verhalten von Ärzten, Krankenkassen, Kliniken, Apothekern, Pharmaunternehmen, aber
auch der Versicherten.
Der Staat muss dabei helfen, den Abbau von Verkrustungen zu ermöglichen. Er muss mehr Wettbewerb im
System zulassen und fördern
({136})
und kostentreibende Monopolstrukturen beseitigen.
({137})
Hierzu gehört auch das Vertragsmonopol der Kassenärztlichen Vereinigungen.
({138})
Dieses Vertragsmonopol hat sich überlebt. Wir werden
es den Krankenkassen deshalb ermöglichen, Einzelverträge mit den Ärzten abzuschließen.
({139})
Auf der anderen Seite hat ein System mit 350 unterschiedlichen Krankenkassen ebenfalls Modernisierungsbedarf.
({140})
Klar gesagt: So viele Krankenkassen werden es nicht
bleiben können. Wir werden hier auf die Schaffung überschaubarer und leistungsfähiger Strukturen dringen.
Qualitätssicherung wird die zweite große Ressource
sein, die wir ausschöpfen werden. Die Sicherung von
Qualität gehört zu den Schlüsselaspekten einer wirklichen Reform der gesetzlichen Krankenversicherung.
Wir brauchen klare Standards; diese werden wir schaffen.
Darüber hinaus werden wir - das ist für viele
schmerzlich - den Leistungskatalog überarbeiten und
Leistungen streichen. Wir müssen neu bestimmen, was
künftig zum Kernbereich der gesetzlichen Krankenversicherung gehört und was nicht.
Es gibt Vorschläge, den Zahnersatz oder gar die Zahnbehandlung nicht mehr von den Krankenkassen zahlen
zu lassen. Ich halte das nicht für richtig.
({141})
Wir haben ein System, das Eigenvorsorge bei der
Zahnpflege belohnt. Das soll so bleiben. Ich möchte
nicht, dass man den sozialen Status der Menschen wieder an ihren Zähnen ablesen kann.
({142})
Ich habe mich lange mit einer Forderung auseinander
gesetzt, die von vielen Seiten erhoben worden ist, nämlich der Forderung, private Unfälle aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung herauszunehmen. Dies ist eine Forderung, die wirklich eine
ernsthafte Debatte lohnt. Ich zweifle aber daran, ob diese
Forderung umgesetzt werden sollte,
({143})
weil es fraglich ist, ob eine trennscharfe Abgrenzung
zwischen krankheits- und unfallbedingten Leiden überhaupt möglich ist.
({144})
Ich zweifle auch daran, ob die an sich wohlfeile Forderung, Extremsportarten aus dem Leistungskatalog herauszunehmen, viel bringt. Zudem ist auch hier fraglich,
ob Abgrenzungen möglich sind.
({145})
Mir ist beispielsweise nicht einsichtig, warum Sportunfälle insgesamt einer besonderen Versicherungspflicht unterworfen werden sollten. Damit würden wir
vor allem den Breitensport treffen,
({146})
einen Bereich, der zur Gesundheitsförderung und zur
Krankheitsprävention beiträgt. Er ist zudem gerade für
die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sehr
wichtig.
Anders beurteile ich die Frage der privaten Vorsorge
im Hinblick auf das Krankengeld. Hier handelt es sich
um einen klar abgrenzbaren Kostenblock, der auch für
die Zukunft überschaubar bleibt. Die Kostenbelastung
für den Einzelnen durch eine private Versicherung bliebe
beherrschbar. Medizinisch notwendige Leistungen würden nicht berührt.
Außerdem werden wir das tun müssen, was wir im
Rahmen der Rentenstrukturreform vorgemacht haben:
die Befreiung der gesetzlichen Krankenversicherung von
einer Reihe so genannter versicherungsfremder Leistungen.
({147})
Dazu gehört zum Beispiel das Mutterschaftsgeld, das aus
dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden
muss.
({148})
Wir brauchen, glaube ich, auch ein neues Nachdenken
- das will ich hier sehr deutlich sagen - über die öffentliche Debatte über Zuzahlungen und Selbstbehalte. Formen von Eigenbeteiligungen sind im geltenden System
lange bekannt. Sie haben Steuerungswirkung.
({149})
Sie halten Versicherte zu kostenbewusstem Verhalten an.
({150})
- Herr Glos, hören Sie einmal einen Moment zu! - Ich
sage das doch, weil wir in diesem Bereich ohnehin nur
weiterkommen, wenn die Mehrheit dieses Hauses und
die Mehrheit des Bundesrats entschlossen sind, eine
durchgreifende Reform auch durchzusetzen; sonst geht
es ja nicht.
({151})
Weil das so ist und weil ich weiß, dass Sie ganz bestimmte - für Sie elementare - Forderungen aufgestellt
haben, macht es doch aus meiner Sicht - ich will eine
solche Reform - keinen Sinn, so zu tun, als seien die für
alle Zeiten indiskutabel. Das brächte doch niemanden
weiter.
({152})
Weil ich weiterkommen will, werde ich die Punkte, die
für Sie existenziell sind, zumindest in die Diskussion
einbeziehen müssen; das kann doch nur vernünftig sein.
({153})
Wenn Sie sagen, das sei eine Veränderung in der einen oder anderen Position, dann gebe ich Ihnen Recht.
Ich stehe doch hier, weil es Veränderungen geben muss,
weil das die angemessene Reaktion auf veränderte Zustände in unserer Gesellschaft ist.
({154})
Gerade weil Eigenverantwortung gestärkt werden
muss, sollten wir - ich komme jetzt zu den Instrumenten Instrumente wie differenzierte Praxisgebühren und
Selbstbehalte nutzen. Menschen mit geringem Einkommen, Kinder, auch chronisch Kranke - auch darüber sind
wir uns, glaube ich, einig - müssen davon ausgenommen
werden.
({155})
Durchsetzen muss sich schließlich die Erkenntnis,
dass sich Gesundheitspolitik nicht auf die Heilung von
Krankheiten beschränken darf, sondern dass der Prävention Vorrang eingeräumt werden muss.
({156})
Wir sollten uns dabei am Vorbild der skandinavischen
Länder orientieren, die durch systematische Förderung
gesundheitsbewussten Verhaltens wichtige Beiträge zur
Kostensenkung im Gesundheitswesen erzielt haben.
({157})
Nicht ansatzweise ausgeschöpft scheinen mir auch die
Reserven zu sein, die in einer Modernisierung der Kommunikationstechnologie in diesem Bereich liegen.
({158})
Der elektronische Patientenausweis und die elektronische Krankenakte sind nicht nur technologisch anspruchsvolle Projekte, die wir bis spätestens 2006 funktionsfähig haben wollen; sie werden auch dazu
beitragen, kostenaufwendige Doppel- und Mehrfachversorgung zu vermeiden und auf diese Weise die Qualität
von Behandlungen zu erhöhen.
({159})
Meine Damen und Herren, Sie verstehen, dass ich mit
bezifferten Prognosen vorsichtig bin.
({160})
Durch die Umsetzung der vorgeschlagenen ordnungsund strukturpolitischen Maßnahmen können wir es
schaffen, die Beiträge zur Krankenversicherung unter
13 Prozent zu drücken.
({161})
Ich habe das, was ich „Agenda 2010“ genannt habe,
vorgestellt. Ich habe beschrieben, was wir leisten müssen, um unsere Schwierigkeiten zu überwinden - Schritt
für Schritt, gar keine Frage, aber wir müssen das anpacken - und Deutschlands Stärke neu zu entwickeln. Unser Land hat - daran kann doch kein Zweifel bestehen große Potenziale, Potenziale, die wir durch eine gemeinschaftliche Anstrengung wecken können und wecken
müssen.
({162})
Wir verlangen der Gesellschaft heute etwas ab, aber wir
tun es, damit den Menschen neue Chancen eingeräumt
werden, Chancen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und
Höchstleistungen zu erbringen. Diese Chancen wollen
wir uns erarbeiten. Das heißt zuerst: Chancen für Bildung und Investitionen in Forschung und Entwicklung.
({163})
Andere Länder haben uns vorgemacht, dass weit reichende Strukturreformen mit verstärkten Investitionen in
Bildung und Forschung einhergehen müssen, wenn man
dauerhaft Erfolg haben will. Aber Folgendes gilt es miteinander zu überwinden: In keinem vergleichbaren Industrieland entscheidet die soziale Herkunft in so hohem
Maße über die Bildungschancen wie in Deutschland.
Das darf nicht so bleiben.
({164})
Es darf nicht so bleiben, dass in Deutschland die Chance
des Gymnasialbesuchs für einen Jugendlichen aus der
Oberschicht sechs- bis zehnmal so hoch ist wie für einen
Jugendlichen aus einem Arbeiterhaushalt.
({165})
Meine Damen und Herren, es ist ein Skandal, dass jeder vierte ausländische Schüler ohne Schulabschluss
bleibt. Auch das müssen wir im Interesse der jungen
Menschen, aber auch im Interesse der Kohäsion unserer
Gesellschaft ändern.
({166})
Wir sollten bei allem Respekt vor den unterschiedlichen Kompetenzen, die ich kenne und respektiere, zu
einer nationalen Gesamtanstrengung kommen, um Standards zu setzen
({167})
und die Defizite, die ich beschrieben habe, zu überwinden. Wir brauchen das Angebot einer Ganztagsbetreuung
- anders wird es nicht zu machen sein -, die die pädagogischen Chancen dieser Schulform wirklich nutzt. Wir
brauchen - nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen ein neues Interesse an naturwissenschaftlich-mathematischen Fächern.
({168})
Es macht Sinn, wenn sich die Bundesregierung und die
Ministerpräsidenten der Länder auf eine gemeinsame
Strategie in diesem Bereich verständigen und sie dann
gemeinsam - jeder in seinem Bereich - materiell unterlegen.
Wir werden unser Wohlstandsniveau nur dann halten
können, wenn wir in dieser schwierigen wirtschaftlichen
Situation verstärkt in Bildung und Forschung investieren.
({169})
Das war der Grund dafür, warum in der vergangenen Legislaturperiode in der Forschungspolitik umgesteuert
und der Etat dieses Ministeriums um 25 Prozent erhöht
wurde. Ich weiß, in diesem Jahr haben wir aus Gründen
der Konsolidierung und der Schwierigkeiten, die Sie alle
kennen, kürzer treten müssen. Aber das darf nicht so
bleiben. Wir werden und müssen die Haushalte der großen Forschungsinstitutionen in den nächsten Jahren jährlich wieder um 3 Prozent erhöhen.
({170})
Es ist klar geworden, dass uns die Ereignisse der vergangenen anderthalb Jahrzehnte dazu gezwungen haben,
unseren Blick auf uns selbst und auf die sich verändernde Welt zu richten. Aber das reicht nicht mehr.
Heute ist es für unser Land erforderlich, Strukturen zu
verändern.
({171})
Wir haben die Pflicht, den nachfolgenden Generationen die Chancen auf ein gutes Leben in einer friedlichen
und gerechten Welt nicht durch Unbeweglichkeit zu verbauen. Das ist der Grund dafür, dass wir den Mut zu Veränderungen brauchen.
({172})
Unser Land muss wieder zu einem Zentrum der Zuversicht in Europa werden - unseretwegen, aber auch Europas wegen.
Ich kann mir vorstellen, dass es in Verbänden und anderswo viele Neunmalkluge gibt, die bereits unterwegs
sind, um neue Forderungen zu stellen, noch ehe die bereits erfüllten Forderungen wirklich umgesetzt worden
sind. Ihnen allen sage ich: Nicht alle Probleme, vor denen wir heute stehen, sind erst gestern entstanden. Nicht
alle Lösungen, über die wir heute diskutieren, können
schon morgen wirken. Aber ich bin entschlossen, nicht
mehr zuzulassen, dass Probleme auf die lange Bank geschoben werden, weil sie kaum überwindbar erscheinen.
({173})
Meine Damen und Herren, ich will nicht hinnehmen,
dass Lösungen an Einzelinteressen scheitern, weil die
Kraft zur Gemeinsamkeit nicht vorhanden ist.
({174})
Wir Deutsche können stolz sein auf die Kraft unserer
Wirtschaft, auf die Leistungen unserer Menschen, auf
die Stärke unserer Nation wie auch auf die sozialen Traditionen unseres Landes.
({175})
Wir haben alles, um eine gute Zukunft für unsere Kinder
zu schaffen. Wenn alle mitmachen und alle zusammenstehen, dann werden wir dieses Ziel erreichen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({176})
Ich erteile das Wort der Kollegin Angela Merkel,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, ich habe Ihnen 90 Minuten in aller Ruhe zugehört. Ich habe Ihnen zugehört, wie Sie sich Schritt für
Schritt relativ mühevoll durch Ihr Referat gearbeitet haben. Auch der Vernunftbeifall, der nur zu erklären ist,
weil es bei Ihnen keine Alternativen gibt,
({0})
kann nicht darüber hinwegtäuschen: Der große Wurf für
die Bundesrepublik Deutschland war das mit Sicherheit
nicht.
({1})
Sie haben zum großen Teil nur Bekanntes wiederholt
und vage Andeutungen gemacht. Aber immer dann,
wenn es interessant und spannend wurde, gab es eisiges
Schweigen auf Ihrer Seite in diesem Hause.
({2})
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Ihre
Politik, Herr Bundeskanzler, nicht aus dem Verwalten
des Augenblicks herauskommt, aus dem Hetzen von Ereignis zu Ereignis, dann war es das Theater um diese Debatte.
({3})
Es ist mir auch heute nicht ganz klar geworden, wer
eigentlich aus der Krise herausgeführt werden soll:
({4})
Sie, Herr Bundeskanzler, oder das Land, die Bundesrepublik Deutschland.
({5})
Sie haben noch immer nicht verstanden, dass es Situationen im Leben gibt, in denen Reden Silber, Handeln dagegen Gold ist.
({6})
Meine Damen und Herren, nur wenige hundert Meter
von hier entfernt, im Bundesrat, hätten Sie heute zeigen
können, dass es Ihnen mit einer Debatte, die wirklich
zum Fortschritt für Deutschland führt, ernst ist.
({7})
Sie hätten das Steuervergünstigungsabbaugesetz zurückziehen und sagen sollen, dass Steuererhöhungen in
einer solchen Situation Gift für die Wirtschaft sind. Das
wäre ein Zeichen gewesen.
({8})
Dass einige Ihrer Ministerpräsidenten hier sitzen und
nicht da, wo das Gesetz beraten wird, zeigt, dass sie das
genauso sehen.
({9})
Sie haben dieses Gesetz nicht zurückgezogen. Deshalb sage ich Ihnen voraus, dass wir es tun werden, weil
uns Deutschland am Herzen liegt.
({10})
Wir werden mit unserer Mehrheit im Bundesrat dafür
sorgen, dass dieses zentrale Vorhaben Ihrer Regierung,
das kontraproduktiv ist, nicht durchkommt; denn wir
wollen, dass Ihre Politik in Deutschland nicht länger betrieben wird und dass unser Land mit oder ohne Sie endlich wieder nach vorne kommt, Herr Bundeskanzler.
({11})
Mir ist nicht ganz klar geworden, ob Sie sich der Dimension der Krise, in der wir uns befinden, wirklich bewusst sind.
({12})
Herr Bundeskanzler, in den letzten Tagen vor dieser
Rede haben Sie immer wieder von Opfern gesprochen.
Viele, alle und nicht nur wenige müssten Opfer bringen.
Ich gebe Ihnen ganz einfach zu bedenken, dass es schon
unendlich viele Opfer Ihrer Politik gibt: 4,7 Millionen Arbeitslose sind Opfer Ihrer Politik.
({13})
Das knappe Wirtschaftswachstum in diesem Land ist ein
Opfer Ihrer Politik.
({14})
40 000 Pleite gegangene Firmen sind Opfer Ihrer Politik.
Die Kommunen sind Opfer Ihrer Politik.
({15})
Ich sage Ihnen vor allen Dingen eines - auch das hat
in der Rede vollkommen gefehlt -: Zuversicht, Optimismus und der Glaube an eine gute Zukunft sind in den
vergangenen fünf Jahren in Deutschland verloren gegangen. Das ist eines unserer wesentlichen Probleme.
({16})
Die Krise, in der wir uns befinden - ich glaube, wenn
wir es nüchtern beschreiben, müssen wir es so nennen -,
ist eine Krise der inneren Verfasstheit dieser Bundesrepublik Deutschland.
({17})
Sie ist insbesondere eine Krise der Wirtschafts- und Sozialpolitik, zugleich aber auch eine Krise der historischen Ausrichtung unserer Sicherheits- und Außenpolitik.
Meine Damen und Herren, wo stehen wir denn heute?
Wir müssen es uns noch einmal vergegenwärtigen: Technologie, Digitalisierung und die Informationsgesellschaft haben diese Welt dramatisch verändert,
({18})
sie haben zu einer Beschleunigung der Globalisierung
geführt und sie wirken in jede Familie hinein. Unser Leben wird sich auch in den nächsten Jahren ändern.
({19})
Schauen Sie sich einmal an, wie in den verschiedenen
Ländern der Welt auf diese Veränderungen reagiert
wird.
({20})
Irland ist vom Armenhaus Europas zu einem der prosperierendsten Länder geworden. Die USA halten sich seit
Jahrzehnten in einem überdurchschnittlichen Aufschwungprozess.
({21})
China, Hongkong und Taiwan - das alles sind Länder,
die die Chancen der Globalisierung nutzen. Wie steht es
um Deutschland? In Deutschland - das ist unsere Situation - ist die Zeit scheinbar stehen geblieben.
({22})
Ich sage Ihnen ganz selbstkritisch - auch das gehört
dazu -: Vielleicht hat manches auch schon zu unserer
Regierungszeit begonnen.
({23})
Mit Sicherheit hat sich der Prozess in den letzten fünf
Jahren aber in dramatischer Art und Weise verschlimmert. Das ist das Problem, über das wir heute zu debattieren haben.
({24})
Deutschland steht zweifellos an einem historischen
Scheideweg. Wir müssen deshalb sagen, was Politik leisten kann und was unser Gestaltungsanspruch ist.
({25})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei aller verständlichen Erregung bitte ich darum, der Rednerin die Chance
zu geben, gehört zu werden.
({0})
Sie können wirklich davon profitieren, wenn Sie zuhören.
({0})
Der Gestaltungsanspruch von Politik kann die Menschen in diesem Lande nur erreichen, wenn wir unsere
Ziele klar und eindeutig formulieren. Deshalb sage ich
für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Ich will, dass
Deutschland innerhalb von zwei Legislaturperioden, das
heißt, bis zum Ende dieses Jahrzehnts, bis zum Jahre
2010, wieder an der Spitze in Europa steht,
({1})
und zwar nicht als Selbstzweck, sondern weil es um die
Menschen in diesem Lande geht. Wir wollen an die
Spitze Europas!
({2})
Dazu brauchen wir mehr als irgendeine Agenda. Wir
brauchen einen Erfolgsweg. Wir wollen erreichen, dass
Deutschland beim Wachstum unter den ersten drei Ländern an der Spitze steht. Ich sage ganz konkret: Ich will
erreichen, dass Deutschland bis 2010 seinen Bürgern so
viel Arbeit verschaffen kann, wie es die Niederländer,
die Briten und die Dänen schon heute schaffen. Das sind
keine außereuropäischen, sondern europäische Beispiele. Ich will, dass wir für Bildung und Forschung so
viel ausgeben, wie es die Finnen schon heute tun. Das
bringt uns wieder an die Spitze Europas.
({3})
Uns alle in diesem Hause eint, dass wir nicht wissen,
wie die Welt im Jahre 2010 aussieht. Wir wissen aber,
dass der Erfolg nur mit einer freiheitlichen, leistungsorientierten und gerechten Wirtschaftsordnung zu schaffen ist. Herr Bundeskanzler, das Wort „Freiheit“ ist pikanterweise in Ihrer ganzen Rede nicht ein einziges Mal
vorgekommen.
({4})
Ich weiß, dass wir dafür eine nationale Kraftanstrengung brauchen. Bei allem, was aus unserer Sicht in die
richtige Richtung weist - ich komme in Einzelfällen darauf zurück -, sagen war, dass wir mitmachen. Wir bieten Ihnen eine nationale Kraftanstrengung an. Sie ist
mehr als das, was Sie heute hier vorgelegt haben.
({5})
Weil wir das wissen, hat unsere Fraktion am
10. Februar dieses Jahres einen Dreistufenplan beschlossen.
({6})
Wir haben festgelegt, was wir in der ersten Stufe tun
müssen. Wir müssen im Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen, bei der Zurückziehung der Steuererhöhungen und
bei der Entbürokratisierung Sofortmaßnahmen ergreifen.
Darauf muss eine zweite Stufe folgen, diese reicht bis
2004. Bis dahin müssen wir es schaffen, die sozialen
Sicherungssysteme wetterfest zu machen. Wir müssen
eine Offensive für Forschung und Bildung starten, damit
wir endlich die Grundlagen für einen Aufstieg legen.
({7})
Vor uns steht eine weitere schwierige Aufgabe. Machen wir uns nichts vor: All das, was heute hier gesagt
wurde, reicht bei weitem nicht aus, um die demographi2496
schen Veränderungen unserer Gesellschaft wirklich zu
beschreiben.
({8})
Wir brauchen weitere steuerliche Entlastungen. Wir
brauchen Entbürokratisierung und Privatisierung. Wir
brauchen auch eine neue Ordnung der Aufgabenverteilung im Föderalismus. All das steht bis 2010 auf der Tagesordnung. Über vieles habe ich von Ihnen nichts gehört.
({9})
Herr Bundeskanzler, die Vorgeschichte dieser Erklärung zeigt deutlich: Herausreden wird Ihnen nichts mehr
nutzen.
({10})
Herr Bundeskanzler, auf der CeBIT wurden Sie gefragt, wann es mit Deutschland denn wieder aufwärts
geht. Darauf haben Sie gesagt: Am Freitag.
({11})
Herr Bundeskanzler, ich kenne Sie. In einem halben Jahr
werden Sie sagen, Sie hätten ja nicht gesagt, an welchem
Freitag es sein sollte.
({12})
Auch wenn mancher Punkt in Ihrem Vortrag bedenkenswert, vielleicht sogar richtig ist, sehe ich das Problem - ({13})
- Entschuldigung, Sie wollen die Zusammenarbeit. Sie
haben uns doch vorgeworfen, wir seien nicht konstruktiv. Jetzt zeigt sich, dass Sie nicht Recht haben. Sie
schimpfen ja schon, wenn man andeutet, dass dies passieren könnte. Was wollen Sie denn nun? Sie wollen eine
Opposition so, wie Sie sie sich malen würden. Wir sind
aber anders. Uns geht es um Deutschland und nicht um
Klamauk!
({14})
Um die vor uns liegenden Herausforderungen meistern zu können, brauchen wir ein Verständnis dessen,
was passiert ist. Der Zusammenbruch des Kalten Krieges
ist kein Zufall. Er ist der Sieg der Freiheit über die Diktaturen gewesen. Er ist der Sieg der Informationsgesellschaft und der ökonomischen Überlegenheit des Westens
über die sozialistischen Modelle gewesen.
Das alles führt zu einer grundlegenden Veränderung
der Welt. Diese Veränderung wird nach meiner festen
Überzeugung unsere gesamte Wirtschaftsordnung auf
eine neue Ebene heben. Ich bezeichne diese Ebene als
bedeutend, weil wir, von der sozialen Marktwirtschaft
kommend - mit dem Erbe Ludwig Erhards und mit allem, was wir geschaffen haben -, sagen müssen: Wir
brauchen eine „neue soziale Marktwirtschaft“ im
21. Jahrhundert.
({15})
Herr Bundeskanzler, deshalb brauchen wir so etwas
wie die zweiten Gründerjahre der Bundesrepublik
Deutschland. Wir brauchen einen Gründergeist. Wir
brauchen eine Offensive für Selbstständigkeit. Bei dem,
was Sie uns eben vorgetragen haben, wurde das nicht
spürbar.
({16})
Vor allen Dingen - das muss man leider sagen - ist es
das Gegenteil dessen, was Sie uns seit der Bundestagswahl geboten haben.
Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Christa Sager,
({17})
hat beim politischen Aschermittwoch gesagt:
Karneval ist Anarchie auf Kommando. Ich bin sicher, das haben aber manche auch beim Antritt der
Regierung in Berlin gedacht.
Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht, Frau Sager. Am
Aschermittwoch soll das sogar einmal vorkommen.
({18})
Genau das ist der Unterschied: Wir brauchen keine Anarchie auf Kommando, sondern Gründergeist in Freiheit,
Selbstständigkeit und Kreativität für diese Bundesrepublik.
({19})
Was wichtig ist und was ich bei Ihnen vermisst habe,
ist die Tatsache, dass man dann, wenn man die Menschen mitnehmen möchte, für das Dach eines gesellschaftlichen Modells, wie es die „neue soziale Marktwirtschaft“ ist, Leitideen braucht, die den Menschen
sagen, nach welchen Prinzipien die Veränderungen vonstatten gehen. Für mich ist die erste Leitidee: Wir brauchen einen konsequenten Kurs der Investitionen in die
Zukunft.
Vom Bundeskanzler haben wir etwas über Investitionen gehört. Die Wahrheit ist doch: Die Investitionsquote
im Bundeshaushalt dieses Landes ist auf einem historischen Tiefpunkt, wenn man die Hilfen für die Flutopfer
herausrechnet. Sie liegt bei unter 10 Prozent des Bundeshaushaltes. Das ist die Wahrheit.
({20})
- Herr Müntefering, Ihr Satz „Die Bundesinvestitionen
sind höher als jemals zuvor“ stimmt nicht. Sie sind aber
höher als 9,8 Prozent, und zwar deshalb, weil Sie in diesem Jahr die Flutinvestitionen dazurechnen können. Ansonsten wäre die Investitionsquote auf einem historischen Tiefstand. Das können wir Ihnen jederzeit
beweisen, jedenfalls was die prozentualen Verhältnisse
anbelangt.
({21})
Deshalb lautet unsere Forderung ganz konkret: Bis
zum Ende der Legislaturperiode muss die Investitionsquote wieder auf 13 Prozent angestiegen sein.
({22})
Das entspricht 7,5 Milliarden Euro mehr. Jeder Cent davon ist besser angelegt als das Strohfeuer-Investitionsprogramm, das Sie uns heute hier vorgestellt haben.
({23})
Viele haben sich gefragt: Warum muss der Kanzler
heute reden und kann er das nicht nächsten Mittwoch
machen?
({24})
Mir ist inzwischen klar geworden: Wenn wir parallel
über den Haushalt debattiert hätten, dann wäre noch
deutlicher geworden, dass Sie in diesem Jahr Ihr Zukunftsprojekt Kinderbetreuung auf Kosten des Zukunftsprojekts Wissenschaftsfinanzierung finanzieren. Der
Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland ist nicht
einmal gegen seine eigene Wissenschaftsministerin eingeschritten, meine Damen und Herren. Das ist die Wahrheit darüber, wie wir mit unserer Zukunft umgehen.
({25})
Deshalb müssen wir uns neben der Frage, wie die Zuwanderung zu steuern ist, auch fragen, wie wir Abwanderung verhindern können. Wissen Sie, wie viele Wissenschaftler dieses Land verlassen, weil sie hier keine
Zukunft haben?
(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Was haben Sie denn für die Wissenschaft ausgegeben?
Der Max-Planck-Gesellschaft und der Deutschen Forschungsgemeinschaft haben Sie Mittel gestrichen. Den
Menschen, die sich auf Ihre Zusagen verlassen haben,
versprechen Sie jetzt, dass es 2004 besser wird. Wundern
Sie sich nicht, wenn sie Ihnen überhaupt nichts mehr
glauben!
({26})
Die für Deutschland vielleicht entscheidenden Fragen
haben Sie allenfalls ansatzweise in zwei Sätzen schematisch zu beantworten versucht: Womit wollen wir in
Deutschland in Zukunft Geld verdienen? Wo entstehen
die Arbeitsplätze der Zukunft? Wir führen viel zu oft
zuerst eine Diskussion über Risiken und vergessen, dass
es auch Chancen gibt. Seit dem Bio-Regio-Wettbewerb
im Biotechnologiebereich ist durch Ihre Politik nicht
mehr viel Innovatives passiert. Sie haben die rote gegen
die grüne Gentechnologie ausgespielt. Sie haben in der
grünen Gentechnologie ein Moratorium verordnet, das
die gesamten Saatgutbranchen aus Deutschland vertreiben wird, Herr Bundeskanzler. Das ist die Wahrheit.
({27})
Sie wollen eine Initiative starten, damit die chemische
Industrie in Europa noch eine Heimat hat. Wer hat denn
die Ökosteuer für alle Prozesstechniken erhöht? Wer
schreitet energisch ein, wenn es um die Zukunft des Chemikalienrechts in Europa geht? Kümmern Sie sich um
das Chemie-Weißbuch, damit die chemische Industrie
nicht aus Deutschland vertrieben wird! Das ist Ihre Aufgabe, Herr Bundeskanzler.
({28})
Wer hat denn der pharmakologischen Industrie versprochen, dass vier Jahre lang keine weiteren Abgaben
drohen? Wer hat dann sein Wort nicht gehalten? So kann
man die Industrie nicht in Deutschland halten. Wir müssen darüber nachdenken, wo die neuen Erfindungen zustande kommen. Eine Erfindung wie das Aspirin, das Medikament des 20. Jahrhunderts, muss auch in Zukunft - ({29})
- Sie können ruhig lachen. - Ich sage Ihnen eines: Solange Sie nicht verstehen, dass dieses Land ohne eine
entsprechende Wertschöpfung und Produktion - sie findet in Deutschland nicht im Niedriglohnbereich, sondern
in den Hochtechnologien statt - keine Zukunft hat, solange wird es mit Deutschland leider nicht aufwärts gehen, meine Damen und Herren. Das müssen Sie einfach
einmal kapieren.
({30})
Deshalb ist die erste Aufgabe, in die Zukunft zu investieren und um jeden Arbeitsplatz zu kämpfen, vor allem in
den Hochtechnologien.
Die zweite Leitidee muss lauten, die Spaltung der
Gesellschaft in Arbeitslose und Arbeitende zu überwinden. Ich glaube, dass diese Spaltung bzw. die Barriere
zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen die entscheidende soziale Frage unserer Gesellschaft ist. Deshalb
muss sowohl für diejenigen, die sich selbstständig ma2498
chen wollen, als auch für die, denen es um eine abhängige sozialversicherungspflichtige Beschäftigung geht,
der Zugang zum Arbeitsmarkt verbessert, erleichtert
bzw. ermöglicht werden.
({31})
Dafür ist uns jede Initiative recht.
({32})
Aber dabei müssen wir weit springen, nicht kurz. Ihr
Small Business Act allein reicht mit Sicherheit nicht aus,
um Neugründungen in Deutschland zu ermöglichen.
({33})
Natürlich sind wir bereit, mit Ihnen über Vereinfachungen im Handwerksrecht zu reden. Sie haben aber
zum Teil nur Maßnahmen vorgeschlagen, die jetzt möglich sind. Wir sind bereit, auch über Maßnahmen zu reden,
die erst in Zukunft umsetzbar sind, wie zum Beispiel über
wettbewerbsbedingte Reformen der Gebührenordnungen
der freien Berufe, über die Aufhebung der Schornsteinfegerbereichszuordnungen
({34})
und über Zwangsmitgliedschaften in den Kammern. Wir
können auch die Urlaubskassen ganzer Berufsgruppen
auf den Prüfstand stellen und über eine Neuregelung der
Arbeitsstättenverordnung nachdenken, in der vieles doppelt geregelt ist. Wir müssen außerdem das Berichts- und
das Beauftragtenwesen neu ordnen. Eine riesige Aufgabe liegt vor uns; denn es müssen Tausende Regelungen geprüft werden. Meine Fraktionskollegen sind in
dieser Woche schon in Vorlage gegangen. Wir werden
das weiterverfolgen. Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen
dort, wo Regelungen vereinfacht werden sollen, jede
Kooperation zu.
({35})
Zur Wahrheit gehört bei aller Freude über die Neuordnung des Bereichs der 400- und 800-Euro-Jobs aber
auch, dass es viel besser gewesen wäre, die Zeitarbeitnehmerbranche nicht in die Tarifhoheit hineinzubringen.
Es waren doch einfachere Lösungen vorhanden, mit denen wir vorangekommen wären.
({36})
Die Fragen, wie wir den Prozess der Lohnfindung
gestalten sollen, wie wir Menschen in Arbeit bringen
können und wie wir die Aussichten von Beschäftigten
und Neueinzustellenden verbessern können, sind zentral.
Herr Bundeskanzler - ich habe Ihnen mit großer Aufmerksamkeit zugehört -, Sie haben sich ja fast bis an das
Notwendige heranbewegen wollen, bevor wahrscheinlich der Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering als Abgeordneter in der Fraktion gesprochen hätte und ein anderer sagen muss: Franz, so geht das nicht! Ich sage
Ihnen voraus: Wir werden in Deutschland betriebliche
Bündnisse für Arbeit brauchen,
({37})
und zwar auf einer rechtlich sicheren Grundlage, damit
die Betriebe, die solche Bündnisse eingehen, nicht anschließend mit Klagen der Gewerkschaftszentralen rechnen müssen. Die Menschen, die solche Regelungen eingehen, brauchen Rechtssicherheit. Deshalb müssen wir
das Tarifvertragsrecht und das Betriebsverfassungsgesetz ändern. Zu beidem konnten Sie sich nicht durchringen. Ich bedauere das. Wir wären dazu bereit gewesen,
Herr Bundeskanzler.
({38})
Damit kein Missverständnis entsteht: Wir sind genauso wie Sie der Meinung, dass die Betriebsräte in
diesem Land Hervorragendes leisten.
({39})
Ich weiß das aus den neuen und den alten Bundesländern. Aber die Welt hat sich verändert.
({40})
Die deutschen Betriebe stehen in einem unmittelbaren
Wettbewerb mit Betrieben aus der ganzen Welt. Deshalb
brauchen sie mehr rechtliche Möglichkeiten und deshalb
hätten Sie heute springen und betriebliche Bündnisse für
Arbeit ermöglichen sollen.
({41})
Ich nehme den Kündigungsschutz als Beispiel. Ich
habe erwartet, dass Sie, Herr Bundeskanzler, heute klipp
und klar sagen, welche Variante in welchem Umfang Sie
wollen. Wir sind aber einigermaßen ratlos zurückgelassen worden.
({42})
- Entschuldigung, ob Puffermodell oder nicht, es sind
drei Varianten vorgeschlagen worden. - Wir schlagen Ihnen eine eindeutige und klare Variante vor, die allen
hilft, die einen neuen Arbeitsplatz bekommen sollen:
Schon bei der Einstellung soll der Arbeitgeber mit dem
Arbeitnehmer optional vereinbaren können, ob im Fall
einer betriebsbedingten Kündigung eine Abfindung vereinbart wird oder ob der normale Kündigungsschutz gilt.
Das ist eine faire Lösung, die Rechtssicherheit sowohl
für denjenigen, der einstellt, als auch für denjenigen, der
eingestellt wird, schafft und die außerdem zusätzliche
Bürokratie verhindert.
({43})
Es bedarf noch einer dritten Leitidee. Wir brauchen
konsequente Leistungsanreize. Wer in diesem Lande arbeitet, muss mehr haben, als wenn er nicht arbeitet. Wer
mehr leistet, muss mehr haben, als wenn er weniger leistet. Das muss die Devise auf allen Ebenen sein.
({44})
Deshalb, Herr Bundeskanzler, sind wir mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe einverstanden. Sie haben sich etwas verklausuliert ausgeDr. Angela Merkel
drückt, als Sie sagten, dass dies „in der Regel“ auf dem
Niveau der Sozialhilfe erfolgen solle. Wir sagen: Es soll
auf dem Sozialhilfeniveau erfolgen. Wir sagen des Weiteren, dass denjenigen, die eine bestimmte Arbeit, die ihnen angeboten wird, nicht annehmen, die Sozialhilfe um
25 Prozent gekürzt werden soll. Wir müssen zusätzlich
in die Lage kommen, dass jedem, der arbeitsfähig ist, ein
Angebot gemacht werden muss, und sei es eine gemeinnützige Tätigkeit, damit wir von der Sozialhilfe wegkommen und jeder die Chance erhält, eine zumutbare
Arbeit anzunehmen.
({45})
Das ist die Aufgabe, zu der wir kommen müssen. Warum müssen wir zu dieser Aufgabe kommen? Wir müssen deshalb dazu kommen, weil es notwendig ist, dass
wir in unserem Lande auch wieder Dienstleistungen
möglich machen, für die die Lohnangebote heute so liegen, dass sie nicht attraktiv sind und deshalb in Fremdarbeit oder Schwarzarbeit durchgeführt werden. Das ist
die Aufgabe, gerade um Menschen, die einfache Tätigkeiten verrichten möchten, wirklich eine Chance in unserem Land zu geben.
({46})
Aber es kommt noch etwas hinzu, und da bin ich sehr
enttäuscht von Ihrer Rede, Herr Bundeskanzler.
({47})
Sie haben uns nicht gesagt, wie Sie die einen Erwerbsfähigen, die anderen Erwerbsfähigen und die Nichterwerbsfähigen zwischen den Kommunen und der Bundesanstalt für Arbeit aufteilen wollen. Das Ganze soll
möglichst bald im Gesetzblatt stehen. Wann möchten Sie
das denn genau tun? Ich hätte nach Ihrer heutigen Rede
erwartet, dass wir konkret wissen, was die Aufgaben der
Kommunen sind, welches Geld sie dafür erhalten, was
die Aufgabe der Bundesanstalt für Arbeit ist, wo die Jobcenter angesiedelt sind und wie das alles funktionieren
wird. Wir sind bei dieser Debatte an dieser Stelle keinen
Schritt weiter, als wir es gestern waren.
({48})
Wir sind auch der Meinung, dass das Arbeitslosengeld gekürzt werden sollte. Wir wollen insgesamt einen
Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 5 Prozent.
({49})
Aber ich glaube, dass wir dies intelligent machen könnten. Wir haben überlegt, dass eine Kürzung des Arbeitslosengeldes so aussehen muss, dass die Anreize, eine
Beschäftigung wieder aufzunehmen, steigen. Das könnte
durch eine Karenzzeit in den ersten zwei Wochen geschehen, in denen man den Bezug auf Darlehensbasis ermöglichen kann, das könnte auch durch eine degressive
Gestaltung des Arbeitslosengeldes geschehen, bei der
man den Anreiz zur Arbeitsaufnahme bei Auslaufen des
Arbeitslosengeldes vergrößern kann. Das könnte man
natürlich - da haben Sie einen Ansatz, den man noch
ausarbeiten kann - machen, indem man das Alter, die
Zugehörigkeit zum Betrieb und die Dauer der Einzahlung in die Arbeitslosenversicherung berücksichtigt. Das
wäre ein intelligenter Vorschlag.
({50})
Aber ich sage auch: Leistungsanreize fördern heißt
auch, etwas im steuerlichen Bereich zu tun. Wenn Sie
eine Agenda für 2010 vorschlagen und kein Wort über
die bisher schon verabschiedeten Steuerreformstufen hinaus sagen, dann ist das zu wenig.
({51})
Wir brauchen ein einfaches, ein transparentes, ein wirklich niedriges Steuersystem. Das wird noch viele Aufgaben mit sich bringen.
({52})
- Ich bitte Sie, wir hatten mit den Petersberger Beschlüssen einen hervorragenden Einstieg. Sie haben sie verhindert. Darauf können wir zurückkommen, daran können
wir anknüpfen und dann weitermachen.
({53})
Sie waren letztlich bei der Zinsabgeltungsteuer wieder ganz unkonkret und haben zwar von Kontrollen, aber
unbürokratischen und dennoch wirksamen Kontrollen
gesprochen. Das erinnert an den Spruch: Wasch mir den
Pelz, aber mach mich nicht nass. So kommen wir doch
nicht weiter. Ich hatte von Ihnen erwartet, dass Sie klipp
und klar sagen: Kontrollmitteilungen in unserem Steuersystem führen nicht dazu, dass das Geld zurückkommt,
sondern dazu, dass noch mehr Geld nach draußen geht.
Das ist die Wahrheit.
({54})
Die vierte Leitidee hat etwas damit zu tun, dass wir
im internationalen Wettbewerb stehen, dass die deutschen Sozialsysteme an den Faktor Arbeit gekoppelt
sind und dass dies unsere Arbeit teuer macht, weswegen
Arbeitsplätze oft nur vergleichsweise schwer geschaffen
werden können. Aus genau diesem Grunde müssen die
Lohnnebenkosten unter 40 Prozent liegen.
({55})
Herr Bundeskanzler, ich hätte bei der Beschreibung
einer Agenda 2010 schon gern gehört, ob Sie sich diesem Ziel noch verpflichtet fühlen oder ob es Sie nicht
mehr interessiert, weil Sie sagen, dass es lediglich Teil
der Koalitionsvereinbarung von 1998 war.
({56})
Ich halte dieses Ziel nach wie vor für richtig und wichtig. Es muss kurzfristig erreicht werden.
({57})
Sie haben in diesem Zusammenhang das Ziel angesprochen, die Krankenkassenbeiträge zu senken. Es ist
richtig, dass die Krankenkassenbeiträge auf unter
13 Prozent sinken müssen. Sie haben sich dem Gedanken von Selbstbehalten genähert. Das begrüße ich ausdrücklich.
({58})
Sie müssen die Höhe der Einsparungen allerdings quantifizieren. Bei einer Senkung der Krankenkassenbeiträge
auf unter 13 Prozent bestehen im Bundeshaushalt nicht
unendlich viele Spielräume, die versicherungsfremden
Leistungen steuerlich zu finanzieren. Eine solche Finanzierung versicherungsfremder Leistungen unterstützen
wir grundsätzlich.
Durch die Herausnahme einiger Leistungen aus dem
Angebot der gesetzlichen Krankenkassen - Sie haben
dazu einen Vorschlag gemacht - und durch die Einführung von Selbstbehalten muss es zu Einsparungen in
Höhe von fast 2 Prozentpunkten kommen, damit die
Krankenkassenbeiträge auf unter 13 Prozent sinken
können. Im Bereich des Krankengeldes lassen sich
7,7 Milliarden Euro einsparen. Dadurch lässt sich der
Beitragssatz um 0,8 Prozentpunkte senken. Entsprechend groß müssen der Selbstbehalt und die durch den
Wettbewerb hervorgerufenen Einsparungen sein, damit
Sie Ihr Ziel wirklich erreichen. Wir haben uns mit diesem Thema intensiv befasst. Sie werden Ihr Ziel durch
die Umsetzung dessen, was Sie vorgeschlagen haben,
noch nicht erreichen.
({59})
Wir verurteilen Ihr Vorhaben, dafür zu sorgen, dass
Krankengeldzahlungen privat versichert werden müssen,
nicht sofort; aber bitte diffamieren Sie dann auch nicht
unseren Vorschlag, zu prüfen, ob man eine solche Regelung auch für den Bereich der Zahnbehandlung einführen kann.
({60})
Es gibt in Europa viele Länder, zum Beispiel Norwegen,
in denen die Zahnbehandlung privat versichert werden
muss. In diesen Ländern gibt es ganze Jahrgänge von
Kindern, die dank einer entsprechenden Prävention kariesfrei sind. Lassen Sie uns an dieser Stelle wirklich
nicht die alten sozialdemokratischen Neiddiskussionen
führen!
({61})
Wir müssen also auf unter 13 Prozent Krankenkassenbeiträge, 5 Prozent Arbeitslosenversicherungsbeiträge
und deutlich unter 20 Prozent Rentenversicherungsbeiträge kommen. Wenn die Prognosen richtig sind - daran
gibt es keinen Zweifel -, dann werden die Rentenversicherungsbeiträge im Sommer nicht mehr bei 19,5,
sondern bei 19,9 Prozent liegen, Herr Bundeskanzler.
Dazu kommen 1,5 Prozent Beiträge für die Pflegeversicherung, bei der es noch viele Probleme gibt.
Zur Rente möchte ich Folgendes sagen: Sie haben den
von uns eingeführten demographischen Faktor fälschlicherweise abgeschafft.
({62})
Wir haben schon damals gesagt, dass selbst der von uns
eingeführte demographische Faktor der realen Alterung
der deutschen Bevölkerung noch nicht im ausreichenden
Maße gerecht wird. Lassen Sie uns gemeinsam wieder
einen ehrlichen demographischen Faktor ins Visier nehmen, damit man wirklich realistische Rentenprognosen
vornehmen kann!
({63})
Die Förderung der privaten Altersvorsorge ist - ich
sage das vollkommen unaufgeregt; auch wir hätten diesen Weg eingeschlagen, wenn wir weiter regiert hätten vom Grundsatz her richtig. Wir kritisieren, dass dank Ihrer Politik ein bürokratisches Monster daraus entstanden
ist.
({64})
Schon heute könnten 30 Prozent der Bevölkerung bereit
sein, ein Angebot der staatlich geförderten Altersvorsorge in Anspruch zu nehmen, wenn das Ganze nicht so
kompliziert wäre. Das ist der Punkt. Wir sind jederzeit
bereit, zu einer Entbürokratisierung auf diesem Gebiet
beizutragen.
({65})
In der nächsten Zeit werden wir über die Zukunft der
sozialen Sicherung sprechen. Vielleicht kann einer der
Nachredner einmal klarstellen, ob Sie das Ziel haben, die
Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent zu senken oder
nicht. Ist das Ihr Anspruch oder nicht? Ich habe eine solche Klarstellung vermisst und halte dies für ein großes
Versäumnis in dieser Regierungserklärung.
({66})
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine fünfte
Leitidee. Wir müssen Vertrauen in die Menschen setzen und den Rückzug des Staates ermöglichen.
({67})
Sie haben heute hier ein Investitionsprogramm vorgeschlagen. Vor einem oder anderthalb Jahren haben sogar Sie selbst in Ihren eigenen Ansprachen derartige Programme noch ins Abseits gestellt. Sie haben auf dem
Deutschen Baugewerbetag gesagt, dass die Bauindustrie
schrumpfen müsse und dass es keinen Sinn mache, sie
durch Strohfeuerprogramme - das waren Ihre eigenen
Worte - weiter in eine Situation zu versetzen,
({68})
die unrealistisch sei.
({69})
- Jetzt sagen Sie, das seien keine Strohfeuerprogramme.
Ich finde, es ist eine ziemliche Unverschämtheit, die
Kommunen in eine finanzielle Lage zu bringen, die in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nie
schlechter war.
({70})
Wir haben hier schon mehrmals Anträge eingebracht, in
denen wir fordern, die Gewerbesteuerumlage wieder
auf den alten Stand anzuheben. Stimmen Sie zu! Das
kostet nichts, aber es hilft den Kommunen, und zwar
dauerhaft und real, nicht nur einmalig durch ein kurzfristiges Programm.
({71})
Fast ein bisschen zynisch finde ich an diesem Programm, dass viele Kommunen - das wissen Sie genauso
gut wie wir - so hoch verschuldet sind, dass sie nicht die
Erlaubnis bekommen werden, wieder einen Kredit aufzunehmen.
({72})
- Dazu kann man gar nichts sagen, weil das der Kommunalaufsicht unterliegt und weil ich nicht weiß, ob Sie
möchten, dass über die Verschuldung der Kommunen
die Legitimation dafür geschaffen wird, dass die Einhaltung der Stabilitätskriterien von Brüssel ausgesetzt werden kann und Herr Eichel wieder sagen kann, die Kommunen seien es gewesen und nicht er. Das ist ein
komischer Verschiebebahnhof in Deutschland, den ich
nicht akzeptieren kann.
({73})
Ich sage Ihnen nach wie vor: Wenn wir vorankommen
wollen, dann müssen wir uns einer Staatsquote von
40 Prozent nähern. Das wird dauern und ohne Wachstum
nicht gehen. Aber es ist kein abwegiger, sondern ein
richtiger Anspruch, dass die Menschen in diesem Lande
von jedem verdienten Euro 60 Cent selbst verwalten dürfen und nur 40 Cent durch den Staat verwaltet werden.
Es ist ein Fehler von Herrn Müntefering, zu glauben, die
Privatpersonen müssten erst dem Staat seinen Anteil geben und behielten nur den Rest. Wir müssen an die Menschen glauben, an ihre Kreativität, ihr Leben selbst zu
gestalten. Das ist der große Unterschied zwischen Union
und Sozialdemokraten.
({74})
Wir wissen, dass wir die öffentlichen Haushalte sanieren müssen. Das wird nur mit Wachstum funktionieren.
Deshalb müssen alle Wachstumskräfte gestärkt werden.
Wir müssen privatisieren. Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, die Abwasserinvestitionen könnten über Ihr
Investitionsprogramm erfolgen. Ich hoffe, Sie lassen die
Mittel auch den privaten Abwasserbetreibern zukommen
und nicht nur den kommunalen;
({75})
denn wir wollen, dass Aufgaben, die privat genauso gut
wie kommunal erledigt werden können, privat erledigt
werden. Gebt den Privaten eine Chance in diesem Land;
das ist die Aufgabe!
({76})
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine klarere
Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den verschiedenen Ebenen, zwischen Kommunen und Ländern
und zwischen Bund und Ländern. Wenn Sie den Zeitraum bis 2010 in Betracht nehmen und kein einziges
Wort zu einer Föderalismusreform sagen, dann wird es
auch mit der Staatsquote unter 40 Prozent nichts werden.
Bei uns steht eine solche Föderalismusreform auf der
Tagesordnung. Wir wären sogar bereit, einmal darüber
nachzudenken, für eine solche Aufgabe einen Konvent
zu schaffen und Leute zu beauftragen - weil wir alle befangen sind -, sich in Form dieses Konvents aus ihrer
Erfahrung unvoreingenommen das Wirrwarr von Zuständigkeiten anzusehen, um herauszufinden, wie wir
die Aufgabenverteilung in diesem Lande besser organisieren können. Die Union macht Ihnen hier ein Angebot.
({77})
Wir benötigen also fünf Leitbilder: konsequent
Investitionen in die Zukunft tätigen, Leistungsanreize
konsequent durchsetzen und jede politische Maßnahme
daraufhin überprüfen, Spaltung der Gesellschaft in Arbeitende und Arbeitslose überwinden, Arbeit im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig machen und die
Staatsquote unter 40 Prozent drücken. An diesen Dingen
wird sich entscheiden, ob Deutschland wirklich einen
Platz an der Spitze innerhalb Europas erlangen wird oder
dort bleibt, wo es ist.
({78})
Um diesen Prozess für die Menschen nachvollziehbar
zu machen, biete ich Ihnen an, zunächst bis zum Jahre
2010 in diesem Hause jedes Jahr eine Debatte über
folgende sechs Punkte zu führen: Wachstum, Beschäftigung, Investitionsquote, Höhe der Steuersätze, Lohnnebenkosten und Staatsquote. Wir sollten ein Benchmarking einführen und unabhängige Fachleute damit
beauftragen, die notwendigen Zahlen zusammenzustellen, um damit zu zeigen, ob wir unseren eigenen Ansprüchen in Bezug auf unsere Politik selber gerecht werden.
Nur so werden wir die Menschen auf dem Reformweg
mitnehmen können. Sie müssen sehen, dass die notwendigen Änderungen zu ihrem eigenen Vorteil durchgeführt werden.
({79})
Deshalb muss das Credo der Wirtschafts- und Sozialpolitik lauten: Freiraum, Eigenverantwortung, mehr
Luft zum Atmen. Dieses Credo ist wichtig, denn dann,
wenn wir nicht danach handeln, werden wir denjenigen,
die in diesem Lande Hilfe brauchen, nicht mehr helfen
können. Ich möchte nicht, dass die Behinderten in diesem Lande immer von Sozialhilfe abhängig sind. Sie
müssen raus aus der Sozialhilfe. Ich möchte nicht, dass
alleinerziehende Mütter von der Sozialhilfe abhängig
sind. Sie müssen raus aus der Sozialhilfe.
({80})
Damit das gelingt, müssen Sie denen, die etwas schaffen können, den Freiraum geben, auch etwas schaffen zu
dürfen.
({81})
Der Staat muss sich im Bereich der Wirtschafts- und
Sozialpolitik zurückziehen, damit dort Hilfe geleistet
werden kann, wo Hilfe notwendig ist.
({82})
Das entspricht unserem Verständnis von Gerechtigkeit. Ich erlebe häufig, dass heute vielen, die vielleicht
Hilfe bräuchten, nicht mehr so gut geholfen werden kann.
17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden durch die
Schwarzarbeit erwirtschaftet, obwohl Schwarzarbeit die
unsolidarischste Art von Tätigkeit ist. Das muss aufhören, denn dadurch konzentriert sich Solidarität auf immer weniger Schultern in diesem Land und dadurch fallen Menschen aus dem solidarischen System heraus.
({83})
Die andere Seite der Medaille des 21. Jahrhunderts
ist: So wie sich der Staat im Bereich der Wirtschafts- und
Sozialpolitik zurückziehen muss, muss er sich stärker
engagieren, wenn es um innere und äußere Sicherheit
geht. Das Ende des kalten Krieges hat uns eine Welt gebracht, in der die Bedrohungen zwar anders sind, aber
Bedrohungen bleiben, mit denen wir uns werden auseinander setzen und für die wir Abschreckungskapazitäten entwickeln müssen. Diese Bedrohungen müssen
von uns angegangen werden. Dafür ist die Bundesrepublik Deutschland und dafür ist Europa insgesamt noch
nicht gewappnet.
Deshalb geht es auch um die zweiten Gründerjahre
dieser Republik bezüglich einer neuen Außen- und
Sicherheitspolitik. Sie haben vom Frieden gesprochen.
({84})
Ich kann nur sagen: Das, was wir in den letzten Monaten
mit Blick auf den Irak erlebt haben, ist ein Trauerspiel.
({85})
- Das habe ich mir gedacht. Herr Volmer, die Armseligkeit kennt bei Ihnen keine Grenzen.
({86})
Es ist wirklich traurig. Sie haben doch vier Jahre im
Auswärtigen Amt gesessen und müssten wissen, dass
spätestens seit dem 11. September 2001 jedem klar sein
muss, dass sich die Bedrohungen in dieser Welt zwar
verändert haben, dass sie aber real und nicht fiktiv sind.
({87})
Was in Sachen Irak passiert ist, ist ein Trauerspiel.
Denn wir müssen uns hier und heute damit auseinander
setzen, was die „Financial Times Deutschland“ dazu am
Dienstag geschrieben hat: Leider steht, noch bevor überhaupt etwas passiert ist, der Sieger der Auseinandersetzung fest: Saddam Hussein.
({88})
Der Schaden, den der Diktator dem Westen bereits zugefügt hat, ist kaum zu ermessen. - Ich teile diese Einschätzung.
({89})
Dabei geht es um die Europäische Union, dabei geht
es um die NATO und es geht um die Rolle der UNO.
({90})
Ich sage Ihnen: Wir haben die Aufgabe - das werden wir
vonseiten der Union tun - ({91})
- Ich finde, wir sollten ein bisschen großzügig sein. Wer
weiß, ob der Kanzler sonst Blumen bekommt.
({92})
Ich denke, wir können trotz aller Kritik darüber hinwegsehen.
({93})
Zurück zur Außenpolitik. Ich sage in aller Ernsthaftigkeit: Das 21. Jahrhundert und die neue Situation
Deutschlands nach der Wiedervereinigung fordern von
der Außenpolitik, eine klare Orientierung und feste Koordinaten zu geben. Ich stimme Ihnen zu, Herr Bundeskanzler: Deutsche Außenpolitik wird in Berlin gemacht.
Ich füge hinzu: Deutsche Außenpolitik sollte deutschen
Interessen gelten.
({94})
Zu diesen deutschen Interessen gehören für mich zwei
Säulen. Die eine Säule ist ein gutes Verhältnis zu unseren europäischen Nachbarn.
({95})
Deutschlands historische Krux war die Tatsache, dass es
Zeiten gab, in denen Deutschland die Balance nicht geschafft hat und in denen Deutschland nicht in die Politik
seiner Nachbarn eingebunden war. Deshalb heißt es,
gute und partnerschaftliche Verhältnisse zu Frankreich
({96})
und genauso gute Verhältnisse zu Polen, unserem anderen Nachbarn, zu haben.
({97})
Einige von Ihnen werden in diesem Saal gesessen haben, als am 8. Mai des Jahres 1995 der damalige polnische Außenminister Bartoszewski eindringlich und für
mich emotional sehr berührend zu uns gesagt hat: Bitte
machen Sie nie weder eine Politik von Deutschland und
Frankreich mit Russland, die über die Köpfe von Polen
hinweggeht. - Lassen Sie uns das gemeinsam beherzigen.
({98})
Bei aller Partnerschaft mit Frankreich haben wir als
das größte Land Europas die Aufgabe, uns um die kleinen Länder in Europa zu kümmern.
({99})
- „Andorra!“ Sagen Sie einmal: Wie bekloppt sind Sie
eigentlich?
({100})
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Wir hören Ihnen zu, wenn
es um ernsthafte Dinge geht. Wenn Sie in der Außenund Sicherheitspolitik nicht aufpassen, dann werden Sie
das, was wir in 50 Jahren deutscher Politik an Vertrauen,
an Berechenbarkeit und an Verlässlichkeit aufgebaut haben, in kurzer Zeit verspielen. Deshalb lassen Sie uns in
aller Ernsthaftigkeit - ich sage das mit großem Nachdruck - über diese Fragen von Krieg und Frieden und
der Zukunft Deutschlands in diesem Hause sprechen.
({101})
Dazu gehört eine politische Union in Europa.
Deutschland muss der Motor dieser politischen Union
sein. Bitte schauen Sie sich an, wo Europa im Augenblick steht: Es sind Bündnisse in Bündnissen gebildet
worden. Es gibt Spaltungen und Achsen außerhalb der
Bündnisse. Ich sage Ihnen ganz klar: Dies ist nicht gut
für das Projekt einer politischen Union. Deshalb muss
die Situation verändert werden. Ich sage dies ohne jede
Aggressivität, weil mir Europa am Herzen liegt. Aber
ich sage auch: Dazu gehören die neuen Mitgliedstaaten
genauso wie die alten. Dazu gehört ferner ein deutscher
Bundeskanzler, der über die Lippen bringen sollte, dass
die Worte des Präsidenten der Französischen Republik
nicht geeignet waren, das Selbstbewusstsein und das
Selbstverständnis der osteuropäischen Nachbarn richtig
zu beschreiben.
({102})
Neben der europäischen gehört die transatlantische
Säule dazu. Für mich ist das ganz unverzichtbar. Wenn
Sie sich einmal über die wirklichen sicherheitspolitischen Fähigkeiten Europas Gedanken machen, dann wissen Sie, dass wir einen Sicherheitsverbund brauchen.
Deshalb brauchen wir die NATO, und zwar als eine
funktionsfähige, handlungsfähige Gemeinschaft, die unsere gemeinsamen sicherheitspolitischen Interessen vertreten kann.
({103})
Wer sich vielleicht manchmal dem Trugschluss hingibt, unser Europa sei so sicher, dass wir nie wieder Unterstützung brauchen, der hat beim furchtbaren Tod von
Zoran Djindjic vorgestern auf ganz erschreckende Weise
erfahren müssen, wie zart die Sicherheit und der Friede
selbst auf unserem Kontinent sind.
({104})
Lassen Sie uns deshalb, meine Damen und Herren, mit
den Institutionen sorgsam umgehen! Wir brauchen auch
in Zukunft eine NATO, genauso wie wir eine funktionsfähige UNO brauchen.
Nun sagt der Bundesaußenminister schon wieder:
über den Frieden nicht ein Wort! Herr Bundesaußenminister, ich kann Ihnen Folgendes sagen: Wenn eine unionsgeführte Regierung seit September letzten Jahres die
Geschicke dieses Landes gelenkt hätte
({105})
- wenn Sie von uns eine Position erwarten, dürfen wir,
so finde ich, sehr wohl einmal darauf hinweisen, was wir
anders gemacht hätten -, wäre im Umgang mit dem
Konflikt im Irak die militärische Option als letztes
Mittel niemals ausgeschlossen worden.
({106})
Wir hätten das, was Sie erst im Februar gemacht haben,
nämlich die europäischen Staats- und Regierungschefs
zu einer gemeinsamen Erklärung zu bewegen, schon im
September initiiert. Die Erklärung vom Februar hätte
schon im September stehen können; daran besteht überhaupt kein Zweifel.
({107})
Wir hätten uns jeden Monat erneut getroffen und mit
dieser gemeinsamen europäischen Haltung wären wir
in ein Gespräch mit den Amerikanern gegangen. Ich
bin ganz sicher, wir hätten eine gemeinsame Position
gefunden.
({108})
Wir hätten von Anfang an eine Befristung der Inspektionen befürwortet.
Vielleicht kann man dann, wenn man so lange Minister ist wie Sie, Herr Fischer, nicht mehr gut zuhören,
({109})
aber ich sage es Ihnen trotzdem: Wenn Sie einer Befristung der Inspektionen zugestimmt hätten, dann hätten
Sie eine Entwicklung beeinflussen können, die sich
heute als eines der großen Dramen herausstellt, dann hätten Sie nämlich die Parallelität des Aufbaus einer militärischen Drohkulisse und des Zeitbedarfs der Inspektoren erkannt und beides miteinander koordinieren
können.
({110})
Chefinspekteur Blix sagt heute: Ich weiß, ohne eine
militärische Drohkulisse habe ich keinen Erfolg. - Dass
wir die anglo-amerikanische Drohkulisse brauchen, gibt
auch der französische Außenminister zu, dennoch opponiert er gegen England und Amerika. Diese Art von Arbeitsaufteilung - die einen stellen die militärischen
Kräfte und die anderen sind für unbefristete Inspektionen - geht in einer Gemeinsamkeit von Partnern nicht
auf. Das ist der zentrale Vorwurf, den wir Ihnen machen.
({111})
Deshalb kann ich bei allem, was passiert ist, nur die
ganz intensive Bitte an die Bundesregierung richten:
Versuchen Sie in den nächsten Tagen, in der UNO - auch
unter Aufbietung deutscher Kompromissbereitschaft eine Lösung zu finden, welche die UNO stärkt und die es
möglich macht, dass Saddam Hussein endlich wieder
Angst vor der westlichen Staatengemeinschaft hat. Die
Wahrheit nämlich ist: Derzeit kann er davon leben, dass
sie gespalten ist.
({112})
Ich sage in aller Klarheit und mit allem Nachdruck:
Unser Gegner ist nicht der amerikanische Präsident.
({113})
Unser Gegner ist noch immer Saddam Hussein. Ich
glaube, darüber gibt es Einvernehmen in diesem Hause.
({114})
Gestern wurde in einer AP-Meldung beschrieben, wie in
einer Art öffentlicher Zeremonie - das muss man sich wirklich einmal vor Augen führen - im Auftrag von Saddam
Hussein 260 000 Dollar an 26 Familien von palästinensischen Selbstmordattentätern als Lohn und Dank für das
„Märtyrertum“ übergeben wurden. Das macht deutlich,
dass die Gefahr, die von Saddam Hussein ausgeht, real
und nicht fiktiv ist. Ich bitte Sie, das jeden Tag zu bedenken.
({115})
Die Sozialdemokratie in diesem Lande hat die Aufgaben, die aus dem Leben in einer völlig neuen Zeit erwachsen, nicht ausreichend verstanden.
({116})
Die innere Verfasstheit dieser Bundesrepublik Deutschland kann wieder in Ordnung gebracht werden. Dafür
aber brauchen Sie Mut, Ideen und vor allen Dingen ein
Konzept.
Meine Damen und Herren, Sie wurden in den vergangenen Tagen von Parteienforschern, aber auch von Ihren
eigenen Parteimitgliedern mehrfach daran erinnert, dass
die Krux Ihres politischen Handelns darin besteht, dass
Sie keine Werteordnung haben, nach der Sie Ihre Entscheidungen ausrichten.
({117})
Deshalb - so hat es sinngemäß der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident gesagt - können Hinz und
Kunz verkünden, was immer sie wollen. Sie haben keinen roten Faden, weil die innere Werteordnung fehlt.
({118})
- Lesen Sie, was im „Stern“ dazu steht!
({119})
Ich bin froh, dass hier heute ein neuer niedersächsischer
Ministerpräsident anwesend ist.
({120})
Ich hoffe, dass Sie mit Ihrer 140-jährigen Tradition,
die Sie im Mai feiern können, eines Tages die Herausforderungen und die Dimension der Herausforderungen, die
sich uns außen- und innenpolitisch im 21. Jahrhundert
stellen, vollständig verstehen. Ich kann Ihnen nur sagen:
Was wir heute gehört haben, waren punktuelle Antworten, die bei weitem nicht ausreichen, um das aus unserem Land zu machen, was wir alle in diesem Haus aus
ihm machen wollen. Wir von der Union sind mit unserem Herzen und dem Verständnis für die Menschen dabei, wenn es darum geht, die Menschen in die Lage zu
versetzen, ihre Fähigkeiten voll entfalten zu können, und
zwar im Sinne des Gemeinwohls.
Lassen Sie die Menschen dazu in der Lage sein! Lassen Sie uns ihnen die Kraft geben! Lassen Sie uns das
unterstützen, was in dieser Bundesrepublik Deutschland
Unterstützung braucht! Lassen Sie uns den Menschen
Optimismus geben! Lassen Sie eine Aufbruchstimmung
aufkommen! Wecken Sie den Gründergeist! Dann wird
es mit Deutschland wieder aufwärts gehen. Wir von der
Union arbeiten daran, mit Herz und Verstand.
Herzlichen Dank.
({121})
Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD,
Franz Müntefering.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das hätte nun die Antwort der Opposition auf
die Regierungserklärung des Kanzlers sein sollen - war
es aber nicht.
({0})
Man hat schon gemerkt, wie Frau Merkel immer vorsichtig nach links hinten geguckt hat, um zu sehen, ob
ihr da nicht jemand im Nacken sitzt, der anschließend
die eigentliche Rede des Tages hält.
({1})
Deshalb hat sie 20 Minuten gebraucht, um zum ersten
Konkreten zu kommen. Das erste ganz Konkrete nach all
den Dingen, die sie zunächst angesprochen hat, war die
Schornsteinfegerbereichsverordnung.
({2})
Das ist ein bisschen weniger als das, was man von der
Opposition erwarten darf.
Das Zweite war ihre Feststellung, dass die kommunalen Finanzen so tief in den Keller gegangen sind. Das ist
nicht neu. Interessant wird es, wenn man sich einmal die
Statistik anguckt - wie es manchmal so ist, hat man sie
in der Tasche -: 1992 33,14 Milliarden, 1998 24,4 Milliarden. Gucken Sie sich einmal dieses Diagramm an: So
war das. Das war in der Zeit, als Sie regiert haben. In der
Zeit ist die Investitionsfähigkeit der Kommunen so zurückgegangen, wie es auf diesem Diagramm zu sehen
ist. Nachlesbar ist das im DIW-Wochenbericht 31/02.
Als Allererstes aber hat Frau Merkel gesagt, ohne sich
nach links hinten umzugucken - darauf muss man noch
einmal zurückkommen -, eigentlich gehörten die Ministerpräsidenten heute Morgen in den Bundesrat. Sie hat
Herrn Stoiber zur unerwünschten Person erklärt. Inzwischen ist er wohl auch gegangen.
({3})
Ich weiß nicht, ob ihm das so richtig bewusst gewesen
ist.
({4})
Eine Opposition, die in dieser Situation nicht weiß,
wer bei ihr die erste Geige spielt, ist eine schwache Opposition. Sie sind eine schwache Opposition. Sie wissen
nicht, wer bei Ihnen das Sagen hat.
({5})
Das gilt für die Innenpolitik und das gilt für die Außenpolitik. Frau Merkel, dazu muss doch noch ein Wort
gesagt werden. Die ungewöhnlich gebückte Haltung, in
der Sie über den Teich geflogen sind, und die Klassenstrebermentalität, in der Sie sich in den USA erklärt haben, waren peinlich für die Führerin der Opposition in
Deutschland.
({6})
Da nutzt kein Schönreden und da nutzt es auch nichts,
sich die Weltpolitik nachher sozusagen aus dem Stabilbaukasten noch einmal selbst zu erklären.
Die schlichte Wahrheit ist heute: Wenn Sie auf der
Regierungsbank hier säßen, wäre das Bemühen Deutschlands um eine friedliche Lösung des Irakkonflikts nicht
so erfolgreich und wäre die Welt nicht so weit gekommen. Wir sind stolz auf das, was Gerd Schröder und
Joschka Fischer hier geleistet haben und auch in Zukunft
leisten werden.
({7})
Das war mutig und vorausschauend, als viele, auch bei
uns im Land, noch gezweifelt haben. Es erweist sich nun
als richtig.
Mutig und vorausschauend war auch das, was der
Bundeskanzler heute dem Deutschen Bundestag
({8})
für die Politik im Inneren des Landes verdeutlicht hat.
Herr Bundeskanzler, Sie haben die volle Unterstützung
der SPD-Bundestagsfraktion für diese Politik.
({9})
Deutschland hat Struktur- und Konjunkturprobleme andere Länder übrigens auch; aber das ist kein Trost.
Anstrengung ist gefordert. Wohlstand ist in Deutschland
aufbauend auf den Trümmern von 1945 gewachsen. Wir
haben uns in Deutschland an Wohlstand gewöhnt, daran,
dass er wächst, und haben nicht immer realisiert, dass er
nicht selbstverständlich ist, dass er stets immer wieder
neu und unter anderen Bedingungen gesichert und weiterentwickelt werden muss, dass Wohlstand Voraussetzungen hat. Wenn wir uns in Deutschland anstrengen,
dann brauchen wir keine Angst zu haben. Wenn sich jeder und jede anstrengen, brauchen wir keine Sorgen zu
haben, was die Zukunft angeht. Das Potenzial für eine
gute Zukunft in Deutschland, dafür, in Wohlstand und
sozialer Sicherheit zu leben, ist gegeben.
({10})
Richtig, die Regierung muss sich anstrengen. Aber
auch die Parteien, der Bundestag, der Bundesrat und
viele andere im Land müssen sich anstrengen. Wir sind
dazu bereit. Auch die Opposition muss sich im Übrigen
anstrengen. Ein bisschen weniger Besserwisserei, Herr
Merz, und ein bisschen weniger Selbstgerechtigkeit,
Frau Merkel, was die Opposition angeht, wären schon
gut.
({11})
Blockieren allein, Herr Wulff und Herr Stoiber, reicht
nicht.
In Deutschland sitzen zu viele auf der Tribüne - die
Opposition gehört dazu; ich meine nicht Sie hier oben
auf der Tribüne, sondern die politische Landschaft, die
Gesellschaft -, die zuschauen und sagen, was alles nicht
geht und wie schlimm alles in diesem Land ist. Es sind
zu wenige, die bereit sind, die Ärmel hochzukrempeln
und die Dinge voranzubringen. Lassen Sie uns das miteinander machen!
({12})
Wir sind selbstkritisch genug, um zuzugestehen: Jawohl, wir machen Fehler. Aber ich sage Ihnen ebenfalls:
Wer sich, auch wenn er Fehler macht, anstrengt, ist tausendmal besser als diejenigen, die nur herumsitzen und
sich das Maul zerreißen über das, was nicht geht. Wir
brauchen Leute, die bereit sind, die Ärmel hochzukrempeln, anzupacken und das Land nach vorne zu bringen.
Darum geht es.
({13})
Da sind auch Sie von der Opposition gefragt. Das
geht nicht ohne Sie. Wir brauchen Sie dabei - nicht unsretwegen, sondern für das Land. Es wird eine große Herausforderung an die gesamte Opposition sein, wie sie
sich dieser Aufgabe stellt. Die Opposition gehört zur Demokratie. Sie muss ihren Teil dazu beitragen, dass die
Dinge gelingen können.
Die Strukturprobleme und Fragen - vielleicht auch die
Strukturkrise -, die wir haben, sind übrigens nicht neu.
Die Folgen der Globalisierung, der Europäisierung und
der demographischen Entwicklung waren schon in den
90er-Jahren erkennbar. Wir haben in Deutschland in den
90er-Jahren - ich meine das nicht nur parteipolitisch - die
Zeit verschlafen.
({14})
Wir haben nicht hinreichend begriffen, dass außenpolitisch und innenpolitisch viel zu tun gewesen wäre. Wir
haben uns in Deutschland mit Helmut Kohl an der Spitze
darauf verlassen, dass der liebe Gott sozusagen von allein die Landschaften blühen lässt. Es ist nicht so. Wir
müssen unseren Teil dazu beitragen. Da ist innenpolitisch und außenpolitisch einiges nachzuholen.
({15})
- Herr Kauder, es ist schlimmer: Sie haben nicht nur die
Dinge, die hätten getan werden müssen, verschlafen, sondern haben die deutsche Einheit im Wesentlichen auf der
Grundlage unserer sozialen Sicherungssysteme finanziert.
({16})
Jetzt schimpfen Sie, dass diese Sicherungssysteme nicht
funktionieren. Sie waren hauptschuldig daran, dass dieser Bereich explodiert ist.
({17})
Der Kanzler hat Ihnen die Zahlen genannt: Anstieg
der Lohnnebenkosten von 32 auf 43 Prozent. Es waren
doch Sie, die das zugelassen und dafür gesorgt haben,
dass Kosten hineingerechnet worden sind, die eigentlich
nicht hineingehört hätten.
({18})
Ich wundere mich im Übrigen immer, mit welcher Toleranz Sie zugestehen, dass der gesamte Bereich der illegalen Beschäftigung zunehmend alle sozialen Sicherungssysteme belastet. Unternehmen, die in den großen
Unternehmensverbänden von Herrn Rogowski und
Herrn Hundt vertreten sind, sorgen mit Schwarzarbeit,
illegaler Beschäftigung und Subsubunternehmen, also an
den großen Unternehmen vorbei, dafür, dass der ehrliche
Unternehmer und der ehrliche Arbeitnehmer - das ist in
Deutschland leider wahr - die Dummen sind und die anderen sich ins Fäustchen lachen. Das darf so in Deutschland nicht bleiben.
({19})
Wir haben zwischen 1998 und 2002 vieles in
Deutschland in Bewegung gebracht.
({20})
Wir haben uns außenpolitisch neu justiert. Diese Neujustierung - gerade kam der Zuruf „Das kann man sagen“ ist uns zwar nicht leicht gefallen, aber wir alle sind stolz,
dass wir während unserer Regierungszeit - und nicht Sie Franz Müntefering
diese Neujustierung vorgenommen haben. Die Bereitschaft, dass Deutschland als souveränes Land in Europa
Rechte und Pflichten mit allen Konsequenzen übernimmt, wie zum Beispiel auf dem Balkan, in Afghanistan oder in anderen Teilen der Welt, geht auf die Erfolgspolitik von Schröder und Fischer zurück und nicht auf
Ihre Politik.
({21})
In den vier Jahren von 1998 bis 2002 haben wir die galoppierende Neuverschuldung gebremst. 1998 musste
der Bundesfinanzminister von jeder Mark aus den Steuereinnahmen des Bundes 22 Pfennig an Zinsen zahlen.
Heute sind es nur noch 19 Pfennig. Wir sind stolz auf
das, was wir in diesen vier Jahren erreicht haben. Diesen
Weg, die Höhe der Nettokreditaufnahme zu senken, werden wir weitergehen und wir werden dieses Ziel weiterhin im Auge behalten, weil unsere Kinder und Kindeskinder von uns etwas anderes erben sollen als nur
Schuldscheine und Hypotheken.
({22})
Wir haben in den letzten vier Jahren im Kern auch die
zusätzliche Alterssicherung beschlossen. Sie ist nun auszugestalten.
Wir stehen nun vor der schweren Aufgabe - das ist
die Hauptaufgabe in dieser Legislaturperiode; ihre Erledigung wird allerdings länger als vier Jahre dauern -,
den Wohlstand dauerhaft zu sichern und den Sozialstaat
in seiner Substanz zu garantieren. So sagt es auch der
Koalitionsvertrag mit den Worten Erneuerung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Im Regierungsprogramm der
Sozialdemokraten stehen dafür die Worte Erneuerung
und Zusammenhalt.
Wir wollen Wohlstand sichern und die Substanz des
Sozialstaates garantieren. Wenn man beide Aufgaben
ernst nimmt, erkennt man, dass man zuerst den Wohlstand sichern muss. Wir alle, die wir über soziale Gerechtigkeit sprechen und sie erhalten wollen, müssen
immer bedenken, dass es soziale Gerechtigkeit auf hohem wie auch auf niedrigem Niveau gibt. Wir alle gehen
automatisch davon aus, dass das Niveau der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland hoch ist und dass der Wohlstand, der über 50 Jahre gewachsen ist, mindestens so
bleibt wie heute. Das wollen wir auch erhalten. Aber
selbstverständlich ist das nicht. Deshalb ist es die vorrangige Aufgabe unserer Politik, dafür zu sorgen, dass
wir dieses hohe Niveau der sozialen Gerechtigkeit erhalten, um darauf aufbauend den Sozialstaat in seiner Substanz so zu organisieren, wie diese Koalition das will.
({23})
Zur Sicherung des Wohlstands tragen auch Investitionen in Bildung und Forschung bei. Ich kann nur bestätigen, was manche Redner angesprochen haben und
was der Bundeskanzler zum Schluss seiner Regierungserklärung verdeutlicht hat. Auch in der Rede von Frau
Merkel kam dieses Thema vor, allerdings hat sie es
falsch interpretiert. Frau Merkel, was Innovationen und
was Forschung und Technologie angeht, können wir uns
mit dem, was wir in den letzten vier Jahren erreicht haben, sehr gut sehen lassen.
({24})
Der Etat des Ministeriums für Bildung und Forschung ist
seit 1998 um 25 Prozent gestiegen. Deshalb war es möglich, auch in diesem Jahr die Mittel für die Deutsche Forschungsgemeinschaft um 2,5 Prozent zu erhöhen.
({25})
Deshalb liegen wir im internationalen Vergleich, was die
Ausgaben bei Forschung und Entwicklung angeht, im
oberen Mittelfeld. Bei den kleinen Biotechnologieunternehmen sind wir Spitze. Die Quote der Studienanfänger
ist von 1999, als sie bei 28,5 Prozent lag, auf jetzt
35,6 Prozent gestiegen.
({26})
In den letzten Jahren haben wir 40 Lehrstühle für Existenzgründer geschaffen.
Trotz der guten Zahlen aus den letzten Jahren ist die
Aufgabe aber noch nicht erfüllt. Wenn man die Alterssicherung und die Sicherung des Sozialstaates gewährleisten will, sind Innovationen und das Investieren in die
Köpfe und in die Herzen der Jungen, in die Forschung, in
die Entwicklung, in die Technologie und in die Existenzgründungen der entscheidende Punkt. Wichtiger als alles
andere ist, in die Köpfe und die Herzen der jungen Menschen zu investieren. Das ist die Zukunft des Landes. Dort
muss der Schwerpunkt unserer Politik in Zukunft liegen.
({27})
Zur Wohlstandssicherung gehört, dass Jugendliche
eine Chance haben. Ich unterstütze ausdrücklich, was
Sie, Herr Bundeskanzler, zur Erwartung an die Unternehmen gesagt haben. Darüber hinaus müssen auch die
Schulen, die Eltern und die jungen Menschen ihren Teil
dazu beitragen. Das Ziel, das sich die Koalition auf die
Fahnen geschrieben hat, ist, dass kein junger Mensch
von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit rutscht. Das ist
eine der wichtigsten Forderungen, die wir stellen und an
der wir festhalten müssen.
({28})
Das Schlimmste, was wir jungen Menschen zumuten
können, ist, dass sie lernen, dass sie pauken - wir sagen
ihnen immer, wie wichtig das ist -, und wenn sie die
Schule beendet haben, müssen wir ihnen sagen, dass es
leider keine Stelle für sie gibt: Setze dich in die Ecke, du
bekommst Stütze, halte den Mund und störe uns nicht!
Das ist das Schlimmste, was jungen Menschen passieren
kann. Das verstößt gegen die Würde des Menschen.
({29})
Deshalb brauchen wir das, was die Unternehmer und
die Politik leisten können, um an dieser Stelle zu stoppen
und die jungen Menschen zu fördern und zu fordern. Ich
unterstütze Wolfgang Clement ausdrücklich dabei, alles
dafür zu tun, dass wir an dieser Stelle anfangen. In
Deutschland gibt es 580 000 arbeitslose junge Menschen
unter 25 Jahre. Zwei Drittel davon haben keine Ausbildung. Der Sockel der nicht ausgebildeten jungen Menschen steigt immer weiter. Das kann so nicht weitergehen; denn das ist der Sockel, der in dieser Wirtschaft
später nicht mehr erwerbsfähig ist.
({30})
Zur Wohlstandssicherung gehört auch der Bereich der
Investitionen; der Kanzler hat es angesprochen und deutlich gemacht. Ich hoffe, dass Herr Stoiber inzwischen im
Bundesrat ist und dort dafür sorgt, dass das Steuervergünstigungsabbaugesetz doch beschlossen wird;
({31})
denn davon hängt es ab, ob die Gemeinden bis zum
Jahre 2006 etwa 7 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung haben. Man muss sich das noch einmal auf der
Zunge zergehen lassen: 7 Milliarden Euro erhalten die
Kommunen durch das Steuervergünstigungsabbaugesetz zusätzlich.
Frau Merkel, es war Heuchelei und nicht ehrlich, dass
Sie uns hier mit Kulleraugen erzählt haben, man müsse
den Gemeinden helfen, damit sie ihren Aufgaben gerecht
werden können; denn Sie veranlassen gleichzeitig, dass
Ihre Ministerpräsidenten im Bundesrat dafür sorgen,
dass gegen das Gesetz gestimmt wird.
({32})
Die Opposition muss dafür sorgen, dass die Kommunen
handlungsfähig sind.
Die CDU- und CSU-Oberbürgermeister und -Bürgermeister haben die Folgen des Steuervergünstigungsabbaugesetzes schon längst in ihren Haushalten der
nächsten Jahre berücksichtigt. Es ist so absurd: Sie
kämpfen hier und im Bundesrat dagegen und die CDUund CSU-Oberbürgermeister und -Bürgermeister rechnen dringend mit dem Geld, das wir ihnen geben wollen.
Sie wollen es ihnen aber verweigern.
({33})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Wohlstandssicherung gehört auch das schwierige Kapitel, das ich mit
folgender Leitlinie überschreiben will: Alle Arbeit, die
es in Deutschland gibt, muss von denen getan werden,
die legalerweise in Deutschland sind. An dieser Stelle
kneifen wir oft. Es gibt nicht nur die Arbeitslosigkeit,
sondern es gibt auch die Erwartung, dass eine bestimmte
Arbeit mit einem bestimmten Status und einem bestimmten Stundenlohn an einer bestimmten Stelle anfällt. Das geht nicht zusammen. Ich bitte dringend, dass
wir intensiv darüber diskutieren, was man hier machen
kann und muss. Es kann nicht sein, dass wir in Deutschland eine hohe Arbeitslosenzahl haben und es Arbeit
gibt, die nicht getan wird, sodass Menschen aus dem
Ausland geholt werden müssen, die sie leisten. Es kann
nicht sein, dass Arbeitslose bestimmte Arbeiten wegen
des Status nicht erledigen.
Die Lösung dieses Problems ist nicht leicht. Durch
die Umsetzung des Hartz-Konzeptes haben wir damit
begonnen. Mit den Projekten, über die wir jetzt reden,
gehen wir die nächsten Schritte. Hierin stecken Fördern
und Fordern. Die, die wir dabei angucken, müssen wissen, dass wir es ehrlich meinen. Wir wollen das nicht auf
Kosten der unteren Schicht und derer, die arbeitslos sind,
austragen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie im Kleinen
und im Großen die Chance haben, in den Arbeitsmarkt
hineinzuwachsen. Das ist unsere Aufgabe, an ihr haben
wir zu arbeiten. Ich bestehe aber darauf: Wir müssen alles dafür tun, dass die Arbeit, die es in Deutschland gibt,
von denen getan wird, die in legaler Weise in diesem
Land sind.
({34})
Dabei bleibt die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
die Aufgabe aller. Hier hat Hartz Recht gehabt - das ist
in den Debatten der vergangenen Monate ein wenig untergegangen -: Er hat immer gesagt, dass die Politik das
nicht alleine kann und dass alle in der Gesellschaft an
der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu beteiligen sind.
Deshalb appelliere auch ich noch einmal an die Gemeinden, die Landkreise und die Länder: Steigen Sie nicht
aus der Finanzierung von Beschäftigungsinitiativen und
Qualifizierungsgesellschaften vor Ort aus, damit die
Menschen eine Anlaufstelle haben und unterkommen
können. Wir brauchen sie auch in Zukunft.
({35})
Der Kanzler hat deutlich gemacht - der Wirtschaftsund Arbeitsminister tut das auch -, dass wir die Brücke
von der jetzigen Situation, die unbefriedigend ist, zu
dem, was Hartz bedeutet, bauen wollen. Das gilt auch
für das, was im nächsten Jahr, wenn die Arbeitslosenund die Sozialhilfe zusammenwachsen, Schritt für
Schritt zu leisten ist.
Zur Wohlstandssicherung gehört ein ehrliches Wort
über die Länge unserer Lebensarbeitszeit. Das waren
früher 50 Jahre. Mit 13 oder 14 Jahren begann man einen Beruf, mit 64 oder 65 Jahren stieg man aus dem Erwerbsleben aus. Heute liegt das Durchschnittsalter beim
Arbeitsbeginn bei 21 Jahren, weil viele studieren. Übrigens sind das nicht zu viele, sondern eher noch zu wenig; manche finden auch keinen Job. Das Durchschnittsalter beim Ausstieg aus dem Erwerbsleben liegt bei
59 Jahren. Die Lebenserwartung liegt heute höher als
1950, nämlich um sieben Jahre. Aber die Lebensarbeitszeit wird kürzer. Die ganze Last konzentriert sich auf die
38 Arbeitsjahre zwischen 21 und 59 Jahren. Das kann so
nicht weitergehen.
Deshalb müssen wir klar sagen: Es ist nötig, dass sich
das faktische Renteneintrittsalter von 59 Jahren auf
65 Jahre verschiebt. Das müssen wir erreichen. Wir müsFranz Müntefering
sen uns von der Vorstellung trennen, es sei schick und sozialpolitisch vernünftig, einen Menschen mit 50, 52 oder
55 Jahren in Rente zu schicken. Nein, ein Mensch kann
und muss auch noch mit 55, 60 oder 65 Jahren die Chance
bekommen zu arbeiten.
({36})
Dabei wird deutlich, dass ein vernünftiger Umgang
mit der Dauer des Arbeitslosengeldes an dieser Stelle
Sinn macht. Der frühe Ausstieg aus dem Erwerbsleben
ist kein biblisches Gesetz. Das ist vor zehn Jahren gemacht worden - viele haben damals Blüm Beifall geklatscht -, als es darum ging, den großen Unternehmen
die Möglichkeit zu geben, Sozialpläne zu finanzieren.
Bei diesem Punkt geht es um Ehrlichkeit bzw. Unehrlichkeit. - Herr Gerhardt, Sie nicken; Frau Merkel kennt
diese Praxis noch nicht so genau. - Damals sind die Arbeitslosenversicherungsbeiträge kräftig angehoben worden, damit große Unternehmen Menschen mit 55 oder
57 Jahren entlassen konnten, die ein hohes Arbeitslosengeld bekamen, um danach in Rente zu gehen. Das ist die
Wahrheit.
Wenn wir deutlich machen, dass wir es uns nicht leisten können, dass Menschen mit 55 oder 57 Jahren in
Rente gehen, dann müssen wir auch sagen, wie wir dies
anders regeln. Dies wird keine Strafaktion. Da gibt es einen Vertrauensschutz. Aber wir müssen eine sinnvolle
Regelung finden, um die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt an dieser Stelle zu reformieren.
({37})
Zum Wohlstand gehört, dass wir ein anderes großes
Arbeitspotenzial, das wir haben, besser als bisher nutzen.
Ich spreche von der Arbeitskraft der Frauen, von der Generation der jüngeren Frauen in diesem Land.
({38})
Die Erwerbstätigkeit der Frauen liegt im Westen bei
60 Prozent, im Osten bei 73 Prozent. Das kann so nicht
bleiben. Wir brauchen das Wissen, das Können und die
Kreativität von Frauen. Wir müssen ihnen auch Lebenschancen bieten. Das verbindet sich mit dem, was zwar
heute nicht Hauptthema ist, aber was ebenfalls auf unserer Agenda steht: Hilfe zur Ganztagsbetreuung, damit
die Frauen die Chance bekommen, Familie und Beruf zu
vereinbaren.
({39})
Wir wollen in diesem Jahrzehnt endlich erreichen,
dass auf Parteitagen nicht nur über Quoten gesprochen
wird, sondern dass die Generation unserer Töchter und
Enkeltöchter die reale Chance hat, Familie und Beruf
vernünftig miteinander zu verbinden.
({40})
Wohlstand und soziale Gerechtigkeit: Soziale Gerechtigkeit ist nicht dasselbe wie Gleichheit. Gerechtigkeit
beinhaltet immer auch die Frage von Leistungsfähigkeit
und Leistungswilligkeit des Einzelnen. Soziale Gerechtigkeit ist aber nur möglich, wenn der Zusammenhalt in
der Gesellschaft organisiert ist.
Der Begriff der Eigenverantwortung, Frau Merkel,
schreckt uns nicht. Sie wissen: Die sozialdemokratische
Überzeugung orientiert sich immer am Einzelnen. Eigenverantwortung wird bei uns groß geschrieben. Aber
Eigenverantwortung ist nur glaubhaft, wenn bei aller
Verantwortung, die Eltern für ihre Kinder haben, der
Staat, die Gemeinschaft aller - der Staat ist keine Krake,
die die Menschen ausbeuten will, sondern die berechtigte und vereinbarte Organisation der Gesellschaft -,
({41})
in der Lage ist, die Rahmenbedingungen für Kindergärten, Schulen und Hochschulen so zu gestalten, dass auch
Kinder aus Arbeiterfamilien diese Schulen besuchen
können.
({42})
Sie können so viel reden, wie Sie wollen: Wir laufen
vor dem Staat nicht weg. Wir wissen, dass der Staat allen
Grund hat, sparsam zu sein und schlank zu werden. Jeder
Euro, den er ausgibt, ist das hart verdiente Geld seiner
Bürger. Aber ohne den Staat geht es nicht. Auch für die Zukunft muss gelten: Eigenverantwortung und Zusammenhalt, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit haben damit zu
tun, dass alle Menschen in der Gesellschaft handlungsfähig
bleiben und die Chance zur Selbstverwirklichung und
Eigenverantwortung erhalten.
({43})
Wir sprechen viel über Generationengerechtigkeit.
Bei all dem, was wir zu den Sozialversicherungssystemen zu sagen haben, wird uns das noch beschäftigen.
Dafür bleibt heute nicht viel Zeit. Ich will aber deutlich
machen, dass wir nicht dem manchmal geäußerten Irrglauben anhängen, dass die totale Privatisierung aller
Lebensrisiken das Beste wäre. Ich sage Ihnen: Es gibt
in einer Gesellschaft nichts Besseres, als dass Menschen
für Menschen da sind
({44})
und man sich bei existenziellen Lebensproblemen auf
Menschen verlassen kann. Diese sozialen Sicherungssysteme, die wir finanzieren, sind sicherer als alle Lebensversicherungen und Aktien. Wir wollen, dass Generationen auch in Zukunft im vernünftigen Gleichschritt - nach
dem Motto: Jeder trägt seine Last - füreinander sorgen.
Das ist besser als alles andere.
({45})
Das gilt im Übrigen auch - ich bin sehr dankbar dafür,
dass es in diesem Zusammenhang klare Worte gab - für
die gesetzliche Krankenversicherung. Manche sagen:
Ich weiß nicht, ob ich das wieder herausbekomme, was
ich eingezahlt habe. Das ist in der Tat so. Das ist aber
auch nicht der Sinn. Eine Krankenversicherung ist kein
Sparklub. Die Krankenversicherung funktioniert nur,
wenn viele wissen, dass sie mehr einzahlen, als sie herausbekommen, damit einige, die darauf angewiesen
sind, mehr herausbekommen, als sie einzahlen. So funktioniert das ganze System.
({46})
Jeder kann der Betroffene sein, jeder kann - auch in
jungen Jahren - verunglücken oder behindert sein und
viele Jahre lang darauf angewiesen sein, dass sich die
Gesellschaft für ihn engagiert. Insofern steht dieses Prinzip nicht zur Disposition.
Zur sozialen Gerechtigkeit gehört, dass alle Gruppen
- der Kanzler hat das deutlich gemacht -, auch der öffentliche Bereich, ihren Teil leisten. Ohne jemandem
vorzugreifen, sage ich deshalb: Die Koalitionsfraktionen
haben gestern vereinbart, dem Deutschen Bundestag
vorzuschlagen, zum 1. Januar 2004 die Diäten nicht zu
erhöhen und das übliche Sterbegeld für Abgeordnete abzuschaffen. Mit diesem Vorschlag leisten wir einen Teil
unseres Beitrages.
({47})
Wenn wir in Deutschland die Dinge in den Griff bekommen wollen, brauchen wir das Miteinander. Das
wissen wir. Ein Großteil dessen, was der Kanzler vorgeschlagen hat, können wir nicht allein mit der Mehrheit
des Bundestages erreichen. Dafür brauchen wir die Zusammenarbeit und die Zustimmung des Bundesrats. Bei
allem Streit muss es im Interesse des Landes möglich
sein - darauf setzen wir -, dass das gelingt.
Die Koalition und diejenigen aus der CDU/CSU, die
mit sozialer Marktwirtschaft noch etwas anfangen können, können zusammenarbeiten und gemeinsam vernünftige Gesetze machen. Herr Schäuble, von Ihnen - Frau
Merkel sehe ich im Augenblick nicht - erwarte ich, dass
Sie diejenigen stoppen, die mit großer Lust und Arroganz dabei sind, grundlegende Gemeinsamkeiten zu zerstören. Ich spreche Herrn Merz, Herrn Westerwelle und
auch Herrn Rogowski an: Das, was in den letzten Tagen
und Wochen gelaufen ist, muss aufhören. Herr Merz
sprach in Bezug auf die Gewerkschaften vom „Sumpf
austrocknen“. Betriebsräte sollte es im Osten nur noch in
Betrieben mit über 80 Beschäftigten und im Westen in
Betrieben mit über 20 Beschäftigten geben. Das Wahlrecht sollte so geändert werden, dass nicht so viele Abgeordnete im Deutschen Bundestag Mitglied in einer
Gewerkschaft sein könnten.
({48})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das rührt an die
Grundwerte unserer Demokratie. Das ist kein Spaß
mehr, sondern das demaskiert Sie.
({49})
Leute, die so reden, sind formal Demokraten, sie haben aber nicht verstanden, dass Wirtschaft und Demokratie etwas miteinander zu tun haben. Die Wirtschaft ist
für die Menschen da und nicht umgekehrt. Die Demokratie gehört zur Wirtschaft.
({50})
Wenn ich Herrn Westwelle höre, dann sehe ich Frau
Thatcher schon ihr Handtäschchen schwingen.
({51})
Ihre Vorschläge gehen in die Richtung, die man von
Großbritannien kennt. Darauf lassen wir uns aber nicht
ein.
Der Deutsche Bundestag wird bei dem, was jetzt zu
tun ist, eine wichtige Rolle spielen.
({52})
- Herr Westerwelle, das habe ich doch vermutet.
({53})
Eventkultur im Deutschen Bundestag.
Bis zum Sommer werden wir drei große Komplexe in
Gesetzesform zusammenbinden: das Gesundheitswesen,
die Gemeindefinanzreform einschließlich Arbeitshilfe
und Sozialhilfe und den großen Komplex Mittelstand,
Wachstum, Handwerksordnung, Arbeitsmarkt, Arbeitsrecht. Wenn die Koalition die Eckpunkte hierfür fertig
hat, werden wir die Opposition einladen, gemeinsam mit
uns im Deutschen Bundestag diese Gesetze zu beraten
und zu verabschieden.
Es wäre nicht schlecht für die politische und demokratische Kultur in unserem Land, wenn wir uns nicht
auf die scheinbare Selbstverständlichkeit einließen, dass
sich in der ersten Lesung die Koalition und die Opposition gegenüberstehen und dass das Vorhaben dann in den
Bundesrat kommt, wo es sozusagen im Rat der Weisen
beraten und letztlich im Vermittlungsausschuss entschieden wird. Es wäre weiß Gott nicht schlecht für dieses
Parlament, wenn wir nach der ersten Lesung, in der sich
unsere Meinung und die der Opposition gegenüberstehen, den Mut und die Entschlossenheit aufbringen würden, in den Sitzungen der Ausschüsse und auch in Gesprächen dafür zu sorgen, dass wir in der zweiten und
dritten Lesung zu gemeinsamen Entscheidungen kommen können. - Herr Seehofer nickt. Lassen Sie uns das
also einmal versuchen!
({0})
Ich will Ihnen auch noch einen Tipp geben, Frau
Merkel. Ich kann Frau Merkel gerade nicht entdecken.
({1})
- Entschuldigung. - Alle Gesetze, die wir im Bundestag
gemeinsam zustande bringen, bedeuten: Vorteil Merkel.
({2})
Alles, was wir im Bundesrat bzw. im Vermittlungsausschuss erreichen, bedeutet: Vorteil Stoiber. Das ist doch
auch ein schönes Argument. Denken Sie deshalb einmal
darüber nach, wie Sie damit umgehen wollen!
({3})
Meine Damen und Herren, Frau Merkel hat es bereits
angesprochen: Die deutsche Sozialdemokratie wird in
wenigen Wochen, am 23. Mai, 140 Jahre alt. Was die
Frage der Werte angeht, brauchen wir keine Ratschläge.
({4})
Als die Sozialdemokraten seinerzeit zusammentraten,
hat der spätere Präsident des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins, Lassalle, ein Schreiben an die Konferenz gerichtet, die nach seinen Beweggründen gefragt
hatte. Damals gab es in Deutschland nur die Arbeiterbildungsvereine. - Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, gab es noch gar nicht. ({5})
Daraufhin hat Lassalle gewissermaßen das erste Programm meiner Partei verfasst. Damals waren die Programme noch kürzer. Ich habe sie immer gerne gelesen.
({6})
Er hat zwei Grundwerte formuliert: Wenn du willst,
dass es besser wird, dann mach dich auf den Weg und
warte nicht ab, dass irgendjemand kommt, der das für
dich tut.
({7})
Der zweite lautet: Wenn du willst, dass es besser wird,
dann musst du wissen: Allein schaffst du das nicht. Du
brauchst Leute, mit denen zusammen du das tust.
({8})
Er hat damals gesagt: Geh in einen Verein! Wir würden
heute sagen: Mach in einer der demokratischen Parteien
mit! Am besten in unserer; das ist klar.
Das sind die Grundwerte, an denen wir uns orientieren, Frau Merkel. Es geht darum, sich nicht mit den Gegebenheiten abzufinden. Es geht nicht darum, zu glauben, dass das Paradies auf Erden oder die Schaffung
eines neuen Menschen möglich sind. Es waren immer
linke oder rechte Fundamentalisten, die das geglaubt haben. Die Sozialdemokraten waren dagegen immer Reformer, die gewusst haben: Wenn wir zwei Schritte nach
vorn gehen, gehen wir einen oder manchmal sogar zwei
Schritte zurück. Aber wir lassen uns dabei nicht in die
Knie zwingen.
({9})
Ich versichere Ihnen: Wir werden auch das schaffen.
Wir werden Deutschland und der internationalen Gesellschaft zeigen, dass wir auf internationaler Ebene wie
auch in Deutschland diejenigen sind, die besser als alle
anderen politischen Gruppen in diesem Land in dieser
Koalition mit den Grünen garantieren können, dass in
Deutschland Wohlstand und soziale Gerechtigkeit dauerhaft gewährleistet bleiben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Für die FDP erhält jetzt der Abgeordnete Guido
Westerwelle das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr
Kollege Müntefering, ich möchte mich jetzt nicht über
die bei Ihnen und bei mir neu entdeckte Leidenschaft für
Handtaschen unterhalten. Aber das, was gerade stattgefunden hat, nämlich dass der Bundeskanzler Ihnen, Herr
Kollege Müntefering, hier einen Blumenstrauß überreicht hat, ist bemerkenswert.
({0})
- Um das klar zu sagen: Blumen können gar nicht genug
Gelb haben. - Das ist, in allem Ernst, deshalb besonders
bemerkenswert, Herr Kollege Müntefering, weil Sie
während und besonders am Schluss Ihrer Rede genau
das zum Ausdruck gebracht haben, was wir als Opposition an Ihnen kritisieren. Für Sie ist zum Beispiel soziale
Gerechtigkeit ausschließlich eine Kategorie des Staates.
Wir setzen dagegen auf die Bürgergesellschaft. Das ist
der große Unterschied.
({1})
Es ist auch bemerkenswert, wie Sie am Schluss Ihrer
Rede die große Tradition der Sozialdemokraten - niemand würde ihnen diese absprechen - beschworen haben. Sie haben im Grunde genommen darauf verwiesen,
was vor 140 Jahren wie besprochen wurde. Vor dem
Hintergrund dieses Weltbilds des 19. Jahrhunderts denken und handeln Sie heute noch immer. Das ist das Problem der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion.
({2})
Sie haben vor etwa drei Monaten gegenüber dem „Tagesspiegel“ wörtlich gesagt - das ist, auf drei Sätze gebracht, die Geisteshaltung der Sozialdemokraten in diesem Haus -:
Dennoch, was wir machen, ist richtig. Weniger für
den privaten Konsum und dem Staat Geld geben,
damit Bund, Länder und Gemeinden ihre Aufgaben
erfüllen können. Dazu muss man sich auch bekennen.
Herr Bundeskanzler, genau dazu - mehr für den Staat,
weniger für die Bürger - haben Sie sich mit Ihrem Konjunkturprogramm bekannt. Wir sind der Meinung, dass
es umgekehrt besser ist, und sagen deshalb: Gebt den
Bürgern mehr Freiheit, mehr Mittel und mehr Möglichkeiten, dann geht es auch dem Staat besser! Das ist der
fundamentale Unterschied zwischen Regierung und Opposition.
({3})
Die heutige Regierungserklärung des Bundeskanzlers, vor allem die Schlusspointe, hat durchaus einen bemerkenswerten Sinn für Humor offenbart. Am Schluss
seiner Rede hat der Bundeskanzler wörtlich gesagt:
Aber ich bin entschlossen, nicht mehr zuzulassen,
dass Probleme auf die lange Bank geschoben werden.
Das fällt einem Bundeskanzler ein, der am heutigen Tag
1 600 Tage im Amt ist! Genau das ist das Problem: Die
Reden des Bundeskanzlers bewirken nichts. Sie müssen
handeln und endlich Ihren Worten Taten folgen lassen.
In der heutigen Regierungserklärung war keine Linie.
Sie war eine einzige Liste, nicht mehr!
({4})
Die heutige Regierungserklärung sollte eigentlich
- tatsächlich ist nur ein bisschen Vibration übrig geblieben - eine „Ruck-Rede“ werden. Sie ist vom Kanzleramt
inszeniert worden. Sie haben vorab entsprechende Erklärungen an die Öffentlichkeit geben lassen. Allein das
Vorspiel zu dieser Rede - es wurde zum Beispiel die
Frage erörtert, welche Erwartungen man haben darf war bemerkenswert. Als ich dann aber die Regierungserklärung, die mir gestern Nacht nach Hause gefaxt
wurde, gelesen habe, habe ich mich gefragt: Wo ist der
Ruck? Es war lediglich ein bisschen Gezitter, Gebibber
und Rhetorik. Diese Rede bestand in weiten Teilen aus
Lyrik. Sie haben vor allen Dingen dann geklatscht, wenn
es darum ging, die Interessen der Gewerkschaftsfunktionäre zu verteidigen, aber nicht, wenn es darum ging, das
Land zu modernisieren.
({5})
Übrigens, Herr Kollege Müntefering, man kann sich
im Deutschen Bundestag sicherlich eine Menge vorwerfen. Aber es ist, glaube ich, nicht angemessen, dass Sie
Oppositionspolitikern dieses Hauses vorwerfen, sie seien
nur Formaldemokraten. Darüber sollten Sie noch einmal
nachdenken.
Während Herr Kollege Müntefering hier erklärt hat,
wie wichtig die Politik der Gewerkschaftsfunktionäre
sei, ist über die Agenturen die Nachricht über die erste
Reaktion Ihres grünen Parteifreundes Bsirske, des VerdiChefs, verbreitet worden. Er sagte zur Regierungserklärung von Gerhard Schröder wörtlich:
Nach 16 Jahren Umverteilung von unten nach oben
wird uns jetzt gesagt: Es war noch nicht genug Umverteilung.
Ich sage Ihnen dazu: Wir brauchen in Deutschland starke
Gewerkschaften, auch starke Tarifparteien. Aber wenn
Gewerkschaftsfunktionäre nicht mehr die Interessen ihrer Mitglieder, der Arbeitslosen oder der Arbeitnehmer
vertreten, dann gehören sie mit ihrem funktionärischen
Denken entmachtet und das werden wir in Angriff nehmen, wobei wir auch einen Konflikt nicht scheuen.
({6})
Genau das ist es doch, was in Wahrheit von Ihnen
hätte kommen müssen. Deswegen ist es in der Regierungserklärung auch nicht gebracht worden. Wo Sie konkret hätten werden müssen, haben Sie, Herr Bundeskanzler, Ausflüchte gemacht. Beispiel: Was ist denn in
Wahrheit das große Problem im Tarifvertragsrecht? Niemand sagt doch: Das Tarifvertragsrecht soll abgeschafft
oder aufgehoben werden. Was wir sagen, ist, dass das
Flächentarifvertragsrecht so nicht mehr in eine moderne Dienstleistungsgesellschaft passt. Das hat einen
ganz einfachen Grund. Wir erfahren immer wieder bei
Gesprächen und Verhandlungen auch in der Politik, dass
eine Unternehmerschaft und die Belegschaft eines Unternehmens sich auf etwas verständigt haben oder verständigen wollen und anschließend Gewerkschaftsfunktionäre kommen und im wahrsten Sinne des Wortes
einen roten Strich durch das machen, was souverän in
den Betrieben vereinbart wurde. Das hätte die Antwort
des Bundeskanzlers werden müssen, was die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes betrifft. Wenn sich
75 Prozent einer Belegschaft mit der Betriebsführung
auf etwas verständigen, dann soll das auch gelten dürfen,
ohne dass ein Gewerkschaftsfunktionär auf seinem Ledersessel das verhindern kann.
({7})
Dasselbe Problem zeigt sich bei dem, was hier zum
Kündigungsschutz gesagt worden ist. Ich freue mich,
dass der Bundeswirtschaftsminister noch da ist. Es ist
ohnehin eine Frage des Stils, was wir heute Vormittag erlebt haben. Vielen Dank an diejenigen von der Regierung, die noch hier sind.
({8})
- Dass jemand einmal kurz weg ist, ist kein Problem. Ich
will Ihnen trotzdem eines dazu sagen, bei allem Respekt.
Ich habe das Verhalten der Regierung während der Rede
von Frau Kollegin Merkel verfolgt. Man kann zu jeder
Rede in diesem Hause eine bestimmte Meinung haben,
aber wie sich diese Regierung auf der Regierungsbank
mit Faxen und zum Teil Klamauk verhält, wenn Leute
von der Opposition reden,
({9})
wirft die Frage nach dem Stil auf. Dieser Stil tut meiner
Einschätzung nach der Demokratie nicht gut.
({10})
Der eine telefoniert mit dem Handy, der Außenminister
wandert durch die Gänge und macht irgendwelche Faxen. Sie benehmen sich auf der Regierungsbank zum
Teil wie pubertierende Schüler im Aufklärungsunterricht. Das ist mittlerweile unerträglich geworden.
({11})
Ich bitte das Präsidium des Bundestages, sich dieser
Frage einmal anzunehmen und vor allen Dingen der Regierung mitzuteilen, dass hier das Verfassungsorgan
Deutscher Bundestag tagt und die Regierung gefälligst
mit Respekt gegenüber den Parlamentariern aufzutreten
hat. Das muss an dieser Stelle endlich einmal gesagt
werden.
({12})
Aber es ist ja bemerkenswert, Herr Bundeskanzler,
um zur Sache zu kommen, zu dem zweiten konkreten
Punkt - ({13})
- Das zeigt es wieder einmal. In Ihrem Alter sollte man
aus der Pubertät wirklich langsam heraus sein. Wirklich,
das ist notwendig. Furchtbar: mit 60 wie ein 14-Jähriger!
({14})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
jetzt noch auf etwas in der Regierungserklärung antworten, auf etwas, was der Bundeskanzler zu einem entscheidenden Thema gesagt hat. Das war in dem Konzept, das Sie uns zur Verfügung gestellt haben, noch weit
konkreter. Da war man ja überrascht. In dem Konzept
hieß es zum Tarifvertragsrecht, Sie seien der Überzeugung, es müsse mehr betriebliche Vereinbarungen geben,
aber das letzte Wort sollten dann die Tarifvertragsparteien haben. Denn alles, was innerbetrieblich vereinbart
werden solle, müsse sowieso von den Tarifvertragsparteien sanktioniert werden. Das ist doch das, was wir haben, und deshalb funktioniert es nicht.
Was Sie gesagt haben, Herr Bundeskanzler, war reine
Lyrik und reine Rhetorik. Sie sagen: Der Bundeswirtschaftsminister hat die volle Unterstützung, wenn er über
den Kündigungsschutz redet. Aber dazu haben Sie nichts
gesagt. Sie sagen, dass der Bundeswirtschaftsminister
die Unterstützung habe, Sie würden es so machen, wie er
es angekündigt habe, aber anschließend tragen Sie uns
zwei Gedankenmodelle vor, wie man es machen könnte.
So oder so, das ist Ihre Rede.
({15})
Das ist für eine Regierungserklärung zu wenig.
Ich habe mit Interesse verfolgt, was der Bundeswirtschaftsminister - ich möchte ihm aus Sicht der Freien
Demokraten an dieser Stelle ausdrücklich Recht geben gestern in München gesagt hat. Herr Clement, Ihre Äußerungen werden folgendermaßen wiedergegeben - ich
zitiere -:
Unterdessen schlug der Bundesminister Wolfgang
Clement in der Debatte um eine Lockerung des
Kündigungsschutzes vor, Kleinstbetrieben mit bis
zu fünf Mitarbeitern künftig eine unbegrenzte Zahl
befristeter Neueinstellungen zu erlauben.
Das ist der entscheidende Punkt. Lassen Sie uns das
doch machen! Herr Bundeskanzler, bekennen Sie sich
dazu, ob Sie es machen oder ob Sie es nicht machen!
({16})
- Nein, Sie haben Wolken vor sich hergeschoben. Vorgetragen haben Sie eben nicht das, was man konkret erwartet hat.
({17})
Herr Bundeskanzler, genau das ist das Problem: Sie meinen, eine medial geschickte Floskel sei schon ein Ersatz
für Regierungspolitik. Das funktioniert nun einmal nicht
und das merkt man an dieser Stelle ganz genau. Sie müssen endlich Butter bei die Fische tun. Ein Bundeskanzler
der Bundesrepublik Deutschland darf sich nicht daran
messen lassen wollen, ob er seine Ziele im Jahr 2010 erreicht hat. Er muss erklären, welche Ergebnisse seine
Politik bis zum Ende der Legislaturperiode erzielt haben
soll und zu welchen Zeitpunkten er welche konkreten
Maßnahmen ergreift.
({18})
In Wahrheit tun Sie nichts. Sie bleiben unverbindlich,
wo Sie konkret werden müssten. Konkret wurden Sie
nur da, wo Sie gesagt haben, was Sie nicht machen wollen. Das ist weiß Gott zu wenig.
({19})
Wir haben gestern schon einmal erlebt, dass Sie sich
davon verabschiedet haben, das zu tun, was wirklich notwendig wäre. Die Debatte über die Neufassung des Ladenschlussgesetzes hat Bände gesprochen.
Das, was für einen Neuanfang in diesem Land notwendig wäre, lässt sich mit der Überschrift „Marktwirtschaftliche Erneuerung“ zusammenfassen. Es geht um
eine Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft, zu der
Sie sich hätten bekennen müssen. Das heißt aber, dass
man sich den Problemen stellt. Sie müssten Steuersenkungen und Steuervereinfachungen vornehmen. Hier
kündigen Sie das Gegenteil an, nämlich die faktische
Ausweitung der Gewerbesteuer. Damit verabschieden
Sie sich vom Ziel der Einkommensteuerreform im Sinne
von mehr Steuergerechtigkeit.
({20})
Das passt einfach nicht zusammen.
Sie hätten sagen müssen, wie Sie das Tarifrecht konkret ändern wollen. Im Hinblick auf das Kündigungsschutzgesetz hätten Sie sagen müssen: Das ist es, was
wir machen wollen. Besser wäre es, denjenigen Arbeitgebern, die bisher nur fünf Beschäftigte haben, die
Chance zu geben, bei einer guten Auftragslage einen
sechsten Arbeitnehmer zu beschäftigen, ohne dass das
für sie bedeutet - das wäre das Ergebnis eines erweiterten, nicht rücknehmbaren Kündigungsschutzes -, in
schlechten Zeiten die gesamte Belegschaft entlassen und
Konkurs anmelden zu müssen. Die Situation in Deutschland wäre besser, wenn es mehr Arbeitsplätze mit etwas
weniger Kündigungsschutz als eine Massenarbeitslosigkeit mit vollem Kündigungsschutz gäbe.
({21})
Zu alldem kommt von Ihnen nichts Konkretes.
Sie behaupten, Ihr Vorhaben sei ein Investitionsprogramm und in Wahrheit gar kein Konjunkturprogramm.
Genauso hat man sich auch in den 70er-Jahren immer
ausgedrückt. In den 70er-Jahren hat es exakt vier Programme wie das gegeben, das Sie heute vorgestellt haben: Im Jahre 1974 gab es zwei solcher Programme und
in den Jahren 1975 und 1977 je eins. Das Ergebnis waren
- das laste ich gar nicht einer Partei allein an; in dieser
Hinsicht haben wir genauso unser Lehrgeld gezahlt - zunächst eine halbe Million Arbeitslose; später hat sich die
Arbeitslosenzahl mehr als verdoppelt.
Auch die Finanzierung Ihres Programms durch Mittel
der Kreditanstalt für Wiederaufbau bedeutet in Wahrheit
nichts anderes als eine Erhöhung der staatlichen Ausgaben. Sie setzen eben doch auf mehr Schulden. Ihre Regierungserklärung enthielt bereits Begründungen für das
Scheitern Ihrer Politik. Ende des Jahres wird von zwei
Ursachen die Rede sein.
Erstens: die Weltlage. Sie werden sagen: Der instabile
Frieden und ein möglicher Krieg haben uns daran gehindert, unsere Ziele zu erreichen. Ich wiederhole: Sie legen
schon jetzt Begründungen für das Scheitern Ihrer Politik
vor.
Zweitens - sehr bemerkenswert! -: Ihre Äußerungen
zum Stabilitätspakt.
({22})
- Ich gehe genau auf die Regierungserklärung ein. Ich
glaube, dass der Bundeskanzler nach dieser langen Regierungserklärung - die Regierungserklärungen werden
ja immer länger, auch wenn immer weniger drinsteht das Recht auf konkrete Antworten hat.
Sie sprechen von dem, was Sie vorbereiten. Sie sagen
zum Stabilitätspakt:
Dieser Pakt darf eben nicht statisch interpretiert
werden. Er lässt Raum ... für Reaktionen auf unvorhergesehene Ereignisse.
Damit sagen Sie in Wahrheit schon jetzt: Sie glauben
gar nicht mehr daran, dass Sie eine stabile Finanzpolitik
durchhalten können. Sie haben die Katze aus dem Sack
gelassen. Das ist erstens schlecht für die Menschen, die
es betrifft; denn nichts ist so unsozial wie eine Weichwährung. Zweitens ist es eine Katastrophe für Europa.
Wenn Deutschland diesen Weg der Instabilität geht, werden die anderen Europäer ebenfalls ihren Reformdruck
sausen lassen. Dann ist der Euro irgendwann eine
Weichwährung. Das wollen wir Freidemokraten verhindern.
({23})
Sie wollen ein Konjunkturprogramm wie in den 70erJahren auflegen; aber wenn es konkret werden soll, sind
Sie nicht konkret geworden. Auf der Bundesratsbank saß
eben, wie ich finde, eine berechtigterweise große Zahl
von Ministerpräsidenten. Sie hätten sich bei Ihren eigenen Ministerpräsidenten einmal erkundigen können, was
sie zum Teil in ihren Ländern machen. Wenn Gutes umgesetzt wird, sollte das auch erwähnt werden. Das ist
doch kein Problem. Man freut sich schließlich darüber,
wenn das in die Debatte eingebracht werden kann. Es
geht dabei doch nicht um einen Streit über Urheberrechte. Aber wenn in einer Regierungserklärung zum
Thema Zukunft der Wirtschaft und Zukunft des Landes
kein einziges Wort zum Krebsübel des Mittelstandes und
unserer wirtschaftlichen Entwicklung gesagt wird,
({24})
dazu, wie man das bürokratische Monstrum Staat etwas
zurückschneiden kann, zeigt das, dass Sie mit der Realität in Wahrheit nichts mehr zu tun haben.
({25})
Eine Regierungserklärung, die Deutschland eine neue
Perspektive geben soll, sich aber nicht an das Thema
Staatsausgaben - sprich: Subventionsabbau, Privatisierungspolitik - herantraut, die sich vor der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ins Unverbindliche flüchtet, die
auch noch das ganze Thema Bürokratieabbau ausspart,
eine solche Regierungserklärung ist nicht geeignet, dieses Land voranzubringen. So wird das nichts.
({26})
Das ist bedauerlich für die Menschen. Ich glaube,
meine sehr geehrten Damen und Herren, dass wir an dieser Stelle als Opposition die große Aufgabe haben, mit
unserer gemeinsamen Mehrheit im Bundesrat richtig zu
handeln. Frau Kollegin Merkel hat Recht, wenn sie darauf hinweist, dass Sie zu derselben Stunde, in der wir
im Deutschen Bundestag beraten, im Bundesrat Steuererhöhungen zur Abstimmung stellen. Sagen Sie nicht,
wir seien, weil wir diese Steuererhöhungen im Bundesrat
blockieren, die Übeltäter der Republik.
({27})
Nein, wir werden auch künftig das unterstützen, was
in die richtige Richtung geht. Erneuerung der sozialen
Marktwirtschaft ja, aber mehr bürokratische Staatswirtschaft nein.
({28})
Wenn Sie die Steuern erhöhen wollen, bekommen Sie
das bei den neuen Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat
nicht durch. Dafür werden die Oppositionsparteien in
diesem Hause und im Bundesrat sorgen.
({29})
Es ist sehr bedauerlich, dass Sie Ihre Chance nicht genutzt haben. Sie haben im Vorfeld eine große Erwartungshaltung geschaffen. Diese Erwartungshaltung hat
dazu geführt, dass sehr viele Menschen heute Vormittag
Ihre Rede gehört haben, weil sie gedacht haben, wunders
was da kommt.
({30})
Sie dachten, jetzt käme eine Ruckrede wie damals von
Herzog. Das war es aber nicht.
({31})
Meine Damen und Herren, es wäre sehr schön gewesen, wenn es an dieser Stelle heute mehr Bewegung gegeben hätte. Wir hätten Ihnen gerne Beifall gespendet.
({32})
Aber dieser Politik können wir keine Zustimmung geben, weil sie das Land eher zurückführt, als es nach
vorne zu bringen. Sie sind auf dem alten Weg. Sie haben
sich nicht an das erinnert, was Sie 1999 gemeinsam mit
Tony Blair aufgeschrieben haben. Das hätten Sie hier sagen sollen. Sie hätten Ihr altes Papier vorlegen sollen.
Darauf hätten wir vielleicht gesagt: Das kommt zwar ein
paar Jahre zu spät, aber wenigstens gehen Sie jetzt in die
richtige Richtung.
Sie sind mit dieser Regierung gescheitert und so kommen Sie nicht mehr auf die Beine. So bekommen Sie ein
paar Blumen von den Sozen, aber nicht die Zustimmung
des Volkes, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({33})
Das Wort hat jetzt die Fraktionsvorsitzende von
Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Westerwelle, das war schon eine Leistung: Sie haben fast
20 Minuten lang geredet, haben ein paar Bemerkungen
über gutes Benehmen gemacht, als ob wir hier nicht im
Deutschen Bundestag, sondern in der Tanzstunde wären,
({0})
haben aber keinen einzigen inhaltlichen Vorschlag gebracht. Ihr ganzes Gequatsche über Steuersenkungen
entbehrt jeglichen Fundaments.
Schauen wir uns einmal den Antrag an, den Sie eingebracht haben. Sie haben offenbar die Zeitungen gelesen.
Alle Vorschläge, die in den letzten Wochen und Monaten
in den Zeitungen standen, finden sich in Ihrem Antrag
auf grünem Papier wieder. Sie haben in der FDP aber offensichtlich niemanden, der einen Taschenrechner besitzt und die Zahlen am Ende zusammenrechnet. Das ist
das Problem.
({1})
Die Kosten für die in Ihrem Antrag enthaltenen Vorschläge belaufen sich auf 45 Milliarden Euro. Sie hatten
aber keinen Taschenrechner dabei, was heute wieder bewiesen wurde.
Herr Westerwelle, Sie sprechen von der Bürgergesellschaft. Bei Ihnen bedeutet Bürgergesellschaft, dass jede
und jeder auf sich gestellt ist. Bei uns bedeutet Bürgergesellschaft soziale Gerechtigkeit für alle. Das meinen wir,
wenn wir von Bürgergesellschaft reden, und nicht, dass
jeder seines Glückes Schmied sein soll.
({2})
Die rot-grüne Koalition hat sich mit der Regierungserklärung des Bundeskanzlers eindrucksvoll auf der innenpolitischen Bühne zurückgemeldet.
({3})
Der Kanzler hat hier die Agenda 2010 vorgelegt. Auch
wenn die wirtschafts-, sozial- und weltpolitischen Bedingungen extrem schwierig sind: Wir müssen die wirtschafts- und sozialpolitische Blockade überwinden, die
uns nicht erst seit vier oder fünf Jahren, sondern schon
seit mindestens zwei Jahrzehnten lähmt. Darum geht es
mit Blick auf das Gemeinwohl und damit wir die Veränderungen, die notwendig sind, sozial gerecht gestalten
können, und damit wir unserer Verantwortung für die
heutige sowie die kommenden Generationen gerecht
werden.
({4})
Lassen Sie mich nun zu dem Thema kommen, das in
Deutschland wohl die meisten Menschen bewegt, nämlich das Thema Krieg und Frieden, die Frage des Krieges
im Irak. Ich glaube, wir sind uns hier im Hause alle einig: Nichts wäre uns lieber, als dass die Menschen in diesem Land von dem Terrorregime des Saddam Hussein so
schnell wie möglich befreit würden. Wir wissen aber
auch: Krieg in dieser Region würde zur Destabilisierung
beitragen. Er hätte unglaubliche Folgen für dieses Land
und die gesamte Region. Er hätte Folgen hinsichtlich der
terroristischen Gefahren für uns alle.
Deswegen bin ich so froh, dass diese Regierung sehr
frühzeitig gesagt hat: Nein, militärische Mittel im Irak
sind nicht richtig. Nein, wir werden alles tun und uns dafür einsetzen, dass es nicht zu einem solchen Krieg
kommt. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich bei Bundeskanzler Schröder und Joschka Fischer.
({5})
Frau Merkel, mit dieser Frage haben Sie sich offensichtlich nicht ausreichend beschäftigt. Es ist viel darüber spekuliert worden, wann Deutschland aufgrund
seiner klaren Haltung gegen den Krieg isoliert sein
würde. Heute können wir festhalten: Deutschland steht
alles andere als isoliert da. Auch wenn die Motive der
Länder, die eine Allianz gegen den Krieg bilden, sehr
unterschiedlich sein mögen, ist klar: Es gibt in der Weltgemeinschaft heute eine breite Mehrheit dafür, zu sagen:
Eine Militärintervention im Irak wäre zu einem Zeitpunkt, wo wir mit der friedlichen Entwaffnung weiter
sind, als wir es je gedacht haben, fatal. Aber das müssen
auch diejenigen erkennen - Herrn Pflüger kann ich im
Moment nicht entdecken ({6})
die der Meinung sind, dass das militärische Drohpotenzial so nötig wäre. Sie müssen sich heute auch dazu bekennen, dass militärische Interventionen zu diesem Zeitpunkt nicht richtig sind. Das erwarte ich von Ihnen, aber
nicht das Rumgeeiere von Frau Merkel, das wir heute
wieder erlebt haben und angesichts dessen wir uns schon
seit Wochen fragen, was eigentlich die Position der
Union ist.
({7})
Ich nehme einmal die Aussagen dieser Woche. Frau
Merkel legte sich nicht fest. Sie sagte am Montag: Die
völkerrechtliche Betrachtung wird nur ein Element in
der Gesamtbewertung sein. Herr Glos am Dienstag: Die
Union wird im Konfliktfall keinen Zweifel daran lassen,
dass sie fest an der Seite der USA steht. Herr Kauder am
Dienstag: Wo wir stehen, haben wir klar gesagt: an der
Seite Amerikas. Er sagt weiter, dass die Union dennoch
keine eindeutige Position zu dem Konflikt formulieren
könne, da die Dinge ständig im Fluss seien. Herr
Schäuble am Donnerstag: Ein Krieg muss auf der Basis
des Völkerrechts geschehen.
Das ist die Positionierung der Union allein in dieser
Woche. Ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger haben
ein Recht darauf, dass Sie endlich einmal sagen, wofür
Sie eigentlich sind.
({8})
Da wird von einer zweiten Resolution geredet. Frau
Merkel sagt uns und der Öffentlichkeit auf einer Pressekonferenz am Montag, dass Sie darüber, wie Sie sich
verhalten werden, erst dann entscheiden werden, wenn
darüber abgestimmt worden ist.
({9})
Meine Kinder machen das so bei der Bundesliga: Erst
am Ende entscheiden sie sich, zu wem sie halten. Das ist
meistens der Tabellenführer. So machen Sie Politik.
({10})
Frau Merkel, wenn Sie heute wirklich Mut gehabt
hätten, dann hätten Sie ehrlich gesagt, dass die Position
von Bundeskanzler Schröder und von Außenminister
Fischer richtig ist, weil sie zu einer friedlichen Entwaffnung beiträgt. Bis zuletzt muss jede nur mögliche
Chance genutzt werden, um den Krieg im Irak zu verhindern. Dafür steht die Bundesregierung und dafür stehen
wir.
({11})
Lassen Sie mich zur Innenpolitik kommen, wo es sich
ähnlich verhält. Frau Merkel, auch da wissen Sie offensichtlich nicht, was eigentlich Ihre Positionierung ist. Sie
haben von dem Dreistufenplan und von Leitideen gesprochen. Herr Stoiber hat einen 31-Stufen-Plan aufgestellt; dessen Umsetzung dauert vielleicht etwas länger.
Wir hätten uns gefreut, wenn wir erfahren hätten, was eigentlich die Position der Union ist. Wenn ich mir Ihre
Rede und die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers vor Augen führe, dann muss ich ehrlich sagen,
dass Sie nicht sehr konkret geworden sind.
({12})
Es gab nur ein paar allgemeine Ideen, die man gut finden
kann oder auch nicht. Wo Sie konkret geworden sind,
Frau Merkel, haben Sie gesagt, dass Sie es so machen
wollen, wie es der Bundeskanzler machen will. Das ist
Ihre Politik und Ihr Dreistufenkonzept nach dem Motto
„Doppelt gemoppelt hält besser“. Vielleicht erfahren wir
bei den 31 Punkten etwas Konkretes. Ich glaube, das Hin
und Her, das wir zwischen Merkel und Stoiber erleben,
sollten wir Deutschland nicht antun.
({13})
Auch wenn es in den letzten Wochen und Monaten für
diese Koalition nicht gut ausgesehen hat: Ich will daran
erinnern, was wir in unserer ersten Regierungslegislaturperiode getan haben - das ist mehr als das, was Sie, besonders die FDP, in vielen Jahren Regierungszeit auf den
Weg gebracht haben -, und will nur die wichtigsten
Punkte nennen:
({14})
Haushaltskonsolidierung eingeleitet, eine wirklich mutige Steuerreform auf den Weg gebracht, den ersten wesentlichen Reformschritt in der Rentenversicherung
durchgeführt, die Arbeitskosten durch die Ökosteuer gesenkt und damit zugleich zum Klimaschutz beigetragen.
Diese Instrumente reichen aber nicht mehr aus. Die
veränderte Situation führt dazu - das müssten auch Sie
langsam zur Kenntnis nehmen, meine Damen und Herren von der Opposition -, dass wir nicht mehr automatisch auf Wachstum setzen können und dass wir uns
nicht mehr darauf verlassen können, dass es jährlich
Wachstum gibt. Deshalb brauchen wir ein Gesamtkonzept, wie es der Bundeskanzler heute vorgeschlagen hat.
({15})
Zusätzlich hat die weltwirtschaftliche Situation Druck
erzeugt. Aber die eigentlichen Probleme liegen tiefer. Es
geht um die demographische Entwicklung, die die Finanzgrundlagen der Sozialkassen sprengt. Es geht um
die hohen Lohnzusatzkosten, die durch die falsche Finanzierung der deutschen Einheit und durch einen Reformstau in den Sozialsystemen zustande gekommen
sind. Das führt dazu, dass nicht genügend Arbeitsplätze
entstehen, und das wiederum engt unsere Handlungsmöglichkeiten ein, genauso wie die hohe Verschuldung
unsere Handlungsmöglichkeiten massiv einengt.
Wir brauchen den Mut zu Veränderungen. Dabei ist es
die Gerechtigkeit selbst, die nach Veränderungen verlangt. Denn nur so können wir das bewahren, was
Deutschland in sozialer Hinsicht ausmacht.
({16})
Es geht darum, den Sozialstaat auf die radikal veränderten Bedingungen einzustellen: Wie wird Deutschland
attraktiver? Deutschland wird dadurch attraktiv, dass es
ein kinderfreundliches Land ist, dass es Vorreiter im Klimaschutz ist, dass hier die Schöpfung bewahrt wird, dass
es letztlich ein guter Standort für Innovationen ist. Wie
werden wir schneller, was den technischen Fortschritt
angeht? Wie werden wir besser, was die Qualität der sozialen Sicherung und was die Bildungschancen, die Investitionen in die klugen Köpfe angeht? Aber auch: Wie
werden wir besser, was das Zusammenleben in Deutschland angeht? Wir wollen Zuwanderung, die wir in diesem Land aus ökonomischen Gründen dringend brauchen,
({17})
gestalten und sie durch notwendige Integrationsmaßnahmen begleiten.
({18})
Ich bin dem Bundeskanzler dankbar, dass er all dies hier
umrissen hat.
Immer mehr Menschen in Deutschland sind ohne Job.
Wenn wir über Gerechtigkeit sprechen, dann - darin sind
wir uns hier wahrscheinlich alle einig - geht es vor allem
um Gerechtigkeit für jene, die heute außen vor sind. Das
ist die zentrale Frage: Wie sorgen wir dafür, dass nicht
immer mehr Menschen immer länger außen vor bleiben?
Dem muss sich alles unterordnen.
Deswegen reden wir darüber, wie es gelingen kann,
dass die Lohnzusatzkosten deutlich gesenkt werden. In
einem ersten Schritt wird dies im nächsten Jahr geschehen. Ich kann nur all denen zustimmen, die sagen: Dieser
erste Schritt muss uns unter die 40-Prozent-Marge führen. Aber das wird nicht reichen,
({19})
wir werden weitermachen müssen. Ich glaube, dass wir
es in den nächsten Jahren schaffen werden, die Lohnzusatzkosten um weitere Prozentpunkte zu senken. Eine
Senkung um 5 Prozent bis 2006 ist ein ehrgeiziges Ziel;
aber das ist zu schaffen.
({20})
Deshalb macht es Sinn, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes zu verkürzen - es geht eben nicht
mehr, dass die Unternehmen Ältere auf Kosten der Beitragszahler aus dem Arbeitsprozess drängen - und betriebliche Bündnisse für Arbeit zu schließen. Das ist hier
sehr deutlich vorgetragen worden, Herr Westerwelle; da
haben Sie einfach nicht zugehört. Die Unternehmen
müssen ihrer Pflicht zur Ausbildung in einem umfassenden Sinne gerecht werden.
Natürlich dürfen wir nicht nur über Maßnahmen des
zweiten Arbeitsmarktes und der Vermittlung reden, sondern müssen vor allem den ersten Arbeitsmarkt gestalten:
Wir brauchen Innovationen auf ökologischem Gebiet.
Weil dieser Wirtschaftszweig der neben dem Gesundheitsbereich einzige Wachstumssektor ist, kommt es auf
Innovationen in ökologischer Hinsicht besonders an.
({21})
Gerade in einer Situation, da der Ölpreis in die Höhe
schnellt und sich selbst die USA entschließen, Milliarden in die Förderung von Wasserstofftechnik zu investieren, gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass
Erdöl weltweit nur noch für 40 Jahre reichen wird, ist
eine langfristige Strategie, weg vom Erdöl, unverzichtbar - in unserem eigenen Interesse und im Interesse der
weltweiten Stabilität. Dazu müssen wir Energieeffizienz
und erneuerbare Energien miteinander kombinieren. Wir
müssen in Zukunftstechnologien investieren und ihnen
zum Durchbruch verhelfen. Letztlich müssen wir Ölimporte ersetzen durch inländischen Ingenieursverstand
und inländische Handwerksleistungen. Auf eine solche
Strategie kommt es jetzt an: weg vom Erdöl und hin zu
mehr Arbeitsplätzen. Wir werden das angehen.
({22})
Weil die Frage der Arbeitskosten so zentral ist, ist
auch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe richtig. 70 Prozent der Menschen, die heute
Arbeitslosenhilfe bekommen, erhalten weniger als den
Sozialhilfesatz. Deswegen ist es richtig, was der Bundeskanzler vorgeschlagen hat: dass diese Zusammenlegung vom Niveau her auf der Höhe der Sozialhilfe stattfindet. Natürlich müssen diejenigen, Frau Merkel, die
Kinder haben, mehr bekommen. Das war von vornherein
klar und das war mit „grundsätzlich“ gemeint. An dieser
Stelle wird es darum gehen, zu neuen Angeboten zu
kommen.
Wenn wir Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einem Arbeitslosengeld II zusammenlegen, muss das aber auf der
anderen Seite heißen, dass jeder und jede ein Angebot
erhält. Es muss jedem ermöglicht werden, Arbeit, Leiharbeit, eine Weiterbildung oder eine öffentliche Beschäftigung zu bekommen. Ich sage dies in aller Klarheit: Es
kann nicht sein, dass die Arbeitsämter in diesem Land
heute eine Maßnahme nach der anderen streichen, die
insbesondere Jugendlichen zugute kommen. Zudem
kann ich die Tonlage, die mit Blick auf die ABM-Kräfte
in Ostdeutschland angeschlagen wird, nach dem Motto:
„Das ist eine Form von sozialer Hängematte“, nicht akzeptieren.
({23})
Diese Menschen in Ostdeutschland haben sich ihre Situation nicht ausgesucht. Wir müssen dafür sorgen, dass
die Fördermaßnahmen fortgeführt werden.
Fördermaßnahmen sind auch im Bereich der öffentlichen Beschäftigung notwendig. Die Integration in den
Arbeitsmarkt braucht Strukturen. Diese müssen überprüft und zum Teil neu gestaltet werden. Wichtig aber
ist, dass sie gerade angesichts dieser Situation erhalten
bleiben.
({24})
Frau Merkel, wir haben Ihre Auffassungen zum Kündigungsschutz gehört. Natürlich gibt es im Arbeitsrecht
eine Reihe von Verkrustungen. Mir hat ein junger Unternehmer erzählt, er habe jetzt bereits drei Firmen mit jeweils fünf Beschäftigten gegründet, weil er nicht wisse,
wie sich seine Situation in den nächsten Jahren entwickeln werde. Das kann doch nicht sein. Selbstverständlich ist es gerecht, dass jemand, der seit 20 Jahren in einem Unternehmen beschäftigt ist, einen umfassenden
Kündigungsschutz hat. Auf der anderen Seite aber ist es
nicht gerecht, dass eine halbe Million Menschen unter
25 Jahren ohne Arbeit sind und noch nie auf dem ersten
Arbeitsmarkt tätig waren. Deswegen müssen wir in diesem Bereich etwas ändern.
Der Bundeskanzler hat hier sehr klar gesagt, um welche Änderungen es geht: Es geht um Abfindungsregelungen. Es geht darum, dass hinsichtlich des Kündigungsschutzes bei Betrieben mit mehr als fünf Beschäftigten
diejenigen, die befristet und in der Probezeit beschäftigt
sind, herausgerechnet werden. - Wenn Sie zugehört hätten, Herr Westerwelle, hätten Sie das vielleicht verstanden. - Die dadurch geschaffene Flexibilität ist sozial gerecht und führt dazu, dass denjenigen, die sich schon
lange in der Arbeitslosigkeit befinden, der Zutritt zum
Arbeitsmarkt erleichtert wird. Dies wird in anderen Ländern bereits praktiziert.
({25})
Was uns nicht weiterhilft, Herr Westerwelle und Herr
Merz, ist ein Freund-Feind-Denken: hier die Wirtschaft,
da die Arbeitnehmer. Ihre Kriegserklärung gegen die
Gewerkschaften ist dümmlich und spalterisch. Wie
kommt es eigentlich, Herr Westerwelle - das interessiert
mich schon -, dass Sie so nicht auch über bestimmte Gesundheitslobbyisten reden? - Sie tun dies nicht, weil Ihnen das nicht in Ihren Klientelkram passt.
({26})
Ich bin froh, dass der Bundeskanzler klar gemacht
hat, dass in diesem Land weder die Arbeitgeberverbände
noch die Gewerkschaften regieren.
({27})
Rot-Grün regiert und handelt.
({28})
Alle müssen einen Beitrag dazu leisten.
({29})
Wenn ich mir heute die Aufstellung in diesem Haus
ansehe, möchte ich an Folgendes erinnern: Es ist erst ein
knappes Jahr her, als Frau Merkel im Bayerischen frühstücken war. Wenn man sich die Chaostruppe heute ansieht, dann fragt man sich: Telefonieren Sie eigentlich
noch manchmal mit Herrn Stoiber oder laufen Ihre Vorstellungen inzwischen alle nebeneinanderher? Bezug des
Arbeitslosengeldes kürzer, länger oder gar nicht! Kündigungsschutz so oder anders! Aus Ihren Reihen gibt es
dazu mindestens drei verschiedene Vorschläge. Als der
Bundeskanzler vorhin gesagt hat, er wolle erreichen,
dass der Beitrag zur Krankenversicherung auf unter
13 Prozentpunkte sinkt, hat Herr Stoiber ganz hektisch
in seinem Manuskript gestrichen. Wahrscheinlich stand
dort noch sein Vorschlag mit 14 Prozentpunkten.
({30})
Das ist Ihre Politik. Ganz schnell wird noch etwas geändert. Frau Merkel wusste vermutlich noch nicht einmal,
dass er dies heute vorschlagen wollte. Ich kann nur sagen: Ihr Verhalten ist schon sehr bemerkenswert.
Ich erinnere auch an gestern, als Sie hier ein wahres
Affentheater veranstaltet haben.
({31})
Sie haben einen Hammelsprung herbeigeführt wegen der
Verlängerung der Ladenöffnungszeiten um vier Stunden.
Man kann wirklich nur fragen: Wo ist die Reformkraft in
diesem Lande, wenn Sie wegen der Erweiterung der Ladenöffnungszeiten um vier Stunden einen Hammelsprung herbeiführen müssen, anstatt zuzustimmen, damit
sich in diesem Lande etwas bewegt?
({32})
Wenn Sie bei der Union herausfinden wollen, wer bei
Ihnen den Hut aufhat, dann müssen Sie - den Eindruck
habe ich - erst einmal einen Stuhlkreis - so kennen wir
das aus dem Kindergarten - veranstalten.
({33})
Zum Thema Rente. Frau Merkel, auch hier wieder
Fehlanzeige. Ich weiß nicht, ob Sie sich in den letzten
Jahren überhaupt einmal mit den Reformen der Rentenversicherung beschäftigt haben. Sie haben wieder den
demographischen Faktor angeführt. Wie schön! Den
kennen wir schon. Wir haben einen demographischen
Faktor in die Rentenformel aufgenommen. Das haben
Sie vielleicht nicht mitbekommen, aber das ist so.
({34})
Es gibt einen immer größeren Anteil älterer Menschen in unserem Land.
({35})
Auch wenn wir mit der Privatvorsorge den entscheidenden Strukturschritt gemacht haben, müssen wir weiter
darauf reagieren. Das bewältigen wir, glaube ich, nicht
mit kurzfristigen Maßnahmen. Wir haben uns sehr darüber geärgert - Sie wissen das -, dass im letzten Jahr beschlossen worden ist, die Rentenbeiträge steigen zu lassen und nicht auch von den Rentnerinnen und Rentnern
einen Beitrag zu verlangen. Mit solch kurzfristigen Maßnahmen kommen wir jetzt nicht weiter. Wir müssen auch
das auf eine solide Grundlage stellen.
Wenn sich die Rentnerinnen und Rentner beteiligen
sollen - sie sind dazu bereit -, dann müssen wir die
Grundlage für die Rentenanpassung verändern. Das können wir so verändern, dass sich die Rentenanpassung
nicht mehr nur an denjenigen bemisst, die Einkommen
beziehen, sondern an all denjenigen, die Rentenbeiträge
zahlen, also auch an den Arbeitslosen. Wenn die Rentenanpassung tatsächlich die Entwicklung des Lebensstandards widerspiegeln soll, dann sollten wir das so
ändern; denn dann beteiligen sich alle, auch die Rentnerinnen und Rentner. Das ist ein Beitrag zu mehr Generationengerechtigkeit, der auf lange Sicht auch tatsächlich
Wirkung entfaltet.
({36})
1,6 Millionen Frauen und Männer in Deutschland,
und zwar meist Mütter, arbeiten nur deswegen nicht,
weil es keine Kinderbetreuungsmöglichkeiten gibt. Das
DIW rechnet vor: Wenn die alle in Arbeit wären, hätten
wir 6 Milliarden Euro mehr an Steuereinnahmen und
fast 9 Milliarden Euro mehr in den Sozialkassen. Nun
würden sicherlich nicht alle Jobs bekommen; aber wir
brauchen weiterhin Fachkräfte in Deutschland und wir
verschenken weiterhin ein riesiges Potenzial. Wenn ich
mir das unendliche Gezerre um die Ganztagsschulen
angucke, Frau Merkel oder die Damen und Herren auf
der Bundesratsbank - so viele sind es nicht mehr -, dann
kann ich nur darum bitten: Lassen Sie uns das mit der
Kinderbetreuung anders machen! Herr Stoiber und Frau
Reiche - ich weiß nicht, ob sie noch hier ist -, vielleicht
unternehmen Sie noch einmal einen Anlauf. Frau Merkel
hat von der Demographie und von den vielen Schwierigkeiten geredet. Nachdem Sie jetzt Ihr Familiengeld unter
Absingen des Chorals vom größten Wahlbetrug feierlich
beerdigt haben, bitte ich Sie: Machen Sie einen neuen
Anfang mit uns - für mehr Kinderbetreuung!
({37})
Zu Recht hat der Bundeskanzler darauf hingewiesen,
dass der entscheidende Reformteil im Gesundheitssystem stattfinden muss, weil es dort falsche Anreize für
Patienten wie für Ärzte und Krankenhäuser gibt. Es kann
nicht sein, dass man mit einer Laboruntersuchung x-fach
mehr verdienen kann als mit einem ausführlichen Gespräch beim Hausarzt. Es kann nicht sein, dass in
Deutschland die Heilungschancen bei Brustkrebs deutlich geringer sind als in vielen anderen Ländern dieser
Welt. Es kann nicht sein, dass wir uns eine doppelte
Facharztstruktur leisten.
({38})
Deswegen brauchen wir mehr Wettbewerb. Herr
Seehofer, ich glaube, dass wir da an vielen Stellen übereinkommen. Wir brauchen mehr Wettbewerb um das
Richtige, nämlich um Qualität und Effizienz. Aber wir
müssen auch ganz ehrlich sagen: Wir werden in diesem
System nicht mehr alles aus der Solidargemeinschaft bezahlen können. Wir müssen uns also gemeinsam entscheiden, wie wir welche Finanzierung vornehmen. Die
beiden Vorschläge, die der Bundeskanzler gemacht hat,
nämlich beim Krankengeld und bei einer Gebühr für den
Arztbesuch einzusteigen, finde ich richtig, weil sie uns
weiterbringen, auch was die Beitragssätze angeht.
Trotzdem müssen wir über die versicherungsfremden Leistungen reden. Brauchen wir in Deutschland
noch ein Sterbegeld? Ist es denn wirklich noch gerechtfertigt, dass Ehefrauen oder Ehemänner, die weder
Kinder erziehen noch Angehörige pflegen, in der gesetzlichen Krankenversicherung auf Kosten der Solidargemeinschaft mitversichert werden? Das ist, finde ich,
nicht gerecht. Durch die Abschaffung dieser Leistung
könnten die Beitragssätze um einen Punkt gesenkt werden. Das sollten wir für die Gerechtigkeit in diesem System tun.
({39})
Sie müssen aber auch sagen, wie Sie unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten - nur das meine ich mit Zuwanderung umgehen wollen. Die Frage der Zuwanderung wird eine Nagelprobe für die Modernisierung
der Wirtschaft sein. In einer schwierigen wirtschaftlichen
und arbeitsmarktpolitischen Situation einfach zu sagen:
„Macht die Grenzen dicht!“, zeugt von wirtschaftspolitischer Inkompetenz. Denn zu einer modernen Wirtschaft
gehört ein modernes Zuwanderungsrecht.
({40})
Zuwanderung heißt auch - das haben Ihnen die Wirtschaftsverbände ins Stammbuch geschrieben -, dass es
in Deutschland zu Neugründungen und Flexibilität
kommt. Dadurch entstehen Arbeitsplätze für Deutsche;
eigentlich wissen Sie das. Ich hoffe, Sie kommen zur
Vernunft, und ich hoffe, wir werden im Bundesrat ein
Übereinkommen erzielen. Dies betrifft die Menschen,
die zu uns kommen, sowie Innovationen in Deutschland
und sogar in Bayern, Herr Stoiber. Deswegen sollten Sie
sich an dieser Stelle bewegen.
({41})
Zum Schluss möchte ich auf ein Potenzial verweisen,
das wir verspielen, wenn wir nicht sehr schnell handeln.
Ich meine Investitionen in die Köpfe. Auch dazu haben
wir von Frau Merkel keinen Vorschlag, sondern nur Blabla gehört. Also Fehlanzeige!
Dem Aufschrei nach der PISA-Studie folgte hektische Aktivität. Inzwischen haben wir hektische Lähmung. Ich verstehe nicht, warum es so schwer sein soll,
Schulautonomie und Durchlässigkeit zu organisieren.
Ich verstehe nicht, warum wir Kinder nach wie vor
gleichschalten. Ich verstehe nicht, wie wir es zulassen
können, dass 23 Prozent der Jugendlichen ohne ausreichende Kenntnisse im Rechnen und Schreiben die Schulen verlassen. Wenn damit nicht endlich Schluss sein
wird, wenn die Chancen der Kinder und der Jugendlichen nicht endlich verbessert werden, dann werden die
Chancen Deutschlands rapide sinken.
Deswegen ist es richtig, dass wir heute sagen: Wir
müssen in Bildung und in Forschung investieren. Diese
Bereiche dürfen den Sparmaßnahmen, die an vielen Stellen richtig sind, nicht zum Opfer fallen. Diese Zukunftsinvestitionen in Forschung und Technologie müssen gerade vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeit erfolgen.
Hier darf nicht gespart werden. Im Gegenteil!
({42})
Meine Damen und Herren, bei allen Problemen, die
wir haben, halte ich nichts davon, Deutschland bzw. die
deutsche Wirtschaft, die deutsche Politik und die deutschen Verbände schlecht zu reden; denn wir reden uns
damit selber schlecht. Ich glaube, dass dieses Land die
Kraft hat, aus der Krise herauszufinden. Die Bereitschaft
ist vorhanden. Die Lobby derer, die sagen: „Reformen
ja, aber nicht bei uns!“,
({43})
hat spätestens mit dem heutigen Tag klar gesagt bekommen, dass man damit nicht mehr durchkommt.
Wir brauchen die Allianz mit den Bürgerinnen und
Bürgern. Das wollen wir im Interesse aller, im Interesse
unserer Kinder und unserer Kindeskinder. Wir müssen
endlich wieder das Ganze bzw. das Gemeinwohl im
Blick haben. Dann können wir es schaffen.
Im Vorfeld ist ja viel über die Regierungserklärung
geredet worden.
({44})
Manchmal hatte ich das Gefühl: Wenn der Kanzler all
dem gerecht werden wollte, was gesagt worden ist, dann
hätte er über Wasser gehen oder mit fünf Broten und ein
paar Fischen die ganze Nation satt und glücklich machen
müssen. Weil wir aber Menschen sind, kann man keine
Wunder erwarten. Man kann jedoch erwarten, dass wir
das Notwendige tun. Was das Notwendige ist, hat der
Kanzler sehr eindrücklich in Form der Agenda 2010 dargestellt. Sie steht Ihrem Chaos, Frau Merkel und Herr
Stoiber, und der allgemeinen Eierei gegenüber.
({45})
Ich kann nur empfehlen: Machen Sie mit, damit es mit
Deutschland endlich wieder aufwärts geht!
Vielen Dank.
({46})
Das Wort hat jetzt der Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Edmund Stoiber.
({0})
Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({1}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine sehr verehrten Herren!
({2})
Millionen Menschen in Deutschland haben Angst, Angst
um eine sichere Zukunft. Das gilt sowohl für den außenpolitischen wie auch für den innenpolitischen Bereich. In
weiten Teilen unseres Landes herrscht tiefe Depression.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie glauben, das, was ich
hier sage, lächerlich machen zu können, kennen Sie offenbar die Wirklichkeit nicht.
Ministerpräsident ({3}) Dr. Edmund Stoiber
({4})
Eine richtige Therapie - Sie haben heute versucht, Therapien zu verordnen - setzt eine richtige Analyse voraus.
Wenn Sie sich vor Augen halten, dass laut einer Umfrage
von Gallup Deutschland, die in fast 100 Ländern durchgeführt wurde, nur noch 13 Prozent der Deutschen optimistisch gestimmt sind und dass Deutschland damit mit
Abstand auf dem letzten Platz liegt, dann kann ich ganz
offen sagen: Natürlich herrscht in diesem Lande gegenwärtig eine depressive Stimmung, wie ich sie in meinem Leben noch nicht erlebt habe.
({5})
Die heutige Debatte über die Zukunft Deutschlands
ist überfällig.
({6})
Aber sie wird überschattet von der Krise um den Irak. In
der Außenpolitik sehen wir, dass Säulen, die die Weltordnung bisher getragen haben und die uns fünf Jahrzehnte lang Frieden und Freiheit gesichert haben, ins
Wanken geraten. Die UN, die NATO und die Europäische Union sind gespalten wie nie zuvor.
Dafür trägt diese Bundesregierung Mitverantwortung,
({7})
und zwar durch ihre Vorwegfestlegungen und durch die
Verweigerung des transatlantischen Dialogs. Im deutschen Interesse muss unser gemeinsames Ziel lauten:
Die Irakfrage darf nicht zu einem dauerhaften Schaden
führen, nicht für Deutschland, für Europa, für die NATO
und für die UN.
({8})
Ich möchte nicht mehr die Differenzierung zwischen
Kriegswilligen und Friedfertigen aufgreifen, die Sie in
diesem Zusammenhang in diesem Hause getroffen haben. Ich möchte festhalten - das sollte niemand mehr bestreiten -: Alle hier in diesem Hause wollen Frieden.
Niemand will den Krieg. Deshalb sollte man mit diesen
Dingen sehr vorsichtig sein.
({9})
Krieg ist immer eine Katastrophe,
({10})
wo auch immer auf der Welt. Doch Friedenswille allein
genügt nicht, um den Frieden zu bewahren.
({11})
Der Friedenswille der Bundesregierung hat den Diktator
in Bagdad nicht beeindruckt. Es war die amerikanischbritische Entschlossenheit, die zur Wiederaufnahme der
Inspektionen und zu den diplomatischen Initiativen
geführt hat. Der deutsche Beitrag dazu war gleich null.
({12})
Herr Bundeskanzler, Sie halten sich zugute, die Inspektionen seien ein wirksames Instrument. Aber Sie
verschweigen erneut, dass nur die militärische Drohung,
die Sie abgelehnt haben, den Erfolg der Inspektoren
überhaupt möglich gemacht hat. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, wären im Irak keine Inspektoren.
({13})
Was Deutschland militärisch leistet, dieser militärische Beistand - Überflugrechte,
({14})
Schutz amerikanischer Stützpunkte, ABC-Schützenpanzer, Patriot-Raketen und AWACS-Einsätze, Hilfe zur
See -, trennt uns nicht.
({15})
Doch außenpolitisch trennen uns Welten, nämlich infolge Ihres Sonderweges seit August letzten Jahres Herr
Bundeskanzler. Sie haben, statt den Dialog mit unseren
amerikanischen Freunden zu suchen, eine Mauer des
Schweigens aufgebaut. Wir müssen schon heute daran
arbeiten, die Kluft zwischen Amerika und den internationalen Bündnissen wieder zu schließen. Deswegen waren
auch die Reise und die Gespräche der Kollegin Merkel
so wichtig und notwendig.
({16})
Die Erfahrung der letzten Monate zeigt doch eindeutig: Partner mit Einfluss auf die Vereinigten Staaten
({17})
kann nur ein einiges Europa sein. Herr Bundeskanzler,
Sie haben heute - ich zitiere - ein starkes, geeintes Europa und einen geeinten Kontinent, der Nationalismen
überwindet, angemahnt. Gegenwärtig erleben wir aber
eine Renaissance nationalstaatlicher Sonderwege, die
der deutsche Bundeskanzler mit der Ausrufung des deutschen Weges im August des letzten Jahres eingeleitet
hat.
Ihre Vorgänger, insbesondere Helmut Kohl, hätten
schon im Vorfeld der Krise alles versucht, die Europäer
zusammenzuhalten. Vor allen Dingen hätte er den Draht
in die Vereinigten Staaten niemals abreißen lassen.
({18})
Ministerpräsident ({19}) Dr. Edmund Stoiber
Eine solche Spaltung Europas hätte es mit der Union
nicht gegeben. Dass die kleinen Nationen jetzt einen eigenen Minikonvent stattfinden lassen, um sich gegen bestimmte Maßnahmen, die Sie mit Ihren Kollegen aus den
großen Ländern erörtern, abzustimmen, halte ich für eine
Katastrophe für die weitere Integration Europas.
({20})
Wir haben immer versucht, genau das zu verhindern. Es
war immer deutsche Außen- und Europapolitik, nie zwischen großen und kleinen Ländern zu differenzieren.
({21})
Herr Bundeskanzler, nicht nur außenpolitisch steht
Deutschland in gewisser Weise vor einem Scherbenhaufen. Auch innenpolitisch wissen die Menschen in
Deutschland nicht mehr, wie es weitergehen soll.
({22})
Im Ergebnis haben Sie heute eingeräumt, was Sie im
vergangenen Jahr noch erbittert bestritten haben.
({23})
Deutschland ist leider ein Sanierungsfall. Sie haben
heute eingeräumt, dass die Lohnzusatzkosten, die Steuern und die Staatsabgaben zu hoch sind.
({24})
In der Analyse kommen Sie langsam in der bitteren Realität an, die Ihre Politik letztlich mit verschuldet hat.
({25})
Vor dieser ehrlichen Analyse haben Sie sich bis zu den
Wahlen gedrückt.
({26})
Die ganze Wahrheit ist jedoch: Nach viereinhalb Jahren
unter Ihrer Regierung befinden sich Wirtschaft und Arbeitsmarkt in einem steilen Abstieg.
({27})
Sie haben die Probleme nicht gelöst, sondern Probleme
geschaffen.
({28})
Für Ihre heutigen Ankündigungen gilt: zu wolkig, zu
orientierungslos, zu wenig und zu spät. So führen Sie unser Land nicht aus der Krise.
({29})
Wolkig ist Ihre Regierungserklärung, weil Sie wesentliche Positionen im Nebel lassen.
({30})
Was heißt „Wir müssen bestimmen, was künftig zum
Kernbereich der gesetzlichen Krankenversicherung gehört und was nicht“? Was heißt „Wir sind dabei, die
Bundesanstalt für Arbeit so umzubauen, dass sie ihrer eigentlichen Aufgabe nachkommen kann“?
({31})
Orientierungslos ist Ihre Regierungserklärung, weil
Sie noch im Oktober des letzten Jahres in Ihrer damaligen Regierungserklärung kreditfinanzierten Finanzspritzen eine klare Absage erteilt haben. Sie sagten damals,
dass solche Finanzspritzen keine Wirkung entfalten würden. Heute preisen Sie solche Finanzspritzen als Wundermittel für die Bauwirtschaft und die Kommunen an.
Herr Bundeskanzler, auch wenn Sie das heute abstreiten,
bleibt es richtig: Das ist nichts anderes als ein Strohfeuer
auf Pump; denn auch die Kreditmittel der KfW sind natürlich staatliche Mittel, weil der Staat für die Schulden
haftet. Deswegen ist dies nur ein Trick. Sie machen genau das, was Sie vor einem halben Jahr von diesem
Platze aus noch kritisiert haben.
({32})
Orientierungslos ist ebenso, dass Sie hier im Bundestag neue billige Kredite zur Förderung des Wohnungsbaus versprechen, während Sie mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz, das heute im Bundesrat abgelehnt
wurde, die Demontage der Eigenheimzulage betreiben.
({33})
So viel Schizophrenie in der Regierung war in Deutschland noch nie.
({34})
Zu wenig bietet Ihre Regierungserklärung für den
Mittelstand, der sehnlichst auf umfassende Entbürokratisierung und spürbare Entlastungen wartet. Ihr „Small
Act“ für den Mittelstand ist wahrlich zu klein geraten.
Zu spät kommen Ihre Ankündigungen, der Max-PlanckGesellschaft erst im nächsten Jahr eine Ausgabenerhöhung von 3 Prozent in Aussicht zu stellen, die Sie noch
vor zwei Monaten verweigert haben, obwohl es früher
Zusagen gegeben hat, dass man genau in diesem innovatorischen Bereich mehr Mittel zur Verfügung stellen
will. Ihre Klagen über zurückgehende Innovationen nützen gar nichts, wenn Ihre Regierung genau das Gegenteil
von dem tut, was notwendig wäre, um Innovationen zu
Ministerpräsident ({35}) Dr. Edmund Stoiber
fördern, Wissenschaftler im Land zu halten und vor allen
Dingen Wissenschaftler ins Land zu holen.
Zu spät kommt Ihre Regierungserklärung für Hunderttausende von Menschen, die allein in den letzten
Wochen und Monaten arbeitslos geworden sind oder ihre
Existenz verloren haben. Wieder einmal versprechen Sie
Mut zur Veränderung. Viele Regierungserklärungen von
Ihnen haben dies als Überschrift gehabt. Wenn Sie heute
tatsächlich mutig gewesen wären, dann hätten Sie Ihre
Dutzende Steuererhöhungen zurückgezogen, die heute
im Bundesrat gescheitert sind
({36})
und auch im Vermittlungsausschuss nicht unsere Zustimmung erhalten werden. Herr Müntefering, Sie können
sich darauf verlassen: Natürlich gibt es auch innerhalb
der CDU/CSU eine breite Diskussion.
({37})
Aber wir arbeiten eng zusammen, was den Erfolg, den
wir in den letzten Wochen und Monaten erzielt haben,
begründet hat. Machen Sie sich mehr Sorgen um Ihre als
um unsere Partei.
({38})
Was sollen die Menschen über folgende Worte denken: „Die Menschen erwarten, dass wir die Belastungen
durch Steuern und Abgaben senken“? - Das haben Sie
heute hier gesagt. Gleichzeitig bürden Sie den Bürgern
und der Wirtschaft allein in diesem Jahr Belastungen in
Form von Abgaben und Steuern in Höhe von zusätzlich
24 Milliarden Euro auf. Mit diesem Vorgehen werden
Sie mit Sicherheit nicht das Vertrauen der Bürger bekommen. Auf der einen Seite weniger Belastungen für
die Bürger zu versprechen, auf der anderen Seite
36 knallharte Steuererhöhungen in Ihrem Steuervergünstigungsabbaugesetz, das ein Steuererhöhungsgesetz ist,
vorzulegen, das ist Schizophrenie. Dafür werden Sie bei
den Bürgerinnen und Bürgern niemals Verständnis finden.
({39})
Wenn Sie heute tatsächlich mutig gewesen wären,
dann hätten Sie Ihr Wahlkampfversprechen gehalten.
Vor einem halben Jahr waren Sie noch der Überzeugung:
Steuererhöhungen sind ökonomischer Unsinn und schaden Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. Diese Kehrtwende wäre tatsächlich Mut zur Veränderung. Wir alle müssen uns darüber klar werden
({40})
und dies auch den Bürgerinnen und Bürgern in unserem
Land deutlich machen: Deutschland befindet sich in der
größten Strukturkrise seit 1949. Das Grundübel in
Deutschland ist die Massenarbeitslosigkeit. Massenarbeitslosigkeit zerstört Lebensperspektiven. Sie zerrüttet
die öffentlichen Haushalte und die Sozialkassen. Es ist
heute jedem klar: Mehr Arbeitslose bedeuten weniger
Beitrags- und Steuerzahler. Weniger Beitrags- und Steuerzahler bedeuten weniger Sozialversicherungs- und
Steuereinnahmen. Arbeitslosigkeit vernichtet das Einkommen, den Wohlstand und die soziale Sicherheit von
Millionen Menschen.
({41})
Nicht Reformen führen zum sozialen Kahlschlag in
unserem Land, sondern das Hinnehmen von Massenarbeitslosigkeit. Das ist der entscheidende Ansatzpunkt bei
allen Reformvorschlägen, die wir bisher gemacht haben.
({42})
- In der letzten und in dieser Legislaturperiode. Von Ihnen wurden sie immer sofort als sozialer Kahlschlag bezeichnet.
Ich erinnere mich, was Sie auf dem Kongress des
DGB gesagt haben: Sie haben versprochen, dass es
selbstverständlich keine Eingriffe in die sozialen Besitzstände gäbe.
({43})
- Ich war einen Tag später da. - Mir ist vorgehalten worden, dass wir den Kahlschlag planen würden, während
Sie den sozialen Besitzstand großartig sichern. Man will
auf Ihrer Seite nicht begreifen, dass sozial ist, was Arbeit
schafft. Das ist heute unsere primäre soziale Aufgabe.
({44})
Unter den 4,7 Millionen Arbeitslosen befinden sich
nicht nur ältere und gering qualifizierte, sondern auch
immer mehr junge und gut qualifizierte Menschen.
Selbst sie finden phasenweise keine Arbeit mehr oder
verlieren ihre sicher geglaubte Stelle. Weil viele junge
Menschen keine Perspektive mehr sehen, wandern natürlich auch die Besten ab.
({45})
Wir verlieren Hunderttausende von jungen, gut ausgebildeten Menschen. Das können wir uns auf Dauer nicht
leisten. Deswegen sollte man im Zusammenhang mit der
Debatte über die Zukunft Deutschlands neben der Zuwanderung viel intensiver über die Auswanderung reden.
({46})
Deutsche Traditionsunternehmen, die bis vor kurzem
als krisenfest galten, bauen Tausende Stellen ab oder
überlegen, ihren Sitz ins Ausland zu verlegen.
({47})
37 700 Insolvenzen haben im letzten Jahr Kapital in
Höhe von 50 Milliarden Euro vernichtet.
Ministerpräsident ({48}) Dr. Edmund Stoiber
({49})
Der DAX ist im internationalen Vergleich deshalb am
stärksten abgestürzt, weil in Deutschland die Hoffnung,
dass sich hier etwas ändert, am geringsten ist. Deutschland lebt zunehmend von der Substanz; aber auch die
Substanz ist bald aufgebraucht. Das Wachstum in
Deutschland bleibt seit Jahren hinter dem Wachstum in
Europa zurück. Deutschland ist das Schlusslicht.
Deutschland fällt ab.
Ursache für den Abstieg ist, dass Deutschland an
Wettbewerbsfähigkeit verliert. Der Anteil Deutschlands am Welthandel ist im letzten Jahrzehnt von
11 Prozent auf 8 Prozent zurückgegangen. Das zeigt:
Auch wenn der Export nominal gewachsen ist, verlieren
wir Anteile. Deswegen müssen wir hier darüber reden.
Derjenige, der darauf hinweist, macht Deutschland nicht
schlecht. Das Wichtigste für eine Therapie ist die richtige Analyse.
({50})
Deswegen müssen wir uns mit der Frage auseinander
setzen, auf welchen Gebieten wir verloren haben. Über
4 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland waren in den
letzten Jahren im globalen Wettbewerb nicht mehr wettbewerbsfähig.
({51})
Ursache für den Abstieg ist, dass Deutschland den
Sprung von der Nationalökonomie in die Globalökonomie noch nicht geschafft hat. Diesen alles entscheidenden Sprung werden Sie mit den Strukturkonservativen in
der SPD und den Gewerkschaften niemals schaffen.
({52})
Hier wurde Herr Bsirske zitiert, der Ihre wolkige
Rede auch noch als großen Angriff auf den Sozialstaat
bezeichnet. Wenn man diese Äußerung hört, kann man
sich vorstellen, was in solchen Köpfen vorgeht. Sie wollen nicht begreifen, dass unser Land dringend Reformen
braucht, wenn wir den Wohlstand für unsere Kinder und
Kindeskinder sichern wollen.
({53})
In Ihrer heutigen Rede hätten Sie etwas mehr über den
deutschen Tellerrand schauen müssen. Andere Länder
haben längst ihre Hausaufgaben gemacht. Finnland und
Norwegen haben in den vergangenen Jahren ihre Staatsquote um 10 Prozent gesenkt.
({54})
Schweden, ein Land mit einer ähnlichen Sozialstaatstradition wie Deutschland, hat durch zahlreiche mutige
Strukturreformen die Arbeitslosenquote von 8 Prozent
auf 5 Prozent gesenkt.
({55})
In diesen Ländern gibt es wieder mehr Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze.
({56})
- Herr Müntefering, Sie haben vor einigen Wochen festgestellt: Es macht doch nichts, wenn die anderen Länder
ein etwas höheres Wachstum haben; dann holen sie im
Grunde genommen nur auf. Sie müssen aber auch feststellen, dass die anderen Länder nicht nur aufholen, sondern dass uns die Engländer, Franzosen, Iren und Holländer überholt haben. Sie überholen uns nicht nur,
sondern sie haben auch ein höheres Wirtschaftswachstum. Das ist die Realität, mit der man sich auseinander
setzen muss.
({57})
Die Finnen, Norweger und Schweden sind nicht besser
als die Deutschen, aber sie werden offensichtlich besser
regiert. Die Folge von Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche ist ein akuter Notstand in den öffentlichen Kassen. Den deutschen Ländern brechen die Steuereinnahmen weg.
({58}): Sie wollten doch
einen Plan vorlegen! Wo bleibt der denn?)
Werfen Sie einen Blick in die Länderhaushalte! Dort
fehlen die Mittel für Straßen, Schulen und Krankenhäuser. Das kostet zusätzliche Arbeitsplätze in der Bauindustrie. Die rot-grüne Steuerreform hat den Kommunen
einen Kahlschlag verpasst. Die Verschuldung der
Kommunen ist allein in den vergangenen eineinhalb
Jahren um 50 Prozent explodiert, Herr Müntefering.
Viele Städte sind bereits so stark verschuldet, dass sie
keine neuen Kredite mehr aufnehmen können und dürfen. Deshalb bringen billige Kredite den meisten Kommunen nichts.
Längst fordern Länder und Kommunen gemeinsam,
dass die rot-grüne Erhöhung der Gewerbesteuerumlage
sofort rückgängig gemacht wird.
({59})
Das würde den Kommunen schneller etwas bringen als
alles, was Sie heute vorgeschlagen haben.
Zuerst haben Sie mit der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage den Städten mehr als 2 Milliarden Euro pro
Jahr entzogen. Jetzt bieten Sie ihnen billige Kredite an.
Es ist doch eine absurde Politik, den Kommunen zuerst
Geld wegzunehmen, aber dann zu beklagen, dass es ihnen schlecht geht, und ihnen billige Kredite anzubieten.
Ministerpräsident ({60}) Dr. Edmund Stoiber
({61})
Schon heute hangeln sich die Stadtkämmerer mit kurzfristigen Krediten von Monat zu Monat.
({62})
Viele Stadthallen verfallen. Städtische Schulen und Bibliotheken werden geschlossen, Stadttheater und Orchester aufgelöst.
Angesichts dieser dramatischen Lage sind Ihre heute
angekündigten Maßnahmen völlig ungenügend. Arbeitslosigkeit treibt auch die Sozialversicherungen in den
Ruin. Die Sozialsysteme stehen vor dem Kollaps. Die
steigenden Beiträge treiben die Lohnzusatzkosten in die
Höhe.
({63})
Das macht Arbeit teuer und schadet der Wettbewerbsfähigkeit. Es kostet Arbeitsplätze und führt wiederum zu
Beitragsausfällen. Das ist der Teufelskreis der deutschen
Krankheit, den wir durchbrechen müssen.
Die OECD hat festgestellt, dass die deutsche Arbeitslosigkeit, entgegen Ihren ständigen Bekundungen, nicht
konjunkturelle, sondern zu 85 Prozent strukturelle - also
hausgemachte - Ursachen hat. Diese Ursachen liegen im
Arbeitsmarkt. Notwendig sind Reformen, die deutsche
Arbeit und deutsche Produkte auf den Weltmärkten wettbewerbsfähig machen.
Sie aber haben Gesetze beschlossen, die das Gegenteil bewirken. Wer den bedeutenden Kosten- und Standortfaktor Energie mit der Ökosteuer im nationalen Alleingang verteuert, vernichtet in Deutschland, das im
Wettbewerb mit anderen Ländern in Europa steht, Arbeitsplätze.
({64})
Es bleibt dabei, Herr Müntefering: Wer nach der Finanzplanung auch in den nächsten Jahren die Investitionsausgaben des Staates zusammenstreicht, sodass sie
ein Rekordtief von 10 Prozent des Haushalts erreichen,
vernichtet in Deutschland Arbeitsplätze.
({65})
Wer den Mittelstand und den Mut junger Existenzgründer durch noch mehr Bürokratie, das verschärfte Betriebsverfassungsgesetz und das Scheinselbstständigengesetz stranguliert, vernichtet ebenfalls Arbeitsplätze in
Deutschland.
({66})
Auch wer jetzt im Hauruckverfahren den Meisterbrief
im Handwerk infrage stellt,
({67})
und zwar mit einer solch eigenartigen Begründung, der
vernichtet in Deutschland Arbeitsplätze.
({68})
Sie werden auf erbitterten Widerstand stoßen, wenn Sie
den Meisterbrief in der angekündigten Art und Weise
- darauf läuft es praktisch hinaus - schleifen wollen;
denn damit zerstören Sie ein wichtiges Strukturelement
unseres deutschen Mittelstands.
({69})
Wer bei 4,7 Millionen Arbeitslosen mehr Zuwanderung will und den Anwerbestopp aufheben will, der überfordert den deutschen Arbeitsmarkt und bewirkt Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme Deutschlands.
({70})
Das bleibt das Problem. Hier werden wir uns niemals
verständigen können, wenn Sie an der Ausweitung der
Zuwanderung festhalten.
Herr Bundeskanzler, zu lange haben Sie der Strukturkrise Deutschlands tatenlos zugesehen. So wenig
politische Führung wie durch die jetzige Regierung war
noch nie in Deutschland. Zugleich gilt: Eine so konstruktive Opposition war nie in Deutschland.
({71})
Wir, die Opposition, machen konkrete Vorschläge.
({72})
Frau Merkel hat vorhin auf die Entscheidung der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion von Anfang Februar hingewiesen. Wann hat es das zu Ihrer Oppositionszeit gegeben,
dass man auch schmerzhafte Vorschläge unterbreitet, obwohl man sich damit einen Schiefer einzieht?
({73})
Auch wenn ich hier immer nur Ihr höhnisches Lachen
höre, sage ich trotzdem: Wir reichen der Bundesregierung die Hand zu notwendigen Strukturreformen; denn
Deutschland ist ein Sanierungsfall. Wir als Opposition
können in der gegenwärtigen Phase - Deutschland befindet sich in der tiefsten Strukturkrise - unsere Mitarbeit
bei den notwendigen Entscheidungen nicht verweigern.
({74})
Ich erinnere mich noch sehr gut an die Debatten in
den Jahren 1997 und 1998, als Herr Schröder und
Herr Lafontaine die damalige Steuerreform
({75})
Ministerpräsident ({76}) Dr. Edmund Stoiber
mutwillig gestoppt haben, um der Regierung Kohl Schaden zuzufügen. Das haben sie zwar erreicht. Aber sie haben damit auch Deutschland Schaden zugefügt.
({77})
Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer heutigen Regierungserklärung zum Teil das angekündigt, was Sie damals bekämpft haben. Sie hätten es heute leichter, wenn
Sie 1998 bestimmte Veränderungen in unseren sozialstaatlichen Sicherungssystemen akzeptiert hätten. Das
muss man - Sie ringen ja um Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung - immer wieder deutlich machen.
Wir müssen in einem ersten Schritt die Weichen neu
stellen. Wir müssen schnell und wirksam reagieren.
Dann können wir über die notwendigen und erforderlichen Maßnahmen für den Umbau Deutschlands diskutieren. Deutschland braucht sofort eine Initiative zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, damit sehr schnell neue
Arbeitsplätze entstehen. Deutschland braucht Ruhe in
der Steuerpolitik, damit Investoren wieder auf verlässliche Rahmenbedingungen vertrauen können. Deutschland braucht sofort eine Vereinbarung über die Belastungsgrenzen in den sozialen Sicherungssystemen, damit
wettbewerbsfähige Arbeitsplätze entstehen.
({78})
Deutschland braucht sofort eine Entlastung der öffentlichen Haushalte, damit Entscheidungsspielräume und
Luft für Investitionen entstehen. Deutschland braucht sofort eine Stärkung des Vertrauens in die Wirtschaft sowie
eine Ermutigung des Mittelstands durch Deregulierung,
damit Anleger und Unternehmer wieder in Deutschland
investieren.
Ein Schwerpunkt eines Akutprogramms muss mehr
Freiheit und Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt sein.
({79})
Wir brauchen - das hat schon Frau Merkel gesagt; wie
Sie das nennen, ist für mich nicht entscheidend - ein Sofortprogramm, mit dem sich wesentliche Dinge sehr
schnell umsetzen lassen; denn wir benötigen für den
wirklichen Umbau des Sozialstaates, wenn wir zum Beispiel das Arbeitsmarktrecht neu regeln und es aus dem
Richterrecht herauslösen wollen, ein bisschen mehr Zeit.
Aber so viel Zeit haben wir nicht. Also müssen wir meines Erachtens sehr schnell ein Akutprogramm oder ein
Sofortprogramm vorlegen, mit dem wir die wichtigsten
Dinge regeln. Darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Dazu sollten meines Erachtens die Regelungen zum
Kündigungsschutz nicht für Unternehmen gelten, die
weniger als 20 Mitarbeiter beschäftigen.
({80})
Ich bin für jede sinnvolle Lösung offen. Das ist gar keine
Frage. Derzeit gilt der Kündigungsschutz nicht für Betriebe mit maximal fünf Beschäftigten. Das schützt zwar
die fünf Beschäftigten, verhindert aber in vielen Fällen,
dass es sechs, sieben, acht, neun oder zehn Beschäftigte
werden.
({81})
Schauen Sie sich doch einmal die Zahlen an: Es gibt
in Deutschland 1,46 Millionen Betriebe mit bis zu fünf
Beschäftigten, aber nur 260 000 Betriebe mit sechs bis
neun Beschäftigten. Nur 200 000 Betriebe haben zwischen zehn und 20 Beschäftigte.
({82})
Dieses Ungleichgewicht zeigt doch ganz eindeutig: Der
Schwellenwert von fünf Mitarbeitern wirkt durchaus als
Jobbremse.
({83})
Was Sie vorschlagen, ist nicht ehrlich. Sie sagen: Die
Zeitarbeitsverträge zählen nicht mehr mit. Das ist
Trick 17.
({84})
Das ist keine offene, Vertrauen erweckende Politik. Sie
trauen sich nicht, weil Sie es in Ihrer Fraktion nicht können, aber Sie wollen trotzdem versuchen, die Notwendigkeiten zu regeln. Also gehen Sie einen unklaren Weg.
Der führt nicht zum Erfolg, Herr Bundeskanzler.
({85})
Herr Clement, für alle Unternehmen sollen bei Neueinstellungen Abfindungsregelungen unter Verzicht auf
den Kündigungsschutz ermöglicht werden. Die Höhe der
Abfindung wird gesetzlich geregelt. Unternehmen und
Betriebsrat sollen ohne Zustimmung der Tarifvertragsparteien selbst betriebliche Bündnisse für Arbeit abschließen können. Ihr Vorschlag, der dies nur unter dem
Vorbehalt der Zustimmung der Tarifvertragsparteien zulässt, wird der dramatischen Situation in unserem Land
mit 4,7 Millionen Arbeitslosen in keiner Weise gerecht.
({86})
Sie beschreiben in Ihrer Regierungserklärung eigentlich
nur den Status quo, denn was Sie vorschlagen, geht jetzt
schon. Das ist aber doch nichts Neues, das führt uns
nicht weiter.
({87})
Der nächste Krisenherd, den wir bereinigen, ist die
Steuerfront. Bürger und Wirtschaft warten doch sehnlichst auf Ruhe an der Steuerfront. Sie warten sehnlichst
auf die Botschaft: In Deutschland werden in den nächsten Jahren die Steuern nicht mehr erhöht.
({88})
Sie können gar nicht erahnen, wie viel Vertrauen Sie mit
dem Steuervergünstigungsabbaugesetz verloren haben.
Die Gemeindefinanzreform, die Sie heute anpreisen
und die den Kommunen dauerhafte und solide Finanzen
sichert, muss natürlich umgehend kommen. Aber die haben Sie 1998 bereits angekündigt. Sie haben dreieinhalb
Jahre nichts getan. Sie haben im Sommer des letzten
Ministerpräsident ({89}) Dr. Edmund Stoiber
Jahres die Kommission eingesetzt. Diese Kommission
tagt kaum.
({90})
Prüfen Sie doch einmal nach, wie dort getagt wird. Es ist
noch gar kein Konzept ersichtlich, was dabei eigentlich
herauskommen kann.
({91})
Sie kündigen etwas zum 1. Januar 2004 an. Das ist wieder eine Ihrer vielen Ankündigungen, die bei der Arbeitsweise, die Ihre Regierung in diesem Punkt an den
Tag legt, nicht realistisch sind. Dreieinhalb Jahre haben
Sie nichts getan und jetzt sagen Sie: Ich mache alles in
einem halben Jahr.
({92})
Ich glaube, dass wir folgenden Weg gehen sollten:
Die Lohnzusatzkosten müssen in den nächsten Jahren
unter 40 Prozent sinken. Darin sind wir uns, glaube ich,
einig. Das muss meines Erachtens gesetzlich garantiert
werden. Wenn wir uns nicht selbst binden, werden wir
nicht die Chance haben, unter 40 Prozent zu kommen.
Wenn wir nicht unter 40 Prozent kommen, dann haben
wir keine Chancen mehr.
Es gibt leider große Unternehmen in Deutschland
- ich will die Namen nicht nennen; Sie kennen die Unternehmen, Herr Bundeskanzler -, die interne Anweisungen haben, keine Erweiterungsinvestitionen mehr in
Deutschland zu tätigen. Die Verlagerung von Arbeitsplätzen findet zuhauf statt. 230 Arbeitnehmer verlieren
in Passau bei der Firma Siemens ihren Arbeitsplatz. Sie
verlieren ihn an Griechenland und an Rumänien. Warum
verlieren sie ihn? - Auf den Vorhalt sagt mir Herr von
Pierer: Es tut mir Leid, aber die Arbeitnehmer dieser
Länder haben heute dieselbe Produktivität wie bayerische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber sie sind
billiger. Ich als Vorsitzender einer Aktiengesellschaft
muss günstig produzieren. Das sind die Probleme, mit
denen wir es zu tun haben. Dass wir uns heute in einer so
schwierigen Situation befinden, haben wir uns vor einem
oder vor zwei Jahren vielleicht nicht vorstellen können.
Deswegen hätte Ihre heutige Regierungserklärung ein
größerer Wurf sein müssen.
({93})
Wir müssen über das Arbeitslosengeld reden. In diesem Bereich gibt es verschiedene Vorschläge. Ich habe
in den vergangenen Tagen eine Befristung der Zahlung
des Arbeitslosengeldes auf zwölf Monate zur Diskussion
gestellt.
({94})
Ihr heute vorgestelltes Vorhaben geht in die gleiche
Richtung. Was Einsparungen angeht, können wir sicherlich zu gemeinsamen Lösungen kommen. Außerdem
sollten meines Erachtens die Haushaltsmittel der Bundesanstalt für Arbeit für Weiterbildungsmaßnahmen halbiert werden. Damit kann der Arbeitslosenversicherungsbeitrag sehr schnell um mindestens einen Prozentpunkt
gesenkt werden.
Auch wenn das unpopulär ist: Der Abstand zwischen
Mindestlohn und Sozialhilfe muss dringend vergrößert
werden. Genauso wie die Sachverständigen schlage ich
vor, die Sozialhilfe für Arbeitsfähige generell um ein
Viertel zu senken. Das ist schon heute möglich, wenn einem arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger nachgewiesen
wird, dass er eine Arbeit, die ihm angeboten wird, nicht
annimmt. Aber wir müssen meines Erachtens ein Stück
weitergehen. Wer arbeitet, der muss mehr in der Tasche
haben als jemand, der nicht arbeitet. Das muss ein fester
Grundsatz sein.
({95})
Wenn dieser Grundsatz gelten soll, dann müssen wir
dafür sorgen, dass alle, die arbeiten können und wollen,
auch tatsächlich Arbeit erhalten. Dafür zu sorgen ist unsere Aufgabe. Diejenigen, die arbeiten, sollen mehr in
der Tasche behalten dürfen. Mit Ihrem Vorschlag rennen
Sie bei uns offene Türen ein. Wenn Sie heute dafür eintreten, dass ein Arbeitslosenhilfe- oder Sozialhilfeempfänger künftig vom Lohn für eine Arbeit, die er angenommen hat, mehr behalten soll - gegenwärtig wird ihm
faktisch fast alles abgezogen -, dann muss ich Sie daran
erinnern, dass wir schon vor einem Jahr entsprechende
Vorschläge gemacht haben. Damals sind wir bei Ihnen
auf Widerspruch gestoßen. Sie und die Gewerkschaften
haben uns kritisiert. Ich freue mich, dass Sie mittlerweile
etwas am Baum der Erkenntnis der Union genascht haben. Das sollten Sie öfter tun.
({96})
Ich wiederhole: Mit dem von uns vorgeschlagenen
Weg ist kein Sozialabbau, sondern der Abbau von
Schwarzarbeit verbunden. Sozialhilfe ist eine zweite
Chance; aber sie darf kein Lebensstil sein. Dass sie das
ist, ist bei uns leider häufig der Fall.
Deutschland braucht einen Befreiungsschlag zur Stärkung der Wirtschaft und zur Stärkung des Vertrauens in
die Unternehmen. Ich teile Ihre Meinungen, was die Vorstandsvorsitzenden und viele Selbstverpflichtungen der
Mitarbeiter in den großen Betrieben anbelangt. Das halte
ich für richtig. Nur durch das, was Sie beschrieben haben, kann man Vertrauen aufbauen.
Wir brauchen zur Stärkung des Vertrauens in Wirtschaft und Unternehmen auch eine stärkere Deregulierung. Ich meine, dass man ein Kleinbetriebsrecht für
Betriebe mit bis zu 20 Beschäftigten schaffen sollte.
Diese Kleinbetriebe können sich keinen Steuerexperten
und erst recht keine Rechtsabteilung leisten. Unter anderem schlage ich deshalb vor, dafür zu sorgen, dass das
Teilzeit- und Befristungsgesetz nur in Betrieben mit
mehr als 20 Mitarbeitern gilt. Das Arbeitszeitgesetz
muss für Betriebe mit bis zu 20 Mitarbeitern flexibilisiert werden. Die geltende Arbeitsstättenverordnung
muss für Kleinbetriebe mit bis zu 20 Beschäftigten aufgehoben werden. Das wäre ein weiteres Stück Entriegelung unseres komplizierten Arbeitsmarktes und damit
Ministerpräsident ({97}) Dr. Edmund Stoiber
eine Hilfe gerade für diejenigen Betriebe, in denen überdurchschnittlich viele Arbeitsplätze entstehen.
({98})
Herr Bundeskanzler, alles, was Sie heute wissen, haben Sie schon bei Ihrer Regierungserklärung im Oktober
letzten Jahres gewusst. So lange ist das noch nicht her.
Alles, was Sie heute wissen, haben Sie auch im Wahlkampf gewusst. Deshalb bietet Ihre heutige Regierungserklärung eine treffliche Übersicht über die Fehler und
über die Versäumnisse Ihrer Regierungszeit.
({99})
Was Sie vortragen, das sind zum großen Teil Ankündigungen, Wiederholungen von Ankündigungen, Appelle, Drohungen in Richtung Wirtschaft und Beschwichtigungsgesten in Richtung Gewerkschaften.
Damit werden wir den Sanierungsfall Deutschland nicht
lösen.
Täuschen Sie sich nicht, Herr Bundeskanzler: Mehr
als zwei Drittel der Menschen in Deutschland trauen Ihnen nicht mehr zu, dieses Land in eine bessere Zukunft
zu führen.
({100})
Hier in diesem Hause haben Sie eine knappe Mehrheit,
({101})
aber bei der Bevölkerung haben Sie keine Mehrheit
mehr.
({102})
Deswegen werden Sie es auch nicht schaffen, den Menschen Mut zu machen.
Deutschland - da stimme ich Ihnen zu - hat Substanz.
Deutschland hat kreative und engagierte Menschen. Wir
können Deutschland wieder zu einem starken, sozial sicheren und zukunftsfähigen Land machen, wenn wir bereit sind, Einschnitte in unsere großartigen sozialen Sicherungssysteme nicht mehr nur als sozialen Kahlschlag
zu diffamieren, und wenn wir in diesem Hause und darüber hinaus über Einschnitte diskutieren können, damit
der soziale Wohlstand in unserem Lande morgen und
übermorgen erhalten bleibt und unsere Kinder nicht das
Schicksal unserer Eltern haben. Denen ist es schlechter
gegangen als meiner Generation. Ich möchte, dass es
meinen Kindern morgen und übermorgen in diesem
Land mindestens so gut geht wie uns. Das ist in Gefahr.
Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren,
reichen wir die Hand, um einiges mitzumachen. Aber
Unsinn werden wir nicht mitmachen.
Herzlichen Dank.
({103})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bin darauf
aufmerksam gemacht worden, dass es im Augenblick
des Wechsels in der Sitzungsleitung einen Zuruf aus den
Reihen der Koalition an den Redner gegeben habe, den
ich nicht gehört habe, den ich aber beanstanden müsste,
wenn er tatsächlich so gefallen wäre. Wir werden das
durch Einsicht in das Sitzungsprotokoll klären.
({0})
Nun erteile ich dem Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit, Wolfgang Clement, das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Gestern war ich in München.
({0})
Ich habe mich dort, Herr Kollege Stoiber, sehr gastfreundlich aufgenommen gefühlt. Dafür bin ich natürlich
dankbar. Als ich aber heute Ihrer Rede zugehört habe,
musste ich meine ganze Kraft zusammennehmen, um
nicht meinen Optimismus in Bezug auf Deutschland zu
verlieren.
({1})
Wenn einem hier Begriffe wie „Sanierungsfall
Deutschland“, „Ruin“ und „Kollaps“ um die Ohren fliegen, dann können nur noch ganz starke Charaktere dem
standhalten und nicht in Depressionen verfallen.
({2})
Herr Kollege Stoiber, wenn wir gemeinsam daran arbeiten wollen, dass sich die Gallup-Umfragen verbessern, dass in Deutschland wieder gelacht werden darf,
dann lassen Sie uns anders reden, als Sie es hier getan
haben.
({3})
Herr Kollege Stoiber, Sie haben gestern sogar
gesagt - in etwas freundlicherer Tonlage; auch heute haben Sie es anklingen lassen -, dass uns andere Volkswirtschaften - Sie haben zum Beispiel Irland, Frankreich
und England erwähnt - beim Pro-Kopf-Einkommen
überholt hätten.
Zu einer wirklich sauberen Analyse, die Sie gefordert
haben, gehört es, sich endlich wieder in Erinnerung zu
rufen, dass Deutschland wie keine andere Volkswirtschaft in Europa oder in der Europäischen Union eine
Leistung vollbringt,
({4})
die sich leider im Pro-Kopf-Einkommen niederschlägt.
Das wollen wir ändern. Ich spreche von der Leistung,
dass diese Volkswirtschaft Jahr für Jahr immer noch
4 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für den Aufbau
Ost, für den Aufbau Ostdeutschlands, aufbringt. Das ist
gut so und das tun wir gern, aber diese Leistung muss bei
einer halbwegs vernünftigen Analyse berücksichtigt
werden.
({5})
Herr Kollege Stoiber, Sie haben dem Bundeskanzler
abgesprochen, dass er über eine Mehrheit verfüge. Das
haben Sie jedoch zu Recht eingeschränkt, denn Sie haben diese Mehrheit nicht. Hier reden Sie etwas anders
als in München, jedenfalls wenn ich dabei bin. Herr Kollege Stoiber, Sie haben die Wahl am 22. September 2002
nicht gewonnen und können auch hier keinen anderen
Eindruck erwecken. Deutschland hat Ihnen die zur
Kanzlerschaft erforderliche Mehrheit nicht gegeben.
({6})
Sie werden den Wahlkampf auch im Nachhinein nicht
mehr gewinnen.
Vorhin ist mir auf der Regierungsbank etwas zugeflüstert worden. Herr Kollege Westerwelle, wir auf der
Regierungsbank müssen einen starken Charakter haben.
Es gehört eine enorme Charakterfestigkeit dazu, auch bei
einer solchen Kritik von Ihrer Seite ruhig zu bleiben.
({7})
Herr Minister, was bei präziser Betrachtung übrigens
häufig nicht gelingt.
Mit meinem Status sitzt man dort auf der Bank und
darf sich noch nicht einmal zu Ihnen nach vorn bewegen.
Das ist wirklich schwierig.
({0})
- Nein, das ist nicht alles darin enthalten. Früher bin ich
schon besser behandelt worden als heute.
({1})
- Sie können mich dort gern besuchen. Sie können dort
noch viel lernen, Herr Kollege Glos. Ich bin aber in der
letzten Zeit ziemlich häufig in Bayern.
Gehen wir einmal nach Niederbayern, Herr Kollege
Stoiber, und sprechen wir über das, was in Passau gewesen ist. Für mich war es dort hochinteressant. Ich war
jetzt in Vilshofen, also dort, wo der politische Aschermittwoch seinen Ursprung hat. Dort bin ich wie zu
Hause. Der Kollege Stoiber war nebenan in Passau in einer Halle, die demnächst bzw. unmittelbar nach seiner
Rede abgerissen wird.
({2})
Das habe ich alles erst dort gelernt. Dazu war ich in Niederbayern und bin nun wirklich firm.
Der Kollege Stoiber hat in der Nibelungenhalle in
Passau gesprochen,
({3})
und zwar, wie ich gehört habe, lange und eindrucksvoll
und noch länger als heute hier.
({4})
In den Zeitungen stand anschließend sofort das Versprechen: Die Halle wird jetzt abgerissen.
({5})
Herr Kollege Glos, sprechen wir über die Zeit des
Wahlkampfes. Ich habe verstanden, dass Sie mit Blick
auf den Irak für die Überflugrechte der Amerikaner in
Deutschland sind. Mir ist gesagt worden, im Wahlkampf,
insbesondere in Bayern, habe es aus Ihrem Munde anders geklungen.
({6})
Wenn man also über Beliebigkeit spricht, wie das gelegentlich geschieht, bitte ich darauf zu achten, dass mehrere Finger der eigenen Hand immer auf einen selbst zurückzeigen, wie uns das schon Bundespräsident Gustav
Heinemann gelehrt hat.
({7})
Herr Kollege Stoiber, einen Begriff aus dem Wahlkampf halte ich heute für völlig widersinnig: Jetzt mit
Blick auf die Situation im Irak, mit Blick auf das Ringen
fast aller Staaten um die Verhinderung eines Krieges im
Irak von einem „deutschen Sonderweg“ zu sprechen, ist
aus meiner Sicht an Abwegigkeit kaum zu überbieten.
({8})
Ich wollte - Herr Kollege Glos, das hätte ich jetzt beinahe vergessen - noch etwas zu Niederbayern sagen.
Das sage ich auch in Richtung des Kollegen Stoiber. Ich
finde es ganz interessant, dass Sie in der gesamten Region Passau in Niederbayern eine Arbeitslosenquote von
11,8 Prozent haben. Das ist sehr bedrohlich. Die Vertreter des Betriebsrates des Siemens-Unternehmens in Passau waren bei mir, um mich und die Bundesregierung
um Hilfe zu bitten. Die Situation dort ist sehr schwierig,
das haben Sie richtig geschildert.
Aber die Menschen dort sagen mir auch etwas anderes: In Bayern war die gesamte Politik wie etwa die Investitionen, die Sie aufgrund der Vermögensveräußerun2530
gen seitens des Freistaates Bayern haben vornehmen
können, sehr stark auf die exzellenten Gebiete wie den
Großraum München konzentriert. In Niederbayern haben Sie vergleichsweise wenig getan. Das wird Ihnen
dort vorgeworfen.
({9})
- Ich bin jetzt in Bayern kundig.
Ich sage das auch deshalb, weil ich gut in Erinnerung
habe, wie ich von Ihnen beispielsweise wegen mancher
schwierigen Lagen in Nordrhein-Westfalen kritisiert
worden bin. In Zukunft komme ich zu Ihnen. Dann sprechen wir über die schwierigen Lagen bei Ihnen.
({10})
- Selbstverständlich werden wir die makroökonomischen Bedingungen verändern. Daran arbeiten wir und
darüber diskutieren wir.
({11})
Wenn ich Ihr „Akutprogramm“ dem Programm, das
Frau Kollegin Merkel heute vorgestellt hat, gegenüberstelle - ich habe versucht, zu erkennen, wo es Übereinstimmungen gibt -, dann muss ich sagen, dass ich fast
mehr Übereinstimmungen bei dem Programm von Frau
Merkel mit uns festgestellt habe als bei dem Programm
des Kollegen Stoiber.
({12})
Mich interessiert, was wir gemeinsam zustande bringen
können.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es
mir nicht glauben
({13})
- warten Sie es ab! -: Ich gehe ungeachtet dieser Beiträge ermutigt aus dieser Debatte. Ich bin überzeugt davon, dass wir in der Bundesrepublik jetzt die Chance
haben, die notwendigen Veränderungen und die notwendige Wende, von der wir alle wissen, dass sie geschafft
werden muss, tatsächlich zu vollziehen. Ich bin überzeugt davon, dass niemand, also keine nennenswerte gesellschaftliche Kraft, die politisch, wirtschaftlich, gewerkschaftlich oder anderweitig organisiert ist, in der
Lage ist, sich dem zu entziehen, was zu tun ist.
Der Bundeskanzler hat heute genau dargestellt, in
welche Richtung wir gehen müssen. Er hat gesagt, welche Schritte unternommen werden müssen, welche Opfer und welche Zumutungen damit verbunden sind und
welche Beiträge von den verschiedenen Gruppen in der
Gesellschaft erwartet werden müssen. Ich bin davon
überzeugt, dass wir darüber im Wesentlichen einig sind.
In den Passagen, die ich von Frau Kollegin Merkel gehört habe, habe ich kaum einen Punkt erkannt, in dem
Sie nicht wenigstens in der Richtung mit dem übereinstimmen, was der Bundeskanzler dargestellt hat. Deshalb
sage ich: Wir werden diese Schritte tun müssen - wir werden sie auch tun - und Sie werden daran mitwirken.
Worum geht es, wenn der Bundeskanzler an das
Selbstbewusstsein und an die Eigenverantwortung der
Menschen, an die Selbstverantwortung der Institutionen
und an den Mut zur Veränderung appelliert? Es geht zunächst darum, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu verbessern und
uns nicht nur ganz vorn in Europa, sondern auch ganz
vorn in der Welt zu platzieren. Das steht im Gegensatz
zu dem, wie Sie die Lage darstellen, Herr Kollege Stoiber. Ich verstehe nicht, warum es sinnvoll sein soll, die
Bundesrepublik Deutschland schlechter darzustellen, als
sie ist, und die Wirtschaftskraft der Bundesrepublik
Deutschland zu leugnen.
({14})
Die Bundesrepublik Deutschland ist die drittstärkste
Volkswirtschaft der Welt. Sie ist die zweitgrößte Exportnation der Welt. Unsere Nation ist erstens kein Sanierungsfall und zweitens Weltspitze in der Automobilindustrie und im Maschinenbau. Sie liegt noch vorn in der
Chemieindustrie. Sie muss wieder nach vorne in der
Pharmaindustrie. Wir sind nicht schlecht positioniert in
der Bio- und Gentechnologie. Wir liegen in der Informationstechnologie, jedenfalls was die mobile Telekommunikation angeht, weltweit ganz vorne. Das muss man
wissen. Darauf kann sich stützen. Genau das macht uns
Mut, die Schritte nach vorn zu gehen, die in der Bundesrepublik fällig sind.
({15})
Wir werden alles tun, dass diese Schritte unternommen
werden.
({16})
- Herr Präsident, der Kollege Hinsken will bloß eine
Frage stellen, sonst würde ich gern ausreden.
({17})
Wenn die Kooperationsbereitschaft inzwischen schon
das Niveau erreicht hat, dass die Regierung Fragen beantworten will, bevor sie gestellt werden, dann sind das
die besten Aussichten für den Einigungsprozess.
({0})
Herr Kollege Hinsken, bitte.
Herr Bundesminister Clement, können Sie mir ein
Land auf dieser Welt sagen, in dem die Insolvenzrate in
den letzten zwei Jahren höher war als in der Bundesrepublik Deutschland?
Herr Kollege Hinsken, darf ich Ihre Frage mit einer
Gegenfrage beantworten? Können Sie mir Länder nennen, in denen auch in einer schwierigen Lage die Gründungsquote höher ist als die Insolvenzrate, wie es in der
Bundesrepublik Deutschland der Fall ist?
({0})
Herr Kollege Hinsken, um das klar zu sagen: Für
mich ist es nicht akzeptabel, wenn man, wie Herr Stoiber
es tut, die hohe Zahl der Insolvenzen ständig vor sich
herträgt. Jawohl, die hohe Zahl der Insolvenzen ist nicht
nur ein Problem, sondern eine Katastrophe. Jede Insolvenz ist katastrophal, auch wenn wir heute ein Insolvenzrecht haben, das gelegentlich nahe legt, diesen Weg zu
gehen, um dem Unternehmen die Möglichkeit zu geben,
eine neue Perspektive zu entwickeln.
({1})
Wenn wir aber über Insolvenzen sprechen, dann müssen wir auch über das Kreditgewerbe in Deutschland und
über die Frage sprechen, inwieweit beispielsweise die
Banken mitwirken, unsere Unternehmen in dieser
schwierigen Phase zu stärken.
Meine Bitte ist, dass Sie dann, wenn Sie die hohe Insolvenzrate ansprechen, im selben Atemzug dazusagen: Die
Gründungsquote in Deutschland ist Gott sei Dank immer
noch höher als die Insolvenzrate. Das heißt zu Deutsch:
Es entstehen mehr neue Unternehmen, als Unternehmen
vom Markt gehen. Das sind nicht genug; da sind wir
beide gleich ehrgeizig. Wir wollen die Quote wieder dahin bringen, wo sie einmal war. Aber es ist wichtig, dies
zu wissen.
({2})
Es liegt an Ihnen, Herr Minister, ob Sie eine weitere
Zusatzfrage gestatten wollen.
Bitte sehr, Herr Kollege Hinsken.
({0})
- Nein, aber ich muss mit Herrn Kollegen Hinsken angemessen umgehen. Er ist im zuständigen Ausschuss und
Mitglied des deutschen Parlaments.
Herr Minister, Sie haben mir eine Frage gestellt. Nun
möchte ich meine Frage in eine Antwort kleiden.
({0})
Ich kann Ihnen sofort zehn Nationen nennen, bei denen
die Gründungsquote höher ist als in der Bundesrepublik
Deutschland: Dänemark, Italien, Großbritannien, Frankreich.
In diesen Ländern und zum Beispiel in den USA ist
die Gründungsquote fast doppelt so hoch wie bei uns.
Sie aber wollen mir sagen, dass es keine Länder gibt, in
denen die Gründungsquote höher ist als bei uns? Das
stimmt nicht. Ich bitte Sie, hier bei der Wahrheit zu bleiben und auch das zu erwähnen. In den von mir genannten Ländern zum Beispiel ist es anders, als Sie behaupten.
Der Bundeskanzler hat mich gewarnt, Sie noch weiter
reden zu lassen. Er hätte hinzufügen müssen - dann hätte
ich es sofort verstanden -: Wenn du einem Mitglied der
bayerischen CSU den kleinen Finger reichst, dann hackt
er dir die Hand ab.
Ich habe Sie verstanden; wir sind dort unterschiedlicher Meinung. Wichtig ist, dass Sie fähig sind, in Zukunft jeweils hinzuzufügen, dass auch die Gründungsquote genannt werden sollte. Diesen Optimismus
strahlen Sie aus und dafür danke ich Ihnen, Herr Kollege.
({0})
Es geht darum, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu verbessern und
unsere Unternehmen in der Weltspitze zu verankern. Es
geht darum, heimische wie internationale Märkte zu öffnen. Deshalb führen wir entsprechende Verhandlungen
in der WTO, der Welthandelsorganisation. Wir müssen
Wachstum freisetzen und mehr Einkommen aus regulärer Arbeit schaffen. Notwendig ist, die Lohnnebenkosten
zu senken, damit aus dem Einkommen schneller neue
Jobs werden.
Wenn wir über Bürokratieabbau reden, dann geht es
darum, jene Kräfte freizusetzen, die bisher durch Bürokratie und Regulierung gebunden waren. Diese Kräfte
dürfen nicht nur im Bereich der sozial Schwachen gefordert und können nicht nur dort entfesselt werden. Nein,
es geht um alle Bereiche des Lebens und Wirtschaftens
in Deutschland. Vor allem müssen wir all die zum Handeln bewegen, die in Deutschland in der Mitverantwortung stehen. Peter Hartz hat Recht, wenn er diesen Appell an alle in Deutschland richtet.
Ich möchte nun noch zu einzelnen Punkten Stellung
nehmen, die heute in der Debatte angesprochen worden
sind, weil ich glaube, dass dies für die Klärung der Positionen wichtig ist.
Erstens. Wir müssen den Arbeitsmarkt in Ordnung
bringen. Das heißt, wir brauchen ein anderes Verständnis
von Arbeitsmarktpolitik in Deutschland. Wir müssen
umsteuern, also wirklich ernst machen mit dem, was in
vielen, vielen Debatten - auch von uns - gesagt wurde:
Es geht nicht darum, Arbeitslosigkeit zu finanzieren,
sondern es geht darum, alle Kraft darauf zu verwenden,
Menschen in Arbeit zu vermitteln. Das ist die Leitlinie.
({1})
Dieses Umsteuern wird, wie der Bundeskanzler gesagt hat, Auswirkungen haben, zum Beispiel im Bereich
des Arbeitslosengeldes. Erwerbstätige werden von der
Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
betroffen sein. Ich möchte gerne, dass wir es schaffen,
dies nicht als Opfer zu verstehen, sondern die Kräfte so
zu bündeln, dass die Menschen, wenn irgend möglich,
eben nicht nur in Arbeitslosigkeit entlassen werden. Es
darf nicht sein, dass sie erst ein Jahr lang arbeitslos sind,
bevor wir es schaffen, sie in den Arbeitsmarkt zurückzubringen. Vielmehr müssen sie direkt nach der Kündigung
eines Arbeitsverhältnisses in einen neuen Job gebracht
werden.
({2})
Es ist sehr wichtig, an Diskussionen mit den Menschen teilzunehmen, die ganz konkret von dem betroffen
sind, was wir hier diskutieren. Ich habe das in dieser und
in der vergangenen Woche hier in Berlin getan. Ich war
zu Diskussionen eingeladen, an denen auch diejenigen
teilgenommen haben, die von dem betroffen sind, was
hier so abstrakt klingt. Jedenfalls konnte man die Einzelschicksale erkennen. Da können einem Worte wie „Wir
legen Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen und organisieren das neu“ wirklich im Halse stecken bleiben. Wir
reden über Menschen, die zum Teil erhebliche Probleme
haben, sowohl mit uns als auch mit dem Einstieg in den
Arbeitsmarkt nach langer Zeit der Arbeitslosigkeit.
Manchmal haben sie auch Probleme mit sich selber.
Auch das gibt es, wie wir alle wissen, in nicht geringer
Zahl, und zwar nicht nur in unserer Gesellschaft, sondern in allen Gesellschaften.
Um diesen Menschen wieder eine berufliche Perspektive eröffnen zu können, brauchen wir in den Arbeitsverwaltungen, in den städtischen Sozialämtern und bei den
freien Trägern Menschen, die sich ganz konkret um die
Betroffenen kümmern und sie buchstäblich an die Hand
nehmen, um sie wieder in den Arbeitsmarkt zu bringen.
Vor dem Hintergrund, dass, wenn es irgend geht, mehr
als 4 Millionen Arbeitslose in Arbeit gebracht werden
sollen, wissen wir, vor welcher Herausforderung wir stehen.
({3})
Ich möchte es aber bei allen finanziellen Veränderungen, die der Bundeskanzler angesprochen hat, ungern so
verstanden wissen, dass diese Menschen Opfer darstellen. Sie sind vielmehr ein Ansporn für uns alle, an einer
Veränderung mitzuwirken. Diese Veränderung beschränkt sich nicht auf Gesetzesänderungen. Wir alle
- ich möchte das Stichwort von den „Profis der Nation“
aufgreifen, wie immer man das auch verstehen will -, die
Unternehmensleiter, die Vorstände, die Manager, die Betriebs- und Personalräte und die Wissenschaftler, sind
gefordert, wenn es darum geht, dass es in den Städten
und Gemeinden, in den Betrieben tatsächlich zu Veränderungen kommt.
Das Gleiche gilt übrigens in Bezug auf die Ausbildungsplätze; der Bundeskanzler hat dies in der gebotenen Deutlichkeit gesagt. Wir haben in Deutschland
wieder die Situation, dass uns Zehntausende von Ausbildungsplätzen fehlen. Es ist wirklich schwer zu verkraften, wenn wir hören müssen, dass das notwendige Angebot an Ausbildungsplätzen von Bedingungen abhängig
gemacht wird. Nein, wir müssen die Unternehmer bitten
und an sie appellieren - dafür werden wir sie heimsuchen; wir werden alles tun, um sie dazu zu bewegen -,
({4})
mehr Ausbildungsplätze bereitzustellen.
({5})
Herr Kollege Westerwelle, „heimsuchen“ ist wirklich
ein gutes Wort. Ich lade Sie ein, mitzukommen. Ich habe
meine Erfahrungen gesammelt. In meiner früheren
Funktion habe ich etwa 300 Unternehmen in NordrheinWestfalen besucht, vor allen Dingen kleine. Ich bilde mir
ein, mir einen gewissen Eindruck verschafft zu haben.
Herr Hinsken weiß es genauso gut wie ich: Sie können
durch Gespräche mit denen, die Mitverantwortung tragen und sich mitverantwortlich fühlen, mit Innungsmeistern und anderen, zu einer Veränderung des Verhaltens
beitragen. Das geht aber nur, wenn wir nicht über ihre
Köpfe hinwegreden, wie es gelegentlich in unseren politischen Diskussionen geschieht. Wir müssen ganz gezielt
diejenigen vor Ort ansprechen, die dazu beitragen können, dass die Ausbildungsplatzfrage gelöst wird.
({6})
Ich werde alles tun, um das zu erreichen, was der
Bundeskanzler angekündigt hat. Dazu gehört auch die
Bereitstellung einer ausreichenden Zahl von Ausbildungsplätzen.
Ich will noch einmal unterstreichen, was ich gesagt
habe: Es geht nicht allein darum, Mittel zu kürzen; dies
ist leider notwendig. Aber wir müssen die Lohnnebenkosten senken. Zu einer ehrlichen Analyse gehört, zu sagen, warum die Lohnnebenkosten in Deutschland so
hoch sind. Wir haben so hohe Lohnnebenkosten, weil
wir Anfang der 90er-Jahre - ich glaube, darüber besteht
heute Konsens - eine falsche Richtungsentscheidung gefällt haben. Es war falsch, einen Großteil des Aufbaus
Ost über die Lohnnebenkosten zu finanzieren.
({7})
Wir hätten diese Aufgabe allen Steuerbürgern auferlegen
müssen. Das ist heute aber nicht mehr zu ändern. Trotzdem ist es Zeit, die Belastungen anders zu verteilen.
Es ist leichter, von dieser Stelle aus solche Erwartungen an andere zu richten, als zu wissen, was dies tatsächlich bedeutet. Was wir bei der Arbeitslosenhilfe beschlossen haben und was bereits Gesetzeskraft ist Stichwort: Partnereinkommen und anzurechnendes Vermögen -, bedeutet für einzelne Arbeitslosenhilfebezieher eine Reduzierung ihres Einkommens, die in einem
anderen Lebensbereich, zum Beispiel in einem Unternehmen, kaum jemand akzeptieren würde. Dies sind Belastungen in einer Größenordnung, die dort niemandem
zugemutet würden. Bitte lassen Sie uns, wenn wir über
das sprechen, was notwendig ist, auch über diese Menschen sprechen! Wir müssen sie gewinnen, auch dafür,
mit uns gemeinsam alles zu versuchen, dass sie wieder
in Arbeit kommen, soweit sie arbeitsfähig sind.
({8})
Ich will es noch einmal sagen: Wir reden über heute
4,7 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Es hängt alles
entscheidend davon ab - davon bin ich überzeugt -, dass
wir die Arbeitslosigkeit von Grund auf bekämpfen.
„Von Grund auf“ heißt in meinem Verständnis: vor allem
bei den jungen Leuten. Der Kollege Müntefering hat das
vorhin zu Recht angesprochen. Es sind 580 000 junge
Leute unter 25 Jahren arbeitslos. Wenn da nichts getan
würde, hieße das, die Arbeitslosigkeit schlichtweg fortzuschreiben. Wir müssen nicht nur einen Trend stoppen
oder umkehren, sondern wir müssen der hohen Arbeitslosigkeit die Grundlage entziehen. Dazu muss es uns in
einer gemeinsamen Anstrengung gelingen, zu verhindern, dass junge Leute unter 25 Jahren bei uns überhaupt
in Arbeitslosigkeit gehen. Das ist das Ziel.
({9})
Wie können wir dieses Ziel realisieren? Wir müssen
dafür sorgen - dazu brauchen wir die Unternehmen -,
dass kein junger Mann und keine junge Frau, die ausbildungsfähig und ausbildungswillig sind, ohne Ausbildungsplatz bleiben. Das ist die erste Aufgabe.
({10})
Die zweite Aufgabe. Wir müssen dafür sorgen, dass
die jungen Leute dann auch einen Arbeitsplatz bekommen. Es macht keinen Sinn, sie an der so genannten
zweiten Schwelle scheitern zu lassen. Sie müssen auch
einen Arbeitsplatz bekommen. Wenn das nicht möglich
ist, dann müssen wir ihnen eine Qualifikation anbieten.
Kein junger Mann, keine junge Frau unter 25 Jahren darf
in Deutschland ohne ein solches Angebot bleiben - alle
diese Angebote sind zumutbar - : Ausbildungsplatz, Arbeitsplatz oder Qualifikation. Das ist das Ziel. Wenn wir
das erreichen, dann haben wir der Arbeitslosigkeit in
Deutschland tatsächlich die Grundlage entzogen. Deshalb müssen wir hier ansetzen und deshalb werden wir
hier ansetzen. Das ist die wichtigste Aufgabe.
({11})
- Woher kommen die Arbeitsplätze?
Es wird eine gewaltige Aufgabe, diejenigen, die heute
Sozialhilfe beziehen und erwerbsfähig sind, in die Arbeitsvermittlung hineinzunehmen. Es sind etwa 1 Million
Menschen - das ist vorhin zu Recht gesagt worden -, die
zusätzlich in Arbeit vermittelt werden müssen. Ein Großteil davon ist bereits heute bei der Arbeitsverwaltung,
ein Teil nicht. Zusammen mit Familienangehörigen
werden sie in ein gemeinsames System gebracht werden. Wir werden die Schizophrenie überwinden - das ist
eine Schizophrenie -, dass zwischen Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe unterschieden wird.
({12})
- Ich werde Ihnen gleich die Frage beantworten, wo die
Arbeitsplätze sind.
Unter anderem ist auf das zu verweisen, was wir beispielsweise im Gesundheitssektor getan haben und was
Sie bisher noch nicht angesprochen haben, weil Sie da
offensichtlich noch sprachlos sind.
({13})
Wir werden Arbeitsplätze zu schaffen haben. Wir haben
schon Arbeitsplätze geschaffen. Wir haben neue Möglichkeiten für Dienstleistungen geschaffen. Wir haben
mit dem, was wir hier beschlossen haben, Arbeitsmöglichkeiten geschaffen. Da hinein werden wir die Menschen vermitteln.
Wir werden das aber nicht schaffen, wenn sich die
Städte und Gemeinden und die freien Träger, die heute
mitwirken, zurückziehen. Was wir vor uns haben, geht
nur im Zusammenwirken von Bundesanstalt für Arbeit,
Arbeitsvermittlung, Kommunen und freien Trägern. Nur
im Zusammenwirken dieser drei Kräfte wird das gelingen.
Weil es vermutlich nicht möglich sein wird, Herr Kollege, alle diejenigen, die erwerbsfähig sind und bisher Sozialhilfe beziehen, sofort in den ersten Arbeitsmarkt zu
bringen - jawohl, das wird nicht auf Anhieb gelingen -,
müssen wir es schaffen, gemeinsam mit den Städten und
Gemeinden sowie den freien Trägern so etwas wie einen
zweiten Arbeitsmarkt mit zumutbaren Arbeitsverhältnissen zu etablieren, in den wir diejenigen bringen können, die nicht auf Anhieb in den ersten Arbeitsmarkt
kommen können.
({14})
Es geht darum, meine Damen und Herren, alle Hebel
zu bedienen, die möglicherweise verhindern, dass Arbeitsplätze entstehen. Dazu gehört auch das Arbeitsrecht. Das ist die Diskussion, die wir führen. Der Bun2534
deskanzler hat dazu meines Erachtens das Richtige
gesagt. Der Kollege Stoiber ist jetzt leider nicht mehr
hier.
({15})
- Herr Kollege Stoiber, Entschuldigung; ich habe Sie
nicht gesehen. Sie sind also da.
({16})
- Wenn es spannend wird, dann ist er hier; das wissen
wir doch.
Herr Kollege Stoiber, wenn Sie die Grenze von
20 Beschäftigten in einem Betrieb so starr setzen, wie
Sie es hier formuliert haben, das heißt alles an der
Grenze von 20 Beschäftigten in einem Betrieb festmachen, dann spalten Sie den Arbeits- und Wirtschaftsmarkt in Deutschland in einer Weise, die wir noch nie
gehabt haben. Ich halte es für einen grundlegenden Fehler, so vorzugehen.
({17})
Sie wollen alles an der Grenze von 20 Beschäftigten
festmachen. Sie werden dann eine Grenze haben, die den
Arbeitsmarkt und viele Beschäftigungsverhältnisse treffen wird. Ich bin sicher, das werden Sie nicht durchhalten. Auf die Diskussion darüber bin ich gespannt.
Ich glaube deshalb, dass der Vorschlag, den der Bundeskanzler hier skizziert hat, nämlich Betrieben mit bis
zu fünf Beschäftigten, die noch nicht dem Kündigungsschutz unterliegen, die Möglichkeit zu geben, zusätzlich
befristete Arbeitsverhältnisse einzugehen, wobei diese
nicht auf die in diesem Zusammenhang bestehende Beschäftigungsschwelle angerechnet werden, richtig ist. Er
führt zu mehr Elastizität. Die Unternehmen, die zusätzlich einstellen wollen - dabei geht es um die kleinen
Unternehmen -, sollten diese Möglichkeit erhalten.
Herr Minister, lassen Sie noch eine Zwischenfrage
des Kollegen Niebel zu?
Ja, sehr gerne.
Bitte.
Vielen Dank, Herr Minister. - Herr Minister, der Vorschlag, der vom Bundeskanzler und von Ihnen skizziert
worden ist, besagt ja, dass Betrieben mit bis zu fünf Arbeitnehmern, um das Kündigungsschutzgesetz nicht wirken zu lassen, eine unbegrenzte Anzahl von befristeten
Beschäftigungsverhältnissen ermöglicht werden soll und
dass auch Zeitarbeitnehmer nicht auf den Schwellenwert
angerechnet werden sollen. Ist es denn zum einen nicht
so, dass schon heute Zeitarbeitnehmer nicht auf den nach
dem Kündigungsschutzgesetz bestehenden Schwellenwert der Beschäftigten angerechnet werden? Was soll
zum anderen daran besser sein, eine unbegrenzte Anzahl
von auf höchstens 24 Monate befristeten und, wie Sie
immer gesagt haben, prekären Beschäftigungsverhältnissen zu ermöglichen, anstatt dauerhaft einzustellen?
Herr Kollege, das heutige Recht ist so, dass befristete
Arbeitsverhältnisse auf den Schwellenwert angerechnet
werden, sodass ein Arbeitgeber, der fünf Beschäftigte
hat und ein sechstes Arbeitsverhältnis eingeht, für all
seine Beschäftigten den Kündigungsschutz auslöst. Das
ist die heutige Rechtslage, die durch die Rechtsprechung
belegt ist. Nur Aushilfskräfte werden nicht angerechnet,
nicht aber befristete Beschäftigungsverhältnisse. Deshalb haben der Bundeskanzler und auch Herr
Müntefering im Gegensatz zu Ihnen nur von befristeten
Arbeitsverhältnissen gesprochen. So ist es korrekt.
Was soll unser Vorschlag bringen? Das führt dazu,
dass ein Arbeitgeber mit bis zu zwei Jahren befristeten
Arbeitsverhältnissen arbeiten kann. Er kann sogar innerhalb dieser zwei Jahre wechseln. Er kann mehrere Arbeitnehmer befristet beschäftigen und kann sich in dieser
Zeit - da müssten Sie mir eigentlich zustimmen - klar
darüber werden, ob er einen Schritt weiter geht oder ob
er besser mit befristeten Arbeitsverhältnissen arbeiten
kann. Das liegt so nüchtern und klar auf der Hand, dass
ich es besser nicht beschreiben kann. Ich bitte Sie, damit
einverstanden zu sein, dass ich dies so sehe und Ihnen so
darstelle.
({0})
Das ist also der Vorschlag, der dazu vorliegt. Es ist interessant: In Wahrheit gibt es keinerlei Beleg dafür, ob
die eine oder die andere Ansicht richtig ist. Zur Zeit der
Regierung Helmut Kohls gab es einen Schwellenwert
von zehn Beschäftigten. Diese Regelung war drei Jahre
in Kraft. Es ist im Nachhinein nicht eindeutig festgestellt
worden, wie sie sich auf den Arbeitsmarkt ausgewirkt
hat. Es gibt bisher keine Nachweise - auch international
kaum -, dass diese Grenze ihre Wirkung erzielt hat.
Weil es spannend und wichtig ist, sich ein bisschen
Orientierung zu verschaffen, habe ich bei Forsa eine
Untersuchung in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse sind
interessant. Denn sie zeigen, Herr Kollege Stoiber, wie
viele Menschen von den Regeln, über die wir hier diskutieren, betroffen sind. Es gibt in Deutschland 1,45 Millionen Unternehmen mit bis zu fünf Beschäftigten. In dieser Umfrage, deren Ergebnis ziemlich erhellend war,
haben 42 Prozent der Inhaber dieser Unternehmen gesagt, dass sie sich vorstellen können, ein bis zwei Beschäftigte zusätzlich einzustellen, wenn dies nicht den
Kündigungsschutz auslöst. Sie sagen das nicht, weil sie
prinzipiell gegen den Kündigungsschutz sind, sondern
weil sie die damit verbundene rechtliche Einbindung besorgt.
Auch ich bin nicht gegen den Kündigungsschutz. Ich
bin wie der Kollege Müntefering und meine Freunde innerhalb der Sozialdemokratie dafür, den Kündigungsschutz zu erhalten. Ich bin aber auch dafür, nach Wegen
zu suchen, wie wir verhindern können, dass er sich zu einer Bremse entwickeln könnte. Darum geht es.
({1})
Wenn ich die von mir genannte Zahl von 1,45 Millionen Unternehmen hochrechnen würde, dann müsste ich
sagen: Unser Vorschlag könnte, theoretisch gesprochen,
einige 100 000 Arbeitsplätze schaffen. Weil ich aber bei
allem Optimismus, zu dem ich mich trotz der vielen depressiven Veranstaltungen, die man in seinem Leben
mitmachen muss,
({2})
immer wieder aufraffe und dem ich mich verpflichtet
fühle, versuche, ein Realist zu sein, sage ich: Wenn
10 Prozent dieser Unternehmen zusätzlich ein oder zwei
Personen einstellen, dann ist das viel. Dann betrifft das
immerhin einige 10 000 Menschen, die möglicherweise
dadurch einen Arbeitsplatz erhalten können. Es lohnt
sich also.
({3})
Wir haben nunmehr fünf Jahre lang darüber diskutiert,
was gegen eine solche Regel sprechen könnte, haben
evaluiert und haben versucht, festzustellen, ob sie etwas
bringt oder nicht. Es wird Zeit, dass wir etwas tun und
uns darüber klar werden, was geht und was nicht. Ich bin
für eine Regelung.
Wir haben - das hat der Bundeskanzler schon dargestellt - auch ein Abfindungsrecht vorgesehen. Herr
Kollege Stoiber, ich muss Ihnen ganz offen sagen - das
sage ich auch an Ihre Adresse, Frau Kollegin Merkel -:
Es ist, jedenfalls für die Arbeitnehmer, nicht fair, sich bei
Vertragsunterzeichnung entscheiden zu müssen, ob eine
Abfindungsregelung in den Vertrag aufgenommen wird
oder nicht. Das ist der Vorschlag der Union. Wer sich in
der heutigen Zeit angesichts der schwierigen Lage auf
dem Arbeitsmarkt um einen Arbeitsplatz bewirbt, ist in
der Situation des Unterlegenen. Das gilt nicht für jeden,
aber doch für viele. Man wird also bereit sein - das ist
völlig klar -, einen solchen Vertrag zu unterschreiben.
({4})
Deshalb halten wir es für vernünftig, diese Entscheidung
den Betroffenen erst dann anheim zu stellen, wenn die
Kündigung ausgesprochen wird. Erst dann sollen gesetzliche Regelungen wirken. So haben wir es vorgesehen.
({5})
Zum Tarifvertragsrecht. Zwischen Ihren und unseren Vorstellungen hierzu gibt es einen entscheidenden
Unterschied. Wenn der Kollege Merz hier wäre, würde
ich das noch etwas härter ausdrücken. Sie, Frau Merkel,
sprechen dieses Thema sehr sanft an, weil Sie wissen,
dass dies kein guter Weg für die CDU ist. Sie wissen,
dass viele in der CDU bei dem, was der Kollege Merz
dazu sagt, nicht mitgehen werden und nicht mitgehen
können.
Herr Kollege Westerwelle, Sie bemühen sich erst gar
nicht um die Unterstützung der Gewerkschaft. Deshalb
muss ich mich mit Ihnen über dieses Thema gar nicht
erst auseinander setzen.
({6})
Ich komme auf Ihre Position, Frau Merkel, zurück.
Hier besteht ein Widerspruch. Sie sprechen ständig von
Deregulierung und wollen ein Gesetz hierzu machen.
Aber auch die Arbeitgeber sagen: Lassen Sie uns einen
Tarifvertrag über betriebliche Öffnungsklauseln abschließen. Ist Ihnen denn nicht klar, dass vertragliche
Regelungen immer besser sind als gesetzliche Regelungen, erst recht da, wo es um Tarifautonomie geht? Das
ist doch selbstverständlich. Sie haben über Freiheit gesprochen und dem Kanzler vorgeworfen, er hätte das
Wort „Freiheit“ nicht in den Mund genommen. Hätte er
an der entsprechenden Stelle von Freiheit gesprochen,
dann hätten Sie erkennen müssen, dass Sie eigentlich gegen ein Gesetz und für freie Vereinbarungen zwischen
den Tarifparteien sein müssten.
({7})
Nur dann, wenn der Weg über vertragliche Regelungen wider Erwarten nicht gelingt, stellt sich die Situation
anders dar. Aber, Herr Kollege Stoiber, es gibt in einer
Vielzahl von Tarifverträgen in Nordrhein-Westfalen
- ich weiß nicht, wie viele es sind - und mit Sicherheit
auch in Bayern solche Öffnungsklauseln.
({8})
Es ist doch absurd, wenn von Ihnen, Herr Kollege
Westerwelle, dargestellt wird, die Gewerkschaften und
die Betriebsräte würden sich dem entziehen. Es gibt
viele Tarifverträge mit solchen Öffnungsklauseln.
Schauen Sie sich das in meiner Gewerkschaft an.
Sie fragen neuerdings nach, wer in welcher Gewerkschaft ist. Ich bin, damit Sie das wissen, in der IGBCE.
Früher war ich in der Journalistengewerkschaft.
({9})
- Diese 75 Prozent sind genauso unabhängig wie ich und
fühlen sich unabhängiger als mancher, der für andere
wichtige gesellschaftliche Gruppen eintritt, beispielsweise für die Arzneimittelindustrie.
({10})
Also lassen Sie das.
Das wollte ich Ihnen sowieso sagen. Wenn Sie in diesem Hohen Haus erwachsenen Leuten wie mir entsprechende Fragen stellen, mich auffordern, ich solle Auskunft darüber geben, ob ich in einer Gewerkschaft bin
oder nicht, dann empfinde ich das als eine Zumutung.
Das finde ich nicht in Ordnung. Lassen Sie das sein!
({11})
Ich beantworte solche Fragen nicht. Ich bin ein freier
Mensch. Ich berufe mich so wie Frau Merkel auf die
Freiheit. Solche Fragen werde ich nur dann beantworten,
wenn es mir gefällt.
({12})
Die Tarifautonomie gegebenenfalls mit Gesetzeskraft
einschränken zu wollen ist ein Thema, über das wir sehr
ernsthaft nachdenken sollten. Die Tarifhoheit wird nämlich über die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 unseres Grundgesetzes geschützt. Ich würde damit nicht auf diese
Weise umgehen, und ich sehe, dass manche von Ihnen
ebenfalls sehr vorsichtig sind und große Hemmungen
haben, auf diese Weise vorzugehen. Das kann man nur
tun, wenn Not am Mann ist. Aber dafür spricht nichts.
Die Vernunft der Gewerkschaften spiegelt sich in vielen
betrieblichen Vereinbarungen wider. Sie werden sich
auch in diesem Fall bewähren.
({13})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schauerte?
Das kann ich gar nicht verhindern; er ist schließlich
Sauerländer. Franz Müntefering würde es mir verübeln,
wenn ich ihn nicht seine Zwischenfrage stellen ließe.
Die Sauerländer haben nach unserer Geschäftsordnung keine zusätzlichen Rechtsansprüche auf Redezeit.
Insofern liegt die Entscheidung, ob Sie die Frage zulassen, ganz in Ihrem Ermessen.
Herr Präsident, Sie gehen sehr streng mit ihnen um.
Herr Kollege Schauerte, sammeln Sie sich.
Ich hoffe, ich brauche nicht die Zustimmung von
Herrn Müntefering. Das würde ich als Belastung empfinden.
({0})
Ich komme zu meiner Frage. Sie haben gerade so
engagiert über die Freiheit und die Notwendigkeit, unnötige Gesetze und unnötigen gesetzlichen Druck zu vermeiden, gesprochen. Bei der Umsetzung des HartzKonzeptes gab es bei der Frage, wie die entliehenen Arbeitnehmer bezahlt werden könnten, genau diese Debatte.
({1})
Sie haben bei diesem Thema eindeutig auf die gesetzliche Regelung gesetzt und die tarifliche Freiheit eingeschränkt. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?
Herr Kollege Schauerte, ich bin so konsequent, wie
man überhaupt nur sein kann. Deshalb setze ich auch bei
den Zeit- und Leiharbeitsverträgen auf die Vernunft
der Tarifparteien. Wie Sie wissen, sind die Tarifparteien
zurzeit dabei - das ist ein sehr spannender Prozess -, Tarifverträge abzuschließen. Noch ist es nicht zu den Tarifverträgen gekommen. Es scheint aber so zu sein, dass ich
mit meiner Prognose Recht gehabt habe, dass es nämlich
zu tariflichen Vereinbarungen kommen wird. Diese werden auch Peter Hartz befriedigen. Ich bin mir noch nicht
ganz so sicher - ich glaube es aber -, dass ich das auch
bei Ihnen schaffe.
({0})
Auch hier setze ich auf die Vernunft der Tarifparteien
und nicht auf das Gesetz.
Herr Kollege Schauerte, der Grundsatz, der im Gesetz
vorgesehen ist, dass nämlich in Deutschland und in ganz
Europa der gleiche Lohn für gleiche Arbeit gezahlt
wird - in English: Equal Pay -, soll für ganz Europa gelten. Das legt die Europäische Kommission gerade in einer Richtlinie fest. Sie werden dieser Richtlinie später
genauso zustimmen wie ich auch. - Ich danke Ihnen.
({1})
Nun zum Handwerksrecht, das sehr spannend ist.
Ich höre Sie immer über die Felder sprechen, in denen es
wirklich - das muss ich Ihnen so deutlich sagen - um die
Schwächeren geht. Herr Kollege Hinsken, wir müssen
natürlich genauso hart und deutlich - der Bundeskanzler
hat das beispielsweise mit dem Bereich der Gesundheit
getan; er hat über Ärzte und andere gesprochen - über
das Handwerk und das Handwerksrecht sprechen. Auch
hier stellt sich die Frage, ob wir Türen verschlossen haben, die wir öffnen müssen, um mehr Unternehmen und
Arbeitsplätze zu schaffen.
Ich wurde vorhin durch einen Zwischenruf gefragt,
wo denn die Arbeitsplätze sind. Hier stellt sich die
Frage, ob unser heutiges Handwerksrecht geeignet ist,
zusätzliche Unternehmen und damit auch zusätzliche
Arbeitsplätze entstehen zu lassen. Die Diskussion ist
teilweise emotional und ausgesprochen intensiv. Wir haben sie gestern in München und ich habe sie schon vorher mit dem Handwerk geführt. Dies werden wir auch
weiterhin tun.
({2})
Wir müssen bald zu Ergebnissen kommen.
Ich habe überall gesagt: Lassen Sie uns mit allem,
was wir können, versuchen, im Konsens zu sein. Lassen
Sie uns versuchen, gemeinsam mit dem Handwerk eine
Lösung zu finden. Wir müssen diese Lösung finden. Es
kann nicht sein, dass wir uns immer wieder einem Punkt
nähern und dann vor der Lösung wieder zurückschrecken. Ich verstehe, dass das für das Handwerk sehr
schwierig ist. Es ist ein sehr stolzer und sehr wichtiger
Sektor unserer Wirtschaft mit einer großen Tradition. Ich
mag diese Tradition und das Handwerk und ich bin - das
habe ich schon oft gesagt - ein Anhänger der Handwerkskammern und erst recht der dualen Berufsausbildung. Ich finde den Meisterbrief wunderbar. An zwei
Feststellungen führt aber kein Weg vorbei; denn das
Handwerksrecht wird von zwei Seiten unter Druck kommen:
Erstens nenne ich den kleingewerblichen Bereich,
der jetzt unter anderem mit der Ich-AG und anderem entsteht. Es besteht gar kein Zweifel, dass wir diesen kleingewerblichen Bereich brauchen.
({3})
Herr Kollege, Sie fragen, wo die Arbeitsplätze sind. Ich
sage Ihnen, dass sie nicht nur, aber auch dort sind. Der
Dienstleistungssektor in Deutschland ist unterentwickelt.
Herr Kollege Hinsken, Sie müssen auch Folgendes
bedenken - das muss auch das Handwerk beschäftigen -.
Einerseits ist es sehr wichtig und schön, in den einzelnen
Gewerken und Handwerkssektoren organisiert und vertreten sowie fachlich so hervorragend zu sein wie unsere
Handwerker. Sie sind - auch das ist ein solcher Bereich
- wirklich Weltspitze. Das straffe Recht hat aber den
Nachteil, dass neue Märkte nicht entwickelt werden. Wie
kommt es, dass das Handwerk beispielsweise nicht
schon längst im Handel tätig ist? Diese Grenzen müssten
wir längst übersprungen haben. Solche Entwicklungen
brauchen wir, wenn wir dort neue Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen wollen.
Der zweite Punkt ist, dass aus allen Richtungen
Europas - wir haben neun Nachbarstaaten - Unternehmen auf uns zukommen, die im Handwerk tätig sind und
diese strengen Voraussetzungen nicht haben. In diesen
muss man keinen Meisterbrief haben. Wer in Belgien,
Polen, Frankreich oder einem anderen unserer Nachbarstaaten seit sechs Jahren ein Unternehmen führt - unter
welchen rechtlichen Bedingungen auch immer -, der
kann in die Bundesrepublik Deutschland kommen und
hier dem Handwerksberuf nachgehen. Das führt schlicht
und ergreifend zu dem, was Juristen als drohende Inländerdiskriminierung bezeichnen. Ich habe in Passau und
Vilshofen erlebt, wie ernst dieses Thema ist. Es ist
schwierig, eine Lösung dafür zu finden, dass aus der
Tschechischen Republik hervorragende Handwerker
nach Deutschland kommen, die aber nicht alle die gleichen Voraussetzungen wie die deutschen Handwerker
haben.
Es bringt also nichts zu sagen: Der Meisterbrief darf
nicht angetastet werden. Wir müssen vielmehr einen
Weg finden, die Pflicht zum Meisterbrief auf die Bereiche zu konzentrieren, die rechtlich unangreifbar sind und
bei denen auch kein Druck aus dem Ausland droht. Das
haben unsere Experten als gefahrengeneigte Handwerke
definiert. Aber es kann sein, dass in anderen Bereichen
die Meisterprüfung nicht mehr verpflichtend, sondern
freiwillig ist. Sie verliert deshalb nicht an Qualität. Im
Handwerk müssen wir durchsetzen, dass die freiwillige
Qualifikation nicht als mindere Qualifikation angesehen
wird. Sie hat die gleiche qualitative Kraft wie die verpflichtende Meisterprüfung. Das müssen wir zuwege
bringen.
({4})
Im Small Business Act haben wir vorgesehen, dass
einfache Tätigkeiten nicht mehr dem Handwerksrecht
unterliegen. Das ist in Wahrheit nicht mehr als eine
rechtliche Klarstellung; denn in der Rechtsprechung
wird es bereits heute so gehandhabt. Der nächste Schritt,
den wir mit der Reform der Handwerksordnung vor der
Sommerpause auf den Weg bringen müssen, geht wirklich an die Substanz. Mit dieser Reform werden verschiedene Punkte aufgegriffen. Ich bin überzeugt, dass
uns das gelingt, ohne dass das Handwerk deshalb an Bedeutung verliert.
Wir müssen die Betriebe mobilisieren. Wir hatten einmal fast 700 000 Handwerksunternehmen in Deutschland.
({5})
Zurzeit haben wir auch wegen der ökonomischen Lage
- das ist unbestreitbar - 560 000 Unternehmen. Es
spricht wenig dafür, dass wir unter dem Druck der europäischen Entwicklung die Zahl von früher erreichen
werden. Deshalb müssen wir gemeinsam neue Wege gehen. Für diese neuen Wege werbe ich. Das ist der Punkt.
({6})
Ich will etwas zu den Existenzgründern sagen, über
die auch der Bundeskanzler gesprochen hat. Wir müssen
prüfen, ob über die Regelung der Beitragsfreiheit für
Existenzgründer hinausgehend - das hat der Bundeskanzler vorgeschlagen - Existenzgründungen in diesem
Bereich gefördert werden können. Möglicherweise
könnten die Handwerkskammern entsprechende Existenzgründerpakete anbieten, die dazu führen, dass vor allen Dingen mehr junge Leute den Weg in die Selbstständigkeit wagen.
Ein anderes Thema ist der Bürokratieabbau. Frau
Kollegin Merkel, ich finde es wichtig, dass nun auch Sie
dieses Thema aufgenommen haben. Willkommen im
Klub!
({7})
Es ist wirklich wichtig, dieses Thema voranzutreiben.
Dies ist, wie ich weiß und wie es auch alle anderen wissen, eine sehr diffizile Aufgabe. Es geht dabei aber nicht
nur um das Handwerksrecht, sondern um alle Regeln
und Regularien, die sich die verschiedenen Berufsstände
in Deutschland zugelegt haben. Zu fragen, ob alle diese
Regeln vernünftig sind, ist ebenfalls Deregulierung und
Entbürokratisierung.
Einige Fragen, die mir gerade in den Sinn kommen,
sind: Ist es richtig, dass wir eine Honorarordnung für Architekten und Ingenieure haben? Was spricht dafür, dass
der Staat eine solche Honorarordnung festlegt? Können
dies auch andere tun? Frau Kollegin Merkel hat das Beispiel mit den Schornsteinfegern gebracht. Ich weiß nicht,
wie sie darauf gekommen ist, aber ihr Einwand ist berechtigt. Diese Frage kann man aufwerfen. Man kann
dies an verschiedenen Berufsständen festmachen.
Wichtig ist mir zurzeit vor allen Dingen eine Angelegenheit, die mit der Frage der Ausbildung zusammenhängt. In Westdeutschland verfügen 44 Prozent der
Unternehmen nicht über eine Ausbildereignung, in Ostdeutschland sind es 53 Prozent. Wer sich das vor Augen
führt, der wird sich nicht wundern, dass wir nicht genügend Ausbildungsplätze haben. Das ist natürlich nicht
der einzige Grund. Aber es ist vermutlich ein Grund,
weil außer Meistern, Ingenieuren und Beamten ab einer
bestimmten Qualifikation alle anderen erst eine Ausbildereignungsprüfung machen müssen. Diese Prüfung ist
nicht so ganz einfach und erfordert einen großen Kraftaufwand. Auch muss man seine Scheu gegenüber der
Bürokratie ablegen, die es gelegentlich auch in Kammern geben soll.
Ich erwähne diese Scheu vor der Bürokratie deshalb,
weil ich dabei an Unternehmen mit einem ausländischen Gründer denke. Zehntausende von Ausländern
führen bei uns ein Unternehmen. In Nordrhein-Westfalen sind es 57 000; das weiß ich aus der Erinnerung.
Aber nur ganz wenige von ihnen bilden aus. Sie bilden
nicht aus, weil sie vermutlich davor zurückschrecken,
sich an die Kammern mit ihrer Bürokratie zu wenden,
und Sorge haben, mit anderen zu kollidieren. Deshalb
versuchen sie, dem zu entgehen. Aus diesem Grunde
brauchen wir uns nicht zu wundern, dass zu viele ausländische Jugendliche - es sind wesentlich mehr als deutsche Jugendliche - keine vernünftige Ausbildung bei
uns machen. Deshalb müssen wir auch in diesem Sektor
zu Veränderungen kommen. Das ist Entbürokratisierung,
die Sinn macht. Das bedeutet - das hat der Bundeskanzler gesagt -, dass wir von den differenzierten Regelungen, Prüfungen und Prüfungswiederholungen wegkommen wollen. Wir sagen: Jemand, der ein Unternehmen
fünf Jahre lang in Deutschland erfolgreich geführt hat,
ist auch geeignet auszubilden. Wir nehmen an, dass er
die Ausbildereignung hat, und werden ihn auch so behandeln.
({8})
Es hat mich übrigens gefreut, von Kollegin Merkel etwas über die Reform des Föderalismus zu hören. Über
diese Reform wird seit zwei Jahren zwischen dem Bund
und den Ländern diskutiert, zwischen dem Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten, zwischen dem Bundesinnenminister und seinen Kollegen in den Ländern.
Diese Gespräche werden, soweit ich orientiert bin, im
April fortgesetzt. Ich halte sehr viel davon, zu fragen, ob
die föderalen Strukturen in Deutschland wirklich noch
auf der Höhe der Zeit sind. Ich sage dies vor dem Hintergrund meiner ehemaligen Funktion, die noch nicht so
lange zurückliegt, als dass ich nicht wüsste, worüber ich
rede. Es ist sehr wichtig, dass wir uns fragen, ob die vielfachen Verflechtungen zwischen der Bundes- und der
Länderebene noch Sinn machen, oder ob wir dort zu
Veränderungen kommen sollten.
Ich fühle mich für einen Vorschlag, der sowohl im
Zusammenhang mit dem Bürokratieabbau, als auch mit
der Föderalismusreform diskutiert wird, ein wenig mitverantwortlich: die so genannte Experimentierklausel.
Im Rückgriff auf eine Äußerung von Helmut Schmidt
habe ich in meiner ersten Rede in meiner jetzigen Funktion hier etwas dazu gesagt. Deshalb will ich heute das
sagen, was ich gestern den Wirtschaftsministern der
Länder gesagt habe: Ich habe sie gebeten, keine Irrwege einzuschlagen. Wir reden in Deutschland sicher
nicht - das würde ich auch nicht empfehlen - über
„Sonderwirtschaftszonen“. Dieser Begriff steckt Leuten
meines Alters noch so tief in den Knochen, dass sie ihn
gar nicht hören wollen. Es geht auch nicht um Sonderwirtschaftszonen oder -regionen in Deutschland. Es
kann nicht darum gehen, in einigen Ländern Sonderrecht zu schaffen.
Von Kollegen - je weniger Einwohner ihre Länder
haben, desto größer ist der Mut - habe ich gehört, dass
sie am liebsten sofort das gesamte Arbeitsrecht abschaffen würden. Ich habe gesagt: Wenn ein solcher Vorschlag überhaupt übernommen wird - wir erörtern das
zurzeit in der Bundesregierung; danach wird darüber
weiter zu diskutieren sein -, dann kann er sich bezüglich
des Verhältnisses zwischen Bund und Ländern nur um
Verwaltungs- und Verfahrensfragen drehen. Er kann sich
nicht um materielles Recht drehen. Er kann sich nur um
Verwaltungs- und Verfahrensfragen drehen, weil die
Länder auf diesem Gebiet eine originäre Zuständigkeit
haben. Wenn man experimentieren und eine solche Innovationsklausel einführen will, liegt es nahe, den Ländern
das für diesen Sektor anheim zu stellen. Im Übrigen ist
die Erwartung zu äußern, dass auch die Länder in ihren
Regionen solche Experimente durchführen, wie das in
einzelnen Ländern in der Bundesrepublik Deutschland
geschieht. Ich sage das nur, um für Klarheit zu sorgen.
({9})
Neben dem, was dem Einzelnen zugemutet werden
muss, was er an Opfern und Beiträgen erbringen muss,
geht es vor allen Dingen darum, die Kräfte, die es - das
wissen wir alle - in unserem Land gibt, zu wecken, um
mehr junge Leute - aber nicht nur junge Leute - zu motivieren, den Weg in die Selbstständigkeit zu riskieren.
Bei aller Bedrängnis, die das Problem der Arbeitslosigkeit aufwirft, finde ich es ermutigend, dass im vergangenen Jahr 123 000 Menschen den Weg aus der Arbeitslosigkeit in die Selbstständigkeit gewagt haben. Dieser
Weg ist nicht von vornherein erfolglos, sondern in vielen
Fällen Erfolg versprechend.
({10})
Deshalb ist der Weg der Ich-AG richtig. Das ist nicht der
einzige Weg, aber es ist ein Weg. Wir brauchen mehr
Unternehmen.
Außerdem müssen wir erreichen - mir ist es sehr
wichtig, was der Bundeskanzler zu den Themen Wissenschaft und Forschung sowie öffentliche und private Mittel gesagt hat -, dass wir in den Spitzentechnologien
weiterhin in der Weltspitze bleiben. Das ist die wichtigste Aufgabe.
({11})
Deshalb wehre ich mich dagegen, dass hier der Eindruck erweckt wird, Deutschland sei in der Automobilbranche, in der Automobiltechnologie und im Maschinenbau nicht Weltspitze. Wir befinden uns in diesen
Bereichen durchaus in der Weltspitze. Wir müssen mehr
tun, um auch in den Feldern, die über die Wachstumsmärkte der Zukunft entscheiden, ebenfalls in der Weltspitze zu sein. Dazu brauchen wir mehr öffentliche und
private Investitionen. In diesem Haushalt müssen wir in
diesem Sektor eine kleine Atempause einlegen. Wie der
Bundeskanzler ausgeführt hat, sind mehr öffentliche Investitionen, auch der Länder, notwendig. Aber es sind
auch sehr viel mehr private Investitionen erforderlich. Es
ist nicht von Vorteil, dass die deutsche Wirtschaft ihre
Anstrengungen im Bereich Forschung und Entwicklung drosselt, dass das Wachstum in diesem Bereich im
vergangenen Jahr nur noch 1,7 Prozent betragen hat und
dass es in diesem Jahr noch weiter sinken soll.
({12})
Es ist nicht damit getan, immer nur Erwartungen gegenüber der Politik zu äußern. Sie haben sich daran gewöhnt, alle Schuld und Verantwortung bei Rot-Grün meistens bei der rot-grünen Bundesregierung - zu suchen.
Schauen Sie sich einmal in den Bereichen um, in denen
Sie Verantwortung tragen! Fragen Sie doch in den Unternehmen und in der Kreditwirtschaft, was dort geschieht!
Fragen Sie in der Pharmaindustrie, warum wir trotz der
hohen Arzneimittelpreise in der Forschung nicht so gut
sind, wie wir sein könnten! Es gehört mehr dazu, als nur
immer mit dem Finger auf andere zu zeigen.
({13})
Es ist notwendig, die Kräfte zu mobilisieren und über
Qualifikation zu reden. Wir müssen in der Tat über Bildung und Wissenschaft wie auch über die Ausbildung
und Qualifikation der Bürgerinnen und Bürger reden.
({14})
Der Kollege Stoiber hat beklagt, dass junge Leute ins
Ausland gehen. In welcher Welt leben wir eigentlich?
Ich finde das, ehrlich gesagt, nicht dramatisch. Ich habe
selber eine Tochter an die USA verloren. Aber ich habe
noch nicht einmal ideologische Einwände dagegen erhoben.
({15})
Das kann doch kein Problem darstellen. Wir wollen
schließlich nicht wieder zu den alten Formen des Zusammenlebens zurückkehren.
Ich freue mich sehr, dass seit der Einführung der Juniorprofessuren in Deutschland der Ausländeranteil, der
früher 5 Prozent betragen hat, auf 15 Prozent gestiegen
ist.
({16})
Wichtig ist, dass wir einen Austausch zustande bringen
und dass wir dafür sorgen, dass ein bisschen Luft in das
System kommt. Darauf, dass ab und zu jemand ins Ausland geht, können wir doch stolz sein. Wenn deutsche
Akademiker beispielsweise in den USA gesucht werden,
kann unser Bildungssystem so schlecht nicht sein. Der
amerikanische Vorteil besteht darin, dass die Amerikaner
Experten aus Asien und Europa die Türen öffnen. Das
müssen Sie beim Zuwanderungsrecht auch machen. Genau darum geht es.
({17})
Es geht auch um die Ausbildungsplätze. Bei diesem
Thema kann ich nicht lockerlassen. Ich bin dem Bundeskanzler sehr dankbar dafür, dass und wie er es zur Sprache gebracht hat. Ich gehe davon aus, dass vor allem von
außen - das wird aus den ersten Reaktionen deutlich;
zwar nicht in jedem Fall, aber bei den meisten hat man
es zwischen den Zeilen lesen können - verstanden worden ist, dass diese Regierungserklärung das Signal zu
den entscheidenden Veränderungen in Deutschland bedeutet, dass wir eine neue Weichenstellung vornehmen
müssen und dass alle aufgefordert sind, daran mitzuwirken.
Wenn das der Fall ist - wir werden die Gespräche
fortsetzen, mit den Gewerkschaften und Arbeitnehmern
wie mit der unternehmerischen Seite, mit Wissenschaftlern und allen, die Mitverantwortung tragen, und zwar
auf allen Ebenen -, erwarte ich auch, dass die Unternehmen der deutschen Wirtschaft Maßnahmen ergreifen, damit wir diese Ausbildungskalamität überwinden. Wir
werden vonseiten der Bundesregierung die notwendigen
Schritte einleiten, soweit wir das können. Aber wir wis2540
sen auch, dass das nicht allein aus unserer Kraft möglich
ist, sondern dass wir dazu die Mitwirkung der Unternehmen brauchen und die Bereitschaft aller, darauf zu drängen.
Wir brauchen übrigens auch - weil wir so oft über den
Mittelstand sprechen - die Mitwirkung der Kreditwirtschaft.
({18})
Die Kreditwirtschaft muss sich langsam, aber sicher in
Form bringen. Ich meine das nicht zurückblickend mit
irgendwelchen Vorwürfen verbunden, aber es ist tatsächlich vor allem ein Manko der heutigen Mittelstandspolitik, dass die Kreditwirtschaft bzw. die Banken nur bedingt bewegungsfähig sind, wenn es um Kredite und
Eigenkapitalbildung in kleinen und mittleren Unternehmen geht. Das - vor allem die Eigenkapitalbildung - ist
eines der Hauptthemen, mit denen wir uns beschäftigen
müssen.
Ich gehe davon aus, dass es ausgehend von dieser Regierungserklärung in Deutschland zu einer gemeinsamen
Kraftanstrengung kommt, der sich keine Seite entziehen
kann. Das Reformfenster ist jetzt geöffnet worden und
wir haben keine Zeit zu verlieren. Deshalb bin ich sehr
froh, dass auch der Kollege Müntefering deutlich gemacht hat, dass die wichtigsten Reformen im Arbeitsmarkt, im Gesundheitsbereich und in allen Sektoren, die
heute eine Rolle gespielt haben, bis zum Sommer hinsichtlich ihrer Strukturen feststehen müssen. Wir müssen
wissen, was wir wollen. Wir wissen das auch.
({19})
Wir müssen wissen, was wir gemeinsam erreichen wollen, und das dann so rasch wie irgend möglich in geltendes Recht umsetzen. Das erwarten die Bürgerinnen und
Bürger und die Unternehmen von uns.
Unser Programm für eine Erneuerung der sozialen
Marktwirtschaft - darum geht es unverändert - liegt
vor. Das ist das, was heute zur Diskussion steht und was
jetzt die Grundlage des Handelns in Deutschland sein
muss. Das ist - um es klar zu sagen - keine „neue soziale
Marktwirtschaft“, von der Frau Kollegin Merkel einmal
gesprochen hat; denn diese richtet sich - diesen Eindruck gewinne ich, wenn ich Herrn Merz und anderen
zuhöre - offensichtlich in erster Linie gegen die Gewerkschaften. Das empfinde ich als unhistorisch. Manche Historiker in Ihren Reihen - nicht wenige, die aus
der Arbeiterbewegung kommen, sind historisch bewandert und haben sich damit sehr intensiv beschäftigt wissen ganz genau, dass das nicht gut gehen kann.
Uns geht es darum, die soziale Marktwirtschaft in ihrer Substanz zu erhalten, sie nicht aufs Spiel zu setzen.
Deshalb wollen wir sie nicht durch eine neue ersetzen
lassen. Uns geht es darum, eine europäisch orientierte
soziale Marktwirtschaft zu begründen, die auch in diesem Jahrhundert ein tragfähiges Fundament für Wohlstand nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa
sein kann und - davon bin ich überzeugt - sein wird.
Schönen Dank.
({20})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man kann
zwar über alles sprechen, aber bitte nicht so lange!
({0})
Ich möchte deshalb nur wenige Minuten reden. Herr
Bundeswirtschafts- und -arbeitsminister Clement, Sie
haben gesagt, niemand komme an entscheidenden Themen und Fragestellungen der Zeit vorbei.
({1})
Das ist völlig richtig. Ich habe heute lange auf den Moment gewartet, in dem die Redner Ihrer Partei auf die
Themen eingehen müssen, die wir seit einem Jahrzehnt
ansprechen.
({2})
Sie haben ein historisches Gedächtnis eingefordert.
Können Sie sich denn noch erinnern, mit welchem Vokabular wir belegt worden sind, als wir über eine Änderung
des Kündigungsschutzes nachgedacht haben?
({3})
Darf ich Sie daran erinnern, wie wir beschimpft worden sind, als wir gesagt haben, dass man vom Flächentarif weg müsse und dass man betriebliche Bündnisse zulassen müsse? Als meine Fraktion ihre Position zum
Umbau der sozialen Sicherungssysteme bestimmt hat,
haben Sie sich in diesem Hause bei Vokabular und Lautstärke überschlagen.
({4})
Als wir gesagt haben, dass eine Gemeindefinanzreform notwendig sei, weil die Einnahmen der Gemeinden
angesichts der gegenwärtigen Situation nicht mehr in
erster Linie von der Gewerbesteuer abhängig sein dürften, sind wir der Vernachlässigung der kommunalen
Finanzkraft geziehen worden. Heute hat Ihr Bundeskanzler, wenn auch nur halbherzig, all das nennen müssen, was wir seit einem Jahrzehnt fordern.
({5})
Bedauerlicherweise ist er auf halbem Weg stecken geblieben.
Da Sie eine Antwort auf die Frage nach den Politikfeldern wollten, werde ich sie Ihnen geben. Sie haben
vorgeschlagen, das Arbeitslosengeld auf zwölf Monate,
bei über 55-Jährigen auf 18 Monate, zu begrenzen sowie
die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammenzulegen. Sie haben uns früher der sozialen Kälte geziehen
und uns als üble Neoliberale beschimpft. Wir sind trotzdem bereit, Ihnen die Hand zu reichen, weil es notwendig ist, zusammenzuarbeiten. Wir begrüßen Ihr Ankommen in der Wirklichkeit. Jetzt können wir darüber reden.
({6})
Sie haben des Weiteren angekündigt, dass im Rahmen
der Strukturreformen des Arbeitsmarktes auch der Kündigungsschutz zugunsten der Kleinbetriebe geändert
werden müsse. Ich habe heute zwei Regierungserklärungen gehört: In der Vorverlautbarung war die Rede von
einer Abfindungsregelung und einem Schwellenwert
von fünf, in der anderen von einem Schwellenwert von
20 und von Zeitverträgen. Erst wenn Sie einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen, wird die FDP-Fraktion
bereit sein, zu entscheiden, welchen Änderungen beim
Kündigungsschutz sie zustimmen wird. Mit Ihren heutigen Luftblasen können Sie jedenfalls von uns keine abschließende Antwort erwarten. Wenn Sie den Kündigungsschutz novellieren wollen, dann tun Sie es richtig!
({7})
Sie haben außerdem gesagt, wir bräuchten eine Flexibilisierung der Arbeitswelt und müssten betriebliche
Bündnisse für Arbeit zulassen. Aber solche Bündnisse
sind nicht von der Spitze der BDA und des DGB abzusegnen. Sie müssen nach unserer Meinung vielmehr zwischen den Beschäftigten und dem Eigentümer eines Unternehmens geschlossen werden.
({8})
Wir sind bereit, ein Gesetz zu novellieren, das vorsieht,
dass zwei Drittel der Belegschaft einem solchen Bündnis
zustimmen müssen. Aber wir werden keine Entscheidung treffen, solange Sie, Herr Bundeskanzler, auf halbem Weg stehen bleiben.
Herr Bundeskanzler, der Schaden in unserer Wirtschaft besteht darin - das betrifft sowohl die Arbeitgeberverbände als auch die Gewerkschaften -, dass beide
Seiten oft Tarifautonomie als Verwirklichung der
Machtinteressen ihrer Organisation sehen, nicht aber die
Beschäftigungswirksamkeit von Abschlüssen im Auge
haben. Wenn wir das nicht ändern, wird das nichts werden.
({9})
Dritter Sachverhalt: Der Umbau der sozialen Sicherungssysteme wird nur gelingen, wenn Sie deren Finanzierung aus der paritätischen Finanzierung und damit aus
dem Beschäftigungsverhältnis herausnehmen und neu
organisieren.
({10})
Tun Sie das nicht, dann werden Sie die Lohnnebenkosten nicht senken können. Sie werden keine Wettbewerbslandschaft bekommen. Sie werden es dann nicht
der Entscheidung der Menschen überlassen, wie hoch
und bei wem sie sich versichern wollen.
Das ist ein Schritt, der nicht reicht. Ich sage Ihnen
heute voraus, dass Sie in wenigen Jahren, in welcher
Verantwortung Sie auch immer stehen mögen,
({11})
ob als einfacher Abgeordneter Schröder oder in dieser
Funktion, zugeben müssen, dass Sie damals falsch gelegen haben. Entschließen Sie sich jetzt zu einem wirklichen Schritt! Wenn Sie das tun, dann stimmen wir, die
Freien Demokraten, einem solchen Gesetzentwurf gerne
zu,
({12})
aber nicht auf halbem Wege, nicht mit einer Modernisierungsrhetorik, nicht nur mit Reden und ohne Taten.
({13})
Wir sehen gern Ihren Gesetzesvorlagen entgegen. Bei
Arbeitslosengeld, bei Arbeitslosenhilfe und bei Sozialhilfe: positiv. Was die betrieblichen Bündnisse betrifft,
sofern Sie sich am Ende durchringen, den Flächentarif
wirklich wegzunehmen: positiv. Bleiben Sie auf halbem
Wege stecken, werden wir das ablehnen. Wir reichen bei
4,7 Millionen Arbeitslosen nicht die Hand zu weiteren
Halbherzigkeiten.
({14})
Wenn Sie keine Courage haben, die sozialen Sicherungssysteme umzubauen, müssen Sie sich andere suchen, die Ihnen im Bundesrat helfen. Wir tun das nicht.
Entweder wird jetzt umgebaut oder Sie können mit unserer Stimme nicht rechnen. Ein weiteres Vertrösten und
Verschiebebahnhöfe finden nicht statt.
({15})
Im Übrigen - die „FAZ“ hat es vor wenigen Tagen
kommentiert - : Die Rürup-Kommission kann doch nach
dem, was Sie hier erklärt haben, einpacken. Die braucht
doch gar nicht mehr weiter zu arbeiten. Wenn Sie hier erklären, es bleibe bei der paritätischen Finanzierung, dann
brauchen Sie die Leute nicht mehr zu beschäftigen, damit sie sich die Köpfe zerbrechen.
Was soll denn die Gemeindefinanzreformkommission, wenn Sie heute sagen, die Gewerbesteuer werde
revitalisiert? Dann können die doch die Arbeit einstellen.
Die ist doch gerade einberufen worden, um zu einem
neuen System zu kommen.
({16})
Das wird nichts werden. Deshalb regen wir an, in den
Feldern noch einmal nachzudenken.
Herr Kollege Gerhardt!
Herr Präsident, damit höre ich auch schon auf. Das
Nötigste ist gesagt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Die Spielregeln sind manchmal grausam. Nun hat mit
einer ähnlich kurzen Redezeit die Kollegin Dr. Thea
Dückert für das Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Gerhardt, das ist ja gerade das Problem. Sie haben seit
Jahrzehnten Probleme benannt, aber nichts getan. Deswegen ist der Berg so groß, an den wir herangehen müssen.
({0})
Der Kanzler hat heute ein Programm mit dem Titel
vorgelegt: „Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung“. Ich denke, was er uns heute vorgestellt hat, ist vor
allen Dingen durch den Mut zur Wahrheit gekennzeichnet gewesen, durch den Mut, ein Gesamtkonzept vorzulegen, das nicht nur Annehmlichkeiten enthält. Es hat
deshalb nicht nur Annehmlichkeiten, weil wir es mit
vielfältigen Problemen zu tun haben, für die es nicht nur
eine einzige Lösung gibt, sondern für deren Lösung es
eines Gesamtkonzeptes bedarf.
Wir haben einen riesenhaften Schuldenstand. Der ist
ein richtiges Korsett. Vor dem Hintergrund dieses riesenhaften Schuldenstands können wir die notwendigen
Strukturreformen nur dann machen, wenn wir zukünftig und langfristig das Prinzip der nachhaltigen Finanzpolitik durchhalten. Das ist das Schwierige vor dem
Hintergrund der mit 4,7 Millionen viel zu hohen Zahl
der registrierten Arbeitslosen, der großen Zahl der Dauerarbeitslosen und des Problems der demographischen
Entwicklung, die unsere Sozialversicherungssysteme an
die Grenze führt. In diesem Zusammenhang braucht es
in der Tat Mut zur Veränderung.
Nachdem ich mir angehört hatte, was die Opposition
heute präsentiert hat, war ich doch ziemlich irritiert. Ich
habe gestern in der Zeitung gelesen, dass Herr Stoiber - man
könnte von einem „Reformen stoppen“ sprechen - ganz
schnell das Akutprogramm, ein Reformprojekt, vorgestellt
hat. Davon war die Union überrascht, weil vieles in diesem
Programm mit den Parteikollegen offenbar gar nicht abgestimmt ist. Mich hat allerdings irritiert, dass Sie angesichts
unserer großen Verantwortung, gerade in Bezug auf die Zukunft, hier nicht den Mut gehabt haben, ein Gesamtkonzept
vorzulegen; vielmehr haben Sie wiederum nur mit kleinkarierter Kritik an Details Ihre Konzepte dargelegt.
({1})
Das, was Frau Merkel hier vorgetragen hat, war eher
ein „wehendes Vakuum“, wie es Lichtenberg einmal beschrieben hat, und nicht einmal heiße Luft.
({2})
Bei Herrn Stoiber - er hat gestern immerhin das „Akutprogramm“ vorgestellt - war ich erst einmal gespannt,
dann aber auch enttäuscht.
({3})
Wir haben wieder die alte Leier mit dem Hinweis auf
Deutschlands Position als Schlusslicht gehört. Wenn
Herr Stoiber häufiger in diesem Parlament wäre, dann
hätte er vielleicht mitbekommen, dass es seit Anfang der
90er-Jahre eine Schlusslichtdebatte gibt. Seit 1992 rangiert Deutschland zwischen den Plätzen 15 und 13. Das
hat etwas mit den Lasten der deutschen Einheit zu tun.
Außerdem hat Herr Stoiber über die große Anzahl
von Insolvenzen in diesem Land gesprochen. Dabei hat
er mit dem Zeigefinger auf die Regierung gezeigt. Herr
Stoiber - er sitzt vielleicht schon im Flugzeug nach
München -, wir alle wissen, dass es die größte Anzahl an
Insolvenzen zurzeit im Großraum München gibt. Warum?
({4})
- Nicht wegen Stoiber. ({5})
Das ist so, weil die „Spekulationsblase“ geplatzt ist. Nur:
Was für München gilt, das gilt auch für die Bundesrepublik insgesamt.
Darüber hinaus habe ich etwas ganz besonders Interessantes gehört: Die OECD wurde sozusagen als Kronzeugin gegen die rot-grüne Regierung und deren Untätigkeit angeführt. Es wurde nämlich darauf hingewiesen,
dass etwa 70 Prozent der Wachstumsprobleme, die wir
im Moment haben - Stoiber hat sogar von 85 Prozent
gesprochen -, strukturelle Probleme seien. Dazu kann
ich nur sagen: Das ist richtig. Aber was heißt das denn?
Das beweist doch ein weiteres Mal, dass wir es in dieser
schwierigen konjunkturellen Situation zugleich mit
strukturellen Problemen zu tun haben, die wir aus der
Vergangenheit übernommen haben. Man hat es in den
90er-Jahren verschlafen, die notwendigen Strukturreformen der sozialen Sicherungssysteme durchzuführen.
({6})
Wenn man sich einmal anschaut, was Sie konkret vorschlagen, dann ist die Verwirrung komplett. Vor dem
Hintergrund der Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt müssen wir natürlich auch über den Kündigungsschutz reDr. Thea Dückert
den. Wir müssen ihn erhalten, aber flexibel gestalten.
Das ist vom Kanzler vorgeschlagen worden.
Was macht Herr Stoiber? - Er will ihn für Betriebe mit
bis zu 20 Beschäftigten abschaffen. Was macht Frau
Merkel? - Sie redet zwar über Kündigungsschutz für Betriebe mit weniger als 20 Beschäftigten, legt sich aber
nicht genau fest. Nach Stoibers Konzept dürfte es dort keinen Kündigungsschutz geben. Ich kann nur fragen: Was
wollen Sie denn nun?
Stoiber schlägt vor, die Zahlung von Arbeitslosengeld
auf zwölf Monate zu beschränken. Das Programm, das
sich Frau Merkel vorstellt, sieht mehr Flexibilität vor. Es
war nicht ganz nachzuvollziehen, was sie meinte. Auf alle
Fälle passen die beiden Konzepte nicht zusammen. Wenn
Sie über vernünftige und notwendige Veränderungen am
Arbeitsmarkt diskutieren wollen, dann einigen Sie sich
zunächst einmal auf ein gemeinsames Projekt.
({7})
Das einzige gemeinsame Projekt, das Sie zurzeit haben, ist die Blockadepolitik im Bundesrat.
({8})
Das haben sie auch heute wieder vorgeführt. Das ist
genau das Problem. Herr Stoiber hat heute gesagt,
Schulden seien die Zinsen von morgen und das finde er
nicht gut. Insofern hat er dazugelernt, denn früher hat er
im Bundestag etwas anderes gesagt. Aber Sie benennen
zwar einzelne Reformschritte, über die man diskutieren
kann, reden jedoch gleichzeitig weiterhin neuen Schulden das Wort. Sie machen keine Politik, die Strukturreformen mit einer verantwortlichen, nachhaltigen Finanzpolitik verbindet. Deswegen können Sie das, was Sie
einklagen, nämlich Vertrauen in zukünftige Investitionen
zu schaffen, nicht erreichen.
Wenn wir Vertrauen in zukünftige Investitionen herstellen wollen, funktioniert das nur auf Basis einer Politik, bei der die Bevölkerung nicht fürchten muss, dass
wir übermorgen wieder einen riesigen Schuldenberg mit
Zinsen abbezahlen müssen. Wir können Zukunftsinvestitionen nur möglich machen, wenn gleichzeitig eine solide Finanzpolitik sichergestellt ist.
Da sind Sie, meine Damen und Herren von der Union,
bei allem Reformeifer in einzelnen Bereichen die Antwort schuldig geblieben. Das ist in Bezug auf die jetzige
Situation nicht verantwortungsvoll.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss. - Meine Damen und Herren, wir müssen auf dem Arbeitsmarkt große Schritte
gehen. Ich bin froh und begrüße es, dass der Bundeskanzler angekündigt hat, dass wir auch beim Kündigungsschutz Schritte gehen wollen. Ich bin froh, dass
hier noch einmal ganz deutlich gesagt worden ist, dass
die Veränderungen am Arbeitsmarkt aber nicht dazu führen dürfen, dass zum Beispiel Modellprojekte für jugendliche Arbeitslose gecancelt werden.
({0})
Ich bin froh und unterstütze mit aller Entschiedenheit,
dass wir in der rot-grünen Koalition zwei Zielmarken haben: erstens mit allem, was uns dafür zu Gebote steht,
die Beschäftigungsschwelle von 2 Prozent zu senken
und zweitens die Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent
zu senken. Denn nur dann, wenn wir die Lohnnebenkosten nachhaltig senken, können wir in kleinen Betrieben
zusätzliche Beschäftigung möglich machen und mehr
und entschiedener gegen Schwarzarbeit vorgehen.
Last not least: Ich habe mich letztendlich nicht gewundert, dass diejenigen, die immer sagen, der Arbeitsmarkt müsse entrümpelt, es müsse entbürokratisiert werden, nun wiederum diejenigen sind, die den Zunftzopf
des Meisterwesens, den wir aus dem vergangenen Jahrhundert übernommen haben, weiter pflegen wollen. Wir
wollen ihn frisieren.
Frau Kollegin, ich muss Sie nun wirklich bitten.
Wir wollen damit die Übernahme von Betrieben erleichtern.
Ich danke Ihnen, Herr Präsident.
({0})
Ich bitte sehr um Nachsicht. Es ist eine undankbare
Aufgabe, die Redezeiten, die vorher vereinbart worden
sind, auch nur einigermaßen durchzusetzen.
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Frau Dr. Gesine
Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Der Titel der Regierungserklärung lautet: „Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung“. Nun hat die Friedensfrage im Laufe der Debatte
immer weniger eine Rolle gespielt. Das finde ich schade;
denn gerade in dieser Frage hat sich gezeigt, dass es sich
lohnt, dass Menschen aktiv werden und Protest einlegen,
dass Protest Erfolg zeitigen kann.
Der britische Premierminister Tony Blair ist aufgrund
dieses Protestes auf dem Rückzug. Er konnte eine gewisse Zeit gegen sein Volk Politik machen; jetzt ahnt er
wohl, dass seine eigene Partei und sein eigenes Volk ihm
Grenzen setzen. Sein Starrsinn kann ihn die Macht kosten.
Meine Damen und Herren, es ist gut, dass die Allianz
der Krieger zerbröselt. Selbst in den USA wird die
Opposition gegen den Krieg stärker. Auch Präsident
Bush will wiedergewählt werden. Deshalb muss auch er
auf diese Opposition hören.
Die Friedenspolitik der Bundesregierung hat die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung. Wir als PDS
unterstützen diesen Kurs.
({0})
Es ist richtig, sich jetzt auf die Verhinderung eines Krieges zu konzentrieren. Wenn es jedoch trotz aller Proteste
zu einem Krieg gegen den Irak kommen sollte, dann
muss die Bundesregierung neu überlegen, der US-Regierung die Überflugsrechte entziehen und dafür sorgen,
dass Deutschland nicht als Militärbasis für einen Angriffskrieg benutzt wird.
Herr Bundeskanzler, Sie versuchen, Ihre positiven Erfahrungen in der Außenpolitik auf die Innenpolitik zu
übertragen. Doch hier scheitern Sie. Der Frieden ist ein
hohes Gut, ein Wert an sich, für den viele Bürgerinnen
und Bürger sogar bereit sind, Opfer zu bringen. Doch
Ihre Aufforderung an die Menschen, Mut zur Veränderung zu haben, ist aus zwei Gründen unsinnig: Viele
Menschen haben den Mut zur Veränderung bereits bewiesen. In Ostdeutschland hat fast jeder zweite Berufstätige nach der Wende seinen Beruf gewechselt oder seine
Arbeit ganz verloren. Arbeitslose haben sich teilweise
mit dem Mut der Verzweiflung ohne Eigenkapital in riskante Existenzgründungen gestürzt, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Viele Menschen haben mehr Mut
bewiesen als so mancher hoch dotierte Vorstandschef in
der so genannten freien Wirtschaft oder Politiker in dieser Regierung. Das Problem ist jedoch, dass die Menschen unentwegt durch die herrschende Politik entmutigt
werden.
Die Aufforderung, Mut zur Veränderung zu zeigen, ist
auch deshalb unsinnig, da Veränderung kein Wert an sich
ist. Ihr Problem, Herr Bundeskanzler, ist: Sie haben
keine Botschaft. Sie haben keine Botschaft für die Bürgerinnen und Bürger, für die diese auch bereit wären,
Opfer zu bringen. Sie wollten in der letzten Legislaturperiode die Zahl der Arbeitslosen halbieren. Dieses Ziel
war sehr ambitioniert und auch wenn Sie es verfehlt haben: Es war wenigstens ein Ziel. Die Bürger haben
Nachsicht bewiesen und Sie wiedergewählt, doch Sie haben die Schlussfolgerung gezogen, lieber gar keine Ziele
mehr zu bestimmen. Damit haben Sie Ihre Wähler demotiviert und sie sind bei den Wahlen in Hessen und Niedersachsen zu Hause geblieben.
Herr Bundeskanzler, Sie haben einen Wählerauftrag
und den müssen Sie erfüllen. Sie wollten die kohlsche
Umverteilung von unten nach oben beenden, doch Sie
haben das Gegenteil gemacht. Sie haben die Reichen
noch reicher und die Armen noch ärmer gemacht. Der
Witz ist, dass die von Ihnen Begünstigten es Ihnen noch
nicht einmal danken. Nehmen wir zum Beispiel die gigantischen Steuersenkungen für die Kapitalgesellschaften. Wo sind die positiven Effekte? Wo sind die
neuen Arbeitsplätze? Ihre Steuerreform hat nur einen Effekt: Sie treibt die Kommunen in den Ruin. Allein meine
Heimatstadt Berlin verliert durch diese Steuerreform
Einnahmen in Höhe von 500 Millionen Euro pro Jahr.
Was haben die Wirtschaftsverbände nicht schon alles
versprochen: Schon Kohl hatten sie 500 000 neue Arbeitsplätze für die Lockerung des Kündigungsschutzes
zugesagt. Wo aber sind diese Arbeitsplätze? Nein, das
sind alles ungedeckte Wechsel.
Sie müssen alle in die Pflicht nehmen, auch die Unternehmen. Ich denke zum Beispiel an die dramatische
Ausbildungssituation. Im Februar wurden den Arbeitsämtern bis zu 20 Prozent weniger Lehrstellen gegenüber
dem Vorjahresmonat gemeldet. Die Unternehmer fordern die Regierung auf, aktiv zu werden und mehr überbetriebliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Doch diese
Ausbildungsplätze sind steuerfinanziert und die gleichen
Leute fordern die Regierung auf, die Steuern zu senken.
Das ist zutiefst verlogen, das kann nicht der richtige Weg
sein.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1980 darauf verwiesen, dass es eine „Verantwortung der Arbeitgeber für ein ausreichendes Angebot an betrieblichen
Ausbildungsplätzen“ gibt, und mahnte eine gesetzliche
Regelung an. Wir als PDS fordern eine gesetzlich geregelte Ausbildungsumlage. Wer nicht ausbildet, muss
zahlen. Diese Ausbildungsumlage hatte sich übrigens
Rot-Grün bereits 1998 in die Koalitionsvereinbarung geschrieben, aber bis heute nicht erfüllt.
({1})
- Als Drohung am Horizont, Kollege Benneter, so ist es
auch heute wieder aufgemacht worden. Aber da diese
Drohung bereits seit vier Jahren nicht umgesetzt worden
ist, muss sich die Wirtschaft vor ihr wahrscheinlich nicht
besonders fürchten.
({2})
Es gehört kein Mut dazu, die Schwächsten in der Gesellschaft unter Druck zu setzen. Ich finde, Sie sollten
endlich den Mut haben, sich mit den Mächtigen in dieser
Gesellschaft auseinander zu setzen. Ich darf Sie in diesem Zusammenhang an ein weiteres Wahlversprechen
von 1998 erinnern. Sie versprachen die Einführung der
Vermögensteuer. Diese würde - das haben wir hier
schon mehrmals besprochen - 10 Milliarden Euro im
Jahr einbringen. Damit könnte man schon ein ordentliches kommunales Investitionsprogramm ohne Kredite
finanzieren und Arbeitsplätze schaffen.
In Berlin wurden im Februar 317 678 Arbeitslose registriert, in Brandenburg 271 738, in Mecklenburg-Vorpommern 201 508 und in Sachsen 445 474. Das ist der
höchste Arbeitslosenstand seit 1945. Und wie reagieren
Sie auf diese Situation? Was macht zum Beispiel der
Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Gerster, in dieser dramatischen Situation? Er gießt Öl ins Feuer und
zertrümmert den zweiten Arbeitsmarkt. In Ostdeutschland wurden in einem Jahr die AB-Maßnahmen um
18,3 Prozent und die berufliche Weiterbildung um
15,6 Prozent reduziert. Das ist für strukturschwache Regionen nicht nur im Osten, sondern auch im Westen ein
Desaster.
Der Bundeskanzler hat heute Morgen in seiner Regierungserklärung verkündet, die alten Strukturen würden
erst dann weggeschnitten, wenn die neuen aufgebaut
sind. Ich muss leider sagen, dass er in diesem Punkt von
seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über die Situation nicht informiert worden zu sein scheint. Denn die
Maßnahmen sind dramatisch beschnitten worden, ohne
dass es neue Strukturen gibt.
Die Bundesanstalt für Arbeit - wenn man Zeitungsberichten und entsprechenden Gesprächen glauben kann,
meinen dies auch die ostdeutschen SPD-Abgeordneten braucht dringend einen Zuschuss aus dem Bundeshaushalt. Herr Gerster hat sich verrechnet, als er glaubte, die
Bundesanstalt könne ohne diese Bundeszuschüsse auskommen. Nächste Woche haben wir in den Haushaltsberatungen die Gelegenheit, den Haushalt entsprechend zu
korrigieren und die Finanzierung einer Übergangsregelung für 2003 zu beschließen.
Herr Bundeskanzler, Ihre Rede war nicht der lange
angekündigte Befreiungsschlag und auch nicht die Ankündigung von schlüssigen Reformen. Sie haben uns einen Maßnahmehaufen vor die Füße geworfen, der unser
Land allerdings nicht weiterbringen wird.
Vielen Dank.
({3})
Da der Kollege Stiegler ebenso überraschender- wie
freundlicherweise auf die Inanspruchnahme der verbliebenen Redezeit verzichtet hat,
({0})
sind wir am Ende der Aussprache, die bezogen auf den
Schluss eine große Zustimmung bei allen Fraktionen gefunden hat.
({1})
- Zurufe, mit denen auf dem Redebeitrag bestanden
wird, bleiben folgenlos, weil sie nicht geschäftsordnungswirksam sind.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/605.
({2})
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? ({3})
Wer stimmt gegen den Antrag? ({4})
Möchte sich jemand der Stimme enthalten? - Dann ist
dieser Antrag mit den Stimmen der Koalition und der
Fraktion der CDU/CSU abgelehnt.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 18. März 2003, 11 Uhr, ein.
Ich wünsche allen ein hoffentlich einigermaßen ungetrübtes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.