Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/13/2003

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich bitte Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben. ({0}) Gestern Nachmittag erreichte uns die schreckliche Nachricht, dass der serbische Ministerpräsident Zoran Djindjic vor dem Parlamentsgebäude in Belgrad auf offener Straße erschossen worden ist. Wir sind fassungslos und entsetzt. Der feige Mord hat uns einen Freund und Mitstreiter für Europa genommen. Schlimmer noch: Er droht Serbien auf seinem Weg zu Demokratie und Modernisierung zurückzuwerfen. Wir müssen alles dafür tun, dies zu verhindern. Erst vor wenigen Wochen hat das jugoslawische Parlament der neuen Staatenunion Serbien und Montenegro zugestimmt. Auch damit schien ein neuer Zeitabschnitt nach dem Bürgerkrieg und der schwierigen Nachkriegszeit zu beginnen. Zoran Djindjic hatte maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung. Das Attentat zeigt uns, wie verletzlich die Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben in diesem Teil Europas noch immer sind. Der Deutsche Bundestag spricht dem Parlament von Serbien und Montenegro sein Beileid und seine Solidarität aus. Unser tiefes Mitgefühl gehört der Witwe und den Kindern des Ermordeten. - Ich danke Ihnen. Nun zu unserer heutigen Tagesordnung - ich beginne mit einigen Mitteilungen -: Die Kollegen Manfred Carstens und Gerd Höfer feierten am 23. Februar sowie der Kollege Alfred Hartenbach am 5. März jeweils ihren 60. Geburtstag. Ich gratuliere nachträglich im Namen des Hauses sehr herzlich. ({1}) Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen möchte bei zwei ihrer Mitglieder in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates einen Tausch vornehmen. Die Kollegin Marianne Tritz, die bisher stellvertretendes Mitglied war, soll ordentliches Mitglied werden, und die Kollegin Claudia Roth, die bisher ordentliches Mitglied war, soll nunmehr stellvertretendes Mitglied werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die Kolleginnen Marianne Tritz als ordentliches Mitglied und Claudia Roth als stellvertretendes Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gewählt. Interfraktionell ist die Reihenfolge der verbundenen Tagesordnung dieser Woche wie folgt vereinbart worden: Nach Tagesordnungspunkt 6 kommen Tagesordnungspunkt 15 - Ladenschlussgesetz -, Tagesordnungspunkt 7 Menschenrechtspolitik -, Tagesordnungspunkt 8 - Umsatzsteuergesetz -, Tagesordnungspunkt 9 - Kleinunternehmerförderungsgesetz -, Tagesordnungspunkt 14 Postdienstleistungen -, Zusatzpunkte 5 bis 7 - GATSVerhandlungen -, Tagesordnungspunkt 12 - EURATOMKreditlinie - und Tagesordnungspunkt 11 - WTO-Verhandlungen. Die Beratungen zu Tagesordnungspunkt 10 ehrenamtliche Richter -, Tagesordnungspunkt 16 - Potsdam-Center - und Tagesordnungspunkt 17 - Änderung des Strafgesetzbuches - sollen ohne Debatte erfolgen. Der einzige Tagesordnungspunkt am Freitag wird die Regierungserklärung mit anschließender Aussprache sein. Außerdem ist vereinbart worden, die Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste vorliegenden Punkte zu erweitern: 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Dr. Claudia Winterstein, Jürgen Türk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Das neue Gesicht Europas - Kernelemente einer europäischen Verfassung - Drucksache 15/577 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({3}) a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Melde- rechtsrahmengesetzes - Drucksache 15/536 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Präsident Wolfgang Thierse b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Siegfried Kauder ({4}), Dr. Norbert Röttgen, Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Privatsphäre - Drucksache 15/533 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({5}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann Gröhe, Rainer Eppelmann, Holger Haibach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Für Menschenrechte weltweit eintreten - die internationalen Menschenrechtsschutzinstrumentarien stärken - Drucksache 15/535 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke, Birgit Homburger, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Wettbewerbsbedingungen bei Vertrieb von Postdienstleistungen schaffen - Drucksache 15/579 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck ({8}), Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: GATS-Verhandlungen - Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern - Drucksachen 15/224, 15/506 Berichterstattung: Abgeordnete Ulrike Flach Ulla Burchardt Thomas Rachel Ursula Sowa 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: GATS-Verhandlungen - Transparenz und Flexibilität sichern - Drucksache 15/576 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: GATS-Verhandlungen - Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern - Drucksache 15/580 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: EURATOM-Vertrag nicht aufweichen - Keine einseitigen Eingriffe in die Finanzierung - Drucksache 15/578 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H. Carstensen ({11}), Albert Deß, Gerda Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: WTO-Verhandlungen - Europäisches Landwirtschaftsmodell absichern - Drucksache 15/534 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({12}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Wider- spruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern ({13}) - Drucksachen 15/420, 15/522 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({14}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO b) Beratung der Unterrichtung durch die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen Bericht über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 14/9883 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({15}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Max Stadler, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern ({16}) - Drucksache 15/538 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({17}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Hans-Michael Goldmann, Dirk Präsident Wolfgang Thierse Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Arbeitserlaubnis für ausländische Saisonarbeitskräfte auf sechs Monate ausweiten - Drucksache 15/368 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({18}) Innenausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminister Otto Schily das Wort.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Nach den Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen hat die Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Frau Merkel, die gewachsene Verantwortung - ({0}) - Ich kann noch nicht einmal den ersten Satz zu Ende bringen, da reden Sie schon dazwischen, Herr Glos! Wenigstens einen halben Satz sollten Sie zur Kenntnis nehmen. ({1}) Frau Merkel hat also die gewachsene Verantwortung der unionsregierten Länder im Bundesrat herausgestellt und betont, die Union werde mit dem Votum der Wählerinnen und Wähler achtsam und sorgsam umgehen. Wörtlich haben Sie von einer verantwortungsvollen Politik gesprochen, die von der Union zu erwarten sei. Auch aus den unionsregierten Ländern war Entsprechendes zu hören. Ministerpräsident Koch hat in diesem Zusammenhang gesagt, er wolle Kontrolle ausüben statt Blockade betreiben. Ministerpräsident Stoiber hat konstruktive Verbesserungsvorschläge zu den Gesetzesvorlagen der Bundesregierung angekündigt. Alles dies schien auf eine konstruktive Haltung der CDU/CSU-Opposition schließen zu lassen, die dem Thema auch angemessen ist. Denn bei allem politischen Streit um die richtigen Konzepte dürfen wir eines nicht aus den Augen verlieren: Die Neugestaltung der Zuwanderung ist eine Forderung im besonderen, herausgehobenen Interesse unseres Landes und von hoher Bedeutung für den inneren Frieden und die Zukunft unseres Landes. ({2}) Nun haben wir aber im Bundesrat, der sich im Rahmen einer Stellungnahme zunächst mit dem Regierungsentwurf zu befassen hatte, gerade erfahren müssen, dass es nicht weit her ist mit der angeblich verantwortungsvollen Politik. Denn das, was wir dort erleben mussten, war doch genau das Gegenteil dessen, was von Ihnen angekündigt worden ist. Von Bayern wurde beispielsweise im Wirtschaftsausschuss des Bundesrates ein Antrag vorgelegt, in dem in aller Bräsigkeit verlangt wurde, den Gesetzentwurf insgesamt abzulehnen. Auch wenn der Antrag dort keine Mehrheit gefunden hat, ist doch zu fragen, was damit bezweckt werden sollte. ({3}) Das kann doch wohl keine verantwortungsvolle Politik gewesen sein. Im Innenausschuss des Bundesrates hat die Bayerische Staatsregierung Änderungsanträge in einem Umfang von rund 150 Seiten vorgelegt. Garniert wurde das Ganze mit plumpen „Grün raus, Schwarz rein“-Forderungen meines Kollegen Günther Beckstein. Wenn nun kein einziger - das ist zu beachten - dieser verschärfenden Änderungsanträge in die Stellungnahme des Bundesrates aufgenommen wurde - beachten Sie das bitte! -, so ist dies leider nicht auf Ihre bessere Einsicht zurückzuführen, sondern allein auf die FDP - da will ich die Leistung der FDP anerkennen; ein Teil der Opposition in Gestalt der FDP nimmt ihre Verantwortung wahr -, die das verhindert hat. Hätten die unionsregierten Länder diese Anträge zur Abstimmung kommen lassen, so hätten sie eine deutliche Abstimmungsniederlage erlitten. Das wissen Sie doch. Deshalb haben Sie diese erst gar nicht zur Abstimmung gestellt. Anstatt dies nun zum Anlass zu nehmen, sich an dem Gesetzgebungsverfahren wieder sachorientiert zu beteiligen, hat der Kollege Bosbach gleich am 15. Februar dieses Jahres gegenüber der Nachrichtenagentur ddp angekündigt, seine Fraktion werde sämtliche Änderungsanträge des Bundesrates in die parlamentarischen Beratungen des Bundestags wieder einbringen. ({4}) Sieht man sich diese Änderungsanträge genauer an, so ist festzustellen, dass es sich nahezu ausnahmslos um Anträge handelt, die bereits Gegenstand der Beratungen im vorausgegangenen Gesetzgebungsverfahren waren. ({5}) Unter diesen Anträgen befinden sich auch solche, die seinerzeit nicht einmal im Plenum des Bundesrates eine Mehrheit gefunden hatten, sowie solche, die im Laufe des früheren Gesetzgebungsverfahrens bereits in den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf eingearbeitet worden sind. Herr Bosbach, mit dieser Flut von Änderungsanträgen wird ein Änderungsbedarf suggeriert, der in Wirklichkeit überhaupt nicht besteht. ({6}) Sie zeigen sich entrüstet darüber, dass wir den Gesetzentwurf inhaltlich unverändert erneut eingebracht haben, und versuchen den Anschein zu erwecken, als ob sich die Bundesregierung überhaupt nicht bewegt habe, erwähnen aber nicht, dass wir der Union bereits in vielen Punkten weit entgegengekommen sind. ({7}) - Zu weit sind wir nicht entgegengekommen. Das stimmt nun wieder nicht, Rüdiger Veit. ({8}) Der aktuelle Gesetzentwurf ist aber bereits ein Kompromiss - auch mit Rüdiger Veit; denn wir haben schon im ersten Gesetzgebungsverfahren zahlreiche Änderungen vorgenommen, mit denen wir - ich wiederhole - den Vorstellungen der Opposition weit entgegengekommen sind. Von der Bayerischen Staatsregierung ist jedoch noch eine Reihe neuer Änderungsanträge formuliert worden, die das Staatsangehörigkeitsrecht betreffen und darauf abzielen, die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts aus dem Jahre 1999, die europaweit als historischer Schritt gelobt und anerkannt wird, rückgängig zu machen. Das werden wir nicht mitmachen. ({9}) Diese Haltung hat mit dem Zuwanderungsgesetz wahrhaft nichts zu tun. Die Diskussion über das Staatsbürgerschaftsrecht ist im Jahr 1999 geführt und abgeschlossen und dann ist - ich betone - mit breiter Mehrheit entschieden worden. Jetzt versuchen Sie, die Verhandlungsmasse - taktisch ist das vielleicht günstig - zu vergrößern, um die Konsensfindung zu erschweren oder gar unmöglich zu machen. ({10}) Das kann ja wohl keine verantwortungsvolle Politik sein. Man kann sich angesichts dessen des Eindrucks kaum erwehren, dass zumindest ein Teil der Union zwar nach außen hin von Verantwortung spricht, in Wirklichkeit aber Blockade meint. ({11}) In dieses Bild passen auch die Überlegungen, die der bayerische Innenminister Beckstein am 6. Februar dieses Jahres gegenüber der „Rheinischen Post“ geäußert hat. Er hat dabei angekündigt, dass CDU und CSU ihr bisheriges Kompromissangebot aus den gescheiterten Verhandlungen vor einem Jahr zurückziehen werden. Die Bundesregierung und die rot-grüne Koalition müssten der Union weiter entgegenkommen, als es noch im vergangenen Jahr erwartet worden sei. Das heißt doch im Klartext nichts anderes als Sie wollen partout keinen Kompromiss. Das ist die Realität. ({12}) Ich habe bereits im Bundesrat dargelegt, dass wir im Streit um das Zuwanderungsgesetz nur dann einen Kompromiss erreichen können, wenn sich in diesem Kompromiss alle politischen Kräfte, die hier vertreten sind, wiederfinden können. In diesem Kompromiss müssen also auch die Position der Grünen und die Position der FDP ausreichend Berücksichtigung finden. Sie glauben doch wohl nicht, dass wir hier nur ein irgendwie „schwarz angemaltes“ Gesetz zustande bringen können. Das kann nicht gehen. ({13}) Glauben Sie mir: Auf eine Taktik, die jenseits von Sachargumenten versucht, die Koalitionspartner gegeneinander auszuspielen, ({14}) werden wir nicht hereinfallen. Ich frage Sie daher, was die Union anstrebt: verantwortungsvolle Politik oder Blockade? Sie müssen sich zwischen diesen beiden Alternativen entscheiden. Es hat ohnehin den Anschein, dass Sie von der Union sich über das, was Sie eigentlich wollen, gar nicht so recht einig sind, weil Sie sich nicht mit der Sache auseinander setzen, sondern nur krampfhaft Vorwände für Ihre Verweigerungshaltung suchen. Auch daher widersprechen Sie sich ständig gegenseitig. Ich kann dafür einige Beispiele nennen. Ministerpräsident Stoiber hat in einem „Stern“-Interview vom 20. Februar 2003 geäußert, dass er nur eine kleine Lösung mit einem Kompromiss über praktische Verbesserungen bei der Integration, beim Nachzugsalter von Kindern und beim wissenschaftlichen Austausch für möglich hält. Eine umfassende Regelung komme erst dann in Betracht, wenn die Union wieder Regierungsverantwortung trage. Da können Sie lange warten! ({15}) Für Ministerpräsident Müller hingegen, so war am 24. Februar 2003 in der „Welt“ zu lesen, ist schwer vorstellbar - hören Sie bitte zu! -, dass es Teilkompromisse, etwa über das Nachzugsalter oder über die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt, gebe und die übrigen Bereiche ungeregelt im Streit verblieben. ({16}) Stoiber also auf der einen Seite, Müller auf der anderen. Demgegenüber hat Herr Bosbach nach einer Pressemeldung der „Stuttgarter Zeitung“ vom 28. Februar 2003 angekündigt, dass die Union einen eigenen Entwurf für ein Integrationsgesetz vorlegen werde, falls die Regierung dies nicht tun werde, da sie die Differenzen in der Zuwanderungsfrage nicht für überwindbar halte. Also ist auch er nur für eine kleine Lösung. Dazu hatte Ministerpräsident Müller in der „Welt“ bereits festgestellt: Auch eine von der Zuwanderung losgelöste Einigung über ein eigenständiges Integrationsgesetz sei nicht die beste Lösung; Zuwanderung und Integration gehörten zusammen. Dem kann ich nur zustimmen. Wir sind doch einvernehmlich der Meinung, dass die Zuwanderung nach Deutschland derzeit weitgehend ungesteuert verläuft und dass wir eine qualitative Änderung benötigen. Ohne Neugestaltung des Zuwanderungsrechts bliebe es beim gegenwärtigen Rechtszustand und in bestimmten Bereichen bei einer Zuwanderung, die wir in dieser Form und Qualität nicht wollen. Würden wir tatsächlich nur ein Integrationsgesetz verabschieden, hätte dies zur Folge, dass letztlich auch diejenigen an den mit hohem finanziellen Aufwand getragenen Integrationsmaßnahmen partizipieren würden, deren Zuzug nach Deutschland wir eigentlich unterbinden wollen. Ohne Umsteuerung bliebe es außerdem bei dem unvermittelten Zuzug in die Sozialsysteme, der doch gerade von Ihnen ständig beklagt wird. Sie beklagen einen Zustand, wollen ihn aber nicht verändern. Das ist die Realität, meine Damen und Herren. ({17}) Darauf hat dankenswerterweise auch die Frau Kollegin Werwigk-Hertneck hingewiesen. Sie hat in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, dass die Union mindestens eine erhebliche Mitverantwortung für den gegenwärtigen Rechtszustand habe. Wollen wir diese negative Entwicklung künftig vermeiden, so müssen wir den Zuzug nach Deutschland qualitativ verändern und zugleich die Zuwanderer umgehend in unsere Gesellschaft integrieren. Deshalb ist der so oft wiederholte Satz richtig: Zuwanderung und Integration sind zwei Seiten einer Medaille. Wir müssen das eine tun und dürfen das andere nicht lassen. ({18}) Beides ist erforderlich: Es bedarf sowohl einer Neugestaltung des Zuwanderungsrechts als auch des Aufbaus einer umfassenden Integrationsförderung. Dass der Bedarf nach einer grundlegenden Modernisierung des Zuwanderungsrechts besteht, darüber dürfte nicht nur unter den Fachleuten uneingeschränkte Einigkeit bestehen. Das gilt aber auch für die wesentlichen Inhalte einer modernisierten Zuwanderungskonzeption, wie die eingehende Diskussion der vergangenen zwei Jahre bewiesen hat. Dies bestätigen in gleicher Weise die Ergebnisse der Süssmuth-Kommission und der MüllerKommission, die von den Parteien vorgelegten Konzepte und die zahlreichen Äußerungen von der Wirtschaft über die Gewerkschaften bis hin zu den Kirchen. Auch Ministerpräsident Müller - um ihn noch einmal zu zitieren - hat im „Focus“ vom 13. Januar dieses Jahres erneut betont, dass wir dringend eine Reform der Zuwanderung brauchen. Er hat warnend hinzugefügt: „Eine Strategie, die Kompromisse ausschließt, ist verantwortungslos.“ ({19}) In dem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung vorgelegt hat, sind - ich will das noch einmal wiederholen die Vorstellungen der Union bereits in einem großen Umfang berücksichtigt. Die Unterschiede in den strittigen Punkten sind daher bei weitem nicht so groß, wie sie manchmal dargestellt werden. Ich will das an einigen Punkten illustrieren, die von Ihnen, von der Union, mit steter Regelmäßigkeit aufgegriffen werden. Es wird permanent behauptet, dass in § 1 zwar die Begrifflichkeit der Zuwanderung enthalten sei, diese aber nicht im gesamten Gesetzentwurf konsequent durchgehalten werde. Das gelte vor allem für die Zuwanderung zum Arbeitsmarkt. Wir haben in dem Gesetzentwurf den Zugang für ausländische Arbeitskräfte in systematischer und nicht nur in quantitativer Hinsicht völlig neu gestaltet, weg von einem sehr komplizierten Verfahren, das uns behindert, hin zu einer marktwirtschaftlichen Systematik, die strikt am Bedarf orientiert ist; das betone ich. Hierzu war es erforderlich, den so genannten Anwerbestopp in Teilen aufzuheben. Zu behaupten, dass damit eine Gefährdung des hiesigen Arbeitsmarktes verbunden sei, ist schlicht unwahr um nicht eine härtere Formulierung zu verwenden. ({20}) An dieser Stelle will ich einen Satz von Frau Rita Süssmuth zitieren. Sie hat gesagt, sie habe in ihrem ganzen politischen Leben noch nie ein so hohes Maß an Desinformation erlebt, wie es von Ihnen, der Unionsfraktion, über das Zuwanderungsgesetz verbreitet werde. ({21}) Das schreiben Sie sich einmal hinter die Ohren! ({22}) Erstens ist der so genannte Anwerbestopp bereits im geltenden Recht durch zahlreiche Ausnahmen aufgeweicht. Ich empfehle einen Blick in die Anwerbestoppausnahmeverordnung. Das neue System befreit lediglich davon, diese Verordnung permanent zu ändern, wenn sich am Arbeitsmarkt veränderte Mangellagen herausbilden. Zweitens haben wir den Anwerbestopp für nicht oder nur gering Qualifizierte bewusst aufrechterhalten. Das ist ein Bereich, dem ein großer Teil unserer inländischen Arbeitslosen zuzuordnen ist, sodass entsprechende Arbeitsplätze grundsätzlich aus dem vorhandenen Arbeitskräftepotenzial besetzt werden können. Drittens ist sichergestellt, dass Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt nur dann - und nur dann - stattfinden kann, wenn alle vorhandenen Möglichkeiten ausgenutzt worden sind, die zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze mit denjenigen zu besetzen, die in Deutschland ohne Arbeit sind. Ich glaube, Sie haben das inzwischen auch eingesehen; denn Sie haben die Aufrechterhaltung des Anwerbestopps in Ihrer Göttinger Erklärung vom 11. Januar 2003 nicht mehr erwähnt, sondern formuliert - ich zitiere -: Zuwanderung kann es nur für Fachkräfte geben, die am deutschen Arbeitsmarkt nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen. Das ist der Inhalt unseres Gesetzes. ({23}) Wir haben das, was Sie formulieren, bereits in unser Gesetz geschrieben. Nun führen Sie dagegen immer wieder an, dass die uneingeschränkte Geltung des Vorrangprinzips nicht zutreffen, weil es beim Punktesystem auf ein konkretes Arbeitsplatzangebot gar nicht ankomme. Das stimmt, weil es sich bei dieser Variante um ein angebotsorientiertes Verfahren handelt, das allerdings nur in Kraft treten kann, wenn Bundesrat und Bundestag zustimmen. Ich muss Sie aber erinnern: Sie haben das selbst gewollt. Vielleicht ist Ihnen das gar nicht mehr in Erinnerung, aber im Beschluss des Bundesausschusses der CDU Deutschlands, Ihrem so genannten kleinen Parteitag, vom 7. Juni 2001, der auf der Grundlage der Ergebnisse der Müller-Kommission gefasst wurde, heißt es: Der vorhandene Bedarf an Fachkräften wird unter Beachtung des Vorrangs von Ausbildung und Qualifikation jährlich festgestellt. Dadurch entfällt die Notwendigkeit einer Subsidiaritätsprüfung im konkreten Einzelfall. Das ist doch das Punktesystem, das Sie hier beschreiben. ({24}) Das ist nichts anderes als die Festsetzung einer jährlichen Höchstzahl. Ich zitiere weiter: Die Auswahl der betreffenden Personen erfolgt sodann auf der Basis eines Punktesystems, - Sie haben gerade protestiert, es sei kein Punktesystem; hier steht es aber das nach Alter, Schulausbildung, Beruf, Sprachkenntnissen, Berufserfahrung … differenziert. Das entspricht auch unserem Punktesystem, das wir im Gesetz festgelegt haben. ({25}) Auch andere Einwände, die Sie erheben, sind weit hergeholt und dienen nur dazu, das Gesetzgebungsverfahren zu verhindern. - Ich blicke auf die Uhr und sehe, dass ich nicht alle Punkte ansprechen kann. ({26}) - So ist es. Wenn Sie mir noch mehr Redezeit geben wollen, können Sie das gern tun. Sie können diese Zeit dann von Ihrer Redezeit abziehen. ({27}) Wir stehen jetzt vor der Wahl, ob wir es bei dem gegenwärtigen Rechtszustand belassen oder nicht. Das ist die eigentliche Frage. Sie müssen wissen, was Sie tun und was Sie lassen. ({28}) Bei allem Streit um das richtige Zuwanderungsgesetz sollten wir uns immer die Fragen stellen: Was passiert, wenn wir keinen Konsens erreichen? ({29}) Ist der Kompromissvorschlag, den wir hier vorlegen, nicht doch sehr viel besser als der gegenwärtige Rechtszustand? Ohne Konsens bliebe alles beim Alten. Ich will Ihnen sagen, was das hieße: keine Steuerung und Qualifizierung der Zuwanderung - das ist der gegenwärtige Rechtszustand -, keine Begrenzungsmechanismen, keine Berücksichtigung unserer eigenen wirtschaftlichen Interessen, unverminderter Zuzug in die Sozialsysteme, keine Straffung und Beschleunigung der Asylverfahren, keine Instrumente zur effektiven Durchsetzung der Ausreise gegenüber ausreisepflichtigen Personen, keine Vereinfachung und Entbürokratisierung des Ausländerrechtes, keine Bündelung der Behördenorganisation, keine Regelungen für Selbstständige in Deutschland, die Arbeitsplätze schaffen würden, keine Bleibemöglichkeiten für qualifizierte und in Deutschland bestens integrierte ausländische Studienabsolventen, keine Förderung des Wissenschaftstransfers und des Studienstandorts Deutschland, ungelöste Integrationsprobleme, ein Kindernachzugsalter von 16 Jahren usw. All das läge in Ihrer Verantwortung, wenn der Zustand, den Sie selber beklagen, so bliebe. Das müssten Sie dann vor den Wählerinnen und Wählern vertreten. ({30}) Ich biete Ihnen nach wie vor einen vernünftigen Kompromiss an. Nach meinen bisherigen Erfahrungen bin ich aber leider nicht sehr zuversichtlich, dass es uns in den Beratungen des Bundestages gelingt, einen Kompromiss zu finden. Aber vielleicht ist es Ihnen im stillen Kämmerlein des Vermittlungsausschusses möglich, Ihre Vorbehalte zu überwinden und die Vernunft wieder zu entdecken, die man in der Politik braucht. In dem Sinne bleibe ich ein Optimist. Vielen Dank. ({31})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute über die Wiederauflage eines Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur völligen Umgestaltung des geltenden Ausländerrechts mit dem Ziel, Deutschland zu einem klassischen, zu einem multikulturellen Einwanderungsland zu machen. Wir wollen keine multikulturelle Gesellschaft. Wir wollen nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr Integration. Wir wollen gerne der uns zugewachsenen größeren Verantwortung gerecht werden. Deshalb lehnen wir das Gesetz ab. ({0}) Deutschland ist kein klassisches Einwanderungsland. Wir können es aufgrund unserer historischen, geographischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten auch nicht werden. Dabei geht es nicht um die Frage: Zuwanderung ja oder nein? Diese Frage wäre einigermaßen albern. Wir hatten in der Vergangenheit Zuwanderung und wir haben sie zurzeit. Wir hatten nach dem Zweiten Weltkrieg Zuwanderung wie kein anderes Land auf dieser Erde. Wir werden sie auch in Zukunft aufgrund der EU-Freizügigkeit, der Möglichkeit des Familiennachzugs oder aus humanitären Gründen haben. Es geht darum, ob die mit diesem Gesetz geplante erhebliche Ausweitung der Zuwanderung nach Deutschland dem Interesse unseres Landes dient. Genau das ist nicht der Fall. ({1}) Wir haben keinen Mangel an Zuwanderung, sondern wir haben einen erkennbaren Mangel an Integration. Deshalb ist nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr Integration das Gebot der Stunde. ({2}) Bei der Zuwanderung gehen Sie zu weit und bei der Integration bei weitem nicht weit genug. ({3}) Die Regierung weiß genau, dass und warum die Union dieses Gesetz ablehnt. Wenn Sie es dennoch wortwörtlich wieder einbringen, dann ist das der schlagende Beweis dafür, dass es Ihnen im Gegensatz zu allen öffentlichen Erklärungen nicht um einen Kompromiss mit der Union, sondern um Konfrontation geht, ({4}) weil Sie offensichtlich darauf spekulieren, im Bundesrat die unionsgeführten Bundesländer auseinander dividieren zu können. ({5}) Dieses Bemühen wird ebenso scheitern wie der unappetitliche Versuch, mithilfe eines vorsätzlichen, eines wohlkalkulierten Verfassungsbruchs das Gesetz durch den Bundesrat zu peitschen. ({6}) Das ist auch gut so. ({7}) Dieses Gesetz würde die Zuwanderung nicht besser steuern, als es derzeit möglich ist. Es gibt nämlich überhaupt keine Beschränkung. Jeder, der nach geltendem Recht kommen kann, könnte auch nach dem neuen Recht kommen. Herr Schily hat von dieser Stelle aus kein einziges Beispiel dafür genannt, welche Gruppe zukünftig nicht mehr oder nicht in dem Umfang, wie es derzeit möglich ist, kommen kann. Er kann ein solches Beispiel auch nicht nennen, weil er weiß, dass das, was er gesagt hat, in weiten Teilen nicht das ist, was im Gesetz steht. Das lassen wir ihm nicht durchgehen. ({8}) Dieses Gesetz gibt Steuerungsinstrumente auf. Es wird die Steuerung nicht erleichtern, sondern erschweren. Das beliebteste Argument für das Gesetz - auch heute wieder vorgetragen - lautet: Alle gesellschaftlich relevanten Gruppen sind dafür: die Kirchen, die Arbeitgeber, der DGB und Frau Süssmuth. ({9}) Bei dieser Aufzählung fehlt allerdings eine gesellschaftlich relevante Gruppe, die für die Union eine große Bedeutung hat. Das ist die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. ({10}) 80 Prozent - ({11}) - Herr Schily, wäre ich in punkto Zwischenrufe - genauer gesagt: in punkto Pöbelei - nur halb so empfindlich, wie Sie zu Beginn Ihrer Rede waren, dann müsste ich hier schon längst explodiert sein. ({12}) Weil die Regierung genau weiß, welche Haltung die Bevölkerung hat ({13}) - über 80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht mehr Zuwanderung -, versucht sie, fälschlicherweise den Eindruck zu erwecken, als würde die Zuwanderung durch dieses Gesetz reduziert. ({14}) Nur ein Beispiel aus dem berüchtigten Desinformationsblatt der Bundesregierung: Weniger Zuwanderung Das Gesetz wird die Zahl der Zuwanderer deutlich verringern. Als Zuwanderer werden nur noch Menschen kommen, die in Deutschland eine Perspektive haben und Chancen als qualifizierte Arbeitskräfte geboten bekommen. Das ist die glatte Unwahrheit; das wissen Sie. ({15}) Immerhin hat die damalige Staatssekretärin des Innenministers, die Kollegin Sonntag-Wolgast, zugegeben, dass diese Aussage falsch ist; allerdings ist sie jetzt keine Staatssekretärin mehr. ({16}) - In der Sendung „Münchener Runde“ am 25. März 2002 haben Sie vor dem deutschen Fernsehpublikum gesagt, die Zuwanderung werde sich ausweiten, wenn auch nicht gravierend. Das ist das Gegenteil dessen, was in dieser Broschüre steht und wofür der deutsche Steuerzahler 2,6 Millionen Euro bezahlen musste. ({17}) Erneut soll die Bevölkerung über die gesellschaftlichen Folgen eines Gesetzes getäuscht werden - wie beim Staatsangehörigkeitsrecht auch. Sie haben es gerade selbst erwähnt. Herr Schily, Sie haben in der Debatte im Mai 1999 gesagt: Weil Sie das Thema Doppelpass angesprochen haben: Ich darf Sie bitten - das meine ich sehr ernst -, zur Kenntnis zu nehmen, dass es mir wahrlich nicht um die Herbeiführung möglichst vieler doppelter Staatsbürgerschaften geht. Das ist nicht unser Ziel. Ich bin sogar der Meinung, dass doppelte Staatsbürgerschaften vermieden werden sollten. Der Kollege Westerwelle - es tut mir Leid, Herr Westerwelle, dass ich dies hier ansprechen muss; Sie haben Jürgen Möllemann am Bein und das ist die politische Höchststrafe für jeden Liberalen ({18}) hat in derselben Debatte wortwörtlich gesagt: „Der Doppelpass ist vom Tisch.“ Von wegen vom Tisch! Ihr Gesetz zur Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts war ein Konjunkturprogramm für doppelte Staatsangehörigkeiten. Vor dem Gesetz wurden etwa 14 Prozent der Ausländer unter Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit eingebürgert. Jetzt sind es knapp 50 Prozent. Genau das Gegenteil dessen, was Herr Schily hier zu den Folgen des Gesetzes gesagt hat, ist in der Wirklichkeit eingetreten. ({19}) Dieselbe Masche wird jetzt bei der Zuwanderung ausprobiert. ({20}) In der Gesetzesbegründung - warum haben Sie diesen Schlüsselsatz hier nicht zitiert, warum steht er nicht in der Broschüre der Bundesregierung? - heißt es: Zu den öffentlichen Interessen gehört im Gegensatz zum geltenden Ausländergesetz nicht länger eine übergeordnete ausländerpolitische Grundentscheidung der Zuwanderungsbegrenzung oder der Anwerbestopp. Im Klartext: Im Gegensatz zum geltenden Recht soll die Begrenzung der Zuwanderung nach Deutschland kein politisches Ziel mehr sein. Sie darf also auch nicht bei Ermessensentscheidungen von der Verwaltung berücksichtigt werden. Außerdem wollen Sie den Anwerbestopp im Gegensatz zu dem, was Sie hier vor zehn Minuten gesagt haben, nicht teilweise, sondern generell aufheben, womit Sie den deutschen Arbeitsmarkt weit über das geltende Recht hinaus für ausländische Arbeitnehmer öffneten. ({21}) Ihre Begründung lautet, wir müssten uns am weltweiten Wettbewerb um die klügsten Köpfe beteiligen. ({22}) Natürlich müssen wir dies tun. Wir machten geradezu einen Fehler, wenn wir uns nicht auch international um Spitzenkräfte bemühten. Aber darum geht es nur in einer einzigen Vorschrift des Gesetzes. ({23}) - Diese Vorschrift ist im Grundsatz nicht umstritten. Die Behauptung, der deutsche Arbeitsmarkt sei für ausländische Arbeitnehmer faktisch verriegelt, ist angesichts der EU-Freizügigkeit sowie der Tatsache, dass wir im vorvergangenen Jahr 342 000 Arbeitserlaubnisse an ausländische Arbeitnehmer erteilt haben - 235 000 für Saisonbeschäftigung und 107 000 für Dauerarbeitsverhältnisse -, grober Unfug. Es gibt ein weiteres populäres Argument: Wir bemühen uns um die Anwerbung von Pflegekräften. Richtig. Das ist nach geltendem Recht aber ohne weiteres möglich. ({24}) Warum erwecken Sie dann den Eindruck, dass das nur mit dem neuen Recht möglich ist? Das beste Argument für unsere Haltung in dieser Frage ist die Erfahrung mit der Greencard-Initiative. Vor gut drei Jahren gab es hier ein gewaltiges Tamtam unter großer öffentlicher Anteilnahme. Es hieß, wir müssten weltweit IT-Spezialisten gewinnen. ({25}) Das Ergebnis war: An einem einzigen Tag wurde, je nach Form der Vertreter der Wirtschaft, ein Bedarf von 40 000, 50 000 oder 100 000 solcher Fachkräfte angemeldet. Die Verordnung sieht eine Beschränkung auf 20 000 vor. Nach mehr als zweieinhalb Jahren hat es lediglich 13 700 Zusicherungen gegeben ({26}) und es sind noch nicht einmal 11 000 gekommen. Und, Herr Tauss, Überraschung: Vier Bundesländer wenden diese Rechtsverordnung nicht an; sie haben landesrechtliche Regelungen auf der Basis des alten Rechts. 12 Bundesländer wenden die neue Bundes-IT-Verordnung an. Mehr IT-Spezialisten sind in die vier Bundesländer gegangen, die das alte Recht anwenden, als in die 12 Bundesländer, die das neue Recht anwenden. ({27}) Das ist ein klarer Beweis dafür, dass es mit dem geltenden Recht offensichtlich besser geht, international Spitzenkräfte anzuwerben, als mit der Bundes-IT-Verordnung. Sie wollen sicherlich wissen, welche Auswirkungen die Greencard-Verordnung auf dem deutschen Arbeitsmarkt hatte. Dazu zeige ich Ihnen anhand eines Diagramms einmal die Entwicklung der Zahl der inländischen arbeitslosen IT-Fachkräfte. Die Zahl hat sich in den letzten zweieinhalb Jahren fast verdreifacht. ({28}) Alles das, was Sie in punkto Greencard erzählt haben, ist nicht eingetreten. ({29})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Bosbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel? - Bitte.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. Herr Kollege Bosbach, Sie haben gerade angeführt, was alles nach geltendem Recht schon möglich ist. Unter anderem haben Sie angeführt, dass auch Pflegekräfte angeworben werden können, was Sie als richtig empfinden. Ist Ihnen nicht bekannt, dass diese Regelung eine Übergangsregelung ist, die bis zum In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes gelten sollte und die am 31. Dezember letzten Jahres ausgelaufen ist? Sind Sie mit mir der Ansicht, dass man eine Regelung braucht, um die notwendigen Pflegekräfte nach Deutschland anwerben zu können? ({0})

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kein Mensch sagt doch - das gilt im Übrigen, Herr Niebel, auch für Ihren Antrag betreffend Saisonarbeitskräfte -, ({0}) dass das geltende Recht optimal ist. Kein Mensch sagt, dass wir keine Korrekturen vornehmen müssen. ({1}) Das gilt beispielsweise in dem von Ihnen genannten Bereich oder auch beim Thema Saisonarbeitskräfte. Warum keine großzügigeren, flexibleren Regelungen? Dagegen spricht nichts. Wir wenden uns gegen die generelle Aufhebung des Anwerbestopps für Arbeitskräfte aus NichtEU-Ländern. ({2}) Das hat mit dem von Ihnen angesprochenen Thema nichts zu tun. ({3}) Wenn in Deutschland tatsächlich Fachkräfte fehlen, dann ist das eine Herausforderung für die Bildungspolitik, für die berufliche Qualifizierung, für den Hochschulstandort Deutschland und nicht eine Entwicklung, die mit mehr Zuwanderung beantwortet werden kann. Diese Probleme können wir nicht mit dem Ausländerrecht lösen, sondern nur mit einer besseren Bildung und Ausbildung unserer Kinder und der jungen Generation. ({4}) Der Anwerbestopp wurde 1973 von Willy Brandt - er war Sozialdemokrat - bei einer Arbeitslosenquote von 1,2 Prozent und einer Ausländerarbeitslosenquote von 0,8 Prozent erlassen. Jetzt will die gleiche SPD bei einer Arbeitslosenquote von 11 Prozent und einer Ausländerarbeitslosenquote von 21 Prozent diesen Anwerbestopp aufheben. Das ist nicht nur unverantwortlich, sondern paradox. Das werden wir nicht mitmachen. ({5}) Der Anteil der ausländischen Arbeitslosen ist doppelt so hoch wie ihr Anteil an der Bevölkerung. Der Anteil der ausländischen Sozialhilfeempfänger ist dreimal so hoch wie ihr Anteil an der Bevölkerung. Die Zahl der ausländischen Arbeitslosen hat sich in den letzten zehn Jahren glatt verdoppelt. Sie beträgt heute 580 000. Glaubt denn irgendjemand ernsthaft, dass wir diese Probleme mit der Aufhebung des Anwerbestopps oder mit mehr Zuwanderung lösen könnten? So werden wir die Probleme verschärfen und nicht lösen. ({6}) Solange wir auf dem Arbeitsmarkt eine derart dramatische Situation haben, in der selbst eine hervorragende Schulausbildung und eine hervorragende berufliche Ausbildung sowie Weiterbildung nicht vor Arbeitslosigkeit schützen, muss die Weiterqualifizierung und Vermittlung von inländischen Arbeitslosen Vorrang haben vor einer weiteren Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt. ({7}) Natürlich ist es für die Unternehmen ein Problem, wenn sie trotz Massenarbeitslosigkeit freie Stellen nicht besetzen können. Das ist aber eine Herausforderung für die Sozialpolitik, für die Arbeitsmarktpolitik. Es muss wieder gelten, dass derjenige, der den ganzen Monat hart gearbeitet hat, mehr in der Tasche hat als derjenige, der Sozialleistungen bezieht. Wir müssen die Anreize erhöhen, aus den sozialen Sicherungssystemen heraus- und in eine Beschäftigung hineinzugehen. ({8}) Das alles hat mit dem Thema „Ausländerrecht und Zuwanderung“ nichts zu tun. ({9}) Auch die demographischen Probleme in unserem Land werden wir nicht durch eine höhere Zuwanderung lösen. Es ist ja richtig: Wir haben eine im internationalen Vergleich sehr niedrige Geburtenrate. Wir ersetzen die Elterngeneration nur zu zwei Drittel. Möglicherweise unterschätzen wir die damit verbundenen Probleme mehr, als dass wir sie überschätzen. Aber das ist für uns, für die CDU/CSU, keine Herausforderung für die Ausländerpolitik. Vielmehr müssen wir wieder ein konsequent kinderfreundliches Land werden und eine bessere Familienpolitik machen. ({10}) Jetzt sage ich etwas, von dem ich weiß, dass manch einer den Kopf schütteln oder denken wird, das sei politisch nicht korrekt. Meine feste Überzeugung ist aber nun einmal: Mich würde es beim Thema Bevölkerungspolitik bzw. Familienpolitik freuen, wenn wir im Deutschen Bundestag mit der gleichen Leidenschaft, mit der wir über Ausländerpolitik sprechen, auch einmal darüber reden, wie wir in Deutschland ungeborenes Leben besser schützen können. Auch das wäre einmal eine Debatte wert. ({11}) Herr Schily hat vorhin die „Zuwanderung aus demographischen Gründen“ und in diesem Zusammenhang § 20 des Gesetzentwurfes angesprochen. Er hat gesagt, auch wir von der CDU/CSU würden ein Punktesystem vorsehen. Dabei haben Sie den wesentlichsten Unterschied unterschlagen. ({12}) Wir sehen zwei Säulen vor: die Zuwanderung von Höchstqualifizierten und die von Fachkräften aufgrund eines nationalen Arbeitsmarktbedürfnisses - und nicht, wie Sie es regeln wollen, aufgrund eines regionalen Arbeitsmarktbedürfnisses, das über 91 Arbeitsämter zu diagnostizieren ist - mithilfe eines Punktesystems. Sie sehen drei Gruppen vor: Höchstqualifizierte, übrige Arbeitnehmer und ein Punktesystem aus demographischen Gründen, von dem Sie selber sagen: Wir wollen diese Vorschrift in den nächsten Jahren gar nicht anwenden. Wenn das so ist, dann können wir § 20 ersatzlos streichen. Wenn Sie dennoch an dieser Vorschrift festhalten, dürfen Sie sich nicht wundern, wenn wir Ihnen Ihre politischen Absichten nicht glauben. ({13}) Es ist noch gar nicht lange her, da haben Sie, Herr Schily, in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ auf die Frage, ob man, da die Wirtschaft sage, sie brauche internationale Arbeitskräfte, Fachkräfte und Spitzenkräfte, nicht das geltende Recht ändern müsse, wortwörtlich gesagt: Wenn mir Siemens sagt, wir brauchen soundso viele, bin ich sofort bereit. Da brauchen wir kein Zuwanderungsgesetz, das geht schon mit dem geltenden Ausländergesetz. Heute behaupten Sie genau das Gegenteil. ({14}) Weil durch dieses Gesetz im Bereich der humanitären Zuwanderung die Ausweitung der Zuwanderung nach Deutschland vorprogrammiert wird, entsteht ein Gegensatz zu dem, was Sie selber einmal zur humanitären Zuwanderung gesagt haben, nämlich dass es in Deutschland keine Schutzlücken gibt. Das haben Sie über eine lange Zeit gesagt; Sie bestätigen es hier wieder. Wenn es aber keine Schutzlücken gibt, dann gibt es auch nicht die gesetzgeberische Notwendigkeit, solche zu schließen. Selbstverständlich müssen wir und wollen wir unseren humanitären Verpflichtungen nachkommen; das ist doch völlig unstrittig. Wenn das Leben und die Freiheit eines Flüchtlings konkret bedroht sind, dann genießt er in Deutschland Schutz. Das ist so und das wird auch in Zukunft so bleiben. Wir wollen aber nicht über die eindeutigen Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention hinausgehen. ({15}) Weil das, was Sie zur nicht staatlichen Verfolgung gesagt haben, zutrifft, können Sie nicht mit unserer Zustimmung rechnen. Ich zitiere den Innenminister in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“: „Wenn man aber generell auch nicht staatliche Verfolgung als Asylgrund anerkennen will, gäbe es praktisch keine Begrenzung mehr.“ Weil es genau so ist, Herr Schily, können Sie von uns nicht erwarten, dass wir diesem Gesetzentwurf zustimmen. ({16}) Außerdem ist es falsch, dass es im Grundsatz - von einer Ausnahme abgesehen - dabei bleiben soll, dass Asylbewerber nach bloßem Zeitablauf von drei Jahren nicht mehr nur die abgesenkten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, sondern die volle Sozialhilfe bekommen. Das wollen Sie in einem kleinen Teilbereich ändern, im Übrigen bleibt es bei dieser Regelung. Angesichts einer Anerkennungsquote von zurzeit unter 2 Prozent müssen wir jeden Anreiz nehmen, unter Berufung auf das Asylrecht, in Wahrheit aber aus asylfremden Gründen nach Deutschland zu kommen. Herr Schily, ändern Sie das, dann werden wir dem gerne zustimmen! ({17}) Wir müssen zurück zum alten Recht. Kein politischer Flüchtling, dessen Leib und Leben im Heimatland bedroht wird und der hier in Deutschland Schutz sucht, wird sich ernsthaft darüber beklagen, dass er nur für die Zeit des Anerkennungsverfahrens abgesenkte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und nicht die volle Sozialhilfe bekommt. Sie geben bereits nach drei Jahren die volle Sozialhilfe. Das ist ein kapitaler Fehler; denn wer als Asylbewerber anerkannt wird, unterliegt ohnehin nicht mehr den Regelungen des Asylbewerberleistungsgesetzes. ({18}) Es darf keine wirtschaftlichen Anreize geben, um unter Berufung auf das Asylrecht nach Deutschland zu kommen. Unser eigentliches Problem ist nicht das Asylrecht selber, sondern der vielfältige Missbrauch der Inanspruchnahme des Asylrechts. Das wollen wir ändern. Das wird aber mit Ihrem Gesetzentwurf nicht geändert. ({19}) Nun zu dem Kapitel Integration: Sie bleiben weit hinter dem zurück, was in punkto Integration notwendig wäre. ({20}) Ihr Verhalten ist getragen von dem Bemühen, Kosten vom Bund auf die Länder und Gemeinden abzuwälzen. Natürlich findet Integration immer im richtigen Leben, also vor Ort in den Städten und Gemeinden statt. Wenn der Bund Rechtsansprüche gewährt, muss er auch die Kosten tragen. Wir werden es nicht zulassen, dass die Kosten auf die Städte und Gemeinden abgewälzt werden, die dank Rot-Grün ohnehin auf dem letzten Loch pfeifen. Eine solche Politik machen wir nicht mit. Wir müssen mehr für die nachholende Integration tun. Wir brauchen wirksame Sanktionen für diejenigen, die sich rechtsgrundlos weigern, trotz Rechtspflicht an einem solchen Integrationskurs teilzunehmen. Wenn wir darauf verzichten, setzen wir das falsche Signal, nämlich dass uns Integration offensichtlich doch nicht so viel wert ist, wie ständig behauptet wird. ({21}) Tun Sie weniger für Zuwanderung und mehr für Integration! Dann haben Sie uns an Ihrer Seite. ({22}) Herr Schily, Sie haben uns aufgerufen, einem Kompromiss zuzustimmen, und haben gleichzeitig gesagt, Sie seien zu Änderungen an diesem Gesetzentwurf bereit, sofern die Substanz nicht geändert werde. Im Klartext heißt das: Änderungen ja, wenn sich nichts ändert. Dann können Sie doch nicht ernsthaft erwarten, dass wir diesem Gesetzentwurf zustimmen. Herr Kollege Beck, Sie haben in einem Interview gesagt: „Wir verkaufen unsere Seele nicht.“ Soll ich Ihnen etwas sagen? - Wir verkaufen unsere Seele auch nicht. ({23}) Wir werden keinem Gesetzentwurf zustimmen, der den Interessen des Landes nicht dient, weder heute noch morgen. Danke fürs Zuhören. ({24})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/ Die Grünen, das Wort. ({0})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Bosbach, ({0}) über die Frage des Abtreibungsverbots gerade in der Einwanderungsdebatte bevölkerungspolitisch zu diskutieren, das ist für mich nun wirklich völlig daneben. ({1}) Ich glaube, das sollten wir lassen. ({2}) Deutschland hat heute 82 Millionen Einwohner; ohne Zuwanderung, so das Institut für Bevölkerungsforschung, wären es gerade 55 Millionen. Diese Zahlen zeigen: Deutschland ist ein Einwanderungsland. ({3}) Es geht nicht um die Anerkennung oder Leugnung eines Tatbestandes, es geht um seine Gestaltung. Moderne, innovative Gesellschaften, die im internationalen Wettbewerb bestehen wollen, müssen atmen. Der Austausch mit dem Ausland durch Spracherwerb und Wissenstransfer, aber eben auch durch Zu- und Abwanderung ist für sie essenziell. Wer Abschottung betreibt, ist daher ein Innovationshemmnis und schädigt die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. ({4}) Bei dieser Diskussion geht es auch um Mythen und um Realität. Der Mythos ist der Anwerbestopp mit der Begründung: Wir brauchen keine Zuwanderung, wir Volker Beck ({5}) haben ja so viele Arbeitslose; deshalb ist das keine Frage, die man lösen muss. Die Realität ist die Anwerbestoppausnahmeverordnung. Wir haben IT-Fachleute angeworben und es sind weniger gekommen - das ist richtig -, als wir zugelassen haben. Offensichtlich ist der Druck, nach Deutschland zu kommen, gar nicht so groß und offensichtlich sind die Regelungen, die wir auf der Grundlage des bestehenden Rechts schaffen können, nicht hinreichend attraktiv im Wettbewerb um die High Potentials auf dem internationalen Arbeitsmarkt. ({6}) VDI-Präsident Christ hat vorgestern auf der CeBIT gesagt: Es gibt einen jährlichen Mangel von 20 000 Ingenieuren. Wir müssen versuchen, diesen Mangel durch eine bessere Bildungspolitik zu beheben. Aber das werden wir nicht allein mit dieser Maßnahme schaffen. Wir brauchen auch mehr Flexibilität im Zuwanderungsrecht. Bayern und Hessen - Herr Bosbach hat es angesprochen - werben trotz der jetzigen Situation auf dem Arbeitsmarkt Pflegepersonal für die häusliche Pflege an. Offensichtlich kommen sie an Ihrer eigenen Ideologie nicht vorbei und müssen letztendlich da, wo Sie regieren, die Realitäten auch anerkennen. Was soll dieser Popanz mit dem Anwerbestopp? Hier hat der Innenminister ja offensichtlich den absoluten Sündenfall begangen. Mir liegt ein Antrag aus den Ausschussberatungen im Saarland vor, in dem steht: Ersetzung des Anwerbestopps durch ein den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarkts gerecht werdendes Steuerungssystem bei striktem Vorrang der Vermittlung deutscher und bevorrechtigter ausländischer Arbeitssuchender. ({7}) Das ist genau das, was wir im Zuwanderungsgesetz formuliert haben. Das ist das, was Herr Müller will, und Sie machen hier so einen Zinnober! ({8}) Kommen Sie zur Sachlage zurück. Ein anderer Mythos: Wir bürden Flüchtlingen, denen in ihrer Heimat Steinigung oder andere unmenschliche Behandlung droht, auf, bei uns nur geduldet zu werden. Das heißt zu Deutsch: Ihre Abschiebung wird vorübergehend ausgesetzt. Monat für Monat Kettenduldung, oft über Jahre hinweg. Die Realität ist: Die Menschen bleiben über Jahre hier, aber wir geben ihnen keine Chance, hier ein neues Leben zu beginnen, eine Existenz zu gründen, für ihre Kinder eine Zukunft aufzubauen. Wir zwingen sie dazu, der öffentlichen Hand auf der Tasche zu liegen. Das ist einfach eine verrückte Politik. Mit dieser Art von Realitätsverweigerung macht das Zuwanderungsgesetz Schluss und deshalb brauchen wir es ganz dringend. ({9}) Wir steuern mit diesem Gesetz erstmals die Zuwanderung nach den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarktes und sorgen dafür, dass die Leute, die wir brauchen, auch zu uns kommen können und attraktive Rahmenbedingungen vorfinden. Für die Flüchtlinge, die auf Dauer hier bleiben, eröffnen wir die entsprechenden Perspektiven. Wer nicht von sich aus sieht, dass dies notwendig ist, sollte einmal im Bericht der Ausländerbeauftragten nachlesen. Ihr spreche ich im Namen meiner Fraktion, der Koalition und - ich glaube, ich kann das auch für Sie sagen - des gesamten Hauses für ihre engagierte Arbeit meinen herzlichen Dank aus. ({10}) Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, kommen Sie endlich aus der Schmollecke heraus. Geben Sie Ihre Verweigerungshaltung auf! Herr Stoiber hat in seinem „Stern“-Interview gesagt, er wolle überhaupt keine Einigung. Herr Bosbach hat schon im Dezember verkündet, er könne sich ein Gesetz, das von Schwarz-Rot und Rot-Grün gleichermaßen getragen werde, nicht vorstellen. Herr Beckstein hat heute über die Ticker verkünden lassen, keine Einigung sei auch kein Unglück. Die Union ist bei der Zuwanderungsfrage gesellschaftspolitisch und parteipolitisch völlig isoliert. Es gibt keine relevante gesellschaftliche Gruppe, keine andere Partei, die in dieser Frage an Ihrer Seite steht und die 137 Änderungsanträge aus dem Bundesrat unterstützt. Deshalb belassen Sie es bei diesen Anträgen bei einer Beratung, bringen Sie verhandlungsfähige Positionen ein und öffnen Sie sich für die Debatte! ({11}) Arbeitgeber und Gewerkschaften, Kirchen und Menschenrechtsorganisationen unterstützen den Kompromissentwurf, den die Bundesregierung heute erneut vorgelegt hat. Herr Reimers von der Evangelischen Kirche in Deutschland hat gestern gesagt - ich zitiere -: Das Zuwanderungsgesetz in seinem vorliegenden Entwurf darf aus Sicht der EKD nicht weiter abgeschwächt werden. Die Kirchen, so Reimers weiter, sähen daher keinen Anlass, ihre Position zu relativieren. Wenn das Gesetz verwässert werde, könne man gleich bei den bestehenden Regelungen bleiben. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren! Sie führen doch das „C“ in Ihrem Parteinamen. Deshalb sollten Sie in dieser Debatte ein wenig auf die Stimme der Kirchen hören. ({12}) Oder hören Sie sich an, was der BDI in seinem Papier „Innovationspolitik in der 15. Legislaturperiode“ zu diesem Thema sagt: Engpässe auf dem Arbeitsmarkt müssen auch durch Zuwanderung ausgeglichen werden können. Deutschland muss die Zuwanderung aus dem Ausland am Bedarf der eigenen Wirtschaft und Gesellschaft ausrichten. Das heißt, die Auswahl der Volker Beck ({13}) Zuwanderer muss bedarfsgerecht nach Qualifikation, Berufserfahrung, Alter, Familienstand und Integrationsfähigkeit erfolgen. ... Im globalen Wettbewerb um die besten Köpfe hat Deutschland nur eine Chance, wenn es für Zuwanderer attraktiv ist und sich ausländerfreundlich und integrationsbereit zeigt. Das liest sich doch wie die Begründung zu unserem Gesetzentwurf. Deshalb fordere ich Sie auf: Öffnen Sie sich in dieser Frage. Gehen Sie mit uns in die Beratungen und in die Verhandlungen. Lassen Sie uns eine sachliche Debatte führen und zum Wohle unseres Landes einen Kompromiss herbeiführen! Wir sind dazu bereit. Kompromisse bedeuten immer, dass jeder auf den anderen zugehen muss und bereit sein muss, in den Verhandlungen seine Position etwas zu ändern. Wir sind aber nicht dazu bereit, unsere Seele zu verkaufen; das hat Herr Bosbach richtig wiedergegeben. Das verlangt auch von Ihnen niemand. Wenn wir es im Innenausschuss schaffen würden, uns zu einer gemeinsamen Lektüre dieses Gesetzentwurfes zusammenzusetzen, dann würden wir, wie ich glaube, feststellen, dass die Differenzen nicht so groß sind, wie es in den Plenardebatten scheint. In Plenardebatten geht es nämlich meist um Ideologie und Mythen und nicht um die Realität und den Gesetzestext. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Justizministerin des Landes Baden-Württemberg, Frau Corinna Werwigk-Hertneck. ({0}) Corinna Werwigk-Hertneck, Ministerin ({1}): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die FDP legt heute einen alternativen Entwurf für ein modernes Zuwanderungssteuerungs- und Integrationsgesetz vor. Es ist wirklich ärgerlich, dass die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf unverändert eingebracht hat. Es ist aber auch wirklich ärgerlich, dass dieses Gesetz durch 137 Anträge der Union blockiert werden soll. ({2}) Wir haben einen Vermittlungsvorschlag auf der Basis des rot-grünen Regierungsentwurfes unter Einbeziehung vieler Punkte aus den 137 Änderungsanträgen der Union vorgelegt. ({3}) Kernpunkte des Gesetzentwurfes sind: mehr Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung, mehr Integration und weniger Verwaltungsbürokratie. Dem Ganzen liegt aber zugrunde, dass wir akzeptieren müssen, dass wir ein Einwanderungsland sind - sicherlich kein traditionelles, aber ein faktisches. Das muss die Botschaft sein. ({4}) Es gibt einen breiten Konsens aller gesellschaftlichen Gruppen, Wirtschaftsverbände, Kirchen und auch der Parteien darüber, dass wir ein solches Gesetz brauchen. Wir wollen es nicht abgespaltet wissen; denn Zuwanderungspolitik und Integrationspolitik sind zwei Seiten einer Medaille. Ich möchte den saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller zitieren, der in einem Interview der „Welt“ am 24. Februar und auch heute in einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt hat: „Zuwanderung und Integration gehören zusammen.“ ({5}) Meine Damen und Herren, ich will nur vier Beispiele dafür nennen, dass unser heutiges Ausländerrecht nicht ausreicht: Erstens. Bis heute gibt es keine gesetzliche Grundlage für umfassende, zwischen Bund, Ländern und Kommunen abgestimmte Integrationsmaßnahmen. ({6}) Zweitens. Die Regelungen für die Zuwanderung qualifizierter Kräfte sind unzureichend und unübersichtlich. Es reicht nicht, wenn man Insellösungen fabriziert oder Löcher in den Anwerbestopp bohrt. Dies hat zur Folge, dass vor allem Wirtschaftsflüchtlinge und die Ärmsten der Armen zu uns kommen, obwohl wir eigentlich wollen, dass andere Menschen zu uns kommen. Wir sollten sagen, was wir wollen. ({7}) Drittens. Wir schicken die ausländischen Absolventen unserer Fachhochschulen und Universitäten nach ihrer teuren Ausbildung wieder zurück. Andere Länder sind dankbar, dass sie die in Deutschland ausgebildeten klugen Köpfe bekommen können. ({8}) Viertens. Für humanitäre Härtefälle gibt es immer noch keine praktikable rechtliche Handhabe. Wir brauchen also ein flexibles und gut steuerbares System. Wir Liberalen - ob in den Landtagsfraktionen oder in der Bundestagsfraktion - wollen bei diesem wichtigen Thema vermitteln und die Konsensbildung fördern. Es bringt uns nicht weiter, wenn immer wieder die gleichen Argumente gebracht werden. In unserem Vermittlungsvorschlag ist dies eingearbeitet. Die Bevölkerung ist es leid, dass die Argumente jahrelang gegeneinander ausgetauscht wurden und es auch bei diesem Punkt, der eigentlich sehr nahe liegend ist, wieder keine Reformen gibt. ({9}) Ministerin Corinna Werwigk-Hertneck ({10}) Ich erinnere nur daran, dass - laut einer gestern veröffentlichten Forsa-Umfrage - 67 Prozent der Bevölkerung nicht mehr daran glauben, dass wir gute und wirksame Reformen hinbekommen. Es ist also ein Gebot, auch bei diesem Punkt zu zeigen, dass wir es doch schaffen. ({11}) Unser liberaler Vorstoß steuert auf jeden Fall die Zuwanderung von ausländischen Fachkräften, wobei Deutsche und Deutschen gleichgestellte Arbeitnehmer stets Vorrang genießen. Es ist Ihnen in der Union ja so wichtig, dass geklärt wird, wie bei der EU-Osterweiterung mit den Arbeitskräften umgegangen wird. Das muss natürlich berücksichtigt werden. Dies wollen wir mit einer Jahreszuwanderungsquote erreichen. Warum sagen wir nicht selbstbewusst, dass wir ein Einwanderungsland sind und dass wir im nächsten Jahr 100 000 Menschen und im übernächsten Jahr niemanden - oder zum Beispiel in fünf Jahren 200 000 Menschen zuwandern lassen wollen? Wir können das selbst bestimmen. Dabei soll angerechnet werden - so stellen wir es uns vor -, wer im Rahmen des Familiennachzugs und des Asylnachzugs zu uns kommt. Von daher handelt es sich bei der Quote um eine Höchstquote. Ich weiß gar nicht, was die Union noch dagegen haben kann. ({12}) Dies ist übrigens ein Weg, der in Österreich, Kanada und Australien beschritten wird. Herr Koschyk, ich habe gelesen, Sie hätten gesagt, dass diese Quote zu einer weiteren qualifikationsunabhängigen Zuwanderung führen würde. Ich glaube, Sie haben den Vorschlag entweder nicht gelesen oder zu wenig Vertrauen in die Union; denn die Quote wird - das ist ganz normal - mit Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates bestimmt. Sie muss jedes Mal ausdiskutiert werden. Darüber hinaus kann sie auch auf null gesetzt werden. ({13}) Als FDP bitten wir Sie deshalb, sich mit diesem Vorschlag ernsthaft auseinander zu setzen. Wir haben uns viel Mühe gegeben und ihn ausdiskutiert, um die verschiedensten Positionen einzuarbeiten. Wichtig ist auch der Integrationsteil. Wir schlagen die nachholende Integration vor. Dies ist im Entwurf enthalten. Für jeden von uns ist es Zeit, sich von inhaltlichen Maximalvorstellungen insgesamt zu verabschieden. Es ist wesentlich, dass wir einen Konsens finden. Ansonsten schaden wir den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in der Zukunft. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Cornelie Sonntag-Wolgast, die diese schon während der Rede des Kollegen Bosbach angemeldet hatte.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen, der gerade erwähnte Kollege Bosbach hat mir vorgeworfen, ({0}) ich hätte mich in einer Sendung anders geäußert, als dies in einem Flugblatt der Bundesregierung zum Ausdruck komme. Herr Kollege Bosbach, nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass jedes polemische Herauspicken aus dem Zusammenhang gerade in der Diskussion um dieses Gesetz von Übel ist. ({1}) Es ging mir in der Sendung seinerzeit um die Frage, wer nach einer zielgerichteten und wohlgeplanten migrationspolitischen Konzeption unter bestimmten Umständen, soweit Bedarf ist und niemand sonst aus der EU zur Verfügung steht, nach Deutschland kommen kann - wie das die Ministerin eben in ihrer Rede dargestellt hat und wie auch Sie es vorhin vorsichtig angedeutet haben. Das kann natürlich auch bedeuten, dass in mehreren Jahren eine größere Zahl von Zuwanderern nach Deutschland kommt, als es zurzeit möglich ist. Auf der anderen Seite - das muss man in diesem Zusammenhang sehen - dämmt das Gesetz ungeordnete Zuwanderung ein, zum Beispiel durch erhöhte Integrationsanforderungen an verschiedene Gruppen, sowohl Ausländer als auch Aussiedler. Zudem wird im Gesetz eine konsequentere Abschiebung derjenigen gefordert, die bei uns nicht bleiben können und deren Zurückweisung wir aufgrund rechtstaatlicher Prinzipien verantworten können. Nichts anderes sieht dieses Gesetz vor. Nichts anderes habe ich in all meinen Äußerungen, ob in Interviews oder Reden, zu diesem Gesetz gesagt. Noch eine ernsthafte Bitte, Herr Kollege Bosbach: Gezielte und bewusste Missdeutung eines Gesetzes, wie Sie es praktiziert haben und wie es Ihre ehemalige Kollegin mit Recht kritisiert, ist politisch unanständig. Davon sollten Sie ablassen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Bosbach, Sie haben Gelegenheit, darauf zu reagieren.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, ich habe Sie gerade nicht kritisiert, sondern ich habe Sie dafür gelobt, dass Sie in der Sendung „Münchner Runde“ am 25. März 2002 richtigerweise darauf hingewiesen haben, dass es eben nicht zu einer Reduzierung der Zuwanderung nach Deutschland kommen wird. Noch einmal: In dem Flugblatt, das so weit von der Wahrheit entfernt ist, dass es dem deutschen Steuerzahler nun wirklich nicht zumutbar ist, für diese Desinformation 2,6 Millionen Euro zahlen zu müssen, heißt es unter der Überschrift „Weniger Zuwanderung“: Das Gesetz wird die Zahl der Zuwanderer deutlich verringern. Als Zuwanderer werden nur noch Menschen kommen, die in Deutschland eine Perspektive haben und Chancen als qualifizierte Arbeitskräfte geboten bekommen. Kein Bürgerkriegsflüchtling, kein Asylbewerber, kein Kontingentflüchtling und kein De-facto-Flüchtling muss nachweisen, dass er ein Angebot für einen Arbeitsplatz hat. ({0}) Das alles ist Ihnen bekannt. Durch diese Passage wird der Bevölkerung der Eindruck vermittelt, als könne es überhaupt keine Zuwanderung mehr geben, wenn nicht ein Arbeitsplatz nachgewiesen und der Lebensunterhalt durch Erwerbseinkommen gesichert ist. Das steht in diesem Flugblatt. Dies aber ist falsch. Es ist gut, dass Sie in der „Münchner Runde“ nicht den Inhalt dieses Flugblattes wiedergegeben, sondern die Wahrheit gesagt haben. Ich wende mich dagegen, dass bei der Bevölkerung hinsichtlich der Folgen des Gesetzes ein völlig falscher Eindruck erweckt wird. ({1}) Nach dem geltenden Gesetz gibt es überhaupt keine Beschränkung. Die einzige Beschränkung, die jetzt vorgesehen ist, bezieht sich auf die Spracherfordernisse der mitreisenden ausländischen Familienangehörigen nach dem Bundesvertriebenengesetz. Ansonsten - dem haben Sie gerade nicht widersprochen - bleibt es bei dem, was ich hier gesagt habe: Jeder, der nach geltendem Recht nach Deutschland kommen kann, kann dies auch zukünftig tun. Darüber hinaus gibt es weitere Zuwanderungsmöglichkeiten. Sie sagen den Kirchen: Wir lassen aus humanitären Gründen mehr Zuwanderung zu. Sie sagen den Arbeitgebern: Wir sorgen dafür, dass mehr ausländische Arbeitskräfte angeworben werden können. Sie sagen der Bevölkerung: All dies führt zu weniger Zuwanderung. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Parlamentarischen Staatssekretärin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Marieluise Beck-Oberdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002624

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Debatte über Zuwanderung, die in der Bevölkerung sehr aufmerksam verfolgt wird und von der wir alle wissen, dass sie tief an den Emotionen der Menschen rührt, ist dann ganz schlecht, wenn sich Politik ständig bewusst missversteht. Ich kann nur noch einmal appellieren, uns zu bemühen, sachlich zu diskutieren, anstatt in dem hochsensiblen Bereich des bewussten Missverstehens zu agieren. ({0}) Herr Kollege Bosbach, inwiefern bringt uns eine Debatte über die Frage, ob Deutschland ein klassisches Einwanderungsland ist oder nicht, eigentlich weiter? Welche Folgen hat das für die Realität? Die Realität, mit der wir uns auseinander zu setzen haben, ist: Seit den 50er-Jahren hat es sehr viel Zuwanderung nach Deutschland gegeben. Es gab auch sehr viel Abwanderung. Deutschland ist nunmehr ein Land, in dem 7,3 Millionen Menschen leben, die keinen deutschen Pass besitzen. Das begründet eine politische Herausforderung und fordert politische Gestaltung. Eben darum geht es beim Zuwanderungsgesetz: ob wir uns endlich dazu durchringen, anzuerkennen, dass es Einwanderung gegeben hat und es sie auch weiter geben wird, und ob wir den politischen Gestaltungsaufwand, der mit der Einwanderung verbunden ist, wirklich annehmen. ({1}) Dazu gehört auch die Frage, ob wir Ausländer der zweiten oder dritten Generation, die in Deutschland geboren wurden und hier leben, weiterhin als Ausländer bezeichnen oder als unsere Bürgerinnen und Bürger, ob wir akzeptieren, dass sie zu uns gehören. Dazu gehört auch, dass wir uns damit auseinander setzen, dass sich das Gesicht einer Gesellschaft durch Einwanderung spürbar verändert, weil Gesellschaften durch Einwanderung pluralistischer werden. Jede sechste Ehe, die heute geschlossen wird, ist binational. Jeder dritte Schüler in den westdeutschen Großstädten hat einen Migrationshintergrund. Mehr Deutsche als Ausländer heiraten Ehepartner aus dem Ausland. In 30 Jahren wird jeder zweite Bürger unseres Landes einen Wanderungshintergrund haben, das heißt, zum Beispiel eine Großmutter oder einen Großvater, die aus anderen Ländern, aus anderen Kulturen oder anderen Religionen kommen. Das ist die eigentliche Herausforderung, vor der wir stehen. Darauf muss sich Politik einstellen. Das tut sie mit dem vorliegenden Gesetz. ({2}) Wir kennen die Zahlen über die gewaltige Schieflage zwischen Bildungserfolgen von Kindern aus Zuwandererfamilien und jenen von Kindern von deutschen Eltern. Werfen Sie einen Blick in den Bericht über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland! Für uns ist das nichts Neues. Aber sind Ausländerkinder deswegen verantwortlich für das schlechte deutsche Abschneiden bei der PISA-Studie? Müssen wir nicht vielmehr sagen: Unsere Schulen sind offensichtlich nicht so ausgestattet, dass sie nach 40 Jahren Zuwanderung gelernt haben, mit den sozialen Folgen von Migration positiv und vernünftig umzugehen? ({3}) - Von der Schuld der Lehrer war hier überhaupt nicht die Rede. Tatsache ist, Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sind Teil der Gesamtschülerschaft. Wir rechnen die Jungen schließlich auch nicht heraus; dann sähe das Ergebnis der PISA-Studie nämlich auch schon deutlich besser aus. Kinder und Jugendliche sind für uns diejenigen, die wir ausbilden und qualifizieren müssen. Schüler und Lehrer müssen in die Lage versetzt werden, mit diesen schwierigen Herausforderungen umzugehen. In unserer alternden Gesellschaft muss eines klar sein: In Zukunft brauchen wir jedes Kind und jeden Jugendlichen. Deswegen sollten wir uns das Leitmotiv dieser Debatte in Finnland zu Gemüte führen, welches lautet: Wir brauchen hier jeden, hoffnungslose Fälle können wir uns nicht leisten. ({4}) Auf diesen positiven Ausgangspunkt sollten wir uns verständigen. Mit der Zuwanderung kamen auch neue Religionen. 3 Millionen Bürger islamischer Herkunft sind nunmehr deutsche Realität. Wir wissen, dass es immer dann schwierig wird, wenn diese neue Religion sichtbar wird, sei es durch den Wunsch, in einer Gemeinde eine Moschee zu bauen, sei es durch das Tragen eines Kopftuches, sei es durch das in der Bevölkerung hoch umstrittene Schächten. Wir wissen, dass solche islamischen Symbole in der deutschen Bevölkerung oft mit der Vermutung verbunden sind, dass es sich um politischen Fundamentalismus handelt. Damit wird viel Porzellan zerschlagen. Viele Muslime fühlen sich in ihrem Glauben nicht akzeptiert. Daher müssen wir möglichst viele Zeichen setzen, um zu zeigen: Unsere Gesellschaft ist so tolerant, dass auch Menschen anderen Glaubens hier ihren Raum finden, und wir sind bereit, sie zu respektieren und ihnen die Türen zu öffnen. Erst dann werden auch diese Menschen bereit sein, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Ablehnung erzeugt Ablehnung und Rückzug. Das ist gefährlich für beide Seiten, nämlich sowohl für die Zuwanderer als auch für diejenigen, die bereits hier leben. Im Zusammenhang mit der Integration gibt es in der Tat Probleme. Es gibt Jugendkriminalität, eine Machismokultur und Gewaltbereitschaft - unter ausländischen Jugendlichen wie auch unter jugendlichen Aussiedlern, die nach dem Staatsbürgerschaftsrecht Deutsche sind. Wir werden diese Probleme aber nur lösen, wenn wir sie als unsere gemeinsamen Probleme begreifen, die wir mit den Zugewanderten zusammen angehen müssen. Es geht nicht um Ausgrenzung, sondern um Integration. Der Schlüssel dazu ist die deutsche Sprache. Darüber besteht gottlob Konsens. Das Zuwanderungsgesetz geht mit der Erstförderung einen ersten Schritt. Wir sollten diesen Schritt gemeinsam gehen. Es ist zwar richtig, zu fördern und zu fordern, aber - das sage ich an die Länder gewandt - wer fördern will, der darf sich auch nicht aus der Finanzierung stehlen. Es geht nicht an, die Aufgaben immer wieder hin- und herzuschieben, ohne dass schließlich Ergebnisse erzielt werden. Ich betone das im Hinblick auf die Vorschläge der unionsgeführten Länder, die für eine Integrationsbeauftragte in der Tat sehr erfreulich sind, weil der Umfang der Integrationsangebote deutlich erweitert werden soll. Wir sollten aber auch ehrlich über die dadurch entstehenden Kosten sprechen. ({5}) Gesellschaftliche Veränderungen müssen sich in Gesetzen widerspiegeln. Das Ausländerrecht ist veraltet und bürokratisch verworren; man hat dort zu oft „angebaut“. Lassen Sie uns den Weg zu der Erkenntnis, dass Einwanderung und Integrationspolitik zusammengehören wie zwei Seiten einer Medaille, den wir in den vergangenen zwei Jahren gegangen sind, fortsetzen und produktiv und verantwortungsvoll den Prozess der Gestaltung einleiten. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Hartmut Koschyk, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Beck, Sie haben zwar Ihre Argumente für den in unveränderter Form eingebrachten Entwurf eines rot-grünen Zuwanderungsgesetzes nicht so aggressiv und bissig wie der Bundesinnenminister, sondern wesentlich werbender, liebenswürdiger und charmanter vorgetragen, aber auch Sie vermochten nicht, uns zu überzeugen. Denn wir glauben, dass das bereits einmal vor dem Bundesverfassungsgericht gescheiterte rot-grüne Zuwanderungsgesetz, wenn es Wirklichkeit werden sollte, einen großen Schaden für unser Land bedeutet. ({0}) Wir glauben auch, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dass Sie die Bevölkerung unseres Landes über Inhalt und Auswirkungen dieses Gesetzes nach wie vor im Unklaren lassen; ({1}) denn das rot-grüne Zuwanderungsgesetz ist tatsächlich ein Zuwanderungserweiterungsgesetz. ({2}) Darauf ist es in seiner Grundsubstanz und in jedem Buchstaben angelegt. ({3}) Weil Sie Angst vor der Reaktion der Bevölkerung haben, bestreiten Sie dies. Wir aber sagen der Bevölkerung: Wenn Rot-Grün durchgängig alle wesentlichen den Zuzug beschränkenden Elemente des geltenden Rechts aufhebt, dann führt dies nicht zu weniger, sondern zu mehr Zuwanderung nach Deutschland. Eins plus eins ist für uns trotz PISA immer noch zwei und nicht minus zwei, wie Sie uns und der Bevölkerung glauben machen wollen. ({4}) Das rot-grüne Zuwanderungsgesetz in der vorliegenden Form ist für uns inakzeptabel. Ich betone auch im Hinblick auf die anstehenden Ausschussberatungen: Für uns geht es nicht um Nachverhandlungen in einigen Punkten, sondern dieses Gesetz ist von seiner Grundstruktur her inakzeptabel und muss völlig neu überarbeitet werden. Wir sind überzeugt, dass angesichts von fast 5 Millionen Arbeitslosen in unserem Land, leerer Staatskassen, berstender Sozialsysteme und einer desaströsen Wirtschaftslage an den bereits von der sozialliberalen Koalition 1981 aufgestellten und bis zur Bildung der rotgrünen Bundesregierung unumstrittenen Grundsätzen des deutschen Ausländerrechts festgehalten werden muss. Diese Grundsätze sehen die Integration der rechtmäßig dauerhaft in Deutschland lebenden Ausländer vor. Wir haben - das müssen Sie doch einräumen, Frau Beck - Großes im Hinblick auf nachholende Integration der bereits bei uns lebenden Ausländer zu leisten. Deshalb können wir einen weiteren Zuzug, der über das hinausgeht, was wir bereits an humanitären Verpflichtungen und Familiennachzug vor allem aus Staaten außerhalb der Europäischen Union haben, nicht mehr verkraften. In Deutschland leben nahezu doppelt so viele Ausländer wie durchschnittlich in allen anderen Ländern der Europäischen Union: 9,3 Prozent in Deutschland, 4,8 Prozent in den anderen Mitgliedstaaten. Es ist zwar zu begrüßen, dass ausländische Mitbürger die Wirtschaft und den Kulturaustausch in Deutschland beleben, dass sie als Selbstständige Arbeitsplätze schaffen und dass sie auch bereit sind, Tätigkeiten zu verrichten, für die deutsche Arbeitnehmer - bedauerlicherweise und nachdenkenswerterweise - oftmals nicht mehr zu gewinnen sind. Gleichwohl sind Ausländer in Deutschland überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen. Während 9,9 Prozent der deutschen Bevölkerung von Arbeitslosigkeit betroffen sind, sind 18,4 Prozent der ausländischen Bevölkerung arbeitslos. ({5}) Des Weiteren ist der Anteil der Sozialhilfeempfänger an der ausländischen Bevölkerung überdurchschnittlich hoch. Während deren Anteil an der deutschen Bevölkerung 2,8 Prozent beträgt, liegt ihr Anteil an der ausländischen Wohnbevölkerung bei 8,1 Prozent. ({6}) Außerdem ist der Anteil der Ausländer an der Kriminalstatistik ein Vielfaches höher als ihr Anteil an der Wohnbevölkerung. ({7}) Ich weiß nicht, warum Sie das bestreiten. Haben Sie nicht zur Kenntnis genommen, dass der der SPD angehörende Berliner Innensenator Körting kürzlich deutlich gemacht hat, dass er den dramatischen Anstieg der Jugendkriminalität in Berlin auf den Anteil ausländischer Jugendlicher zurückführt? Es muss uns doch erschüttern, wenn Ihr Parteifreund Körting als Berliner Innensenator sagt: Die Kinder lernen kaum Deutsch, scheitern in der Schule, haben schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt und verkehren nur im eigenen Milieu. Statt Integration steht am Ende Isolation und Ausgrenzung. So weit der Berliner Innensenator über den Befund von Zuwanderung in Deutschland im Jahr 2003. ({8}) Kürzlich hat der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demographie, Professor Herwig Birg, der auch Beiratsmitglied des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung ist, anlässlich der Jahrestagung dieser Gesellschaft der Auffassung widersprochen, Deutschland sei in Sachen Zuwanderung ein rückständiges Land und schotte sich gegenüber Zuwanderern ab. Vielmehr, so Professor Birg, sei Deutschland das Industrieland mit der höchsten Zuwanderungsrate. Er hat dargelegt, dass der prozentuale Anteil der Zuwanderer in Deutschland an der Gesamtbevölkerung drei- bis fünfmal höher liege als in klassischen Einwanderungsländern wie den USA, Australien oder Kanada. Herr Professor Birg hat auch beklagt - das sollten auch Sie von der FDP einmal zur Kenntnis nehmen -, dass die Politik und die veröffentlichte Meinung in Deutschland demographische Befunde ignorierten und verstärkt für Zuwanderung plädierten, obgleich die Zahl der Zuwanderer in Deutschland etwa genauso groß sei wie die Zahl der Geburten. In deutschen Großstädten sei die Zahl der Zuwanderer sogar viermal größer als die Geburtenzahl. Auch die Behauptung, Zuwanderung sei notwendig, um die Sozialsysteme zu sichern, stimme nicht, so Professor Birg, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen überein. Nach seinen und anderen gesicherten Forschungsergebnissen wie zum Beispiel denen des Ifo-Instituts ({9}) - Sie werden doch nicht die Seriosität des Ifo-Instituts bestreiten - übersteigt die Zahl der von Zuwanderern empfangenen Leistungen die der geleisteten Zahlungen in die sozialen Sicherungssysteme. ({10}) Sie müssen sich schon einmal fragen lassen, was Sie in diesem Land im Hinblick auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt angerichtet haben. Viele deutsche Spitzenkräfte verlassen dieses Land, weil sie hier keine Zukunft mehr sehen. Auch darüber muss man einmal in einer solchen Debatte diskutieren. ({11}) Ich kann Ihnen nur sagen: Wer bei 5 Millionen Arbeitslosen in Deutschland den Anwerbestopp aufhebt und den Arbeitsmarkt grundsätzlich für alle Ausländer, nicht nur für wenige Spezialisten, die wir selbst nicht haben, öffnen will, der handelt unverantwortlich. ({12}) Wer meint, Zuwanderung aus Drittländern könne zurückgehende Bevölkerungszahlen ausgleichen, der irrt. Das Ausländerrecht ist hierfür das falsche Instrument. Nötig ist ein Konzept familien-, sozial- und arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen. ({13}) - Ich wusste noch gar nicht, Herr Minister Fischer, dass Sie sich auch um Familienpolitik kümmern. ({14}) Sie haben mit der deutschen Außenpolitik genug zu tun? Kümmern Sie sich um die deutschen Interessen, die zurzeit durch den Kurs, den diese Bundesregierung in der Außenpolitik fährt, sträflich vernachlässigt werden! ({15}) Herr Präsident, können Sie für etwas Ruhe sorgen? Meine Kollegen wollen im Gegensatz zu der anderen Front dort drüben zuhören. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich unterstütze ausdrücklich die Bitte des Kollegen Koschyk. Er möchte gehört werden. Der Kollege Koschyk soll die Chance haben, gehört zu werden. ({0})

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. Das rot-grüne Zuwanderungsgesetz will über die völkerrechtlichen Verpflichtungen hinaus ({0}) quasi im europäischen Alleingang im humanitären Bereich die Zufluchtsgründe erweitern und den Status für Personen, die bislang vor allem in unsere Sozialsysteme zugewandert sind, aufwerten. Dies lehnen wir ab, weil es aus sachlichen Gründen nicht gerechtfertigt ist. Es ist auch nach Auffassung von Völkerrechtlern, die sich gerade mit dem humanitären Völkerrecht exzellent auskennen und die wir von der Union in der Anhörung zur ersten Auflage der parlamentarischen Beratungen benannt haben, klar, dass die von Rot-Grün beabsichtigte Einbeziehung nicht staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung in den Flüchtlingsbegriff nicht nur über die Genfer Flüchtlingskonvention hinausgeht. ({1}) Hinsichtlich des Schutzes vor nicht staatlicher Verfolgung ist festzustellen, dass in der internationalen Staatenpraxis die Einbeziehung nicht staatlich Verfolgter in den Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder sonstiger vertraglicher Schutzinstrumente nicht zugestanden wird. ({2}) Auch der EU-Praxis liegt kein Verfolgungsbegriff zugrunde, der unmittelbar staatliche oder dem Staat zumindest zurechenbare Verfolgung voraussetzt. Sie sollten endlich mit der falschen Behauptung aufhören, Deutschland sei in dieser Frage in der Staatengemeinschaft isoliert. ({3}) Sie sind nicht in der Lage, auch nur ein Beispiel dafür zu nennen, dass aus Deutschland Menschen abgeschoben wurden, wenn konkret-individuell festgestellt wurde, dass ihnen existenzielle Gefahren drohen. ({4}) Es steht völlig außer Frage, dass diesen Menschen in der Not Schutz zu gewähren ist. Aber es ist eben nach unserer Auffassung ein grundlegender Unterschied, ob man den Betroffenen für die Dauer ihrer Bedrohung in Deutschland Aufenthalt gewährt oder ob man deren Zufluchtsmöglichkeiten und auch ihren Aufenthaltsstatus grundlegend erweitert mit der Möglichkeit eines vollen Familienzuzugs, auch bei gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, und dem Zugang zum Arbeitsmarkt ohne jede Bedarfsprüfung. Das wollen wir nicht, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({5}) Sie verteidigen Ihr Gesetz ständig mit falschen Behauptungen. Sie sagen, Zuwanderung sei aus demographischen Gründen notwendig. Das ist falsch. Ich muss Ihnen eines sagen: Gestern saßen die Innenpolitiker unserer Fraktion mit den Fachleuten der katholischen Kirche zusammen, um über diese Frage zu sprechen. Wir haben ganz offen darüber gesprochen, wo Dissens und wo Übereinstimmung besteht. Ich bestreite überhaupt nicht, dass wir mit den Kirchen - das Gespräch mit den Vertretern der katholischen Kirche gestern hat das gezeigt - im Bereich humanitärer Zuwanderung einen Dissens haben. Eines will ich Ihnen hier einmal sagen: Auch die katholische Kirche hält aus demographischen und aus arbeitsmarktpolitischen Gründen mehr Zuwanderung nach Deutschland nicht für gerechtfertigt. ({6}) Vereinnahmen Sie nicht ständig die Kirchen für eine generelle Zustimmung zu Ihrem Zuwanderungsgesetz! Diese Zustimmung gibt es so nämlich nicht. Die Behauptung, dass es diese Zustimmung gibt, ist unwahr. ({7}) Ich möchte auf die Behauptung zu sprechen kommen, Zuwanderung sei aus demographischen Gründen notwendig. Frankreich - Sie orientieren sich zurzeit doch so sehr an Frankreich - hat gezeigt, dass man mit einer nachhaltigen Bevölkerungspolitik sowie mit einer besseren Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, als sie in Deutschland betrieben wird, demographische Probleme ganz anders angehen kann, als wenn man auf Zuwanderung setzt. Da Sie auch in dieser Debatte immer wieder den Eindruck zu vermitteln versuchen, es gehe nur noch um Kleinigkeiten und wir seien uns im Grundsatz einig, möchte ich Folgendes sagen: Ihrem Konzept, also dem Konzept von Rot-Grün, und dem der Union liegen völlig unterschiedliche Vorstellungen zugrunde. Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition wollen einen Paradigmenwechsel hin zum multikulturellen Einwanderungsland. ({8}) Wir, die Union, wollen die Bewahrung der Identität von Staat und Gesellschaft. Wir wollen die Rücksichtnahme auf die Aufnahmefähigkeit unseres Landes und wir wollen die Verhinderung weiterer Zuwanderung in unsere kollabierenden sozialen Sicherungssysteme. ({9}) Wolfgang Bosbach hat bereits sehr eindrucksvoll darauf hingewiesen - ich will das wiederholen -, ({10}) dass Ihre Behauptung, Zuwanderung schaffe Arbeitsplätze, allein durch die mit der Einführung der Greencard verbundenen Geschehnisse und durch die Situation in der IT-Branche widerlegt sei. In zwei Jahren wurden nämlich nur 13 400 Arbeitserlaubnisse erteilt, obwohl man einmal annahm, es gebe einen Bedarf von 50 000 bis 100 000 Arbeitskräften. ({11}) Von den 13 400 Personen, denen eine Arbeitserlaubnis erteilt worden ist, sind nicht einmal alle gekommen. Sie müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass von denjenigen Inhabern einer Greencard, die nach Deutschland gekommen sind, um in der IT-Branche zu arbeiten, einige aufgrund der katastrophalen Situation in dieser Branche bereits arbeitslos sind. Das zeigt doch, dass in diesem Bereich ein Verdrängungswettbewerb stattfindet. Ich muss Ihnen ebenfalls sagen - das sage ich auch in Richtung der deutschen Wirtschaft -: Wir müssen der deutschen Wirtschaft die Verantwortung zumuten - aus dieser Verantwortung dürfen wir sie nicht entlassen -, dass man dem Fachkräftemangel in Deutschland auch durch Fortbildung von Mitarbeitern in Deutschland und durch größere Anstrengungen im Bereich der Bildung und Ausbildung Rechnung trägt. Die bisherige Politik in Niedersachsen ist Gott sei Dank beendet worden. Unter der Regierungsverantwortung der SPD wurde in Niedersachsen der IT-Ausbildungsbereich einer Fachhochschule geschlossen. ({12}) Hinterher haben Sie sich beklagt, dass wir zu wenig ITFachleute in Deutschland haben. Sie sollten sich nicht hier hinstellen und behaupten, wir könnten die mit der demographischen Entwicklung verbundenen Probleme nur durch Zuwanderung lösen. ({13}) Sie behaupten, dass Sie in der Zuwanderungsfrage mit Ihrem Gesetz einen breiten gesellschaftlichen Konsens erzielen. Wir bestreiten dies. Sie kommen vielleicht mit Spitzenvertretern bestimmter, auch wichtiger gesellschaftlicher Interessengruppen zu einem Konsens, ({14}) aber nach dem Motto: Dem einen ein bisschen hiervon, dem anderen ein bisschen davon. Uns geht es um das Gemeinwohl; wir fühlen uns dem Gemeinwohl verpflichtet. Wir stellen die Frage, wie viel Zuwanderung dieses Land verkraften kann. Darin wissen wir uns mit der Mehrheit unserer Bevölkerung einig. ({15}) Ich möchte, Frau Ministerin, noch mit einem Satz auf den Entwurf der FDP eingehen. Wir glauben nicht, dass dieser FDP-Entwurf eine Brücke zu einem Kompromiss und einer Einigung darstellt. Die FDP will eine Jahreszuwanderungsquote. Dabei muss die FDP wissen, dass derjenige, der nach Ausschöpfung der Jahreszuwanderungsquote über das Asylverfahren nach Deutschland kommen will, hieran außer durch die Drittstaatenregelung nicht gehindert werden kann; denn die Zuwanderung im humanitären Bereich lässt sich rechtlich nicht beschränken. Sie wollen Arbeitsmigration und humanitäre Zuwanderung trennen. Dabei muss die FDP doch wissen, dass derjenige, der von der erfolglosen Zuwanderung aus Erwerbsgründen in das Asylverfahren wechseln will, daran wegen der Garantien des Asylgrundrechtes rechtlich nicht gehindert werden kann und als Asylsuchender - außer bei erfolglosem Eilverfahren in Drittstaatenfällen nicht darauf verwiesen werden kann, sein Verfahren in Deutschland vom Ausland aus zu betreiben. Deshalb ist für uns weder der rot-grüne noch der FDP-Gesetzentwurf zustimmungsfähig. Wir werden im parlamentarischen Verfahren umfangreiche Änderungsanträge einbringen. Wenn Sie, Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, mit diesen Änderungsanträgen wie bei der ersten Auflage der Zuwanderungsdebatte verfahren - durchpeitschen, nicht zur Kenntnis nehmen, ablehnen -, wird und kann es in Bezug auf ein Zuwanderungsgesetz und ein neues Zuwanderungsrecht in Deutschland keine Einigung geben. Herzlichen Dank. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Joachim Hacker, SPD-Fraktion.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich bin wie unser Bundesinnenminister grundsätzlich ein Optimist und gehe Probleme mit einer optimistischen Einstellung an. Aber, Herr Bosbach und Herr Koschyk, was Sie uns hier heute geliefert haben, hat meine Grundeinstellung auf eine ziemlich harte Probe gestellt. Ich glaube, Sie können vor dem Hintergrund der Tatsache, dass in der letzten Diskussion zu dem ersten Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes Kompromisse geschlossen worden sind, dass intensiv beraten worden ist, dass auch Forderungen von Brandenburg einer ernsthaften Prüfung unterzogen worden sind, nicht sagen, wir wären nicht bereit, über die Fragen, die sich hier stellen, zu diskutieren. Herr Bosbach, was Sie uns hier geboten haben, war eine Mischung von Blockade und Scheinheiligkeit. ({0}) Ich glaube, Sie sind selber nicht gut aufgestellt. Sie wissen nicht, was Sie mit diesem Thema rechtlich machen sollen. Die Gesellschaft sagt, dass eine Zuwanderungsgesetzgebung benötigt wird, und Sie wissen nicht, wie Sie aus dieser Falle herauskommen sollen. Ich hatte bei einigen Passagen der Rede von Herrn Bosbach das Empfinden, dass der Geist des vorletzten Jahrhunderts das Plenum erreicht hat, ({1}) um nicht zu sagen: ein Lichtstrahl aus dem Mittelalter. ({2}) Herr Koschyk, in einem Punkt muss ich auch auf Ihre Rede eingehen. Ich finde, es ist unanständig, wenn Sie ausländische Mitbürger, die mit uns hier in Deutschland leben, pauschal kriminalisieren. ({3}) Sie haben den Eindruck erweckt, ({4}) wir würden nicht zur Kenntnis nehmen, dass es im Bereich der Kriminalität eine besondere Häufung einzelner ausländischer Gruppen gebe. Das ist doch unbestritten; das weiß jeder in Deutschland. Aber die Gleichsetzung, die Sie betreiben, indem Sie Ausländer pauschal als kriminalitätsbelastet einstufen, ist unverantwortlich. ({5}) Damit befinden Sie sich leider in einem Boot mit Agitatoren vom rechten Rand. Sie bedienen so ganz schöne Stimmungen. ({6}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das Zuwanderungsgesetz, das wir heute beraten, hätte längst verabschiedet sein müssen. Es ist ein wichtiges, notwendiges Gesellschaftsprojekt. Wir befinden uns da in Übereinstimmung mit wichtigen gesellschaftlichen Gruppen: mit den Kirchen, den Arbeitgeberverbänden, den Gewerkschaften und nicht zuletzt - auch das will ich hier deutlich machen - mit sehr vielen, ich möchte fast sagen: allen Kommunalpolitikern, die darauf warten, dass wir diesen Gesetzgebungsprozess endlich zum Abschluss bringen. Sie warten in Bayern und auch in Hessen darauf, dass wir dieses Gesetz verabschieden. ({7}) Insofern befinden Sie sich im Übrigen in Konfrontation mit Angehörigen Ihrer eigenen Partei und damit in der Isolation. ({8}) Herr Koschyk, Sie haben hier wieder ein Märchen erzählt. Sie sagen, das Gesetz sei in Karlsruhe aufgrund inhaltlicher Fehler und Mängel gescheitert. Das stimmt doch nicht. ({9}) Lediglich das Verfahren im Bundesrat hat zur Verhandlung in Karlsruhe geführt. Nur darum geht es. Wer hat denn das Theater inszeniert ({10}) und wer ist dafür verantwortlich, dass wir heute noch einmal eine Debatte über ein notwendiges Zuwanderungsgesetz führen müssen? Wir haben in der Diskussion im Bundesrat Forderungen Brandenburgs nachgegeben. Das Scheitern des Gesetzes muss sich die CDU wegen des Versagens des Innenministers Schönbohm auf die eigene Fahne schreiben. ({11}) Herr Bosbach, nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! Das Nein von Herrn Schönbohm war ein Wortbruch. ({12}) Es ist höchste Zeit, dass wir die Zuwanderung in einem Gesetz einheitlich regeln. Darüber sind wir uns auch einig. Die Diskussion, ob Deutschland ein Zuwanderungs- oder ein Einwanderungsland ist, ist eine theoretische Diskussion, die uns überhaupt nicht weiterbringt. Fakt ist, dass zwischen 1955 und 1999 mehr als 31 Millionen Menschen nach Deutschland zugezogen sind. Richtig ist auch, dass in der gleichen Zeit etwa 22 Millionen Menschen weggezogen sind. Unterm Strich gab es immer einen positiven Zuwanderungssaldo; in diesem Zusammenhang ist auch die Zuwanderung der Russlanddeutschen zu nennen, es waren durchschnittlich 100 000 jährlich. ({13}) Die CDU/CSU - darüber ist hier schon diskutiert worden - führt sich als Schutzpatron des deutschen Arbeitsmarktes auf. Aber was haben Sie in den 80er- und 90er-Jahren gemacht? Der 1973 richtigerweise verhängte Anwerbestopp ist von der Union in der Ära Helmut Kohl mehrfach durchlöchert worden. ({14}) Sie haben Saisonarbeitskräfte für die Landwirtschaft und die Gastronomie, zahlreiche Werkvertragsarbeitnehmer als Bauarbeiter, Spezialitätenköche, Hausangestellte, Lehrkräfte, Krankenschwestern, ({15}) Künstler, Artisten usw. mit Sonderregelungen nach Deutschland geholt. Das ist doch die Wahrheit. Solche Dinge wollen wir jetzt endlich vernünftig regeln, und zwar einheitlich. ({16}) Herr Bosbach, nehmen Sie doch einfach einmal Ihre Einwanderungspolitik, Ihre Ausnahmepolitik der 80erund 90er-Jahre zur Kenntnis! Daraus ist ein unübersichtliches Geflecht an Regelungen und Durchführungsverordnungen entstanden. Herr Bosbach, ich will an eines erinnern: Bayern setzt diese Politik fort. Die bayerische Landesregierung tritt dafür ein, ({17}) dass weitere Sonderregelungen im Bereich der Pflegekräfte greifen sollen. An dieser Stelle verstehe ich Ihre Politik nicht. Nähern Sie sich doch unseren Vorstellungen! Wir sind diskussions- und verhandlungsbereit. Es ist längst Zeit, eine umfassende rechtliche Regelung zu schaffen. Für uns ist dabei die Frage der Integration von zentraler Bedeutung. Das Konzept der Bundesregierung, das wir in der Koalition unterstützen, steuert, begrenzt und fördert die Integration. Herr Bosbach, Sie können natürlich sagen, das seien die Forderungen, die Sie stellen. Wir sagen Ja zur Steuerung, wir fordern Begrenzung und wollen genauso wie Sie die Integration. Wo sind wir da auseinander? Gleichzeitig wollen wir das unüberschaubare Regelwerk abschaffen. Zurzeit gibt es eine wirtschaftsschädliche Sperre gegen den Zuzug dringend benötigter Wissenschaftler und Unternehmer nach Deutschland. ({18}) Unsere Wirtschaft braucht diese Fachkräfte. Sie sind auch für die Stabilisierung unserer sozialen Sicherungssysteme dringend notwendig. Wer das verschweigt, nimmt nicht zur Kenntnis, in welcher Situation sich die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland befinden. Wer die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte steuern will, muss ein Punktesystem aufstellen. Dieses System ist im Gesetzentwurf enthalten. Wer zu uns kommen will, muss die entsprechenden Kriterien erfüllen. Dabei spielen Ausbildung, Berufserfahrung, Alter und Sprachkenntnisse, aber auch die Beziehungen des Antragstellers zu Deutschland und die Frage, ob er schon einen Arbeitsplatz hat, eine erhebliche Rolle. Wir wollen weiterhin, dass den in Deutschland ausgebildeten jungen Menschen keine Steine in den Weg gelegt werden. ({19}) Es ist doch widersinnig, wenn junge Menschen aus der Dritten Welt, die gebührenfrei an den Universitäten in Deutschland studiert haben, in andere Industriestaaten gehen - leider gehen sie nicht immer in ihre Heimatländer zurück, wo sie dringend gebraucht werden; das können wir aber nicht steuern - und dort ihr erworbenes Wissen anwenden. Das müssen wir anders regeln. Ein weiterer Aspekt. Ich will für die Koalition insgesamt sagen, dass wir mit dem im Zuwanderungsgesetz vorgesehenen beschleunigten Asylverfahren unserer Verpflichtung zur Humanität, die sich aus dem Grundgesetz ergibt, gerecht werden. Diejenigen, die unseres Schutzes bedürfen, müssen ihn auch weiterhin bekommen. Menschlichkeit - ich denke, da sind wir uns insbesondere mit Frau Süssmuth einig; auch Sie sollten sich dieser Auffassung anschließen - darf nicht quotiert werden. Darin sollten wir uns alle einig sein, Herr Bosbach. ({20}) Zuwanderer sollten dauerhaft integriert werden. Deswegen ist für uns das Integrationsprogramm eine wichtige und gleichwertige Säule des Zuwanderungskonzeptes. Wir müssen heute die wichtige Frage beantworten, ob wir Zuwanderung angesichts der 4,7 Millionen Arbeitslosen brauchen. Wir antworten darauf eindeutig mit Ja. Wir brauchen diese Zuwanderung. Dafür muss es im Gesetz eine entsprechende Regelung geben. Die heute schon viel genannten Erfahrungen mit der Greencard belegen nicht nur, dass es für diese Fachkräfte Arbeitsplätze in Deutschland gibt, sondern auch, dass durch sie gleichzeitig mindestens zwei Arbeitsplätze in der betreffenden Firma bzw. in Firmen des Zulieferbereichs geschaffen werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Hacker, Sie müssen zum Ende kommen. Ihre Redezeit ist schon überschritten. ({0})

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich komme zum Ende. - Wenn ich mir die Presseerklärung der FDP ansehe, Herr Gerhardt, dann bin ich optimistisch, dass wir für unser Projekt Zustimmung erhalten werden. Ich richte an Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Union, noch einmal den Appell: Stellen Sie sich der Lebensrealität in Deutschland! Stellen Sie sich wie wir alle den Herausforderungen! ({0}) Gehen Sie mit uns den Weg der Diskussion! Herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Hartmut Koschyk.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Herr Kollege Hacker, Sie haben mir in Ihrer Rede den Vorwurf gemacht, ({0}) dass ich ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland generell kriminalisiere. ({1}) Ich möchte mich gegen diesen ungeheuren Vorwurf auf das Schärfste verwahren. ({2}) Sehr geehrter Herr Kollege Hacker, diese Art der Wortverdrehung und der Zitatefälschung ({3}) war vielleicht in der Führung des Kombinats Obst, Gemüse und Speisekartoffeln im Bezirk Schwerin, wo Sie einmal Justiziar waren, üblich. ({4}) Aber das sollte nicht der Stil der Auseinandersetzung im Deutschen Bundestag sein. ({5}) Ich muss Ihnen noch eines sagen, Herr Hacker. Ihr Parteifreund und Berliner Innensenator Körting hat darauf hingewiesen, dass der überproportionale Anteil der Jugendlichen in der Kriminalstatistik des Landes Berlin auf einen hohen Anteil ausländischer Jugendlicher zurückzuführen ist. Wenn ich eine Aussage von Herrn Körting zitiere, in der er den Befund einer gescheiterten Integration dieser ausländischen Jugendlichen in Berlin darstellt, dann können Sie das nicht so uminterpretieren, dass ich die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger generell der Kriminalität verdächtige. Mich dann noch in die Ecke von Rechtsradikalen zu rücken ist unanständig. Ich weise das in schärfster Form zurück. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Hacker, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Koschyk, in Ihrer Kurzintervention haben Sie eigentlich noch das übertroffen, was Sie zuvor am Pult geboten hatten. ({0}) Sie tragen heute, 13 Jahre nach der deutschen Einheit, hier erneut einen schlimmen Spaltpilz in die Debatte hinein - zumindest versuchen Sie es -, indem Sie Biografien von Menschen aus einer anderen Zeit für diese Debatte nutzen. ({1}) - Ich gehe auf Ihre Frage ein: Was hat das denn damit zu tun? Sie haben in Ihrer Rede von Ausländerkriminalität schlechthin gesprochen. Hätten Sie es so differenziert dargestellt, wie es der Innensenator tat ({2}) und wie es auch hier im Bundestag schon diskutiert wurde, könnte ich mich Ihrer Argumentation anschließen. Aber Sie haben es nicht getan; Sie haben ganz allgemein von Ausländerkriminalität gesprochen. Dagegen verwahre ich mich nochmals. Lesen Sie Ihre eigene Rede durch und korrigieren Sie sich! ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben in dieser Debatte eine wirklich neue Erkenntnis gewonnen: Der Kollege Wolfgang Bosbach von der CDU will sich kein Vorbild an Goethes Faust nehmen und seine Seele nicht verkaufen. Das ist sein gutes Recht. Aus diesem Grund schlage ich vor, dass wir uns ein anderes Vorbild aus der Geschichte nehmen, nämlich Alexander den Großen. Ihm ist es bekanntlich gelungen, den Gordischen Knoten zu durchschlagen. Genau vor dieser Aufgabe stehen wir in dieser Zuwanderungsdebatte. ({0}) Freilich passt der Vergleich insofern nicht ganz, als eine derart martialische Vorgehensweise hier nicht möglich ist. Vielmehr brauchen wir Kompromissbereitschaft auf allen Seiten. Meine Damen und Herren, weder kann nach dem bekannten Vorlauf Rot-Grün erwarten, dass das vom Bundesverfassungsgericht aufgehobene Gesetz so wieder durch das Parlament kommt, ({1}) noch kann die CDU/CSU mit Fug und Recht erwarten, dass ihre 130 Änderungsanträge hier eine Mehrheit finden. ({2}) Meine Damen und Herren, die Debatte vermittelt leider bisher nicht den Eindruck, als wären wir wirklich auf dem Weg zu einem Kompromiss, der allseitige Zustimmung finden könnte. Das darf aber nicht das Ende dieser mehr als zweijährigen öffentlichen Diskussion um ein Zuwanderungsgesetz sein. ({3}) Aus diesem Grunde ist es erforderlich, dass die gegenseitige Blockade, die bei Rot-Grün einerseits und der CDU/CSU andererseits zu beobachten ist, aufgehoben wird. ({4}) Deshalb hat die FDP einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht, der auf den Vorschlägen von Minister Döring und Ministerin Werwigk-Hertneck aus Baden-Württemberg beruht. Meine Damen und Herren, wir glauben, dass wir damit eine vernünftige Grundlage für die weiteren Gespräche in den Ausschüssen schaffen; denn es kann doch nicht sein - ich sage dies, auch wenn Sie es nicht gern hören -, dass viele gesellschaftliche Gruppen in einer seltenen Einmütigkeit von uns als dem Gesetzgeber ein Handeln verlangen, wir als Bundestag aber nicht in der Lage sind, dem nachzukommen. ({5}) Wann hat man es schon, dass Arbeitgeber, Wirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen, Menschenrechtsorganisationen und alle Fachleute der Auffassung sind, dass ein solches Gesetz notwendig ist? Meine Damen und Herren, eine gesetzliche Regelung muss drei Kernelemente enthalten. ({6}) Erstens. Wir brauchen eine Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung auf dem Arbeitsmarkt nach unseren eigenen wohlverstandenen Bedürfnissen, nicht mehr und nicht weniger. ({7}) Das bedeutet zum Beispiel, dass selbstverständlich der Vorrang für die inländischen Arbeitnehmer gilt. Das bedeutet auch, dass derjenige, der sich aus dem Ausland um einen Aufenthalt bei uns bewirbt, einen konkreten Arbeitsvertrag vorweisen muss. Um den Bedenken aus der CDU/CSU entgegenzukommen, dass der deutsche Arbeitsmarkt trotz allem überlastet werden könnte, schlagen wir jetzt vor, dass dies alles durch eine Jahreshöchstquote begrenzt wird, obgleich wir uns auch eine marktwirtschaftlichere Lösung hätten vorstellen können. ({8}) Ich verstehe nicht, warum wir dann, wenn schon so viele Sicherungen eingebaut sind und wenn es de facto doch Zuwanderung nach Deutschland in ungesteuerter Form gibt - das ist insbesondere die Zuwanderung aus humanitären Gründen -, ausgerechnet auf die Gestaltung der Zuwanderung mit dem Ziel der Besetzung von Arbeitsplätzen verzichten sollten, mit denen Wirtschaftswachstum generiert und die Arbeitslosigkeit abgebaut wird. Das ist nämlich das Ziel der Veranstaltung, nicht umgekehrt! ({9}) Die FDP steht aber nicht nur zu dieser eng begrenzten, im eigenen Interesse liegenden und für mehr Arbeitsplätze im Inland sorgenden Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt, sondern selbstverständlich auch zu den humanitären Verpflichtungen. Wir haben keinen Anlass, uns hier an kleinlichen Debatten zu beteiligen. Für uns ist völlig klar, dass es selbstverständlich beim Asylgrundrecht bleibt und dass auch diejenigen, die von nicht staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung bedroht sind, unseren Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention genießen. Mehr ist dazu nicht zu sagen. ({10}) Der eigentliche Fehler in dem aufgehobenen Zuwanderungsgesetz lag darin - da sind sich alle Experten einig; Marieluise Beck hat es vorhin auch durchklingen lassen -, dass der wichtige Teil der Integration der Zuwanderer noch nicht genügend ausformuliert war. Wir stehen jetzt nicht am Beginn einer Debatte, sondern wir sind nahezu am Ende eines langjährigen Diskussionsprozesses. Deswegen ist es richtig, solche Kritikpunkte aufzugreifen. Wir sehen daher in unserem Entwurf ein deutlich erweitertes Angebot an Integrationsmaßnahmen - das betrifft insbesondere Sprachkurse als Schlüssel für die Verständigung - vor. Wir wollen außerdem den Einstieg in die so genannte nachholende Integration; ({11}) denn es gibt auch Sprach- und Integrationsmängel bei Ausländern, die schon einige Jahre in Deutschland sind. Das ist auch eine Forderung der Union. Aber wir können das nicht rückwirkend ad infinitum machen, sondern wir wollen das zeitlich begrenzt für fünf Jahre machen, weil sonst die finanzielle Belastung nicht darstellbar wäre. ({12}) Übrigens ist es durchaus zumutbar, wenn Zuwanderer nach eigener Fähigkeit in angemessener Weise an den Kosten von Sprach- und Integrationskursen beteiligt werden. ({13}) Auch das sehen wir vor. Überhaupt muss das erweiterte Angebot an Integrationsmaßnahmen selbstverständlich auch mit stärkeren Anforderungen an diejenigen, die zu uns kommen, verbunden sein, diese Angebote zu nutzen. ({14}) Deswegen soll es Sanktionen geben, wenn sie schuldhaft nicht genutzt werden, aber auch Anreize für diejenigen, die sich integrieren, etwa schnellerer Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft. Wir befrachten unseren Gesetzentwurf nicht mit anderen Themen, mit denen sich der Bundestag auch einmal befassen muss. Ich nenne nur die Situation der Hunderttausende von Illegalen in Deutschland. Darüber müssen wir ein anderes Mal reden. Wir wollen nicht zu viel in dieses Gesetz hineinpacken. Wir haben aber ein Anliegen, für das wir hier sofort Beifall von allen Seiten bekommen müssten. Jenseits der Frage der Zuwanderung gibt es auch noch einen Bedarf an Saisonarbeitskräften. Diesbezüglich müssen die Verfahren unbürokratischer werden. Wir brauchen statt einer Genehmigung für die Dauer von drei Monaten für das Gaststättengewerbe und für die Landwirtschaft, die Erntehelfer braucht, eine solche von sechs Monaten. Dieser Antrag von uns steht auch zur Debatte. ({15}) Ich komme zum Schluss und möchte noch Folgendes grundsätzlich bemerken: Ich halte nichts davon, wenn jetzt schon die Rede davon ist, dass das Ganze in den Vermittlungsausschuss kommen und dort hinter verschlossenen Türen beraten werden soll. Warum denn? Der Deutsche Bundestag ist doch das Forum, auf dem in offener Debatte das Für und Wider ausgetragen wird. „Hic Rhodus, hic salta“, sagt der Lateiner. Hier müssen wir entscheiden. Deswegen gilt das Angebot unseres Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Gerhardt, über die Vorschläge - wir machen mit unserem Kompromissvorschlag ein Angebot an alle anderen - jetzt hier im Deutschen Bundestag zu sprechen. Wenn wir das tun, dann werden Sie sehen, dass das, was die FDP als Grundlage vorschlägt, von allen Seiten akzeptiert werden kann. Das dringend notwendige Gesetz muss endlich zustande kommen. Vielen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Sätze vorab: Die PDS war und ist der Meinung, die Bundesrepublik ist ein Einwanderungsland. Das bedeutet, wir brauchen ein Einwanderungsrecht und keine Blockaden. ({0}) Das waren übrigens exakt die zwei Eingangssätze, die ich vor einem Jahr sprach. Denn am 1. März 2002 haben wir hier über dasselbe Thema debattiert. Heraus kam ein Gesetz, das inzwischen vom Bundesverfassungsgericht kassiert wurde. Dazwischen lag eine unwürdige Bundesratsaufführung, die ich heute nicht noch einmal würdigen möchte; denn keiner der daran Beteiligten hat sich damals mit Ruhm bekleckert. Die PDS hat übrigens vor Jahresfrist mit Nein gestimmt, allerdings aus konträr anderen Gründen als die Opposition zur Rechten dieses Hauses. Der rot-grüne Entwurf war uns im Zuwanderungsteil zu regressiv und im Asyl- und Flüchtlingsteil zu repressiv. Das hatte bekannte Gründe. Denn Bundesinnenminister Schily hatte so lange einen Kompromiss mit der CDU/CSU gesucht, bis Rot-Grün zur Unkenntlichkeit verfinstert war. Die PDS im Bundestag hatte andere Maßstäbe. Unsere erste Prüffrage hieß: Gelingt mit dem Zuwanderungsgesetz ein Paradigmenwechsel? Schaffen wir also ein Bürgerrecht, bei dem nicht die Verwertbarkeit des Menschen, sondern das Menschsein im Vordergrund steht? ({1}) Unsere zweite Prüffrage lautete: Sucht die Bundesrepublik mit dem Zuwanderungsgesetz Anschluss an internationale Normen oder verharrt sie in einem völkischen Zustand aus dem vorigen Jahrhundert? Unsere dritte Prüffrage war: Werden mit dem Zuwanderungsgesetz endlich willkürliche Regeln abgeschafft, die nicht deutsche Bürgerinnen und Bürger noch immer zu Menschen zweiter Klasse degradieren? Das waren unsere Maßstäbe und das sind sie noch immer. Deshalb wird die PDS im Bundestag den jetzt wieder unverändert vorgelegten Gesetzentwurf erneut ablehnen müssen. Allerdings würden wir, wenn wir unsere Position begründen wollten, heute nur wiederholen, was wir vor einem Jahr schon einmal gesagt haben. Das wäre langweilig und es wäre effektiver gewesen, wenn wir unsere alten Reden einfach noch einmal zu Protokoll gegeben hätten. Es ist aber mehr geschehen, als dass ein Jahr verflossen ist. Wir verzeichnen in der Bundesrepublik einen politischen Rechtsruck, was bei dem heute debattierten Thema auch heißt: Jene Parteien, die kein modernes Zuwanderungsrecht wollen, jene Parteien, die auch fremdenfeindliche Parolen nicht scheuen, jene Parteien, die Menschen in nützliche, unnütze und gar schädliche einteilen, haben im Moment im Bundesrat eine Blockademehrheit. CSU und CDU machen keinen Hehl daraus, dass sie diese Blockademehrheit kräftig nutzen wollen. Nun kenne ich Stimmen - das habe ich in vielen Briefen, die ich in den letzten Tagen erhalten habe, gelesen -, die meinen, dass es unter diesen Umständen besser wäre, kein Zuwanderungsgesetz zu verabschieden als ein Gesetz, das von CDU und CSU diktiert wird. Ich kann das gut nachvollziehen. Aber bedenken wir: Das hilft den Betroffenen überhaupt nicht. Deshalb werbe ich dringend dafür: Lassen Sie uns doch wenigstens im humanitären Bereich rechtliche Standards setzen, die längst überfällig sind! Ich möchte mich daher heute auf die Grundforderungen beschränken, die auch von Flüchtlings- und Migrantenorganisationen zu Recht erhoben werden: Erstens. Der Familiennachzug in die Bundesrepublik muss für alle Kinder möglich sein. Das heißt nach geltendem Familienrecht: bis zum Alter von 18 Jahren. ({2}) Wer das ablehnt - wir haben gestern bereits darüber debattiert -, mag Gründe haben. Unter dem Strich betreibt er aber eine Politik, die Familien erster und Familien zweiter Klasse schafft. Das wollen wir nicht. Zweitens. Nicht staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung muss endlich als Fluchtgrund anerkannt werden. Wer das nicht tut, sortiert Menschen in höchster Not nach Gutdünken. Das wollen wir nicht. Drittens. Opfer von Menschenrechtsverletzungen dürfen weder ab- noch zurückgeschoben werden. Wer das will, riskiert neue Menschenopfer. Das wollen wir nicht. Viertens. Schutzbedürftige, die nicht abgeschoben werden dürfen oder können, müssen einen sicheren Aufenthaltsstatus erhalten. Wer das nicht will, nimmt Menschen ihre Würde. Fünftens. Das Asylbewerberleistungsgesetz muss abgeschafft oder zumindest, wie in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, humaner praktiziert werden. Wer das nicht will, behandelt Asylbewerber wie Aussätzige. Der Katalog humanitärer Forderungen ist natürlich länger, wohlgemerkt: „humanitärer Forderungen“, denn mit einem modernen Zuwanderungsrecht oder mit einem republikanischen Staatsverständnis hat das noch nichts zu tun. Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen: Während die US-Regierung einen Krieg vorbereitet und die CDU-Spitze dies unterstützt, treiben den bayerischen Innenminister Beckstein ganz andere Sorgen um. Er will, dass Kriegsflüchtlinge auf keinen Fall Europa erreichen und schon gar nicht die Bundesrepublik; so seine Forderung. Sie müssten in der Krisenregion - ich zitiere menschenwürdig untergebracht werden. Mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, das ist politische Schizophrenie. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit von der SPDFraktion.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dieser Debatte muss ich zumindest eine Vorbemerkung machen. Herr Kollege Koschyk, Sie haben es für richtig gehalten, sich wegen angeblich zu scharfer, ehrverletzender Äußerungen, die ich über Herrn Schönbohm gemacht hätte, an meinen Arbeitsgruppensprecher zu wenden. Das ist Ihr gutes Recht. Ich komme darauf noch zurück. Wenn Sie aber derart ehrpusselig und empfindlich sind, ({0}) verstehe ich nicht, wie Sie dazu kamen, gegenüber dem Kollegen Hacker in Bezug auf seine berufliche Vergangenheit in der früheren DDR eine derart abfällige Bemerkung zu machen. Das war unanständig. ({1}) Aber das ist nicht die einzige Heuchelei, mit der wir es hier und heute zu tun haben. Vielmehr ging es munter weiter. Heute Morgen konnte man, wenn man die Tickermeldungen gelesen hatte, noch der Meinung sein, die CDU/CSU sei in der Frage nicht ganz aufgestellt und es sei unklar, ob sie bereit sein könnte, beim Zuwanderungsgesetz an einem echten Kompromiss mitzuwirken. Nach den Redebeiträgen von Herrn Bosbach und Herrn Koschyk bin ich da nicht mehr sehr optimistisch. Immerhin sagten heute Morgen Frau Professor Süssmuth und Ministerpräsident Müller auf der einen Seite, das Zuwanderungsgesetz müsse es grundsätzlich geben. Die Herren Stoiber und Beckstein auf der anderen Seite sagten, eigentlich gehe nichts mehr, wir bräuchten nichts, es sei kein Unglück, wenn wir gar nichts bekämen. Heute stellt sich dann Herr Bosbach hier hin und sagt - auch das kann so nicht stehen bleiben -, im ersten Anlauf sei versucht worden, den Gesetzentwurf durch einen angeblich wohl kalkulierten Verfassungsbruch durch den Bundesrat zu bringen. ({2}) Herr Kollege Bosbach, ich will Ihnen dazu etwas sagen: Da ich den Vorzug hatte, dieser Beratung im Bundesrat beizuwohnen, konnte ich nicht umhin zuzuhören, als sich Herr Stoiber zu seinem letzten Gespräch mit Herrn Schönbohm vor der Abstimmung ausgerechnet anderthalb Meter neben mich gestellt hat, um ihn davon zu überzeugen, er müsse im Bundesrat nicht nur einmal, sondern mindestens dreimal Nein sagen. ({3}) Auch die beiden sind davon ausgegangen, dass dann, wenn er sich anders verhalten würde, die Zustimmung von Brandenburg möglicherweise unterstellt werden könnte. Ich will Ihnen einmal sagen, wer damit etwas kalkuliert hat: ({4}) Herr Schönbohm hat damit kalkuliert, dass er seinen Ministerposten behält, wenn er folgsam ist und nur einmal Nein sagt. Im Übrigen sagte er: Herr Präsident, Sie kennen meine Auffassung. ({5}) - Das ist nicht lächerlich, das ist die Wahrheit und entspricht dem wirklichen Ablauf. Sie sagen, Karlsruhe habe diesen Gesetzentwurf verworfen. ({6}) Karlsruhe hat den Gesetzentwurf aber nicht wegen seines Inhalts verworfen, ({7}) sondern das Gericht hat das Theaterdrehbuch verworfen, für das Herr Koch im Bundesrat Verantwortung getragen hat. Darum ging es. ({8}) Herr Koschyk, ich darf mich Ihnen noch einmal zuwenden. Auf der einen Seite beklagen Sie bei unserer Debatte, dass die sozialen Sicherungssysteme überlastet seien. Sie sprachen sogar vom Kollabieren oder Zerbersten. Auf der anderen Seite ist es die CDU/CSU, die bereits im vormaligen Gesetzgebungsverfahren, aber auch jetzt wieder gesagt hat: Wir sind dagegen, dass Menschen, die in Deutschland als Flüchtlinge Schutz finden müssen, weil man sie nicht abschieben kann oder weil sie nicht ausreisen können, eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Wir sind dafür, dass es für diese weiterhin Kettenduldungen gibt - das betrifft etwa eine viertel Million Menschen -, mit der Folge, dass sie nicht arbeiten können, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht verdienen können, dass ihre Kinder keine Ausbildungsplätze antreten können und dass ihre Integration keine Fortschritte macht, obwohl sich ihr Aufenthalt manchmal bis Jahrzehnte erstreckt. Wer Sozialneid schürt, indem er auf der einen Seite sagt, er sei dagegen, dass die Sozialsysteme belastet werden, auf der anderen Seite aber sagt, er sei ebenfalls dagegen, dass die Menschen in die Lage versetzt werden, mit ihrer eigenen Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, der redet mindestens widersprüchlich. ({9}) Man könnte etwas pointierter auch sagen: Er heuchelt, und das nicht unerheblich. ({10}) Lassen Sie mich noch einmal zu den drei Komplexen des Zuwanderungsgesetzes kommen und die Positionen zu markieren versuchen. Zuwanderung auf dem Arbeitsmarkt. Hier ist die FDP meilenweit von der CDU entfernt. Wir liegen mit unserem abgewogenen Vorschlag ziemlich genau dazwischen. Wir wollen je nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes Arbeitsmigration in begrenztem Umfang zulassen. Die CDU/CSU legt jetzt einen neuen Änderungsantrag vor, in dem sie die Regelungen mit 1 Million Euro Investitionskapital und zehn Arbeitsplätzen bei Selbstständigen nicht mehr will. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ist es eigentlich Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, dass im letzten Gesetzgebungsverfahren genau diese Passage auf Wunsch der CDU/CSU ins Gesetz hineingekommen ist? Was können wir denn dafür, wenn Sie ein Jahr später nicht mehr wissen, was Sie früher gefordert haben? ({11}) Sie sind auch diejenigen, die ernstlich meinen, man könnte Höchstqualifizierte ins Land holen und ihnen sagen: Ihr bekommt eine Aufenthaltserlaubnis nur für drei Jahre, danach könnt ihr mit euren Familien oder auch allein wieder nach Hause gehen. ({12}) So werden wir hier keinen Erfolg haben. ({13}) Nächstes Stichwort: Integration. Hier stimmen wir ja überein, dass es wünschenswert wäre, auch diejenigen mit zu integrieren und ihnen Deutschkurse anzubieten, die schon länger in Deutschland leben und einen ausländischen Pass haben, und nicht nur denjenigen, die neu zu uns kommen. Aber wenn wir einen Rechtsanspruch für alle bereits in Deutschland lebenden Menschen ohne deutschen Pass begründen würden, könnte das im Ergebnis nicht nur sehr viel Geld von allen staatlichen Ebenen erfordern, namentlich vom Bund - das ist ja vor allen Dingen Ihre Vorstellung -, sondern es würde auch bedeuten, wir müssten am Tag des In-Kraft-Tretens, theoretisch am 1. Januar 2004, für „round about“ 2 Millionen Menschen Deutschkurse anbieten. Das kann niemand leisten, auch organisatorisch nicht. Wenn Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU oder auch von der FDP, Kollege Dr. Stadler oder Frau Ministerin, sagen, wir müssten hier sehr viel mehr machen, es habe Defizite gegeben, stimmen wir mit Ihnen überein. Wenn wir gemeinsam einen Weg finden, das zu bezahlen: noch besser. Aber eines können wir Ihnen hier nicht durchgehen lassen: Tun Sie bitte nicht so, als wäre es ein Versäumnis der rot-grünen Regierung oder der Mehrheit der letzten fünf Jahre, dass es ausländische Menschen gibt, die noch nicht ausreichend Deutsch können. Das sind die Folgen Ihrer Versäumnisse in den vergangenen Jahren. ({14}) Die FDP war, wenn ich mich richtig erinnere, als Juniorpartner auch über 40 Jahre an der Bundesregierung beteiligt und hat sich wohl in diesen Fragen nicht durchsetzen können. ({15}) Meine Damen und Herren, hier könnten wir sicher zu Kompromissen kommen, wenn es uns auch gelänge, das Geld zu finden. Lassen Sie mich noch einmal kurz zur Frage des Ausländerrechts kommen. Ich finde es bemerkenswert - ich muss das wiederholen -, wie viel Angst die CDU/CSU vor Kindern hat. ({16}) Wir reden hier über die Differenz zwischen zehn und zwölf Jahren beim Kindernachzugsalter. ({17}) Dabei geht es insgesamt um wenige hundert Kinder pro Jahr. Sie wollen sogar abschaffen, was wir ins Gesetz schreiben wollen, dass nämlich Ausnahmen möglich sind, wenn das Kindeswohl es erfordert oder wenn besondere familiäre Umstände vorliegen. Sie sind dagegen, das besagt einer Ihrer Änderungsanträge. Das ist Ihr Familienbegriff, jedenfalls wenn es um ausländische Menschen geht. ({18}) Dieses Gesetz, das wir erneut auf den Weg gebracht haben - darauf hat auch der Herr Bundesinnenminister hingewiesen -, ist bereits ein politischer Kompromiss. Wir haben im Beratungsverfahren im Innenausschuss 16 Änderungsanträge der CDU/CSU und elf Anregungen des Bundesrates aufgenommen. Darunter waren übrigens auch Änderungsanträge, die die Härtefallregelung betreffen, die nun wiederum von der CDU/CSU nicht gewollt wird. Wir haben außerdem die vier Brandenburger Punkte aufgenommen und sind dort Herrn Stolpe und Herrn Schönbohm weitgehend entgegen gekommen. Das hat, wie wir alle wissen, leider nicht gereicht. Deswegen muss ich erneut feststellen - Herr Kollege Koschyk, daher entschuldige ich mich nicht für das, was ich über Herrn Schönbohm gesagt habe, sondern wiederhole es -: ({19}) Es ist besonders bedauerlich, dass Herr Schönbohm, der sich laut „Berliner Zeitung“ vom 18. Januar 2002 ganz weit aus dem Fenster gelehnt hat, dann nicht zu seinem Wort gestanden hat. Auf die Frage, ob die große Koalition in Brandenburg bei der Begrenzung der Zuwanderung bei nicht staatlicher Verfolgung zustimmen würde, wenn wir uns auf Brandenburg zubewegen würden - das haben wir getan -, hat er gesagt: Ja, das sei die Linie, die abgestimmt sei, auch - man höre - mit dem CDU-regierten Saarland. Diese Zusage würden sie auch einhalten, wenn ihnen - wie es in den Beratungen des Innenausschusses geschehen ist - die Bundesregierung in der geforderten Weise entgegenkommen würde. Daraufhin wurde nachgefragt, ob nicht die Gefahr bestehe, dass er als Koalitionär bei einer Zustimmung in einen Zwiespalt geraten könne, schließlich sei er Präsidiumsmitglied in der CDU und gleichzeitig in einer Koalition mit der SPD. Er hat wörtlich geantwortet - ich nehme an, das Interview, bestehend aus Fragen und Antworten, ist von ihm so autorisiert -: Stoiber und die CDU wissen seit dem 20. Dezember, unter welchen Bedingungen wir nur zustimmen können. Das weiß auch die Bundesregierung. Jetzt kommt ein Satz, der für einen früheren Berufsoffizier besonders bemerkenswert ist: Weil wir altmodische Leute sind und halten, was wir sagen, kann man uns nicht zwischen die Fronten bringen. Hätte er das mal wahr gemacht! Wenn ich von Wortbruch spreche, dann ist das objektiv richtig. Sie hätten alle Veranlassung dazu, in diesem Gesetzgebungsverfahren etwas Wiedergutmachung zu leisten. Vielen Dank. ({20})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Strobl von der CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Herr Bundesinnenminister Schily und die Redner der rot-grünen Koalition haben eine ganze Reihe von Appellen an die Union gerichtet und uns gebeten, wir mögen dem rot-grünen Zuwanderungsgesetz doch zustimmen. Stur wie Panzer bringen Sie ein Gesetz ein, ({0}) von dem Sie aus den Beratungen im Deutschen Bundestag und im Bundesrat wissen, dass wir es ablehnen. Sie legen, obwohl Sie wissen, dass das Bundesverfassungsgericht dieses Gesetz aus formalen Gründen für verfassungswidrig erklärt hat, uns dieses Gesetz in der alten Fassung vor. Vor diesem Hintergrund sind die Appelle, die Sie an uns richten, doch scheinheilig. ({1}) Scheinheilig ist auch etwas anderes. Die Überschrift dieses Gesetzentwurfes lautet: Zuwanderung steuern und begrenzen - Integration fördern. Dem können wir zustimmen. Das Problem ist nur: In dem Gesetz steht das Gegenteil von dem, was die Überschrift verspricht. ({2}) Es soll nicht mehr gesteuert werden, sondern mehr ungesteuerte Zuwanderung ermöglicht werden. Dieses Zuwanderungsgesetz ist ein großer Etikettenschwindel. ({3}) Ihr Zuwanderungsgesetz ist kein Fall für das Bundesgesetzblatt, sondern für das Monatsblatt der Stiftung Warentest. Wenn dort der Inhalt Ihres Gesetzes auf Übereinstimmung mit der Überschrift geprüft würde, dann wäre das Ergebnis: nicht empfehlenswert. Darüber hinaus würden Sie wegen Irreführung des Verbrauchers auf der Titelseite stehen. Ein solches Gesetz werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({4}) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land. Wir wollen, dass Deutschland ein ausländerfreundliches Land bleiben kann. ({5}) Ich nenne hierzu einige Zahlen: Deutschland steht mit einem Ausländeranteil von 9 Prozent - das sind 7,3 Millionen Menschen; davon drei Viertel aus NichtEU-Staaten - an der Spitze der großen westlichen Industriestaaten. Insofern muss jedem verständigen Politiker doch vollkommen klar sein, dass unser Ziel eine verstärkte Steuerung und Beschränkung der Zuwanderung sein muss. Alles andere ist unverantwortliche Politik. Deshalb vertreten wir von der CDU/CSU einen grundsätzlich anderen Ansatz in der Zuwanderungspolitik als Sie von Rot-Grün. Wir wollen nämlich eine tatsächliche Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung. Dies soll nicht nur vorne auf dem Gesetz, sondern auch im Gesetz stehen. ({6}) Entgegen Ihren Behauptungen - insbesondere Behauptungen des Herrn Bundesinnenministers auch hier und heute von dieser Stelle aus - wollen Sie in Wahrheit keine verstärkte Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung. Die schlichte Wahrheit - das ist heute bei verschiedenen Debattenbeiträgen in Nebensätzen ein wenig durchgedrungen - ist: Sie wollen, dass Deutschland ein multikulturelles Einwanderungsland wird. ({7}) Wir wollen es nicht. Herr Kollege Schmidt, ich nenne Ihnen gerne ein paar Zahlen dazu. Nach dem In-Kraft-Treten des rot-grünen Zuwanderungsgesetzes - wir hoffen, dass es nicht in Kraft tritt ({8}) gäbe es beim jährlichen Zuwanderungssaldo ein Plus von bis zu 100 000 Menschen. ({9}) Ich nenne und wiederhole kurz die Gründe dafür, die die Kollegen Bosbach und Koschyk hier bereits dargestellt haben, nämlich ({10}) die deutliche Erweiterung im Bereich der Arbeitsmigration durch die Aufhebung des Anwerbestopps, weitere Möglichkeiten des Familiennachzugs, weitere Anreize zur ungesteuerten Zuwanderung durch Missbrauch des Asylrechts, eine erweiterte Härtefallregelung usw. ({11}) Das alles sind Regelungen, die die Zuwanderung nicht begrenzen, sondern ausweiten. ({12}) Legt man den derzeitigen und langfristigen Zuwanderungssaldo von 200 000 Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, stiege der Saldo der Zuwanderer mit dem neuen Recht auf jährlich circa 300 000 an. Nach den Berechnungen des Bevölkerungswissenschaftlers Rainer Münz von der Humboldt-Universität hier in Berlin ergäbe sich damit bis 2050 ein bundesweiter Ausländeranteil von 18 bis 20 Prozent. Das wäre mehr als eine Verdoppelung der Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland bezogen auf den derzeitigen Stand. Der Ausländeranteil würde in einer ganzen Reihe von großen Städten auf über 50 Prozent steigen. In vielen Großstädten wird der Anteil der Zugewanderten bei den unter 40-Jährigen im Übrigen schon ab 2010 bei über 50 Prozent liegen. ({13}) Bei Kindern und Jugendlichen wäre ein noch höherer Anteil zu erwarten. Durch eine Ausweitung der Zuwanderung würde die deutsche Bevölkerung in vielen Städten und Regionen zu einer Minderheit im eigenen Land. ({14}) - Herr Kollege, das malen nicht wir an die Wand und das sagen nicht nur wir, sondern das ist das Ergebnis, zu dem führende Bevölkerungswissenschaftler kommen. ({15}) - Sie wären vielleicht gut beraten, wenn Sie das, was uns die Bevölkerungswissenschaftler sagen und für die Zukunft prognostizieren, ({16}) zur Kenntnis nehmen und nicht nur Ihrer Ideologie frönen würden. ({17}) Welche Prioritäten Rot-Grün verfolgt, kann man im Übrigen auch an der überaus nachlässigen Behandlung des Themas Integration sehen. Der Bund zieht sich aus der Integration zurück. ({18}) Das ist nicht nur ein Zuwanderungserweiterungsgesetz, sondern auch ein Kostenverteilungsgesetz zulasten der Länder und insbesondere der Kommunen. Auch dies können wir nicht akzeptieren. ({19}) Meine Damen und Herren, eine Bemerkung des Kollegen Beck, die er hier heute wiederholt hat, war interessant: Die Union sei in der Zuwanderungsfrage völlig isoliert. ({20}) Ich möchte Ihnen hierzu nur sagen, dass eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger die Ausweitung der Zuwanderung ablehnt. ({21}) Nach einer Emnid-Umfrage im Januar 2002 sind 75 Prozent der Befragten für eine Beschränkung der Zuwanderung. In einer Umfrage im März 2002 sagten 52 Prozent, dass ihnen der Ausländeranteil in Deutschland zu hoch sei. ({22}) Das Institut für Demoskopie Allensbach hat im Februar 2003 ermittelt, dass 62 Prozent der Bevölkerung von einem Zuwanderungsgesetz die Verringerung des Zuzugs von Ausländern aus Nicht-EU-Staaten erwarten. Weil auch wir genau das wollen, ist die Union nicht isoliert. Sie bringt vielmehr das zum Ausdruck, was eine Mehrheit der Bevölkerung in dieser Frage denkt. ({23}) Thomas Strobl ({24}) Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, haben keine Unterstützung für die von Ihnen geplante generelle Öffnung des Arbeitsmarktes. Sie haben heute noch weniger Unterstützung als vor einem Jahr, weil die Arbeitslosenzahl inzwischen bei knapp 5 Millionen angelangt ist. Deswegen betreiben Sie mit Ihrem Zuwanderungsgesetz fortgesetzt Etikettenschwindel. In der Überschrift zu diesem Gesetz steht „Steuerung und Begrenzung“, aber im Gesetz selbst haben Sie reihenweise Tatbestände geschaffen oder ausgeweitet, die das genaue Gegenteil bewirken, nämlich Ausweitung und Entgrenzung von Zuwanderung. Den von Ihnen behaupteten breiten gesellschaftlichen Konsens in dieser Frage gibt es nicht; dies ignoriert die Haltung der Bürgerinnen und Bürger. Rot-Grün ist im Übrigen der Volkswille ziemlich egal. Deswegen waren Sie bereit - der Kollege Bosbach hat darauf zu Recht hingewiesen -, die Verfassung zu brechen, um Ihre Politik gegen den Willen der großen Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen, ({25}) so wie dies Herr Wowereit auf Geheiß des Bundeskanzlers bei der Abstimmung zum Zuwanderungsgesetz im Bundesrat getan hat. ({26}) Hören Sie doch auf die Fachleute! Hören Sie doch auf die vielen kritischen Stimmen in Wissenschaft und Politik! Wenn Sie schon nicht auf sie hören, dann hören Sie wenigstens auf einen verdienten Genossen: Wir haben unter idealistischen Vorstellungen, geboren aus der Erfahrung des Dritten Reichs, viel zu viele Ausländer hereingeholt ..., die nicht integriert sind, von denen die wenigsten sich integrieren wollen, denen auch nicht geholfen wird, sich zu integrieren. So sprach Altbundeskanzler Helmut Schmidt, SPD. Ich sage Ihnen: Der Mann hat Recht. Wir wollen einen anderen, aus unserer Sicht realistischen Weg gehen. ({27}) Unbemerkt von der Öffentlichkeit vollzieht sich auf der Ebene der EU ein besonders trauriges Kapitel. Sie stimmen Regelungen auf EU-Ebene zu oder widersetzen sich ihnen jedenfalls nicht, mit denen die Zuwanderung ausgeweitet werden soll. Ihr Motto lautet wohl: Wenn wir unser Zuwanderungsrecht in Deutschland nicht in unserem Sinne verändern können, dann bleibt uns noch immer die Möglichkeit, dies auf europäischer Ebene durchzusetzen. ({28}) Herr Kollege Beck hat dies Ende letzten Jahres in der „Welt“ zum Ausdruck gebracht: Dann können wir besser mit dem geltenden Ausländerrecht leben und mit den Regelungen, die auf europäischer Ebene kommen. Nachtigall, ich hör dir trapsen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Strobl, bitte kommen Sie zum Schluss.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Es war schon ein starkes Stück, als der Herr Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Körper, gestern im Deutschen Bundestag der deutschen Öffentlichkeit verkaufen wollte, dass wir durchaus die Möglichkeit hätten, das Nachzugsalter auf unter zwölf Jahre zu senken. ({0}) Dabei ist allgemein bekannt, dass dies aufgrund von EURecht nicht mehr möglich ist. Dies hat im Übrigen Frau Staatssekretärin Vogt am Vormittag desselben Tages im Innenausschuss des Deutschen Bundestag auch so dargestellt. Herr Bundesinnenminister, nur einer Ihrer Staatssekretäre kann in dieser Frage Recht haben. Es wäre schön gewesen, wenn Sie hier im Plenum des Deutschen Bundestages heute Morgen ein klärendes Wort zu dieser Frage gesagt hätten. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Strobl, das war ein guter Schluss. Vielen Dank. ({0})

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Philip Winkler vom Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Strobl, obwohl Sie so gerne Herrn Birk zitieren, muss ich Ihnen heute zumuten, dass Leute wie ich am Rednerpult des Deutschen Bundestages stehen. Das sollte nicht die Ausnahme bleiben, sondern - Herrn Birk wird dies vielleicht ärgern - in Zukunft noch deutlich häufiger der Fall sein. ({0}) Nach der Greencard-Initiative des Bundeskanzlers und der Einsetzung der parteiübergreifenden Unabhängigen Kommission Zuwanderung hat die Bundesregierung ein Zuwanderungsgesetz verabschiedet. Der vorgelegte Gesetzentwurf ist das Ergebnis der Einbeziehung aller, auch der christdemokratischen Parteien. Dieses Gesetz markiert - bei aller Kritik in Einzelpunkten - einen Paradigmenwechsel hin zu einem Einwanderungsland Deutschland. ({1}) In dem Gesetz wird Integration als gesellschaftliche Aufgabe anerkannt. Die Zuwanderung von Arbeitskräften wird durch ein modernes Auswahlverfahren sowie eine Abkehr von der Politik des Anwerbestopps vernünftiger und deutlich demokratischer geregelt. Die humanitären Verpflichtungen, insbesondere im Flüchtlingsrecht, werden nunmehr umfassend und uneingeschränkt beachtet. Zum ersten Mal erkennt eine Bundesregierung die Realität an, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland ist. ({2}) Herr Koschyk, Ihrer Interpretation der französischen Einwanderungsgesetzgebung kann ich nicht ganz folgen. Schauen Sie sich doch einmal die französische Nationalmannschaft an: Bei ihrer Farbenpracht implodiert jeder Farbfernseher. ({3}) - Familienzusammenführungspolitik. Herr Bosbach, Sie sprachen vom Volkswillen, der bei der Gesetzgebung befolgt werden müsse. Hinsichtlich der Außenpolitik interessiert Sie der Volkswille überhaupt nicht. Sie haben jeden Anspruch verwirkt, den Willen des Volkes für sich in Anspruch zu nehmen. ({4}) Schauen Sie sich doch einmal in Ihrem eigenen Bekannten- und Verwandtenkreis um: Die deutsche Gesellschaft wandelt sich. Ich finde, das ist richtig so. ({5}) In Zeiten der Globalisierung ist es ein Irrglaube, zu denken, dass man Wanderungsbewegungen komplett stoppen kann. Da die Möglichkeiten zur Mobilität und Kommunikation in Zukunft nicht abnehmen, sondern zunehmen werden, werden wir es in Zukunft verstärkt mit einem Mosaik unterschiedlicher Traditionen, Religionen und Lebensgewohnheiten in Deutschland zu tun haben. Eine Abschottungspolitik, wie sie in den Änderungsanträgen, die von den unionsregierten Ländern im Bundesrat eingebracht wurden, zum Ausdruck kommt, kann diese Entwicklung nur verzögern, jedoch nicht verhindern. Der Geist, der hinter einigen Ihrer Anträge steckt, meine Damen und Herren von der Union, ist jedoch gefährlich. Sie ignorieren, dass in unserem Land inzwischen die dritte Generation der Einwanderer herangewachsen ist. Diese Generation tritt mit viel Selbstbewusstsein auf und lässt es sich nicht mehr so leicht gefallen, herumgeschubst zu werden. Bei diesen jungen Menschen tritt ein anderes Selbstverständnis zutage als noch bei ihren Eltern. Sie verstecken sich nicht mehr, sondern stellen legitime Forderungen. ({6}) Diese jungen Migrantinnen und Migranten wollen, dass ihre Art zu leben in der Gesellschaft als eine Form unter anderen akzeptiert und anerkannt wird. Sie wollen von der hiesigen Gesellschaft nicht mehr - auch nicht von Ihnen - durch die Brille der 60er-Jahre gesehen werden. Unter den neuen Inländern gibt es Vertreter aller Berufsgruppen. Sie alle werden ihren Beitrag zur Weiterentwicklung unserer Gesellschaft leisten. Wenn wir ihnen diese Chance geben und sie dabei aktiv fördern, werden sie uns helfen, Brücken nicht nur zwischen der ersten Einwanderergeneration und der Mehrheitsgesellschaft zu bauen, sondern auch zwischen dem Herkunftsland und der Aufnahmegesellschaft. In diesem Sinne gebe ich die Hoffnung auf das Zustandekommen eines breiten Konsenses nicht auf, obwohl Sie, meine Damen und Herren von der Union, mit Ihren Anträgen das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Sie verschließen weiterhin die Augen vor der gesellschaftlichen Realität und den Herausforderungen einer Einwanderungsgesellschaft. Sie fallen mit dieser Verhandlungsgrundlage zudem - das wurde schon gesagt - weit hinter die Beschlüsse Ihrer eigenen Zuwanderungskommission zurück. Bezogen auf Ihre Anträge will ich ein persönliches Beispiel anführen: Mit dem Antrag bezüglich des Staatsbürgerschaftsrechts wird von Ihnen eine ganze Generation hier lebender junger Menschen, die in diesem Land geboren wurden, aus der Gesellschaft ausgeschlossen und ihr jede Integrationschance verbaut, weil Sie der zweiten Generation die Einbürgerungschance verwehren wollen. Das geht so nicht. ({7}) Ich bin stolz, der Sohn einer indischen Mutter zu sein. Ich bin aber auch stolz, ein deutscher Volksvertreter zu sein. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Integrationswilligkeit und die Integrationsfähigkeit - Sie sprechen sie dieser ganzen Generation junger Menschen ab von Ihnen nicht richtig eingeschätzt wird. Sie sollten sich da bewegen. ({8}) Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und Unsicherheiten darf ein solcher Weg nicht beschritten werden, wenn die Zukunft in einem weltoffenen Europa gemeinsam gestaltet werden soll. Wir, die rot-grüne Koalition, wollen ein modernes, sozial verträgliches, europataugliches und humanes Zuwanderungsgesetz, das den Realitäten dieses Landes gerecht wird. Sie sind herzlich eingeladen, sich dem anzuschließen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Winkler, ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Lale Akgün von der SPD-Fraktion.

Dr. Lale Akgün (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003492, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem Haus wird das Zuwanderungsgesetz heute zum zweiten Mal beraten. Dass es beim ersten Mal nicht zu einem parteiübergreifenden Konsens kommen konnte, hatte damit zu tun, dass die Bundestagswahl vor der Tür stand. Ihnen, werte Kollegen von der CDU/CSU, war es wichtig, das Thema Zuwanderung zum Wahlkampfthema machen zu können. Sie haben sich dabei alle Mühe gegeben, die Aufgaben der Politik misszuverstehen. Sie haben nicht die Ängste der Menschen aufgenommen, sondern Sie haben sie geschürt und instrumentalisiert. ({0}) Der Wahlkampf auf dem Rücken der Menschen ist Ihnen aber nicht gelungen; Sie haben die Bundestagswahl verloren. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, dass der Wahlkampf vorbei ist, und kehren Sie zu einer konstruktiven Politik zurück! Denn das Thema Zuwanderung ist langfristig von zu großer Bedeutung, um es in Bundestags- oder Landtagswahlen für kurzfristige Interessen zu verschleißen. ({1}) Ein Blick in den Bericht der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ aus der vergangenen Legislaturperiode zeigt Ihnen, dass es sich um einen generationenübergreifenden Politikansatz handeln muss, der langfristige Planung und ein langfristig angelegtes Gesetz notwendig macht. In diesem Zusammenhang - weil wir den Bericht der Integrationsbeauftragten heute mitberaten - möchte ich mich bei Frau Beck herzlich dafür bedanken, dass sie einen so konkreten und detaillierten Bericht vorgelegt hat, der eine hervorragende wissenschaftliche Grundlage für unsere Arbeit darstellt. ({2}) Ihrer Haltung, werte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, kann ich leider kein Lob aussprechen. Ihre Haltung ist nicht nur wahlkampfgesteuert, sondern sie zeigt ein viel tiefer sitzendes Problem in Ihren Reihen. Sie sind von einem tiefen Misstrauen gegen jedes Fremde und Neue und speziell gegen Ausländer in unserem Land besetzt. Wenn ich Ihre Redebeiträge verfolge, so scheinen Sie tatsächlich zu glauben, jeder Zuwanderer habe nur das Ziel, Deutschland maximalen Schaden zuzufügen. ({3}) So kommen Sie zu dem Schluss, dass man jede nur erdenkliche Hürde gegen die Zuwanderung in das Gesetz aufnehmen muss, um Zuwanderern das Leben in Deutschland zu erschweren. ({4}) Anders kann ich mir Ihre Änderungsanträge im Beratungsverfahren des Bundestages und Bundesrates nicht erklären, in denen Sie die Hürden für Zuwanderung und Integration verdoppeln und gleichzeitig jede Erleichterung halbieren. ({5}) Wie sieht die Realität in unserem Land aus? Heute besitzt fast jeder zehnte Mitbürger einen nicht deutschen Pass. Es gibt mehr als 800 000 binationale Ehen. Mehr als jeder fünfte Ausländer ist bereits in Deutschland geboren; bei den Türken ist es bereits mehr als jeder dritte. Das heißt, Deutschland ist ein Einwanderungsland. Das ist die Realität, auch wenn Sie vor dieser Wahrheit den Kopf in den Sand stecken. Aber weil dies die Realität ist, gilt es nicht zu regeln und zu definieren, ob, sondern wie die Zuwanderung stattfindet und wie wir die Zugewanderten bestmöglich integrieren. Genau dies und nichts anderes regelt dieses Gesetz. ({6}) Sie haben das Argument gebracht, Herr Strobl, Deutschland werde überfremdet, weil der Ausländeranteil in manchen Großstädten in den nächsten Jahrzehnten auf bis zu 50 Prozent ansteige. ({7}) Dieser Denkweise kann man aber nur dann verfallen, wenn man wie Sie meint, Ausländer bleiben immer Ausländer, über Generationen hinweg. Wir hingegen meinen: Die Menschen, die in dritter oder vierter Generation bei uns sind, sind keine Ausländer. Sie sind in dieser Gesellschaft geboren und aufgewachsen. Sie werden als Deutsche geboren, weil wir das dank unserem republikanischen Denken mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht ermöglicht haben, während Sie immer noch einem Denken in ethnischen Schubladen verhaftet sind. ({8}) Dieser Denkweise kann man aber nur dann verfallen, wenn man wie Sie meint, Ausländer bleiben immer Ausländer, über Generationen hinweg. Wir hingegen meinen: Die Menschen, die in dritter oder vierter Generation bei uns sind, sind keine Ausländer. Sie sind in dieser Gesellschaft geboren und aufgewachsen. Sie werden als Deutsche geboren, weil wir das dank unserem republikanischen Denken mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht ermöglicht haben, während Sie immer noch einem Denken in ethnischen Schubladen verhaftet sind. ({9}) Ich möchte noch ein Beispiel nennen, bei dem Sie sich irren. Das Flüchtlingsrecht wird an internationale Standards angepasst. Die Anerkennung von nicht staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung bringt keine Zunahme der Flüchtlingszahlen, sondern sie schafft lediglich Rechtsklarheit für diejenigen, die aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention ohnehin nicht ausgewiesen werden. ({10}) Herr Lubbers, der Vertreter des UNHCR in Deutschland, hat gestern noch einmal betont, die Genfer Flüchtlingskonvention kenne keinen Unterschied zwischen staatlicher und nicht staatlicher Verfolgung. Die CDU wolle einen Sonderweg, der in die völlige Isolation führe. Seien wir doch ehrlich, es geht letztlich darum, einigen Hundert, vielleicht wenigen Tausend Menschen, die grausamste Verfolgung hinter sich haben, ein Stück mehr Rechtssicherheit zu geben. Warum betreiben Sie hier Fundamentalopposition? Wie kann Ihre christliche Seele diese Menschen ernsthaft als Bedrohung ansehen? ({11}) Ich sage nur: Schämen Sie sich dafür! ({12}) Rechtssicherheit und gesetzgeberische Klarheit für unser Land und für diejenigen Menschen, die zu uns kommen, heißt übrigens auch, Integration zu erleichtern; denn die Zuwanderer wissen, was auf sie zukommt, und können somit ihre Zukunft in Deutschland gestalten. Deshalb wollen wir ein Integrationskonzept für diejenigen, die zu uns kommen, mit Sprachkursen als wichtigem, aber nicht alleinigem Baustein. Wir wollen des Weiteren einen Rechtsanspruch auf Integration, weil wir eine bestimmte Vorstellung von Integration haben. Für uns ist Integration Teilhabe in allen Lebensbereichen und Mitgestaltung der Lebensperspektiven in diesem Land. Wir wollen und werden diese Vision in konkrete Politik umsetzen. Sie hingegen verkaufen die Bilder von gestern als Politik von morgen. In jüngster Zeit wird wieder einmal die PISA-Studie zitiert, wenn es darum geht, die Defizite von Migrantenkindern bei Sprache und schulischen Leistungen herauszustellen. Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, beschränken sich darauf, darüber zu lamentieren. Wir hingegen handeln, indem wir bei der Sprachkompetenz ansetzen, und zwar schon vor Beginn des Schulbesuchs. Verstärkte Kindergartenbetreuung und unsere Politik zur Förderung von Ganztagsschulen sind die logischen Resultate aus dem Rechtsanspruch auf Integration. ({13}) Übrigens, die Sozialdemokraten haben Erfahrungen mit Integrationsoffensiven. Denken Sie an die Bildungsoffensive der 70er-Jahre, mit der wir den Zugang zu Bildung für Arbeiterkinder, insbesondere den Zugang zu Gymnasien, verstärkt haben. Ich bin mir sicher, dass sich in allen Fraktionen dieses Hauses Abgeordnete finden lassen, die damals davon profitiert haben. Das gleiche Engagement wünsche ich mir heute, wenn wir die Integrationsoffensive für die Kinder und Jugendlichen der Migranten beginnen. So selbstverständlich es heute ist, dass ehemalige Arbeiterkinder hier Gesetze beschließen, so selbstverständlich sollte es in 30 Jahren sein, dass Kinder ehemaliger Migranten als deutsche Juristen, Wissenschaftler und Fachleute in diesem Hohen Hause beraten. ({14}) Ich weiß, dass wir Erfolg damit haben werden; denn wir Sozialdemokraten glauben an Chancengleichheit und wissen, wie man sie umsetzt. Herr Bosbach, noch einem anderen Argument möchte ich entgegentreten, nämlich dem, dass Ausländer stärker von Arbeitslosigkeit betroffen seien und häufiger Sozialhilfe bezögen. Das stimmt zwar, aber an eines sollten Sie sich erinnern: Als die Anwerbeabkommen geschlossen worden sind, hat nicht die SPD regiert. Damals wurden Menschen in der Schwerindustrie, im Bergbau für den Einsatz unter Tage und in der Stahlindustrie gesucht. Es wurden ungelernte Arbeitskräfte gebraucht und solche wurden auch angeworben. Sie sind heute vom Strukturwandel besonders stark betroffen, weil in sie nicht investiert worden ist und weil sie nicht aus- und weitergebildet worden sind. Daraus kann man ihnen keinen Vorwurf machen; denn wir hatten damals keine Konzepte für Integration und Deutschland stand nicht auf der Agenda. Das ist die Wahrheit. Ich sage bewusst: „Wir“ hatten keine Konzepte für Integration; denn auch die SPD hat damals über die Bedeutung von Integration nicht nachgedacht. Wir wollen mit unserem Gesetz erreichen, dass wir aus unseren Fehlern lernen und künftig der Integration der Einwanderer vom ersten Tag an die ihr gebührende Bedeutung beimessen. Ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam aus unseren Fehlern lernen. „Stolz“ ist doch ein ganz wichtiger Begriff für Sie. Sorgen Sie deshalb dafür, dass Deutschland auch stolz auf seine Opposition sein kann. Springen Sie über Ihren Schatten und stimmen Sie mit uns für unseren Gesetzentwurf! ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Akgün, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/420, 15/522, 14/9883, 15/538 und 15/368 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- den? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie Zusatzpunkt 1 auf: 4 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1}) - zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Kopenhagen am 12. und 13. Dezember 2002 - zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Gerd Müller, Michael Stübgen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Der Weg für die Osterweiterung ist frei: Abschluss der Beitrittsverhandlungen auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen - zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel Bahr ({2}), Ernst Burgbacher, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP Historischer Erweiterungsgipfel verstärkt Druck auf innere Reformen der Europä- ischen Union - Drucksachen 15/215, 15/195, 15/216, 15/451 - Berichterstattung: Abgeordnete Günter Gloser Rainder Steenblock b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Der europäischen Verfassung Gestalt geben Demokratie stärken, Handlungsfähigkeit erhöhen, Verfahren vereinfachen - Drucksache 15/548 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({3}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Claudia Winterstein, Jürgen Türk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Das neue Gesicht Europas: Kernelemente einer europäischen Verfassung - Drucksache 15/577 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Redner hat der Kollege Peter Hintze von der CDU/CSUFraktion. ({5})

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Europa ist gestern von einem feigen Mordanschlag auf den serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic erschüttert worden. Wir trauern um einen mutigen Politiker, der für den Demokratieprozess in seinem Land und damit auch für Europa einen bleibenden Beitrag geleistet hat. Die Konstante des Zoran Djindjic war der Kampf für Demokratie und gegen Diktatur. Wir setzen darauf, dass die Mörder rasch gefasst werden und dass ihr Anliegen scheitert. Politische Instabilität in einem Teil Europas betrifft in seinen Auswirkungen den ganzen Kontinent. Die äußerst fragile Stabilität auf dem Balkan muss mithilfe und im Interesse Europas gehalten und gefestigt werden. Ich begrüße es außerordentlich, dass der EU-Außenbeauftragte Javier Solana bereits heute nach Belgrad reist, um der Regierung bei ihrer Reformbemühung zu helfen. Der Demokratisierungsprozess im ehemaligen Jugoslawien braucht unsere weitere Unterstützung. ({0}) 2003 wird als das Jahr der europäischen Weichenstellungen in die Geschichte eingehen. Wir stehen vor der bislang größten Erweiterung der Europäischen Union. Zugleich wollen wir Europa mit einer Verfassung ein neues Gesicht geben und es nach innen und nach außen stark für die Zukunft machen. Schließlich führt uns in diesen Tagen der Irakkonflikt vor Augen, welche außenund sicherheitspolitischen Herausforderungen die Europäische Union in den kommenden Jahren zu bewältigen hat. Die zentrale Frage, vor der wir heute stehen, lautet: Wie machen wir Europa angesichts neuer Herausforderungen zu einer wirtschaftlich, politisch und kulturell starken Gemeinschaft? Der Erfolg der Europäischen Union beruht auf zwei Einsichten: Das europäische Projekt kann nur gelingen, wenn der Gemeinschaftsgedanke die nationalen Partikularinteressen überwiegt. ({1}) Und: Europa ist auf eine enge transatlantische Partnerschaft ebenso angewiesen wie Amerika auf einen starken europäischen Pfeiler. Seit Konrad Adenauer zeichnet eine kluge Politik aus, dass sie die Interessen Deutschlands am besten in einem versöhnlichen Ausgleich und in einer herzlichen Freundschaft mit Frankreich und zugleich in einer festen Verbindung mit den Vereinigten Staaten von Amerika aufgehoben sah. Ich halte es für ein Gebot der Vernunft, an dieser Einsicht in der deutschen Politik festzuhalten. ({2}) Es war ein verhängnisvoller Fehler, dass die Bundesregierung mit dieser Kontinuität gebrochen hat. Sie hat sich in den vergangenen Monaten dazu hinreißen lassen, dieses Prinzip der doppelten Bindung auf dem Altar des Wahlkampfes zu opfern. Was wir damit erleben, ist ein verhängnisvoller Paradigmenwechsel in der deutschen Politik, nämlich eine Goslarisierung unserer gesamten Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik. ({3}) Ich will zur Erregung der Kollegen von Rot-Grün sagen: Es ist schon ein trauriger Vorgang, wenn sich ein deutscher Bundeskanzler im Wahlkampf dazu hinreißen lässt, alle politischen Prinzipien der Kanzler von Konrad Adenauer über Willy Brandt bis Helmut Kohl in einer einzigen Rede zu zertrümmern und damit die Axt an die Wurzeln der NATO und der Europäischen Union zu legen. ({4}) Mit ihrer „Ohne uns, egal was kommt“-Rhetorik hat die Bundesregierung die bisher größte Vertrauenskrise in den transatlantischen Beziehungen hervorgerufen und eine gemeinsame europäische Position verhindert. ({5}) Darin liegt das Problem in der derzeitigen europa- und außenpolitischen Debatte. Die Schuld dafür liegt bei Deutschland. Um der Gerechtigkeit willen möchte ich sagen: Dafür trägt Großbritannien eine Mitverantwortung. Beide haben sich vor Kenntnis der Fakten und vor dem Austausch untereinander festgelegt: Großbritannien war auf jeden Fall für, Deutschland war auf jeden Fall gegen einen militärischen Einsatz. Dadurch wurde die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Position verhindert. Das war ein schwerer Fehler. ({6}) Heute sprechen wir auch über den Konvent. Ich hoffe und erwarte - ich will es meinem Kollegen Peter Altmaier ans Herz legen -, dass in die Verfassung für die Europäische Union ein Grundsatz aufgenommen wird, der es der Union ermöglicht, erst einmal eine gemeinsame Position zu formulieren, bevor nationale Widersprüche auftreten. ({7}) Dass diese Position im zweiten Schritt von dem einen oder anderen Staat dann möglicherweise nicht mitgetragen wird, das ist etwas anderes. Aber wir halten es für falsch, das Projekt Europa derart infrage zu stellen, dass das gemeinsame Handeln durch ein Veto konterkariert wird, bevor die Chance auf gemeinsames Handeln besteht. ({8}) Ein zweiter Komplex spielt hier eine große Rolle. Wir stehen vor der größten Erweiterung in unserer Geschichte. Was sollen eigentlich die Länder, die der Europäischen Union bald beitreten werden, von der Art halten, wie sie bei uns aufgenommen werden und wie wir mit ihnen umgehen? Haben sie nicht eine faire Partnerschaft und eine faire Beteiligung verdient? Was haben sie stattdessen erfahren? Sie haben dafür Kritik erfahren, dass sie es gewagt haben, sich in dieser Schicksalsfrage, die auch sie angeht, zu äußern und ihr eigenes Interesse zu formulieren. Die Europäische Union muss eine Gemeinschaft von Gleichen sein. Da kann es nicht Europäer erster und zweiter Klasse geben. Es muss heißen: Als Schicksalsgemeinschaft stehen, beraten und handeln wir zusammen. ({9}) Es mag sein, dass die Beitrittsstaaten etwas in guter Erinnerung haben, was bei uns in Vergessenheit geraten ist: dass nämlich die Neuordnung in Europa, die Überwindung des Eisernen Vorhangs, die Niederringung der Diktatur und das Engagement, das die Vereinigten Staaten von Amerika in Europa zur Herstellung einer friedlichen und freiheitlichen Ordnung gezeigt haben, sehr wohl etwas miteinander zu tun haben. Ich füge hinzu: Es wäre gut, wenn sich auch die deutsche Regierung an dieses Handeln Amerikas für und in Europa erinnerte. ({10}) Das Referendum in Malta war ein erstes Signal dafür, dass Europa von den Menschen in den Beitrittsländern angenommen wird. Weitere Referenden stehen jetzt auf der Tagesordnung. Sie werden umso erfreulicher für uns sein, je weniger wir das Vertrauen der Menschen in ein solidarisches und faires Europa enttäuschen und je deutlicher wir machen: Die Länder, die zu uns kommen, verstehen wir als einen Gewinn, als eine kulturelle und politische Bereicherung. Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, es seien im Grunde Störenfriede, die wir an unseren wichtigen Beratungen nicht beteiligen wollten. ({11}) Es scheint mittlerweile zum guten Ton zu gehören, den Vereinigten Staaten von Amerika Unilateralismus und Hegemonialstreben vorzuwerfen und Europa gegen die USA auszuspielen. Dabei entsteht der fatale Eindruck, dass nicht Saddam Hussein - er hat seine Nachbarstaaten überfallen und 17 UN-Resolutionen gebrochen -, sondern die Vereinigten Staaten das Problem seien. Damit werden die Tatsachen auf den Kopf gestellt. ({12}) Es waren die USA, die nach dem 11. September 2001 einen Primat der Diplomatie bewiesen und für eine internationale Koalition gegen den Terror gesorgt haben. Es waren die USA, die mit der UN-Resolution 1441 den Grundstein für eine wirksame Abrüstung des Irak gelegt haben. Es sind die USA, die, zusammen mit Großbritannien, für eine weitere UN-Resolution werben, um den Diktator in Bagdad zur Kooperation zu zwingen und eine sich möglicherweise als notwendig erweisende militärische Intervention völkerrechtlich zu legitimieren. Statt auf unsere Freunde zuzugehen und zusammen mit den USA und Großbritannien einen politischen Kompromiss im Weltsicherheitsrat zu suchen, schmiedet diese Bundesregierung Koalitionen mit Moskau und Peking gegen unseren wichtigsten sicherheitspolitischen Partner ({13}) und belastet damit auch das Zusammenwirken in Europa auf erhebliche Weise. ({14}) Ich habe die Sorge, dass bei alldem der zivilisatorische Kern des Völkerrechts aus den Augen verloren wird. Die schrecklichen Erfahrungen aus zwei Weltkriegen mit zwei menschenverachtenden Diktaturen lehren uns: Eine friedliche Ordnung der Welt gelingt nur auf der Grundlage allgemein verbindlicher Normen. Sie funktioniert nur dann, wenn die internationale Gemeinschaft bereit und in der Lage ist, ihre Regeln durchzusetzen. Wem an einer Durchsetzung des Völkerrechts gelegen ist, der muss freilich wissen, dass die Völkergemeinschaft hierbei auf die Vereinigten Staaten von Amerika angewiesen ist. Sie sind die einzige demokratisch legitimierte Macht, die in der Lage ist, den Beschlüssen der Vereinten Nationen Geltung zu verschaffen. Ich will uns hier ganz ruhig sagen: Eine Demütigung der USA und ein Triumph des Diktators von Bagdad würden die Welt erheblich gefährlicher machen, gerade für uns in Europa. ({15}) Der hehre Wunsch nach einer multipolaren Welt führt in die Irre. Mit ihm verkommt das Völkerrecht zu einer bloßen Hülle; denn es suggeriert eine politisch-moralische Gleichordnung von Demokratie und Diktatur und dass es egal sein kann, mit wem wir kooperieren, Hauptsache, es sind Mächte. Das ist nicht unsere Auffassung, meine Damen und Herren; denn damit würden wir unser Schicksal letztlich in die Hände von Unrechtsstaaten legen, für die das Völkerrecht immer nur ein taktisches Instrument ist. Freiheit und Zivilisation dürfen nie zum Spielball von Unrechtsregimen werden. Wir würden einen schweren Fehler machen, wenn wir es in der aktuellen Krise dahin trieben, dass etwa die Vereinigten Staaten von Amerika nicht mehr bereit wären, wie sie es auf dem Balkan, in Afghanistan und mit Leib und Leben für uns in Europa waren, für Freiheit und gegen Diktatur einzutreten. ({16}) Es wird Zeit, dass Deutschland seine Koordinaten wieder richtig setzt und wir uns die Frage stellen: Wem wollen wir uns anvertrauen, wenn es um elementare Gefahren für die Zivilisation durch Terrorismus, Diktatur und Massenvernichtungswaffen geht? Diesen Gefahren können Europa und Amerika nur gemeinsam begegnen. Wenn wir da eine Stimme haben wollen, wenn wir das mitbestimmen und mitgestalten wollen, dann müssen wir für die Voraussetzungen sorgen. Das heißt, dass wir erstens in einer fairen Weise in Europa zu einer gemeinsamen Haltung finden müssen - gegen diesen Grundsatz ist verstoßen worden - und dass wir zweitens dafür sorgen müssen, dass wir in der Lage sind, in einer Welt, die sich geändert hat, in der es neue und gefährliche Bedrohungsszenarien gibt, zu handeln. Wir dürfen nicht nur wirtschaftlich stark und ansonsten verletzlich sein, sondern müssen auch die Fähigkeiten haben und schaffen, in Krisen der Welt mit einzugreifen und mitzuhelfen, damit diese Krisen nicht die Welt erfassen, sondern wir die Krisen bewältigen. Die Antwort muss eine weitere Integration sein. Hier ist der Verfassungskonvent aufgefordert, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu mehr zu machen als zu einem Nebeneinander von 15, 25 oder noch mehr nationalen Außen- und Sicherheitspolitiken. Es kommt darauf auf, dass wir unsere Kräfte bündeln, dass wir beispielsweise das Nebeneinander unserer Streitkräfte in ein Miteinander führen - erster Schritt: europäische Eingreiftruppe auch als Teil der NATO-Response-Force, zweiter Schritt: eine europäische Armee -, und dass wir unsere Soldaten, wenn wir sie mit diesem wichtigen Auftrag in die Welt senden, auch mit einem Material ausstatten, das sie schützt, statt mit einem veralteten Material, das sie gefährdet. ({17}) Deswegen lautet unser Appell an die Bundesregierung: Es besteht die Fürsorgepflicht, dass diejenigen, die für Recht und Freiheit eintreten, auch vernünftig ausgerüstet werden. ({18}) Europa ist nicht in bester Verfassung, aber ich habe die Hoffnung, dass wir mithilfe des Konvents eine gute Verfassung bekommen, die die Dinge zum Besseren wendet. Es ist jedenfalls aller Anstrengungen wert, Europa transparenter, effizienter und demokratischer zu gestalten. Ich danke den deutschen Mitgliedern des Konvents dafür - sie kommen aus dem Europäischen Parlament, dem Bundestag und der Regierung -, dass sie daran arbeiten, eine solche Verfassung zu entwickeln, die diesen Namen auch verdient. Europa kann jedenfalls stolz darauf sein. Ich freue mich für meine Fraktion, dass Peter Altmaier, der in Brüssel im Konvent zusammen mit seinen Kollegen eine erstklassige Arbeit leistet, gleich unsere Position im Einzelnen skizziert. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Hintze, kommen Sie bitte zum Schluss.

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich komme zum Schluss meiner Rede. Europapolitisch sollten wir bei der Erarbeitung der Verfassung und in unserem konkreten Tun alles daransetzen, unsere Handlungsfähigkeit zu erweitern und das Leben sowie das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wohlergehen der Bürger Europas zu bewahren. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Roth von der SPD-Fraktion.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich würde gern mit Ihnen über die Chancen Europas und darüber sprechen, wie wir Europa gemeinsam voranbringen können; denn die Erweiterung der EU muss jetzt durch eine substanzielle Vertiefung der Integration flankiert werden. Das war und ist eine Grundregel deutscher Europapolitik. Ich hoffe, dass darüber Konsens in diesem Hause besteht. Was drohte sonst? Wir hätten sonst Stillstand, schlimmstenfalls den schleichenden Zerfall des europäischen Einigungswerks. Darüber, dass wir Letzteres nicht wollen, sind wir einer Meinung. Mit der Erweiterung werden sich das Gesicht und die Chancen Europas grundlegend verändern. Mit Energie und Beharrlichkeit muss jetzt die Vertiefung der Europäischen Union vorangebracht werden. Wer bei der Erweiterung aufs Gas drückt, aber bei der Vertiefung gleichzeitig die Handbremse zieht, bringt die Europäische Union auf einen ganz gefährlichen Schleuderkurs. ({0}) Damit es nicht zu einem gesamteuropäischen Schleudertrauma kommt, muss der europäische Konvent eine mutige Verfassung für die Europäische Union erarbeiten, die vor allem den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger gerecht wird. Weder mit einem Verfassungsplacebo noch mit einer Mogelpackung werden wir die Herausforderungen der Zukunft meistern können. Ich werde jetzt ein Bild erwähnen, das zumindest der Außenminister bestens kennt: den Marathonlauf. Die Arbeiten des europäischen Konvents ähneln nämlich einem Marathonlauf. Nach einer umfangreichen Warmlaufphase geht man das Rennen behutsam an, teilt sich seine Kräfte gut ein, verpasst keine der Verpflegungspausen, weil sonst ein Hungerast droht, beobachtet genau den Zustand der Mitläufer und hebt sich Reserven für einen langen Schlussspurt auf. Wir sind jetzt im letzten Drittel des Verfassungsmarathons und dürfen uns keine Schwächen erlauben. Es gibt zwei Gestaltungsprinzipien, die für uns im Mittelpunkt der Debatte stehen: Handlungsfähigkeit einerseits und Demokratie andererseits. Die Konventsmethode zur Ausarbeitung der europäischen Verfassung ist für sich genommen schon ein gewaltiger Schritt hin zu mehr Demokratie in Europa. Verfassung bedeutet immer mehr Sicherheit, mehr Stabilität und mehr Frieden. Sie bedeutet auch die friedliche Austragung von Konflikten. Vielleicht ist der furchtbare Mord an Zoran Djindjic für uns alle ein Fanal, das uns ermutigen sollte, noch schneller und engagierter diesen europäischen Verfassungsprozess voranzutreiben, der hoffentlich in absehbarer Zeit die Teilstaaten der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien umfassen wird, denn auch ihnen muss eine europäische Perspektive gegeben werden. Auch das ist eine Botschaft, die von diesem fürchterlichen Attentat ausgehen muss. Darin stimme ich dem Kollegen Hintze voll zu. ({1}) Erstmals wirken Parlamentarier aktiv und unmittelbar an der europäischen Verfassungsgebung mit. Endlich! Diese Reformmethode hat bislang gut funktioniert Michael Roth ({2}) und zu ermutigenden Zwischenergebnissen geführt. Unseren Konventsmitgliedern, Herrn Meyer, dem Außenminister, Martin Bury als seinem Stellvertreter und auch dem Kollegen Altmaier, möchte ich herzlich danken. Sie alle setzen sich für dieses herausragende Projekt ein, für das wir im Deutschen Bundestag so lange gearbeitet und für das wir so lange gestritten haben. Diese Konventsmethode muss in der europäischen Verfassung verankert werden. Die kommende Regierungskonferenz, die in diesem Jahr hoffentlich ihre Arbeit abschließen kann, muss die letzte ihrer Art sein. Die Ergebnisse des Konvents dürfen im Nachhinein nicht verwässert werden. Wer es mit dem Begriff von der Union der Bürgerinnen und Bürger in Europa ernst meint, der kommt an einer weiteren Stärkung des Europäischen Parlamentes - der Bürgerkammer, wie wir es fortschrittlich nennen nicht vorbei. Wir fordern eine umfassende und gleichberechtigte Mitentscheidung des Europäischen Parlaments in allen Feldern der Gesetzgebung. ({3}) Ein ebenso wichtiger Schritt zu mehr Demokratie und parlamentarischer Verantwortlichkeit in Europa ist die Wahl des künftigen Präsidenten der EU-Kommission durch das Europäische Parlament. Den Bürgerinnen und Bürgern muss klar sein, warum es sich lohnt, für Europa zur Wahl zu gehen. Unterschiedliche Spitzenkandidaten der europäischen Parteien, die unterschiedliche politische Ziele verfolgen, machen deutlich, dass es in Europa - auch da gibt es noch eine Menge zu tun - eben auch um einen Wettbewerb der Ideen und der Personen geht. Das macht aber nur dann Sinn, wenn das Europäische Parlament anschließend den Kommissionspräsidenten mit der so genannten Kanzlermehrheit wählt. Das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit wäre ein Affront gegen Europas Wählerinnen und Wähler. ({4}) Neben der Demokratie müssen wir zugleich die Handlungsfähigkeit nachhaltig stärken; denn eine erweiterte EU wird mit den Mechanismen von heute sonst zum gelähmten Bürokratiemoloch. Die Rezepte sind uns allen längst bekannt: die Durchsetzung des Mehrheitsprinzips bei den Entscheidungen der EU-Mitgliedstaaten im Rat in grundsätzlich allen Bereichen, auch in der Justiz- und Innenpolitik und eben auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Ohne Mehrheitsprinzip in der Außenund Sicherheitspolitik wird es so sein, dass am Ende derjenige „Mister Europe“ angerufen wird, der durch sein Veto die Entscheidungen der EU lahm legen kann. So einfach und zugleich so schwierig ist das. Aber wo sind die Konzepte seitens der Union? Ich muss Sie fragen: Wo ist Deutschland in der Außenpolitik isoliert? Die gegenwärtige Situation wurde schon geschildert. Wir alle tun uns nicht leicht mit der Frage, wie wir den Prozess der Herausbildung einer europäischen Außenpolitik mit der transatlantischen Tradition verbinden können. Aber Ihre Plattitüden und Ihre larmoyante Kritik zeigen überhaupt keine Alternativen zu dem schwierigen Weg auf, den die Bundesregierung und auch wir beschreiten. ({5}) Ich sehe keine substanzielle Alternative und keinen Fortschritt in dem, was Sie, Herr Hintze, eben zum Ausdruck gebracht haben. ({6}) Wer in dieser Frage bremst, der verurteilt die EU zum Stillstand. In einer Europäischen Union der Größe 25 plus x gibt es entweder Mehrheitsentscheidungen im Rat oder es gibt gar keine Entscheidungen. Wer Europa demokratischer und handlungsfähiger machen will, der braucht keinen gewählten Präsidenten des Europäischen Rates. Wir bejahen zwar eine bessere Sichtbarkeit Europas in der internationalen Politik. Wir sagen gleichwohl Nein zum Oberkommando der großen Mitgliedstaaten über die Gemeinschaftsinstitutionen. Eine Vorsitzlösung für den Europäischen Rat ist nur dann akzeptabel, wenn sie wirklich gemeinschaftstauglich ist. Ich bin froh, dass auch die Bundesregierung in diesem Sinne denkt und handelt. ({7}) Wer die jüngsten Entwicklungen im und um den Konvent beobachtet, der wird das Gefühl nicht los, dass einige Akteure massiv versuchen, den europäischen Verfassungsprozess zu schwächen. Die Diskussion über Zeitpläne, Ratifizierungserfordernisse und die Beteiligung bestimmter Akteure sind durchsichtige Manöver. Sie dienen nur einem einzigen Zweck: die Reformschritte möglichst kurz ausfallen zu lassen. Wir dürfen das nicht hinnehmen. Wir werden das - das ist übereinstimmende Auffassung - sicherlich nicht hinnehmen; denn wer jetzt das Ziel der Vertiefung Europas hintertreibt, setzt mehr als nur die Erweiterung aufs Spiel. Er gefährdet den Integrationsprozess insgesamt. Was wäre denn die Alternative zu einer zukunftsgewandten Verfassung? Etwa ein Regelwerk, das den Status quo zementiert? Das würde Europa in eine tiefe Krise führen und könnte dazu führen, dass einige integrationswillige Mitgliedstaaten voranschreiten, um politisch das durchzusetzen, was in der Union als Ganzes nicht mehr möglich ist. Das wollen wir nicht. Wir wollen ein Europa, das zusammenhält, ein Europa der Solidarität, das auf die Herausforderungen der Globalisierung demokratische und sozial gerechte Antworten findet. Wir wollen ein Europa, das in der internationalen Politik und im transatlantischen Dialog eine aktiv gestaltende Rolle spielt. Richtig ist zwar, dass wir letztlich niemanden zwingen können, diesen Weg mit uns zu beschreiten. Aber es ist scheinheilig, so zu tun, als könne eine erweiterte Europäische Union ohne weitere substanzielle Integrationsfortschritte funktionsfähig bleiben. Michael Roth ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch eine Bemerkung in eigener Sache: Die voranschreitende europäische Integration und der Verfassungsprozess gehen auch an uns Abgeordneten nationaler Parlamente nicht spurlos vorüber. Europapolitik ist schon heute ein integraler Bestandteil der Innenpolitik. Die Denk- und Handlungsmuster der klassischen Außenpolitik lassen sich einfach nicht auf die europäische Politik übertragen. Dieser Tatsache müssen sich die nationalen Parlamente, also auch der Deutsche Bundestag, noch stärker bewusst werden. Im parlamentarischen Handeln muss dieser Entwicklung Rechnung getragen werden. Es ist wichtig, dass der Deutsche Bundestag schon jetzt beginnt, sich mit den möglichen Ergebnissen des europäischen Verfassungsprozesses aktiv auseinander zu setzen. Wir Parlamentarier müssen europatauglich sein und Europa in den Mittelpunkt unserer Arbeit rücken. Das betrifft alle Politikfelder: Innen-, Justiz-, Umwelt- oder auch Verbraucherschutzpolitik. Deswegen haben wir als Koalitionsfraktionen einen sehr weit reichenden Antrag präsentiert, mit dem wir zum Ausdruck bringen wollen, dass der Deutsche Bundestag diesen Prozess nicht nur als Beobachter begleitet, sondern auch konkrete Vorschläge unterbreitet, wie der Konventsprozess zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden kann. Wenn wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Europäische Parlament nachhaltig stärken und unsere parlamentarischen Mitwirkungsrechte auf nationaler Ebene effektiv nutzen, dann wird Demokratie in Europa künftig mit einem großen D geschrieben. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger von der FDP-Fraktion.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zwei Prozesse, deren Erfolg oder Misserfolg über die Zukunft Europas entscheiden wird: die Osterweiterung, für die auf dem Europäischen Gipfel von Kopenhagen endgültig grünes Licht gegeben worden ist, und das Projekt der europäischen Verfassung. Beide gehören untrennbar zusammen. Ohne eine gelungene Reform der EU-Strukturen mit den Zielen mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, verbürgte Grundrechte und Handlungsfähigkeit wird das erweiterte Europa nicht als politisches Europa bestehen können. ({0}) Der feige Mord an Serbiens Premier Djindjic zeigt uns auf, wie notwendig die demokratische, wirtschaftliche und rechtsstaatliche Stärkung der ost- und südosteuropäischen Staaten ist. Die politische Entscheidung für die Osterweiterung der EU - sie war in den vergangenen Jahren heftig umstritten - wird durch dieses Attentat erneut bekräftigt. Es hat gleichsam den Auftrag, in diesem Prozess weiter voranzugehen, noch einmal formuliert. ({1}) Europa befindet sich an der entscheidenden Wegkreuzung. Die europäische Verfassung, eine von der FDP schon lange Jahre gehegte Vision, die von vielen noch während der Ausarbeitung der Europäischen Grundrechte-Charta als Utopie abgetan wurde, könnte schon bald Realität sein, wenn der Konvent seinen ehrgeizigen Zeitplan einhält und bald Entwürfe für alle Artikel der Verfassung vorlegt, wenn nicht allen an diesem Prozess Beteiligten der Atem ausgeht - Herr Roth, beim Marathon braucht man bekanntlich besondere Techniken -, wenn die tiefen Zerwürfnisse zwischen einigen Mitgliedstaaten überwunden werden und wenn die Gefahr gebannt wird, dass große und kleine Mitgliedstaaten gegeneinander ausgespielt werden. Manche nennen die künftige Verfassung ja schon heute in einem Atemzug mit der amerikanischen Verfassung von Philadelphia aus dem Jahre 1787. Aber das ist wirklich Zukunftsmusik. Heute müssen wir uns auf die gegenwärtigen Herausforderungen konzentrieren. Dazu muss ich ganz klar sagen: Die Ereignisse der letzten Wochen und Monate und ihre möglichen Auswirkungen auf den Verfassungsprozess im Konvent bereiten uns als FDP-Bundestagsfraktion große Sorgen. ({2}) Das Ringen um den erfolgreichen Weg zur Abrüstung des Irak hat tiefe Gräben in der heutigen und der erweiterten EU entstehen lassen oder aufgedeckt. Auch die Bundesregierung trägt mit ihrer falschen Frühfestlegung dafür Verantwortung. ({3}) Genauso gilt das für die nicht zuerst in der EU abgesprochene deutsch-französische Initiative. In diesem Zusammenhang ist auch der Brief der Acht zu nennen - ein einmaliger Vorgang, der durch schwere diplomatische und handwerkliche Mängel zu einer in dieser Form bisher nicht gekannten Konfrontation in der Europäischen Union geführt hat. Auch der dann endlich auf dem Sondergipfel am 27. Februar gefundene Minimalkonsens hat diese Kluft bis heute nicht schließen können. Diese Zerwürfnisse, vielleicht ein Teil Missverständnisse, können die Arbeiten des Konvents nicht nur behindern; sie können das ganze Projekt der europäischen Verfassung gefährden. ({4}) Dann würde dieses aus unserer Sicht notwendige Projekt vielleicht in einer Reihe mit der hervorragenden Paulskirchen-Verfassung stehen, die leider nie die Wirkung entfaltet hat, die man eigentlich von ihr erwartet hat. Das ist keine Schwarzmalerei. Ursprünglich war im Konvent zum Beispiel vorgesehen, Ende dieses Monats über die verfassungsrechtliche Ausgestaltung einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu beraten. Das Präsidium des Konvents musste diese Beratung und die Vorlage von Textentwürfen um mehrere Wochen auf April oder Mai vertagen, um nicht das Risiko einzugehen, im Konvent den Streit zwischen den Regierungsvertretern sofort neu zu entfachen. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen schönen Verfahrensregelungen für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auf dem Papier und der Realität würde die Arbeiten des Konvents gegenwärtig unglaubwürdig erscheinen lassen. Es sind allerdings nicht nur die außenpolitischen Ereignisse, die den Erfolg der Arbeit des Konvents gefährden. Man muss auch der Tatsache ins Auge sehen, dass die wesentlichen Fragen, insbesondere die institutionellen und damit die Machtfragen, bisher noch ungeklärt sind und dass es angesichts der Vielzahl völlig gegenläufiger Interessen und Vorstellungen ungewiss ist, ob die Delegierten hierüber Einigkeit erzielen werden. Die FDP-Bundestagsfraktion hat ihre Vorstellungen von einem verfassten Europa mit ihrem Antrag zu den Kernelementen einer europäischen Verfassung zur heutigen Sitzung vorgelegt; denn der Deutsche Bundestag muss sich jetzt mit schriftlich formulierten Vorschlägen einbringen, die dann auch zu einem Auftrag und zu einer Stärkung der deutschen Vertretung im Konvent führen. Lassen Sie mich auf zwei Punkte eingehen; meine Kollegin Frau Dr. Winterstein wird noch konkret auf unseren Antrag zu sprechen kommen. Es geht - das ist für uns wichtig - um das neue Gesicht Europas, also die politisch-demokratisch legitimierte Vertretung Europas nach außen, und die außenpolitische Repräsentanz der Europäischen Union. Bei diesen beiden Themen gilt es, die Weichen dafür zu stellen, ob Europa auch in Zukunft den Integrationskurs der vergangenen Jahre verfolgen wird oder ob letztlich doch der intergouvernementale Ansatz noch mehr an Boden gewinnt. Für uns - das sagen wir ganz klar - steht die Stärkung der Position des Kommissionspräsidenten - die Kommission ist ja das Integrationsorgan der Europäischen Union - im Mittelpunkt. ({5}) Das wird natürlich von vielen unterstützt. Das ist auch Element der deutsch-französischen Initiative. Aber die birgt mit der Doppelspitze, die Sie, Herr Roth, in dieser Form auch kritisiert haben, sehr wohl Gefahren in sich, zum Beispiel die, dass der Ratspräsident oder wie auch immer Sie ihn nennen mögen, der vom Rat gewählt ist, die Position des Kommissionspräsidenten schwächt, dass gar nicht klar ist, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, wer für Europa nach außen spricht und es insgesamt nach außen repräsentiert. Das wird durch eine Doppelspitze eher verwässert denn gestärkt. Deshalb wollen wir diesen Weg nicht. ({6}) Wir sehen schon bei den jetzigen Beratungen im Konvent, dass dieses Kompromissmodell, auf das Sie, Herr Außenminister, sich eingelassen haben - so habe ich das immer verstanden -, in dieser Form keinen Erfolg haben wird. Es gibt nicht wenige Vertreter im Konvent und auch nicht wenige Mitgliedstaaten, die die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament nicht wollen. Das würde bedeuten, dass wir zwar einen gestärkten Ratsvorsitz bzw. Ratspräsidenten hätten, dass aber das Europäische Parlament, das ursprünglich den Kommissionspräsidenten wählen sollte, nicht gestärkt würde. Deshalb ist dieses Modell aus unserer Sicht nicht die richtige Weichenstellung. Da meine Redezeit vorbei ist, Herr Präsident, ({7}) noch ein Wort zur so genannten Doppelhutlösung. Der Schaffung eines europäischen Außenministers stimmen wir zu. ({8}) Aber in der Ausprägung, die jetzt vorgeschlagen worden ist, kann und darf dies nur eine Übergangsregelung sein. Denn die Gefahr, dass diese Persönlichkeit zwischen Rat und Kommission zerrieben wird, ist schon jetzt festgeschrieben. Deshalb sollte hier allenfalls eine Übergangsregelung geschaffen werden. Der Verfassungsprozess sollte sich zwar an den vorgegebenen Zeitplan halten. Wichtiger ist mir aber eine gut ausgearbeitete Verfassung, die am Ende dieses Jahres auf einer Regierungskonferenz vorliegt, als Beratungen im Konvent, die keine Änderungsanträge berücksichtigen und die Bürgerinnen und Bürger nicht einbeziehen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Anna Lührmann vom Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Anna Lührmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003585, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Europäerinnen und Europäer! Man könnte fast meinen, dass in Europa ein Gespenst umgeht: das Gespenst einer europäischen Verfassung. ({0}) Auch wenn die Mächte des alten Europas noch zaudern: In wenigen Monaten werden die europäischen Bürgerinnen und Bürger ihre europäische Verfassung in der Hand halten. Mit diesem alten Europa meine ich nicht das alte Europa des Herrn Rumsfeld, sondern das alte Europa, das sich primär durch nationale Interessen definiert. ({1}) Ich meine das alte Europa, das hinter verschlossenen Türen Entscheidungen trifft, das alte Europa, in dem das Europäische Parlament oft nichts zu sagen hat. Das neue Europa hingegen, an dem im europäischen Konvent gerade gearbeitet wird, steht für Demokratie, Handlungsfähigkeit und Transparenz. ({2}) Die europäische Verfassung wird das Fundament für dieses neue Europa legen, von dem alle profitieren werden. Die Ereignisse der letzten Wochen haben uns dramatisch verdeutlicht, warum die EU so dringend eine europäische Verfassung braucht. Denn wie in einem Worst-Case-Scenario mussten wir miterleben, wie uneinig Europa ohne effiziente Entscheidungsverfahren und ohne eine einheitliche Vertretung nach außen sein kann. ({3}) Das alte Europa hat sich also, als es brenzlig wurde, als handlungsunfähig erwiesen. Herr Hintze, wenn ich mich recht entsinne, dann haben auch die CDU/CSU-Europapolitiker schon lange davor gewarnt, dass die EU-Institutionen nicht für eine solche Krise ausgelegt sind. Da hilft kein Polemisieren Ihrerseits gegenüber der Bundesregierung. Da helfen nur konstruktive Vorschläge im Verfassungskonvent. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Friedbert Pflüger ({4}): Das haben wir doch gemacht! Einen konstruktiven Vorschlag nach dem anderen! Dr. Gerd Müller ({5}): Außer uns macht keiner konstruktive Vorschläge!) Der Konvent kann zwei Grundvoraussetzungen dafür schaffen, dass Europa wieder weltweit mit einer Stimme sprechen kann: Erstens brauchen wir einen europäischen Außenminister als Impulsgeber. Zweitens brauchen wir im Rat im Bereich der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik endlich qualifizierte Mehrheitsentscheidungen. Diese beiden Vorschläge haben dank der Initiative der Bundesregierung gemeinsam mit Frankreich gute Chancen, im Konvent angenommen zu werden. ({6}) Die momentane Vielstimmigkeit sollte für uns Europäerinnen und Europäer also kein Grund zur Resignation sein. Denn gerade wenn die Nacht am dunkelsten ist, ist der Morgen am nächsten. ({7}) In den letzten Jahren konnten wir schon häufiger erleben, wie hell der europäische Stern am Nachthimmel erstrahlen kann. Schon das alte Europa hat in den vergangenen Jahren viele internationale Projekte vorangetrieben, die für die Zukunft meiner Generation extrem wichtig sind, so zum Beispiel das Kioto-Protokoll oder den Internationalen Strafgerichtshof. Vor dem Hintergrund der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts liegen noch viele wichtige Aufgaben vor dem neuen Europa: Es geht um nichts Geringeres als um die gerechte Gestaltung der Globalisierung in allen Teilen der Welt. Es geht um eine Weltinnenpolitik, die Kriege verhindert, bevor sie beginnen. Es geht um den Zugang zu Wasser für alle und das ist noch längst nicht alles. Genau diese Ziele Frieden, Demokratie, Solidarität und Umweltschutz sind typisch europäisch. Nur wenn Europa an einem Strang zieht, werden wir eine Chance haben, diese Ziele auch weltweit zu verwirklichen. Dafür müssen diese Ziele jetzt in der Verfassung festgeschrieben werden. ({8}) Auch die innere Organisation der EU muss dringend reformiert werden. Wir brauchen demokratischere und effizientere Institutionen in Europa. Nur dadurch werden wir zu einer wirklich zukunftsfähigen Politik in der EU kommen. Im neuen Europa muss das Europäische Parlament in allen Bereichen der Gesetzgebung mitentscheiden können, damit die Europawahlen endlich zu einer tatsächlich demokratischen Abstimmung über europäische Politik werden. Deshalb soll das Parlament den Präsidenten der Europäischen Kommission wählen oder die Präsidentin. ({9}) Eine EU der 25 wird nicht in der Lage sein, schnell auf neue Herausforderungen zu reagieren, wenn weiterhin in vielen Bereichen einzelne Staaten aufgrund nationaler Interessen Entscheidungen blockieren können. Denn schon jetzt gibt es große Probleme durch das Vetorecht. In vielen Politikbereichen werden zukunftsweisende Projekte nicht angepackt, weil auf die nationalen Interessen einzelner Staaten Rücksicht genommen werden muss. So gibt die EU immer noch die Hälfte ihres Geldes für eine verfehlte Agrarpolitik aus oder eines der reichsten Länder der EU erstreitet sich immer wieder einen Rabatt bei den Beitragszahlungen. Das absurdeste Beispiel jedoch betrifft den Tabakanbau: Auf der einen Seite subventioniert die EU den Anbau von Tabak und auf der anderen Seite will sie gleichzeitig die Tabakwerbung verbieten. Deshalb brauchen wir dringend die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips im Rat. ({10}) Wir hier im Bundestag - und besonders auch unsere Vertreter im Konvent - sollten sich in den nächsten Wochen und Monaten dafür einsetzen, dass wir eine zukunftsfähige Verfassung schaffen, eine Verfassung, die Europa international handlungsfähig macht, eine Verfassung, die Europa auf ein demokratisches Fundament stellt, eine Verfassung für eine Europäische Union der Bürgerinnen und Bürger, also eine Verfassung für ein neues Europa. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Altmaier von der CDU/CSU-Fraktion.

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die Notwendigkeit der Reform der europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind wir uns alle in diesem Hause einig. Herr Bundesaußenminister, was in der deutsch-französischen Initiative zu diesem Thema gesagt worden ist, wird doch von uns allen unterschrieben und mitgetragen: im Konvent, im Deutschen Bundestag und überall. Aber Sie, sehr geehrter Herr Bundesaußenminister, sollten dann wenigstens ab und an den Versuch unternehmen, sich auch in der Praxis an Ihre eigenen hehren Prinzipien zu halten. ({0}) Es war doch gerade die deutsche Bundesregierung, die mit ihrem Alleingang, mit ihrem deutschen Sonderweg verhindert hat, dass Javier Solana auch nur die Spur einer Chance hatte, eine gemeinsame europäische Position zu formulieren, ({1}) denn Schröder hat auf der einen Seite hü geschrien und Blair hat auf der anderen Seite hott gerufen. Inzwischen ist das Pferd tot und alle beklagen die Situation. Ganz ähnlich ist es doch bei der Frage, wie Europa in Zukunft im Innern organisiert sein soll. Ich habe nicht gesehen, dass sich der Bundeskanzler in irgendeiner Weise für die Debatte interessiert, wer in Europa was machen soll. ({2}) Er hat offenbar kein Problem damit, dass Europa in Zukunft für alles und jedes zuständig ist. Nur, wenn Europa dann handelt - Beispiele sind VW und die Wettbewerbspolitik -, ist der Bundeskanzler der erste, der die Europäische Kommission vors Schienbein tritt und die europäische Integration infrage stellt. Genau diesen Zustand können wir uns in Europa nicht leisten. ({3}) Meine Damen und Herren, wir brauchen - das muss das Ergebnis des Konvents sein - nicht irgendeine Verfassung. Wir brauchen nicht irgendwelche Kompromisslösungen. Wir brauchen eine starke und entscheidungsfähige Europäische Union, die sich auf Kernaufgaben konzentriert, die demokratisch legitimiert und kontrolliert ist. Wenn wir die Probleme der Bürgerinnen und Bürger, die es in Europa auch nach 40 Jahren Integration gibt, ernst nehmen und lösen wollen, dann ist nicht entscheidend, ob wir in der Theorie einen Staatenbund oder einen Bundesstaat haben, dann kommt es darauf an, wie wir Europa so konstruieren, dass es handeln kann. Dann können beispielsweise Probleme nicht mit dem alten Einstimmigkeitsprinzip nach dem Modell der deutschen Kultusministerkonferenz gelöst werden. Das wird in einer Europäischen Union mit 25 Mitgliedstaaten nicht funktionieren. ({4}) Meine Damen und Herren, wir müssen auch über die Frage sprechen, wer für welche Probleme in Zukunft zuständig sein soll. Nicht jedes Problem in Europa ist auch ein Problem für Europa. Wenn eine staatliche Ebene alles machen will, wird sie in Wirklichkeit nichts mehr richtig machen. Das ist die Begründung für die Debatte über Kompetenzabgrenzung und Kompetenzkontrolle. Wir wollen Prinzipien definieren. Wir wollen auch die Rolle der nationalen Parlamente stärken. Dabei wollen wir keine neuen Institutionen und keine neuen Gremien, aber wir wollen beispielsweise für den Deutschen Bundestag und für den deutschen Bundesrat das Recht, die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips notfalls auch gerichtlich vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zu kontrollieren und durchzusetzen. ({5}) Ich begrüße es ausdrücklich, Herr Bundesaußenminister, dass auch Sie, dass die Bundesregierung diese Forderung wenigstens im Antrag für den Konvent unterstützt hat, auch wenn wir in der täglichen Debatte im Konvent nicht den Eindruck hatten, dass diese Probleme Ihnen besonders auf den Nägeln brennen. ({6}) Meine Damen und Herren, nach dem blamablen Scheitern der Regierungskonferenz von Nizza, wo sich nicht Europa blamiert hat, sondern wo sich die nationalen Regierungen, die ihre eigenen kleinlichen Interessen zu Tode geritten haben, ({7}) blamiert haben, kann man heute bereits sagen: Der Konvent ist ein Erfolg. ({8}) Wir haben in diesem einen Jahr mehr erreicht als alle anderen Initiativen in den letzten fünf Jahren gemeinsam. ({9}) Und das hat einen Grund. Der erste Grund liegt in der Öffentlichkeit der Sitzungen. Die Öffentlichkeit der Sitzungen und damit die Überwachung durch die Presse und durch die europäischen Bürgerinnen und Bürger begrenzt die Möglichkeit für nationale Regierungen, offensichtlichen Unsinn zu machen. Deshalb haben wir bislang nicht erlebt, dass nationale Regierungen im Konvent mit Vetorecht, mit Blockade oder mit offensichtlich unbegründeten und nicht durchsetzbaren Vorschlägen hervorgetreten sind. Darin liegt eine große Chance für den Konvent, zu einem Ergebnis zu kommen. Zweitens. Wir machen in diesem Konvent ja gerade keine Politik, bei der jeder national seine Erbsen zählt und das ganze Projekt in Frage stellt, wenn er nicht alle Erbsen bekommt, die er haben möchte. Nein, wir diskutieren in diesem Konvent nach politischen Richtungen, nach unterschiedlichen Konzepten und Vorstellungen. In dieser Diskussion ist der lettische Delegierte, der eine gute Idee hat, genauso viel wert wie der Delegierte aus Frankreich oder Deutschland, der eine gute Idee hat. Das ist das Modell, nach dem wir Europa in Zukunft organisieren müssen, und eben nicht nach nationalen Partikularinteressen. Dann wären wir als Bundesrepublik Deutschland mit unserer europäischen Zentrallage und mit unserem Interesse an funktionierender Integration immer und automatisch die Verlierer. Deshalb unterstreiche ich auch das, was die Vorredner gesagt haben. Wir müssen das Konventmodell auf Europa übertragen. Wir brauchen öffentliche Ratssitzungen, wenn über europäische Gesetze entschieden wird. Wir brauchen schlanke Strukturen. Wir brauchen einen vernünftigen Interessenausgleich zwischen Groß und Klein. Weder dürfen die Großen die Kleinen noch dürfen die Kleinen die Großen dominieren. Deshalb, Herr Bundesaußenminister, sorgen Sie bitte dafür, dass dieses unselige Gerede über ein Direktorium von großen Mitgliedstaaten, über den Europäischen Rat als die Entscheidungszentrale in der Europäischen Union, das es in der Anfangszeit des Konvents gegeben hat, beendet wird. Ich weiß, Sie denken anders darüber. Wir müssen es nur im Konvent mehrheitsfähig machen und durchsetzen. ({10}) Meine Damen und Herren, die Debatte über die Institutionen mündet immer wieder in folgende Fragen: Brauchen wir einen oder zwei europäische Präsidenten? Brauchen wir einen Doppelhut? Brauchen wir eine Doppelspitze? Brauchen wir eine Pyramide? Soll es einen Chairman oder einen Präsidenten für den Europäischen Rat geben? All diese Debatten versteht und begreift draußen niemand. Deshalb wird der Erfolg des Konvents auch davon abhängen, ob es uns gelingt, die entscheidenden europäischen Machtfragen so zu formulieren, dass die Öffentlichkeit sie versteht, damit die Öffentlichkeit den Konvent auch unterstützt, wenn er sich gegen Regierungen und deren Positionen durchsetzen muss. Zwei Aspekte sind meiner Meinung nach wichtig, ganz egal, auf welchem Weg man einen Kompromiss findet. Wir brauchen keine neuen bürokratischen Monster, die die Entscheidungsprozesse in Europa weiter komplizieren und erschweren. Wenn in der Debatte über eine Kompromissfindung herauskäme, dass neben der EU-Kommission eine Parallelbürokratie beim Europäischen Rat entstehen würde, dann hätten wir etwas falsch gemacht und hätten die Erwartungen der Bürger nicht erfüllt, sondern enttäuscht. ({11}) Der zweite Punkt. Wir müssen dafür sorgen, dass die Selbstverständlichkeit, als die wir die Demokratie in unseren Mitgliedsstaaten empfinden, endlich auch auf die europäische Ebene übertragen wird. Bis zu 70 Prozent all unserer Gesetze kommen aus Brüssel. Es werden in Brüssel Entscheidungen gefällt, die die Bürger unmittelbar betreffen, nicht nur die Landwirte, sondern auch Studenten und mittelständische Unternehmer. Wir müssen dafür sorgen, dass dieses Europa mindestens so demokratisch organisiert wird wie die Willensbildung in Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Belgien und jedem anderen europäischen Land. Es gibt allerdings noch einen großen Unterschied. Dieser Punkt ist wichtig; ich möchte ihn für all diejenigen ansprechen, die uns zuhören, weil er etwas mit der Europamüdigkeit und Europaverdrossenheit zu tun hat. Wenn Sie als Bürger eines Mitgliedsstaates mit Ihrer Regierung und den Entscheidungen, die sie trifft, unzufrieden sind, dann haben Sie alle vier oder fünf Jahre die Möglichkeit, Ihre Regierung zu wählen bzw. abzuwählen. Sie haben die Möglichkeit, der Regierung einen Denkzettel zu geben. Sie können bei Bundestags- oder Landtagswahlen über politische Konzepte entscheiden. Sie können als Bürger mit entscheiden, welche Politik in den nächsten vier oder fünf Jahren gemacht wird. Diese Möglichkeit hat der Bürger auf europäischer Ebene nicht. Es ist nicht erkennbar, welchen Einfluss und welche Auswirkungen die Wahl zum Europäischen Parlament auf die Politik hat, die in Europa gemacht wird. Deshalb müssen wir dieses Prinzip aus den Mitgliedsstaaten auf Europa übertragen. Die Bürger müssen die Möglichkeit haben, mit der Wahl zum Europäischen Parlament auch über ihre Exekutive zu entscheiden. Deshalb, Herr Bundesaußenminister: Egal, was wir mit unseren französischen Freunden hinsichtlich der Frage des Kommissions- und des Ratspräsidenten vereinbaren, egal, ob es noch Kompromissmöglichkeiten gibt, an die niemand von uns denkt, wir müssen erreichen, dass der Ausgang der Wahlen zum Europäischen Parlament einen entscheidenden Einfluss darauf hat, wer in Europa regiert und wie in Europa regiert wird. ({12}) Meine Damen und Herren, diese Europäische Union von 25 Mitgliedstaaten ist ein Experiment ohne Beispiel in der Nachkriegsgeschichte. Es gibt weltweit kein Integrationsmodell, das ähnlich weit vorangeschritten ist, das eine ähnlich hohe Integration aufweist, das ähnlich viele Mitgliedstaaten, Kulturen und Sprachen unter einem Dach vereinigt. Deshalb müssen wir alles tun, damit dieses Experiment gelingt. Ich denke, dass sich jeder im Konvent darüber im Klaren ist. Wir schaffen einen europäischen Verfassungsvertrag, also eine Verfassung in Form eines Vertrages, auch deshalb, um europäische Identität zu stiften. Ein solches Gebilde kann auf Dauer nur funktionieren, wenn die Bürger keine Zweifel bezüglich der Identität haben, wenn sie wissen, wer zusammengehört und wie dieses Gebilde aussieht. Deshalb ist es, wie ich glaube, wichtig, dass wir in diesem Verfassungsvertrag die Grundrechte-Charta an die erste Stelle setzen und sie nicht in irgendein Protokoll oder irgendwelche Erklärungen am Schluss des Dokumentes packen. ({13}) „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist ein Kernelement unseres Menschenbildes und unseres Staatsverständnisses. Dieser Satz steht in Art. 1 Abs. 1 unseres Grundgesetzes und in Art. 1 Satz 1 der Europäischen Grundrechte-Charta. Es wäre großartig, wenn es uns gelänge, diesen Satz auch in der europäischen Verfassung zu verankern. Meine Damen und Herren, wir haben drei Monate Zeit, um dem Deutschen Bundestag ein Ergebnis vorzulegen. Als Vertreter des Bundestages gemeinsam mit dem Kollegen Meyer in diesem Konvent will ich meinen Kolleginnen und Kollegen und allen hier in diesem Hause sagen: Ich bin der Auffassung, dass wir alles tun sollten, um diese drei Monate zu nutzen. Wir sollten nicht darüber reden, den Zeitplan aufzuweichen. Wir sollten keinen Druck aus dem Kessel nehmen. Wir sollten uns von den großen Schwierigkeiten bei den Themen Irak und Außenpolitik nicht entmutigen lassen. Diese müssen vielmehr ein Ansporn für uns sein, dafür zu sorgen, dass so etwas in Zukunft nicht wieder vorkommt. Ich glaube, wir haben in diesem Konvent die Chance, die Lehren aus der Geschichte, auch aus der jüngsten Geschichte, zu ziehen. Vielen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Bundesminister Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erste Redner der Opposition hat heute zu Recht darauf hingewiesen, dass in diesem Jahr zwei Entscheidungen, die zu Recht historisch genannt werden, anstehen, nämlich die Erweiterung und die neue europäische Verfassung, der neue Vertrag. Kollege Altmaier, Sie haben zu Recht unterstrichen - das freut mich -, dass der Konvent schon heute ein Erfolg ist. Nun bin ich nicht ganz so weit; das will ich erst noch sehen. Ich teile allerdings Ihren Optimismus, dass er ein Erfolg werden kann. Ich freue mich, dass die Opposition dies unterstreicht; denn ich denke, es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Wechsel in der Regierung im Jahre 1998 eine Voraussetzung dafür war, dass wir hinsichtlich der Erweiterung der EU mit der praktischen Arbeit beginnen konnten; bis dahin gab es nämlich nur abstrakte Versprechungen, aber kein Öffnen der einzelnen Verhandlungskapitel. ({0}) Der zweite Punkt ist die Agenda 2000, die eine wichtige Voraussetzung für einen Kompromiss, der uns alles andere als leicht gefallen ist, war. Auch das dürfen wir nicht vergessen. ({1}) Schließlich komme ich zum dritten Punkt: Auch der Verfassungsprozess ist von der Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder angeschoben worden, ({2}) weil wir anders als Sie der Meinung waren, dass eine Erweiterung auf 25 Mitglieder und mehr - wir werden bei der 25er-Union nicht stehen bleiben - ohne eine grundsätzliche Reform der Verträge und der europäischen Verfassung nicht möglich ist. Sie sagen, dass Nizza gescheitert ist. In Nizza haben wir den Konvent beschlossen. Ich bitte Sie, das nicht zu vergessen. ({3}) Wie Ihre Rhetorik bei unseren Nachbarn in Frankreich ankommen wird, bitte, das liegt in Ihrer Verantwortung. Aber wenn ich mir das gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrungen und Entwicklungen anschaue, dann wird mir klar, dass dieser Konvent noch sehr wichtig sein wird, um auftretende Brüche und Gräben in der erweiterten Union überbrücken zu können und um nicht in die Gefahr einer Avantgarde-Bildung hineinzulaufen. Kollege Hintze, ich möchte hier keine Irak-Debatte führen. Ich frage mich nur: Wen in diesem Land und in den anderen europäischen Ländern meinen Sie mit Ihren Worten eigentlich noch erreichen zu können? Sie - Ihre Parteivorsitzende und Ihr Kanzlerkandidat haben dies ebenfalls getan - schweigen bei der entscheidenden Frage. Es geht darum, ob Sie wollen, dass die Inspektionen abgebrochen werden und dass wir uns der Resolution der USA, Spaniens und Großbritanniens anschließen. Wenn dies so ist, dann sollten Sie sagen, dass Sie das wollen und dass Sie für einen Krieg gegen Saddam Hussein sind. Hier haben wir einen tiefen Widerspruch. ({4}) Es nützt doch nichts, nur im Verfahren zu bleiben. Sie müssen zum Punkt kommen. Diese Bundesregierung hat gegenüber den amerikanischen Partnern von Anfang an - und zwar lange vor dem Wahlkampf - ihre tiefe Skepsis und Sorge bezogen auf einen Krieg im Irak zum Ausdruck gebracht, weil sie erstens der Überzeugung ist, dass vor allem die langfristigen Risiken gewaltig sind. Dabei geht es nicht nur um die humanitären Risiken, die ein solcher Krieg für unschuldige Menschen bedeuten würde, sondern zweitens auch um die Frage des Zusammenhalts der Antiterrorkoalition und die Konsequenzen für den Kampf gegen den Terrorismus. Drittens geht es um die Frage der regionalen Stabilität, die gerade uns als direkten regionalen Nachbarn langfristig tiefe Sorgen macht. Herr Kollege Hintze, ich komme zum zweiten Punkt in diesem Zusammenhang: Unter schwierigen Bedingungen hat diese Bundesregierung - der Bundeskanzler, ich und andere Mitglieder der Bundesregierung und der Koalition - in ihrer Regierungsgeschichte die Entscheidung für eine militärische Intervention als das letzte Mittel zweimal für unabweisbar gehalten, nämlich im Kosovo und in Afghanistan. Bevor man über Krieg spricht, sollte man bedenken, dass es dabei um das letzte und nicht um das nächste Mittel oder um formale Gründe geht, Kollege Hintze. ({5}) Angesichts der gegenwärtigen Situation, in der ich die Berichte der Inspektoren zur Kenntnis nehme, sage ich Ihnen: Bevor man über den Krieg als das letzte Mittel redet, muss klar sein, dass alle anderen Mittel erschöpft sind. Wenn ich die Berichte von Blix und al-Baradei zur Grundlage nehme, dann erkenne ich, dass sie nicht erschöpft sind. Blix hat gesagt, dass er nicht über Wochen und nicht über Jahre, sondern über Monate, die er braucht, spricht. Sie wissen es doch so gut wie ich: Wenn Saddam Hussein die Zerstörung der Raketen zum 1. März abgelehnt hätte, dann wäre das der Anlass dafür gewesen, dass jetzt zu militärischen Maßnahmen gegriffen worden wäre. Aber man kann es nicht als irrelevant bezeichnen, wenn bei der Zerstörung wirklich Fortschritte gemacht werden. Genau das wollen wir mit dem deutsch-französischen Memorandum erreichen: Mit der Setzung von Fristen soll sichergestellt werden, dass tatsächlich abgerüstet wird. Das ist unsere Position. Wir sagen Nein zum Krieg, während Sie in dieser Frage herumeiern und den Menschen nicht klar machen, was Ihre Position ist. ({6}) Kollege Pflüger hat schon sehr früh im Ausschuss erklärt, dass es für ihn wichtiger sei, an der Seite der USA zu stehen, und er deswegen für den Krieg sei. Diese Worte sollte er einmal hier wiederholen. ({7}) Auch die Vorsitzende Merkel sollte sich einmal äußern. Dann gäbe es in dieser Frage Klarheit. ({8}) Zurück zu Europa. Wir kommen jetzt in die entscheidende Phase der Erweiterung. ({9}) - Ich saß doch neben Ihnen, als Sie erklärt haben, dass für Sie nun der „material breach“ gegeben sei, Kollege Pflüger. Sie wissen so gut wie ich, was dann die Konsequenzen sind. ({10}) Ich wundere mich, dass Sie sich jetzt darüber so aufregen. Ihre Position ist doch bekannt. ({11}) - Das ist keine Lüge. Das zeigt nur, dass ein schwankender Halm ein Muster an Stabilität im Verhältnis zur Position der Union in der Frage ist: Wie halte ich es mit einem Krieg im Irak? ({12}) Die Erweiterung - ich komme zu einem Punkt, der zu Recht angesprochen wurde - macht eine neue Verfassung notwendig. Diese neue Verfassung ist vor dem Hintergrund der weltpolitischen Herausforderungen umso wichtiger. Ich denke, es wäre keine gute Perspektive, in eine De-facto-Avantgarde innerhalb oder außerhalb der Verträge hineingetrieben zu werden. Deshalb müssen wir gerade jetzt in der Endphase ein ambitioniertes Ziel anstreben. Ich rate jedoch dazu, die Realitäten anzuerkennen. Es ist nicht so, dass ich mir nicht weiter gehende Schritte wünschen würde, aber wir müssen am Ende, ausgehend von der nationalen Position, zu Kompromissen kommen. Herr Kollege Altmaier, dabei sind Ihre Vorschläge nicht sehr hilfreich. Natürlich gibt es Interessenunterschiede zwischen großen und kleinen Staaten. In der erweiterten Union der 25 wird es Realität sein, dass die Staatenmehrheit bei den kleinen Ländern liegt, während gleichzeitig die sechs größten Mitgliedstaaten über 70 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Das schafft ein sehr großes Ausgleichsproblem, und zwar nicht nur in der Frage des Europäischen Rates, sondern auf nahezu allen Ebenen. Es wird schwierig sein, hier ein Gleichgewicht zu finden. Eine Lösung wird sich nur finden lassen, wenn man sich, ausgehend von den unterschiedlichen Interessen, an einem Kompromiss orientiert. Dasselbe Problem gilt zwischen den neuen und den alten Mitgliedstaaten. Wir Deutsche haben dafür eine besondere Sensibilität, weil wir die Schwierigkeiten des Zusammenwachsens in unserem Alltag und auch bei der Gesetzgebung erleben: zwischen den alten und den neuen Bundesländern und auch zwischen den Menschen in dieser Stadt. Selbstverständlich verstehe ich, dass derjenige, der 50 Jahre Unterdrückung und Sowjetkommunismus erlebt hat, eine ganz spezifische Sicht, basierend auf dieser Erfahrung, auf die USA hat. Auch wir hatten und haben eine spezifische Sicht auf die USA, die sich von anderen unterscheidet. Natürlich verstehe ich auch, dass Polen jenseits dieser 50 Jahre noch eine andere Erinnerung hat. Auch das ist mir völlig klar. Dabei spielen wir Deutsche eine nicht ganz unwichtige Rolle. Daraus erwächst noch einmal eine andere Perspektive. Die alte Union stand für das Zuschütten des Grabens der Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich. Die neue Union wird das Überwinden des Eisernen Vorhangs bedeuten. Dass das Zeit braucht, wissen gerade wir Deutsche. ({13}) Aber eine erweiterte Union wird starke integrative Institutionen brauchen, sonst wird sie nicht funktionieren. Alle Mitgliedstaaten, alte wie neue, haben ein Interesse daran, dass die Union funktioniert; denn eine nicht funktionierende Union würde sofort zu einer informellen Gruppenbildung führen - Geschichte lässt sich nicht aufhalten -, weil dann die Interessen der Mitgliedstaaten mit ihrem ganzen Schwergewicht zur Geltung kämen. Das ist die Aufgabe. Dabei geht es um die Ausgestaltung der wesentlichen Punkte. Ich sehe in der Tat eine Möglichkeit ganz konkret vor uns. Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass es nur einen Präsidenten gibt. Aber ich muss feststellen: Dazu ist es noch zu früh. Es gibt im Konvent Überlegungen, die Festlegung auf einen Präsidenten nach zwei oder drei Wahlperioden in die Verfassung hineinzuschreiben. Das heißt, in zehn oder 15 Jahren wird diese Idee Realität werden. Dann ist eine neue Generation herangewachsen. Das halte ich für eine nicht unkluge Idee. Wir müssen darauf Acht geben, dass das institutionelle Dreieck gestärkt bleibt, wenn wir zwei Präsidenten haben. Bei 25 oder mehr Mitgliedstaaten halte ich es für ein Unding, an der rotierenden Präsidentschaft im Europäischen Rat festzuhalten. Das wird nicht funktionieren. Ein permanenter Vorsitz im Europäischen Rat bedeutet de facto eine Stärkung des Rates. Auch deswegen wird es so wichtig sein, dass die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament erfolgt. Diese Punkte hängen für uns unmittelbar zusammen. Die Größe der Kommission müssen wir uns ebenfalls anschauen. Eine Kommission, die aus 25 Kommissaren besteht - gemäß dem Nizza-Vertrag wird sie so groß sein -, macht eine starke innere Differenzierung notwendig, weil sie an eine Funktionalitätsgrenze stößt bzw. bereits jenseits dieser Grenze ist. Die Alternative ist das Rotationsmodell, welches für die großen Mitgliedstaaten besonders bitter ist. Sie haben bereits auf einen Kommissar verzichtet. Selbst wenn das Rotationsmodell einen langen Zeitraum umfassen würde - es gibt große, mittlere und kleine Mitgliedstaaten -, würde es immer eine Phase geben, in der ein großes Land nicht vertreten wäre. Das ist ohne jeden Zweifel eine bittere Pille, die zu schlucken wäre. Gleichwohl: Im Interesse der Funktionalität würde ich mich einem solchen Kompromissvorschlag, wie er im Präsidium des Konvents diskutiert wird, nicht verschließen. Das sind für mich zwei wesentliche Punkte. Der dritte Punkt ist die Ausdehnung der Mitentscheidungsrechte des Parlaments auf alle gesetzgeberischen Maßnahmen. Das halte ich für einen sehr wichtigen Punkt. Ich warne davor, sich beim Doppelhut des Außenministers sofort auf die volle Integration zu versteifen, weil das eine lange Perspektive braucht. Bis die Mitgliedstaaten ihre Souveränitätsrechte - vor allem hinsichtlich des ius bellum - aufgeben, wird viel Zeit vergehen. Wenn es gut läuft, erzielen wir eine verstärkte Parallelität bei der Integration. Die Position des Außenministers der Union wird in erster Linie im Rat verankert sein, weil dort das Hauptgewicht liegt. Ich halte es aber für unverzichtbar, dass er zugleich in der Kommission eine besondere Rolle spielt. Das ist der Inhalt des Vorschlags des Doppelhuts, der zurzeit mehrheitsfähig zu sein scheint. Aus den bisherigen Erfahrungen können wir entsprechende Konsequenzen ziehen. ({14}) Kollege Altmaier, ich möchte den Art. 14 im jetzt vorliegenden Entwurf noch einmal neu formuliert sehen. Das Problem liegt für mich nicht so sehr im Inhalt des „Briefes der Acht“ als im Verfahren. In Europa wird es immer verschiedene Meinungen geben. In einem vielfältigen Europa kann das nicht anders sein. Wir müssen uns aber auf eine Methode einigen, mit der wir eine gemeinschaftliche Position finden können. Das ist meine Kritik am „Brief der Acht“. ({15}) In Art. 14 muss eine entsprechende Konsequenz gezogen werden. Ich denke, es gibt entsprechende Formulierungen, um verpflichtend sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten wie auch die gemeinschaftlichen Institutionen im Falle auftauchender ernsthafter Krisen oder im Falle substanzieller Veränderungen in den Beziehungen zu strategischen Partnern eine gemeinschaftliche Haltung finden. Das ist meines Erachtens in Art. 14 machbar. ({16}) - Die Debatte können wir gerne an anderer Stelle führen. Für mich ist ein anderer Punkt entscheidend. Ich stimme Ihnen teilweise zu. Hinsichtlich des Klagerechts der Bundesländer muss ich Ihnen leider widersprechen. Ich habe Präsident d’Estaing noch einmal klar gemacht, wie wichtig das für uns, vom nationalen Standpunkt aus betrachtet, ist. Ich denke, das wird mit berücksichtigt werden. Mich wundert, dass Sie, als Vertreter der Christlich Demokratischen Union, die Frage, wie der Gottesbezug in der Verfassung verankert werden kann - beim Besuch im Vatikan spielte das eine große Rolle -, nicht aufgenommen haben. ({17}) Um diese Dinge geht es konkret. Der vorliegende Entwurf ist gut. Die entsprechenden nationalen Initiativen sind geeignet, einen Kompromiss zu finden. Ich bin dafür, dass wir nicht verzögern, sondern während der italienischen Präsidentschaft, in der zweiten Jahreshälfte, im Rahmen einer kurzen Regierungskonferenz zum Abschluss kommen. Voraussetzung dafür ist, dass die in Kopenhagen beschlossene Teilnahme der Kandidaten, die de jure noch nicht Vollmitglieder sind, die aber die Beitrittsverträge bereits unterzeichnet haben, eine wirkliche volle Teilhabe bedeutet. Dann wären die Bedenken dieser Länder ausgeräumt. Im Klartext heißt das, dass wir dann zügig vorankommen können. Gerade angesichts der internationalen und der weltwirtschaftlichen Lage meine ich, dass eine handlungsfähige Union, die mit der Erweiterung zu einer Union der 25 Mitgliedstaaten ernst macht und dieses ehrgeizige und schwierige Projekt umsetzt, durchaus in der Lage ist, sich eine flexible, demokratische und handlungsfähige Verfassung zu geben. Dieses Ziel halte ich für erreichbar. In diesem Punkt sind wir uns auch alle einig. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Es sind zwei Kurzinterventionen der Kollegen Pflüger und Hintze angemeldet. Ich schlage vor, dass wir sie hintereinander aufrufen und dass dann der Außenminister Gelegenheit hat, sie gegebenenfalls zusammen zu beantworten. - Herr Kollege Pflüger.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister Fischer, ich habe eben mit etwas Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass Sie aus einer vertraulichen Ausschusssitzung zitiert haben. Wenn Sie schon aus dieser Sitzung zitieren, bitte ich Sie darum, ({0}) richtig zu zitieren, statt eine Lüge zu verbreiten. Denn nichts anderes haben Sie getan. ({1}) Es gibt schließlich ein Ausschussprotokoll, in dem wir das nachlesen können. Ich habe mich - wie alle Kollegen in der Unionsfraktion - zu keinem Zeitpunkt für einen Krieg ausgesprochen, weder direkt noch indirekt. Denn wir wollen ebenso wie jeder andere in diesem Hause den Frieden. Unterlassen Sie es bitte, Herr Minister, die Menschen in diesem Hause und in unserem Lande in diejenigen einzuteilen, die den Frieden wollen, und diejenigen, die den Krieg wollen! Das vergiftet die Atmosphäre und ist zudem unwahr. ({2}) Was uns unterscheidet, ist, dass wir die Meinung vertreten, dass es militärischen Druckes bedarf, um die Arbeit der Inspektoren und die Entwaffnung, die auch Sie als wichtiges Ziel ansehen, durchführen zu können. Militärischer Druck kann aber nicht erzeugt werden, wenn von vornherein erklärt wird - wie es die Bundesregierung getan hat -: Alles ist denkbar, aber nicht, dass wir militärisch vorgehen. Wenn sich jedes Land so verhalten hätte, dann gäbe es keinen militärischen Druck, keine Inspektoren und keine Entwaffnung des Irak. Das ist der Widerspruch, auf den ich in der Ausschusssitzung hingewiesen habe und den Sie bis heute nicht aufgeklärt haben. ({3}) Was ich in der Tat kritisiert habe, ist die deutschfranzösisch-russische Initiative. Ich habe sie kritisiert, weil sie eben keine klaren Ultimaten setzt, wie es uns Herr Blix vorgemacht hat. Herr Blix hat einen Brief an Saddam Hussein geschrieben, in dem er mitgeteilt hat, dass die al-Samud-Raketen bis zum 1. März vernichtet werden müssen. Es war ziemlich klar, dass andernfalls der Sicherheitsrat militärisch vorgehen würde. Diese Art von deutlichen Ultimaten und Zielvorgaben gibt es in der deutsch-französisch-russischen Initiative nicht, sondern sie erlaubt im Kern, dass Saddam Hussein das alte Spiel fortsetzen kann. Ohne den Zeithorizont zu begrenzen, gibt sie ihm die Möglichkeit, seine taktischen Spiele fortzusetzen. Das machen wir nicht mit. Es muss klar gemacht werden, dass die Inspektoren eine Chance bekommen sollen. Aber darüber muss mit unseren amerikanischen Partnern und mit den NATOPartnern gesprochen werden, statt mit China, Russland und Frankreich innerhalb der Weltgemeinschaft Achsen zu bilden, um gegen unsere amerikanischen Bündnispartner vorzugehen. ({4}) Darin unterscheiden wir uns in der Tat. Wir werden sehen, ob Sie mit Ihrer Politik wirklich einen Krieg verhindern oder ob es bei den schönen Friedensbekenntnissen bleibt, Herr Minister. Mein Verdacht ist, dass Sie mit Ihrer Politik nicht sehr weit gekommen sind. ({5}) Sie klingt schön; aber sie sichert nicht den Frieden in unserem Land. ({6}) - Es geht zwar um den Frieden am Golf, Herr Fischer; aber es geht auch um die Sicherheit hier bei uns. Neben Ihnen sitzt Minister Schily, der deutlich sagt, dass es auch bei uns große Risiken gibt. Lassen Sie mich Ihnen versichern: Wenn wir nicht etwas für die Entwaffnung des Irak tun, dann bekommen wir das große Problem, dass es irgendwann bei uns Terrorismus in Verbindung mit Massenvernichtungswaffen geben wird. Um das auszuschließen, müssen wir Saddam gegenüber eine klare und deutliche Sprache sprechen. Das hat nichts mit Kriegstreiberei zu tun. Lassen Sie bitte in Zukunft die Unterstellung gegenüber irgendjemandem in diesem Haus, dass er sich einen Krieg wünschen würde! Ich will die friedliche Entwaffnung des Irak. Darum geht es mir und meiner Fraktion. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Hintze, ich darf noch einmal darauf hinweisen, dass Kurzinterventionen auf drei Minuten begrenzt sind. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir sind es von unserem Bundesaußenminister ja gewohnt, dass er zuweilen, um die parlamentarischen Debatten - ich möchte es freundlich formulieren - zu würzen, auf Unschärfen und manchmal leider auch auf Unterstellungen zurückgreift. Heute hat er sich beider Stilmittel bedient. Erstens. Die Konferenz von Nizza - ich beginne mit den Unschärfen - ist eindeutig gescheitert. Sie, Herr Minister, meinten sich daran zu erinnern, dass in Nizza der Konvent beschlossen worden sei. Ich bitte Sie, das in Ruhe zu überprüfen; denn der Konvent ist nicht in Nizza, sondern in Laeken beschlossen worden. Richtig ist, dass sich die Bundesregierung eine Initiative aus der Mitte des Parlaments und des Europaausschusses zu Eigen gemacht hat. Das finden auch wir gut. Aber ich bitte um der historischen Wahrheit willen, die Dinge richtig darzustellen. Zweitens. Sie haben auf den Vatikan und die Frage abgehoben, ob der Anfang der zukünftigen europäischen Verfassung einen Gottesbezug, also einen Hinweis auf unsere Verantwortung vor Gott, enthalten soll. Vielleicht können Sie uns einmal klar sagen, wie Sie dazu stehen. Ich jedenfalls bin dafür. Die Europäische Volkspartei, in der alle Christdemokraten zusammengeschlossen sind, hat einen entsprechenden Antrag gestellt. Wenn auch Sie als Konventsmitglied das unterstützen würden - so habe ich Sie jedenfalls verstanden -, dann wäre das wenigstens ein kleiner Erfolg bzw. tätige Reue für die Unterstellungen, mit denen Sie aus taktischen Gründen die Opposition im Deutschen Bundestag überziehen. Herr Bundesaußenminister, wissen Sie, was mir fast die Sprache raubt? Sie stellen sich an das Rednerpult des Deutschen Bundestages und freuen sich über die Erfolge der Inspektionen. Woher kommen denn die Erfolge der Inspektionen? Sie sind eindeutig und ausschließlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass der Diktator den realen Druck der militärischen Entschlossenheit spürt. Nur deswegen ist er ein Stück weit zurückgewichen. Die Frage lautet nun: Wird dieser Druck aufrechterhalten oder wird er derartig unterminiert, dass am Ende des Inspektionsverfahrens der Diktator und mit ihm alle Schurken dieser Welt triumphieren können? Das ist der entscheidende Unterschied. ({0}) Da hilft es nichts, dass Sie sich öffentlich über den Kollegen Pflüger aufregen. Sie behaupten, er breche die Vertraulichkeit, und gleichzeitig legen Sie vor dem Deutschen Bundestag dar - das finde ich pikant -, was er - angeblich - in nicht öffentlicher Sitzung gesagt hat. Wenn Sie so etwas machen, dann wäre es zumindest wünschenswert, dass Sie ihn richtig zitieren würden. Aber das alles hilft überhaupt nichts; denn die entscheidende Frage ist, ob sich die Völkergemeinschaft das Instrument erhält, Diktatoren in den Arm zu fallen, oder nicht. Hier ist die Bundesregierung gefordert, nicht dem Land in den Arm zu fallen, das als einziges in der Lage ist, dem Völkerrecht Geltung zu verschaffen. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Minister, bitte schön.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Pflüger, ich habe Ihnen das schon in der damaligen Ausschusssitzung entgegengehalten. Ich habe nichts zurückzunehmen. Gleichwohl habe ich Sie nicht als Kriegstreiber bezeichnet. Diesen Begriff haben Sie gerade selber in die Debatte eingeführt und zurückgewiesen. Einen solchen Begriff habe ich Ihnen gegenüber nicht verwendet. Ich möchte noch ein paar andere Dinge richtig stellen. Das deutsch-französische Memorandum scheinen Sie überhaupt nicht oder nur schlecht gelesen zu haben; denn genau dort beziehen wir uns auf das Arbeitsprogramm, das Herr Blix entsprechend der Resolution 1284 vorlegen soll und in dem er detailliert die einzelnen Schritte, versehen mit Benchmarks oder, wo es möglich ist, mit einem so genannten Zeitfaktor, exakt beschreiben soll, so wie es bei den al-Samud-Raketen bereits geschehen ist. ({0}) - Ich habe Ihnen zugehört und jetzt hören Sie mir bitte auch zu. - Genau das wird im deutsch-französischen Memorandum gefordert, ja noch mehr: Deutschland und Frankreich sind in einer Sicherheitsratssitzung aktiv geworden und haben verlangt, dass dieses Arbeitsprogramm vorgezogen wird. Mittlerweile wird es präsentiert. Ob das zeitlich noch reicht, ist eine andere Frage. Aber es waren nicht Deutschland und Frankreich, sondern andere Länder, die sich in dieser Sitzung energisch gegen das Vorziehen des Arbeitsprogramms ausgesprochen haben. Die Behauptung, dass das deutsch-französische Memorandum keine verbindlichen Zeitfaktoren enthalte, ist also völliger Unsinn. Der französische Präsident hat bei seinem Besuch in Berlin anlässlich des BlaesheimTreffens auf einer Pressekonferenz genau darauf noch einmal hingewiesen. Nun komme ich zu der von Ihnen und auch von Ihnen, Herr Hintze, hergestellten Verbindung zwischen Terrorismusbekämpfung und dem Irak. Das ist mein grundsätzliches Problem. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich nach dem 11. September - dafür habe ich bei der amerikanischen Seite immer geworben - eine andere Tagesordnung aufgestellt. Es gab keine Alternative zu unserem Einsatz in Afghanistan. Deshalb sind wir mit großer Entschlossenheit gemeinsam an der Seite unseres durch die verbrecherischen Attentate angegriffenen wichtigsten Bündnispartners außerhalb Europas in den Einsatz gegangen. Wir haben heute über 2 000 Bundeswehrsoldaten in Afghanistan. Wir haben Sondereinheiten im Rahmen von Enduring Freedom in Kuwait und am Horn von Afrika. Ich habe aber schon damals gesagt, dass ich keinen Zusammenhang zum Irak sehe und dass ich auch keine Appeasement-Politik im Irak sehe, sondern Containment-Politik, die wirkt. Ich habe gesagt, dass Saddam ein schlimmer Diktator ist, dass ich aber an die zweite Stelle die Lösung der Regionalkonflikte setzen würde, vor allem die des Nahostkonflikts. Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir den Irakkonflikt nicht als Nummer eins auf die Tagesordnung gesetzt, jetzt nicht und so nicht. Das haben wir den amerikanischen Partnern aus den Gründen, die ich vorher genannt habe, und auch einigen anderen immer gesagt. Aber es gibt die Resolution 1441, es gibt die Entscheidungen, es gibt den Druck. Angesichts dieses Drucks muss ich fragen: Gibt es tatsächlich eine Verbindung zwischen den Anschlägen vom 11. September und dem Irak? Kollege Pflüger hat gerade wieder gesagt, der Terror könnte kommen. Mit diesem Ansatz habe ich ein Problem. Wenn wir nicht mehr eine konkrete Bedrohung haben, sondern die abstrakte Vermutung, es könnte eines Tages eine Bedrohung kommen, und diese Vermutung als Grund für einen präventiven Militärschlag nehmen, ({1}) dann bekommen wir bei der Frage einer zukünftigen Weltordnung - ich formuliere das jetzt sehr diplomatisch - ein schlichtes Balanceproblem. Wir bekommen auch ein völkerrechtliches Problem. Das wissen Sie nur zu gut. ({2}) - Doch. Deswegen, sage ich Ihnen, ist die Verbindung zu den Anschlägen vom 11. September schon eine entscheidende Frage. Die Begründungen wechseln auch. Zuerst hatten wir die Begründung durch den 11. September, dann die Begründung, dass eine nukleare Aufrüstung droht. Es würde mich nicht wundern, wenn auch Sie dies im Spätsommer mit vertreten hätten. Dann kam die Begründung mit den biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen. Jetzt geht es um die Frage der humanitären Intervention, um einen furchtbaren Diktator von der Macht zu entfernen. Das sind wechselnde Begründungen. Ich kann Ihnen nur sagen: Vor diesem Hintergrund ist unsere Skepsis eher größer als kleiner geworden. ({3}) Sie sagen: Alle Schurken dieser Welt triumphieren. Was ist denn die Botschaft einer Politik, die in Nordkorea auf Verhandlungen setzt - was ich richtig finde; damit Sie mich nicht missverstehen -, die dies aber vor dem Hintergrund tut, dass dort möglicherweise schon Nuklearwaffen vorhanden sind? Umgekehrt wurde im Falle von Saddam, bei dem keine Verbindungen zu den Anschlägen vom 11. September bestehen, der aber ein furchtbarer Diktator ist, eine Containment-Politik gemacht. Warum gibt es denn seit Jahren die kurdische Autonomie? Ich habe mich dafür eingesetzt und bekam dafür teilweise Prügel. Es hat die Flugverbotszonen gegeben. Ich habe mich immer dafür eingesetzt. Sie kennen nur zu gut die Botschaft, die mit einer solchen Politik signalisiert wird. Sie teilen diese Sorgen, wie ich aus Gesprächen mit Einzelnen weiß. Die Botschaft kann sein: Hast du eine Nuklearwaffe, dann wird verhandelt; hast du sie nicht, dann wird nicht verhandelt. Wenn das die Botschaft ist, dann, fürchte ich, bekommen wir auf mittlere Sicht ein ganz anderes Problem. Denn diese Botschaft wird von den Schurken dieser Welt, die Sie, Herr Hintze, zu Recht benannt haben, dann verstanden werden, mit all den großen Proliferationsrisiken. ({4}) Deswegen ist für mich - das besagt auch die UNCharta - die entscheidende Frage die Proportionalität, die Verhältnismäßigkeit. Sind alle nichtmilitärischen Mittel erschöpft? Es tut mir Leid, aber nach dem, was ich in den Sitzungen in New York höre - ich erinnere insbesondere an die beiden letzten Berichte von al-Baradei und Blix, den Inspektoren -, muss ich sagen: Es ist meine feste persönliche Überzeugung, dass wir jetzt die Chance hätten, wirklich eine weitgehende Abrüstung des Irak mit diesen Instrumenten der Inspektoren zu erreichen, wenn wir genügend Zeit bekommen. ({5}) Genau das versuchen wir zu machen. Das hat doch nichts mit Allianzbildung oder Ähnlichem zu tun. Für mich ist die nordatlantische Allianz unverzichtbar. Aber sie ist eine Allianz freier Demokratien. Wir haben gerade auch von den USA gelernt, dass eine Demokratie im Diskutieren und im Widerspruch besteht. Das ist für mich ein ganz wesentlicher Punkt. ({6}) In einer Allianz freier Demokratien wird es Widersprüche geben. Es kommt nicht nur auf das Wie an, sondern aus meiner Sicht kommt es vor allem auf die Substanz an. Wenn ich von einem Krieg als letztem Mittel nicht überzeugt bin, dann werde ich auch in Zukunft widersprechen. Das habe ich unter anderem von den USA und ihrem Demokratieverständnis gelernt, Kollege Pflüger. ({7}) So werde ich es auch in Zukunft handhaben. Wenn Russland und China heute aufseiten der USA und Großbritanniens stünden, dann spräche man nicht von einer neuen Achse, sondern dann würde man deren Unterstützung selbstverständlich gerne annehmen, weil man damit eine Mehrheit im Sicherheitsrat hätte. Ich halte den möglichen Krieg gegen den Irak angesichts der - nicht änderbaren - geopolitischen Lage in Bezug auf die Folgewirkungen für uns alle für hochriskant. Andere sind nicht mehr unmittelbar betroffen, wenn sie ihre Truppen aus der Region abgezogen haben. Wir können Europas geopolitische Lage nicht ändern. Der Nahe Osten wird nämlich immer unser Nachbar sein und dadurch werden die Probleme, die dort existieren, immer unsere Probleme - ich denke dabei insbesondere an unsere Sicherheit - sein. Da ich mir all dessen bewusst bin und gleichzeitig eine bestimmte Entscheidung nicht mittragen kann, weil ich der Meinung bin, die Risiken seien zu groß und die nicht militärischen Mittel seien noch nicht erschöpft, entspricht es meinem Verständnis von einer Allianz freier Demokratien, dass man das, was man meint, auch so sagt, und zwar in der gebotenen Klarheit. Genau das haben wir getan und das werden wir auch in Zukunft tun. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wegen der besonderen Wichtigkeit dieses Themas bin ich sowohl bei den Fragen als auch bei der Antwort mit unseren Regelungen in der Geschäftsordnung sehr großzügig umgegangen. Ich weise nur darauf hin, dass ich nicht die Absicht habe, das in der gesamten Debatte so zu handhaben. ({0}) Als nächste Rednerin in dieser Debatte hat nun die Frau Kollegin Dr. Winterstein für die FDP-Fraktion das Wort.

Dr. Claudia Winterstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte in dieser Debatte zum Thema europäische Verfassung zurückkehren. ({0}) Wir alle im Plenum wissen, wie wichtig die Europäische Union für uns als europäische Bürger ist. Die EU hat in vielen Lebensbereichen einen direkten Einfluss auf die Unionsbürger. Ich sehe es als unsere Aufgabe, also als die Aufgabe der Politiker, an, den Bürgerinnen und Bürgern dies positiv zu vermitteln. ({1}) Wir müssen erreichen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger der erweiterten Europäischen Union stärker mit dem gemeinsamen Rahmen identifizieren und die Institutionen in Brüssel nicht als fern und abgehoben beurteilen. Mit dem Entwurf für eine neue Europäische Verfassung werden die Staaten Europas erstmals ihre gemeinsamen Wertvorstellungen in einem Dokument zusammenfassen und entsprechend verankern. Die neue erweiterte Union braucht jetzt dringend neue Strukturen, um damit auch ihre zukünftigen Aufgaben meistern zu können. ({2}) Auf den Punkt gebracht: Die neue Verfassung muss mehr Bürgernähe, mehr Transparenz sowie mehr demokratische Legitimationen schaffen und natürlich die Handlungsfähigkeit der Institutionen sicherstellen. Wir von der FDP legen heute einen detaillierten Antrag vor, in dem wir aufzeigen, wie diese Ziele zu erreichen sind und wie eine europäische Politik gestärkt werden kann. Ich will einige wichtige Punkte herausgreifen: Ein ganz entscheidender Bestandteil der künftigen europäischen Verfassung muss die Grundrechtecharta sein. ({3}) Diese Grundrechtecharta ist aus unserer Sicht so fundamental wichtig, dass sie nicht in einen Anhang verbannt werden darf, sondern selbstverständlich im vorderen Teil der Verfassung der EU verankert werden muss. ({4}) Der Bürger muss seine verbürgten Grundrechte gerichtlich durchsetzen können. ({5}) Wir wollen das Europäische Parlament deutlich stärken. Wir schlagen deshalb vor, dass der Präsident der Europäischen Kommission künftig vom Europäischen Parlament gewählt wird und natürlich auch abgewählt werden kann. Dies ist ein wichtiger Schritt, um das bestehende Demokratiedefizit zu beseitigen. ({6}) Wir schlagen weiterhin vor, dem Europäischen Parlament künftig das Recht zu geben, Legislativvorschläge zu unterbreiten, und damit das bisher bestehende Monopol der Kommission zu beenden. Zur notwendigen Stärkung des Parlaments gehört auch, das Mitentscheidungsrecht auf alle europäischen Rechtsetzungsbereiche auszudehnen. Wir wollen die Größe der Kommission auf maximal 15 Kommissare begrenzen und uns hierbei an der Zahl der Geschäftsbereiche orientieren. Nur ein schlanker Zuschnitt sichert die Handlungsfähigkeit der Kommission in einer so erweiterten Union. ({7}) Wenn Sie nun fragen, wie bei 15 Kommissaren die Beteiligung aller Nationalitäten gesichert werden soll, dann sage ich Ihnen: Wir müssen weg vom Nationalitätenproporz. Bei der Auswahl der Kommissare soll nicht die Nationalität, sondern die Kompetenz entscheidend sein. ({8}) Für die Handlungsfähigkeit des Europäischen Rates und der Ministerräte ist es notwendig, das Einstimmigkeitsprinzip abzuschaffen. Künftig muss in allen EU-Politikbereichen, außer bei Verfassungs- und Verteidigungsfragen, mit Mehrheit oder qualifizierter Mehrheit entschieden werden können. Dabei muss sichergestellt sein, dass die Stimmenmehrheit die Mehrheit der Unionsbürger repräsentiert. Wir brauchen eine klare Abgrenzung der Kompetenzen zwischen EU und Mitgliedstaaten. ({9}) Die Aufteilung in ausschließliche, geteilte und unterstützende Zuständigkeiten halten wir für sinnvoll. Unser Antrag enthält eine, wie ich finde, sehr wichtige Klarstellung: Die Formulierung von Zielen der Union begründet allein noch keine Zuständigkeit der EU im jeweiligen Bereich. Abschließend: Ganz besonders wichtig ist das Subsidiaritätsprinzip. ({10}) Die EU soll im Rahmen der ihr zugewiesenen Kompetenzen nur das regeln, was regional und national nicht ebenso gut oder vielleicht sogar besser geregelt werden kann. Wir unterstützen von daher den Vorschlag, für die Parlamente der Mitgliedstaaten eine frühzeitige Einspruchsmöglichkeit und bei Nichtberücksichtigung eine Klagemöglichkeit zu schaffen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, nochmals: Es kommt darauf an, der Europäischen Union für diese Erweiterung eine gemeinsame Verfassung zu geben, die ein demokratisches, transparentes und bürgernahes Europa schafft. Die Parlamente der Mitgliedstaaten sind jetzt aufgefordert, ihre konkreten Vorschläge zu unterbreiten. Die FDP legt mit diesem Antrag ihren Beitrag vor. Danke. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Winterstein, zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag darf ich Ihnen herzlich gratulieren, verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit. ({0}) Das Wort hat nun der Staatsminister Martin Bury.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein starkes vereintes Europa als gleichberechtigter Partner der Vereinigten Staaten von Amerika, so stellte sich John F. Kennedy die Fortentwicklung der europäischen Integration vor. Seine Vision einer Partnerschaft zwischen dem neuen, auf Integrationskurs befindlichen Europa und den USA brachte er 1962 in Philadelphia, dem Ursprungsort der amerikanischen Verfassung, in einer Rede zum Ausdruck, in der er gleichzeitig die Bedeutung der Verfassung für das Entstehen eines geeinten, starken Amerika unterstrich. Heute steht Europa kurz davor, sich selbst eine Verfassung zu geben, eine Verfassung, die Europa stärker und handlungsfähiger machen wird. Nur so hat die Europäische Union eine Chance, zu einem wirklichen Partner der USA bei der Wahrnehmung globaler Verantwortung zu werden, der in diese Partnerschaft seine eigenen, spezifischen Erfahrungen einbringt. Kernelemente dieser spezifisch europäischen Erfahrung sind das Leid durch Krieg im eigenen Land, aber auch der friedliche Interessenausgleich, zu dem Deutschland und Frankreich vor 50 Jahren gefunden haben. Beide Seiten haben hiervon profitiert und eine beispiellos erfolgreiche Entwicklung in Gang gesetzt. ({0}) Deutschland und Frankreich haben dabei von Anfang an nicht den Fehler begangen, sich ausschließlich auf ihre Zusammenarbeit zu konzentrieren. Sie wurden zum Motor der europäischen Integration. Es gilt bis heute: Ohne deutsch-französische Kooperation im Vorfeld der Erweiterung oder im Konvent wären Fortschritte in Europa kaum denkbar. Der Erfolg deutsch-französischer Gemeinschaftsinitiativen beruht dabei nicht auf Dominanz, sondern auf der Fähigkeit zu Kompromissen. In vielen Einzelfragen liegen die Ausgangspositionen Deutschlands und Frankreichs auch heute noch weit auseinander. So war es bei der Frage einer Begrenzung der Agrarausgaben im Zusammenhang mit der Erweiterung oder bei der Konventsinitiative zur institutionellen Reform der EU. Unsere gemeinsame Stärke besteht gerade darin, aus unterschiedlichen Ausgangspositionen gemeinsame Vorschläge zu entwickeln, die geeignet sind, auch die anderen Partner in der EU zu gewinnen. ({1}) Mit der Erweiterung entsteht ein größeres Europa. Der Konvent muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die erweiterte Europäische Union handlungsfähig, bürgernah und demokratisch wird. Die Erweiterung zwingt uns dazu, längst überfällige Reformen endlich in Angriff zu nehmen. Kompromisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner können wir uns bei bald 25 und mehr Mitgliedstaaten nicht mehr leisten. Es ist gerade in Europa nicht außergewöhnlich, dass der Problemdruck den notwendigen Fortschritt beschleunigt oder erst ermöglicht. Wir sind uns einig, dass am Ende der Arbeit des Konvents ein Verfassungsentwurf stehen muss, der erstmals einen einheitlichen Rahmen für das Handeln der europäischen Institutionen schafft. Für uns ist besonders wichtig, dass Europa bürgernäher wird. Deshalb ist das Subsidiaritätsprinzip und seine Durchsetzung in der europäischen Praxis von großer Bedeutung. Wir begrüßen Vorschläge für entsprechende Frühwarnmechanismen, halten jedoch darüber hinaus ein Klagerecht der nationalen Parlamente, und zwar beider Kammern, das heißt in Deutschland des Deutschen Bundestages und des Bundesrates, unabhängig voneinander, für unverzichtbar. Wir wollen die Rechtsinstrumente vereinfachen und klare Kompetenzregelungen vereinbaren. Jeder soll nachvollziehen können, wer in der Union für was zuständig ist. Doch eine Verfassung ist mehr als eine Beschreibung von Institutionen und Verfahren. Wir wollen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger Europas mit der neuen Europäischen Union identifizieren können. Deshalb setzen wir uns auch für die Aufnahme der Grundrechtecharta in die europäische Verfassung ein, und zwar an prominenter Stelle. Ich freue mich, dass die entsprechende Initiative der Bundesregierung nicht nur die Unterstützung aller deutschen Konventsvertreter, sondern auch die Unterstützung von über 100 Mitgliedern des Verfassungskonvents gefunden hat. ({2}) Das ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil die Europäische Union nicht nur eine Union der Staaten und Völker, sondern zugleich eine Union der Bürgerinnen und Bürger ist. Das muss auch in der neuen Verfassung entsprechend zum Ausdruck kommen. Für die Akzeptanz europäischer Institutionen ist nicht zuletzt deren Handlungsfähigkeit von Bedeutung. Der deutsch-französische Vorschlag zur Fortentwicklung der europäischen Institutionen stärkt Parlament, Kommission und Rat und damit die Europäische Union insgesamt. Die größte Herausforderung - das erfahren wir nicht zuletzt in der aktuellen weltpolitischen Debatte und das prägt auch die heutige Debatte des Bundestages - ist die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Diese Debatte berührt selbstverständlich auch die Arbeit des Konvents; er ist kein Elfenbeinturm. Eine Verfassung ist jedoch mehr als eine Antwort auf tagespolitische Fragen. Wir bauen den Rahmen, in dem sich in Zukunft gemeinsame europäische Willensbildung vollziehen kann und soll. Das setzt entsprechenden Willen voraus - keine Frage -, aber auch geeignete Institutionen und Verfahren. Unser Vorschlag, die Schaffung eines europäischen Außenministers, würde Europa in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ein Gesicht geben. Noch wichtiger ist für mich die Perspektive, in Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden, damit die EU auch mit einer Stimme sprechen kann. In der Bevölkerung gibt es gerade in der Irakfrage schon heute über alle nationalen Grenzen hinweg ein gemeinsames europäisches Bewusstsein. Es ist die Verantwortung der politischen Akteure, auch in der Opposition, das entsprechende europäische Selbstbewusstsein an den Tag zu legen, ein Selbstbewusstsein, das auf Partnerschaft setzt, aber Ergebenheitsadressen nicht nötig hat. ({3}) Meine Damen und Herren, zur Weiterentwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gehört für mich auch die Perspektive einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion. Die EU der 15 gibt im Vergleich zu den USA etwa 50 Prozent der Mittel für militärische Aufgaben aus; aber unsere militärischen Fähigkeiten liegen weit unterhalb dieser Marke. Deshalb müssen wir unsere Fähigkeiten und Ressourcen bündeln, stärker kooperieren und unsere Bedarfsplanung harmonisieren. Da sich auf absehbare Zeit nicht alle Mitgliedstaaten an einer ESVU beteiligen können oder wollen, sollten wir das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit nutzen, um dieses Schlüsselprojekt für den europäischen Integrationsprozess voranzubringen. Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist keine Konkurrenz zur NATO, erst recht keine Alternative, sondern eine unverzichtbare Stärkung der transatlantischen Partnerschaft. Auch das hatte John F. Kennedy bereits angepeilt: eine NATO, die auf zwei starken Pfeilern, einem amerikanischen und einem europäischen Pfeiler, steht. Wir sind im Konvent - ohne Frage - weit gekommen, weiter, als manche Skeptiker vermutet haben. Aber noch ist nicht völlig sicher, ob das größere Europa wirklich mehr sein wird als eine erweiterte Freihandelszone. Für uns in Deutschland war die EU stets mehr als nur ein Markt, nämlich eine Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten und Zielen. Lassen Sie uns weiterhin gemeinsam daran arbeiten, diese Werte und Ziele in der europäischen Verfassung zu verankern und die institutionellen Voraussetzungen zu schaffen, um diesen Werten und Zielen Geltung zu verschaffen - in Europa und darüber hinaus. ({4}) Wir haben die historische Chance, die Teilung unseres Kontinents zu überwinden und ein Europa der Freiheit, des Friedens und des Zusammenhalts zu schaffen. Lassen Sie uns diese Chance nutzen! ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Rupprecht, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir Junge in Europa, die heute 20- bis 30-Jährigen, erleben Europa anders als die Nachkriegsgeneration. Wir fragen primär nach den Chancen, die uns Europa bietet. Wir wollen in einem starken und handlungsfähigen Europa leben, einem Europa der Vielfalt und der Regionen. Aber zwischen diesem europäischen Traum - er ist auch mein Traum - und der politischen Wirklichkeit in Europa wird die Kluft größer. Deutschland war früher die treibende Kraft für die Gemeinschaft. Heute spaltet es Europa; ein Riss geht quer durch Europa. ({0}) Es ist doch traurig, dass trotz aller Dramen, die sich auf der Welt abspielen, die gemeinsame Außenpolitik völlig verloren geht. Das großartige Deutschland, jahrzehntelang der wirtschaftliche Motor in Europa, ist heute ein Sanierungsfall. ({1}) 100 000 gut ausgebildete junge Leistungsträger verlassen Deutschland jedes Jahr, weil sie bei uns keine Zukunft sehen. ({2}) Der Kanzler sagt, dass das neue große Europa möglichst niemandem Angst machen solle. ({3}) Reden Sie doch einmal mit den Menschen! 61 Prozent der Menschen in Deutschland haben Angst vor der Osterweiterung. ({4}) Trotz oder gerade weil ich von der europäischen Idee begeistert bin, hinterfrage ich, ob der europäische Zug auf dem richtigen Gleis steht und ob er in die richtige Richtung fährt. Ich frage Sie: Schafft der Verfassungsvertrag handlungsfähige Institutionen? Bringt er eine Klärung der Kompetenzen zwischen Brüssel, Berlin und den Regionen Katalonien oder Bayern? Vor allem: Bringt er, wo nötig, eine Rückverlagerung der Kompetenzen? Mal ehrlich: Innerlich haben viele von uns bereits zugestimmt - man macht es halt so; Europa ist eben gut und toll -, ohne zu wissen, was im Verfassungsvertrag stehen wird. Ich denke aber, dass der Verfassungsvertrag die Zustimmung auch wert sein muss. Ob er es ist, werden wir dann sehen, wenn er vorliegt. Ein Ja und Amen zu allem kann und darf es nicht geben. ({5}) Es ist doch kaum zu ertragen, wie sich Landesparlamente und der Bundestag in den vergangenen Jahren schleichend selbst entmachtet haben. Zeitlich verzögert winken wir die Sammellisten durch und winken ab. Wir brauchen handlungsfähige Parlamente in Deutschland. Ich hoffe, dass der Verfassungsvertrag hier eine Besserung bringt. Kommen wir zur Osterweiterung. Die Wiedervereinigung Europas ist ein großartiger Prozess, großartig auch für Deutschland. Aber die Osterweiterung ohne Vollzug der institutionellen Reformen und ohne Klärung der Kompetenzen zu beschließen ist zumindest riskant. Wir machen den zweiten Schritt vor dem ersten, weil man sich in Nizza nicht fähig gezeigt hat. Es wird auch Verlierer geben, die wir auffangen müssen. Osteuropa muss aufgebaut werden - keine Frage. Diese Gelder werden aber bei uns fehlen. Auch das ist keine Frage. Was passiert in Ostdeutschland? Über Nacht soll die europäische Förderung wegfallen. Ein nationaler Ausgleich ist - zumindest bisher - nicht gewährleistet. Wie soll es weitergehen? Die Betroffenen wollen das wissen. ({6}) Ostbayern, meine Oberpfälzer Heimat, wird im Vergleich zu unserem tschechischen Nachbarn das höchste Fördergefälle der Welt verkraften müssen. Das bricht Strukturen und verursacht Verwerfungen. Trotz aller Freundschaft verstehen die Menschen das nicht. ({7}) Der Kanzler machte in der Weidener Erklärung den Menschen Hoffnung; der damalige Fraktionsvorsitzende Ludwig Stiegler versprach seinerzeit, ein geschlossenes Grenzgürtelprogramm aufzulegen. Sehr geehrte Damen und Herren, die Menschen warten noch heute. Es wurde versprochen und es wurde gebrochen. Europa wird nur dann erfolgreich sein, wenn es ein Europa der Regionen wird - davon bin ich zutiefst überzeugt -, ein Europa der Vielfalt mit seinen faszinierenden kulturellen Unterschieden, Sprachen und Traditionen. Bauen wir in Europa auf Dezentralität und Vielfalt, wie es erfolgreiche Länder, aber auch Unternehmen tun. Nehmen wir uns erfolgreiche Regionen zum Vorbild: Regionen in Irland, in Kalifornien, in Asien und immer mehr in Mittel- und Osteuropa. Dort wird die regionale Kraft, das regionale Können unterstützt und Großartiges aufgebaut. Dort entstehen boomende und ausstrahlende Kerne. Aber dazu brauchen unsere Regionen Handlungskompetenz; sie hatten diese Kompetenz früher mehr als heute. Wir brauchen eine Neuverteilung der Kompetenzen, eine dezentralere Strukturpolitik ebenso wie eine dezentralere Agrarpolitik, wir brauchen ein vernünftiges Maß. Das wäre modern und erfolgreich. Das wäre ein wichtiger Schritt auch für ein boomendes Europa. Ein Letztes: Als junger Europäer und Christ wünsche ich mir ein menschliches Europa. Das muss auch für Vertriebene gelten. Sie haben unsägliches Leid erfahren; Menschen sind zutiefst in ihrer Seele verletzt worden. Die Vertriebenen erwarten zu Recht eine Distanzierung von dem Unrecht, das ihnen widerfahren ist. ({8}) Albert Rupprecht ({9}) Es ist die Pflicht der Bundesregierung, mit allem Nachdruck hierauf zu drängen. Die Wiedervereinigung Deutschlands war und ist für uns eine gemeinsame Aufgabe. Damals gab es mit Helmut Kohl eine klare nationale und europäische Führungspersönlichkeit. Herr Schröder stellte sich im Bundestag in die Stiefel von Willy Brandt und sagte zur Osterweiterung: „Es wächst zusammen, was zusammengehört.“ Nur acht Wochen nach diesem Satz stehen wir in Europa vor einem Scherbenhaufen. Was ist das für eine Weitsicht, was ist das für eine politische Führung? ({10}) Sehr geehrte Damen und Herren, wir brauchen in Deutschland und in Europa klare Führung statt Beliebigkeit. Herzlichen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Rupprecht, ich gratuliere auch Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Plenum des Deutschen Bundestages und verbinde dies mit allen guten Wünschen für Ihre weitere Arbeit. ({0}) Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Europa ist auf einem guten Weg zur Verfassung. Lassen Sie es mich in einem Bild darstellen: Der europäische Zug rollt rascher und rascher in Richtung Integration. Seit 1951 haben wir die Lokomotive mehrfach generalüberholt: vom kohlegefüllten Stahltender der Montanunion über die Diesellok der Wirtschaftsgemeinschaft bis hin zur E-Lok des Binnenmarktes. Heute sitzen wir im Hochgeschwindigkeitszug nach Brüssel. Statt wie früher nur sechs Waggons bewegen wir künftig 25 oder 30. Mit neuen Instrumenten passen wir die alten europäischen Gleise an das rasante Tempo an; die Ära der Bummelzüge ist vorbei. Nur mit starken, schnellen Zügen wie ICE, TGV, Thalys und Eurostar kann die EU beim Wettbewerb mithalten. Es bleibt keine Zeit mehr, anzuhalten und zu verschnaufen. Wir müssen der europäischen Lokomotive in voller Fahrt die Räder wechseln. ({0}) Mit dem EU-Verfassungskonvent und der zeitgleichen historischen Erweiterung um zunächst zehn Länder bringen wir unseren Kontinent nahe an das heran, was einmal die Vereinigten Staaten von Europa sein werden. Für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist dies Grundbestandteil ihrer geschichtlichen Identität. Unsere Forderung nach deutscher Einheit als Anfang eines solidarischen europäischen Staates datiert aus dem Jahr 1866 und war im ersten Wahlprogramm des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu finden. Heute ist das fast Wirklichkeit. Weitestgehend erfüllt ist auch das Vermächtnis jener politischen Häftlinge im KZ Buchenwald aus 13 Ländern und dem gesamten Spektrum der demokratischen Linken. Sie mahnten nach der glücklichen Befreiung durch US-Soldaten im Jahr 1945, Europas kulturelle Mission in der Welt zu erneuern. Die erste Voraussetzung dafür sahen sie in der deutsch-französischen und in der deutsch-polnischen Verständigung. Auf diese Tradition sind wir stolz - und das zu Recht. ({1}) Sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder, haben, jeder zu seiner Zeit, dazu Wegweisendes geleistet. Die besonderen Verdienste von christdemokratischen Regierungschefs wie Konrad Adenauer und Helmut Kohl um Europa möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich einbeziehen. Eine EU-Verfassung des Jahres 2003 ist allerdings nur möglich, weil die deutsche Ratspräsidentschaft 1999 ein Erfolg war, weil diese Bundesregierung mit dem Konvent zur Grundrechtecharta den Integrationsprozess vom Kopf auf die Füße gestellt hat und weil SPD und Grüne die öffentliche Debatte der Bürgerinnen und Bürger sowie der Parlamentarierinnen und Parlamentarier an die Stelle von Geheimdiplomatie von Regierungsvertretern und Beamten gesetzt hat. ({2}) Der seinerzeitige Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Kollege Schäuble, hat den damaligen EU-Gipfel, an dem ich als Mitglied des Europäischen Parlaments als Gast teilnehmen konnte, für gescheitert erklärt - trotz der Erfolge im Kosovo, trotz des EU-Konvents, den wir auf den Weg gebracht hatten. Die Geschichte ist darüber hinweggegangen und hat unsere Position bestätigt. Diese europäische Konstitution wird bestimmt ein Modell ohne Beispiel; sie ist aber nicht ohne Vorbilder. Gerade bei der Geburt einer Verfassung heute ist es wichtig, an „The Birth of a Nation“ von 1776 bis 1787 zu erinnern. Damals schufen sich Menschen aus der alten Welt in Amerika eine neue. Heute bilden in Europa alte Staaten ein neues Gemeinwesen. Genau darin sehen viele jenseits des Atlantiks heute ein Vorbild für regionale Zusammenschlüsse - Stichwort NAFTA. Die amerikanische Verfassung beginnt mit den Worten „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen“. In der europäischen Verfassung beginnen wir fast gleichlautend mit dem Wunsch der Völker und Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten. Gerade weil Europa und die USA so vieles an Überzeugungen und Grundsatzfragen verbindet, können wir unterschiedliche Positionen im Einzelfall austragen und aushandeln. Ein Blick auf den Bericht des Europäischen Axel Schäfer ({3}) Parlaments 2002 zu den transatlantischen Beziehungen zeigt 64 Punkte, bei denen es in der Politik Meinungsverschiedenheiten gibt. Von der Irakfrage war damals überhaupt nicht die Rede. Gerade dabei kommt es auf gleiche Augenhöhe und zuweilen auch auf Tapferkeit vor dem Freund an. ({4}) Der europäische Verfassungskonvent bedeutet in stürmischen Zeiten zugleich eine klare Akzentuierung unseres Profils. Ortega y Gasset hat vor fast 50 Jahren festgestellt: In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen und vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut. - Wer heute die Selbstbehauptung Europas will, braucht Selbstbewusstsein und Selbstachtung. Aus gemeinsamen Werten muss gemeinsames Handeln erwachsen. Deshalb ist diese Verfassung auch die allgemeine Antwort auf eine konkrete Frage, die der Irakkonflikt stellt. Sie lautet: Ist das vereinte Europa mehr als die Summe seiner Teile oder fliehen wir in Zeiten, in denen die fortschreitende Globalisierung harte Fakten schafft, zurück in den weichen Schein von Renationalisierung? Nur Zusammenarbeit oder doch Zusammenschluss? Jawohl, Europa braucht Mut und wir brauchen Mut zu Europa. Mit dem EU-Konvent verbinden wir einen kritischen, einen kreativen und einen offenen gesellschaftlichen Dialog. Denn eine Verfassung wird für Menschen gemacht. Sie müssen sich darin wiederfinden. Sie muss klare Orientierungen, eindeutige Formulierungen und auch Hoffnungen enthalten - im blochschen Sinne: „Ins Gelingen verliebt“. Für uns gilt: Europa ist der Weg und das Ziel; der Frieden ist das Mittel und der Zweck. Deshalb bringen wir Deutsche in die künftige EU-Verfassung unsere Staatsräson vor dem Hintergrund der Präambel des Grundgesetzes ein. Wir wollen als gleichberechtigtes Land in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt dienen. Glück auf! ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Schäfer, als früheres Mitglied des Europäischen Parlaments war das selbstverständlich nicht Ihre erste parlamentarische Rede. Aber dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich herzlich gratuliere, ({0}) verbunden mit allen guten Wünschen für die Fortsetzung Ihrer langjährigen Arbeit an dem gemeinsamen großen Thema Europa. Nun erteile ich dem Kollegen Andreas Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! In dem Antrag, den uns die Koalitionsfraktionen zu unserer heutigen Debatte vorlegen, heißt es - ich zitiere -: Um den neuen außen- und sicherheitspolitischen Anforderungen gerecht zu werden, muss Europa auf der internationalen Bühne mit einer Stimme sprechen. … Dies ist auch im Interesse einer ausgewogenen und dauerhaften transatlantischen Partnerschaft wichtiger denn je. Leider erleben wir derzeit, wie eklatant Anspruch und Wirklichkeit rot-grüner Außenpolitik auseinander klaffen. ({0}) Durch die einseitige Vorfestlegung im Irakkonflikt unabhängig von dem Ergebnis der UN-Inspektionen hat die Bundesregierung nicht nur die atlantische Partnerschaft dramatisch beschädigt. Sie hat Europa gespalten. Bei allem Optimismus, der in dieser Debatte zu Recht zum Ausdruck gekommen ist, müssen wir feststellen, dass der europäische Einigungsprozess in einer der größten Krisen, die es in den letzten Jahren gab, steckt. Das gilt vor allem für substanzielle Fortschritte im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, wobei zurzeit die Vertrauensbasis, die dafür notwendig ist, nachhaltig zerrüttet ist. Das ist deshalb umso dramatischer, als der europäische Einigungsprozess auch nach der Osterweiterung und nach dem Konvent fortgesetzt werden muss. Nur in einem großen, politisch einigen und handlungsfähigen Europa können wir im 21. Jahrhundert unsere Interessen wahren und unserer Verantwortung gerecht werden. Dieses Europa ist eben kein Gegensatz zur atlantischen Partnerschaft, sondern ein wesentlicher Teil davon. Europäische Einigung und transatlantische Allianz sind existenzielle Grundlagen für die Sicherung unserer Zukunft. Natürlich haben gerade wir Deutschen ein ureigenes Interesse am Erweiterungsprozess. Mit dem Beitritt unserer östlichen Nachbarn erzielen wir einen historischen Erfolg bei der dauerhaften Sicherung von Frieden in Freiheit. Wie labil Frieden und Freiheit auf unserem Kontinent immer noch sind, das haben wir gestern in brutaler Weise durch die Ermordung des serbischen Ministerpräsidenten Djindjic wieder vor Augen geführt bekommen. Im Übrigen hat die Befriedung des Balkans in den 90er-Jahren auch deutlich gemacht: Ohne die Vereinigten Staaten von Amerika können wir Europäer die dauerhafte Stabilisierung Ostmitteleuropas und Südosteuropas nicht leisten. Ich bin mir nicht sicher, ob in den Vereinigten Staaten von Amerika die Akzeptanz des Engagements amerikanischer Soldaten auf unserem Kontinent erhalten bleibt, wenn europäische Partner die Solidarität verweigern, wenn sich Amerika bedroht fühlt, ({1}) und wenn europäische Diplomaten im Sicherheitsrat offen gegen die Vereinigten Staaten von Amerika Stimmen sammeln. Gestern hat der NATO-Rat beschlossen, mit Ablauf dieses Monats die Operation Allied Harmony in Mazedonien vorzeitig zu beenden. Von April an soll die Europäische Union diesen Einsatz übernehmen. Die CDU/ CSU begrüßt dies ausdrücklich. Dies ist der erste militärische Einsatz im Rahmen des internationalen Krisenmanagements, der von der Europäischen Union geführt wird. Obwohl die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wegen des Irakkonflikts einen herben Rückschlag erlitten hat, ist sie doch so weit institutionalisiert, dass es zumindest im Kleinen Fortschritte zu verzeichnen gibt. Die enge Zusammenarbeit mit der NATO und auch der Rückgriff auf Fähigkeiten und Mittel der NATO bei der Übernahme des Mandats in Mazedonien sind vorgesehen. Auch hier zeigt sich wieder: Dort, wo die Europäische Union - und sei es nur im Kleinen - international agiert, ist sie ohne eine enge Abstimmung mit der NATO und damit ohne das „backing“ der Vereinigten Staaten von Amerika nicht handlungsfähig. Die deutsch-französische Zusammenarbeit - Herr Staatsminister Bury hat zu Recht darauf hingewiesen bleibt für die europäische Einigung essenziell. Eine Grundlage deutscher Außenpolitik war immer, eine ausgewogene Balance zwischen transatlantischer Kooperation und deutsch-französischer Partnerschaft zu suchen. Diese Balance hat der Bundeskanzler aufgegeben. Zu den Grundlagen unserer Außenpolitik hat auch immer gehört, dass wir auf der einen Seite eine privilegierte Partnerschaft mit Frankreich pflegen, uns andererseits aber auch zum Anwalt der Interessen kleinerer EUMitgliedstaaten machen. Auch diese Ausgewogenheit hat der Bundeskanzler aufgegeben, und zwar erstmals das hat nachhaltiger gewirkt, als uns heute lieb sein kann - mit der offenen Brüskierung Österreichs, nachdem Wolfgang Schüssel zum Bundeskanzler gewählt wurde. ({2}) Vor allem in den Staaten, die jetzt der Europäischen Union beitreten, hat dies psychologisch eine verheerende Auswirkung gehabt. Gerade die Ost- und Mitteleuropäer haben immer wieder gesagt: So etwas passiert nur einem kleinen oder mittleren Land und wir, die beitreten, sind alles kleine und mittlere Länder; einem großen Land wäre das nicht passiert. Auch die Art und Weise der deutsch-französischen Vorgehensweise im Irakkonflikt gegenüber den kleinen und auch gegenüber den jetzt beitretenden Staaten war ({3}) psychologisch verheerend. ({4}) Die deutsch-französische Partnerschaft ist eben kein Majorat, sondern sie ist Motor der Einigung. Sie muss im Interesse der Europäischen Union wirken. Deshalb will ich abschließend auf das eingehen, was Sie, Herr Bury, zum Instrument der verstärkten Zusammenarbeit gesagt haben. Selbstverständlich kann in einem Europa mit 25 Mitgliedern vor allem im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik nicht alles mit allen Mitgliedern gemacht werden. Aber wir müssen auf dieses Instrument zurückgreifen können. Nach unserer Auffassung gilt: Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik in Europa darf es keine verstärkte Zusammenarbeit geben, an der nicht beide, also Deutschland und Frankreich, beteiligt sind. Es darf aber auch keine verstärkte Zusammenarbeit geben, die nicht für alle anderen EUMitglieder zu einem späteren Zeitpunkt, zu dem sie dies wollen und können, offen bleibt. ({5}) Was Sie zur Arbeitsteilung vor allem mit Blick auf die diplomatischen oder militärischen Fähigkeiten gesagt haben, ist selbstverständlich. Wir werden nächste Woche bei der Haushaltsberatung sehen, ob Sie diesem Anspruch auch Taten und entsprechende Mittel folgen lassen. Die Osterweiterung der Europäischen Union ist eine historische Chance und Herausforderung für die deutsche Außenpolitik. Es ist höchste Zeit, die Handlungsfähigkeit, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit zurückzugewinnen, die durch den Sonderweg der Bundesregierung gegenüber den heutigen und künftigen Partnern in der EU verspielt worden ist. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Markus Meckel für die SPD-Fraktion.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrter Kollege Schockenhoff, Sie sind wahrhaftig ein akzeptierter Außenpolitiker, aber manchmal fehlt die Wahrnehmung der Realitäten. Es ist richtig, dass sich die Situation in Europa so darstellt, dass es eine Spaltung der Europäer in der Frage, wie der Irak entwaffnet werden soll, gibt, dass es insoweit unterschiedliche Positionen gibt. Das ist aber nicht einfach der Bundesregierung anzulasten, sondern das liegt daran, dass hier sehr unterschiedliche Positionen und Ansätze miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Zurzeit sind vier europäische Staaten Mitglied im Sicherheitsrat. Es gibt ein ständiges Mitglied - Frankreich -, das der deutschen Position sehr nahe steht. Dann gibt es ein anderes ständiges Mitglied - Großbritannien -, das der Position der USA und Spaniens sehr nahe steht. Dort reden und diskutieren wir darüber, welches der beste Weg zur Abrüstung des Irak ist. Es stellt sich die Frage - diese Frage hat der Außenminister schon an Sie gerichtet -, wie Sie sich da einordnen. Sind Sie der Meinung, dass ein „schwerwiegender Verstoß“ gegen die Resolution 1441 vorliegt - ein „material breach“ -, oder sind Sie der Meinung, dass die Inspektionen auf der Grundlage dessen, was jetzt geschieht, fortgeführt werden sollen? Das sind die politischen Entscheidungen, vor denen Sie stehen. Sie müssen im Rahmen der Konstellation Europas versuchen, Ihre eigene Position zu beziehen. Wenn wir uns diese unterschiedliche Situation ansehen - die unterschiedlichen Einschätzungen sind offensichtlich -, dann stellen wir fest, dass sich die griechische Präsidentschaft erfolgreich um eine gemeinsame Position bemüht hat, auf die man sich am 27. Januar einigte. Wir haben dann erleben müssen, dass nicht die Ost- und Mitteleuropäer die Initiative ergriffen haben, sondern Herr Blair und Herr Aznar. Man kann vermuten, dass sie vielleicht nicht ganz alleine auf den Gedanken gekommen sind, eine Initiative zu starten, um diesen Konsens kaputtzumachen. Wir kritisieren nicht den Inhalt der Erklärung, der sich unsere osteuropäischen Partner angeschlossen haben, sondern das Prozedere. Ich komme gerade aus Polen und Budapest, wo mir sehr deutlich gesagt wurde, dass man dies aus heutiger Sicht für problematisch hält. Die Diskussion findet in den Ländern statt. Auch in Budapest und in Polen wird darüber diskutiert und es wird allgemein gesagt, dass wir so nicht miteinander umgehen sollten. Den Regierungschefs Polens und Deutschlands, die sich so gut kennen und so oft gesehen haben wie vorher niemals Regierungschefs der beiden Länder, sollte so etwas nicht passieren. Aber wer wollte es dem polnischen Regierungschef vorwerfen, wenn wir gleichzeitig feststellen müssen, dass auch der polnische Staatspräsident es vorher nicht wusste? Es gibt also manchmal Kommunikationsschwierigkeiten in einem Staat, es gibt Kommunikationsschwierigkeiten in Europa. Ich denke, wir alle sollten und können daraus lernen. Ich glaube, es ist uns allen, und zwar sowohl den Beitrittsstaaten als auch den Mitgliedstaaten, bewusst, dass es darum geht, Europa auch in der Außenund Sicherheitspolitik gemeinsam stark zu machen. Bei der Betrachtung der jetzigen Situation sehen wir heute normalerweise zuallererst die gespaltene Position Europas. Wenn wir uns aber die Entwicklung der GASP und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ESVP, seit 1999 und eben nicht nur die Entwicklung seit gestern ansehen, stellen wir fest, dass ungeheuer viel passiert ist. Das kann niemand von uns leugnen. Ich denke dabei natürlich an das Schaffen der entsprechenden Institutionen und der entsprechenden Ausschüsse sowie an das Zusammenbinden der militärischen und der zivilen außenpolitischen Arbeit. In dieser zentralen Frage hat gerade Europa besondere Verdienste, auch in der Vergangenheit. ({0}) Dies wollen wir gemeinsam weiterentwickeln zu einer integrativen Außenpolitik Europas, in der die politischen, ökonomischen, zivilen und auch die militärischen Möglichkeiten, die Europa hat, zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zusammengeführt werden. Meine Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es ist ein großer Fortschritt, dass Europa auch eine sicherheitspolitische Dimension hat und außenpolitisch wirklich gemeinsam agiert. Das wurde bis 1999 nicht für möglich gehalten. Dass wir dazu heute im Konvent einen ganz breiten Konsens haben, ist bereits mehrfach angesprochen worden. Dass es möglich ist, bereits über einen europäischen Außenminister zu sprechen, ist ein ungeheurer Fortschritt. Heute geht es darum, diesen politischen Willen angemessen umzusetzen. Ich denke, dass es gerade im transatlantischen Verhältnis ausgesprochen wichtig für uns alle ist, dass Europa gemeinsam agiert und gemeinsam auftritt. Es wäre ein völlig falsches transatlantisches Verständnis, zu glauben, durch eine Spaltung Europas nutze man Amerika. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, den wir uns deutlich machen müssen. Das transatlantische Verhältnis wird umso stärker sein, je klarer Europa Amerika als Partner auf gleicher Augenhöhe begegnet, als Partner mit gemeinsamen Werten, in gemeinsamen Institutionen und mit ganz zentralen gemeinsamen Interessen weltweit. ({1}) Die Erweiterung der EU ist beschlossen. Im nächsten Monat wird die feierliche Unterzeichnung stattfinden, ({2}) aber wir werden auch die Referenden in den Beitrittsstaaten haben. Wir haben die Wackelpartie und die Diskussion in Malta erlebt und sind froh, dass dieses Land, das als erstes sein Referendum abgehalten hat, recht deutlich zugestimmt hat. Es wird dort, wie wir wissen, zwar noch einen parlamentarischen Prozess und Wahlen geben, aber ich glaube, Malta ist auf einem guten Wege. Schwieriger wird die Abstimmung in Slowenien, der wir mit Spannung entgegensehen. Dort ist zwar die Akzeptanz für die EU groß, allerdings wurde das Referendum mit der Abstimmung über die NATO-Mitgliedschaft verbunden. Eine NATO-Mitgliedschaft ist in der Bevölkerung nicht sehr populär. Wenn es zu einem Krieg kommen sollte - wir hoffen zwar alle, dass er verhindert werden kann; aber es sieht ja nicht danach aus -, und dies im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Referendum, dann müssen wir uns durchaus große Sorgen machen. Ich hoffe, dass alle Referenden erfolgreich durchgeführt werden. Es darf bei den neuen Mitgliedstaaten Ost- und Mitteleuropas nicht der Anschein erweckt werden - so kam das etwa durch die Reaktion Chiracs auf den Brief der Acht bei ihnen an -, dass sie nicht zur Definition eigener, selbstständiger Positionen und zum Einbringen ihrer Positionen in die europäische Meinungsbildung berechtigt sein sollten. Wir wollen sie als wirkliche Partner. Es ist richtig, dass sie sich als solche zur Sprache bringen. Deshalb ist es meiner Meinung nach gut, wenn der polnische Außenminister Initiativen zur Gestaltung der Nachbarschaft ergreift. Die Europäische Union hat jetzt dazu einen Text vorgelegt. Wir werden darüber reden müssen, wie die Gestaltung einer guten Nachbarschaft in der Europäischen Union auch mit Blick auf künftige Erweiterungsprozesse vorangebracht werden kann. Der Mord an Zoran Djindjic, den wir gerade erleben mussten, ist für uns ein ganz klares Signal und eine Warnung, dass wir aktiv werden müssen und dass wir den Ländern in dieser Region und den restlichen Ländern Europas verstärkt eine Perspektive auf eine Mitgliedschaft geben müssen. ({3}) Meine Damen und Herren, wir haben uns sowohl im Rahmen der EU, wo wir mit dem Headline Goal die militärische Dimension implementieren wollen, als auch im Rahmen der NATO, wo wir die Response Force beschlossen haben, hohe Ziele gesetzt und müssen nun zusehen, dass dies kompatibel wird. Dazu gibt es den festen Willen. Dabei müssen wir darauf achten, dass wir die Grundsätze wirklich in der Praxis umsetzen. Wir haben nur eine Bundeswehr. Angesichts der Defizite, die im Bereich der Streitkräfte - bei den Transportkapazitäten, bei der Kommunikation und der Aufklärung - vorhanden sind, werden wir große Anstrengungen tun müssen. Das geht nur durch Arbeitsteilung, durch Bündelung und dadurch, dass wir in Absprache mit den anderen europäischen Partnern gemeinsam handeln. Wichtig scheint mir - damit möchte ich schließen -, dass wir auch in der Frage der Rüstungs- und Anschaffungspolitik in Europa zu gemeinsamer Aktion, zu gemeinsamem Handeln kommen. Im Rahmen des Konvents ist der Vorschlag gemacht worden, eine europäische Rüstungsagentur zu schaffen. Ich denke, das ist ein ganz zentrales Thema, nicht nur für die europäische Rüstungswirtschaft, die gegenüber der Rüstungswirtschaft der USA konkurrenzfähig sein soll, sondern auch für eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Wir brauchen gemeinsames Handeln im Rüstungssektor. Deswegen sollten wir diese Agentur intensiv unterstützen, einmal deswegen, weil sie Forschungs- und Entwicklungsvorhaben in Europa fördern kann, aber auch deswegen, um die Einhaltung der Kapazitätsziele, die wir als Staaten versprochen haben, zu erreichen. Meine Damen und Herren, wir sind auf einem guten Weg und sollten uns dessen auch bewusst sein. Im Jahr 1989/90 haben wir - denken Sie einmal zurück noch über „Vertiefung oder Erweiterung?“ diskutiert. Heute sind wir dabei, in einem parallelen Prozess beides zu erreichen. Wir haben die große Erweiterung beschlossen und sollten alles dafür tun, dass die Referenden gelingen. Darüber hinaus werden wir am Ende des Jahres hoffentlich eine europäische Verfassung haben. Dies wird ein großer Erfolg sein. Ich danke Ihnen. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Erwin Marschewski, CDU/CSU-Fraktion.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Vorredner haben zu Recht gesagt, dass die Osterweiterung der Europäischen Union ein epochales Ereignis ist. Dass Demokratie, Menschenrechte und Minderheitenschutz in dann 25 Staaten Europas mit 450 Millionen Menschen absolute Geltung haben werden, hat der Union Kraft gegeben, seit Jahrzehnten auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Wir wollen diese historische Chance nutzen, die auch eine noch intensivere Verständigung mit unseren östlichen Nachbarn umfasst. ({0}) Verständigung und Aussöhnung - das sind Ziele, die die Heimatvertriebenen bereits im August 1950 in ihrer Stuttgarter Charta proklamiert haben. Es geht darum, die Gräben zuzuschütten und ein geeintes Europa zu schaffen, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können. Weil dies auch unsere Ziele sind, haben wir als Union die wichtige Brückenfunktion der deutschen Heimatvertriebenen und Volksgruppen in Mittel- und Osteuropa stets in besonderer Weise herausgestellt. Deswegen werden wir die berechtigten Anliegen der Heimatvertriebenen im Rahmen der Osterweiterung zur Sprache bringen. ({1}) Weil das Recht auf die Heimat gilt, muss die in der Europäischen Union geltende Freizügigkeit ein Schritt hin zur Verwirklichung dieses Rechts auf die Heimat sein, und weil sich Europa als Rechts- und Wertegemeinschaft versteht, müssen Völker und Volksgruppen ohne rechtliche Diskriminierung zusammenleben können. Deswegen betone ich: Die Vertreibungsdekrete und Vertreibungsgesetze sind Unrecht. ({2}) Daher darf zum Beispiel das so genannte tschechische Straffreistellungsgesetz von 1946, durch das die Verbrechen an Deutschen und Ungarn bis hin zur Tötung straffrei gestellt wurden, keine Gültigkeit mehr haben. Gleiches gilt für die Aufhebung der Unschuldsvermutung und die entschädigungslose Enteignung. Sie dürfen keine notwendigen Sanktionen mehr sein, wie es das tschechische Verfassungsgericht noch 1995 bedauerlicherweise ausdrücklich erklärt hat.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Marschewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel?

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön, Herr Präsident.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte sehr.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege, ich denke, wir alle in diesem Hohen Hause sind uns einig, dass Vertreibungen Unrecht sind. Dies ist hier von Vertretern aller Fraktionen mehrfach gesagt worden. Ich glaube, es gibt aber ein Missverständnis. Deshalb möchte ich Sie dazu etwas fragen. Wollen Sie damit sagen, dass Sie dieses Thema jetzt, nachdem die Verhandlungen mit diesen Ländern über den Beitritt zur Europäischen Union zu einem Ende geführt worden sind - die Verträge sind zwar noch nicht unterschrieben, aber die Verhandlungen sind beendet -, erneut aufgreifen und einbringen wollen? Wollen Sie damit sagen, dass dies für Sie ein neues Feld ist und dass diese Frage in den Verträgen noch in irgendeiner Weise berücksichtigt werden muss? Hier wäre Klarheit wichtig.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Meckel, ich will eines sagen: Vertreibung und ethnische Säuberung dürfen nirgendwo Bestandteil einer bestehenden Rechtsordnung sein. Es kann nicht sein, dass diese Dinge zum Beispiel in der Tschechischen Republik noch in den Gesetzesblättern stehen. Das muss durch eine Erklärung des Parlaments oder Ähnliches beendet werden können. Denn für uns ist es doch eindeutig - dies will ich mit meinen Ausführungen sagen -: Dies alles steht im klaren Widerspruch zu dem Geist und den Werten der Europäischen Union und des Völkerrechts. Das ist unsere Intention. ({0}) - Ich möchte in den verbleibenden Minuten gern zu Ende ausführen, verehrter Herr Kollege. Um eines noch zu sagen: Wir Deutsche wissen natürlich um das schwere Unrecht, das die Nazis auch vielen Völkern Osteuropas zugefügt haben. Das, was Helmut Kohl ausgedrückt hat, ist aber auch richtig: Weder wird deutsche Schuld durch das Unrecht der Vertreibung auch nur um ein Jota gemindert, noch hebt deutsche Schuld das Unrecht der Vertreibung auf. Deswegen - das ist meine weitere Antwort - müssen diese Themen auch im Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn offener und intensiver angesprochen werden; sonst könnten sie den Weg in eine gemeinsame Zukunft erschweren, Herr Kollege Meckel. Es ist die Verpflichtung der Bundesregierung, genau dies zu tun. Wir beide kennen doch Art. 6 des Vertrages über die Europäische Union. In ihm sind die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtstaatlichkeit festgeschrieben, die die Mitgliedstaaten akzeptieren müssen. Was aber in diesen Dekreten steht, ist eben nicht rechtstaatlich. Sie stehen in eklatantem Widerspruch zu Art. 6 des EU-Vertrages. Die Vertreibungsdekrete sind Unrecht und müssen aufgehoben werden. Dafür steht die Union ein. ({1}) Mit dieser Haltung stehen wir nicht allein. Sie wissen, dass sich der UNO-Menschenrechtsausschuss in Genf in mindestens sechs Entscheidungen entsprechend geäußert hat. Sie wissen, dass auch das Europäische Parlament die Aufhebung verlangt hat. Wenn Sie gar nichts überzeugt: Der Bayerische Landtag hat mit den Stimmen von CSU und SPD einen Beschluss in diesem Sinne gefasst. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich sage dazu nur: Tut es ihnen gleich! Sie wissen doch genauso gut wie wir: Nur wenn wir auch das ansprechen, wenn wir darüber diskutieren und wenn wir zu anderen Ergebnissen kommen, können wir als Nachbarn in eine gemeinsame und bessere europäische Zukunft gehen. Herzlichen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bevor ich dem Kollegen Meckel das Wort zu einer Kurzintervention erteile, möchte ich - ganz freundlich darauf hinweisen, dass der zwischen den Fraktionen vereinbarte Zeitplan unserer heutigen Plenardebatte schon kräftig aus dem berühmten Ruder gelaufen ist. Ich wäre dankbar, wenn alle dies bei ihren Zusatzfragen, Interventionen und der Ausnutzung ihrer Redezeit berücksichtigen. Bitte schön, Herr Meckel.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. Ich werde mich kurz fassen. Herr Marschewski, wir sind uns völlig einig, dass wir die Fragen von vergangenem Unrecht und von Vertreibung, dass wir unsere europäische Geschichte überhaupt noch intensiv zum Thema machen müssen. Das gilt nicht nur für unsere östlichen Nachbarn, sondern das betrifft unsere Situation in Europa insgesamt. Wir brauchen über die Ländergrenzen hinweg den gemeinsamen Willen zur Behandlung von Geschichte und sollten versuchen, gemeinsam Geschichte zu schreiben. Ich stimme Ihnen auch ausdrücklich darin zu, dass sich alle Staaten der Europäischen Union an die europäische Rechtsordnung halten müssen. Eine Frage ist mir aber wichtig und deshalb habe ich mich doch noch zu einer Kurzintervention gemeldet - das ist in Ihrer Rede offen geblieben -: Wollen Sie sagen, dass Sie Gesprächsbedarf sehen, oder wollen Sie sagen, dass Sie bis zum Abschluss der Verträge und ihrer Ratifizierung entweder von der Europäischen Kommission eine entsprechende Initiative erwarten, um das Thema Verteibung zur Sprache zu bringen, oder sich von den Nachbarländern eine entsprechende Entscheidung als Voraussetzung für die Zustimmung Ihrer Fraktion zur Aufnahme in die Europäische Union erhoffen. Diese Frage möchte ich sehr gerne von Ihnen beantwortet haben.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Marschewski, möchten Sie antworten? Gut, dann erteile ich Ihnen das Wort.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Meckel, ich spreche nicht für alle Außenpolitiker der Union; das ist wahr. Aber ich kenne die Meinung unserer Außenpolitiker. Sie alle vertreten eindeutig die Auffassung: Wir müssen noch einmal miteinander reden. Der Deutsche Bundestag hat in seinen Sitzungen nach dem Krieg zum Volksgerichtshof und zu vielen anderen scheußlichen Dingen Nein gesagt und sie als Unrecht verurteilt. So etwas erwarte ich zum Beispiel auch von unseren tschechischen Freunden. Was hindert sie daran, es uns gleichzutun und die Dekrete, die Vertreibung, die Aberkennung der Staatsbürgerschaft, die Verurteilungen zum Tode, Totschlag und vieles andere als Unrecht zu verurteilen? Das erwarten wir. Wir erwarten, dass die Bundesregierung - der Außenminister ist nicht mehr anwesend - dies intensiv und kraftvoll vorträgt. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Kurt Bodewig, SPDFraktion.

Kurt Bodewig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003051, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass wir uns heute die Zeit nehmen, über zwei wirklich historische europäische Ereignisse zu sprechen: die Entwicklung einer europäischen Verfassung und das große Thema des Beitritts, also die Tatsache, dass Europa ab dem 1. Mai 2004 anders aussehen wird. Das Bemühen der Opposition, künstlich Gegensätze zu erzeugen, ist nur zum Teil gelungen. Schließlich führen wir heute eine Debatte über Europa und nicht über den Irak, auch wenn ein geeintes, starkes Europa meines Erachtens eine Antwort in der Irakdebatte ist. Ich will nachher darauf eingehen. Es ist wichtig, festzustellen, dass die künstliche Trennung zwischen Ost und West aufgehoben worden ist. Die Qualität dieses Ereignisses können wir gar nicht hoch genug schätzen. ({0}) Ich bedauere, dass dies in der Debatte kaum Widerhall gefunden hat. Ist es so selbstverständlich, dass es in Europa, zumindest in den Grenzen der Europäischen Union, seit 58 Jahren keinen Krieg mehr gegeben hat? Für diese Region der Welt ist das der längste Zeitraum friedlichen Zusammenlebens in der Historie. Auch das ist Europa. Ich gratuliere dem Kollegen Rupprecht zu seiner ersten Rede. Seine bayerische Euroskepsis macht mich jedoch sehr nachdenklich. Ich fand das Statement, das Sie hier in Richtung Europa abgegeben haben, traurig, weil dieses Europa - auch nach der Erweiterung - eine hohe Attraktivität hat. Eine Zone der Sicherheit und Demokratie zu haben ist keine Selbstverständlichkeit. Der Mordanschlag von gestern hat dies unterstrichen. Es ist ein großer Wert, dass in Europa eine Zone der Sicherheit, der Demokratie und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit besteht, die nach der Erweiterung bis ins Baltikum, nach Bulgarien und Rumänien reichen wird. Das bedeutet eine ganz neue Attraktivität. Einige von uns haben eine Einladung nach Oslo bekommen. Die Norweger diskutieren auf einmal über einen Beitritt zur Europäischen Union. Diese neuen Entwicklungen zeigen: Es gibt eine Attraktivität dieses größten ökonomischen Binnenmarktes der Welt, der nach der Erweiterung 450 Millionen Menschen umfassen und damit - auch das sollten wir sehen - ein starkes Gegengewicht zu den Wirtschaftsräumen in Nordamerika und Asien bilden wird. Ich halte es für Unsinn, eine Debatte zu führen, ob es sich um ein altes oder ein neues Europa handelt. Europa hat eine Geschichte, die mit Werten verbunden ist. Zukünftig werden wir ein gemeinsames Europa haben. Das ist eine Antwort auf all diejenigen, die in Europa künstliche Gräben errichten wollen. Wir wollen ein gemeinsames und starkes Europa im Sinne einer Lebensverbesserung der Menschen und der Friedenssicherung. ({1}) In der Zuwanderungsdebatte heute Morgen hat ein Kollege der Union den Begriff vom gordischen Knoten gebraucht. ({2}) Wenn dieser Begriff in eine Richtung treffend ist, dann in Bezug auf den Gipfel von Kopenhagen. Dort ist, gerade in Bezug auf die schwierigen Verhandlungen mit Polen, ein gordischer Knoten durchschlagen worden, und zwar nicht zuletzt vom Bundeskanzler. Das sollten wir anerkennen und dafür sind wir dem Kanzler zu Dank verpflichtet. ({3}) Herr Altmaier, das ist auch die Antwort auf Ihren Beitrag, in dem Sie uns glauben lassen wollten, der Bundeskanzler sei hinsichtlich Europa desinteressiert. Das Gegenteil ist richtig. Es geht um große Linien und um konkrete Kleinarbeit. Beides wird von dieser Bundesregierung mit Unterstützung des Parlaments hervorragend gehandhabt. Mein Dank gilt natürlich auch Günter Verheugen, der in einer sehr schwierigen Situation die Interessen der Staaten überein gebracht hat. Leider ist der schwere Zypernkonflikt, der übrigens auch Gradmesser für die Europafähigkeit der Türkei ist, noch nicht gelöst. Die Unterzeichnung der Beitrittsverträge mit zehn Staaten am 16. April ist dennoch ein historischer Vorgang. Die Erweiterung wird zu Wachstum, ausländischen Direktinvestitionen und klaren wirtschaftlichen Impulsen führen. Ich fand die Formulierung von Sir Leon Brittan in diesem Zusammenhang sehr treffend: Die Bedeutung der Osterweiterung ist nur vergleichbar mit dem Abschluss der Römischen Verträge im Jahr 1957. Wenn uns das bewusst ist, können wir positiv nach vorne schauen und den bayerischen Skeptizismus zur Seite schieben. Ich will noch etwas zu Herrn Marschewski sagen. Ich glaube, Ihre ganze Herangehensweise ist falsch. Dieses Europa wird ein Europa der Gemeinsamkeit und der Begegnung sein. Am sichersten wird gegen Vertreibung und ethnische Säuberung wirken, dass sich die Menschen kennen lernen. Wenn junge Menschen miteinander in einen Austausch treten, ist das das Wirkungsvollste, was wir auch im Sinne der Vertriebenen tun können. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten. ({4}) Lassen Sie mich auch das Thema Handel ansprechen. Die EU-Osterweiterung hatte seine Vorgeschichte mit einem Europaabkommen, mit dem faktisch eine europäische Freihandelszone einherging. Allein der Beitrittsprozess hat nun bewirkt, dass die Kandidatenstaaten in Vorleistung gegangen sind: Sie haben die Stabilitätskriterien ernst genommen und durchgesetzt. Das sind deutliche Erfolge. Der Handelsbilanzüberschuss der EU gegenüber den zehn Beitrittsländern beträgt 20 Milliarden Euro. Deutschland hat hieran einen Anteil von 50 Prozent. Die ökonomische Wirkung ist also auch im Sinne Deutschlands positiv, wobei für die Beitrittskandidaten die strukturellen Chancen für eine wirtschaftliche Entwicklung noch größer sind als im Europa der Fünfzehn. Beides zusammengenommen wird dazu führen, dass neue Wachstumschancen entwickelt werden und dass ein Europa geschaffen wird - damit ende ich an dem Punkt, an dem ich begonnen habe -, das Frieden gewährleistet und eine starke Kraft darstellt. Ich glaube, dass dieses Europa nicht gegen Amerika gerichtet ist. Das Problem der acht Unterzeichner des vielfach angesprochenen Briefes bestand doch vielmehr darin, dass sein Inhalt nicht einmal in Übereinstimmung mit der Auffassung der eigenen Bevölkerung stand. Dieses Europa wird ein friedliches Europa mit guten Beziehungen zu den USA und anderen großen Zentren dieser Welt sein. Wir sollten dieses friedliche Europa in einem gemeinsamen Verständnis und mit Ihrer Unterstützung aufbauen. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Frau Dr. Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einige EU-Beitrittskandidaten mit Polen an der Spitze haben in der Frage eines Krieges gegen den Irak eine andere Meinung vertreten als Frankreich und Deutschland. Wir als PDS teilen die Auffassung dieser Länder ausdrücklich nicht, weil wir der Meinung sind, dass Krieg kein Mittel der Politik sein darf. ({0}) Aber offensichtlich haben einige Politiker der EU vergessen, dass auch EU-Beitrittsstaaten souveräne Staaten sind. Sie haben wie jedes andere Land das Recht auf eine eigene Meinung und damit auch auf eine argumentative Antwort. ({1}) Insbesondere die Reaktion des französischen Präsidenten war sicherlich nicht von Argumenten dominiert und ist daher symptomatisch. Damit komme ich zu einem Aspekt, der in dieser Debatte bisher noch keine Rolle gespielt hat. Die Beitrittsländer werden von der EU häufig wie Schuljungen behandelt, die gefälligst keine eigene Meinung vertreten sollen. Meinungsmacher sind Frankreich, Deutschland und Großbritannien; die anderen Länder haben das Recht, sich dieser Meinung anzuschließen. Diese Sichtweise ist mir bei den Beitrittsverhandlungen immer wieder aufgefallen. Die Verhandlungen wurden von oben herab geführt. Die Beitrittsländer wurden häufig wie Bittsteller behandelt. Die Ergebnisse der Verhandlungen sind gerade für Polen in vielen Fragen eine Zumutung. Die EU fordert, dass alle Regeln durch die Beitrittsländer 1 : 1 übernommen werden, gewährt aber gleichzeitig den zukünftigen EU-Bürgern nicht die gleichen Rechte wie den Alt-EUBürgern. Vor allem Deutschland hat mit völlig überzogenen Übergangsregeln - ich nenne nur die Einschränkung der Niederlassungsfreiheit für Bürger aus den Beitrittsländern für sieben Jahre - EU-Bürger erster und zweiter Klasse festgeschrieben. Ich denke, die EU braucht dringend neue politische und strukturelle Ansätze. Man darf die Beitrittsländer nicht wie Erstklässler behandeln, sondern man muss ihnen Spielräume lassen, damit sie Neues ausprobieren und Innovationen in die EU hineintragen können. ({2}) Dabei handelt es sich um eine Lehre, die wir auch aus den Erfahrungen in Ostdeutschland ziehen müssen. Die kritiklose Übernahme verkrusteter Strukturen der alten Bundesrepublik war ein schwerer Fehler und hat zur Stagnation in Ostdeutschland beigetragen. Das stelle ich nicht nur aus eigener Erkenntnis fest, sondern ich darf als Beispiel Professor Simon, seinerzeit Präsident des Wissenschaftsrates, zitieren, der von den im Kern verrotteten Hochschulen sprach - in der alten Bundesrepublik, wohlgemerkt! Lassen Sie mich einige Anmerkungen zu der Arbeit des Konvents machen. Die PDS im Bundestag begrüßt die Erarbeitung einer Verfassung für die Europäische Union. Eine künftige Union der Fünfundzwanzig braucht grundlegende Reformen. Sie braucht Institutionen und Verfahren, die auch mit 25 Mitgliedern funktionieren. Die PDS setzt sich dafür ein, dass folgende vier Punkte in der zukünftigen Verfassung auf jeden Fall berücksichtigt werden: Erstens: Sozialstaatlichkeit. Wir wollen, dass Sozialstaatlichkeit und soziale Marktwirtschaft in der Verfassung festgeschrieben werden; offene Marktwirtschaft ist uns zu wenig. Massenarbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und Armut sind europäische Themen, die wir in Europa gemeinsam angehen müssen. Dazu sollten wir uns auch verbindlich verpflichten. Zweitens: Grundrechte. Die Grundrechte-Charta muss - das ist schon von einigen Vorrednern angesprochen worden - in vollem Wortlaut an den Anfang der Verfassung gestellt werden. Schon lange haben wir uns für ihre volle Rechtsverbindlichkeit eingesetzt. Alle Versuche, die in ihr enthaltenen sozialen Grundrechte zu verwässern, lehnen wir als PDS ab. ({3}) Drittens: Demokratie. Das Demokratiedefizit der Europäischen Union muss in der Verfassung endlich angegangen werden. Das bedeutet Stärkung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger sowie Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments. Viertens: Friedensverpflichtung. Wir halten es nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Diskussionen über einen drohenden Krieg gegen den Irak für unerlässlich, eine Friedensverpflichtung in der europäischen Verfassung zu verankern. Darum muss sich die deutsche Bundesregierung im Konvent noch mehr bemühen. Es sollte doch eine Selbstverständlichkeit sein, die Europäische Union auch in ihrem außenpolitischen Handeln auf das Völkerrecht und insbesondere auf die Ächtung von Angriffskriegen zu verpflichten. Herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner in der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Nüßlein, CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Zusammenwachsen Europas und die Freundschaft Amerikas haben nach zwei Weltkriegen Frieden, Freiheit und Wohlstand gesichert. Darüber besteht Konsens. ({0}) Herr Bodewig, ich denke, dass dies bereits in der heutigen Debatte entsprechend gewürdigt wurde. Konsens besteht aber auch darüber - so hoffe ich jedenfalls -, dass die EU nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Wertegemeinschaft ist. ({1}) Die europäischen Werte haben ihre Wurzeln im Christentum und in der Aufklärung. Deshalb setzen wir uns von der CDU/CSU für die „invocatio dei“ ein. Der Bezug zu Gott ist die kulturelle Klammer Europas, die jede Verfassung, auch die europäische, übersteigende Verpflichtung zur Verantwortung vor der höchsten Macht. ({2}) Dass sich manche heute schwer mit dem Bekenntnis zu Gott tun, haben wir schon bei der Vereidigung des amtierenden Atheistenkabinetts erlebt. ({3}) Kollege Marschewski hat Recht: In unserer europäischen Wertegemeinschaft haben die diskriminierenden Benes-Dekrete keinen Platz. Leider warten die Europäer noch immer auf die tschechische Distanzierung vom Unrecht der Vertreibung, aber auch auf eine klare Stellungnahme der rot-grünen Mehrheit in diesem Haus. Wenn man auf dem von mir dargestellten Wertefundament steht, dann wird auch klar, dass einer EU-Vollmitgliedschaft der Türkei die Basis fehlt. Daran sollten wir künftig keinen Zweifel lassen, um einerseits die Integrationsfähigkeit Europas nicht zu überfordern und andererseits die Partnerschaft mit der Türkei, die ich für sehr wichtig halte, nicht zu gefährden. Deutschland ist der bevölkerungsreichste Staat und der mit Abstand größte Nettozahler der Europäischen Union. Bei mir in Schwaben gilt - Schwaben ist ja kein unwesentlicher Teil Europas -: Wer zahlt, schafft an; wer bezahlt, bestimmt die Richtung. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass die Bundesregierung endlich die berechtigten deutschen Interessen in Europa und in der Konventsarbeit durchsetzt. Ich frage Sie: Wo ist Ihr Gesamtansatz, Ihr Konzept, das die Rolle Deutschlands in der Europäischen Union beschreibt? Vor Rot-Grün waren wir Deutschen Motor in Europa. Jetzt sind wir Schlusslicht. ({4}) - Ich würde an dieser Stelle auch lieber etwas anderes erzählen. Es ist wichtig, dass ein Verfassungsvertrag klare Kompetenzabgrenzungen nach dem Subsidiaritätsprinzip enthält. Auch das ist übrigens ein Baustein christlicher Soziallehre. Nun gibt es Aufgaben, die unbestritten der Gemeinschaft zuzuordnen sind, zum Beispiel die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik oder die Stabilität des Euro. Inzwischen mussten wir erleben, wie Rot-Grün die gemeinsame Sicherheitspolitik auf dem Wahlkampfaltar opfert. Wir müssen uns immer wieder anschauen, wie RotGrün wegen seiner kranken Finanzpolitik die Stabilitätskriterien des Euro zu Grabe tragen will. ({5}) - Keiner von der SPD. Sie würden nämlich die Realität nicht so deutlich ansprechen. ({6}) Ihr politisches Siechtum in Deutschland darf aber nicht auch noch den Integrationsprozess in Europa infizieren. Die strikte Beschränkung der EU auf Kernaufgaben, die nur gemeinschaftlich lösbar sind, ist gerade im Hinblick auf die Osterweiterung notwendig. Ich halte es, offen gesagt, für illusorisch, eine Vertiefung und eine Erweiterung der Europäischen Union vereinbaren zu wollen. ({7}) - Im Bereich der Kompetenzen. - Wir brauchen stattdessen eine Rückübertragung von Kompetenzen, insbesondere eine Öffnung hin zu regionalen Eingriffsmöglichkeiten im Bereich der Struktur- und Agrarpolitik. Nur so ist die Osterweiterung für Deutschland zu verkraften und insgesamt zu finanzieren. ({8}) Aber angesichts des wirtschaftlichen Desasters, das RotGrün anrichtet, spielen für Sie strukturelle Verwerfungen wohl keine Rolle mehr. ({9}) Die Landwirtschaft, zu der ich heute gar nichts gehört habe, hat Ministerin Künast längst abgeschrieben. Unsere Bauern wissen: Die Landwirtschaftsministerin hat keine Kompetenz. ({10}) - Sie haben wahrscheinlich keine. Ich bitte Sie, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen. Für viele sind die Risiken der Osterweiterung greifbarer als die Chancen. Für viele steht Brüssel für Bürokratie. Wenn wir bei diesen Institutionen über den Doppelhut diskutieren, dann geht ihnen schon lange der Hut hoch. Nur Transparenz sichert Akzeptanz. Vergessen Sie bitte auch nicht die Zuständigkeiten des Deutschen Bundestages, also unsere Informations-, Kontrollund Mitwirkungsrechte! ({11}) - Ich sage ja: unsere Rechte. - Europäisches Recht darf nicht hinter verschlossenen Türen geschaffen werden. Ich appelliere gerade an die Kollegen der SPD und der Grünen: Es ist in Ihrem eigenen Interesse, wenn Sie die parlamentarischen Kontrollrechte nicht zu sehr aus der Vogelperspektive der Regierungsfraktionen sehen. Lange werden Sie das nämlich nicht mehr sein. Vielen herzlichen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Nüßlein, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Ich erlaube mir für die Zukunft die kleine Anregung, bei der verallgemeinernden Charakterisierung von Institutionen oder Personen sich um die Zurückhaltung oder Präzision zu bemühen, die dem Gegenstand angemessen ist. ({0}) - Die liefere ich, Herr Kollege, gerne nach. ({1}) Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 15/451. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp- fehlung die Annahme des Entschließungsantrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/215 zu der Abgabe einer Regierungs- erklärung durch den Bundeskanzler zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Kopenhagen am 12. und 13. Dezember 2002. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalition gegen die Stimmen der Opposition bei einer Enthaltung angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Nr. 2 der Be- schlussempfehlung des Ausschusses. Hier geht es um die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/195 mit dem Titel „Der Weg für die Osterweiterung ist frei: Abschluss der Beitrittsverhand- lungen auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion ange- nommen. Ich weise darauf hin, dass zu dem Antrag „Der Weg für die Osterweiterung ist frei: Abschluss der Beitritts- verhandlungen auf dem Europäischen Rat in Kopenha- gen“ eine Reihe von Erklärungen zur Abstimmung vor- liegt, und zwar von den Kollegen Sehling, Zeitlmann, Aigner und zahlreichen anderen Kolleginnen und Kolle- gen aus der CDU/CSU-Fraktion.1) Diese Erklärungen werden dem Protokoll beigefügt. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europä- ischen Union empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 15/451 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/216 mit dem Titel „Historischer Erweiterungsgipfel verstärkt Druck auf innere Reformen der Europäischen Union“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU-Frak- tion angenommen. 1) Anlage 2 Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Wir kommen zur Abstimmung über die unter Tages- ordnungspunkt 4 b sowie unter Zusatzpunkt 1 aufgeführ- ten Vorlagen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/548 und 15/577 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen, wobei die Vorlage auf Drucksache 15/548 zu- sätzlich an den Haushaltsausschuss überwiesen werden soll. Besteht darüber Einverständnis? - Das ist offenkun- dig der Fall. Dann haben wir die Überweisungen so be- schlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 18 a, 18 b, 10, 17 sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: 18 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verwendung von Verwaltungsdaten für Zwecke der Wirtschaftsstatistiken ({2}) - Drucksache 15/520 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({3}) Innenausschuss Finanzausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef Parr, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Dieter Thomae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Kompetenzen des Sports bei Prävention und Rehabilitation besser nutzen - Drucksache 15/474 Überweisungsvorschlag: Sportausschuss ({4}) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung 10 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften zur Wahl und Berufung ehrenamtlicher Richter - Drucksache 15/411 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss 17 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches und anderer Gesetze - Widerruf der Straf- und Strafrestaussetzung ({5}) - Drucksache 15/310 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({6}) Innenausschuss ZP 2a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Melderechtsrahmengesetzes - Drucksache 15/536 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Siegfried Kauder ({7}), Dr. Norbert Töttgen, Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Privatsphäre - Drucksache 15/533 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({8}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 c sowie 16 auf. Hierbei handelt es sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Wir kommen zunächst zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 19 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9}) Sammelübersicht 19 zu Petitionen - Drucksache 15/482 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Sammelübersicht 19 mit breiter Zustimmung angenommen. Tagesordnungspunkt 19 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10}) Sammelübersicht 20 zu Petitionen - Drucksache 15/483 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist auch die Sammelübersicht 20 mit breiter Zustimmung angenommen. Tagesordnungspunkt 19 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 21 zu Petitionen - Drucksache 15/484 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist auch die Sammelübersicht 21 einvernehmlich angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({12}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Günther Friedrich Nolting, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Ulrich Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Adam, Ilse Aigner, Dietrich Austermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Transatlantische Beziehungen stärken - Potsdam Center fördern - Drucksachen 15/194, 15/519 Berichterstattung: Abgeordnete Rainer Arnold Christian Schmidt ({13}) Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/194 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Fünfter Bericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ({14}) - Drucksache 15/105 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({15}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für. wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Es liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann haben wir so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Zu Beginn erteile ich der Bundesministerin Renate Schmidt das Wort. ({16})

Renate Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002016

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren! Meine sehr geehrten Damen! Vor 92 Jahren, am 19. März 1911, wurde der erste Internationale Tag der Frau begangen. Frauen kämpften um ihr Wahlrecht, um bessere Bezahlung, aber immer auch um friedliche Lösungen bei internationalen Konflikten. In Deutschland haben wir seit Bestehen der Bundesrepublik die juristische Gleichstellung von Frauen und Männern erreicht. Während zum Beispiel noch bis 1957 das Arbeitsverhältnis meiner Mutter ohne ihre Zustimmung von meinem Vater hätte gekündigt werden können, es eine Schlüsselgewalt des männlichen Haushaltsvorstands gab und er in Erziehungsfragen das letzte Wort hatte, sind das - Elisabeth Selbert und ihren Mitstreiterinnen sowie auch einigen Mitstreitern sei Dank - die gewonnenen Schlachten von gestern. ({0}) Die faktische Gleichstellung ist jedoch trotz aller Fortschritte noch nicht erreicht. Dies belegen die Abstände bei der Einkommens- und Rentenhöhe von Frauen und Männern genauso wie der zu geringe Anteil von Frauen in Führungspositionen. Vieles davon wurde seit 1998 aktiv angegangen. Der Fünfte Staatenbericht zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, CEDAW, zeigt eine gute Bilanz gleichstellungspolitischer Initiativen. Mit dem Programm „Frau und Beruf“ und dem „Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“ hat die Bundesregierung auch international Maßstäbe gesetzt. Aber der Bericht zeigt ebenfalls - davor sollten wir nicht die Augen verschließen - Handlungsnotwendigkeiten für heute und die nächste Zukunft auf. Was wurde erreicht? Wir haben heute in Deutschland die am besten gebildete und ausgebildete Frauengeneration, die es je gab. Junge Frauen haben heute die jungen Männer bei den Bildungsabschlüssen sowohl in Quantität als auch in Qualität eingeholt und teilweise überholt. Das hatte auch Folgen für das Einkommen. Bei den 20- bis 30-Jährigen liegt das Durchschnittseinkommen der Frauen nur noch um 10 Prozent niedriger als das der Männer; im Gegensatz dazu bestehen bei den Gruppen höheren Alters Einkommensunterschiede von 25 bis 30 Prozent. Daraus und auch aus der Tatsache, dass Frauen bei Führungsfunktionen nach wie vor einen auch im europäischen Vergleich zu geringen Anteil haben, hat die Bundesregierung Konsequenzen gezogen, unter anderem durch die gleichstellungsorientierte Neufassung des Betriebsverfassungsgesetzes, nach der Unternehmen und Betriebsrat bei allen betrieblichen personellen Maßnahmen auf Gleichstellungsgesichtspunkte zu achten haben. Wir haben durch das neue Gleichstellungsgesetz für den öffentlichen Dienst des Bundes, das ich mir in ähnlicher Form auch für alle Länder wünsche, und durch die Verankerung des Prinzips einer umfassenden Gleichstellung beider Geschlechter, des so genannten Gender-Mainstreaming-Prinzips, Instrumente geschaffen, die erste Früchte tragen. ({1}) Übrigens: Noch nie haben einer Regierung, sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene, so viele Ministerinnen angehört wie dieser Bundesregierung. Wir haben mit der Verbesserung der Anrechnung von Teilzeitbeschäftigung und der Höhe der Anwartschaftszeiten den Einstieg - ich betone: den Einstieg - in eine eigenständige Alterssicherung von Frauen geschaffen und mit dem Gesetz zur sozialen Grundsicherung im Alter insbesondere Frauenarmut im Alter beseitigt. ({2}) Durch die Flexibilisierung der Elternzeit und den Rechtsanspruch auf Teilzeitbeschäftigung ({3}) können sich Mütter und Väter besser denn je Familienund Erwerbsarbeit teilen. Darüber hinaus haben wir präventiv durch unseren auch international beachteten Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in diesem Bereich wesentliche Erfolge erzielt. Wir werden den Aktionsplan mit allen betroffenen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen fortschreiben. ({4}) Aber vor allem die gesetzlichen Maßnahmen haben Wirkung gezeigt, und zwar umso bessere, je mehr die Landesregierungen hinter den Intentionen des Gewaltschutzgesetzes standen. So wurden in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel im ersten Halbjahr 2002 mehr als 2 000 Wohnungsverweisungen des Täters durch die Polizei ausgesprochen und damit 2 000 Müttern und ihren Kindern der Verbleib in ihren Wohnungen ermöglicht. ({5}) Gemeinsame zielorientierte Arbeit führt zum Erfolg. Im Interesse der Frauen werden wir das auch für die Gleichstellung in der Privatwirtschaft umsetzen. ({6}) Ende 2003 wird die Bilanzierung hinsichtlich der vom Bundeskanzler mit den Wirtschaftsverbänden abgeschlossenen freiwilligen Vereinbarung vorgenommen. Die hochrangige Begleitgruppe ist installiert. Das IAB liefert uns Zahlen. Ich bin hoffnungsfroh, dass wenigstens einige positive Veränderungen erkennbar werden. Auf der Ebene der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber, beim DGB, bei vielen Großbetrieben und auch einigen kleineren und mittleren Betrieben rennt man mit der Forderung nach frauen- und familienfreundlichen Arbeitsbedingungen inzwischen offene Türen ein. Diese Vorbilder werde ich sichtbar machen. Der nächste Wettbewerb „Der familienfreundliche Betrieb“ wird den Schwerpunkt „flexible Arbeitszeiten und Kinderbetreuung“ haben. Vorbildliches betriebliches Verhalten muss sich aber in der Breite und nach unten fortsetzen. Deshalb werden wir durch eine von uns in Auftrag gegebene Studie nachweisen, dass es sich auch betriebswirtschaftlich lohnt, die gut ausgebildeten Frauen zu halten, die Inanspruchnahme von Teilzeit und Elternzeit für Frauen und Männern zu fördern und nicht zu behindern und - das ist mir besonders wichtig - Kompetenzen, die in der Familie erworben wurden, im Beruf auch positiv zu bewerten und nicht als Dequalifikation zu erachten. ({7}) Ich werde dazu beitragen, dass diese Erkenntnisse nicht nur Allgemeingut werden, sondern auch durch lokale Bündnisse für familien- und frauenfreundliche Arbeitsbedingungen, zu denen selbstverständlich nicht nur betriebliche, sondern auch öffentliche Anstrengungen gehören, umgesetzt werden. Letzteren werden wir mit unseren beiden Programmen, dem 4-Milliarden-EuroProgramm für den Ausbau von Ganztagsschulen und dem 1,5-Milliarden-Euro-Programm zur Verbesserung der Betreuung der unter 3-Jährigen, Rechnung tragen. Ich betone nochmals: Dafür gibt es keine Zuständigkeit des Bundes; es ist eine freiwillige Leistung. Länder und Kommunen sind schon seit langem in der Verpflichtung, das umzusetzen, was im Kinder- und Jugendhilferecht steht, nämlich den bedarfsgerechten Ausbau von Kinderbetreuungsplätzen zu gewährleisten. Hier wurde in den letzten drei Jahrzehnten leider zu wenig getan. ({8}) - Frau Lenke, ich mache da keine Unterschiede. Hier haben sich weder CDU- noch SPD-regierte Länder besonders hervorgetan. Das kann man für alle - mit graduellen Unterschieden - sagen. Natürlich weiß ich, dass allein bei Mentalitätsveränderungen - auch wenn sie noch so sehr auf harten Fakten beruhen - der Zeitraum bis zur faktischen Gleichstellung noch einmal mindestens 92 Jahre betragen würde. Dazu funktioniert Old-Boys‘-Network leider Gottes im Gegensatz zu Young-Women‘s-Network einfach noch zu gut. ({9}) Deshalb brauchen wir natürlich auch gesetzliche Maßnahmen. Die EU-Gleichstellungsrichtlinie, die in meinem Haus federführend umgesetzt werden wird, bietet uns eine Reihe von Möglichkeiten. Wir werden sie nutzen und daraus gemeinsam mit Gewerkschaften und Arbeitgebern ein vernünftiges Instrument für die Gleichstellung von Frauen und Männern machen, und zwar über das hinaus, was wir bereits mit dem neuen Betriebsverfassungsgesetz umgesetzt haben. Es wird unter anderem eine nationale Gleichbehandlungsstelle und in diesem Rahmen für Fälle von grundsätzlicher Bedeutung ein Klagerecht geben. Es wird auch Sanktionen geben, die diesen Namen verdienen. Diskriminierungen wegen des Geschlechts gibt es nach wie vor und allenthalben. So hat zum Beispiel das ZEW in Mannheim ermittelt, dass sich die Inanspruchnahme von Elternzeit negativer auf das künftige ArbeitseinkomBundesministerin Renate Schmidt men auswirkt als Arbeitslosigkeit von ähnlich langer Dauer. Ich werde darauf achten, dass mit der richtigen und notwendigen weiteren Umsetzung des Hartz-Konzepts, nämlich der Zusammenlegung von Arbeitslosenund Sozialhilfe, nicht neue mittelbare Diskriminierungen für Frauen entstehen. Diese Gefahr besteht und wir müssen schauen, dass wir sie abwenden. ({10}) Diskriminierend ist auch, dass es in Deutschland zwar gleichen Lohn für gleiche Arbeit, nicht aber für gleichwertige Arbeit gibt. Zwischenzeitlich gibt es sehr gute und praktikable Methoden, mit denen Gleichwertigkeit von Arbeit ermittelt werden kann. Ich werde mich für Rahmenrichtlinien stark machen - und sie in meinem Ministerium erarbeiten -, die den Tarifvertragsparteien helfen können, zu einer geschlechtergerechten Einkommensfindung zu kommen, aber auch helfen, Diskriminierungstatbestände aufzudecken. Einkommensunterschiede resultieren neben den häufigeren Unterbrechungszeiten und den damit einhergehenden selteneren Führungspositionen für Frauen - auch aus dem Berufswahlverhalten von Frauen. Bei den ITAusbildungsberufen verharrt der Anteil der Mädchen bei unter 14 Prozent. Mit dem neuen Programm „Informationsgesellschaft Deutschland 2006“ wollen wir das ändern. Ziel ist die Steigerung des Anteils der Frauen in diesen Berufen auf 40 Prozent. ({11}) Der Girls‘ Day, der Mädchenzukunftstag, wird dazu beitragen, das Interesse junger Frauen an angeblich frauenuntypischen Berufen zu steigern. ({12}) An einer weiteren Stelle werden wir tätig werden: Die Aufteilung der Steuerklassen III und V kann bei Frauen den Eindruck erwecken, ihre Arbeit sei nichts wert. Wir werden eine Lösung dieses Problems herbeiführen, und zwar so, dass das monatlich zur Verfügung stehende Familieneinkommen nicht geschmälert wird und gleichzeitig die derzeit in der Steuerklasse V arbeitende Ehefrau das ihr zustehende Nettoeinkommen erhält. ({13}) Gleichstellungspolitik will heute mehr als vor 20 Jahren. Sie will beiden Geschlechtern alle Lebensmöglichkeiten ohne Diskriminierung eröffnen. Das nennt man Gender Mainstreaming. Denn auch Männer sind benachteiligt, auch wenn sie es seltener merken als Frauen. Wenn 75 Prozent der Männer, so das Ergebnis einer jüngsten Umfrage, für einen gewissen Zeitraum gerne teilzeitbeschäftigt wären oder Elternzeit in Anspruch nähmen, dies aber nur zu einem Bruchteil tun, dann ist dies auch eine Beschneidung von Lebensmöglichkeiten aus Angst um den beruflichen Erfolg, aber auch wegen des Ansehensverlustes bei Kollegen und Vorgesetzten. ({14}) Deshalb werden wir den Begriff Gender Mainstreaming nicht nur als Schlagwort benutzen, sondern Gender Mainstreaming im öffentlichen Dienst des Bundes praktizieren und in den Köpfen der Verantwortlichen verankern. Dazu werden wir vor allem mit dem Aufbau eines Gender-Kompetenzzentrums Hilfestellung leisten. ({15}) Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Damen, Gleichstellungspolitik ist mehr als Familienpolitik und Familienpolitik ist mehr als Gleichstellungspolitik. Keiner dieser Politikbereiche darf jemals Anhängsel des anderen sein oder werden. Politik für Frauen und mit Frauen ist eine Frage der Gerechtigkeit und darüber hinaus immer zugleich gute Familienpolitik, gute Gesundheitspolitik, gute Bildungs- und Sozialpolitik, gute Wirtschaftspolitik und damit ein Stück Zukunftssicherung für uns alle: für Männer, für Frauen und natürlich für unsere Kinder. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Maria Eichhorn, CDU/CSU-Fraktion.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, Schönreden hilft nicht. Die Armut der Frauen hat sich leider nicht verringert. Im Gegenteil: Sie wird sich verstärken. Das ist für mich die wichtigste Erkenntnis aus dem Bericht. Dazu werde ich ganz besonders Stellung nehmen. Deutschland ist aus der Balance geraten. Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich in den letzten Jahren immer stärker geöffnet. Betroffen sind vor allem Erwerbslose, mittlerweile 4,7 Millionen Menschen, sowie Familien mit Kindern. Besonders ernüchternd ist die wirtschaftliche Lage der Frauen in Deutschland. Drei von vier Frauen zwischen 30 und 59 sind im Alter von Armut bedroht. Das hat das Deutsche Institut für Altersvorsorge festgestellt. Die Gründe hierfür liegen in den typisch weiblichen Erwerbsbiographien. Frauen verzichten wegen der Kindererziehung auf Erwerbstätigkeit oder unterbrechen sie. Sie sind häufiger teilzeitbeschäftigt, haben die schlechter bezahlten Jobs und sind öfter von Arbeitslosigkeit betroffen. Die Folge sind geringere Rentenansprüche, die oft kaum zum Leben reichen. 1998 erklärte der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung, Frauen dürften nicht dafür bestraft werden, dass Phasen der Kindererziehung und Erwerbsarbeit einander abwechseln. ({0}) Dem ist zuzustimmen. Aber wie sieht die Wirklichkeit aus? Was der Deutsche Frauenrat bereits im Juni 2000 festgestellt hat, wurde vom Statistischen Bundesamt am Wochenende bestätigt: Frauen sind die Verliererinnen der rot-grünen Rentenreform. ({1}) Sie verdienten 2002 immer noch ein Drittel weniger als Männer. Die Kluft zwischen den Einkommen wird sich in Zukunft noch vergrößern. Ursache dafür ist die Riester-Rente. ({2}) „Gleichberechtigung Fehlanzeige“, so lautete eine entsprechende Überschrift in der „Süddeutschen Zeitung“. Die Riester-Rente verhindert, dass Frauen und Männer jemals gleich viel Geld haben werden. Der Grund liegt in den Produkten der Anbieter. Diese sehen überwiegend schlechtere Tarife für Frauen als für Männer vor. Wenn ein 30-jähriger Mann und eine 30-jährige Frau die gleiche Summe in ihre Rentenvorsorge stecken, erhält der Mann bei einem Versicherungsbeispiel 784 Euro Rente, die Frau jedoch 105 Euro weniger. Das ist ein Skandal. ({3}) Als Begründung wird die statistisch höhere Lebenserwartung der Frauen angeführt. Dies bedeutet im Klartext: Frauen müssen entweder während ihres Berufslebens mehr für ihre Altersvorsorge sparen oder im Alter mit weniger Geld auskommen. Dies ist eine Ungleichbehandlung sondergleichen. ({4}) Es kann ja wohl nicht sein, dass der Staat eine solche diskriminierende Altersvorsorge fördert. Die Bundesregierung nimmt dies lediglich bedauernd zur Kenntnis. Sie akzeptiert also, dass die Frauen die Verliererinnen der Rentenreform sind. Nach Meinung der Verfassungsrechtlerin Sacksofsky ist diese Unterscheidung jedoch ein klarer Verstoß gegen Art. 3 des Grundgesetzes, wonach niemand wegen seines Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Sie sieht hier eine unmittelbare Diskriminierung, die das Bundesverfassungsgericht sofort kippen würde. Aber auch dann, wenn andere Verfassungsrechtler dies anders sähen, läge immer noch eine mittelbare Diskriminierung vor, gegen die der Staat vorgehen muss. Die Bundesregierung kann nicht weiterhin die Hände untätig in den Schoß legen und sich hinter den Marktgesetzen verstecken. Sie muss dafür sorgen, dass diese Ungleichheit beseitigt wird. Die Privatvorsorge darf Frauen nicht zusätzlich belasten. Wir brauchen daher UnisexTarife. Die Rentenreform der Bundesregierung ist und bleibt ein Antifrauenprogramm. Die Renten für Frauen sind im Durchschnitt von denen der Männer weit entfernt. Hinzu kommt: je mehr Kinder, desto weniger Rente. Für uns ist der Ausbau der eigenständigen Alterssicherung für Frauen besonders wichtig. Viele Frauen wollen Beruf und Familie miteinander vereinbaren. Voraussetzung sind flexible Arbeitszeiten, vielfältige qualifizierte Angebote zur Teilzeitarbeit und der Ausbau einer bedarfsgerechten Kinderbetreuung für alle Altersstufen. Das heißt, wir brauchen ein Konzept, das den Bedürfnissen der Eltern und insbesondere denen der Kinder gerecht wird. ({5}) Dies ist uns besonders wichtig. Sie setzen allein auf Ganztagsangebote, wir dagegen auf ein vielfältiges Betreuungsangebot, das individuelle Erfordernisse berücksichtigt. ({6}) Viele Frauen unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit, um sich voll der Erziehung ihrer Kinder zu widmen. Diese Frauen brauchen mehr Unterstützung beim Wiedereinstieg in den Beruf. Es ist einfach nicht hinnehmbar, dass Mütter nach der Zeit der Familienphase oft nur noch in schlecht bezahlten, berufsfremden Tätigkeiten unterkommen. Dazu müssen aber erst einmal Arbeitsplätze geschaffen werden. Hier hat die Bundesregierung völlig versagt. ({7}) Monat für Monat steigen die Arbeitslosenzahlen. Wir sind sehr gespannt, was der Kanzler morgen dazu sagen wird. Aber wir brauchen nicht nur Worte, sondern endlich Taten. ({8}) Meine Damen und Herren, die eigenständige soziale Sicherung ist ein Teil der Alterssicherung von Frauen. Genauso wichtig ist die Hinterbliebenenrente. Die Absenkung des Rentenniveaus durch Rot-Grün trifft die Frauen doppelt: bei ihrer eigenen Rente und bei der Witwenrente. Seit dem letzten Jahr ist die Witwenrente von 60 Prozent auf 55 Prozent abgesenkt. Das entspricht einer realen Kürzung um 8,3 Prozent. Diese Einschnitte können auch durch die Zuschläge für Kinder nicht ausgeglichen werden. Das gesamte Versorgungsniveau sinkt trotzdem um bis zu 25 Prozent. Das Einfrieren des Freibetrags und damit die Abkopplung von der allgemeinen Einkommensentwicklung konnte die Union im Vermittlungsausschuss Gott sei Dank verhindern. ({9}) Für uns steht fest, dass auf absehbare Zeit auf die Witwenrente nicht verzichtet werden kann; denn nach Expertenberechnungen wird die Rente von Frauen auch in 30 Jahren im Durchschnitt nur etwa die Hälfte der Rente von Männern betragen. Es ist unhaltbar, dass die Aufwertung der Kindererziehungszeiten mit den Kürzungen bei der Witwenrente finanziert wird. Statt Frauen stärker zu entlasten, werden sie noch weiter belastet. Das ist unsozial und ungerecht, meine Damen und Herren. ({10}) Dies gilt auch für die Förderung der Privatvorsorge, durch die Gutverdienende bevorzugt werden. Während eine Verkäuferin mit einem Einkommen von 15 000 Euro eine Zulage von 155 Euro bekommt, bekommt ihr Chef mit einem Jahreseinkommen von 50 000 Euro zusätzlich noch einen Steuervorteil von 650 Euro. Wo ist da Gerechtigkeit? ({11}) Die Union hat in ihrer Regierungszeit die Berücksichtigung der Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung eingeführt und damit den Grundstein für eine gerechtere Alterssicherung für Frauen gelegt. Generationengerechtigkeit und soziale Verträglichkeit, das war und ist unsere Maxime. Diese sucht man bei Ihnen vergebens. Wir wollen eine Alterssicherung für Frauen, die Altersarmut verhindert und Ungerechtigkeiten beseitigt. Ihre Rentenreform ist bereits heute Makulatur. Trotz Reform steigen die Beiträge weiter an. ({12}) Daher fordern wir: Ändern Sie das Rentengesetz! Sorgen Sie dafür, dass die Frauen nicht weiter die Verliererinnen der Rentenreform sind! ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die heutige Debatte über den Fünften Staatenbericht der Bundesregierung zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau bietet die Gelegenheit, die Gleichstellungssituation in unserem Land etwas näher zu beleuchten. Alle vier Jahre muss Deutschland dem zuständigen UN-Ausschuss über die Entwicklung der Lebenssituation von Frauen berichten. Ich freue mich besonders, zu unserer Debatte auch die Vertreterinnen zahlreicher Frauenverbände zu begrüßen, die heute auf der Tribüne Platz genommen haben. Herzlich willkommen! ({0}) Ihre oft auch kritischen Positionen im Interesse der Frauen sind uns ein Ansporn für unsere Arbeit. Das CEDAW-Abkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau aus dem Jahr 1979 verpflichtet die Bundesregierung, die Gleichberechtigung von Mann und Frau in wirtschaftlicher, sozialer, kultureller, bürgerlicher und politischer Hinsicht sicherzustellen. Durch die Verabschiedung des Fakultativprotokolls ist aus diesem CEDAW-Abkommen inzwischen auch ein rechtlich verbindliches Instrument entstanden. Seit Januar 2002 können Frauen im Falle einer Diskriminierung nämlich individuell Beschwerde bis hin zu den Vereinten Nationen einlegen. Zurzeit wird in Deutschland das erste Untersuchungsverfahren durchgeführt. Im Falle von zehn weiblichen Angestellten in Diplomatenhaushalten wird auf systematische Benachteiligungen hin geprüft. Der vorliegende Fünfte CEDAW-Bericht belegt eindrucksvoll, welche Fortschritte in den vergangenen vier Jahren durch die Politik der rot-grünen Bundesregierung erzielt wurden. Diese Fortschritte waren auch dringend nötig; denn die von CDU/CSU geführte Regierung - das belegen die Zahlen - hatte uns 1998 eine eher miserable gleichstellungspolitische Situation hinterlassen. ({1}) Anders, meine Damen und Herren von der Opposition, kann ich die lange Mängelliste des CEDAW-Ausschusses zu den damals überfälligen gleichstellungspolitischen Notwendigkeiten nicht erklären. Stellen Sie sich die Kritik des Ausschusses wie einen TÜV-Bericht für die Gleichstellungspolitik vor! Der Ausschuss hat der damaligen Bundesregierung eine Mängelliste mit mehr als 28 Punkten zur Erledigung ausgehändigt. Wenn Sie mir erlauben, im Bild zu bleiben, sage ich: Was die von CDU/CSU geführte Bundesregierung gleichstellungspolitisch hinterlassen hatte, konnte bestenfalls als „nicht fahrtüchtig“ bezeichnet werden. ({2}) - Es ist so! Wir haben es leider schriftlich, Frau Eichhorn. Die Kritik der Vereinten Nationen an der Gleichstellungspolitik der von CDU/CSU geführten Regierung bezieht sich auf zwei zentrale Bereiche - das hört sich anders an als Ihre Rede; die Medaille hat eben zwei Seiten -, einmal den fehlenden Abbau der systematischen Diskriminierung von Frauen, insbesondere im Erwerbsleben, und zum anderen die mangelhaften Maßnahmen zum Schutz von Frauen, insbesondere Migrantinnen, vor Gewalt. In diesen beiden Bereichen haben wir nachhaltige Verbesserungen erzielen können. Ich nenne nur einige: das Elternzeitgesetz, das Teilzeitgesetz, ein Gleichstellungsgesetz für den öffentlichen Dienst, gesetzliche Änderungen für die Erwerbsarbeit, das Lebenspartnerschaftsgesetz, die Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation von Prostituierten, das Gewaltschutzgesetz, der eigenständige Aufenthalt für ausländische Ehefrauen. Ich könnte diese Liste noch verlängern. Alles das haben wir in vier Jahren erreicht. Frau Eichhorn, das sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen! ({3}) Wir sehen es aber auch als unsere Verpflichtung an, Frauen, die Opfer furchtbarster Menschenrechtsverletzungen, etwa von Verstümmelungen, Vergewaltigungen in kriegerischen Auseinandersetzungen und Zwangsprostitution, werden, in Deutschland Schutz zu geben. Darum beinhaltet das Zuwanderungsgesetz - heute Morgen wurde darüber diskutiert - die Anerkennung geschlechtsspezifischer und nicht staatlicher Verfolgung nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Meine verehrten Kollegen und Kolleginnen von der Opposition, Sie haben es nicht nur während Ihrer Regierungsverantwortung versäumt, etwas zum verbesserten Schutz der Migrantinnen zu tun, sondern verhindern noch heute dringend notwendige Reformen. Ihre fehlende Zustimmung im Bundesrat kann ich nur als eines bezeichnen: als verantwortungslos. Das sieht der CEDAW-Ausschuss ganz genauso. ({4}) Als würde das nicht reichen, haben Sie bereits angekündigt, erzielte Verbesserungen der rot-grünen Regierung wieder rückgängig zu machen. Wir werden es nicht zulassen, dass künftig ausländische Ehefrauen vier Jahre in unzumutbaren Ehen verharren, um nicht aus Deutschland ausgewiesen zu werden. Das werden Sie nicht erreichen. Ich will es überhaupt nicht verhehlen: Wir haben noch unendlich viel zu tun, bevor wir gerade im Erwerbsleben und bei der traditionellen Rollen- und Aufgabenverteilung eine faktische Gleichstellung von Frauen und Männern erreicht haben. Diese Verantwortung nehmen wir ernst. Das wissen die Frauen; darum haben sie RotGrün wiedergewählt. Wir werden alles dafür tun, dass die Lohnungerechtigkeit, die im Hinblick auf das durchschnittliche Frauen- und Männereinkommen besteht und 30 Prozent ausmacht, bald der Vergangenheit angehört. Beginnend beim öffentlichen Dienst werden wir die Tarifparteien auf nicht diskriminierende Tarife verpflichten, wie es der Europäische Gerichtshof fordert. Ich freue mich, dass auch die Ministerin das gerade so formuliert hat. Die jungen Frauen, die inzwischen bessere Schulund Hochschulabschlüsse haben als ihre männlichen Kollegen, lassen sich nicht länger mit 70 Prozent des durchschnittlichen Einkommens abspeisen. Frauen wollen 100 Prozent. Es ist an der Zeit für Lohngerechtigkeit. ({5}) Zu Recht mahnt der CEDAW-Ausschuss aber auch die mangelnden Anreize für die Privatwirtschaft an, aktiv an der Gleichstellungspolitik mitzuwirken. Mit der Vereinbarung mit den Spitzenverbänden der Privatwirtschaft ist ein Anfang gemacht. Das ist zu wenig; das wissen wir. Wir werden die Erfolge prüfen und ich hoffe, es wird Erfolge geben. ({6}) - Dann kommen gesetzliche Regelungen, verehrte Frau Kollegin. Aber darauf komme ich in den nächsten Sätzen zu sprechen. Sie sollten sich also etwas gedulden. Weitere Maßnahmen wie die Koppelung der Vergabe von öffentlichen Aufträgen an die Umsetzung der Gleichstellung und Regelungen für die Privatwirtschaft müssen bei der Umsetzung von EU-Richtlinien folgen. ({7}) Aber auch bei den Reformen des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme muss das Prinzip „Gender Mainstreaming“ besser als bisher verwirklicht werden. Ich nenne die für Frauen höheren Beiträge für die private Altersvorsorge. Ich lasse nicht in meiner Forderung nach, dass wir hier Änderungen vornehmen müssen. In diesem Punkt kann ich Ihnen, Frau Eichhorn, zustimmen; damit habe ich kein Problem. Die Anmerkung des Ausschusses, stärker die notwendige Verhaltensänderung von Männern in den Blick zu nehmen, ist Rückenwind für die Position der Grünen. Damit deutlich mehr Väter schon früh Verantwortung für ihre Kinder übernehmen, wäre ein kurzer Vaterschaftsurlaub sicherlich ein sehr guter Anreiz. Auch die Mahnung des Ausschusses, die Wirkung des Ehegattensplittings im Hinblick auf die Verfestigung von stereotypen Rollen zu überprüfen, ist Wasser auf unsere Mühlen. Denn das Ehegattensplitting und die Steuerklasse V haben sich als Erwerbshindernisse für Frauen herausgestellt. Das müssen wir ändern. ({8}) - Verehrte Kollegin Lenke, die FDP hat bis vor einem Jahr in ihrem Programm die Abschaffung des Ehegattensplittings vorgesehen. Irgendwann ist Ihnen in den Sinn gekommen, dass das für einzelne Personen eine Steuererhöhung darstellen könnte. ({9}) Dann haben Sie es wieder herausgestrichen. Wir befanden uns lange in einem Boot. ({10}) - Herr Thiele, ich weiß das genau. ({11}) Lassen Sie mich mit einem Zitat aus der Begründung des CEDAW-Abkommens schließen; denn auf die Friedenspolitik im Zusammenhang mit Frauen bin ich überhaupt nicht eingegangen. Wir haben gestern im Rahmen einer Umfrage zur Kenntnis nehmen können, dass 94 Prozent der Frauen gegen einen Kriegseinsatz sind. Auch in diesem Zitat aus dem CEDAW-Abkommen wird auf die Friedenspolitik eingegangen. Dort heißt es: Voraussetzung für die vollständige Entwicklung eines Landes, für das Wohlergehen der Welt und für die Sache des Friedens ist die größtmögliche und gleichberechtigte Mitwirkung der Frau in allen Bereichen. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Ich danke Ihnen. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ina Lenke.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich komme gern auf die Rede meiner Kollegin von den Grünen zurück. Sie hat ja auf das Steuerrecht abgehoben. Zu diesem Bereich können Sie sich ja einmal untereinander aussprechen. Denn die Ministerin hat, während Sie von den Grünen gesagt haben, dass Sie in diesem Bereich etwas tun wollen, in einer Veröffentlichung ausgeführt, dass das Ehegattensplitting nicht abgeschafft wird. ({0}) In den letzten vier Jahren habe ich festgestellt, dass nur sehr wenige Ideen von den Grünen hier im Bundestag umgesetzt wurden. ({1}) Ich freue mich - das möchte ich vorab sagen -, Frau Ministerin, dass Sie in Ihrer Rede - das haben wir in den letzten vier Jahren gefordert - darauf eingegangen sind, dass wir die Lohnsteuerklasse V endlich abschaffen müssen. Es handelt sich hier um eine faktische Benachteiligung, nicht aber um eine rechnerische. ({2}) - Nein, das habe ich hier im Bundestag zum allerersten Mal von Ihnen gehört. Das hat nie auf der Agenda von SPD und Grünen gestanden. ({3}) Auch wir werden eigene Vorschläge machen. Dann wollen wir einmal sehen, ob es hier im Bundestag eine Mehrheit zur Abschaffung der Steuerklasse V geben wird. ({4}) Meine Damen und Herren, nun möchte ich zum aktuellen Tagesordnungspunkt, dem Fünften Bericht zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau, kommen. Hier erfüllt die Bundesregierung grundsätzlich ihre Berichtspflicht ({5}) und legt uns auch eine nützliche Datensammlung vor. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Daten sind wenig erfreulich. Ihr Bericht verweist auf die vielfältige Benachteiligung von Frauen in Deutschland und liefert unzählige Belege dafür. Aus dieser Verantwortung können Sie sich nicht stehlen. Denn Sie sind bereits ein halbes Jahrzehnt an der Regierung ({6}) und haben Ihre Aufgabe nicht so hundertprozentig erfüllt, wie die Jubelarien meiner Kollegin von den Grünen, Frau Schewe-Gerigk, das heute sichtbar machen sollten. Spannend ist, was in diesem Bericht nicht gesagt wird, ({7}) was untergeht und was falsch verstanden werden muss. ({8}) So listet die Bundesregierung in ihrer Analyse zwar gewissenhaft die eigenen und fremden Aktivitäten zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen auf. Aber auf bestehende eklatante Defizite kommen Sie, Frau Schmidt, in Ihrem Bericht nicht zu sprechen. ({9}) In der Summe entspricht der Bericht der Bundesregierung meines Erachtens somit nicht dem Alltag der Frauen in Deutschland. Ich meine, er ist geschönt. ({10}) Deswegen hat die FDP-Fraktion einen eigenen Entschließungsantrag zu dem CEDAW-Bericht eingebracht, über den wir ja auch demnächst in einer öffentlichen Ausschusssitzung beraten werden. ({11}) Wir wollen damit in entscheidenden Punkten die wahren Situationen und Zusammenhänge aufzeigen. In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, diese Defizite zügig zu beseitigen. ({12}) Sie haben uns im Boot, wenn Sie darauf liberale, nicht nur soziale und grüne Antworten geben. ({13}) Ich möchte in meinem Beitrag auf die dramatische Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft in Deutschland zurückkommen. Bei über 4,7 Millionen Arbeitslosen sind die Chancen für Frauen, eine unbefristete, existenzsichernde Vollzeitstelle zu finden, so schlecht wie nie. Die Zusammenhänge zwischen verfehlter Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik und Benachteiligungen von Frauen verschweigt der Bericht geflissentlich; ({14}) denn es ist ja ein Bericht der Bundesregierung. Die gestiegene Erwerbstätigenquote von Frauen wird gelobt. Jedoch wird nicht deutlich gemacht, dass zwar mehr Frauen arbeiten, aber nur in Teilzeit und nicht in Vollzeit. ({15}) Die Bundesregierung fördert diese Entwicklung, indem sie zwar gesetzliche Ansprüche auf Teilzeitbeschäftigung schafft, aber nicht für die nötige Kinderbetreuung sorgt. Ich möchte auf die Vorgängerin von Ministerin Schmidt zu sprechen kommen, die im letzten halben Jahr der vergangenen Legislaturperiode einen Betreuungsgipfel vorgeschlagen hat. Dieser Betreuungsgipfel hat nicht stattgefunden. ({16}) Jetzt verspricht uns die neue Ministerin wiederum einen Betreuungsgipfel. Wollen wir einmal abwarten, was das Ergebnis dieses Betreuungsgipfels sein wird! ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne. ({0})

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Lenke, Sie haben gerade die Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt und die Regelungen zur Teilzeitarbeit angesprochen. Ich möchte Sie fragen, ob Sie die Zahlen über die Verteilung von Vollzeitbeschäftigung und Teilzeitbeschäftigung bei Frauen kennen. Wir haben in der Tat bei den Vollzeitbeschäftigten einen Rückgang von 98 000 zu verzeichnen, aber auf der anderen Seite - das ist entscheidend - haben wir über 900 000 teilzeitbeschäftigte Frauen mehr. Das heißt also: neunmal mehr beschäftigte Frauen durch Teilzeitjobs. ({0}) Von daher war unser Gesetz, mit dem wir die Teilzeitregelung geschaffen haben, durchaus richtig. Kennen Sie diese Zahlen oder kennen Sie sie nicht? Das würde ich gerne wissen.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Humme, Sie geben mir eine sehr gute Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass Sie Ihre Statistik bei der Zahl der geringfügig Beschäftigten geschönt haben. ({0}) Früher, als die geringfügig Beschäftigten noch pauschal Lohnsteuer gezahlt haben, waren sie in dieser Berechnung nicht enthalten. Ich glaube, 400 000 - Herr Kolb, ist das so? -, jedenfalls mehrere hunderttausend Beschäftigte, sind durch die Umstellung von der pauschalen Lohnsteuer hin zur pauschalen Abführung an die Sozialversicherung mit in diese Statistik gekommen. Wenn Sie diese Zahlen herausrechnen, sieht die Statistik längst nicht mehr so gut aus, wie Sie mir hier weismachen wollen. ({1}) Ich will die Diskussion hier nicht verlängern. Wir können uns gern im Ausschuss darüber unterhalten. Dann kann ich Ihnen genau sagen - die Zahlen sind auch in unserem Antrag enthalten -, dass diese Quoten nur wenig gestiegen sind. Wir sind ja gar nicht so weit auseinander, aber liberale Ansätze sind halt andere als die der SPD. ({2}) Wir meinen, es sind auch erfolgreiche Ansätze. Bei uns wären die Arbeitslosenzahlen nicht so hoch gestiegen und sie würden nicht noch mehr steigen, wenn wir an der Regierung wären. ({3}) Ich meine, dass die Bundesregierung die Entwicklung hinsichtlich der Teilzeitbeschäftigung fördert, weil die Kinderbetreuung fehlt. Ich hoffe, dass die Regierung sich endlich mit den Ländern zusammensetzt und die Voraussetzungen für vielfältige Formen der Kinderbetreuung schafft. Ich denke nicht nur an staatliche Kinderbetreuung, sondern zum Beispiel auch an Tagesmütter und private Angebote. ({4}) - Ja, aber in den letzten Jahren ist nichts von Ihnen gekommen, Sie haben nur darüber geredet. Meine Damen und Herren, die hohe Arbeitslosigkeit wirkt sich nicht nur materiell auf Frauen aus, jedes Prozent der Arbeitslosigkeit dreht auch das Rad der Gleichberechtigung von Frauen wieder ein Stück zurück. ({5}) Frau Ministerin, Sie haben am Anfang Ihrer Rede gesagt, dass Sie mit der Situation der Frauen in unserem Land nicht voll zufrieden sind und dass es noch vieles zu verändern gibt. Ich denke dabei an die Verfehlungen und die Untätigkeit Ihrer Regierung in Bezug auf den Arbeitsmarkt, die Steuergesetze und die Wirtschaftsgesetze und nenne als Beispiel den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit. Wenn Frau Schewe-Gerigk jetzt auch noch ein Gleichberechtigungsgesetz für die Wirtschaft ankündigt, kann ich Ihnen nur sagen: Damit werden wir nicht mehr Frauen in Arbeit bekommen, Frau Schewe-Gerigk. ({6}) Ich glaube, durch ein solches Gesetz wird es mehr Umgehungstatbestände geben, als dass es überhaupt etwas bringt. Ich komme jetzt zu den Frauen als stiller Reserve. Ich glaube, dass viele Frauen wegen der hohen Arbeitslosigkeit gar nicht mehr den Mut haben, ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt anzubieten. Deshalb tauchen sie in der Arbeitsmarktstatistik nicht mehr auf. Das wollen wir nicht. Die nachhaltige Integration von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen und besonders in der Arbeitswelt ist entscheidend für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Ich möchte zu einer Gemeinsamkeit zurückkommen. Wir haben ein gemeinsames frauenpolitisches Ziel und ich denke, wir sollten trotz unterschiedlicher Ansätze versuchen, dieses Ziel in der Realität umzusetzen. Die Potenziale von Frauen - ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin -, ihr Wille und ihre Fähigkeit, ihr Leben eigenverantwortlich für sich und die Familie zu gestalten, müssen durch kluge Politik befördert werden. Ich meine, durch eine bessere Politik als die jetzige. Geben Sie sich einen Ruck, sehen Sie sich auch die liberalen Konzepte an. Ich denke, dann werden wir gemeinsam in diesem Parlament etwas für Frauen tun können. Vielen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christel Humme.

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Auch ich möchte es nicht versäumen, die Vertreterinnen der Frauenverbände, die oben auf der Tribüne sitzen, herzlich im Bundestag willkommen zu heißen. Ich hoffe, dass wir ihnen heute eine Diskussion liefern - um mit dem Schlusswort von Frau Lenke zu sprechen -, aus der deutlich wird, welche Frauenpolitik hier im Bundestag gemacht wird. Der Fünfte Staatenbericht, über den wir heute reden, ist gleichzeitig der erste dieser rot-grünen Bundesregierung. Er stellt eine hervorragende Bestandsaufnahme zu Beginn der 15. Legislaturperiode dar - kein Schönreden, wie Sie gerade gesagt haben - und ermuntert uns, unsere erfolgreiche Gleichstellungspolitik fortzusetzen. ({0}) Ich weiß: Vier Jahre sind nach 16 Jahren gleichstellungspolitischer Durststrecke äußerst wenig. Wir haben diese vier Jahre aber genutzt, um umzusteuern und unsere Politik den gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen. 2001 waren 931 000 Frauen - das sind fast 1 Million Frauen - mehr erwerbstätig als 1997. Die Zahl der erwerbstätigen Frauen hat sich seit der Vorlage des Vierten Staatenberichts deutlich erhöht; sie liegt jetzt bei 58,8 Prozent. Das zeigt deutlich, dass Frauen eine gleiche Teilhabe am Erwerbsleben wollen. Die konservative Politik des Entweder-oder, das heißt, sich zwischen beruflichem Erfolg und Familienglück entscheiden zu müssen, hat uns ganz eindeutig in die Sackgasse geführt. ({1}) Ich denke, das ist ein Skandal. Wir wollen das, was in anderen europäischen Ländern schon selbstverständlich ist, nämlich die Freiheit, sich für Familie und Beruf entscheiden zu können. Das nenne ich echte Wahlfreiheit. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, junge Frauen sind den Männern bereits eine Nasenlänge voraus, wenn es darum geht, die Grundlagen für erfolgreiches Berufsleben zu legen. 55 Prozent aller Abiturzeugnisse werden zum Beispiel an junge Frauen gegeben. Dafür werden sie mittlerweile auch im Job belohnt; denn Frauen bis 30 Jahre sind - das bestätigt der Bericht - ebenso häufig in Führungspositionen anzutreffen wie ihre männlichen Kollegen. Das ist eine kleine Sensation. Also: Alles in Ordnung in der gleichstellungspolitischen Welt? - Ich denke: mitnichten. Berufliche Diskriminierung aufgrund verfestigter Rollenmuster ist für die Mehrheit der Frauen nach wie vor die bittere Realität. Das sagt uns der Bericht ebenfalls. Diese Rollenmuster zu überwinden war und ist unsere Daueraufgabe. Vieles von dem, was der CEDAW-Ausschuss noch 1998 in diesem Zusammenhang anmahnte, haben wir umgesetzt. Ich nenne die Schaffung eines Rechtsanspruches auf Teilzeit, Öffnung der Bundeswehr für Frauen, ({3}) Berücksichtigung der Frauenbelange im Betriebsverfassungsgesetz, Flexibilisierung der Elternzeit sowie die Schaffung von Programmen zur Förderung der Frauen in Wissenschaft und Lehre und zur Erweiterung des Berufswahlspektrums von Mädchen. Ich könnte diese Liste noch beliebig fortführen. ({4}) Sie sehen: Der Abbau von Beschäftigungshemmnissen für Frauen zieht sich wie ein roter Faden durch alle Politikfelder. Das ist gelebtes Gender Mainstreaming. ({5}) Aber es bleibt natürlich noch viel zu tun. Vollzeitbeschäftigte Frauen verdienten im Vergleich zu vollzeitbeschäftigten Männern im Jahr 2002 ganze 30 Prozent weniger. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Frau Eichhorn, das ist der eigentliche Grund, warum die Höhe der Renten so unterschiedlich ausfällt: Es gibt nämlich zu wenige gut bezahlte, vollzeitbeschäftigte Frauen. Deshalb gibt es so viele Probleme beim Erwerb eines eigenen Rentenanspruchs. Das Ergebnis heute hat seine Ursache noch in Ihrer Regierungszeit. Das muss man eindeutig festhalten. ({6}) Wir werden, was die Entlohnung angeht, mit gutem Beispiel vorangehen. Denn es gilt, den Bundesangestelltentarif auf Fallstricke für Frauen zu untersuchen. Wichtig ist - das wurde gerade erwähnt - auch die Überprüfung der Steuerklasse V. Wenn vom Bruttoeinkommen kaum etwas übrig bleibt, ist das für Frauen kein Anreiz zur Arbeitsaufnahme. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, genauso zentral wie der Abbau von Beschäftigungshemmnissen für Frauen ist der Abbau von Erziehungshemmnissen für Väter. Beruf und Familie, das muss wie selbstverständlich auch ein Männerthema sein. ({8}) Deshalb gehen wir davon aus, dass die freiwillige Vereinbarung zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft, die zwischen der Wirtschaft und der Bundesregierung getroffen wurde, bis Ende 2003 zu Ergebnissen führt. Auch wir als Gesetzgeber werden handeln und die EU-Gleichstellungsrichtlinie in nationales Recht umsetzen. ({9}) Aber der entscheidende Hemmschuh für die gleiche Teilhabe von Männern und Frauen am Erwerbsleben ist nach wie vor, dass Möglichkeiten zur Kinderbetreuung sowie Ganztagsschulen fehlen. Darin besteht zwischen uns Einigkeit, Frau Lenke. Ich bin dankbar, dass die Bundesregierung mit den Programmen zum Ausbau von Ganztagsschulen und von Betreuungseinrichtungen für Kinder bis zu drei Jahren hier die Weichen richtig stellt. ({10}) An dieser Stelle richte ich meinen Dank an die Ministerinnen Renate Schmidt und Edelgard Bulmahn, die gerade diese Programme ganz besonders stark unterstützen. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Paradigmenwechsel - es ist ja einer - bedeutet für die Zukunft eine höhere Frauenerwerbstätigkeit, mehr Beschäftigung im Dienstleistungssektor und bessere Chancen für Alleinerziehende, aus der Armutsfalle zu kommen. Vielleicht werden auch in Deutschland wieder mehr Frauen Ja zu einem Kind sagen. Nur so gelingt uns eine nachhaltige Lösung der Probleme unserer sozialen Sicherungssysteme und nur so werden wir, genauso wie in den anderen europäischen Staaten, den demographischen Wandel meistern. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung geht bei einem konsequenten Ausbau der Bildungseinrichtungen für Kinder von mehr als 100 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen allein für Erzieherinnen und Erzieher aus. Sie sehen: Unser Programm für Betreuung ist auch ein Programm für Bildung und Beschäftigung. Ich freue mich sehr, dass es auch in den unionsgeführten Ländern immer mehr Kolleginnen und Kollegen gibt, die das genauso sehen und deshalb beim Programm zum Ausbau der Ganztagsschulen mitmachen möchten. Lassen Sie uns hier endlich zusammen handeln. Die Frauen in Deutschland erwarten das von uns. Danke schön. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Grübel.

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich rede heute bewusst als männliches Mitglied meiner Fraktion und offensichtlich auch als einziger Mann überhaupt in dieser Debatte zum Fünften Bericht. ({0}) Für mich ist die Gleichstellung eine Aufgabe, die Frauen und Männer gleichermaßen betrifft. ({1}) Bildlich gesprochen: Wenn eine Seite stehen bleibt, wird es verhältnismäßig schwierig und es wird lange dauern, bis beide Seiten wieder zusammen sind. Schneller wird es gehen, wenn beide Seite aufeinander zugehen. ({2}) Gleichstellungspolitik ist für mich daher nicht nur Frauenpolitik, sie muss auch die Männer gewinnen. Eine gute Gleichstellungspolitik hat Frauen und Männer im Blick. Meines Erachtens kommt diese Blickrichtung im vorgelegten Bericht etwas zu kurz. Ich möchte dies an einigen Beispielen darstellen: Bezogen auf den Bereich der Gleichstellung von Frauen und Männern im Berufsleben wird im Bericht dargestellt, wie sich der Frauenanteil in so genannten Männerberufen entwickelt hat. Zum Beispiel wird dargestellt, dass sich der Anteil der selbstständigen Unternehmerinnen zwar im letzten Jahr nicht erhöht hat, dass er aber von 1991 bis 2001 um immerhin 2 Prozent auf 28 Prozent gestiegen ist. Meiner Meinung nach fehlt im Bericht die Betrachtung der anderen Seite. Wie hat sich die Zahl der Männer in so genannten Frauenberufen entwickelt? Es ist sicherlich sehr begrüßenswert, dass Mädchen auch in technische Berufe oder in den naturwissenschaftlichen Bereich gehen und dass sie dort gefördert werden. Doch warum fordert die Gesellschaft männliche Abiturienten nicht in gleichem Maße dazu auf, Sozialpädagogik zu studieren oder Grundschullehrer zu werden? ({3}) Warum machen fast keine jungen Männer, die mit Kindern gut umgehen können, eine Ausbildung zum Erzieher? ({4}) Nach wie vor stellen Geschlechterbilder ein großes Hindernis dafür dar, dass Menschen gemäß ihren Fähigkeiten und Talenten etwa in Unternehmen oder sozialen Einrichtungen tätig sind. Potenziale und Kompetenzen bleiben auf diese Weise ungenutzt. Die so genannten Männerberufe sind auch aus Sicht eines Mannes nicht das Maß aller Dinge. Da im Fünften Bericht nur dargestellt wird, wie viele Frauen in Männerberufe gehen, wird in den Köpfen der Menschen weiterhin das Vorurteil bestehen bleiben, dass die so genannten Frauenberufe weniger wert sind. Das hat dann auch Auswirkungen auf die gleiche Bezahlung von Frauen und Männern. ({5}) Hätten wir in Zukunft mehr Grundschullehrer und Erzieher, hätte dies auch noch einen anderen Vorteil für Jungen und Mädchen: Sie würden mit einem neuen Frauen- und Männerbild groß werden. ({6}) Ein stärkeres Engagement von Männern in so genannten Frauenberufen ist aber auch für viele Frauen eine Herausforderung. ({7}) - Entschuldigung, wenn ich Sie getroffen haben sollte. ({8}) Eine Studie aus Schweden hat ergeben, dass männliche Erzieher überdurchschnittlich oft Mobbing durch Kolleginnen ausgesetzt sind, dass diese Kolleginnen Erzieher als unmännlich betrachten und ihnen gleichzeitig fachliche Kompetenz absprechen. Ich kann Ihnen diese Studie zur Verfügung stellen. Wir müssen also beide Seiten sehen, um das Ganze zu betrachten. In dem Teil des Berichts über die Beteiligung von Frauen am politischen und öffentlichen Leben wird beispielhaft dargestellt, dass der Anteil der Frauen in der Arbeitsgruppe Frauenhandel sehr groß ist. Dieses Gremium wurde 1997 von der unionsgeführten Bundesregierung eingerichtet. Diese Arbeit ist sehr gut und wichtig. Dennoch muss zumindest die Frage erlaubt sein, ob ein möglichst hoher Frauenanteil wirklich ein Erfolg ist. Denkbar wäre sicherlich auch, dass es für die Beseitigung von Diskriminierung und für die Gleichstellung gut wäre, wenn Frauen und Männer in solchen Gremien gleichermaßen zusammenarbeiten. Entsprechendes gilt auch für viele soziale Bereiche. Man kann natürlich den hohen Frauenanteil als Erfolg darstellen. Man muss aber aus meiner Sicht eher beklagen, dass es viel zu wenig Männer im sozialen Bereich gibt. ({9}) Aber auch beim zuständigen Bundestagsausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend muss die Frage erlaubt sein, ob es unter dem Gesichtspunkt der Gleichstellung sinnvoll ist, dass sich zum Beispiel bei den Grünen dem Thema Familie, Senioren, Frauen und Jugend nur Frauen widmen. ({10}) Auch bei der SPD sind die Männer deutlich in der Minderheit. ({11}) - Die FDP ist bei den ordentlichen und stellvertretenden Mitgliedern vorbildlich. ({12}) Nach meinem Geschmack werden die Männer in diesen Fraktionen zu stark aus ihrer Verantwortung und ihrer Mitarbeit entlassen. In der CDU/CSU sind gleichzeitig starke Frauen und starke Männer in diesem Bereich tätig. ({13}) Das zeigt auf, welch hohen Stellenwert die Gleichstellungspolitik für uns Unionsmänner hat.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Winkler?

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Kollege Grübel, ist Ihnen bekannt, dass die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen seit etlichen Jahren die Fraktion mit dem höchsten Frauenanteil ist, nämlich weit über 60 Prozent, und dies dazu beitragen könnte, dass in einem Arbeitsgebiet, egal welcher Art, zufällig nur Frauen sind? Würden Sie auch in Betracht ziehen, eine solche Quote auch in Ihrer Fraktion anzustreben? ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine erste Anmerkung, Herr Kollege: Die Zahlen sind, wie sie sind. Meine zweite Anmerkung: Die CDU/ CSU hat eine Frau als Fraktionsvorsitzende und eine Frau als Bundesvorsitzende. Wenn man sich die Medienanteile ansieht, stellt man fest, dass die Frauen dort bei uns sehr stark vertreten sind. ({0}) Eine dritte Anmerkung: Wenn Ihre Fraktion bereits über einen Frauenanteil von 60 Prozent verfügt, ist es umso erstaunlicher, dass sich für den Bereich Familie, Senioren, Frauen und Jugend nicht ein Mann findet, der bereit ist, dort mitzuarbeiten. ({1}) Allein die zahlenmäßige Überlegenheit müsste es erzwingen, dass wenigstens ein einziger Mann das Thema als so wichtig empfindet, dass er in diesem Bereich mitarbeitet. ({2}) Frau Ministerin Renate Schmidt, ich möchte auch etwas zu Ihrem Ministerium sagen. Der Blick in das Organigramm zeigt, dass Belange der Gleichstellung in Ihrem Ministerium reine Frauensache sind. Wenn ich die Namen im Organigramm richtig gelesen habe, besteht die Abteilung 4 ausschließlich aus Frauen. Ich hielte es für richtig, für diese Aufgabe der Gleichstellung auch Männer zu gewinnen. Ich sehe ein, dass dort Frauen in Führungspositionen tätig sind, aber es müsste auch möglich sein, wenigstens einen Mann in der ganzen Abteilung aufzutreiben, der ein Referat leitet. ({3}) - Die Parlamentarischen Staatssekretärinnen sind sicherlich beide Frauen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Männer zu leicht aus der gemeinsamen Verantwortung entlassen werden. Wir wollen den Bericht am 2. April im Ausschuss diskutieren. Die vorläufige Liste der einzuladenden Verbände zu dieser Sitzung weist alles auf, was in Deutschland im Bereich von Frauenorganisationen Rang und Namen hat. Von den Frauenorganisationen der Parteien bis hin zur eingetragenen Genossenschaft „Weiberwirtschaft“ sind 70 Verbände aufgefordert, an der Sitzung teilzunehmen. Es mag sein, dass in dieser Runde schnell Einigkeit herzustellen ist. Für mich wäre es aber sinnvoll, wenn Gleichstellungsthemen breiter in die gesellschaftlichen Gruppen getragen werden, sonst bleiben Gleichstellungspolitikerinnen und -politiker und Frauenverbände in einer Nische unter sich. Frauen und Männer sollten sich an der Erziehung der Kinder und an der Hausarbeit gleichermaßen beteiligen. Diesen Satz kann mit Sicherheit jeder unterschreiben. Eltern sollten die Möglichkeit haben, frei zu entscheiden, wer in welchem Umfang berufstätig und wer für die Erziehung und Hausarbeit zuständig ist. Voraussetzung hierfür ist aber auch eine angemessene finanzielle Ausstattung der Familien und ein ausreichendes Betreuungsangebot. ({4}) Bessere Betreuungsangebote können nur gemeinsam mit den Kommunen und Ländern erreicht werden. Die Tatsache, dass die Kommunen kein Geld haben, ist das größte Hindernis bei dem Ausbau der Betreuungseinrichtungen. Wir dürfen gespannt sein, wann und wie die Bundesregierung hier tätig wird. ({5}) - Die Finanzausstattung ist auch Sache des Bundes. ({6}) Bei der Lektüre des umfangreichen Fünften Berichts der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau fällt auf, dass ein wichtiger Bereich fast vollständig fehlt, nämlich das Thema der Gleichstellung von Frauen und Männern mit Migrationshintergrund. Das wundert mich schon allein deshalb, weil die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung gleichzeitig Parlamentarische Staatssekretärin im Ministerium ist. Der Botschafter der Türkei hat uns in dieser Woche eine Broschüre zur Integration der Türken in Deutschland vorgelegt. Dort wird dargestellt, dass bei über 40 Prozent der Ehen die Frau aus der Türkei zugezogen ist. Dies hat ganz erhebliche Auswirkungen auf die Integration und die sprachliche Kompetenz insbesondere der Kinder. Dies hat aber auch ganz erhebliche Auswirkungen auf die Gleichstellung von Frauen und Männern mit Migrationshintergrund. Möglicherweise ist das Ausdruck eines traditionellen Rollenverständnisses junger türkischer Männer, auch wenn sie schon längere Zeit in Deutschland leben. Dieser Bereich sollte von Ihrem Ministerium ausführlich beleuchtet werden. Abschließend möchte ich klar sagen: Gleichstellung funktioniert nur, wenn Frauen und Männer gleichermaßen daran arbeiten. Dazu fordern wir Sie alle auf! ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 24 Jahren ist das internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau in Kraft getreten. Die Bundesrepublik Deutschland trat ihm nach nur sechs Jahren bei. Das war am Beginn der Ära Kohl. Nach Jahren konservativer Frauenpolitik gab es 1998 einen Regierungswechsel. Die Neuen versprachen Besserung. Sie verhießen, die Auswirkung aller Gesetze und Maßnahmen auf die Geschlechter zu prüfen, und sie gelobten, Benachteiligungen von Frauen zu verhindern und vorhandene Benachteiligungen abzubauen. Das hat die PDS begrüßt, weil es modern, europäisch und frauenfreundlich ist. Ich räume gerne ein: Nach fünf Jahren Rot-Grün gibt es etwas auf der Habenseite: das Gewaltschutzgesetz, das Kinderrechteverbesserungsgesetz oder die Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes. Es geht um weniger Gewalt gegen Frauen, um mehr Rechte für Kinder und um Mittel für die Erziehung. Die PDS hat das nicht immer im Detail, aber in der Richtung begrüßt. Nun komme ich aber zur Sollseite, zu den Defiziten - sie sind zum Teil gravierend - von Rot-Grün: Beispiel eins: Lohngleichheit von Frauen und Männern. Noch immer erhalten Frauen keinen gleichen Lohn für gleiche oder gleichwertige Arbeit. Frauen im Westen erhalten 75 Prozent und Frauen im Osten 94 Prozent der vergleichbaren Männereinkommen. Sie werden darauf verweisen, dass die Differenz abnimmt. Ich sage Ihnen: Bei gleich bleibender Entwicklung können die Frauen im Osten in 30 Jahren und die Frauen im Westen in 160 Jahren mit gleichen Löhnen wie ihre Kollegen rechnen. Ich finde, das ist etwas sehr spät. ({0}) Die Bundesregierung verweist in diesem Zusammenhang gerne auf die Tarifautonomie. In anderen Bereichen tut sie das nicht. Sie haben aber Recht: Auch die Gewerkschaften sind für diesen Zustand verantwortlich. ({1}) Eines können Sie mir aber nicht erklären: Weshalb sind im Jahre 13 der Einheit die Frauen im Westen noch immer doppelt diskriminiert? Zweites Beispiel: Hartz. Ich habe hier schon mehrfach darauf hingewiesen, dass die so genannten HartzRegelungen für die neuen Bundesländer, aber auch für die strukturschwachen Regionen in den alten Bundesländern Gift sind. Besonders katastrophal sind die Auswirkungen auf Frauen. Das Lohndumping in frauenspezifischen Berufen boomt. Sozialversicherungspflichtige Teilzeit- und Vollzeitstellen werden durch geringfügige Beschäftigungsverhältnisse verdrängt. Dasselbe trifft übrigens auch für die Mittel der Arbeitsförderung zu. Sie streichen sie um Milliarden zusammen und wieder sind Frauen im Osten und in strukturschwachen Regionen im Westen die ersten Opfer. Drittes Beispiel: die Gesundheitsreform. Die Debatte über diese Reform ist im Gange. Ich finde es bemerkenswert, dass dabei frauenspezifische Aspekte kaum eine Rolle spielen, obwohl wir doch in diesem Ressort eine Ministerin haben. Dabei wäre eine qualitativ bessere Gesundheitsversorgung von Frauen, insbesondere von Migrantinnen, dringend geboten. Deshalb sollte die Versorgung von Migrantinnen möglichst schnell in das Gesundheitssystem integriert und keine Forschung und Erprobung von Medikamenten erlaubt werden, wenn diese nicht geschlechtsspezifisch angelegt ist. Außerdem ist eine Aufklärungskampagne des Gesundheitsministeriums zur Hormonersatztherapie dringend notwendig, um das ihr innewohnende Risiko der Neuerkrankung an Brustkrebs zu senken. Ich gebe zu: Mir fällt es als Mitglied einer parlamentarischen Gruppierung, die zu 100 Prozent aus Frauen besteht, leicht, mich so zu diesen Themen zu äußern. Wir sollten aber parteiübergreifend dafür sorgen, dass der nächste Bericht noch positiver ausfällt. Das gilt insbesondere, wenn wir über den bundesdeutschen Tellerrand hinausblicken. Im vergangenen Jahr hat sich die Lage der Frauen in der Welt verschlechtert. Immer mehr Frauen und Kinder sind Opfer von Krieg und Gewalt geworden. Auch daran sollten wir in den aktuellen außen- und innenpolitischen Auseinandersetzungen denken. Vielleicht sollte Frau Merkel noch einmal darüber nachdenken, welche Auswirkungen ihre Außenpolitik auf die Lage der Frauen zum Beispiel im Irak hat. Danke schön. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kerstin Griese.

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ziehen heute eine Bilanz der Frauenpolitik und ich will aus der Sicht der Generation junger Frauen etwas dazu sagen, was sich verändert hat und was wir von der Politik erwarten. 1994 lautete das Motto der Aktionen der sozialdemokratischen Frauen: „Die Hälfte des Himmels, die Hälfte der Erde, die Hälfte der Macht“. Inzwischen haben die Frauen die Hälfte des Kabinetts erobert. Das ist ein Novum. Denn so viel Frauenpower gab es noch nie in einer Regierung. ({0}) Mit der Bundesfrauenministerin Renate Schmidt gibt es insgesamt sechs Ministerinnen sowie viele Staatssekretärinnen und Staatsministerinnen. ({1}) Das begrüße ich deshalb, weil eine Forderung zur selbstverständlichen Realität geworden ist: Frauen wollen die Hälfte der Macht. Im Parlament ist bei einigen Fraktionen noch Nachholbedarf zu verzeichnen. Herr Grübel, ich stimme Ihnen zu, dass Frauen und Männer gleichermaßen zu beteiligen sind. Ich lade auch alle Männer sehr herzlich in unseren Ausschuss für Familien, Senioren, Frauen und Jugend ein. Sie lade ich zum Karneval in meinen Wahlkreis ein; aber das ist ein anderes Thema. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu was laden Sie ihn ein? ({0})

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In den Fraktionen des Bundestags sieht es sehr unterschiedlich aus. Während der Frauenanteil in der SPDFraktion bei über 35 Prozent liegt, beträgt er in der CDU/CSU-Fraktion weniger als 23 Prozent und in der FDP-Fraktion etwa 25 Prozent. Da muss sich schon noch etwas tun. ({0}) Frauen stellen auch die Hälfte der Wählerschaft. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wissen sehr gut, dass die Frauen die Bundestagswahl entschieden haben, indem sie unsere moderne Frauen- und Familienpolitik den alten Hüten von der Union vorgezogen haben. ({1}) Der CEDAW-Bericht, den wir heute diskutieren, mahnt an, dass die Beteiligung von Frauen in der Politik noch gesteigert werden muss. Denn noch immer gibt es eine traditionelle Rollenverteilung, die die Ursache für die geringere Beteiligung von Frauen an politischen Ämtern ist. Interessanterweise sind Frauen aber in der Mehrheit, wenn es um das ehrenamtliche Engagement geht. Auch das sollte uns zu denken geben. Ich begrüße es sehr, dass die Bundesregierung ein Bündel von Maßnahmen aufgelegt hat, um junge Frauen für politisches Engagement zu gewinnen. Das Problem in unserer Gesellschaft liegt aber noch an einer anderen Stelle, wie der Prospekt des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und seines Vorstandes zeigt, der ausschließlich aus Männern besteht. Insofern besteht unser Hauptproblem nicht darin, dass im Frauenausschuss des Bundestags so viele Frauen vertreten sind, sondern darin, wie es in der Führungsebene der deutschen Wirtschaft aussieht. ({2}) Ich möchte noch ein weiteres Motto eines Frauentages zitieren, weil es sehr aktuell und programmatisch ist. 1988 hat unsere Kollegin Inge Wettig-Danielmeier den Satz geprägt: „Wer die menschliche Gesellschaft will, muss die männliche überwinden.“ Ich glaube, darum geht es. Der heutigen Generation junger Frauen geht es - das ist für sie ganz selbstverständlich - um ein Miteinander von Männern und Frauen, um Gleichberechtigung in der Schule, in der Ausbildung und im Studium. Das ist für uns eigentlich die Grundlage. Das fordern wir auch für Familie und Partnerschaft ein. Deshalb steht die individuelle und flexible Lebensplanung im Vordergrund. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat eine neue Dimension erreicht und stellt neue Anforderungen an die Politik, an die Gesellschaft und insbesondere an die Männer. Ich bin um jeden froh, der sich damit beschäftigt. Es geht um eine menschliche Gesellschaft, um die Balance von Leben und Arbeit. Die meisten jungen Frauen nutzen optimistisch ihre Chancen. Ganz interessant ist, dass viele mit dem Begriff „Frauenförderung“ eigentlich nichts mehr anfangen können; denn sie fühlen sich gar nicht als defizitäres Wesen, das gefördert werden müsste. Und das ist auch gut so. Wir machen dieses Selbstbewusstsein junger Frauen sowie ihre guten Ausbildungs- und Schulabschlüsse zum Ausgangspunkt unserer modernen und lebensnahen Frauenpolitik. Frauen - das ist schon von vielen gesagt worden - machen die besseren Schulabschlüsse. Allerdings ist ihr Anteil an denjenigen, die promovieren, nur noch ein Drittel. Der große Karriereknick kommt bei den C-4-Professuren; denn dort beträgt der Frauenanteil nur noch 7,1 Prozent. Ein solcher Knick kommt dann, wenn jede noch so gut ausgebildete Frau auf dem Arbeitsmarkt allein auf ihre Gebärfähigkeit reduziert wird und deshalb noch immer Nachteile erleiden muss. ({3}) Deshalb - das ist meine feste Überzeugung - muss sich in der gesamten Gesellschaft, bei Männern und Frauen, etwas ändern. Wir wollen eine menschliche Gesellschaft, die gleiche Chancen bietet, und zwar sowohl für Frauen auf Karriere als auch für die neuen Väter auf Familienzeit, die viele Männer so gerne nehmen wollen, aber tatsächlich sind es nur 2 Prozent. Das neue Elternzeitgesetz und das Recht auf Teilzeitarbeit sind gute Schritte in die richtige Richtung. Auch in der Wissenschaft geht es voran. Inzwischen sind ein Viertel der Juniorprofessuren mit Frauen besetzt. Das ist ein Fortschritt. Ich bin mir außerdem ganz sicher, dass unser Schwerpunkt, den wir beim Ausbau von Kinderbetreuungsmöglichkeiten gesetzt haben - die Ministerin hat immer wieder betont, dass sie für Vielfalt ist, dass wir die ganze Bandbreite der Angebote nutzen wollen, von den Tagesmütterinitiativen über die Einrichtungen der Kirchen und der Wohlfahrtsverbände bis hin zu den staatlichen Einrichtungen -, ein Riesenschritt für mehr Chancengleichheit von Frauen und Männern sein wird. Das wird die Praxis jenseits aller ideologischen Debatten sicherlich zeigen. ({4}) Ich möchte noch auf zwei Bereiche eingehen, in denen wir mit der Frauenpolitik der rot-grünen Koalition ganz entscheidende Fortschritte zu verzeichnen haben. Erstens: der Schutz von Frauen vor Gewalt. Hier setzen wir Zeichen; denn Gewalt im häuslichen Bereich ist keine Privatsache. Das 2002 in Kraft getretene Gewaltschutzgesetz bietet Schutz vor Gewalttaten. Die Gewaltopfer - das sind meistens Frauen - haben einen Anspruch auf Wohnungsüberlassung. Das Gewaltschutzgesetz gibt das Signal: Das Opfer bleibt, der Täter geht! Ich denke, das ist das richtige Signal. ({5}) Zweitens: die Asyl- und Menschenrechtspolitik. Der CEDAW-Bericht ist das wichtigste internationale Dokument, in dem klargestellt wird: Frauenrechte sind Menschenrechte. In dem Bericht wird die Bundesregierung für die Novellierung des Ausländergesetzes gelobt und es wird angemahnt, wie wichtig es ist, dass sich Deutschland als Ziel- und Transitland des Menschenhandels damit beschäftigt; denn Menschenhandel ist in erster Linie noch immer Mädchen- und Frauenhandel. In dem CEDAW-Bericht wird die Einrichtung der bundesweiten Arbeitsgruppe zur Bekämpfung des Frauenhandels gelobt, die Erfolge zu verzeichnen hat. Ich möchte noch ein aktuelles Thema ansprechen, das mich sehr schockiert hat. Ich habe gelesen, dass die unionsgeführten Länder die geschlechtsspezifischen Fluchtursachen aus dem Zuwanderungsgesetz streichen wollen. Ich halte das für einen Skandal. ({6}) Ich appelliere ganz deutlich insbesondere an die Kolleginnen der Opposition: Lassen Sie das nicht zu! Wenn Sie sich die zurzeit laufende Plakatkampagne gegen die Beschneidung von Mädchen ansehen, dann wissen Sie doch, dass frauenspezifische Fluchtursachen grausame Realität sind. Ich bin mir ganz sicher, dass die deutsche Gesellschaft in ihrem Bewusstsein längst weiter ist und dass es eigentlich kaum noch jemanden gibt, der leugnet, dass frauenspezifische Verfolgung existiert und ein lebensbedrohlicher Grund sein kann, ein Land zu verlassen. Im CEDAW-Bericht werden wir ausdrücklich aufgefordert, den Schutz ausländischer Frauen, insbesondere den weiblicher Asylsuchender, zu verstärken. Wir wollen hier keinen Rückschritt. Wir wollen die frauenspezifischen Fluchtursachen im Gesetz belassen. Deshalb sage ich Ihnen: Treten Sie Ihren Männern auf die Füße - das müssen wir manchmal auch bei unseren machen -, damit diese Errungenschaften für die Frauen nicht den Profilierungskämpfen an der CDU-Spitze zum Opfer fallen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hannelore Roedel.

Hannelore Roedel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frauen im Bundestag und am Rednerpult sind heute selbstverständlich. Das war nicht immer so. Das Parlament durften Frauen erst 1918 betreten. Heutzutage gibt es sie, die erfolgreichen Frauen an der Spitze, aber viel zu wenige. Die Führungspositionen sind nach wie vor fest in männlicher Hand. Auch wenn in Deutschland genauso viele Frauen wie Männer ihr Studium erfolgreich abschließen, stellen Frauen nur ein Drittel der Doktoranden, ein Fünftel der Habilitierten und ein Zehntel der Professoren. Nicht nur hier ist Deutschland wiederum Schlusslicht in Europa. Dies ist besonders bedauerlich und zeigt auch die Vergeblichkeit vieler gut gemeinter Maßnahmen von RotGrün. Denn mit der Regierungsübernahme 1998 kündigte die Koalition den Durchbruch in der Gleichstellungspolitik an und erklärte diesen Bereich zum gesellschaftlichen Reformprojekt. ({0}) Die von mir zitierten Zahlen belegen: Viel Lärm um nichts. Auch die neueste Initiative unserer Bildungsministerin mit den so genannten Juniorprofessuren wird an diesen Tatsachen wenig ändern. Diese Professur soll sechs Jahre dauern, erfordert laufend Qualifikationsnachweise und kann mit knapp 30 Jahren angetreten werden. Doch gerade in diesem Alter entscheiden sich die meisten Frauen für Kinder. Damit stellt sich wieder die Entweder-oder-Frage. Mit derartigen Junior-Initiativen ist den Frauen also nicht wirklich geholfen. Statt mit der Frauenförderung erst im Alter von 30 Jahren zu beginnen, müssen die Weichen früher gestellt und Mädchen bereits in der Grundschule gefördert werden. ({1}) Unabdingbar sind weiterhin Transparenz bei den Entscheidungswegen, eine ausgewogene Zusammensetzung in den Entscheidungsgremien und familienfreundliche Bedingungen. Aber das alles ist für uns ja nichts Neues. Schon zu unserer Regierungszeit haben wir Anfang der 90er-Jahre mit dem Hochschulsonderprogramm den Grundstein für eine erfolgreiche Frauenförderung gelegt. Bei Rot-Grün dagegen, die sich, wie von mir gerade erwähnt, die Gleichstellung der Frauen auf die Fahne geschrieben haben, bleibt dieser Bereich weiterhin Baustelle. Die Situation der Frauen in Wissenschaft und Forschung ist aber nur ein Teilaspekt der Lebenswirklichkeit von Frauen. Die größte Diskriminierung für Frauen, egal welchen Berufs, liegt in der hohen Arbeitslosigkeit in diesem Land. ({2}) Über 4,7 Millionen Menschen sind auf der Suche nach einem Arbeitsplatz und über 2 Millionen von ihnen sind Frauen. Diese Zahlen sprechen für sich und sind die bittere Konsequenz Ihrer verfehlten Wirtschaftspolitik. ({3}) Jetzt, meine Damen und Herren der Koalition, sitzen Sie hier und erwarten, dass morgen mit der Regierungserklärung des Kanzlers ein Wunder geschieht, das sämtliche Probleme löst. ({4}) Wir brauchen jedoch keine Wunder, sondern konkretes und wirkungsvolles Handeln. Was nützt zum Beispiel ein Anspruch auf Teilzeit, wenn Frauen nicht einmal die Einladung zum Bewerbungsgespräch bekommen? Unternehmen ziehen den Bewerber vor, von dem man annimmt, dass er keine Wünsche nach Teilzeit äußert. So bewirken Ihre Schutzgesetze nur eins: nämlich den Arbeitsuchenden vor dem Arbeitsplatz zu schützen. ({5}) Die beste Frauenförderung ist eine gute Wirtschaftspolitik. Das zeigt das Beispiel Bayerns, wo so viele Frauen wie in keinem anderen Bundesland erwerbstätig sind. ({6}) Frauen brauchen aber genauso eine gute Familienpolitik. Sie aber wollen den Familien durch ewig neue Steuer- und Abgabenerhöhungen das Leben immer schwerer machen. Man nehme nur das Beispiel Ehegattensplitting. Auch wenn Ihre Pläne vorübergehend auf Eis liegen, so ist doch im CEDAW-Bericht die Diskussion aufs Neue angeregt. Das Ehegattensplitting ist aber für die Union, abgesehen von der verfassungsrechtlichen Bedeutung, wesentlicher Teil einer modernen Frauenund Familienpolitik. ({7}) Warum? - Es entspricht nun einmal genau dem am meisten gelebten Familienmodell. Ohne Kinder gehen beide Partner einer Berufstätigkeit nach. Mit Kindern wechseln Erziehungszeiten und Berufstätigkeit im unterschiedlichen Ausmaß einander ab. Ob ein Partner das Familieneinkommen alleine verdient, beide gleich viel dazu beitragen ({8}) oder sonst eine Aufteilung gewählt wird - die Jahressteuerbelastung des Familieneinkommens ist in allen denkbaren Varianten die Gleiche. Damit bewirkt der Splittingvorteil ein indirektes Familiengeld und honoriert damit die von einem Partner erbrachte Erziehungsleistung als gleichwertig zur Erwerbstätigkeit des anderen Partners. ({9}) Damit ist gleichgültig, welches Modell die Eltern nehmen und wofür sie sich entscheiden, denn dies bedeutet echte Wahlfreiheit für Erziehung und/oder Erwerbstätigkeit. Eine vernünftige Frauenpolitik muss Lösungen für die vielfältigen Lebensentwürfe von Frauen anbieten. Die Union hat mit dem Programm „Faire Politik für Familien“ und umfassenden Konzepten wirkliche Alternativen für Deutschland für mehr Dynamik, Wachstum und Beschäftigung vorgelegt. Kurz nach dem Internationalen Frauentag liegt es nun an Ihnen, Frauen endlich die Perspektiven aufzuzeigen, für die sie schon so lange kämpfen. Margaretha von Wrangell schrieb dazu 1923 an ihre Mutter: Ich habe viele Kämpfe in meinem Berufe. Jedoch weiß ich, wofür ich kämpfe. Sie muss es wissen; denn sie war vor 80 Jahren die erste ordentliche Professorin in Deutschland. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/105 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/599 und der Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/601 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft zur Finanzierung von Bundesverkehrswegen ({0}) - Drucksache 15/199 ({1}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer ({2}), Eduard Oswald, Georg Brunnhuber, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Bundesfernstraßenfinanzierungs- und Managementgesellschaft ({3}) - Drucksache 15/299 ({4}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5}) - Drucksache 15/416 Berichterstattung: Abgeordnete Georg Brunnhuber Reinhard Weis ({6}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Margrit Wetzel.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder ruft nach einer Reform und wir machen sie. ({0}) Selbst wenn die Opposition versucht, das im Bundesrat zu verhindern: Wir setzen wichtige Reformen im Verkehrsbereich fort. Auch deshalb verabschieden wir heute den im vorigen Jahr schon einmal vorgelegten Gesetzentwurf, der die Einrichtung einer Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft vorsieht. Dieser Gesetzentwurf hat den gleichen Wortlaut wie der, den wir im vergangenen Jahr eingebracht haben. Wir sind der Meinung, dass diese Gesellschaft ihre Arbeit rechtzeitig vor dem 1. September dieses Jahres aufnehmen können muss. Wir haben über unseren früheren Entwurf ausführlich diskutiert, wir haben eine Anhörung durchgeführt und wir haben wichtige Elemente aus den Anregungen der Sachverständigen aufgenommen. Das Ergebnis, das wir damals erzielt haben, kann sich heute wirklich sehen lassen. ({1}) Denn mit diesem Gesetz organisieren wir den Einstieg in die Nutzerfinanzierung von Verkehrsinfrastruktur. Aus den Einnahmen der LKW-Maut soll der größtmögliche Teil schnell, transparent und unbürokratisch in den Ausbau gravierender Engpässe auf den Straßen, auf den Schienenwegen und auf den Wasserstraßen gelenkt werden. Das verkehrsträgerübergreifende Bedienen aus der LKW-Maut und aus den Nutzerentgelten auf Bundeswasserstraßen entspricht den Vorstellungen eines vereinten und zusammenwachsenden Europas. Auch darüber muss man sich klar sein. Die Bundesfernstraßen werden forciert ausgebaut und durch die Beseitigung der Engpässe bei den Schienenwegen und bei den Wasserstraßen gewinnen wir neue Kapazitäten und entlasten gleichzeitig die Straßen; das kommt den Straßen letztendlich zugute. ({2}) Im speziell dafür aufgelegten Anti-Stau-Programm sind die Projekte, um die es geht, zusammengestellt. Die Gesellschaft darf keine Kredite aufnehmen, damit - das ist uns ganz wichtig - kein unkontrollierbarer Schattenhaushalt des Bundes entsteht. Noch wichtiger ist uns aber, dass wir für den Ausbau der fünften und sechsten Fahrstreifen an Bundesautobahnen über das so genannte A-Modell zusätzliches privates Kapital mobilisieren. Das heißt, wir stecken mehr Geld in die Verkehrsinfrastruktur. Das ist neu und das nennen wir Fortschritt. ({3}) Die Gründung dieser Gesellschaft ist eine reine Organisationsprivatisierung für nicht hoheitliche Aufgaben des Bundes. Die Entscheidung über die Projekte bleibt beim Parlament. Sie werden als Anlage in einer besonderen Titelgruppe des Bundeshaushaltsgesetzes festgehalten. Damit und mit der jährlichen Berichtspflicht der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft schaffen wir Transparenz und zugleich auch die Akzeptanz derjenigen, die zahlen müssen. Denn dass die verladende Wirtschaft durch die LKW-Maut höhere Kosten hat, wird nur akzeptiert, wenn sich zugleich sichtbar etwas bei den Investitionen bewegt. Wir regeln über dieses Gesetz außerdem die Zweckbindung der Mittel aus der LKW-Maut. Die Zuweisung erfolgt zwar jährlich; aber wir überwinden die Jährlichkeit der kameralistischen Haushaltsführung des Bundes, indem nicht verausgabte Mittel noch im nächsten und übernächsten Jahr eingesetzt werden können. Wir schaffen damit eine völlig neue Flexibilität, die für Investitionen bei allen drei Verkehrsträgern dringend notwendig und absolut neu ist. Das ist der Einstieg in eine ganz wichtige Weiterentwicklung der Finanzierung unserer Verkehrsinfrastruktur, bei der wir dann hoffentlich zügig weiterkommen. Außerdem soll die schlank organisierte Gesellschaft zu einem Kompetenzzentrum für Privatfinanzierung und damit für die Mobilisierung privaten Kapitals werden. Mit der Änderung des Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetzes haben wir gute Rahmenbedingungen geschaffen, die von den Mitarbeitern der neuen Gesellschaft kreativ genutzt und mit Leben erfüllt werden sollen. Die Gesellschaft soll geeignete Betreibermodelle ermitteln. Sie soll die Vergabe von Konzessionen betreuen, die privatwirtschaftliche Realisierung von Verkehrsinfrastrukturvorhaben vorbereiten, sie durchführen und abwickeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bauwirtschaft brennt darauf, in die dann möglichen Betreibermodelle der Public-Private-Partnership einzusteigen. Wir stehen damit am Beginn einer ganz neuen Entwicklung. Das rechtfertigt, diese Aufgaben aus dem BMVBW auszugliedern. ({4}) - Ich interpretiere den Applaus jetzt so, dass dieser neue Schritt unterstützt wird, und nicht etwa als Kritik am BMVBW. ({5}) Das soll damit nicht ausgedrückt werden; ganz im Gegenteil: Wenn ein Ministerium selbst auf den Gedanken kommt, eine völlig neue Aufgabe auszugliedern und damit den Versuch zu unternehmen, Bürokratie abzubauen, ({6}) aus den eingefahrenen Wegen herauszukommen und neue Chancen zu eröffnen, dann finde ich das in hohem Maße anerkennenswert. Das verdient unsere Unterstützung. Es zeigt, dass wir in der Lage sind, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen; denn unter der Kohl-Regierung wurden mit Privatfinanzierung schlechte Erfahrungen gemacht. Ich erinnere nur an die Konzessionsmodelle der privaten Vorfinanzierung, die nur kurzfristig scheinbaren Erfolg hatten und die uns jetzt die Handlungsspielräume einengen, sodass wir noch jetzt unter ihnen leiden, oder auch an die Unzulänglichkeiten des Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetzes, das wir durch entsprechende Verordnungen erst einmal so modernisieren mussten, dass es in der Zukunft wahrgenommen werden kann, dass die Chancen, die darin liegen, überhaupt umsetzbar sind. Genau das sind die Bereiche, in die die neue Gesellschaft einsteigen soll und in denen sie Fortschritte erzielen soll. Was unterscheidet nun unseren Gesetzentwurf von dem CDU-Gesetzentwurf? ({7}) - Ich bitte um Entschuldigung, Herr Oswald, so viel Zeit muss sein. - Die CDU/CSU möchte die Mittel ausschließlich und vollständig in den - so heißt es wörtlich „Unterhalt der Bundesfernstraßen“ lenken. ({8}) Das entspricht weder unseren Vorstellungen noch denen der Europäischen Union von einer integrierten Verkehrspolitik. Die Union will, dass die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft Kredite aufnehmen darf. Das heißt, es werden Schattenhaushalte gebildet. Sie sagen: Was schert mich mein Geschwätz von gestern? Denn offenbar haben Sie vergessen, dass Sie uns in der letzten Legislaturperiode bei der Beratung ebendieses Gesetzes noch vorgeworfen haben - ich zitiere aus der Beschlussempfehlung -: Mit der jetzt vorgesehenen Gründung der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft werde allenfalls ein Schattenhaushalt geschaffen, aber keines der gesteckten Ziele erreicht. Da sieht man einmal, wie kurz gedacht die Konzepte der CDU/CSU - so viel Zeit muss sein; ich betone dabei bewusst die CSU - sind. Sie sind es, die den Bundesverkehrswegeplan als Märchenbuch wie vorher weiterschreiben wollen und Schattenhaushalte aufbauen wollen. Ich denke, das ist nicht das, was die Bevölkerung will. Die Menschen wollen Planungssicherheit und Klarheit über das, was vor Ort passiert. Sie können im schlimmsten Fall auch einmal ein Abwarten akzeptieren; aber sie müssen erfahren, dass sie gegebenenfalls warten müssen. Diejenigen, die bauen, müssen das einschätzen können. ({9}) Außerdem handelt es sich bei Ihrem Gesetzentwurf um einen reinen Ampelverschnitt; denn es ist nichts Eigenes enthalten. Man muss sich wirklich einmal das Vergnügen machen, diesen Entwurf zu lesen. Ich kann uns das nur empfehlen. Die formalen Teile sind aus unserem Gesetzentwurf abgeschrieben und die politischen aus der Beschlussempfehlung zum alten Gesetzentwurf der FDP abgekupfert. Das wird uns heute als CDU-Gesetzentwurf vorgelegt. Das ist nicht zu fassen. Kommen wir zu dem zurück, was wir wollen. Wir wollen, dass die Entscheidung darüber, wo gebaut wird, im Parlament bleibt. Über die Prioritäten entscheiden wir und niemand anders. Das ist das originäre Recht des Parlaments. ({10}) Es darf keine Schattenhaushalte geben und es wird sie auch nicht geben. Wir werden aber zusätzliches privates Kapitel mobilisieren. Die Abwicklung der Engpassbeseitigung muss zügig beginnen und transparent und unbürokratisch sein. Das wird die moderne, pfiffige Gesellschaft mit dem komplizierten Namen auch leisten. Den zukünftigen Mitarbeitern dieser Gesellschaft wünsche ich viel Erfolg. Die Wirtschaft wartet darauf, dass wir mit dieser Art der Finanzierung anfangen, ebenso warten die Gemeinden darauf, die an den Engpassstellen liegen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Brunnhuber. ({0})

Georg Brunnhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000284, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir entscheiden heute über zwei Gesetzentwürfe, über den der Regierungskoalition zum Thema Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft ({0}) und über den der CDU/CSU zur Bundesfernstraßenfinanzierungs- und Managementgesellschaft. ({1}) Ich habe mir aufgeschrieben, wie die Überschrift lautet: Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaftsgesetz. Das sind 53 Buchstaben, es ist ein Wortmonster. Im Grunde genommen ist das auch schon das Bedeutendste, was man über dieses Gesetz sagen kann. ({2}) Sie haben es wieder nicht begriffen. Sie haben wie bei der LKW-Maut, an der Sie seit dreieinhalb Jahren herumdoktern und nichts zustande bringen, ({3}) wiederum aus einer guten Idee Murks gemacht. Auch hier machen Sie alle Fehler, die man machen kann. Sie sind wirklich mit einem großen Genie ausgezeichnet. Die Fehler, die man machen kann, suchen und finden Sie und machen sie anschließend auch. Das ist auch hier wieder der Fall. ({4}) Eigentlich ist die Überschrift in Ordnung ({5}) und man könnte meinen, Sie wüssten, was Sie wollen. Die Formulierung in § 1 möchte ich vortragen, damit man weiß, was Sie gern machen möchten. ({6}) Zur Errichtung der Gesellschaft heißt es, dass Aufgaben des Bundes der Finanzierung von Neubau, Ausbau, Erhaltung und Betrieb von Bundesfernstraßen und Bundeswasserstraßen sowie von Bau, Ausbau und Ersatzinvestitionen der Schienenwege der Eisenbahnen des Bundes ({7}) einer Gesellschaft des privaten Rechts in der Rechtsform einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu übertragen seien. Dieser Text ist absolut in Ordnung. ({8}) Hätten Sie jetzt den Mut gehabt oder die Intelligenz besessen - das lasse ich offen -, das weiter zu betreiben, dann hätten Sie nicht in § 2 formulieren dürfen, dass dies „nach Maßgabe der jährlichen Haushaltsgesetze und nach den Weisungen des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen“ geschehen soll. Gleichzeitig stellen Sie fest, dass diese Gesellschaft nicht berechtigt ist, Anleihen und Kredite aufzunehmen oder Bürgschaften, Garantien oder ähnliche Haftungen zu übernehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und meine Damen und Herren von der Regierungsbank, damit haben Sie nichts anderes vor als das, was bisher die Beamten im Verkehrsministerium gemacht haben, in eine Gesellschaft vorzulagern. Wahrscheinlich machen es sogar die gleichen Beamten. Dafür hätten Sie keine Gesellschaft gebraucht. Frau Kollegin Wetzel, vielleicht erinnern Sie sich daran: Es gab vor ziemlich genau einem Jahr eine Anhörung. Bei dieser Anhörung waren Sachverständige anwesend, nicht einer hat das, was Sie jetzt machen, auch nur im Ansatz für gut befunden. ({9}) Der Bundesrechnungshof - zumindest auf ihn sollten Sie hören - hat gesagt: Dieses Gesetz ist so unnötig wie ein Kropf. - Recht hat er. Dem schließt sich die Opposition an. ({10}) Wenn Sie gelegentlich wenigstens das tun würden, was Ihre Kommissionen Ihnen vorschlagen, dann könnte man noch die Hoffnung haben, dass irgendwann etwas Vernünftiges herauskommt. Sie hatten eine hochrangige Kommission „Verkehrsinfrastrukturfinanzierung“ eingesetzt. Sie hat Ihnen genau das vorgeschlagen, was die CDU/ CSU mit ihrem Gesetz umsetzen will. Ein weiterer Punkt. Herr Klimmt hat am 5. September 2000 die von der Kommission erarbeiteten Vorschläge in Empfang genommen. Damals war in der Presse, hauptsächlich in den Verkehrspublikationen, zu lesen - wir haben genau aufgepasst -, er werde dafür sorgen, dass mangels allgemeiner Haushaltsmittel diese Vorschläge 1 : 1 umgesetzt würden. In der Zwischenzeit wissen wir: Wenn Sie sagen, Sie würden etwas 1 : 1 umsetzen, bedeutet dies eigentlich, dass die Vorschläge im Papierkorb landen - siehe Hartz. ({11}) Man muss sich fast schon fragen, warum Sie eigentlich Kommissionen einsetzen, wenn Sie von vornherein wissen, dass das, was dabei herauskommt, von Ihnen in keiner Weise umgesetzt wird. ({12}) Ich möchte noch einen weiteren Punkt anführen. Bei der Diskussion über die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft muss man natürlich auch darüber reden, wie Sie mit der LKW-Maut und den entsprechenden Verordnungen bisher umgegangen sind. Diese Gesellschaft soll mit den Einnahmen aus der LKW-Maut sinnvolle Maßnahmen finanzieren. Bis jetzt wurde aber noch kein Cent eingenommen. Niemand weiß, ob bis zum 31. August überhaupt Geld fließen wird. ({13}) Seit drei Jahren erklären Sie permanent in diesem Hause und der gesamten Öffentlichkeit - also nicht nur dem Transportgewerbe -, dass die Maßnahmen mit Brüssel hervorragend abgesprochen seien, dass sowohl die Mauthöhe als auch die Harmonisierungsmaßnahmen bezüglich des Transportgewerbes in Ordnung seien und dass alles geklärt sei. ({14}) Jetzt muss man aber feststellen: Nachdem Sie dreieinhalb Jahre, von denen Sie zwei Jahre prozessieren mussten, in Brüssel verhandelt haben, erklären der Minister und seine Staatssekretäre, Fürchterliches sei geschehen, die Verkehrskommission sei gar nicht bereit, über Ihre Vorschläge zu diskutieren. ({15}) Sie will weder über die Mauthöhe - sie wird angefochten - noch über die Harmonisierungsschritte verhandeln. Dazu sage ich Ihnen: Entweder sind Sie unfähig oder Sie haben uns belogen. Nur eine von diesen Möglichkeiten kann zutreffen. ({16}) Dazu hätten wir schon gerne ein Wort von Frau Wetzel oder vielleicht nachher von einem Vertreter der Regierung gehört. Im Ausschuss haben Sie gestern den Eindruck erweckt, dass Sie zwar nicht wissen, wie es jetzt weitergeht, dass Sie aber davon ausgehen, dass die Genehmigung zum 31. August erfolgen wird. Wenn Sie so weitermachen, bekommen wir in diesem Jahr zwar das modernste und teuerste Mautsystem der Welt; aber diese Technik kann nicht eingesetzt werden, weil Sie keine Genehmigung aus Brüssel für dieses Vorhaben bekommen. Das ist ein Armutszeugnis auf der ganzen Linie. Die gesamte Verkehrspolitik in Deutschland nähert sich letztendlich langsam dem Chaos, wie wir es in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik dieser Regierung erkennen können. ({17}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe Ihnen vor 14 Tagen Folgendes vorgehalten: Wenn Sie eine vernünftige Politik machten ({18}) und auch nur ein bisschen auf das eingingen, was die Opposition hier sagt, dann hätten Sie in Brüssel schon einen Streitpunkt weniger. Sie haben nämlich auch den Streitpunkt noch nicht ausgeräumt, dass nach Brüsseler Auffassung das viele Geld, das von LKWs kassiert wird, nach Abzug der Systemkosten und gewisser Harmonisierungskosten wieder in die Straßenverkehrsinfrastruktur zurückfließen muss. Wenn Sie in Brüssel Erfolg haben wollen, dann kann ich Ihnen nur empfehlen, sich unsere Anträge nochmals genau anzusehen. Wenn Sie intelligent genug sind, sie auch zu verstehen, dann werden Sie ihnen auch zustimmen. ({19}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir von der CDU/CSU-Fraktion haben ernst genommen, was Ihre Kommissionen von der Pällmann-Kommission bis zur Infrastrukturfinanzierungskommission vorgeschlagen haben. Wir haben das, was sie den Ministerien vorgeschlagen haben, expressis verbis in Vorlagen gegossen. Eine dieser Vorlagen liegt heute als Gesetzentwurf vor. Wir können darüber abstimmen. Wenn Sie wollen, dass in Deutschland wieder ordentlich Straßenbau betrieben wird, sodass der Autofahrer nicht permanent im Stau steht, und der Gütertransport auf der Straße vernünftig organisiert wird, dann stimmen Sie unserem Gesetzentwurf heute zu. Herzlichen Dank. ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Abgeordnete Albert Schmidt das Wort.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verkehrsministerkonferenz hat bereits im April 2002 einstimmig, Herr Kollege Brunnhuber, also einschließlich der Verkehrssenatoren und -minister der CDU/CSU-geführten Länder, beschlossen, der Bund möge die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft möglichst schnell einrichten, damit die Einführung der LKW-Maut im Jahr 2003 so reibungslos wie möglich erfolgen könne. Was lernen wir daraus? Inzwischen gibt es eine Union der Bundesländer, in der vernünftige Leute sitzen, die wissen, was richtig ist, und die BrunnhuberCDU/CSU im Bundestag, die das Gegenteil dessen propagiert, was die eigenen Kollegen in den Ländern sagen und wollen. ({0}) Dieselbe Schlachtordnung hatten wir schon gestern im Ausschuss, als es generell um das Thema LKW-Maut ging. Ich fürchte, Herr Kollege Brunnhuber, dass Sie den falschen Kalender benutzen. Sie müssen einmal begreifen, dass die Dinge im Fluss sind, dass sich die europäische Verkehrspolitik und die deutsche Verkehrspolitik entwickeln und dass über das, was jetzt auf der Tagesordnung steht, unter den halbwegs vernünftigen Verkehrspolitikern dieses Landes weitgehend Konsens besteht. Nun komme ich zur Sache: Der heute vorliegende Gesetzentwurf der Koalition ist mit dem inhaltsgleich, was wir am 17. Mai 2002 in zweiter und dritter Lesung hier beraten und beschlossen hatten, was aber der Diskontinuität anheim fiel, weil zwischenzeitlich ein neuer Bundestag gewählt wurde. Das, was hier Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft heißt, klingt in der Tat wie ein bürokratisches Monstrum. In diesem Punkt gebe ich Ihnen ausdrücklich Recht, Herr Kollege Brunnhuber. In Wahrheit ist es aber das Gegenteil davon: Es ist ein neues, innovatives Finanzierungsinstrument, das im Gegensatz zu dem, was Sie hier behauptet haben, die Impulse der europäischen Verkehrspolitik aufgreift, die besagen, dass zu einer Steuerfinanzierung der Verkehrswege als zweite Säule eine Nutzerfinanzierung treten müsse und dass die Nettoeinnahmen aus dieser LKW-Maut gerade nicht, wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf von vorgestern wieder verlangen, ausschließlich Albert Schmidt ({1}) dem Straßenbau gewidmet werden, sondern für ein integriertes Verkehrssystem verwandt werden, das alle Verkehrsträger gemäß ihren Leistungen entwickelt ({2}) und damit auch einen Beitrag zum Abbau der Staus auf den Straßen leistet. ({3}) Über jeden LKW, den wir von der Straße bringen, freut sich doch auch der PKW-Fahrer, weil er endlich eine freie zweite Spur hat, wenn die rechte Spur schon zu einer Mauer von LKWs geworden ist. ({4}) Worum geht es bei dieser Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft also in Wahrheit? Es geht erstens um die Herstellung von Transparenz. Es geht darum, deutlich zu machen, für jeden nachvollziehbar zu machen, dass die Einnahmen, die aus diesem System generiert werden, netto überwiegend zur Ertüchtigung des Verkehrsnetzes eingesetzt werden. Es geht zweitens darum, durch diese Transparenz auch Akzeptanz zu schaffen. Natürlich kommt auf viele Transportunternehmen eine erhebliche Belastung zu. Von daher haben sie auch Anspruch darauf, verlässlich zu erfahren, dass die Gelder reinvestiert werden. Akzeptanz gewinnen wir nur, wenn wir glaubhaft machen können, dass nicht jedes Jahr darum gezittert werden muss, ob der Bundesfinanzminister das Geld für diesen Zweck einsetzt, dass nicht jedes Jahr darum gekämpft werden muss, sondern dass dieses Geld gleichsam mit einem rosa Schleifchen umwunden wird, in die Schatulle der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft gelegt wird und damit dem Verkehrswegebau gewidmet ist. Wenn Sie das nicht begreifen, Herr Brunnhuber, dann weiß ich nicht, wie ich es Ihnen noch erklären soll. ({5}) - Das ist dann Ihr Problem. Mit diesem Instrument wird natürlich noch ein drittes Ziel erreicht. Das ist - ich will es gar nicht verschweigen - die Entlastung der öffentlichen Kassen. ({6}) Das ist übrigens kein deutsches, sondern ein europaweites Problem. Wir werden uns Verkehrsnetze dieser Dichte und dieser Qualität auf Dauer nur leisten können, wenn wir eine zweite Finanzierungssäule einführen. Dazu brauchen wir diese Gesellschaft. Jetzt will ich noch sagen, was diese Gesellschaft nicht darf. Da schließe ich an das an, was die Kollegin Margrit Wetzel zutreffend ausgeführt hat. Wir als Parlamentarier - ich hoffe, da sind wir alle im selben Boot oder im selben Zug oder wie immer Sie es gern hätten - wollen ja nicht, dass mit einem solchen Instrument, sei es auch in privater Rechtsform, das Parlament auf kaltem Weg entmachtet wird. ({7}) Deshalb haben wir Folgendes festgehalten: Erstens. Diese Gesellschaft hat keine Ermächtigung, selbstständig Kredite oder Anleihen aufzunehmen. Das heißt, eine Neuverschuldung oder Höherverschuldung auf diesem Umweg wird es nicht geben. Zweitens. Sämtliche Projekte, die diese Gesellschaft entwickelt und umsetzt, müssen in einem Bericht gegenüber dem Parlament jährlich dokumentiert werden und der Gesetzgeber selbst, wir hier im Parlament, entscheidet, welche Projekte mit welcher Priorität realisiert werden. Die Entscheidung darüber, was gebaut wird und was nicht gebaut wird, bleibt also bei uns und hier gehört sie auch hin. Ich fasse zusammen: Die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft ist ein innovatives Instrument zur Einführung einer zweiten Säule der Verkehrsfinanzierung. Das ist der eigentliche Paradigmenwechsel, der dahinter steckt. Diese Gesellschaft schafft Transparenz bezüglich der Mittelverwendung. Sie schafft Akzeptanz. Sie setzt das Prinzip der Verursachergerechtigkeit astrein um. Sie schafft - letzter Punkt - Flexibilität. Mit dieser Gesellschaft haben wir zum ersten Mal die Möglichkeit, Haushaltsreste ins nächste Haushaltsjahr zu übertragen und dann zu verwenden. Wir entgehen damit ein Stück weit dem kameralistischen Haushaltsprinzip. Ich verstehe, dass das nicht jedem Bundesfinanzminister gefällt, aber es ist vernünftig, weil es hilft, auf Dauer Planungssicherheit zu gewährleisten, und das wollen wir. ({8}) Ich darf Sie also bitten, Ihren verstaubten Begriff von Verkehrsfinanzierung von vorgestern ad acta zu legen, sich in den Mainstream der deutschen und europäischen Verkehrspolitik einzureihen und unserem Gesetzentwurf heute von ganzem Herzen zuzustimmen. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Günther.

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Mein sehr verehrten Damen und Herren! Beide Gesetzentwürfe, die heute debattiert werden, bleiben - Kollege Brunnhuber, das ist unabhängig von der Zahl der Buchstaben in der Überschrift - eigentlich hinter dem zurück, was sie als Ziel vorgeben und was in der Tat anstrebenswert wäre, nämlich ein echter Einstieg in die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur durch die Nutzer anstelle der bisherigen reinen Finanzierung über den Haushalt. Dieses Manko gilt für beide Entwürfe gleichermaßen. Beide Entwürfe bringen im Endeffekt Joachim Günther ({0}) nicht den Einstieg in die Nutzerfinanzierung, wobei der CDU/CSU-Entwurf weiter geht und zumindest die Kreditfähigkeit der Gesellschaften berücksichtigt. Warum wollen wir eigentlich - unter den Fachkollegen übrigens fraktionsübergreifend - diese Nutzerfinanzierung? Erstens. Verkehrswege sind in der Volkswirtschaft entscheidende Produktionsfaktoren und Investitionen in die Verkehrswege müssen kontinuierlich und ohne Abhängigkeit von Zufälligkeiten der gerade herrschenden Haushaltslage stattfinden. ({1}) Verkehrswegeinvestitionen sind etwas qualitativ anderes als konsumtive Ausgaben. ({2}) Deshalb gehören sie nicht in den Haushalt. ({3}) Zweitens. Die Nutzungskapazitäten der Verkehrswege sollten durch ein marktkonformes Anreizsystem optimiert werden. Dazu braucht man ein Gebührensystem. Drittens. Die Summe der für Investitionen zur Verfügung stehenden Mittel soll durch die Beteiligung der Nutzer, aber auch durch die Beteiligung privaten Kapitals erhöht werden. Das steht ja auch in dem Gesetzentwurf der Koalition. ({4}) Ich zitiere: Da über eine Mobilisierung privaten Kapitals bei der Verkehrswegefinanzierung breiter Konsens besteht, soll die Gesellschaft auch Aufgaben im Zusammenhang mit der Vorbereitung, Durchführung und Abwicklung von privatwirtschaftlichen Projekten übernehmen. ({5}) Das ist richtig. Das wollen auch wir. Aber wenn Sie das wollen, dann sollten Sie dieser Gesellschaft Handlungsspielräume geben. ({6}) - Nein. Der Entwurf der Koalition lässt zum Beispiel bei der Kreditaufnahme kaum Handlungsspielräume zu. Frau Wetzel, Sie sagen, es solle keinen Schattenhaushalt geben. Sie, Herr Schmidt, sagen, das Parlament werde sonst ausgeschaltet. Dazu kann ich nur sagen: Ohne eine flexible Handhabung des Kreditwesens im Zusammenhang mit privaten Investoren werden solche Projekte im Endeffekt nicht durchführbar sein. ({7}) Aus dieser Sicht ist Ihr Vorschlag kein ernsthafter Einstieg in das System der Nutzerfinanzierung. Denn er führt nicht zu einer Abkoppelung vom Bundeshaushalt. Die neue Infrastrukturfinanzierungsgesellschaft bekommt erstens nicht alle Einnahmen aus der LKW-Maut und zweitens schon gar nicht - zumindest das wäre notwendig - die verbindliche Zuweisung zukünftiger Gebühreneinnahmen. Sie bekommt nur das, was der Finanzminister ihr Jahr für Jahr zur Verfügung stellt. Er hat bei der Einnahmenverteilung das letzte Wort. ({8}) Schon jetzt ist klar, dass er diese Einnahmen auch für verkehrsfremde Zwecke verwenden wird. Wir erleben im Zusammenhang mit der LKW-Maut gerade, dass sich Herr Eichel den Einnahmeverlust aus der LKW-Vignette - das sind rund 450 Millionen Euro mit 750 Millionen Euro aus der LKW-Maut kompensieren lässt - und das für allgemeine, verkehrsfremde Zwecke. Kurz gesagt, wenn diese Gesellschaft so gestaltet wird, dann ist sie ein lahmer Gaul und eine ausgelagerte Abteilung des Verkehrsministeriums, die am Gängelband des Finanzministers hängt. Was wir brauchen, ist eine Finanzierungsgesellschaft, die von Beginn an unabhängig vom Bundeshaushalt operiert und mittelfristig zu einer Betreibergesellschaft für die Bundesfernstraßen weiterentwickelt wird. Stattdessen setzen Sie bei der Finanzierungsgesellschaft das fort, was Sie bei der Maut angefangen haben: Sie verwirren die Bürger mit inkonsequenten und in sich widersprüchlichen Konzepten. Bei der Maut, die normalerweise eine lupenreine Gebühr mit konsequenter Zweckbindung für den Verkehrswegebau sein müsste, lassen Sie den Zugriff des Finanzministers zu. Die Finanzierungsgesellschaft unterstellen Sie in wesentlichen Punkten ebenfalls den Weisungen des Finanzministers. Das hat mit einem wirkungsvollen Schritt in Richtung Nutzerfinanzierung nichts zu tun. Aber da alle so große Hoffnungen auf den morgigen Tag setzen, geben auch wir die Hoffnung nicht auf, dass ab Morgen alles besser und schneller vorangeht. Unter den heutigen Bedingungen müssen wir die beiden vorliegenden Gesetzentwürfe aber ablehnen. Danke schön. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens.

Angelika Mertens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002734

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Brunnhuber, Sie haben hier wider besseres Wissen wiederholt, was Sie gestern im Ausschuss gesagt haben: dass die EU die Maut infrage stellt. ({0}) Sie haben davon gesprochen, dass sich Brüssel dazu geäußert habe. Brüssel hat gar nichts gesagt. Die Maut wird nicht infrage gestellt. Frau Palacio hat ein Interview gegeben und das ist alles. Sie kritisieren zum Beispiel das Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaftsgesetz. Ich habe einmal nachgezählt: Es sind 53 Buchstaben. Ihr Bundesfernstraßenfinanzierungs- und Managementgesellschaftsgesetz hat übrigens 63 Buchstaben - und das nur für einen Verkehrsträger. Wir sind also sehr sparsam mit den Buchstaben umgegangen. ({1}) - ich muss dazu sagen: Ich habe den Bindestrich auch mitgezählt. Sonst wären es 62. Meine Damen und Herren, der Inhalt des Gesetzentwurfes ist ja schon vorgestellt worden. Es handelt sich nicht um irgendein Gesetz, sondern um einen wichtigen Baustein eines Konzeptes. Dieses Konzept heißt: nachhaltige Mobilität durch integrierte Verkehrspolitik. ({2}) Bekanntlich lässt sich ja nur steuern, was sich auch bewegt. Es gibt ja den Pauschalvorwurf, Verkehrspolitik sei zu statisch. Wenn ich die Straßen- und Schienenfundamentalisten und die Elfenbeinturmwissenschaftler abziehe, dann bleibt die Frage: Wie zukunftsfähig ist oder war unser bisheriges System in Bezug auf Finanzierung, den „Modal Split" und ökologische Aspekte? Verkehrsinfrastruktur wird nicht um ihrer selbst willen gebaut und unterhalten, sondern um den Mobilitätsbedarf der Wirtschaft und die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen zu befriedigen. ({3}) Dabei gibt es natürliche und politisch gewollte Grenzen. Kein Land der Welt kann Infrastruktur für die Spitzenzeiten vorhalten. Das muss man hier eindeutig sagen. Wir haben mit verschiedenen Grundsatzentscheidungen und konkreten Maßnahmen wieder Bewegung in die deutsche Verkehrspolitik gebracht; ({4}) zum Beispiel mit der Entscheidung, Straße und Schiene finanziell weitgehend gleich zu behandeln, ({5}) mit der Entscheidung, Hinterlandanbindungen für die deutschen Seehäfen im neuen Bundesverkehrswegeplan mit besonderer Bedeutung zu versehen, und vor allem mit der Einführung der LKW-Maut zum 31. August dieses Jahres. In einigen Bereichen sind wir sicherlich zum Vorreiter in Europa geworden, zum Beispiel in der konsequenten Umsetzung einer integrierten Verkehrspolitik, in vielen Bereichen holen wir nur das nach, was andere schon seit Jahrzehnten machen. Dies tun wir zum Beispiel beim Einstieg in die ergänzende Nutzerfinanzierung. Die Feststellung, dass die bisherige alleinige Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur über den allgemeinen Haushalt an ihre Grenzen stößt, ist keine deutsche Erfindung. Der vorliegende Gesetzwurf zielt darauf ab, das Gebührenaufkommen aus der LKW-Maut weitgehend der Finanzierungsgesellschaft für den Bau von Verkehrsinfrastruktur zukommen zu lassen. ({6}) Dadurch entsteht eine zweite Säule der Finanzierung. Die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft wird zunächst das ASP-Programm, das Anti-Stau-Programm, finanzieren. Darüber hinaus enthält der Gesetzentwurf auch Spielraum für die Durchführung weiterer verkehrsübergreifender Programme. Das ASP - das ist das Besondere, das wir auch sehr bewusst gemacht haben - setzt da an, wo wir das, was sich wieder bewegt, auch steuern können, nämlich da, wo es volkswirtschaftlich besonders wertvoll ist und heute volkswirtschaftlich besonders schädlich und unsinnig: beim Stau auf Straße, Schiene und Wasserstraße. Bezüglich des Staus auf der Straße gibt es folgende Faustregel: 40 Prozent werden durch erhöhtes Verkehrsaufkommen, 40 Prozent durch Unfälle und 20 Prozent durch Baustellen verursacht. Bei Staus auf der Schiene und auf der Wasserstraße sind es immer vergeudete Verlagerungspotenziale. Deshalb ist es richtig und volkswirtschaftlich sinnvoll, genau hier anzusetzen. ({7}) Die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft wird noch eine weitere Aufgabe übernehmen - Frau Wetzel hat das schon gesagt -: Sie soll ein Kompetenzzentrum für die Entwicklung und Betreuung von Betreibermodellen werden. Um mit einem anderen Verkehrsträger zu argumentieren, sage ich dazu: Es ist höchste Eisenbahn. Um uns herum wird nämlich nicht nur überlegt, welche innovativen Möglichkeiten es gibt, neue Wege aufzuzeigen, um notwendige Investitionen im öffentlichen Bereich zu finanzieren, sondern sie werden im Ausland teilweise auch schon praktiziert. Wenn ich zum Beispiel an das Eisenbahnnetz denke, das Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden ist, dann stelle ich fest: Private Investitionen in öffentliche Infrastrukturprojekte waren in der Vergangenheit durchaus Teil der unternehmerischen Initiativen. Im 20. Jahrhundert haben der Staat und seine öffentlichen Körperschaften diese Aufgabe weitgehend übernommen. Der Einsatz privaten Kapitals war nicht nur unüblich, sondern auch durch gesetzliche Regelungen blockiert. Er wird heute immer noch durch gesetzliche Regelungen blockiert. Hier besteht Nachholbedarf, wenn wir in Europa wettbewerbsfähig werden wollen. Zurzeit sind wir nicht wettbewerbsfähig. Mit der Umsetzung der A-Modelle sind wir sicherlich auf der Überholspur, aber überholt haben wir noch nicht. Ich will auch nicht missverstanden werden. Vorhin ist schon gesagt worden, dass private Investitionen in Verkehrsinfrastruktur kein Windhundrennen sind. Was wann, wo und wie gebaut wird, bestimmt der Gesetzgeber, und daran wird und darf sich auch nichts ändern. ({8}) Bei der Umsetzung unserer Betreibermodelle geht es auch darum, eine Visitenkarte für unsere Straßenbauer und für unsere Bauindustrie zu drucken, vor allen Dingen für die mittelständische Bauindustrie. Die Betriebe bauen doch phantastische Straßen und wenn es jetzt darum geht zu beweisen, dass sie diese Straßen auch betreiben und unterhalten können, haben sie unsere Unterstützung nötig. Deshalb soll die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft auch ein Kompetenzzentrum werden. Ich möchte gern, dass unsere guten Straßenbauer auch außerhalb dieses Landes, irgendwo in Europa oder international, Straßen bauen. Ich denke, wir haben auf diesem Gebiet einiges vorzuweisen, und mit den A-Modellen werden wir den Beweis antreten, dass wir es können und damit auch wettbewerbsfähig sein werden. Meine Damen und Herren, auf der VMK im April letzten Jahres - das ist schon angesprochen worden wurde der einstimmige Beschluss gefasst, die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft rechtzeitig zu errichten, damit sie bei Einführung der LKWMaut arbeitsfähig ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich diesem Votum anschließen könnten. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Blank. ({0})

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Staatssekretärin, der Fachmann aus Ihrem Ministerium hat gestern im Verkehrsausschuss zu LKW-Maut und Brüssel etwas ganz anderes gesagt, als Sie hier ausführen. ({0}) Im Übrigen darf ich Sie, Frau Staatssekretärin, vielleicht daran erinnern: Wir haben mit Verkehrsminister Wissmann im Jahr 1993 die LKW-Gebühr eingeführt. ({1}) Mit Ihrem Gesetz vollziehen Sie nur den Umstieg von einer zeitbezogenen auf eine streckenbezogene Gebühr. Aber nicht einmal das bekommen Sie ordentlich hin. ({2}) Meine Damen und Herren, das ist die Methode RotGrün: Alle, die nicht Ihrer Meinung sind, erklären Sie, Frau Staatssekretärin und Herr Kollege Schmidt, für dumm. ({3}) Sie fahren das Land in den Ruin und beauftragen später diejenigen, die man zuvor für dumm erklärt hat, das Land wieder in Ordnung zu bringen. Das ist die Methode Rot-Grün! ({4}) Meine Damen und Herren, es sollte doch mittlerweile allen klar und allgemeines Gedankengut sein, dass für die Gestaltung der Zukunft Deutschlands der Erhalt und die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur von großer Bedeutung sind. 1 Milliarde Euro Investitionen bedeuten 20 000 Arbeitsplätze. Wir haben auch festgestellt und es ist gemeinsames Gedankengut, dass die bisherige Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur an die Grenzen des allgemeinen Haushalts stößt und wir eine Lösung finden müssen. Deshalb wurde die so genannte Pällmann-Kommission ins Leben gerufen, ({5}) die den Auftrag hatte, Vorschläge zu unterbreiten, wie künftig die Finanzierung, der Betrieb und der Unterhalt von Verkehrsinfrastruktur gehandhabt werden sollen, also Vorschläge für den Wechsel von der bisher praktizierten Haushaltsfinanzierung in eine Nutzerfinanzierung und natürlich auch für die Gewinnung von privatem Kapital. Aus unserer Sicht gehen die Vorschläge der Pällmann-Kommission in die richtige Richtung und grundsätzlich sehen wir die Gründung von Verkehrsinfrastrukturgesellschaften als sinnvoll an. Der vorliegende Gesetzentwurf der Regierungskoalition ist jedoch deutlich der falsche Ansatz, ({6}) denn keines der gesteckten Ziele wird erreicht und keine der Vorstellungen der Pällmann-Kommission wird verwirklicht. Sie errichten eine Gesellschaft mit Geschäftsführer und verursachen damit Overhead-Kosten, früher hat man das Wasserkopf genannt. Es entstehen Kosten, aber die Gesellschaft hat kein originäres Einnahmerecht. Das Geld kommt aus dem Bundeshaushalt. Die Gesellschaft macht also nur das, was eine Abteilung im Ministerium locker hätte machen können. Mit der Gesellschaft wird ein Schattenhaushalt geschaffen und kein privates Geld gewonnen. ({7}) Diese Form der Gesellschaft hätten Sie sich sparen können. Es wäre auf jeden Fall besser gewesen, wenn der Verkehrsminister mehr Geld für den Straßenbau in den Bundeshaushalt eingestellt hätte. Das Gegenteil war aber der Fall. Sie haben in den Jahren 1999 und 2000 Kürzungen vorgenommen, die Sie im Jahr 2001 nur aufgrund der UMTS-Lizenzerlöse zum Teil zurücknehmen konnten. Ich nenne das Stichwort Zukunftsinvestitionsprogramm. Ihre ganzen Programme haben aber nichts gebracht. Die Maßnahmen aus dem Investitionsprogramm, das bis Ende 2002 angesetzt war, sind noch nicht abgearbeitet. ({8}) Im Gegenteil: Die Dauer für die Verwirklichung aller Maßnahmen, die in dem Programm enthalten sind, reicht wahrscheinlich weit über das Jahr 2010 hinaus. Die Verwirklichung des Anti-Stau-Programms, das im Jahr 2000 mit großem Getöse verkündet wurde, sollte ab Januar 2003 mit den Einnahmen aus der LKW-Maut begonnen werden. Jetzt soll es die LKW-Maut erst ab September geben. ({9}) Technisch ist das sicherlich machbar. Aber Sie haben die Rechnung ohne den Wirt, das heißt, die zuständige EUKommission, gemacht. Die wird noch großen Ärger in Bezug auf die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen für das Transportgewerbe und die Verwendung der Einnahmen aus der LKW-Maut bereiten. ({10}) Dies könnte die Einführung der LKW-Maut verzögern bzw. zum Scheitern der Maut führen. ({11}) Ich frage mich: Hat die Bundesregierung eigentlich keine Gespräche geführt? War sie so blauäugig, davon auszugehen, dass alles, was von ihr vorgeschlagen wird, von der EU-Kommission abgenickt wird? Große und grobe Fehler sind gemacht worden. ({12}) Auch bei der Gestaltung des Gesetzes wurden Fehler gemacht. In der Anhörung zum Entwurf der Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode hat sich die überwiegende Mehrheit der Sachverständigen gegen die Vorschläge im Gesetz ausgesprochen. Ihr Gesetz ist unzureichend und mangelhaft, wie eigentlich alles, was von dieser Regierungskoalition und dieser Bundesregierung kommt. ({13}) Sie wollen und wollten nicht auf Sachverständige hören. Auch unsere guten Vorschläge - siehe unseren Gesetzentwurf - stoßen auf taube Ohren. Sie sind nach wie vor beratungsresistent. ({14}) Ich möchte auf einen für das Parlament wichtigen Kritikpunkt hinweisen. Durch die Festlegung privat zu finanzierender Projekte durch eine separat von der Bundesregierung zu erlassende Rechtsverordnung, die nur ein Einvernehmen mit den betroffenen Landesregierungen erfordert, wird eine Beteiligung des Parlaments umgangen. Gutes Beispiel ist die gestrige Diskussion um die Mautverordnung. Die Beteiligung des Parlaments ist dabei gleich null. Das kann Ihr Demokratieverständnis sein, unseres ist es nicht. ({15}) Bei dieser Problematik haben wir sogar die Verbände, den Bund Naturschutz und den Verkehrsclub Deutschland, auf unserer Seite. Das können Sie im Wortprotokoll der Anhörung nachlesen. Dabei stehen diese Verbände ansonsten weniger auf unserer Seite; sie tendieren eher in Ihre Richtung. Diese Verbände sagten übereinstimmend, dass dem Deutschen Bundestag die Entscheidungshoheit und die Kontrolle darüber entzogen wird, wie die Verkehrsinfrastruktur weiterentwickelt werden soll. In einem ersten Schritt sollen der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft die Einnahmen aus der streckenbezogenen Autobahnbenutzungsgebühr für schwere LKW zufließen. Was steckt dahinter? Mit Ihrem Gesetz wollen Sie durch die Belastung der Straße den gesamten Verkehrsbereich alimentieren. Wir treten dafür ein, dass die für die Nutzung der Bundesfernstraßen erhobenen Abgaben in den Unterhalt der Bundesfernstraßen zurückfließen. ({16}) - Herr Kollege Weis, Unsinn ist das nun wirklich nicht; denn in Ihrem Vorschlag fließen die Abgaben nicht in die Straße zurück, sondern gehen an alle Verkehrsträger. Nach Abzug der Betreiber- und Harmonisierungskosten muss das Geld aus der Straße in die Straße reinvestiert werden. ({17}) Nur so macht die LKW-Maut, die eine Gebühr und keine Steuer ist, Sinn. Die Gebühr kann so vollständig zweckgebunden für den Straßenbau verwendet werden. Dies könnte - wenn man nur wollte - im Gesetz verankert werden. ({18}) Was geschieht stattdessen? Es wird keinen müden Euro mehr für den Straßenbau geben; denn der Straßenbauhaushalt wird reduziert und ein Großteil der LKWMaut fließt in den allgemeinen Haushalt des Finanzministers. Das ist aus unserer Sicht ein Skandal. ({19}) Nun möchte ich den Kollegen Schmidt, den ich leider nicht mehr sehe, ({20}) an seine Aussagen in der Debatte vom 17. Mai 2002 erinnern. Er führte damals aus, dass die transportierende Wirtschaft durch die Einführung der LKW-Maut erhebliche zusätzliche Kosten zu erwarten habe. Richtig! Die Akzeptanz der Maut hänge davon ab, dass garantiert werden kann, dass die Nettoeinnahmen wieder in das Verkehrsnetz reinvestiert werden. Es war von Ihnen damals nicht gesagt worden, dass sich der Finanzminister 800 Millionen Euro pro Jahr aus der LKW-Maut holen will. ({21}) Um das sicherzustellen, transparent und umsetzbar zu machen - das haben Sie damals ausgeführt -, brauche man die Gesellschaft. So weit Herr Kollege Schmidt. In diesem Zusammenhang sprachen Sie auch von einer Zweckbindung. Ihren Aussagen von damals kann man nur zustimmen. Tatsache ist jedoch, dass der Finanzminister kassiert und kein Cent mehr - in diesem Jahr wahrscheinlich weniger und in den nächsten Jahren trotz der LKW-Maut auch nicht viel - in den Straßenbau fließen wird. Tja, Herr Kollege Schmidt, Sie haben damals ein wenig vollmundig getönt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit. ({0})

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Fest steht, dass wir mehr Geld für den Straßenbau benötigen. Es wäre eine Aufgabe des Verkehrsministers, sich bei seinem Kollegen Eichel durchzusetzen, damit dieser mehr Geld für die wichtigen Investitionen locker macht ({0}) und nicht die Haushaltsansätze aufgrund der LKWMaut-Einnahmen reduziert. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Errichtung einer Ver- kehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft - 53 Buch- staben - zur Finanzierung von Bundesverkehrswegen. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Wohnungswesen empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/416, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zwei- ter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenom- men worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetz- entwurf ist damit auch in dritter Lesung mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen worden. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Errichtung einer Bundesfernstraßenfinan- zierungs- und Managementgesellschaft: Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Wohnungswesen empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/416, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetz- entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stim- men der CDU/CSU abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Ladenöffnung an Samstagen - Drucksachen 15/396, 15/521 ({0}) -Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Ladenschlussgesetzes - Drucksache 15/106 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({2}) - Drucksache 15/591 - Berichterstattung: Abg. Wolfgang Grotthaus b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Wolfgang Börnsen ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ladenschlussgesetz modernisieren - Drucksachen 15/193, 15/591 Berichterstattung: Abg. Wolfgang Grotthaus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Wolfgang Grotthaus, SPD.

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieses Thema haben wir in den zurückliegenden Wochen und Monaten schon zweimal hier im Plenum behandelt. Wir haben es auch ausgiebig in den zuständigen Ausschüssen diskutiert. Eigentlich könnte man meinen, dass genug darüber geredet worden ist, dass die Situation geklärt ist und dass man abstimmen sollte. Ich glaube, dass man trotzdem noch einmal klarstellen sollte, worum es eigentlich geht. Uns liegt heute ein Antrag der FDP zur Beratung vor. Dieser Antrag beinhaltet, dass die Ladenschlusszeiten gänzlich aufgehoben werden sollen, dass also die Geschäftsinhaber ihre Geschäfte an den Werktagen rund um die Uhr - von 0 bis 24 Uhr - öffnen können und dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wenn die Geschäftsinhaber dies als notwendig erachten, in dieser Zeit zur Verfügung zu stehen haben. In dem uns vorliegenden Antrag der CDU/CSU-Fraktion wird die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der letztendlich genau das Gleiche wie der FDP-Antrag beinhalten soll, nämlich eine komplette Freigabe der Ladenöffnungszeiten an den Werktagen. Nicht unerwähnt will ich eine Bundesratsinitiative lassen, in der ebenfalls die vollständige Freigabe der Ladenöffnungszeiten gefordert wird; hinzu kommt eine Ergänzung, wonach die Länder in ihrer Hoheit darüber bestimmen dürfen, wie sie die Ladenöffnungszeiten festsetzen. Ich will am Anfang sofort deutlich machen: Diesem Entwurf werden wir, wenn er hier im Plenum behandelt wird, in keiner Weise zustimmen, weil wir befürchten, dass es in Bezug auf die Ladenöffnungszeiten zu einem Flickenteppich in der Republik kommen wird. Dies könnte dazu führen, dass zum Beispiel in Mainz andere Ladenöffnungszeiten als in Wiesbaden gelten, womit sich Käuferströme über Ländergrenzen hinweg entwickeln, die aus unserer Sicht nicht gewollt sind. ({0}) Ihnen liegt der Gesetzentwurf der Bundesregierung vor. Dieser Gesetzentwurf beinhaltet als wesentlichen Teil die Verlängerung der Ladenöffnungszeit an Samstagen von 16 auf 20 Uhr, also eine Erweiterung der Ladenöffnungszeit um wöchentlich vier Stunden. Wie ist es zu dieser Initiative gekommen? Es lassen sich gesellschaftliche Veränderungen beim Käuferverhalten sowie Arbeitsplatzverluste und Konzentrationen im Einzelhandel feststellen. Hierzu ist anzumerken, dass sich durch eine Veränderung der Ladenöffnungszeiten die Konzentrationsbewegungen nicht verändern werden - es wird zu weiteren Konzentrationen kommen -, dass dadurch Arbeitsplätze nicht neu entstehen werden - dies hat uns der Einzelhandelsverband bestätigt -, sondern dass es im Wesentlichen darum geht, den negativen Trend zu bremsen oder gänzlich zu stoppen. Ich will daran erinnern, dass der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Rexrodt unter der Kohl-Regierung zum damaligen Zeitpunkt argumentiert hat, man müsse die Ladenöffnungszeiten gänzlich freigeben, weil damit 133 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Tatsächlich sind in dieser Zeit 50 000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Es gibt also eine Facette vieler Ansatzpunkte im Einzelhandel, die man berücksichtigen muss. Daher sage ich hier in aller Deutlichkeit: Dies ist nur eine Facette. Wir werden nachfolgend weitere Facetten aufgreifen und entsprechende Gesetzentwürfe in den Bundestag einbringen, um darüber zu diskutieren. Am Montag haben wir zu dieser Thematik eine Expertenanhörung gehabt. Dabei hat sich ganz klar herausgestellt, dass die Mehrheit der Experten den Gesetzentwurf der Bundesregierung als optimale Zusammenführung der im Bereich des Einzelhandels vorhandenen Interessen ansieht. Dies bedeutet für uns, dass der Entwurf der Bundesregierung heute eigentlich die einhellige Zustimmung bekommen sollte. Wir gehen aber davon aus, dass die Opposition diesem Vorschlag, wie er in der Anhörung vorgestellt wurde, nicht zustimmen wird. Aber auch wir haben schon angekündigt, dass wir den Gesetzentwurf der FDP und den Antrag der CDU/CSU ablehnen werden, weil beide nicht dazu führen, die Interessen des Einzelhandels, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Verbraucher auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Wie haben sich die Experten geäußert? Ich will deutlich machen, dass insbesondere die christlichen Arbeitnehmervertreterorganisationen, die katholische Arbeiterbewegung und die evangelische Arbeiterbewegung, einen zumindest für mich neuen Begriff in die Diskussion eingebracht haben, nämlich den Sozialfaktor Zeit. Der Sozialfaktor Zeit spielte in der Diskussion eine herausragende Rolle. Es wurde den anwesenden Abgeordneten klar gemacht, dass am Wochenende, also auch am Samstag, das ehrenamtliche Engagement und die Familie eine entscheidende Rolle spielen. Daher sei es wichtig, gerade den Samstag in die Familienplanung und die soziale Planung einzubeziehen. Deswegen ist deutlich gemacht worden, dass gerade diese beiden Organisationen eine 24-stündige Öffnungszeit ablehnen würden. Daher glauben wir, dass unser Antrag, dem gestern im Ausschuss mehrheitlich zugestimmt worden ist und der sich daran nicht orientiert hat, aber durch diese Anhörung eine Zustimmung bekommen hat, den Bedenken der Vertreter der christlichen Arbeitnehmerverbände, aber auch den Arbeitgeberintentionen und - was uns sehr, sehr wichtig ist - den Interessen der Arbeitnehmer im Einzelhandel Rechnung trägt. Wie haben wir unseren Antrag formuliert? Wir haben gesagt, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Verkaufsstellen verlangen können, in jedem Kalendermonat an einem Samstag von der Beschäftigung freigestellt zu werden. Wir haben nicht explizit festgeschrieben, dass man freistellen muss. Wir wissen, dass es in den Betrieben und Geschäften Beschäftigte gibt - im Wesentlichen sind es Frauen -, die nur am Wochenende arbeiten wollen. Dann, wenn sie frei haben wollen, melden sie das vorher an. Der Arbeitgeber kann flexibel darauf reagieren. Wir wollten diese Flexibilität in diesem Gesetzentwurf und ebenso in unserem ergänzenden Antrag festhalten. Wir haben mit Freude festgestellt, dass die große Oppositionspartei diesem Antrag zugestimmt hat. Ich mache darauf aufmerksam, dass dies für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Einzelhandel eine Verbesserung ist. Sie haben auf Verlangen frei zu bekommen. Ich mache deutlich, dass dies auch für die Geschäfte in Bahnhöfen und für Tankstellen gilt, sodass wir für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesen Bereichen ebenfalls eine Verbesserung erreicht haben. Dies ist letztendlich eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung, an die sich die Tarifvertragsparteien halten müssen. Dies bedeutet: Die Flexibilität für die Arbeitnehmer ist vorhanden und die Flexibilität für die Arbeitgeber ist vorhanden. Von daher haben wir Ihnen mit unserem Antrag eine entsprechende Verbesserung des Antrags der Bundesregierung vorgeschlagen. Das Fazit, das man aus der Diskussion und aus unserem Antrag ziehen kann, lautet: Es gibt gesellschaftliche Veränderungen in dieser Republik. Diese Veränderungen wollen und müssen wir gemeinsam mitgestalten. Es gibt widerstreitende Interessen, die zu beachten sind. Wir glauben, dass wir mit der - je nachdem, aus welcher Sicht man das sieht; ich sage: minimalen - Verlängerung der Ladenöffnungszeiten den Verbraucherinnen und Verbrauchern in dieser Republik entgegenkommen. Ich gehe davon aus, dass wir den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern mit der flexibleren Handhabung entgegenkommen und dass wir den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Form entgegenkommen, dass wir ein Recht auf ein freies Wochenende in das Gesetz mit einbringen. Ich habe vor einigen Minuten gesagt, dass dies eine Facette ist, um den Einzelhandel zu stärken. Meine Fraktion sieht die Notwendigkeit für weitere Diskussionen in nächster Zeit. Aus unserer Sicht haben wir darüber zu diskutieren, wie wir den Einzelhandel in den Innenstädten stabilisieren können und wie wir die Revitalisierung der Innenstädte zustande bringen. Wir haben einen übergreifenden Branchendialog zu führen. Dabei wollen wir auf diesem Weg, den wir jetzt gegangen sind, weiter gehen. Wir wollen diese Gespräche mit den Einzelhandelsverbänden, mit den Gewerkschaften, mit den Kommunen, mit den Landesgesetzgebern, also mit allen, die den Einzelhandel mit stabilisieren können, führen. Wir gehen davon aus, dass wir weitere Initiativen entwickeln werden. Ich sage abschließend: Den Antrag der CDU/CSU werden wir ablehnen. ({1}) Den Antrag der FDP werden wir ebenfalls ablehnen. ({2}) Wir sagen der Bundesregierung einen herzlichen Dank dafür, dass sie im Sinne der von mir Genannten aktiv geworden ist. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hartmut Schauerte. ({0})

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- Aufpassen! Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2002 waren im deutschen Einzelhandel durchschnittlich 2,5 Millionen Personen beschäftigt. Das sind 133 000 Personen weniger bzw. 13 Prozent weniger Vollzeitarbeitsplätze als zum Zeitpunkt der letzten Änderung des Gesetzes 1996. Die Umsätze sind seit 1996 rückläufig. Auch die Unternehmenszahlen sind rückläufig; die Verkaufsstellen sind deutlich reduziert worden. Das alles hat unter dem geltenden Ladenschlussgesetz stattgefunden. Der deutsche Einzelhandel befindet sich zurzeit in einer der schwierigsten Situationen, die er jemals durchlaufen hat. Die Erträge sind schlecht und auch im internationalen Wettbewerb nimmt er eine schlechte Position ein. Dass all das unter dem geltenden Ladenschlussgesetz stattgefunden hat, muss zwar nicht heißen, dass es auch darauf zurückzuführen ist, aber geholfen hat das Gesetz jedenfalls nicht. ({0}) Im Prinzip hatte es keine Wirkung. Hängt das, was ich eben beschrieben habe, mit den Schutzwirkungen des Gesetzes oder mit den in ihm enthaltenen Begrenzungen zusammen? Diese Frage werden wir nicht eindeutig beantworten können. Sehr wahrscheinlich würden wir lediglich in einen punktuellen und interessengesteuerten Streit geraten. Jedenfalls hat der deutsche Einzelhandel keinen Grund, mit der gegenwärtigen Situation und insbesondere der geltenden Rechtslage zufrieden zu sein. Insoweit ist es vernünftig, über notwendige Maßnahmen nachzudenken. Unserer Meinung nach sollte eine Regelung, bei der wir nicht mehr nachweisen können, ob sie nützlich ist, eher entfallen als fortbestehen. ({1}) Das ist der Ansatz, den wir in Fällen der Entbürokratisierung und der Deregulierung wählen. Entscheidend müsste die Frage sein, ob die Regelung hilfreich ist und, wenn ja, in welcher Form und an welcher Stelle. Dieser Beweis ist aber nicht zu führen. Man könnte genauso gut das Gegenteil behaupten. Deshalb halten wir eine Reform für notwendig. Wir haben bei der letzten Reform des Ladenschlussgesetzes einer Verlängerung der Ladenöffnungszeiten an Werktagen bis 20 Uhr zugestimmt. Diese Regelung war damals heiß umkämpft. Inzwischen hat die Wirklichkeit gezeigt: Die deutschen Läden schließen in der Regel zwischen 18 und 19 Uhr, obwohl sie bis 20 Uhr geöffnet bleiben könnten. Das heißt, wir haben eine zeitliche Grenze festgesetzt, die in Wirklichkeit keine Rolle spielt und nicht ausgeschöpft wird. Die Läden schließen in der Regel früher. Es gibt wenige Fälle, in denen jenseits dieser Grenze möglicherweise noch Spielraum für Geschäfte besteht. Selbst wenn wir die Grenze abschaffen, wird es nur wenige Einzelfälle geben, in denen in diesem Bereich noch Geschäfte generiert werden können, weil eine konkrete Nachfrage besteht. Warum soll das untersagt werden? ({2}) Warum muss das Vorhaben gestoppt werden? Warum muss man an dieser Stelle so ängstlich sein? Wir haben es schließlich mit mündigen Bürgern zu tun. Aus der Abschaffung der Ladenöffnungszeiten ergibt sich kein Gebot, die Läden rund um die Uhr zu öffnen. Vielmehr werden die Nachfrage sowie die geschäftlichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten bestimmen, wann die Läden geöffnet sind. Das wird sich auf eine vernünftige Weise regulieren. ({3}) „Markt intern“ hat sich in einem bitterbösen Informationsbrief gegen diese weitere Liberalisierung ausgesprochen. Um deutlich zu machen, wie unlogisch häufig argumentiert wird, möchte ich einen Punkt daraus anführen: Dass der alte Gesetzeszopf weg müsse, sei eine Lüge; er müsse eigentlich beibehalten werden. Von den Gegnern werde das Ladenschlussgesetz als Anachronismus dargestellt. Das Gesetz sei erst 1956 in Kraft getreten. Es sei mittlerweile elfmal überarbeitet und insofern immer wieder modernisiert worden. Vergleiche mit dem Ausland seien ohnehin nicht möglich. Beim Vergleich mit dem Ausland wird übersehen, dass die gesetzestheoretische Freiheit in der Praxis im Ausland keine längeren Öffnungszeiten bedeutet. ({4}) Außerhalb der Tourismuszentren schließen die Geschäfte dort häufig früher oder haben aufgrund anderer Lebensrhythmen ausgedehnte Mittagspausen. Was hindert uns daran, eine ähnliche Feststellung für Deutschland zu treffen? Auch bei uns haben sich die Lebensgewohnheiten etwas geändert; sie weisen eine größere Unterschiedlichkeit auf. Warum können wir diese Freiheit nicht zulassen? Ich kann nicht feststellen, dass die Arbeitnehmer in den ausländischen Einzelhandelsgeschäften brutal ausgebeutet oder schlechter behandelt werden als die Arbeitnehmer in Deutschland und dass die Umsatzergebnisse des Einzelhandels in den Ländern, in denen die Ladenschlusszeiten freigegeben sind, schlechter sind als die des Einzelhandels in Deutschland. Warum müssen wir dann an der bisherigen engen Regelung festhalten? Die Position der CDU/CSU ist deswegen ganz klar: Wir wollen die Ladenschlusszeiten grundsätzlich freigeben, das heißt, wir wollen keine 20-Uhr-Grenze, auch nicht am Samstag; denn wir sind uns sicher, dass sich die Menschen vernünftig verhalten und selber Grenzen finden werden, die ihrem jeweiligen Lebensgefühl entsprechen. ({5}) Wir wollen aber - das halten wir für richtig und wichtig - den Sonntag weiterhin schützen, und zwar zumindest in so starkem Maße wie bisher. Deswegen möchten wir, liebe Kollegen von der FDP, den Ländern auch nicht die Möglichkeit geben, eventuell Ausnahmeregelungen zu beschließen; denn daraus könnten sich neue Risiken für den Sonntagsschutz ergeben. Lassen Sie mich dazu ein paar Bemerkungen machen. Zurzeit ist der Sonntagsschutz bundesgesetzlich geregelt. Er ist eine Konsequenz aus den Vorgaben unserer heutigen Verfassung, die festlegt - das ist aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen worden -, dass der Sonntag gesetzlich zu schützen ist. Wenn man den Sonntagsschutz per Bundesgesetz beseitigen will, dann muss man zunächst einmal bedenken, dass der Sonntagsschutz in einigen Bundesländern völlig unzureichend und gänzlich anders geregelt ist. Ich möchte Ihnen ein praktisches Beispiel nennen - ich möchte noch nicht einmal von solch gottlosen Regierungen wie der in Berlin reden, wo die Regierung mit dem Schutz des Sonntags macht, was sie will; das wollen wir nicht zulassen -: Einige Stadtstaaten würden, wenn sie die Möglichkeit hätten, die Regelung zum Sonntagsschutz weit öffnen. Ich kann mir gut vorstellen, welches Theater es zum Beispiel im Speckgürtel gäbe, wenn es zu einer solchen Öffnung käme. Es wird dann sicherlich heißen: Wir müssen das Gleiche tun, weil sonst Kaufkraft abgezogen wird. Ich bin mir sicher, dass man dann überhaupt keine Grenzen mehr finden wird. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin sehr wohl für den Föderalismus. Aber bei Gütern, die über jeden Zweifel erhaben sind und die ich deswegen deutschlandweit geschützt sehen will - dazu gehört für uns der Sonntag -, ({6}) möchte ich auf die Möglichkeit der freien Gestaltung für die einzelnen Länder verzichten. Ich sage deshalb: Nein, der Sonntag muss weiterhin bundesgesetzlich geschützt werden. Wir halten an unserer Linie fest, weil sie vernünftig ist. Ich möchte - das ist schon angesprochen worden noch auf einen weiteren Gesichtspunkt eingehen, nämlich das Cityprivileg, dessen Einführung ständig gefordert wird. Wir lehnen dieses Privileg ab, weil wir neue Grenzen für Quatsch halten. Ich sage Ihnen voraus, dass Sie, wenn Sie Ihre 20-Uhr-Regelung und die Einführung des Cityprivilegs an einigen interessierten Standorten - der Wunsch danach wächst ja ständig - tatsächlich realisieren, über kurz oder lang eine neue Ladenschlussdebatte führen müssen. Man hat das Cityprivileg aus der Mottenkiste wieder herausgeholt und argumentiert, dass man wieder etwas für die Geschäfte in den Innenstädten tun müsse und dass man deswegen die Geschäfte auf der grünen Wiese schlechter stellen müsse. Wenn dieses Privileg eingeführt wird, dann werden neue künstliche Grenzen entstehen. Sie werden damit also nichts weiter als Unsicherheit und neues Theater erreichen. Deswegen ist unser Ansatz richtig, die Ladenschlusszeiten gänzlich freizugeben, wobei der Sonntag mit aller Konsequenz geschützt bleibt. In der Diskussion über das Cityprivileg gibt es außerdem ein interessantes „logisches“ Argument. Die Einführung dieses Privilegs wird ja gewünscht, weil man hofft, durch längere Ladenöffnungszeiten bessere Geschäfte zu machen. Deswegen befürworten die Geschäfte in den Innenstädte das Cityprivileg. Warum sollen das aber nur die Großstädte dürfen? Warum sollen, wenn sie wollen, nicht auch der ländliche Raum und die kleinen Städte selbstständig über ihre Ladenöffnungszeiten entscheiden dürfen? ({7}) - Nein, das, was Sie vertreten, ist im Grunde ein Großstadtprivileg. Deshalb ist auch die BAG dafür. Hier geht es ja nicht um einen Kaufhof im ländlichen Raum, sondern um Einzelhandelsunternehmen auf der Düsseldorfer Kö. Darauf läuft es letztendlich hinaus. Dazu sagen wir Nein; denn wir halten eine weitere Verschiebung der Kaufkraftströme vom Land in die Ballungsräume für unvernünftig. Wir müssen vielmehr die Versorgung im ländlichen Raum auf hohem Niveau erhalten. Deswegen ist das Cityprivileg falsch. Ich sage Ihnen voraus: Sie werden aufgrund Ihrer Regelung betreffend das Cityprivileg eine neue Ladenschlussdiskussion führen müssen. Wir stehen hier am Vorabend einer Jahrhundertrede des Bundeskanzlers ({8}) und diskutieren über den Ladenschluss. Jetzt sehen wir uns einmal an, was bei der SPD bezogen auf den Ladenschluss los ist. Ich habe gedacht, es geht um eine Verlängerung der Öffnungszeiten an Samstagen um vier Stunden. Bei uns geht es ja um mehr. Für Sie waren die vier Stunden unheimlich viel. Sie haben eine Sondersitzung der Fraktion machen müssen, ({9}) um die Abweichler, die diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen wollten, zur Räson zu bringen. ({10}) Das muss man sich einmal vorstellen. Angesichts dieser Jahrhundertreform haben Sie heute Morgen eine Sondersitzung der Fraktion gemacht. In dieser Sondersitzung der Fraktion ({11}) haben 25 Leute gegen den Regierungsentwurf gestimmt und sie behaupten, das auch durchhalten zu wollen. ({12}) Wir müssten Ihnen eigentlich den Gefallen tun, eine namentliche Abstimmung über den Gesetzentwurf zu fordern. ({13}) Die wäre interessant. ({14}) Wissen Sie, warum die interessant wäre? Herr Wend, stellen Sie sich doch einmal vor: Am Vorabend der Jahrhundertrede bekommt der Kanzler bei der Kleinsten der vorgesehenen Reformen nicht einmal die eigene Mehrheit zustande. ({15}) Das muss man sich einmal vorstellen. Wie soll das denn beim Kündigungsschutz, bei der Arbeitsmarkt- oder der Gesundheitsreform gehen? Wie viele Sondersitzungen wollen Sie denn noch machen? Wie oft sollen wir Sie denn mit namentlichen Abstimmungen verschonen, damit Sie nicht unangenehm auffallen? ({16}) Das ist doch wirklich mehr als peinlich. ({17}) Wo ist Ihre Fraktionsführung, wo ist Ihre Geschlossenheit? Es wäre hochinteressant festzustellen, wie Sie nachher tatsächlich abstimmen. Es juckt mich immer noch, den Antrag auf namentliche Abstimmung zu stellen. Das wäre hochinteressant für Sie. Sie würden sich wundern. ({18}) Das ist schon ein hochnotpeinlicher Vorgang, wie der Löwe SPD am Beginn eines Reformprozesses von historischem Ausmaß dasteht. Er hat keine Mehrheit bei dem Vorhaben, den Ladenschluss am Samstag um vier Stunden zu verlängern. Peinlich, peinlich, peinlich! Danke schön. ({19})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Hubert Ulrich, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Hubert Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003649, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema Ladenschluss beschäftigt uns heute zum dritten Mal innerhalb der letzten Monate und heute auch abschließend. ({0}) - Auch gerne Ladenöffnung. ({1}) Wir machen heute einen weiteren, auch in meinen Augen kleinen Schritt zur Erweiterung der Ladenöffnungszeiten am Samstag von 16 auf 20 Uhr. ({2}) - Zwischenrufe können Sie sich sparen, Sie kennen meine Position. ({3}) Wir müssen als Regierungskoalition auf die veränderten Lebens- und Arbeitsgewohnheiten der Menschen reagieren. Insbesondere durch die Reform aus dem Jahre 1996 hat sich gezeigt, dass der Samstag von den Konsumentinnen und Konsumenten bedeutend stärker angenommen wird, als das zunächst erwartet wurde. Die logische Konsequenz daraus ist natürlich eine Verlängerung der Öffnungszeit am Samstag auf zunächst 20 Uhr. Ich will ein Thema ansprechen, das auch Herr Schauerte zur Sprache gebracht hat. Ich bin dabei der festen Überzeugung, dass wir die Problematik der Ladenöffnungszeiten tiefer diskutieren müssen. Wir müssen einfach einmal sehen, was in unserem Land durch das Ausräumen der Innenstädte aufgrund des Ausweichens auf die grüne Wiese geschieht. Die Zahlen sind hier in den Debatten bereits genannt worden. Die großen Discounter auf der grünen Wiese haben nun einmal gegenüber den Händlern in unseren Innenstädten ganz bedeutende Wettbewerbsvorteile. Herr Schauerte, daran können Sie nicht vorbeireden. Der Wettbewerb ist völlig verzerrt. Politik muss sich einfach ernsthafte Gedanken darüber machen, was daran verändert werden kann. Ich kann noch einen Schritt weiter gehen. Die Perversion sind die Factory Outlet Center. Diese bedeuten einen Generalangriff auf die deutschen Innenstädte. So ist es nun einmal. Darauf muss es Reaktionen seitens der Politik geben. Dort ist die Wettbewerbsverzerrung perfekt. Was kann noch getan werden, um auf diesem Gebiet einen gewissen Ausgleich zu schaffen? Was im Raum steht, ist einfach nur eine zeitliche Differenzierung der Ladenöffnungszeiten, um den Innenstädten einen gewissen Vorteil zu verschaffen, was auch erreicht würde. ({4}) - Sie geben mir gerade das Stichwort „verfassungsrechtlich“. Zunächst möchte ich etwas über den Vergleich mit dem Ausland sagen. Schauen Sie in die Vereinigten Staaten von Amerika! Dort sind die Innenstädte aufgrund solcher Center verödet. Bleiben wir in Europa und schauen wir einmal nach Schweden! In Schweden dominieren drei große Einzelhandelsunternehmen den ganzen Lebensmittelmarkt. Diese drei Unternehmen machen 90 Prozent des gesamten Umsatzes. Wie sieht es in Schweden mit den Preisen aus? Zunächst sanken die Einzelhandels- und Lebensmittelspreise ein gutes Stück. Dann bildete sich ein Oligopol. Heute ist das Lebensmittelpreisniveau in Schweden das höchste in ganz Europa. Das ist eine Folge der dortigen Verhältnisse. Herr Schauerte, Sie argumentieren juristisch und sagen, ein solches Cityprivileg lasse sich juristisch nicht halten. Professor Isensee hat genau das in einem Gutachten bestritten und ist zum gegenteiligen Ergebnis gekommen. In einer Expertise des Bundesjustizministeriums aus dem Jahre 2000 heißt es klipp und klar: Wesentlich ist, den Gleichheitsgrundsatz des deutschen Grundgesetzes zu wahren. Dies geschieht durch die Bewahrung der Gemeinwohlbelange und durch die Förderung von Innenstädten. Die zur Erreichung dieses Ziels eingesetzten Mittel müssen verhältnismäßig sein und eine Differenzierung der Ladenschlusszeiten ist ein solches verhältnismäßiges Mittel. ({5}) Sie argumentieren - das haben Sie auch veröffentlicht mit der Abgrenzungsproblematik. Dank des Investitionszulagengesetzes gibt es in diesem Bereich sehr einfache und sehr brauchbare Möglichkeiten. Die bestehenden Regelungen, die in Deutschland seit Jahrzehnten angewandt werden - Stichworte sind das Baugesetzbuch und die Baunutzungsverordnung -, machen eine glasklare Unterscheidung zwischen Innenstadtlagen und Lagen auf der grünen Wiese möglich. Bereits heute wird zwischen Gewerbegebieten, Kerngebieten und Mischgebieten differenziert. Wir alle kennen diese Begrifflichkeiten. Diese Regelungen wurden in Deutschland bisher in 400 000 Fällen angewandt - und das ohne eine einzige Klage. Man sollte in dieser Angelegenheit also nicht juristisch argumentieren, sondern bestenfalls politisch. ({6}) - Ich habe gerade die verfassungsrechtliche Problematik erläutert, Frau Kopp. Ihr Problem, Frau Kopp, und das Problem der FDP allgemein ist, dass Sie sich noch nie für die Klein- und Kleinstbetriebe sowie die mittelständischen Betriebe interessiert haben. Sie denken nur an die großen Unternehmen auf der grünen Wiese. Dementsprechend ist Ihre Politik seit Jahrzehnten. Das beweisen Sie auch jetzt wieder durch diesen Zwischenruf. ({7}) Machen Sie sich einmal Gedanken darüber, warum in den letzten Jahren gerade im Einzelhandel mehr als 100 000 Arbeitsplätze verloren gingen! Es waren die großen Unternehmen, die dafür gesorgt haben, dass Arbeitsplätze in den Innenstädten abgebaut wurden. Frau Kopp, die Zahlen sprechen für sich - man muss sich das immer wieder einmal klar machen -: Der prozentuale Anteil der Personalkosten im Fachhandel in den Innenstädten liegt bei 18,5 Prozent; der gleiche Anteil bei den Verbrauchermärkten auf der grünen Wiese liegt bei 8,6 Prozent. Das ist ein enormer Unterschied. ({8}) - Das liegt an vielem: Es liegt an der viel größeren und viel preiswerteren Fläche, die den Unternehmern auf der grünen Wiese zur Verfügung steht. Man braucht dort nur „eindimensional“ zu bauen. Man hat dort eine gute Verkehrsanbindung. Außerdem verfügt man über zentrale Marketingkonzepte und beim Einkauf bestehen große Margen. Es gibt dort eine ganze Reihe von Vorteilen gegenüber den Anbietern in Innenstädten. Auch große Kaufhäuser in Innenstädten können diese Vorteile - das darf man nicht vergessen - nicht wettmachen. ({9}) Der einzige Weg, den Anbietern in den Innenstädten einen gewissen Vorteil zu verschaffen, ist nun einmal eine Differenzierung, wofür ich mich klar ausspreche. Ich weiß, dass unser Koalitionspartner in dieser Angelegenheit eine andere Position hat. Trotzdem kämpfe ich für dieses Ziel. Ich weiß, dass es auch innerhalb der sozialdemokratischen, aber auch innerhalb der christdemokratischen Fraktion eine größere Gruppe von Abgeordneten gibt, die das ähnlich sieht. Ich bin der Meinung, dass wir dieses Thema weiter diskutieren sollten. Ich halte es für sehr wichtig, auch mit Blick auf die Zukunft, sich darüber Gedanken zu machen. Diese Regierung hat neben der weiteren Liberalisierung der Ladenschlusszeiten eine ganze Reihe anderer Maßnahmen durchgeführt, um dem Einzelhandel und dem Mittelstand Vorteile zu verschaffen. Die aktuellste Maßnahme ist die Schaffung des Niedriglohnsektors im Zusammenhang mit dem Hartz-Konzept. ({10}) - Für das Hartz-Konzept waren Sie verantwortlich? ({11}) Allein in diesem Bereich - der von den Grünen und nicht von der CDU/CSU in die Diskussion gebracht wurde wird, so der HDE, mit 100 000 neuen Arbeitsplätzen gerechnet. Dass Sie uns via Bundesrat dabei unter die Arme gegriffen haben, Herr Schauerte, ist richtig. Aber die Initiative kam von den Grünen. Meine Redezeit ist um, ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Lieber Herr Kollege Ulrich, im Gegensatz zu Ihnen komme ich aus einem unternehmergeführten mittelständischen Betrieb. ({0}) Versuchen Sie bitte nicht, mir zu erzählen, was Mittelstand ist. Liebe Kollegen und Kolleginnen, bezüglich des Themas Reformen gibt es kein Frühlingserwachen. Ich glaube, dass es hier im Deutschen Bundestag eine neue, größer werdende Allianz der Regulierungswütigen gibt, die plötzlich wieder neue Blüten treiben lassen. ({1}) Es geht nicht nur darum, dass sich die SPD und auch die Grünen nur trauen, hier einen Gesetzentwurf mit einem Minischritt von gerade einmal vier weiteren Stunden Ladenöffnungszeit vorzulegen, sondern auch um einen anderen Punkt, den ich deutlich erwähnen möchte. Dabei kann ich leider auch die CDU/CSU-Fraktion nicht herauslassen. Lieber Herr Schauerte, Sie haben vergessen, zu erwähnen, wie Sie zu den Punkten Sonderregelungen und Verbeugung vor den Gewerkschaften stehen und abgestimmt haben. Zu unserer großen Überraschung ist jetzt im Gesetzentwurf der rot-grünen Regierung vorgesehen, dass die Beschäftigten in den Verkaufsstellen ein verbrieftes Recht auf einen freien Samstag einmal im Monat erhalten sollen. Ich muss Ihnen sagen: Das ist absurd; ({2}) das ist absoluter Unsinn. Ich finde es bedauerlich, dass die CDU/CSU-Fraktion dem auch noch zustimmt - Sie bilden eine Koalition der Unbelehrbaren -, weil dadurch Sondertatbestände geschaffen werden. ({3}) - Ich sage Ihnen das sofort. Es ist doch so, dass Sie hier eine Bevormundung hineinbringen. Sie wissen doch selber, dass Sie damit in die Tarifhoheit der beiden Partner, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, eingreifen. Sie müssten eigentlich wissen, dass es aufgrund einer tarifvertraglichen Einigung bereits heute eine Fünftagewoche gibt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Blank?

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich gestatte jetzt keine. Außerdem lassen Sie die Frage offen, wie Sie gegenüber anderen Arbeitnehmern argumentieren wollen, zum Beispiel in der Gastronomie, in der Freizeitbranche oder in der Gesundheitsbranche. ({0}) Dies ist ein weiterer ordnungspolitischer Fauxpas. ({1}) Wir als FDP-Bundestagsfraktion stellen dem ganz klar unsere Forderung entgegen. Wir wollen die Abschaffung des Ladenschlussgesetzes für Werktage ohne Wenn und Aber. Wir legen - um Legendenbildung vorzubeugen - genauso Wert darauf, dass Sonn- und Feiertage verfassungsrechtlich geschützt bleiben, so wie sie das jetzt sind. Mit einem Unterschied: Wir folgen dem Subsidiaritätsprinzip und möchten, dass die Länder je nach kultureller Tradition entscheiden, welche Ausnahmen gelten. ({2}) Im Übrigen gibt es schon heute, je nach Bundesland unterschiedliche Feiertage. Das funktioniert hervorragend, wenn man den Menschen ein Stück mehr Eigenständigkeit und weniger Regulierung zutraut. Das sollten wir hinbekommen. Ich betone noch einmal, dass der nötige Schutz für die Mitarbeiter, die betroffen sind, nach wie vor gilt. Auch wir stehen hinter dem Arbeitszeitgesetz und den Arbeitsschutzgesetzen. Aber wir legen Wert auf mehr Eigenständigkeit und weniger staatliche Regelungen. Wir legen auch Wert auf eine größere Verbraucherorientierung. Niemand wird gezwungen - auch das hat Herr Schauerte richtig ausgeführt -, ein Geschäft 24 Stunden lang zu öffnen. Es geht darum, das nötige Zeitfenster zu haben, um die eigenen Nischenchancen am Markt zu nutzen. Das finde ich hervorragend. ({3}) Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt anbringen. Ich fand bei der Anhörung am vergangenen Montag die Ausführungen des Rechtswissenschaftlers Professor Hufen sehr interessant. Er hat angeregt, zu hinterfragen, ob in einem freiheitlichen Rechtsstaat das Aufrechterhalten von kleinlichen Regulierungen wie im Ladenschlussgesetz überhaupt noch verfassungskonform ist. Dieser Umkehreffekt ist ein Aspekt, den viele in diesem Haus überhaupt noch nicht bedacht haben. Eigentlich müssten diejenigen, die nach wie vor regulieren wollen, begründen, weshalb sie das wollen. ({4}) Angesichts der Tatsache, dass wir morgen früh eine so genannte „Ruckrede“ des Kanzlers hören werden, nach der sich alles am Standort Deutschland verbessern wird, muss ich sagen: Ich persönlich habe die Hoffnung aufgegeben, dass es hier so etwas wie Reformfähigkeit ({5}) oder einen Aufbruch in die Neuzeit geben wird. Das ist dramatisch und tragisch; denn spürbare Steuerentlastungen, Reformen bei der Gesundheitspolitik und die Senkung der Abgaben, die den Mittelstand, die Wirtschaft sowie die Bürger und die Verbraucher belasten, würden den Mittelstand stabilisieren. Das wäre eine echte Reform, die zur Stabilisierung des Wirtschaftsstandorts Deutschland führen würde. Diese haben wir wahrlich nötig. Ich finde es lächerlich und peinlich, dass wir heute ein weiteres Mal über das Regulierungswerk Ladenschluss diskutieren. Wir haben eigentlich viel größere Sorgen. ({6}) Wir sollten das Problem lösen, indem wir auf ein solches Gesetz verzichten. Das wäre eine hervorragende Nachricht. Wir sollten nicht immer wieder neue Gesetze schaffen, sondern Mut zum Schritt nach vorn haben. ({7}) Ich sehe es aber zusammen mit meiner Fraktion realistisch: Es wird noch eine Weile dauern, bis Vernunft, Sachverstand und ordnungspolitisches Denken und Handeln in dieses Haus einziehen werden. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Max Straubinger, CDU/ CSU-Fraktion.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute wiederum über die Ladenöffnungszeiten, besser gesagt, über die Ladenschlusszeiten in unserem Land. Die SPD freut sich, am Vortag der Rede des Bundeskanzlers noch ein großes Reformprojekt präsentieren zu können. Das bedeutet, die Geschäfte können am Samstag vier Stunden länger öffnen. Das ist eine großartige Reform. Sie können stolz darauf sein; denn sie zeigt - das wird auch den Wählerinnen und Wählern bewusst -, wie reformunfähig SPD und Bündnis 90/Die Grünen mittlerweile geworden sind. ({0}) Derzeit gilt die strenge Ladenöffnungsregelung, nach der die Geschäfte von 6 Uhr morgens bis 20 Uhr abends geöffnet sein können. ({1}) Diese Möglichkeit wird heute schon von den verschiedenen Einzelhändlern nicht genutzt. Der Bäcker öffnet frühmorgens, wie es für ihn richtig ist, und schließt wahrscheinlich vor 20 Uhr. Der Textilhändler dagegen öffnet später und schließt vielleicht um 20 Uhr, in der Regel aber früher. Warum ist das so? Es ist deshalb so, weil die unternehmerische Entscheidung es gebietet, über den Grenzertrag nachzudenken, ihn zu bestimmen und darauf letztendlich die Öffnungszeiten abzustimmen. Ich glaube, dass der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt bei der Einbringung des Gesetzentwurfs einen sehr wichtigen Satz gesagt hat: Ich zitiere mit Erlaubnis der Frau Präsidentin: Ich glaube, wir haben recht daran getan, die Unternehmen des Einzelhandels durch die Erweiterung des Öffnungsrahmens an Samstagen in die Lage zu versetzen, sich besser auf Verbraucherwünsche einzustellen und ihre Leistungen dem Bedarf und dem Kundenaufkommen anzupassen. Ich sage an dieser Stelle noch einmal: Niemand wird verpflichtet, sein Geschäft bis 20 Uhr offen zu halten. Jeder soll nach Maßgabe und geschäftlichem Interesse seinen Laden offen halten oder ihn schließen, wenn er das für richtig hält. Wer sich diesem letzten Satz anschließt, der müsste eigentlich dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion, in dem eine Abschaffung der Ladenöffnungszeiten von Montag bis Samstag gefordert wird, zustimmen. Es soll den Einzelhändlern überlassen sein, wann sie ihre Geschäfte öffnen und wann sie sie zusperren. Ich möchte mich auch mit der These befassen, die längeren Ladenöffnungszeiten würden den Strukturwandel und die Unternehmenskonzentration bzw. die Umsatzkonzentration beschleunigen. Wir sollten uns in diesem Zusammenhang einmal einige Zahlen zu Gemüte führen. 1995 gab es in Deutschland laut Auskunft des HDE 95 Millionen Quadratmeter Verkaufsflächen. Im Jahr 2002 waren es 110 Millionen Quadratmeter. Das ist eine Steigerung um knapp 16 Prozent. Man könnte nun ableiten, dass die Beschäftigung zugenommen haben müsste. Das ist aber nicht der Fall. Die Beschäftigung ist vielmehr massiv gesunken. Das zeigt sehr deutlich, dass in diesem Bereich die Öffnungszeiten nichts für die Beschäftigung gebracht haben. Dies müsste meines Erachtens auch den Vertretern von SPD und Grünen einleuchten. Letztendlich haben sich einzig und allein die Finanzkraft und die Marktmacht der einzelnen Handelskonzerne, die sich leider Gottes bei uns auf acht Unternehmen konzentrieren, durchgesetzt. Das ist das entscheidende Kriterium und nicht die Frage, ob in der Woche die Geschäfte eine, zwei oder vier Stunden länger geöffnet werden können. Es geht darum, den Verbraucherinnen und Verbrauchern für sie angenehme Öffnungszeiten zu bieten. ({2}) Ich glaube, es wäre besser gewesen, dem kleinstrukturierten Handel Nischen zu eröffnen. Bündnis 90/Die Grünen hat immer wieder davon gesprochen, besonders die Citylagen zu unterstützen, weil hier abends verstärkt kulturelles Leben stattfindet. Daher sollte es den Einzelhändlern dort möglich sein, unter Umständen die Geschäfte länger zu öffnen. Unser Antrag wird dieser Tatsache durch die Forderung nach Abschaffung der Ladenöffnungszeiten von Montag bis Samstag gerecht. Ich glaube, dass die SPD und die Grünen weiterhin darauf setzen, dass die Menschen Konsumverzicht üben sollten, wie es der Fraktionsvorsitzende der SPD, Müntefering, vorgegeben hat. ({3}) Das Entscheidende ist: Wenn Sie etwas für den kleinstrukturierten Einzelhandel tun wollen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, dann entlasten Sie die Einzelhandelsunternehmer von überbordender Bürokratie. ({4}) Dazu trägt die Abschaffung des Ladenschlussgesetzes bei. Entlasten Sie sie von zu hohen Sozialversicherungsbeiträgen und von zu hohen Steuerbelastungen! Ich nenne in diesem Zusammenhang die Abschaffung der Ökosteuer, die vor allen Dingen bei Altbauten zu höheren Heizkosten führt. Das würde unsere Einzelhandelsunternehmen fördern. So könnten Sie tatsächlich etwas für den Mittelstand tun. Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Genau einen Monat nach der ersten Lesung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung wird heute die Änderung des Ladenschlussgesetzes im Deutschen Bundestag abschließend beraten. ({0}) Ich bedanke mich ausdrücklich bei allen Kolleginnen und Kollegen, die dazu beigetragen haben, dass der Gesetzentwurf so zügig beraten wurde. Ich bedanke mich auch für eine sehr intensive und inhaltsreiche Diskussion in der Ausschusssitzung am vergangenen Mittwoch. Wenn es nicht darum geht, Fensterreden zu halten und Ideologien vor sich herzutragen, sondern darum, sich mit Problemen auseinander zu setzen, dann kann man erstaunliche Erfahrungen mit den Kolleginnen und Kollegen aus der Unionsfraktion, aber auch aus der SPDFraktion machen. Die Sachverständigenanhörung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit am Montag dieser Woche hat erneut das weite Spektrum der Positionen zum Ladenschluss deutlich gemacht. Die Auffassungen reichen von einer völligen Freigabe der Ladenöffnungszeiten in der Woche bis hin zur Ablehnung jedweder Änderung des geltenden Rechts. Diese Positionen kennen wir bereits seit Jahren; sie hatten daher nur einen geringen Neuigkeitswert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin seit 1987 Mitglied des Deutschen Bundestages und habe jede Debatte über Ladenöffnungszeiten miterlebt. Mir ist kein neues Argument mehr begegnet und mir fällt auch kein neues Argument mehr ein. Wir alle machen die Erfahrung, dass man die Argumente und Positionen nutzt, um die jeweils eigene ideologische Haltung zu begründen. Davon sollten wir uns verabschieden. ({1}) In zwei zentralen Punkten waren aber weitgehend einheitliche Positionen festzustellen: Alle Verbände stimmten darin überein, dass der verfassungsmäßig garantierte Schutz der Sonn- und Feiertage nicht angetastet werden dürfe. Weitgehende Einigkeit gab es auch in der Frage der Bundeseinheitlichkeit. Kein Verband hat sich dafür ausgesprochen, die Regelung des Ladenschlusses den Ländern zu überlassen. Die Anhörung hat daher die Bundesregierung in ihrer Haltung bestärkt, dass wir auch weiterhin ein bundeseinheitliches Ladenöffnungsgesetz brauchen. Ein Bundesgesetz sichert den Schutz der Sonn- und Feiertage. Die Bundesregierung ist sich mit nahezu allen Beteiligten - dem Einzelhandel, den Kirchen und Gewerkschaften sowie der Mehrheit der Bevölkerung einig, dass insbesondere die verfassungsrechtlich geschützte Sonn- und Feiertagsruhe nicht angetastet werden darf. ({2}) Das Ladenschlussgesetz enthält klare, einheitliche Regelungen, die an Sonn- und Feiertagen nur einen sehr eingeschränkten Verkauf erlauben. Wer dagegen wie die FDPFraktion das Ladenschlussgesetz ganz abschaffen will, ({3}) der nimmt in Kauf, dass die Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen durch Landesrecht geregelt würde. Ich möchte keinen Wettbewerb der Länder um die Frage, wo die Geschäfte sonntags am längsten öffnen dürfen. Die Folgen sind doch klar - hier unterstütze ich das, was der Kollege Schauerte gesagt hat -: Man muss nur an die Stadtstaaten denken, um zu wissen, dass das Recht zersplittert und der Sonn- und Feiertagsschutz ausgehöhlt würden. Es geht nicht um das Spiel „Alles oder nichts“, auch nicht darum, wer die beste marktwirtschaftliche Theorie erfunden hat. Es geht um sachgerechte, praktikable Lösungen, die die Interessen aller Beteiligten widerspiegeln. ({4}) Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der Ladenöffnung an Samstagen setzt die Bundesregierung auf eine Reform mit einer maßvollen Ausweitung der Ladenöffnungszeiten. Der Gesetzentwurf ist eine tragfähige Lösung, die den Bedürfnissen der Kundinnen und Kunden sowie des Einzelhandels gerecht wird. Die Balance zwischen den Interessen der Geschäftsinhaber, der Verbraucherinnen und Verbraucher sowie der Beschäftigten bleibt erhalten. Es ist nicht wegzudiskutieren: Der Samstag ist inzwischen zu einem Haupteinkaufstag geworden. Es gibt ein Bedürfnis der Verbraucherinnen und Verbraucher, samstags auch nach 16 Uhr einkaufen zu können. Der Regierungsentwurf sieht eine Verlängerung der gesetzlichen Ladenöffnungszeiten an Samstagen bis 20 Uhr vor. Der Einzelhandel kann dann an allen Werktagen von Montag bis Samstag im Zeitraum von 6 bis 20 Uhr öffnen. Wir ermöglichen damit eine zeitgemäße und bedarfsorientierte Öffnung der Läden. Seit dem In-Kraft-Treten des Ladenschlussgesetzes im Jahre 1956 haben sich die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland erheblich verändert. Der Gesetzgeber hat auf diese Veränderung mit einer Überprüfung der Regelung zum Ladenschluss reagiert und das Recht den geänderten Realitäten angepasst. Wir reichen unsere Hand aber nicht für eine Öffnung rund um die Uhr. Es besteht wenig Bedarf, nachts um 3 Uhr Socken oder Haferflocken zu kaufen, wie es einer der Sachverständigen am Montag auf den Punkt gebracht hat. Dass aber ein Bedürfnis für eine längere Öffnung am Samstag besteht, zeigen auch die Erfahrungen in Niedersachsen mit den verlängerten Ladenöffnungszeiten während der Weltausstellung EXPO 2000. Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben die verlängerten Öffnungszeiten an Samstagen rege genutzt. Wer sich heute in Citylagen begibt - wir diskutieren über das Cityprivileg -, der weiß, dass die Innenstädte bis 16 Uhr brummen und dass es danach in den Innenstädten leer wird. Die Menschen stimmen mit ihren Füßen ab. Der Gesetzgeber muss, finde ich, Schritt für Schritt auf diese geänderten Bedürfnisse reagieren und entsprechende Möglichkeiten schaffen. ({5}) Die Ausweitung der gesetzlichen Ladenöffnungszeiten an Samstagen trägt dem veränderten Kaufverhalten Rechnung. Durch die Erweiterung des Öffnungsrahmens an Samstagen werden die Unternehmen des Einzelhandels in die Lage versetzt, sich besser auf die Verbraucherwünsche einzustellen und ihre Leistungen dem Bedarf und dem Kundenaufkommen anzupassen. Der Trend im Einzelhandel zeigt seit Jahren nach unten. Sinkende Umsätze und sinkende Arbeitsplatzzahlen kennzeichnen die Situation. Ich stimme ausdrücklich der folgenden Aussage zu: Der Einzelhandel hat nur dann eine Chance, diesen Abwärtstrend zu stoppen und umzukehren, wenn er sich den Bedürfnissen der Verbraucherinnen und Verbraucher öffnet und sich an ihnen orientiert. Dazu wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen Beitrag leisten. Ich bin davon überzeugt, dass die neue Regelung einen positiven Impuls für den privaten Konsum geben wird. Gleichzeitig wird durch die erweiterte Öffnungsmöglichkeit an Samstagen ein wirksamer Beitrag insbesondere zur Belebung der Innenstädte geleistet. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält eine maßvolle Anpassung der Ladenöffnungszeiten, die die veränderten Verbrauchergewohnheiten berücksichtigt und die Balance zwischen den unterschiedlichen Interessen im Einzelhandel gewährleistet. Wir erhalten den Ladenschluss an den übrigen Werktagen und schützen den Sonntag weiterhin als Ruhetag. Ein letzte Anmerkung möchte ich zu dem machen, was Herr Kollege Schauerte gesagt hat. Wir nehmen jetzt nicht die Diskussion von morgen vorweg. Herr Kollege Schauerte, wenn Sie eine namentliche Abstimmung wollen - ich finde das schon bemerkenswert -, dann stellen Sie doch einen Antrag. Daran hindert Sie doch niemand. Ich weiß allerdings, dass die inhaltlichen Positionen Ihres Gesetzentwurfs auch in Teilen Ihrer eigenen Fraktion außerordentlich umstritten sind. Es gibt eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen, die der Auffassung sind, dass man in einer ganz anderen Art und Weise etwas für den Schutz insbesondere des kleinteiligen Einzelhandels leisten müsste. Wenn Sie also die Sorge haben, dass wir dieses Gesetz nicht verabschieden können, dann beantragen Sie doch eine namentliche Abstimmung. Sie werden sehen, was dabei herauskommt. Ich bedanke mich auf alle Fälle für die gute inhaltliche Diskussion. Wir sind mit diesem Gesetzentwurf auf dem richtigen Weg. Schönen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Kurt Segner, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Kurt Segner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003633, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mehr als 4,7 Millionen Menschen waren im Februar ohne Arbeit. Das ist die höchste Arbeitslosenzahl während der Amtszeit der rot-grünen Bundesregierung. ({0}) Die Unternehmerpleiten erreichen neue Rekordzahlen. Umsätze brechen auf breiter Front ein. Der Einzelhandel hat im Jahr 2002 das schlechteste Ergebnis seit 1945 erzielt. Vor diesem Hintergrund sind alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, die zu mehr Dynamik, mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in unserem Land beitragen. Was wir brauchen, ist wieder mehr Ludwig Erhard: mehr soziale Marktwirtschaft, ({1}) mehr Freiraum für den Einzelnen und weniger Staat. Ludwig Erhard schrieb bereits 1957 in seinem Buch mit dem Titel „Wohlstand für alle“: Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selber tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin. ({2}) Mit dem Gesetzentwurf der rot-grünen Bundesregierung, mit der Verlängerung der Ladenöffnungszeit am Samstag bis 20 Uhr wird zwar ein kleiner Schritt in die richtige Richtung gemacht. Doch Sie von der SPD fallen immer wieder in das alte Gedankengut zurück, alles regeln zu wollen. Warum lassen wir den Geschäftsinhaber nicht selber entscheiden, wann er seinen Laden öffnen oder schließen möchte? Auch mit dem Änderungsantrag zur Direktvermarktung, den Sie vor circa 48 Stunden eingebracht haben, waren Sie auf dem richtigen Weg. Aber bereits 24 Stunden später hat Sie der Mut verlassen und Sie haben den eigenen Antrag wieder zurückgezogen. ({3}) Wir brauchen ein Ladenschlussgesetz, das sich mit den veränderten Lebensgewohnheiten und Bedürfnissen des Kunden deckt. Kleine Mittelständler und Existenzgründer haben so die Möglichkeit, Marktnischen leichter zu besetzen. Auch der Konsument entzieht sich immer mehr der Bevormundungsrolle des Staates, indem er frei entscheidet, wann und wo er seine Einkäufe erledigt sei es im Bahnhof oder im Flughafen, sei es beim Tankstellenshopping oder im Internet. Von dieser Ladenöffnungsfreiheit haben zahlreiche Demonstranten von Verdi an einem Sonntag Gebrauch gemacht, indem sie den Demonstrationstag als Einkaufstag nutzten. ({4}) - So ist es. Das bestehende Ladenschlussgesetz erweist sich für Handel und Dienstleistung als Hemmschwelle. Die Freigabe des Ladenschlusses ist auch im Interesse der Familie. Auch für den Tourismusstandort Deutschland ist es ein Schritt in die richtige Richtung. Aber die Neuregelung muss auch den sozialen und kulturellen Grundlagen unseres Landes Rechnung tragen. Deshalb sind die Sonn- und Feiertage in der jetzigen Form zu wahren. Mit dem Antrag der CDU/CSU kommen wir folgendem Ziel ein Stück näher: mehr Freiheit und weniger Bürokratie, mehr Wachstum und Beschäftigung. Aber dies allein reicht nicht aus. Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger wieder mehr Geld in der Tasche haben. Meine Damen und Herren von der SPD und von den Grünen, wenn Sie schon nicht Ihrem Gesetzentwurf zustimmen können, dann bitte ich Sie im Interesse unseres Landes: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Segner, Sie hielten gerade Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich dazu und wünsche Ihnen persönlich alles Gute. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ver- längerung der Ladenöffnungszeiten an Samstagen, Drucksachen 15/396 und 15/521. Dazu liegen uns drei persönliche Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung vor: die persönliche Erklärung der Abgeordneten Ernst Hinsken, Renate Blank und Stephan Mayer, die persönliche Erklärung von Fritz Schösser und Horst Schmidbauer und die persönliche Erklärung von 36 Abgeordneten der SPD-Fraktion.1) Diese Erklärungen liegen dem Präsidium schriftlich vor. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/591, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen ({0}) der CDU/CSU und der FDP angenommen. ({1}) Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. ({2}) Wer stimmt dagegen? ({3}) Im Präsidium herrscht über diese Frage keine Einigkeit. ({4}) Ich bitte Sie daher, sich zum Hammelsprung aus dem Plenarsaal zu begeben.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer ihre Plätze eingenommen? Das ist von hier vorne wegen der einfallenden Sonne sehr schwer zu erkennen. - Wenn dies der Fall ist, eröffne ich die Abstimmung. Sind jetzt alle Kolleginnen und Kollegen im Saal? Ich schließe die Abstimmung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe das Ergebnis des Hammelsprungs bekannt. Mit Ja haben gestimmt 279 Mitglieder des Parlaments, mit Nein 224, Enthaltungen gibt es keine. ({0}) Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, da wir noch weitere Abstimmungen zu diesem Thema haben, möchte ich Sie bitten, sich in Ihre Fraktionsreihen zu begeben. Wir tun uns dann mit der Ermittlung der Abstimmungsergeb- nisse leichter. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak- tion der FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Aufhe- bung des Ladenschlussgesetzes, Drucksache 15/106. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- fiehlt der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/591, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- len, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Be- ratung mit den Stimmen der Koalition, bei Zustimmung der FDP und bei Enthaltung der CDU/CSU, abgelehnt.1) Anlage 3 bis 5 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei- tere Beratung. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksa- che 15/591 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Ladenschlussgesetz modernisieren“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Bechluss- empfehlung, den Antrag auf Drucksache 15/193 abzu- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh- lung ist mit den Stimmen der Koalition und einer Stimme aus der CDU/CSU gegen die Stimmen der CDU/CSU im Übrigen bei Enthaltung der FDP angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d sowie Zusatzpunkt 3 auf: 7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN 59. Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen - Drucksache 15/549 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({2}) zu der Unter- richtung durch die Bundesregierung 6. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Be- ziehungen und in anderen Politikbereichen - Drucksachen 14/9323, 15/171 Nr. 1, 15/397 - Berichterstattung: Abgeordnete Christa Nickels Hermann Gröhe c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({3}) zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Politik - Drucksachen 15/136, 15/495 - Berichterstattung: Abgeordnete Christa Nickels Hermann Gröhe d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, Daniel Bahr ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien nicht vergessen - Drucksachen 15/64, 15/496 Berichterstattung: Abgeordnete Christa Nickels Melanie Oßwald ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann Gröhe, Rainer Eppelmann, Holger Haibach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Für Menschenrechte weltweit eintreten - die internationalen Menschenrechtsschutzinstrumentarien stärken - Drucksache 15/535 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir jetzt in der Tagesordnung - die ohnehin ziemlich lang ist - weitermachen? Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die bei dem Tagesordnungspunkt nicht zuhören wollen, den Plenarsaal zu verlassen. - Vielleicht können die Kolleginnen und Kollegen, die in den Gängen und hinten an der Tür ihre Gespräche fortsetzen, dieses außerhalb des Saales tun; ich bitte darum. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Rudolf Bindig, SPD-Fraktion.

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir führen diese Menschenrechtsdebatte zu einem wichtigen Zeitpunkt und in einer schwierigen außenpolitischen Situation. In wenigen Tagen beginnt in Genf die 59. Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. So mühsam sich die Beratungen in Genf immer wieder gestalten, weil das Gremium einerseits aus Staaten besteht, die die Menschenrechte voranbringen wollen, und andererseits aus Staaten, die Fortschritte eher verhindern wollen, so unverzichtbar ist doch das jährliche Treffen. Die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen ist das wichtigste internationale Gremium, das sich regelmäßig mit der Lage der Menschenrechte weltweit befasst und Menschenrechtsverletzungen durch Staaten öffentlich kritisiert. Dieses Jahr tagt die Menschenrechtskommission unter dem Vorsitz Libyens, das selbst ein Problemland ist. Die Beratungen fallen in eine Zeit, in der die internationale Gemeinschaft darum ringt, den Konflikt mit dem Irak friedlich zu lösen. Nach wie vor ist die Weltpolitik von den Terroranschlägen des 11. September und dem anschließenden Kampf gegen den internationalen Terrorismus geprägt. So legitim dieser Kampf auch ist, so problematisch sind vielerorts seine Auswirkungen auf die Menschenrechte. Als Menschenrechtler müssen wir klarstellen: Der Kampf gegen den Terrorismus darf weder zu einer Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten führen noch darf er als Vorwand für die Unterdrückung innenpolitischer Gegner und für militärische Interventionen dienen. ({0}) Tief besorgt sind wir darüber, dass einige Staaten die Anwendung von Folter mit der Begründung rechtfertigen, mit den so erlangten Informationen könnten neue Terroranschläge verhindert werden. Dies widerspricht völkerrechtlichen Konventionen. Nicht einmal in Kriegszeiten oder im Falle eines öffentlichen Notstandes darf das Verbot von Folter eingeschränkt werden. ({1}) Das sollten sich auch diejenigen merken, die in Deutschland eine Diskussion zu dem Thema Folter losgetreten haben. Auch das Verbot von Auslieferungen oder Abschiebungen bei einer drohenden Folter oder Todesstrafe darf auf keinen Fall mit dem Verweis auf den Kampf gegen den Terrorismus aufgeweicht werden. Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen haben zur Vorbereitung der 59. Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen einen gemeinsamen Antrag vorgelegt. Wir wollen darin die Bundesregierung in ihrem Einsatz für die weltweite Förderung der Menschenrechte unterstützen. Unsere entscheidenden Forderungen sind: Erstens. Die Menschenrechtskommission muss bei der internationalen Staatengemeinschaft nachdrücklich die Einhaltung der Menschenrechte und des Völkerrechts - auch im Antiterrorkampf - einfordern. Zweitens. Die MRK soll als Forum genutzt werden, um die Implementierung des internationalen Menschenrechtsschutzes voranzubringen und möglichst viele Staaten zur Zeichnung und Ratifizierung von Menschenrechtsabkommen zu bewegen. Drittens. Besondere Beachtung bei der Tagung der Menschenrechtskommission ist der Stärkung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu schenken, dem Bericht des Sonderberichterstatters gegen Folter sowie den menschenrechtsverletzenden Praktiken der Scharia. Viertens. Besondere Initiativen sollen von der Bundesregierung im Verbund mit der Europäischen Union in Bezug auf die Besorgnis erregende Menschenrechtssituation in der Volksrepublik China, in Simbabwe, Kolumbien und in der Russischen Föderation, speziell in Tschetschenien, unternommen werden. Die genannten Länderbeispiele haben wir aus folgenden Gründen besonders hervorgehoben: In China hat sich die Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen im Rahmen der Antikriminalitätskampagne „Hartes Durchgreifen“ drastisch erhöht. Der Katalog der Straftaten, für die die Todesstrafe verhängt wird, wurde durch eine Neudefinition des Tatbestandes „schweres Verbrechen“ erweitert und umfasst auch gewaltfreie Delikte wie Bestechung, Veruntreuung, Steuerhinterziehung und Spekulation. Oftmals werden nach Schnellverfahren die Verurteilten sofort hingerichtet. Eine neue negative Qualität hat auch die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit in China erreicht. Eine eigens eingerichtete Internetpolizei kontrolliert und blockiert den Zugang zum Internet. In den Provinzen werden Befürworter größerer kultureller und politischer Autonomie mit Extremismus, Separatismus und Terrorismus in Verbindung gebracht. Die Kontrolle Pekings über das öffentliche, kulturelle und religiöse Leben Tibets bleibt weiterhin erdrückend. Kolumbien leidet seit Jahrzehnten an gewaltsamen inneren Konflikten, bei denen paramilitärische Gruppen, Guerillas und Drogenhändler, aber auch staatliche Sicherheitsorgane schwerste Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen begehen. Mit 3 000 Entführungen und 30 000 Morden pro Jahr herrscht in Kolumbien ein Klima der Gewalt, in dem sich niemand mehr sicher fühlen kann und in dem Verbrechen ohne strafrechtliche Konsequenzen begangen werden können. Simbabwe ist eines jener Länder in Afrika, deren Menschenrechtslage sich dramatisch verschlechtert hat. Diktatur, Korruption, Massenenteignungen von weißen Farmern und eine ungewöhnlich lange Dürreperiode haben eine menschenrechtliche und humanitäre Katastrophe ausgelöst. Die Opposition ist schwersten Menschenrechtsverletzungen wie Folter und willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind faktisch aufgehoben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine besondere Herausforderung für die Menschenrechtspolitik stellt weiterhin der Tschetschenienkonflikt in der Russischen Föderation dar. Ohne Zweifel ist Russland in der Außenpolitik gegenwärtig ein wichtiger Akteur und Partner. Zusammen mit Frankreich, Deutschland und weiteren Ländern bemüht es sich, den Irakkonflikt ohne einen Krieg zu lösen. Ein solcher Krieg würde Abertausenden von Menschen das Leben kosten, also ihr elementares Menschenrecht, das Recht auf Leben, verletzen. Innenpolitisch dagegen ist Russland in Tschetschenien selbst tief in einen Konflikt verstrickt, in dem es immer wieder zu schwersten Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen durch die beiden Konfliktparteien, das russische Militär und die tschetschenischen Kämpfer, kommt. Kann und darf nun - so stellt sich aus menschenrechtlicher Sicht die Frage - die positive Rolle Russlands in der Irakfrage dazu führen, dass über die menschenrechtliche Lage in Tschetschenien hinweggesehen wird? Die Antwort ist glasklar: Menschenrechtsverletzungen können und dürfen niemals gegen „positive Taten“ aufgewogen werden. ({2}) Massentötungen, außergerichtliche Hinrichtungen, Folter, Verschwindenlassen, Vergewaltigungen, Plünderungen und Raub müssen als das gesehen werden, was sie sind: schwerste Menschenrechtsverletzungen, die nicht relativiert, ignoriert und beschönigt werden dürfen. ({3}) Diese Auffassung haben wir nicht nur im Koalitionsantrag zur Menschenrechtskommission zum Ausdruck gebracht, sondern auch in dem interfraktionellen Antrag „Achtung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts in Tschetschenien“. Hier sind verschiedene Initiativen zu Tschetschenien gebündelt, welche im Deutschen Bundestag und in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates unternommen worden sind. Darin wollen wir klar machen, dass es auch in Tschetschenien keine Alternative zu einem gewaltfreien politischen Prozess gibt. In diesen Tagen habe ich erneut im Auftrag der Parlamentarischen Versammlung des Europarates einen Bericht zur menschenrechtlichen Lage in Tschetschenien erstellt. Der Bericht listet sowohl die schweren Menschenrechtsverletzungen auf, welche von den russischen Sicherheitskräften begangen werden, als auch die Verbrechen der tschetschenischen Kämpfer. Die Verbrechen russischer Militärs an der Zivilbevölkerung können mit Ort, Zeit und Datum exakt belegt werden. Es ist eine Chronik des Grauens, von Massakern, Massengräbern, außergerichtlichen Hinrichtungen, Verschwinden von Personen, Folter, Vergewaltigung und anderen Menschenrechtsverletzungen. Auf tschetschenischer Seite geht es vor allem um die brutale Geiselnahme in Moskau, den Terroranschlag in Grosny sowie um Entführung und Tötung moskaufreundlicher Tschetschenen und ihrer Familien. Zwar stellen die russischen Justizbehörden Untersuchungen über Menschenrechtsverletzungen an. Leider muss aber festgestellt werden, dass in den meisten Fällen die Verantwortlichen nicht ermittelt, geschweige denn zur Rechenschaft gezogen werden. Ernüchtert bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass die Anklagebehörden der Russischen Föderation entweder unwillig oder unfähig sind oder dass sie systematisch daran gehindert werden, diejenigen zu finden und vor Gericht zu bringen, welche für die schweren Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind. Der Generalsekretär des Europarates hat erst vor wenigen Tagen dargelegt, dass sich die Menschenrechtssituation in Tschetschenien im Jahr 2003 erneut erheblich verschlechtert habe. Die Zahl der Verschwundenen sei weiter angestiegen. Allein im Januar 2003 seien 63 Fälle von Verschwindenlassen registriert worden. Das sind zwei Fälle pro Tag. Angesichts dieser schrecklichen Lage müssen wir unmissverständlich fordern, dass die Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien, die das Ausmaß von Verbrechen gegen die Menschlichkeit angenommen haben, sofort eingestellt und die Täter zur Verantwortung gezogen werden. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Tschetschenien, auf der kommenden MRK-Sitzung und in der bilateralen Außenpolitik - immer muss deutlich werden, dass die Menschenrechte Leitlinie der deutschen Politik sind und bleiben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der nächste Redner ist der Kollege Hermann Gröhe, CDU/CSU-Fraktion.

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenige Tage vor Beginn der 59. Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in Genf diskutieren wir heute über Anträge zu ebendieser Tagung, zur Menschenrechtspolitik insgesamt und zur Lage in Tschetschenien. Schaut man sich die Anträge an, so stellt man viele Gemeinsamkeiten fest, aber auch manchen markanten Unterschied. Gerade wenn es darum geht, Klartext in Sachen Menschenrechte zu sprechen, ist es gut, wenn wir dies gemeinsam tun können. ({0}) Deshalb freue ich mich, dass es zur Lage in Tschetschenien eine von allen Fraktionen gemeinsam getragene und in der Sache wie in der Sprache sehr deutliche Beschlussempfehlung auf der Grundlage eines FDPAntrags gibt. Die klare Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien unterscheidet sich wohltuend von manch fragwürdigem Lob von Kanzler Schröder für Putins Tschetschenienpolitik. ({1}) Frau Kollegin Oßwald wird dazu Weiteres für unsere Fraktion ausführen. Schon jetzt möchte ich aber Ihnen, Herr Kollege Bindig, für Ihren besonderen persönlichen Einsatz im Hinblick auf die Lage in Tschetschenien danken. ({2}) Auch die beiden vorliegenden Anträge zur 59. Tagung der Menschenrechtskommission zeichnen sich durch erfreuliche Gemeinsamkeiten aus. Dies ist zu begrüßen; denn die Tagung steht vor großen Herausforderungen. Bereits die Tagung im vergangenen Jahr war in erheblichem Umfang von Konfrontation, Blockbildung und der Solidarisierung von Staaten geprägt, denen man zu Recht schwere Menschenrechtsverletzungen vorwerfen muss. Ja, man muss so weit gehen, festzustellen, dass das Verhalten einer ganzen Reihe von Mitgliedstaaten der MRK geeignet ist, die Glaubwürdigkeit und Funktionsfähigkeit der UN-Menschenrechtspolitik insgesamt massiv zu gefährden. Dies gilt vor allem für die zunehmende Tendenz, die Debatte über bestimmte Länderresolutionen erst gar nicht auf die Tagesordnung zu setzen. Länder wie die Volksrepublik China, die gar nicht erst bereit sind, die Menschenrechtslage im eigenen Land überhaupt zu diskutieren, zeigen damit, dass ihre Beteuerungen in Sachen Menschenrechte wenig glaubhaft sind. Inakzeptabel sind alle Versuche, die Mitwirkungsmöglichkeiten von Nichtregierungsorganisationen, zum Beispiel durch Verkürzung von Sitzungszeiten, zu beschränken; denn die Mitwirkung der Nichtregierungsorganisationen ist ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit in Genf. Wir sind diesen Nichtregierungsorganisationen für ihren unermüdlichen Einsatz sehr dankbar. ({3}) Die Arbeit der Sonderberichterstatterinnen und Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, besonders aber die Arbeit des neuen Hochkommissars für Menschenrechte, Vieira de Mello, hat große Anerkennung und alle nur denkbare Unterstützung verdient. Gerade weil es zunehmend Versuche von einzelnen Staaten oder Staatenkoalitionen gibt, die Möglichkeiten der Menschenrechtskommission deutlich abzuschwächen, halten wir es für ein falsches Signal, dass sich die Bundesrepublik Deutschland wie alle EU-Mitgliedstaaten in der MRK bei der Wahl Libyens zum Vorsitz der Menschenrechtskommission enthalten hat. In Libyen selbst sind grundlegende Freiheitsrechte, beispielsweise die Meinungs- und Pressefreiheit, massiv eingeschränkt. Mit dem Verbot der Bildung von politischen Parteien verstößt das Land gegen grundlegende politische Mitwirkungsrechte. Der Deutsche Bundestag würde dem guten Beispiel des Europäischen Parlaments folgen, wenn er durch Annahme unseres Antrags sein Bedauern über dieses Abstimmungsverhalten klar zum Ausdruck bringen würde. ({4}) Soweit es um die bedrückende Menschenrechtssituation in einzelnen Ländern geht, gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen dem Antrag der Unionsfraktion und dem der Koalitionsfraktionen. Leider ist die Lage in so vielen Ländern kritikwürdig, dass wohl kein Antrag eine vollständige Aufzählung enthält. Aber es fällt schon auf, dass der Antrag von Rot-Grün weder die Lage in Nordkorea noch in Vietnam noch in Kuba überhaupt erwähnt. Dabei gehört die stalinistische Diktatur in Nordkorea unstrittig zu den Staaten, in denen die Menschen am schlimmsten unterdrückt werden. Menschenschindern, die das eigene Volk verhungern lassen, aber atomare Aufrüstung betreiben, sollten wir gemeinsam entschieden entgegentreten. ({5}) Auch die sich verschärfende Lage ethnischer und religiöser Minderheiten in Vietnam verlangt unseren tatkräftigen Einsatz für die Unterdrückten. Bei Ländern, die sowohl die Regierungskoalition als auch die Unionsfraktion in ihren Anträgen ansprechen, bleibt Rot-Grün bedauerlicherweise ebenfalls sehr schwammig. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die konkrete Benennung der Instrumente des internationalen Menschenrechtsschutzes. So fordert der rotgrüne Antrag die Bundesregierung auf - ich zitiere -, „auf die Volksrepublik China einzuwirken“, wenn es um bestimmte Menschenrechtsverletzungen geht. Doch wie soll das geschehen? Warum bekennt sich Rot-Grün nicht mehr zur Notwendigkeit einer Länderresolution zur Lage in China, wie dies im Antrag der Union geschieht? Auch im Hinblick auf die Lage in Simbabwe spricht Rot-Grün von einer Verurteilung, ohne eine Resolution, wie wir sie für geboten halten, konkret zu fordern. Soweit es um die Kritik an der Menschenrechtssituation in China geht, ist es mehr als nur bedauerlich, dass sich die gesamte Europäische Union hinter den USA versteckt. Auch die Bundesregierung erklärt immer wieder, die EU werde eine entsprechende Meinungsbildung erst nach Vorlage eines Resolutionsentwurfs der USA herbeiführen können. Ganz auf der Linie dieser fragwürdigen Zurückhaltung liegen die Aussagen zur Lage in China im Menschenrechtsbericht der Bundesregierung, der ebenfalls Gegenstand unserer heutigen Debatte ist und der in anderen Teilen durchaus, etwa als Nachschlagewerk zum internationalen Menschenrechtsschutz, hohe Anerkennung verdient. „Klar verfehlt“, so nennt Amnesty International die in diesem Bericht enthaltene Bewertung der Menschenrechtslage in der Volksrepublik China. Amnesty International fährt fort - ich erlaube mir zu zitieren -: Zudem erscheint es fast zynisch, wenn von „häufiger Verhängung der Todesstrafe“ die Rede ist, obwohl allein im Zeitraum von April bis Juni vergangenen Jahres im Rahmen einer landesweiten Kampagne zur Kriminalitätsbekämpfung in der VR China mehr Menschen exekutiert worden sind als in den restlichen Ländern der Erde in den vergangenen drei Jahren zusammengenommen. Die so genannte Administrativhaft, die unbefristete Inhaftierung in Straflagern ohne richterlichen Beschluss, die in unserem Ausschuss nach einhelliger Auffassung zu den drängendsten Problemen der Menschenrechtssituation in China gehört, wird im Bericht mit keiner Silbe erwähnt. Wer hier fragwürdig beschönigt oder Kritik bis zur Unkenntlichkeit diplomatisch verpackt, der verfehlt den eigenen Anspruch in der Menschenrechtspolitik und sollte nicht immer wieder so tun, als würden die Menschenrechte erst seit der rot-grünen Regierungsübernahme überhaupt ernst genommen. ({6}) Sie wissen das ja besser; denn der Durchbruch für einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof, den wir alle voranbringen wollen, wurde mit dem Römischen Statut im Juli 1998 erreicht und ist ganz maßgeblich dem beharrlichen Drängen der damaligen Bundesregierung zu verdanken. Wir wünschen den vor zwei Tagen eingeführten 18 Richterinnen und Richtern des Internationalen Strafgerichtshofs, nicht zuletzt dem deutschen Völkerrechtler Hans-Peter Kaul, viel Erfolg bei ihrer nicht leichten, aber so wichtigen Aufgabe. ({7}) Meinungsverschiedenheiten zwischen der Union und Rot-Grün werden auch deutlich, wenn man sich den Antrag „Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Politik“ von Rot-Grün ansieht. Auch wenn dieser Antrag viele richtige Einzelforderungen enthält, kann er unsere Zustimmung nicht finden. Er ist geprägt von einer einseitigen Betonung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte und trägt damit der Unteilbarkeit der Menschenrechte insgesamt sowie dem unaufgebbaren Zusammenhang zwischen den bürgerlichen und politischen Rechten einerseits und den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten andererseits nicht ausreichend Rechnung. So werden etwa die massive Bedrohung der Pressefreiheit in vielen Konfliktregionen der Welt oder andere Einschränkungen im Bereich der Meinungsfreiheit - Stichwort: Internet - nicht einmal erwähnt. Wenn später einiges im Rahmen des Antrags zur Sitzung der Menschenrechtskommission nachgereicht wird, vermag dies die Schlagseite eines Antrages, der gerade die Leitlinie darstellen soll, nicht auszugleichen. Wenn Sie sich in Ihrem Antrag zugute halten, dass Sie einen eigenständigen Bundestagsausschuss für Menschenrechte eingerichtet haben - Sie haben dies 1998 getan - sowie das Amt eines Menschenrechtsbeauftragten, kann auch das nicht unkommentiert bleiben. Gewiss, die Einrichtung eines Menschenrechtsausschusses ist ein Fortschritt. Aber die Regierung muss ihn auch so behandeln. Man kann feststellen, dass Teile der Bundesregierung, allen voran das Bundesinnenministerium - dessen Abwesenheit auf der Regierungsbank uns nicht überrascht; nach dem Hammelsprung sind sie schnell hinfortgeeilt -, diesen Ausschuss nicht ernst nehmen. Es reicht nicht, ihn hochzuloben, wenn man gleichzeitig Ausschussbeschlüsse zur Erhöhung der humanitären Hilfe im Haushaltsausschuss gar nicht erst ernst nimmt. ({8}) Sie loben die Einrichtung des Amtes des Menschenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt. Aber der Amtsinhaber weiß bis heute nicht, ob er die Tätigkeit in dieser Legislaturperiode überhaupt wird fortsetzen dürfen. Wer den Amtsinhaber schäbig behandelt, sollte auch nicht die Einrichtung des Amtes mit Selbstlob versehen. Es bleibt vieles zu tun - vieles, was wir gemeinsam tun können, manches, über das wir uns streiten müssen. Wo dieser Streit Wetteifern um den bestmöglichen Schutz von unterdrückten Menschen bedeutet, ist es ein lohnender Streit. Ich danke Ihnen. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christa Nickels, Bündnis 90/Die Grünen.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die 59. Tagung der Menschenrechtskommission in Genf findet in einer äußerst kritischen weltpolitischen Situation statt. Der Boden, auf dem wir so fest und sicher zu stehen meinten, ist ins Wanken geraten und droht uns teilweise unter den Füßen wegzubrechen. Unser Wertefundament muss sich in dieser kritischen Lage bewähren, sonst wird es uns in Zukunft nicht mehr tragen können. Diese Werte, in deren Zentrum vor allem die Menschenrechte als universale und unveräußerliche Rechte stehen, sind kein Zeichen westlicher kultureller Überlegenheit. Sie sind in jahrhundertelangen Leidensund Unrechtserfahrungen hart erkämpft worden und von daher zu wertvoll, als dass sie links liegen gelassen werden dürften und wir eine Aushöhlung tatenlos oder ohne entsprechende Reaktion hinnehmen dürften. ({0}) Wo stehen wir heute? Die Geltung der Menschenrechte ist heute in einem Ausmaß bedroht, das ich noch vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Nach dem 11. September und angesichts eines drohenden Irakkrieges haben wir berechtigte Verlustängste. Menschenrechtspolitik bewährt sich in dieser Lage nur dann, wenn sie strikt unparteiisch und unbestechlich ist. Der Antrag der Koalitionsfraktionen zur 59. Sitzung der Menschenrechtskommission kritisiert deshalb die Relativierung von Menschenrechten im Zuge des Antiterrorkampfs ebenso wie Menschenrechtsverletzungen aufgrund von politischer Instrumentalisierung und menschenrechtswidriger Anwendung von islamischem Schariarecht. Die Aufweichung des Folterverbots und die Auslieferung oder Abschiebung bei drohender Folter oder Todesstrafe sind verboten. Die Information über ein Massaker an kriegsgefangenen Taliban weist auf einen klaren Verstoß gegen geltendes Völkerrecht hin. In Teilen der Antiterrorkoalition ist die zunehmende Neigung festzustellen, doppelte Standards anzuwenden und Menschenrechte nur noch ihren eigenen Bürgerinnen und Bürgern sowie denen der Verbündeten zuzugestehen. All das bedroht das Fundament, auf dem demokratische Zivilgesellschaften und die Idee einer Weltvölkergemeinschaft bis heute gebaut haben. ({1}) Wenn ein Kampf der Kulturen als Kampf zwischen der muslimisch geprägten Welt und der südlichen Hemisphäre auf der einen Seite und den westlichen Industriestaaten auf der anderen Seite tatsächlich ausbricht, dann hat Osama Bin Laden gewonnen, dann hat er sein Ziel erreicht. Wenn unter dem Banner des Antiterrorkampfs Völkerrecht missachtet und gebrochen wird und wenn der Kampf der Kulturen herbeigebombt wird, dann macht sich die Antiterrorkoalition zum Erfüllungsgehilfen ihres Hauptfeindes und dann zerstört sie auf viele Jahre hinaus die Chance, die Quellen des Terrorismus auszutrocknen und dem Weltfrieden ein Stück näher zu kommen. ({2}) Wir müssen uns klar machen, was tatsächlich im Schatten eines möglichen Irakkriegs zu passieren droht. Alle Krisenherde, die nach dem 11. September vorrangig hätten angegangen werden müssen, bleiben ungelöst und drohen zurückzufallen und zu eskalieren: Im Nahen Osten wird sich eine neue Generation von Selbstmordattentätern auf den Weg machen und die „Homelandisierung“ der palästinensischen Gebiete wird weitergehen. Der Schrecken und das Leid der Zivilbevölkerung in Israel und in den palästinensischen Gebieten werden sich noch um eine schreckliche Stufe steigern. Die Kurdenproblematik wird mit neuer Gewalt wieder aufbrechen, wie es sich im Nordirak bereits jetzt andeutet. Der Wiederaufbau Afghanistans wird gefährdet. Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich als Vorbotin im Schlagschatten eines drohenden Irakkriegs bereits verschärft. Für Tschetschenien ist eine friedliche Lösung ferner als je zuvor. Als Vorsitzende des Menschrechtsausschusses muss ich mich fragen: Wie lässt sich ein Krieg im Irak rechtfertigen, für den es keinen zwingenden Grund gibt, der dort aber unfassbar viel menschliches, humanitäres Elend zusätzlich schaffen wird? Die Vereinten Nationen rechnen mit 600 000 bis 1,5 Millionen Flüchtlingen, einer weiteren Million Binnenflüchtlingen und mindestens 10 Millionen irakischen Menschen, die im Kriegsfall sofort vom Food-for-Oil-Programm abgeschnitten wären. Und was bedeutet ein „schockierender Schlag“, wie USVerteidigungsminister Rumsfeld ihn angedroht hat, für die irakische Zivilbevölkerung? Es gibt aber noch eine andere Frage, die mich genauso umtreibt: Was heißt diese Entwicklung für uns selbst? Was tun wir uns selbst an? Im Schatten des Antiterrorkampfs verrohen unsere Gesellschaften. Noch als wir Anfang dieses Jahres den Antrag zur Sitzung der Menschenrechtskommission in Genf erarbeitet haben, der betont, dass Folter unter keinen Umständen gerechtfertigt ist, hätte ich nie für möglich gehalten, dass wir mitten in Deutschland eine Folterdebatte führen müssten - ausgelöst ausgerechnet vom Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes. Das, was jetzt passiert, hat mit unserer Art, den Kampf gegen den Terror zu führen, zu tun und wirft uns im weltweiten Kampf gegen Folter unglaublich weit zurück. ({3}) Vor kurzem habe ich als Ausschussvorsitzende einen Brief an den russischen Botschafter wegen des Tschetschenienkonflikts geschrieben. Postwendend kam die Antwort des Botschafters zurück, er habe den Brief erhalten, aber er würde doch gerne wissen, was ich denn zur Menschenrechtslage in Deutschland zu sagen hätte. Diese Geschichte hat allerdings eine Fortsetzung, die ich Ihnen auch nicht verschweigen möchte: Herr Mackenroth hat sich ausdrücklich dafür entschuldigt, dass er diese unsägliche Debatte losgetreten hat. In einem Gespräch mit mir hat er zugesagt, dass er sich mit seinem Verband für eine Kampagne für Menschenrechte und gegen Folter einsetzen wird. Wenn diese Kampagne wirklich zustande kommt, dann ist sie ein Beitrag zu einer absolut notwendigen Aufgabe, die wir alle jetzt zu leisten haben. Jede Generation muss sich die Menschenrechte, die sie besitzt und genießt, wieder zu Eigen machen, sie erneut für alle befestigen und verteidigen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Rainer Funke, FDP-Fraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es steht nicht gut um die Sache der Menschenrechte. Die ganze Welt schaut wie gebannt auf den Kampf gegen den internationalen Terrorismus, auf Krieg oder Frieden im Irak, auf die Bedrohung durch den Islam-Fundamentalismus. Es ist verständlich, dass dabei die Menschenrechtssituation in nahezu vergessenen Regionen der Welt hinten herunterfällt und dass Länder wie Pakistan, Saudi-Arabien oder sogar Syrien für den Augenblick ausschließlich als Partner und Verbündete gesehen werden. Das ist verständlich, aber auch tragisch und vor allem falsch. ({0}) Die Menschen in Deutschland und in anderen westlichen Gesellschaften haben Angst um ihre Sicherheit. Sie fühlen sich bedroht und sie sind im Streben nach mehr Sicherheit kurzfristig bereit, Einschränkungen der Freiheitsrechte in Kauf zu nehmen, die das Wesen ihrer Gesellschaften ganz wesentlich ausmachen. Das ist vielleicht verständlich, aber brandgefährlich. Wer mit der Rechtsstaatlichkeit spielt, spielt mit dem Feuer. ({1}) Das gilt natürlich vor allem dann, wenn man in Deutschland mit Blick auf die Kriminalitätsbekämpfung jetzt sogar diskutiert, Foltermethoden in Ermittlungsverfahren einzuführen. Ich kann mich da nur dem anschließen, was meine Vorredner gesagt haben: Wehret den Anfängen! ({2}) Die Menschen in Deutschland beobachten genauso gebannt, wie Bundeskanzler Schröder im Windschatten des französischen Präsidenten Chirac eine neue Achse mit Moskau und Peking schmiedet, um den Krieg zu verhindern. Es ist irgendwie verständlich, dass Herr Schröder oder Herr Fischer dabei nicht gleichzeitig die weiter massiven Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien oder die Lage in Tibet und die immer zahlreicher werdenden Todesurteile in China in den Mittelpunkt rückt. Auch das ist verständlich, aber auch tragisch und mindestens genauso falsch. ({3}) Die Beachtung der Menschenrechte überall auf der Welt und der Einsatz für ihre universelle Durchsetzung sind und bleiben mittel- und langfristig das wichtigste Mittel, um Demokratie, Frieden und Stabilität international zu gewährleisten und dem internationalen Terrorismus seinen Nährboden zu entziehen, genauso wie vermeintlich drohenden „Kulturkämpfen“. Das darf nicht für kurzfristige Allianzen oder vermeintliche Sicherheitsgewinne aufs Spiel gesetzt werden. Deshalb ist es gut und wichtig, dass wir heute zur anstehenden 59. Tagung der Menschenrechtskommission in Genf diese Menschenrechtsdebatte im Deutschen Bundestag führen. Dieser Tagung kommt angesichts der weltpolitischen Großwetterlage eine ganz besondere Bedeutung zu. Wir können nur hoffen, dass ihr Verlauf und vor allem ihre Ergebnisse in den Medien breiten Niederschlag finden. Es muss natürlich vor allem darauf gedrängt werden, dass die Ergebnisse gut und möglichst konkret sein werden. Die Menschenrechtskommission spielt über ihre Länder- und Themenresolutionen als Hüterin der Menschenrechte weltweit eine entscheidende Rolle. Wäre das nicht so, wären die Bemühungen nicht so groß, unliebsame Resolutionen zu verhindern. Diese Bemühungen sind der eigentliche Adelsschlag für die MRK in Genf. Ob es in diesem Zusammenhang eine glückliche Entscheidung war, in diesem Jahr mit Billigung der europäischen Länder ausgerechnet den Libyern den Vorsitz der MRK zu übertragen, wage ich an dieser Stelle zu bezweifeln. ({4}) Zu Tschetschenien ist im letzten Jahr keine Resolution verabschiedet worden. Auch in diesem Jahr ist die Chance leider groß, dass entsprechende Versuche scheitern werden. Trotzdem: Auch das Scheitern einer entsprechenden Resolution würde das Licht der Öffentlichkeit auf die mehr als bedenkliche Situation vor Ort lenken. Ich freue mich deshalb, dass es auf Anstoß der FDPFraktion im Ausschuss eine klare Mehrheit für eine entsprechende Beschlussempfehlung gegeben hat und dass sie heute mit Zustimmung aller Fraktionen verabschiedet werden kann. Die Situation in Tschetschenien ist bis heute durch außergerichtliche Hinrichtungen, Folter, Verschleppungen, Säuberungsaktionen und Vergewaltigungen gekennzeichnet. Sie mögen mir verzeihen: Unter „Kampf gegen den internationalen Terrorismus“ subsumiere ich als Jurist das nicht. Ich danke dem Kollegen Bindig sehr für seinen Einsatz, den er sowohl in Tschetschenien vor Ort als auch in Moskau in dieser Sache geleistet hat. ({5}) In diesem interfraktionellen Tschetschenien-Antrag des Menschenrechtsausschusses fordert der Bundestag die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass in der MRK eine Resolution oder zumindest ein Chairman’s Statement zu Tschetschenien auf die Tagesordnung kommt. Ich hoffe sehr, dass die Schmiede der deutschrussischen Achse im Bundeskanzleramt und im Auswärtigen Amt dies zur Kenntnis nehmen, entsprechend handeln und beim russischen Präsidenten Putin endlich Besserung einfordern. Ich hoffe, dass wir in der Lage sein werden, in Genf auch einen China-Resolutionsentwurf zur Sprache zu bringen. Dies könnte mit Hilfe der viel gescholtenen USA gelingen. Ob es dazu kommt, ist allerdings noch zweifelhaft. Genauso wichtig wie die Länderarbeit ist die Themenarbeit der MRK. Am Beispiel der Kinderrechte verweise ich hier nur auf die Kindersoldaten in vielen Ländern, die Kinderarbeit sowie den Schutz der Kinder vor Missbrauch auch und gerade in Ländern der so genannten Ersten Welt. Kinderrechte sind Menschenrechte; wir müssen die Rechte der Kleinsten und Schwächsten auch in unserer Gesellschaft stärker schützen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist überschritten.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren, die Regierungsfraktionen haben den Antrag „Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Politik“ eingebracht. Über manches Detail und über die manchmal doch übertriebene Rhetorik dieses Antrags haben wir uns im Ausschuss gestritten; vieles findet aber unsere uneingeschränkte Zustimmung. Vor allem gilt dies für den Titel des Antrags. Leitlinie der Politik sollten die Menschenrechte sein: im weltweiten Zusammenleben der Völker, für das Handeln unserer Regierung und auch für die in Zeiten wachsender Unsicherheit nicht ganz einfache Gestaltung unserer Innenpolitik. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Christoph Strässer, SPD-Fraktion.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als vor einiger Zeit beschlossen wurde, auch in diesem Frühjahr eine Menschenrechtsdebatte in diesem Hause zu führen, war wahrscheinlich uns allen nicht klar, dass diese Debatte geradezu eine makabre Aktualität auch für die innenpolitische Entwicklung in unserem eigenen Land gewinnen würde. Die Diskussion über die Zulässigkeit von Foltermaßnahmen zur Erzwingung von Aussagen Beschuldigter im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ist hier schon angesprochen worden. Ich bin sehr froh darüber - ich denke, dies gilt für alle - und hoffe, dass von dieser Debatte ein klares politisches Signal ausgeht und dieses Hohe Haus einmütig jede Form von Folter und jede Diskussion über die Einschränkung des Folterverbots entschieden verurteilt. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus diesem Grunde ist es für uns wichtig, dass diese Debatte heute stattfindet. Auch in unserer eigenen Gesellschaft scheint es nötig zu sein, die Menschenrechte regelmäßig ins Bewusstsein zu rufen. Wir müssen uns ständig in Erinnerung rufen, dass wir auf die Umsetzung von Grund- und Menschenrechten auch in unserem eigenen Land achten müssen. Anderenfalls laufen wir Gefahr, Menschenrechte in guten Zeiten als selbstverständlich und in schlechten Zeiten als Luxus anzusehen. ({1}) Dieser Gefahr müssen wir beharrlich vorbeugen, denn wie wir aus der Geschichte und leider auch aus dem aktuellen Zeitgeschehen wissen, sind Menschenrechte weder selbstverständlich noch Luxus. Sie sind vielmehr die Basis für unsere Gesellschaft: für das Zusammenleben in unserem Volk genauso wie für unser Zusammenleben mit anderen Völkern und Nationen. Sie sind die Grundlage für unseren rechtsstaatlich verfassten demokratischen Staat und damit die Legitimation jeglichen Handelns von Legislative und Exekutive, gleich welcher Couleur. Wir dürfen sie unter keinen Umständen und keinen Interessen opfern. ({2}) Die Koalitionsfraktionen tragen diesem Grundgedanken durch Vorlage des Antrages „Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Politik“ Rechnung. Nun haben wir uns zwar viel Mühe gegeben, aber an der einen oder anderen Stelle die Dinge möglicherweise auch nicht so beurteilt wie Sie, Herr Kollege Gröhe, als Sie es gerügt haben. ({3}) Weil Sie die möglicherweise ungleichgewichtige Berücksichtigung von Rechten angesprochen haben, will ich nur sagen: Wir haben zum Teil den Eindruck, dass bestimmte ökonomische und soziale Grundrechte in der Vergangenheit nicht den Stellenwert eingenommen haben, den sie verdienen. Deshalb haben wir an dieser Stelle einen berechtigten politischen Schwerpunkt gesetzt. Ich hoffe, dass das in absehbarer Zeit vielleicht nicht mehr nötig sein wird. Das war der Grund dafür, dass wir das an dieser Stelle so getan haben. Wir haben des Weiteren versucht, mit diesem Antrag die Menschenrechtspolitik, wie sie in dieser Legislaturperiode auf den Weg gebracht werden soll, komprimiert darzustellen. Wir haben natürlich auch nicht vergessen, dass wir noch das eine oder andere Defizit aufzuarbeiten haben. Dazu werde ich gleich ganz kurz noch etwas sagen. Der Antrag fußt in wesentlichen Bereichen auf den Feststellungen im 6. Bericht der Bundesregierung über die Menschenrechtspolitik. Ich möchte jedenfalls für uns sagen, dass wir uns für die Vorlage dieses ausführlichen Kompendiums bei der Bundesregierung ganz ausdrücklich bedanken, weil es eine gute Arbeitsgrundlage für die Menschenrechtspolitik darstellt. ({4}) Ich habe es schon gesagt: Es gibt Defizite, an deren Beseitigung noch intensiv zu arbeiten ist. Ich denke zum Beispiel daran, dass - ich freue mich, Herr Kollege Funke, dass auch Sie die Kinderrechte angesprochen haben - noch immer nicht der Vorbehalt Deutschlands zu Art. 22 der UN-Kinderrechtskonvention aufgehoben wurde, der nun seit immerhin zehn Jahren existiert. Ich halte es allerdings für einen außerordentlichen Fortschritt, dass sich die Bundesregierung den Forderungen dieses Hauses aus der 14. Legislaturperiode wie auch der vielen Nichtregierungsorganisationen angeschlossen hat und endlich die Aufhebung dieses Vorbehalts anstrebt. ({5}) Wer die besondere Schutzbedürftigkeit unbegleiteter ausländischer Kinder anerkennt - das tun wir -, der darf sich einer Aufhebung dieses Vorbehalts nicht widersetzen. Ich appelliere von dieser Stelle aus ganz klar und deutlich an die Bundesländer, diesen Schritt endlich konstruktiv zu begleiten, damit wir auch insofern den Standards entsprechen. ({6}) Am Dienstag dieser Woche hat eine Institution formal ihre Arbeit aufgenommen, deren Einrichtung einen Meilenstein in der internationalen Umsetzung menschenrechtlicher Grundsätze bedeuten kann. Ich meine den Internationalen Strafgerichtshof, der nach der Vereidigung der Richterinnen und Richter am 11. März in Den Haag seine Arbeit aufnehmen kann. Das ist deshalb ein Meilenstein für die Menschenrechtspolitik, weil, wie es zum Beispiel in der „Berliner Zeitung“ vom 10. März zu lesen war, ein Menschheitstraum sich zu erfüllen beginnt, der Traum, die schlimmsten Verbrecher, die womöglich einen ganzen Staat zur Verübung ihrer Taten missbrauchen, zur Rechenschaft zu ziehen. ({7}) Es ist gut, dass sich diese Bundesregierung und auch vorherige Bundesregierungen so vehement für die Etablierung dieser Institution eingesetzt haben. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass das Recht des Stärkeren vor die Stärke des Rechts gesetzt wird. ({8}) Wir akzeptieren nicht, wenn bestimmte Staaten von anderen die Einhaltung von Standards verlangen, ohne diese für sich selber zu akzeptieren. ({9}) Wir akzeptieren auch nicht, dass Entscheidungen der Staatengemeinschaft nur dann akzeptiert werden, wenn sie dem eigenen politischen Kalkül nicht widersprechen. ({10}) Dies ist das Gegenteil einer Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, für die sich die Bundesregierung in dankenswerter Weise so nachdrücklich einsetzt. Es ist mehr als bedauerlich, dass die USA als einzig verbliebene Weltmacht eine Beteiligung ablehnen und sich auf diese Weise, wie ich finde, politisch isolieren; wir sehen das bei anderen internationalen Abkommen leider auch. Ich jedenfalls wünsche den nunmehr eingesetzten Richterinnen und Richtern und ganz besonders Herrn Kaul für die Erfüllung ihrer Aufgabe alles erdenklich Gute. Lassen Sie sich nicht von dem so genannten Invasionsgesetz für die Niederlande beeindrucken, das die Regierung der USA ermächtigen soll, amerikanische Staatsangehörige mit Gewalt aus dem Zugriff des Gerichts zu befreien! Wer so mit Rechten umgeht, hat, denke ich, sein Recht verspielt, anderen diese Rechte vorzuhalten. ({11}) Die Tatsache, dass sich der 6. Menschenrechtsbericht nicht nur auf die auswärtige Politik erstreckt, gibt ihm eine neue Bedeutung. Wir wollen die Menschenrechtspolitik weiter stärken und Kohärenz zwischen den einzelnen Politikbereichen herstellen; dazu dient unser Antrag. Wir halten es für unverzichtbar, dass hierfür im 7. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag ein nationaler Aktionsplan in Form eines eigenständigen Kapitels aufgenommen wird, in dem offene Fragen der Umsetzung der Menschenrechte und Strategien zu ihrer Lösung aufgelistet werden. Diese Umsetzung beruht auf einer Empfehlung der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993. Auch diesen Empfehlungen und Beschlüssen der internationalen Staatengemeinschaft sollten wir endlich nachkommen, so wie es der Antrag vorsieht. Ich hoffe, dass die Bundesregierung das tut. ({12}) Vor diesem Hintergrund begrüßen wir, dass die Bundesregierung die Flüchtlings- und Migrationspolitik an hohen menschenrechtlichen Standards ausrichten will. Wir wollen dies nicht nur auf internationaler und europäischer, sondern natürlich auch auf nationaler Ebene umsetzen. Wir wollen die Harmonisierung der europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik unter dem Aspekt der Menschenrechte und der Verwirklichung der Menschenwürde auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention betreiben. Angesichts der heute Vormittag geführten Debatte betone ich ausdrücklich: Dies schließt unserer Ansicht nach - das fordern wir in unserem Antrag - die Anerkennung geschlechtsspezifischer und nicht staatlicher Verfolgungsgründe ein. ({13}) In unserem Antrag fordern wir, die Zeichnung des Zusatzprotokolls zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe zu prüfen, so wie es von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im vergangenen Jahr in der 57. Sitzungsperiode angenommen wurde. Diese Forderung hat durch die fatalen Diskussionen in unserem Land eine nicht vorhersehbare Aktualität gewonnen, auf die wir alle gerne verzichtet hätten. ({14}) Die Debatte um die Zulässigkeit von Folter muss schnell beendet werden, und zwar nicht nur juristisch, sondern vor allem auch politisch. Die politische Botschaft muss klar sein: Alle Rechtsnormen, Art. 1 unseres Grundgesetzes, Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, enthalten ein Folterverbot ohne Wenn und Aber. Dies sind nicht nur rechtliche Normen, sondern auch Ergebnis eines Politikverständnisses, nach dem die Wahrung der Würde des Menschen das höchste Gut ist, das es umfassend zu schützen gilt. Es gibt nicht „ein bisschen Folter“. Bei den politisch Verantwortlichen darf es kein Verständnis für solche Maßnahmen geben, wenn wir nicht einen Dammbruch erleben wollen, dessen Folgen wir nicht mehr aufhalten können. Dies verstehe ich als einen Appell an uns selbst. ({15}) Als jemand, der neu in diesem Parlament ist und der an anderen Stellen Dinge erlebt hat, die er sich so nicht vorgestellt hat, sage ich: Die Zusammenarbeit im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe könnte ein Beispiel für das Verfahren bei Auseinandersetzungen auch an anderer Stelle in diesem Hohen Hause sein. Ich freue mich außerordentlich, dass ich in diesem Ausschuss mitarbeiten darf. Denn dort macht man parlamentarische Erfahrungen, die sich von dem unterscheiden, was man in anderen Bereichen erlebt. Ich wünsche mir, wir könnten diese Art der Zusammenarbeit auf alle politischen Diskussionen und Debatten übertragen. ({16}) Ich glaube, das würde zu mehr Streitkultur und zu mehr politischer Kultur in diesem Hohen Hause führen. Ich wünsche mir, dass dies stattfindet, und bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Strässer, ich gratuliere Ihnen im Namen dieses Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Melanie Oßwald von der CDU/CSU-Fraktion.

Melanie Oßwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003641, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, heute im Plenum meine erste Rede halten zu können. Leider bietet das Thema, über das ich sprechen werde, keinen Anlass zur Freude. In den Vorjahren scheiterte man in der EU-Menschenrechtskommission immer wieder daran, das Thema des Tschetschenienkonfliktes ernsthaft zu behandeln; das haben wir heute schon öfter gehört. Der Handlungsbedarf ist jedoch dringender denn je. Deshalb fordern wir in unserem Antrag von der Bundesregierung: Deutschland muss in Abstimmung mit den EU-Staaten und den anderen Ländern der westlichen Staatengruppe gemeinsam darauf hinwirken, dass in einer Resolution die Menschenrechtsverletzungen von beiden Seiten im Tschetschenienkrieg thematisiert werden und die russische Regierung zu einer ehrlichen politischen Lösung mit internationaler Hilfe gedrängt wird. ({0}) Wie Sie vielleicht wissen, habe ich vor zwei Wochen eine Reise nach Moskau unternommen, um mich vor Ort über den aktuellen Stand der Tschetschenienproblematik zu informieren. Nach wie vor stehen sich Befürworter und Gegner der gegenwärtigen russischen Politik weitestgehend unversöhnlich gegenüber. Trotz aller Bemühungen, wachsende Stabilität und Normalität in Tschetschenien zu suggerieren, vermittelt die aktuelle Lageentwicklung ein komplett anderes Bild. Tschetschenien steckt nach wie vor in der Sackgasse eines von beiden Seiten brutal geführten Krieges, in dem Moskau unverändert auf seiner Macht besteht und sein Vorgehen als Teil des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus rechtfertigt. Daher ist die Empörung unter russischen Menschenrechtsorganisationen sehr verständlich. Ein Sprecher der Menschenrechtsorganisation Memorial sagte zu Schröders Tschetschenienpolitik: Entweder ist Schröder ein Zyniker oder er zeichnet sich durch Inkompetenz aus. ({1}) Herr Schröder ist Sozialdemokrat. Ich frage mich, was an seiner Haltung zur Tschetschenienpolitik sozial und demokratisch sein soll. ({2}) Vonseiten der Bundesregierung ist es dringend notwendig, ihre an sich guten Ansätze in ihrem 6. Bericht über ihre Menschenrechtspolitik auch tatsächlich zu verfolgen. Es muss nach wie vor ein fundiertes Konzept zum Tschetschenienkonflikt erarbeitet werden. Denn die Tschetschenienpolitik hat sich von Herbst 1999 bis heute im Kern nicht verändert. ({3}) Obwohl Bundesminister Fischer immer wieder beteuert, dieses Thema bei russischen Vertretern anzusprechen, wurde dies offensichtlich nicht in der erforderlichen Härte unternommen. Ich habe auch noch nie von einer Erfolgsbilanz gehört. Wahrscheinlich gibt es nichts zu berichten. Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe hat einen interfraktionellen Antrag zum Thema „Menschenrechte in Tschetschenien nicht vergessen“ erarbeitet. Ich habe mich - das wurde heute schon öfter erwähnt - über die Zusammenarbeit gefreut. Herr Bindig, ich finde es schade, dass wir uns zwar in großen Teilen einig sind und auch gemeinsam etwas erreichen wollen, dass Sie sich aber manchmal mit Ihrer Partei schwer tun, klare und harte Forderungen zum Konflikt zu formulieren. ({4}) Trotz allem konnten wir einige Forderungen durchsetzen. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass nicht nur das Mandat der OSZE für Tschetschenien verlängert wird. Vielmehr sollte Deutschland Russland dazu drängen, solche Hilfe auch vonseiten der Vereinten Nationen und des Europarates zu akzeptieren und nicht blind zu kritisieren. Menschenrechtsverletzungen müssen konsequent aufgeklärt, Täter bestraft und eine effektive Verwaltung und Justiz geschaffen, die humanitäre Situation der tschetschenischen Bevölkerung muss verbessert und der Wiederaufbau des Landes vorangetrieben werden. Russland muss den Boden bereiten, damit humanitäre Hilfsorganisationen wieder sicher vor Ort arbeiten können. Vielleicht kennen Sie das Beispiel Arjan Erkel. Ich habe Ihnen das entsprechende Flugblatt aus Moskau mitgebracht. Er ist Missionschef bei „Ärzte ohne Grenzen“ im Nordkaukasus und wurde vor einem halben Jahr von Unbekannten entführt. Bisher gibt es von ihm kein bewiesenes Lebenszeichen. Ich sage Ihnen: So kann es doch nicht weitergehen. ({5}) Neueste Meldungen über Terroranschläge in Tschetschenien machen zusätzlich deutlich, dass Tschetschenien keinesfalls, wie in der russischen Öffentlichkeit oft behauptet wird, weitgehend befriedet ist und dass dort in genau zehn Tagen ein Verfassungsreferendum durchgeführt werden kann. Ich frage Sie: Ist ein derartiges Referendum überhaupt demokratisch, wenn ein großer Teil der Bevölkerung, der sich als Flüchtlinge in Russland befindet und dort übrigens massiv rassistisch verfolgt wird - dies hat auch die Menschenrechtsorganisation Memorial bestätigt -, keine Möglichkeit hat, ohne Lebensgefahr zurückzukehren und mitzuwählen, während in Tschetschenien stationierte Soldaten ein Wahlrecht haben? Es bestehen erhebliche Zweifel, ob angesichts der derzeitigen Zuspitzung eine derartige politische Lösung ohne internationale Hilfe überhaupt möglich ist. Es wundert mich nicht, dass internationale Beobachter - um es nicht zu legitimieren - eine Begleitung des Referendums verweigern. Selbstverständlich hat die Russische Föderation das Recht, Terrorismus mit rechtsstaatlichen Mitteln zu bekämpfen. Auch hat sie nach der verbrecherischen Geiselnahme Ende Oktober Anspruch auf unsere Solidarität. Die tschetschenischen Kämpfer sind aber nicht mit den Terroristen vom 11. September 2001 zu vergleichen, da sie für komplett andere Ziele kämpfen. Der Westen muss alles vermeiden, was von Russland als Blankoscheck für das militärische Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung in der Kaukasusrepublik verstanden werden kann. Morde, Folter und Erpressungen beider Konfliktparteien in Tschetschenien, einem Teil Europas, sind völlig inakzeptabel und verlangen den klaren Widerspruch unserer Völkergemeinschaft. Der Weg von der Leisetreterei zur Komplizenschaft ist nicht weit. Massive Einschränkungen der Pressefreiheit in Russland zeigen zudem, dass die russische Tschetschenienpolitik auch die demokratische Entwicklung in Russland dramatisch beeinflusst. Die Möglichkeit, nunmehr nahezu jede kritische Berichterstattung zum Kaukasuskonflikt in die Nähe des Terrorismus zu rücken und strafrechtlich zu verfolgen, ist mit unserem Verständnis von Meinungsfreiheit absolut unvereinbar. ({6}) Es ist wichtig, dass Deutschland und seine transatlantischen und europäischen Partner ihre engen Beziehungen zum russischen Präsidenten und zur russischen Regierung nutzen müssen, um gerade jetzt auf die Einhaltung der Menschenrechte im Tschetschenienkonflikt zu drängen. Gerade weil der Bundeskanzler ein überdurchschnittlich gutes Freundschaftsverhältnis zum russischen Präsidenten pflegt, wie er immer behauptet, verlange ich von ihm, sich endlich für eine aufrichtige politische Lösung des Konfliktes in Tschetschenien einzusetzen. Die Gewalt an der tschetschenischen Zivilbevölkerung muss unverzüglich gestoppt werden. Es muss an Putin appelliert werden, bei der Suche nach einer politischen Lösung für den Tschetschenienkonflikt konsequent menschenrechtliche und humanitäre Standards zu beachten. Dazu möchte ich Sie hiermit auffordern. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Oßwald, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) Das Wort hat jetzt die Staatsministerin Kerstin Müller.

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Meine Damen und Herren! Menschenrechtspolitik ist für uns Querschnittspolitik. Von dieser Maxime geht der vorliegende 6. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung aus. Das bedeutet, dass Menschenrechtspolitik sich in allen Politikbereichen widerspiegeln muss. Sie berührt Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik genauso wie solche der Wirtschafts- und Entwicklungspolitik. Gerade weil die Bundesregierung einen umfassenden menschenrechtlichen Ansatz verfolgt, gehört dazu auch der Einsatz für Freiheits- und Bürgerrechte im eigenen Land und in Europa. Das will ich hier sehr deutlich sagen. Wir sind nur dann glaubwürdig mit diesem umfassenden Ansatz, wenn wir auch kritisch fragen: Wie halten wir es bei uns mit den Menschenrechten? Wie gehen wir hier mit Flüchtlingen und Minderheiten um? Dem stellt sich der 6. Menschenrechtsbericht und wir werden in den 7. Menschenrechtsbericht einen nationalen Aktionsplan aufnehmen, wie es der Ausschuss beschlossen hat. ({0}) Meine Damen und Herren, viele von Ihnen haben es erwähnt: Vor zwei Tagen wurde in Den Haag der Internationale Strafgerichtshof feierlich eingeweiht. Das ist ein historischer Meilenstein in der Geschichte des Völkerrechts. Herr Gröhe, vielleicht können wir uns auf Folgendes einigen: Deutschland, das heißt wir und auch die Vorgängerregierung, hat sich von Anfang an sehr intensiv dafür eingesetzt, dass es diesen Gerichtshof gibt. Wir haben nie einen Zweifel daran gelassen: In einer globalisierten Welt muss es doch gerade darum gehen, die Herrschaft des Rechts zu stärken und einer Politik entgegenzutreten, die auf das Recht des Stärkeren setzt. Das wird die zentrale Aufgabe dieses Gerichtshofes sein. ({1}) Die wirkliche Arbeit beginnt erst und deshalb kommt es darauf an, die Funktionsfähigkeit und die Effektivität dieses Gerichtshofes zu stärken. Leider gibt es noch immer Staaten, die dem Gerichtshof ablehnend oder kritisch gegenüberstehen. Deshalb gilt: Nur mit einer möglichst universellen Unterstützung durch die Staatengemeinschaft kann die Arbeit des Gerichtshofs dauerhaft wirklich ein Erfolg werden. Daher möchte auch ich hier noch einmal ganz klar an alle appellieren, die noch zögern: Unterstützen Sie die Arbeit des Gerichtshofes. Er wird für den Schutz der Menschenrechte in der Zukunft ganz wichtig werden. ({2}) In der kommenden Woche beginnt die 59. Sitzung der VN-Menschenrechtskommission. Wo stehen wir am Vorabend? Natürlich macht uns die Lage der Menschenrechte in vielen Staaten große Sorgen. Gewalt, Unterdrückung und Not sind weiterhin weltweit an der Tagesordnung. Vielerorts werden die Menschenrechte massiv beeinträchtigt, in bewaffneten Konflikten, durch Folter und Todesstrafe, durch die Verletzung der Rechte von Frauen, Kindern und Minderheiten und durch die Vorenthaltung elementarer sozialer und bürgerlicher Grundrechte. Doch es gibt auch Hoffnung, zum Beispiel in Afghanistan. Zu unseren Prioritäten zählen auch hier unter anderem Menschen- und Frauenrechte. Das hat Außenminister Fischer in der letzten Woche gegenüber seinem afghanischen Amtskollegen noch einmal sehr deutlich gemacht. Ich sehe zum Beispiel ein positives Signal darin, dass die afghanische Regierung am 5. März das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, das CEDAW, das heute auch hier im Hohen Hause diskutiert wurde, ratifiziert hat. Das ist ein positives Signal. Damit verpflichtet sich die afghanische Regierung, den Grundsatz der Gleichberechtigung in die Verfassung aufzunehmen und ihn auch umzusetzen. Wir werden die afghanische Regierung bei dieser Umsetzung unterstützen. ({3}) Mit besonderer Sorge erfüllt uns der nun schon zehn Jahre andauernde Konflikt in Tschetschenien. Es ist klar: Es muss eine politische Lösung geben. Diese mahnen wir an. Dafür setzen wir uns ein. Das haben die meisten meiner Vorredner - fast alle haben dieses Thema angesprochen - zu Recht gefordert. In zehn Tagen findet in Tschetschenien das Referendum über den Verfassungsentwurf statt. Das könnte vielleicht ein erster Schritt hin zu einer politischen Lösung sein. Wir wünschen uns, auch die Bundesregierung, dass die OSZE und der Europarat bei dieser Volksabstimmung angemessen präsent sein werden, und setzen uns dafür ein, dass die OSZE ihre Arbeit in Tschetschenien fortsetzen kann. Das ist sehr wichtig. Das werden wir auf allen Ebenen deutlich machen. ({4}) Klar ist: Terroristische Anschläge wie die in Moskau und Grosny sind ohne Wenn und Aber zu verurteilen. Dennoch muss in diesen Fällen wie auch generell gelten: Der Schutz der Menschenrechte und die Verhältnismäßigkeit der Mittel müssen auch und gerade beim Kampf gegen den Terrorismus gewahrt bleiben. Meine Damen und Herren von der Opposition, das haben die Bundesregierung und der Bundeskanzler deutlich gemacht und werden es auch weiterhin immer wieder deutlich machen, öffentlich, aber auch in vielen einzelnen bilateralen Gesprächen. Es darf keinen Antiterrorrabatt geben. Das hat Außenminister Fischer immer wieder sehr deutlich gemacht. Das bleibt unsere Maxime in der Tschetschenienpolitik. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, nur andere Staaten hätten Hausaufgaben zu machen. In Deutschland wurde unlängst die Auffassung vertreten, dass unter gewissen Umständen eine Lockerung des Folterverbots in Kauf genommen werden könne. Ich möchte hier in aller Deutlichkeit klarstellen: Nach der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und nach den Übereinkommen der VN ist der Schutz vor Folter absolut und darf unter keinen Umständen, auch nicht im Falle eines öffentlichen Notstandes, relativiert werden. ({5}) Das macht auch unsere Verfassung deutlich, ein Blick hätte genügt. Nach Art. 1 des Grundgesetzes ist die Menschenwürde unantastbar. Und Art. 1 gilt überall, auch bei Verhören. Das hat der Bundesinnenminister heute noch einmal zu Recht gesagt. Deshalb hoffe ich, dass diese Debatte ein für alle Mal beendet ist. ({6}) Ich komme zum Schluss. Der vorliegende Koalitionsantrag „Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Politik“ fasst die aktuellen und zukünftigen Aufgaben der Menschenrechtspolitik eindringlich zusammen. Ich kann Ihnen versichern: Die Bundesregierung ist und bleibt den dort dargelegten Grundsätzen verpflichtet. Konsequente Menschenrechtspolitik ist und bleibt die Leitlinie unseres Handelns. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Holger Haibach von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Staatsministerin, wenn Menschenrechte eine Querschnittsaufgabe sein sollen, dann frage ich mich, wo die Vertreter der Bundesregierung bei dieser Debatte sind. Ich sehe nur die Vertreter von zwei Ministerien. Von den restlichen Ministerien, die das Thema Menschenrechte in hohem Maße angeht, wie zum Beispiel vom Innenministerium oder dem Bundeskanzleramt, ist niemand zu sehen. Das finde ich beachtlich. ({0}) Es tut mir Leid, dass ich auch darüber hinaus Öl ins Feuer gießen muss. Aber die heutige Menschenrechtsdebatte hat sehr deutlich eine entscheidende Schwachstelle in der Menschenrechtspolitik der rot-grünen Bundesregierung aufgezeigt. Bei der Beobachtung von und der Reaktion auf Menschenrechtsverletzungen, die von staatlicher Seite motiviert, begünstigt oder zumindest geduldet werden, geht man ganz offensichtlich sehr einseitig vor. Das werde ich an drei Beispielen deutlich machen. Gestern hat Frau Staatsministerin Müller im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe in Bezug auf den Irak ausgeführt, die Menschenrechtslage dort sei besorgniserregend. Dieser Aussage ist in ihrer Deutlichkeit nichts hinzuzufügen. Bedauerlich ist allerdings, dass sich solch eindeutige Aussagen nicht im Reden und Handeln der Regierungskoalition niederschlagen. ({1}) Es ist das Recht von Vertretern der Koalition, sich als Bewahrer des Friedens und der Menschenrechte in der Welt zu präsentieren und dafür an Demonstrationen teilzunehmen. Ob das klug ist, darf mit gutem Recht bezweifelt werden. ({2}) Das, was Sie mit Ihrem Antrag „Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Politik“ vom 3. Dezember und Ihrem Antrag zur heutigen Debatte getan haben, geht aber nicht. ({3}) Einerseits haben Sie die Bundesregierung für ihren Einsatz dafür gelobt, dass sie auf die Partner der Antiterrorkoalition dahin gehend einwirkt - ich zitiere jetzt Ihren Antrag -, „dass menschenrechtliche Normen und das humanitäre Völkerrecht in einem Antiterrorkampf beachtet werden“. Andererseits erwähnen Sie in diesem Antrag die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, die seit Jahren in den Berichten von Amnesty International und den Human Rights Watch Reports immer wieder angeprangert werden, mit keinem Wort. In Ihrem heutigen Antrag wird der Irak immerhin an zwei Stellen erwähnt und an einer Stelle sogar eindeutig verurteilt. Dass Sie anderen Ländern, wie Russland, China, Kolumbien oder Simbabwe, ganze Absätze widmen - übrigens völlig zu Recht -, zeigt doch, dass es mit einer ausgewogenen Betrachtungsweise offenbar nicht ganz so weit her ist. ({4}) Im Übrigen gibt auch der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung leider wenig Anlass zur Hoffnung. ({5}) In diesem immerhin über 350 Seiten starken Werk findet der Irak ganze dreimal Erwähnung. Ich denke, es ist richtig und wichtig, gerade an dieser Stelle das Bild der öffentlichen Diskussion in Deutschland einmal zurechtzurücken. Sie befassen sich in Ihrem Antrag lange mit der Frage, was im Kampf gegen den Terror sein darf und was nicht. Damit bin ich vollkommen einverstanden. Sie dürfen bei aller berechtigten oder unberechtigten Kritik an der amerikanischen Haltung aber bitte nie vergessen, dass es doch Saddam Hussein und nicht George Bush ist, der die Menschenrechte seit Jahrzehnten mit Füßen tritt, seine Bevölkerung unterdrückt und seine Nachbarn mit Krieg bedroht und überzieht. ({6}) Es würde auch von einer verantwortungsvollen Politik der Bundesregierung zeugen, das bei passender Gelegenheit deutlich zu machen. Leider kann ich nicht feststellen, dass dies in ausreichendem Maße geschieht. ({7}) Frau Kollegin Nickels, noch ein Wort zum „Food for Oil“-Programm: Wenn man sich die Berichte der NGOs anschaut, erkennt man, dass es zumindest eine sehr große Unstimmigkeit darüber gibt, ob dieses Programm so hilfreich war, wie Sie es hier dargestellt haben. ({8}) Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Beispiel, das ich ansprechen möchte, dem Iran. Es ist richtig, dass die vom iranischen Parlament und auch von Staatspräsident Khatami getragene Politik hoffnungsvolle Ansätze zeigt. Es ist auch richtig, diese Politik zu fördern und die sie tragenden Kräfte zu stabilisieren. Dies muss besonders gegen den Einfluss des Wächterrates geschehen, der nun wirklich jeden Versuch, Menschlichkeit und Menschenrechte im Iran voranzubringen, unterminiert. Es ist weiterhin richtig, dies im Rahmen einer abgestimmten europäischen Haltung zu tun. Angesichts der vielfältigen Menschenrechtsverletzungen darf dies aber nicht dazu führen, dass wir die Bundesregierung aus ihrer Verantwortung entlassen, auch auf bilateraler Ebene alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um eine Verbesserung der Situation im Iran zu erreichen. Auch hier vermisse ich noch entschiedenere Anstrengungen. ({9}) Die Frage einer europäischen Haltung bringt mich zum letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. In Ihrem Antrag vom 3. Dezember mahnen Sie - ich zitiere nochmals - „ausdrücklich die Fortführung der Rechtsstaatsdialoge mit der Volksrepublik China und der Türkei“ an. Ein Hinweis auf die Türkei fehlt in Ihrem heutigen Antrag völlig. Sollten Ihnen hier etwa der Bundeskanzler oder der Bundesaußenminister die Feder geführt bzw. gerade nicht geführt haben, ({10}) weil ein türkischer EU-Beitritt ja offensichtlich zu den außenpolitischen Lieblingsprojekten dieser beiden Herren zählt? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. ({11}) Es ist ja nicht zu bestreiten, dass der türkische Staat zumindest auf der Verfassungsebene ganz entscheidende Fortschritte im Bereich der Menschenrechte getan hat. Es gibt aber doch genauso unbestreitbar immer noch einen entscheidenden Unterschied zwischen der Verfassungsnorm und der Realität in der Türkei. Die Beispiele, die wir in letzter Zeit dafür erleben konnten, Prozesse gegen die Vertreter politischer Stiftungen, die Tatsache, dass religiöse Minderheiten immer noch an ihrer Religionsausübung gehindert werden, die problematische Einrichtung der Gefängnisse des so genannten F-Typs und die Unterdrückung von Minderheiten insgesamt, zeigen doch sehr deutlich, wo das Problem liegt. Es gäbe noch vieles mehr zu nennen. Bei allem Interesse an einer weiteren Einbindung der Türkei in die Europäische Union darf auch hier nicht nach dem VogelStrauß-Prinzip vorgegangen werden, das ja lautet: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. ({12}) Die drei genannten Beispiele machen deutlich, dass wir seitens der CDU/CSU-Fraktion im Vorfeld der Tagung der UN-Menschenrechtskommission mehr von der Bundesregierung erwarten, als der vorliegende Antrag der Koalition zu bieten hat. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie bei der bevorstehenden Tagung die von uns benannten Punkte mit der gleichen Deutlichkeit und Offenheit vertritt, wie sie die Koalition aufgeführt hat. Der vorliegende Antrag lässt allerdings befürchten, dass es sozusagen zweierlei Menschenrechte gibt: solche, die aus übergeordneten Gründen angesprochen werden dürfen, und solche, die bedauerlicherweise gerade nicht passend sind. Auch für die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland gilt: Die Menschenrechte sind unteilbar. Nochmals: Der Antrag der Koalition ist aus unserer Sicht zu ungenau und die dadurch unterstützte Politik zu einseitig. Deshalb werden wir ihn ablehnen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Haibach, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/549 mit dem Titel: 59. Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der CDU/CSUFraktion und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zum 6. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen, Drucksachen 14/9323 und 15/397. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Berichts der Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen, die aus zwei Teilen besteht. Wer stimmt für die Entschließung unter Nr. 1 der Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Wer stimmt für die Entschließung unter Nr. 2 der Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 7 c: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 15/495 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/ Die Grünen mit dem Titel: Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Politik. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/136 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von CDU/CSU und Enthaltung der FDP angenommen. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 15/496 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel: Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien nicht vergessen. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/64 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 3: Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/535 mit dem Titel: Für Menschenrechte weltweit eintreten - die internationalen Menschenrechtsschutzinstrumentarien stärken. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion abgelehnt. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes - Drucksache 15/359 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ({1}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Aussprache nicht teilzunehmen wünschen, den Saal möglichst geräuschlos zu verlassen, damit die anderen der Debatte aufmerksam folgen können. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das Wort für den Antragsteller der Kollege Professor Dr. Pinkwart von der FDP-Fraktion. ({2})

Andreas Pinkwart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stehen am Vorabend einer als groß angekündigten Rede. Ein Ruck soll durch unser Land gehen. Ich denke, angesichts der dramatischen wirtschaftlichen und finanziellen Lage unseres Landes ist es notwendig, dass es endlich einen solchen Ruck gibt. ({0}) Aber wir mussten bereits in der Vergangenheit erfahren: Worte ersetzen keine Taten. Meine Erwartungen sind deshalb weniger auf die Rede selbst als auf die daran hoffentlich folgenden konkreten Schritte gerichtet. Die mittlerweile meterdicken Gutachten der Sachverständigen weisen hierzu einen klaren Weg. Wirtschaft und Verbraucher müssen von konfiskatorischen Steuern und Abgaben und vor allen Dingen von überbordender Bürokratie befreit werden. ({1}) In Bezug auf den Bürokratieabbau hat sich die Regierung zumindest sprachlich zwischenzeitlich fortschrittsgewandt gezeigt. Das sieht man an den Anglizismen, die der Superminister neuerdings verwendet. Das reicht vom „Masterplan“ bis zum „Small Business Act“. Aber Etiketten allein reichen nicht aus; auch nicht die Tatsache, dass die Forderungen nach einem Masterplan „Bürokratieabbau“ den Mitgliedern dieses Hauses mittlerweile offensichtlich leicht über die Lippen gehen. Wir müssen dem Bürokratieberg in diesem Land konkret zu Leibe rücken, und zwar deshalb, weil die Bürokratie die Wirtschaft in unserem Land mit über 30 Milliarden Euro Bürokratiekosten belastet. Das ist eine wahrlich schwerwiegende Last für dieses Land. ({2}) Dabei ist es so, dass jede Einzelregulierung für sich genommen hinnehmbar erscheinen kann. In der Summe aber - das ist das Fatale - fesseln und knebeln diese Regulierungen unser Land in einer Weise, wie es Gulliver im Land der Zwerge ergangen ist. ({3}) Viele kleine Fesseln hielten ihn am Boden und lähmten seine Kräfte. ({4}) Um wieder auf die Beine zu kommen, musste jede einzelne Fessel gekappt werden. Dies gilt im übertragenen Sinne auch für die bürokratische Überregulierung der deutschen Wirtschaft. Dabei kommt es stets dann zum Schwur, wenn wie heute eine Fessel gekappt werden soll. Um welche Fessel es sich handelt, will ich Ihnen kurz erläutern. Es sind die Umsatzsteuervoranmeldungen; das klingt vergleichsweise harmlos. Sie werden bisweilen monatlich von den Betrieben erwartet, obwohl in Umsatzsteuergesetz im Grundsatz eine quartalsweise Regelung vorgesehen ist. Von dieser Quartalsregelung wird aber stets dann abgewichen, wenn die Umsatzsteuerzahllast für das vorangegangene Kalenderjahr mehr als 6 163 Euro beträgt. Dies ist aber tatsächlich schon dann der Fall, wenn Betriebe weniger als 50 000 Euro Jahresumsatz haben. Also sind viele Betriebe - auch die kleinen - in diesem Land von dieser Regelung berührt. Welch bürokratischer Aufwand dadurch entsteht, will ich Ihnen exemplarisch darstellen. In der Regel wird in der Buchhaltung des Unternehmens oder beim Steuerberater das Umsatzsteuervoranmeldeformular ausgedruckt, geprüft, unterschrieben, verschickt, anschließend im Finanzamt geöffnet, geprüft, digital erfasst, abgeheftet und dann per Einzugsermächtigung oder Überweisung der Zahl- oder Erstattungsvorgang ausgelöst. Dies alles geschieht zwölfmal im Jahr plus der jährlichen Umsatzsteuererklärung. Würden, wie in unserem Gesetzentwurf vorgesehen, die Umsatzsteuervoranmeldungen nicht mehr monatlich, sondern nur noch quartalsweise abgegeben, würde die Zahl dieser Vorgänge - es sind zig Millionen im Jahr um zwei Drittel verringert und damit entsprechend der Bürokratieaufwand in den Betrieben und in den Finanzämtern um zwei Drittel verkleinert. ({5}) Es handelt sich um eine der Fesseln, die wir schon längst hätten kappen können. Denn bereits in der vergangenen Legislaturperiode lag ein entsprechender Gesetzentwurf vor, dem die Fraktionen der SPD, der Grünen wie auch der PDS aus, wie ich meine, vorgeschobenen Gründen nicht zugestimmt haben. Die staatlichen Buchhalter dieser Welt werden möglicherweise auch jetzt wieder anmerken, dass es mittlerweile Verfahren gibt, die Umsatzsteuervoranmeldung online abzuwickeln. Aber auch Onlineverfahren müssen von Unternehmen administriert und geprüft werden. Auch Onlineverfahren verursachen Arbeitsaufwand und Kosten. Mit einem Onlineverfahren einen überflüssigen bürokratischen Vorgang zu vereinfachen macht diesen noch lange nicht sinnvoll. ({6}) Ich erwarte - zumindest lässt das bisherige Verfahren das erwarten -, dass die Etatisten unter Ihnen in der folgenden Diskussion auch das vermeintliche Missbrauchspotenzial einer derartigen Regelung in den Vordergrund stellen werden. Wer aber seinen Bürgern und den Unternehmern misstraut und Kontrolle vor Freiheit setzt, wird in Deutschland keine Dynamik entfalten. ({7}) Wir brauchen Freiheit, um die wirtschaftlichen Kräfte zu entfesseln. Helfen Sie daher mit, dass dieser Gesetzentwurf in der parlamentarischen Beratung endlich die notwendige Unterstützung bekommt! Es wäre ein Signal an die Wirtschaft und an die Menschen im Lande, dass wir es wirklich ernst meinen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Lydia Westrich von der SPD-Fraktion.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Pinkwart, wir kommen jetzt von Ihrer Ruck-Rede wieder auf den Boden des vorliegenden Gesetzentwurfs zurück. Lassen Sie uns also mit Ihrem kleinen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes beschäftigen, der die Abschaffung der Verpflichtung zur Abgabe der monatlichen Umsatzsteuervoranmeldungen zum Inhalt hat und der nach Ihrer Meinung zum Abbau der Bürokratie beitragen soll. Meiner Beobachtung nach gehört er zu dem Sammelsurium aktionistischer Anträge und Gesetzentwürfe der FDP, die keinen roten Faden erkennen lassen, sich in ihrer Wirkung teilweise widersprechen und das Land und die Wirtschaft keineswegs voranbringen würden, wenn wir ihnen zustimmen würden. ({0}) Bereits Anfang 2001 haben wir bekanntlich den vorliegenden Gesetzentwurf schon einmal abgelehnt, weil er - das sollten Sie endlich zur Kenntnis nehmen - mit großen Haushaltsrisiken verbunden ist. An dieser Stelle zeigt sich wieder einmal beispielhaft die Doppelzüngigkeit der FDP. Einerseits reiten Sie im Finanzausschuss stundenlang auf dem Stabilitätspakt herum und fordern ein festes Bekenntnis dazu ein - als ob das notwendig wäre -, andererseits verteilen Sie aber zumindest verbal in Ihren Anträgen mit vollen Händen Geld, ohne auch nur einen Blick auf die Grundsätze der Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit zu verschwenden. ({1}) Bezeichnenderweise, Herr Meister, steht bei diesem Gesetzentwurf unter dem Punkt „Kosten“: „Keine“. Die Wahrheit ist: Schon bei der ersten Einbringung des Gesetzentwurfs wurde Ihnen vom Finanzministerium mitgeteilt, dass bei der Umsetzung des Gesetzentwurfs im betreffenden Haushaltsjahr einmalig 15 Milliarden Euro fehlen würden, nicht mitgerechnet die erheblichen Zinsverluste, die nicht einmalig wären, sondern jährlich wiederkehren würden. Nächste Woche verabschieden wir einen Haushalt mit vielen schmerzhaften Einschnitten in wichtigeren Bereichen. Aber er ist unter Einhaltung der Kriterien des Stabilitätspaktes solide durchfinanziert. Wenn die Koalitionsfraktionen Ihrem Gesetzentwurf zustimmen würden, wären alle Bemühungen um einen sauber finanzierten Haushalt 2003 zunichte. Ich denke, so kann man mit den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes nicht umgehen. Das käme dem Ausstellen ungedeckter Schecks auf die Zukunft gleich. ({2}) Bei der Opposition ist von verantwortungsvoller Politik keine Rede mehr. Das bedauere ich sehr. Die Umsatzsteuer ist eine der Haupteinnahmequellen des Staates. Selbst die Kommunen, bei denen Sie den Verfall der Einnahmebasis ständig beklagen, rechnen mit den konstanten Einnahmen aus der Umsatzsteuer. Ich dachte, wir wären zusammen angetreten, den Missbrauch und die Kriminalität gerade bei dieser Steuer sehr energisch zu bekämpfen. Wenn es aber um die Bekämpfung von Steuermissbrauch und Wirtschaftskriminalität geht, dann stehen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition - das gilt nicht nur für die FDP, sondern auch für die CDU/CSU -, wirklich nicht in der ersten Reihe. ({3}) Ich kann mich an keinen Antrag erinnern, den Sie dazu gestellt haben, geschweige denn an einen, den Sie kämpferisch gleich mehrere Male eingebracht haben. Wenn Sie das getan hätten, hätten wir vielleicht irgendwann zugestimmt. Der Bundesrechnungshof hat ausdrücklich die Abgabe monatlicher Umsatzsteuervoranmeldungen im Kampf gegen die überbordende kriminelle Energie im Umsatzsteuerbereich als wirksame Maßnahme empfohlen, und zwar generell. Wir halten trotzdem an der 1996 beschlossenen Regelung fest, wonach das Kalendervierteljahr der Regelvoranmeldungszeitraum ist, weil erstens - hier bin ich mit Ihnen einer Meinung - mehr als 50 Prozent der Unternehmen, vor allem die kleineren, von dieser Vereinfachung profitieren und weil zweitens die meisten Unternehmen ehrliche Steuerzahler sind, die wir nicht belasten wollen. Nur bei einer größeren Umsatzsteuerschuld müssen wir im Interesse der staatlichen Einnahmen auf der monatlichen Abgabe der Voranmeldung an das Finanzamt bestehen. Das schulden wir allen staatlichen Ebenen, also Bund, Länder und Kommunen. Dafür erhalten die Unternehmen aber auch zeitnah ihren Vorsteuerabzug für die getätigten Investitionen. Das Schlimme an Ihrem Gesetzentwurf ist, dass Sie die Notwendigkeit der regelmäßigen Einnahmen aus der Umsatzsteuer genau kennen; denn sonst hätten Sie das schon 1996, als Sie noch Regierungsverantwortung getragen haben, gemäß Ihrem heutigen Gesetzentwurf regeln können. Davon hätten die Unternehmen also nicht erst 2001, sondern schon 1996 profitieren können. Aber damals wollten Sie keine Haushaltsrisiken eingehen. Ich denke, das ist kein gutes Politikverständnis. ({4}) Die Umsatzsteuervoranmeldung ist - das wissen Sie selber - ein Nebenprodukt der Buchhaltung und ist in den meisten Fällen per Knopfdruck abrufbar. Auch bei den Finanzämtern - ich habe mich kundig gemacht läuft die Bearbeitung routiniert. Weder die Länder noch Unternehmerverbände haben die von Ihnen gestellte Forderung erhoben; denn auch sie sehen keinen Handlungsbedarf. Welche Vereinfachung eine Regelung bringen soll, wonach das Kalenderjahr in vier verschieden lange Zeiträume - vier Monate, drei Monate, noch einmal drei Monate und dann zwei Monate - eingeteilt wird, erschließt sich selbst jemandem nicht, der etwas von Buchhaltung versteht. Wir werden also wie vor zwei Jahren Ihren heute eingebrachten Gesetzentwurf ablehnen; denn er ist wenig durchdacht, ohne Notwendigkeit und vor allem nicht finanzierbar. Verantwortungslose Politik mit nicht kalkulierbaren Haushaltsrisiken ist mit uns nicht zu machen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Seiffert von der CDU/CSU-Fraktion.

Heinz Seiffert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002797, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Steuerrecht in Deutschland ist unter der rotgrünen Regierung zu einem bürokratischen Monster verkommen. ({0}) Es ist zu einem Dickicht geworden, das selbst von den Steuerfachleuten nicht mehr durchschaut werden kann, allenfalls vielleicht von Ihnen von Rot-Grün. Gerechter ist das Steuerrecht durch die von Ihnen zu verantwortenden Verkomplizierungen auch nicht geworden. Im Gegenteil: Was ist denn gerecht daran, dass große Unternehmen, die in Deutschland Milliardengewinne erzielen, hier keine Steuern zahlen? Daran ist im Übrigen nicht nur die Konjunktur schuld. Das ist auch Eichels „Leistung“. Je komplizierter und undurchschaubarer das Steuerrecht ist, desto mehr Gestaltungsmöglichkeiten bietet es den Steuerspezialisten der großen, weltweit tätigen Konzerne. Die kleinen und mittleren Unternehmen, die sich genauso wenig wie der einfache Steuerzahler solche Spezialisten und Gestaltungskünstler leisten können, sind die Dummen. Gerade kleine und mittelständische Betriebe liefern mit erheblichem bürokratischem Aufwand monatlich ihre Steuern ab. Vor diesem Hintergrund ist der Gesetzentwurf, den die FDP vorgelegt hat, nur zu verständlich. Die Abschaffung der Verpflichtung zur monatlichen Umsatzsteuervoranmeldung für Kleinbetriebe ist zumindest sehr überlegenswert; denn diese Voranmeldung, die den Charakter einer „richtigen“ Steuererklärung mit allen finanziellen und juristischen Folgen hat, verursacht sowohl für die Finanzverwaltung als auch für die Kleinunternehmen einen ganz erheblichen bürokratischen Mehraufwand. Insofern ist das Ziel des FDP-Entwurfs, nämlich im Bereich der Umsatzsteuer für Kleinunternehmen ein Stück Bürokratie abzubauen, durchaus wohlwollend zu sehen. In den vergangenen Jahren war doch eine stetige Zunahme der Bürokratie festzustellen. Dieser kaum mehr zu bewältigende bürokratische Aufwand trägt ganz erheblich zum schwachen Wirtschaftswachstum in diesem Lande bei. Es ist nur logisch, dass die Bürokratie besonders die Innovation, die Beweglichkeit und auch den unternehmerischen Mut des Mittelstandes einengt. Statt sich überall einzumischen, sollte sich der Staat auf seine Kernaufgaben konzentrieren und Bürgern und Unternehmen mehr Freiheit und Selbstverantwortung einräumen. Zumindest darin sollten wir uns in diesem Hause einig sein. ({1}) Derzeit müssen Bürger und Unternehmen allein auf Bundesebene 2 197 Gesetze mit 47 000 Einzelvorschriften sowie 3 131 Rechtsvorschriften mit fast 40 000 Einzelvorschriften befolgen. Wer also gesetzestreu sein will, der muss sich allein auf Bundesebene mit 85 000 gesetzlichen Vorgaben auseinander setzen. Das ist übrigens auch in der letzten Legislaturperiode nicht besser, sondern schlimmer geworden. Es waren fast 1 000 neue Gesetze und Rechtsvorschriften, die hinzugekommen sind. Wenn Sie also von Bürokratieabbau reden - der Bundeskanzler wird dies ja morgen an dieser Stelle wieder tun; „wir bauen Bürokratie ab“, wird er sagen -, ({2}) so ist dies purer Zynismus, Frau Kollegin. ({3}) Nach einer OECD-Studie liegt Deutschland in Sachen regulatorische und administrative Hemmnisse unter 21 Staaten auf Platz 16. Das sagt doch eigentlich alles. Das ist die Realität. Die größten bürokratischen Dummheiten, die Sie in der letzten Legislaturperiode gemacht haben, haben wir noch alle im Ohr: das Scheinselbstständigkeitsgesetz, die Neuregelung der 325-Euro-Jobs - mittlerweile haben Sie das dank unserer tatkräftigen Hilfe wieder zurückgenommen, aber vier Jahre wurden die Menschen schikaniert -, die Mindestbesteuerung für Unternehmen, die bis heute in der Praxis nicht anwendbar ist, die RiesterRente, deren guter Ansatz durch überzogene Bürokratie wieder kaputtgemacht worden ist, das Betriebsverfassungsgesetz, Recht auf Teilzeit und schließlich die Bauabzugsteuer, bei der wir dummerweise auch noch mitgemacht haben. ({4}) In dieser Legislaturperiode machen Sie gerade so weiter. Das Steuervergünstigungsabbaugesetz schafft doch nicht mehr Klarheit und mehr Durchschaubarkeit, sondern neue Bürokratie. Denken Sie doch nur an die Kontrollmitteilungen, die der Minister noch vor wenigen Tagen verteidigt hat! ({5}) Wir werden dieses Gesetz übrigens morgen im Bundesrat stoppen. Wenn wir das Wachstum in Deutschland beschleunigen und damit die Möglichkeit für mehr Arbeitsplätze schaffen wollen, dann sollten wir auf drei Prinzipien setzen: Freiheit, Eigenverantwortung und Subsidiarität. ({6}) Sie dagegen setzen auf mehr Staat, mehr Misstrauen und mehr Kontrolle. Dieser Weg führt ins Elend. Die Flut von Regelungen, Gesetzen und Vorschriften überfordert Bürger, Unternehmen und Verwaltung gleichermaßen. Deshalb muss das alles auf den Prüfstand. Deshalb ist auch der FDP-Entwurf überlegenswert. Gerade mittelständische und kleine Unternehmen würden sehr davon profitieren, wenn die monatliche Umsatzsteuervoranmeldung entfallen könnte. Mir scheint allerdings der Gedanke, die monatliche Voranmeldung für alle Unternehmen wegfallen zu lassen, noch nicht ganz zu Ende gedacht. Es sind nämlich zwei Faktoren zu bedenken. Das hat die Frau Kollegin richtig gesagt. Erstens. Die Umsatzsteuer gehört zu den größten Steuerquellen des Staates. Wenn die Vereinnahmung der Umsatzsteuervorauszahlungen nur noch vierteljährlich erfolgen kann, dann wird dies zwangsläufig bei Bund und Ländern zu erheblichen Liquiditätsproblemen führen, zumindest vorübergehend. ({7}) Zweitens. Unternehmen mit Vorsteuerüberhängen, also Umsatzsteuererstattungsansprüchen, können die Umsatzsteuer folgerichtig dann auch nicht mehr monatlich, sondern nur noch vierteljährlich zurückbekommen. ({8}) Auch das würde mit Sicherheit für viele Liquiditätsprobleme bringen. Wir sollten also den FDP-Entwurf im Ausschuss sorgfältig beraten. Ich kann der rot-grünen Mehrheit nur empfehlen, diesen Vorschlag nicht schon wieder nur deshalb abzulehnen, weil er von der Opposition kommt. ({9}) Dieses Verfahren, das Sie fünf Jahre praktiziert haben, nämlich alles abzulehnen, was von dieser Seite kommt, ist Deutschland im Übrigen verdammt schlecht bekommen. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel vom Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Seiffert, auch ich finde, dass wir alle in der Verantwortung stehen, für Bürokratieabbau zu sorgen. ({0}) Verantwortlich dafür sind aber eben nicht nur der Bund, sondern auch die Länder, die Kommunen und vor allem die Standesorganisationen, Stichwort Handwerksordnung. Man muss sich einmal anschauen, wie viel Bürokratie sich diese Organisationen selbst schaffen. Darüber hinaus erwarten sie von der Politik, dass sie für eine Vielzahl von bürokratischen Regeln sorgt, um bestimmte Dinge zu organisieren und zu regulieren. Angesichts dessen muss man sich schon fragen, ob es Sinn macht, deren Forderung nach Bürokratieabbau wirklich ernst zu nehmen. Ich meine, wir alle müssen dafür sorgen, dass es in diesem Land weniger Bürokratie gibt. Das von Ihnen genannten Beispiel der Bauabzugsteuer war keine Idee der rot-grünen Bundesregierung, sondern eine Idee der Bauindustrie, die sie gemeinsam mit einigen CDU- bzw. CSU-regierten Ländern entwickelt hat. Das muss man hier der Klarheit halber einmal sagen. ({1}) Herr Pinkwart, leider ist es nicht so, dass die Verabschiedung dieses Entwurfs zu einer Win-Win-Situation führen würde. Es wäre nämlich nicht so, dass dadurch mehr Bürokratie abgebaut werden könnte und Unternehmen Finanzverwaltung zum Nulltarif bekämen. Mit anderen Worten: Es wäre nicht so, dass der Staat keine Probleme hätte und die Unternehmen bürokratisch entlastet wären. Die Realität - die Kollegin Westrich hat darauf schon hingewiesen - ist wirklich anders. Die Umsetzung der von Ihnen hier eingebrachten Überlegung wäre nicht kostenfrei zu haben. Wenn wir Ihren Vorschlag ernst nehmen und umsetzen würden, dann gäbe es im Haushalt ein Defizit von 15 Milliarden Euro, weil die entsprechenden Mittel erst 2004 und nicht 2003 in die öffentlichen Kassen fließen würden. Zusätzlich wäre der Jahr für Jahr eintretende Zinsaufwuchs zu finanzieren. Das würde letztendlich eine Verlagerung der Belastung in die nächsten Rechnungsjahre bedeuten, die nicht akzeptabel ist. Da Sie immer wieder sagen, der Stabilitätspakt sei Ihnen wichtig - das gilt auch für die FDP - und es gelte, ihn einzuhalten - die Umsetzung Ihrer Forderungen würde zwar immer wieder das Gegenteil bedeuten; aber das macht ja nichts -, möchte ich sogar so weit gehen, zu behaupten, dass Ihr Vorschlag aus haushaltspolitischer Sicht ein getarnter Anschlag auf die Maastricht-Kriterien ist, ({2}) der unsere Bemühungen, eine vernünftige Haushaltskonsolidierung vorzunehmen, wirklich völlig konterkariert. Das wäre das Ergebnis der Realisierung Ihres Vorschlags. Nach Abwägung der Vor- und der Nachteile möchte ich Ihnen zwei Hauptgründe dafür nennen, die monatlichen Umsatzsteuervoranmeldungen nicht völlig abzuschaffen: Erstens. Der Vorschlag der FDP konterkariert die gegenwärtigen Anstrengungen von Bund und Ländern, gegen den Umsatzsteuerbetrug durch kriminelle Organisationen verstärkt vorzugehen. Seit dem Jahr 2000 ist ein ganzes Paket von Maßnahmen wirksam, mit dem wir die Steuerhinterziehung bei der Umsatzsteuer eindämmen wollen. In diesem Rahmen geben Unternehmensgründer im Jahr der Gründung und im ersten Folgejahr, unabhängig von den tatsächlich erzielten Umsätzen, ihre Voranmeldungen monatlich ab. So kommen die Finanzämter schneller an Informationen über neue Unternehmen. Auf diese Weise können sie feststellen, ob es Karussellgeschäfte gibt. Diesbezüglich gab es in diesem Land Riesenprobleme. Wir haben damit angefangen, die mit Umsatzsteuerbetrug verbundenen Probleme, unter anderem mit dieser Maßnahme, besser in den Griff zu bekommen. Zweitens. Würden wir dem Vorschlag der FDP folgen, würden Existenzgründern und Existenzgründerinnen - Herr Seiffert hat es angedeutet - Liquiditätsnachteile entstehen; denn sie könnten ihre Vorsteuerüberhänge erst später entsprechend geltend machen, obwohl sie die Erstattung der Vorsteuer sehr oft als Anschubfinanzierung benötigen. Diese Regelung kann also Existenzgründern und Existenzgründerinnen schaden. Auch das muss man sehen. Abschließend möchte ich einen Punkt ansprechen, bei dem ich schon ein wenig mit dem Kopf schütteln muss. Wenn man sich den Gesetzentwurf unter handwerklichen Gesichtspunkten anschaut, erkennt man, dass er wirklich kein Meisterwerk ist. Er ist Pfusch. Frau Kollegin Westrich hat das bereits gesagt und ich greife diese Formulierung gerne auf. Sie streichen § 18 Abs. 2 Satz 2 des Umsatzsteuergesetzes, beziehen sich aber im folgenden Satz wieder auf diese Passage, die nach Ihrem Willen überhaupt nicht mehr existieren soll. Das kann man nicht nachvollziehen. Man kann sich nur darüber wundern. Aber mit der Zahl 18 hatten Sie ja schon immer ein Problem und das hat sich in diesem Gesetzentwurf wieder gezeigt. Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Stefan Müller von der CDU/CSU-Fraktion.

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf der FDP zur Abschaffung der monatlichen Umsatzsteuervoranmeldung greift ein Thema auf, das, wie ich meine, zu diskutieren durchaus wert ist. In den anstehenden Beratungen im Finanzausschuss werden wir ausreichend Gelegenheit haben, darüber zu sprechen und zu diskutieren, ob es unter Berücksichtigung vieler Aspekte, die hier schon angesprochen worden sind, Sinn macht, die geltende Rechtslage zu verändern. Frau Westrich, wenn Sie schon in der ersten Lesung Ihre Ablehnung signalisieren, zeigt mir das, dass Sie an einer ordentlichen Diskussion kein Interesse haben. ({0}) Im Übrigen gibt es auch im Bereich der Umsatzbesteuerung schon heute wesentliche Vereinfachungsvorschriften. Ich nenne als Beispiel die Umsatzsteuerpauschalierung, die eine wesentliche Verwaltungsvereinfachung bedeutet. Die Landwirte sparen sich dadurch den Aufwand der monatlichen Umsatzsteuervoranmeldung und die Finanzverwaltung erspart sich die Prüfung der Steuerbescheide und die Ausdehnung der Betriebsprüfung auf die Umsatzsteuer. ({1}) Umso weniger verständlich war für mich, dass Sie, meine Damen und Herren von SPD und Grünen, in der ursprünglichen Fassung des Steuervergünstigungsabbaugesetzes bei dieser Umsatzsteuerpauschalierung eine Senkung von 9 auf 7 Prozent vorgesehen hatten. Dies hätte nämlich zu einer deutlichen Mehrbelastung bei den Steuerpflichtigen und bei den Steuerbehörden geführt. ({2}) Es hätte mit ziemlicher Sicherheit auch dazu geführt, dass die betroffenen Landwirte die Pauschalierung abgewählt und zur Regelbesteuerung gewechselt hätten. Aber, meine Damen und Herren von SPD und Grünen, zumindest in diesem Punkt haben Sie sich ausnahmsweise einmal nicht beratungsresistent gezeigt. Das macht das ganze Gesetz jedoch noch lange nicht besser. ({3}) Der Gesetzentwurf der FDP bringt uns dankenswerterweise dazu, heute wieder einmal über das Thema Bürokratieabbau im deutschen Steuerrecht und über Steuervereinfachungen zu sprechen. Lassen Sie mich zunächst einmal eines feststellen: Wir von der CDU/CSU werden jeden Vorschlag mittragen, der eine wesentliche Vereinfachung bringt und tatsächlich zu einem Bürokratieabbau beiträgt. Es muss sich hierzulande die Erkenntnis durchsetzen, dass wir endlich Ernst machen müssen mit dem Abbau einer erdrückenden Bürokratielast für Private und Unternehmer. Seit Jahren und Jahrzehnten wird hierzulande über den Bürokratieabbau diskutiert. Trotz vielerlei Bemühungen sind Initiativen immer Stefan Müller ({4}) wieder gescheitert und haben nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt. Der Kollege Seiffert hat es schon angesprochen: Es gab auf Bundesebene bis Mitte des vergangenen Jahres weit über 5 000 Gesetze und Rechtsverordnungen mit nahezu 90 000 Einzelvorschriften. Dieses Dickicht an Vorschriften ist schon heute bei weitem nicht mehr zu übersehen. Gleiches gilt für das deutsche Steuerrecht. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, mit Lippenbekenntnissen allein ist es nun einmal nicht getan. Die öffentlichen Äußerungen und plakativen Sprüche, die wir von Ihnen immer wieder hören, stehen im Gegensatz zu dem, was Sie in diesem Hause, soweit ich es nach einem halben Jahr beurteilen kann, auf den Weg gebracht haben oder in Zukunft auf den Weg bringen wollen. ({5}) Die von Ihnen im Bundestag beschlossene Besteuerung von privaten Veräußerungsgewinnen führt weder zum Abbau von Steuervergünstigungen noch zu einer Steuervereinfachung. ({6}) - Vielen Dank für den Zwischenruf. Sie bringt Geld; genau da liegt der Hase im Pfeffer. Ihnen geht es schlicht und ergreifend darum, Ihre fiskalischen Vorstellungen voranzubringen. An einer Steuervereinfachung sind Sie in keiner Weise interessiert. ({7}) Systematisch sind die privaten Veräußerungsgewinne eine völlige Neuerung, die eine Reihe von Auslegungsund Vollzugsschwierigkeiten nach sich ziehen wird. Es ist doch fraglich, ob wertvolle Teppiche und Antiquitäten, die sich im Gebrauch befinden, Gegenstände des täglichen Gebrauchs sind oder nicht. Fraglich ist doch auch, wie deren Veräußerung von der Finanzverwaltung kontrolliert werden soll. Nicht fraglich ist jedoch, dass das System der Kontrollmitteilungen, das Sie im Steuervergünstigungsabbaugesetz beschlossen haben und auch bei der Zinsabgeltungsteuer beabsichtigen einzuführen, zu einer bürokratischen Belastung par excellence führen wird. Umso unverständlicher ist es mir, dass wir im Zusammenhang mit der Zinsabgeltungsteuer wieder über die Einführung von Kontrollmitteilungen diskutieren; ich nehme an, das ist Ihr Lieblingsthema. Die Kontrollmitteilungen widersprechen an sich schon der Idee einer Abgeltungsteuer. Ich hoffe, dass Herr Eichel dies auch endlich einsieht; von der Bundesregierung hört man ja fast tagtäglich andere und am laufenden Band auch widersprüchliche Meldungen. Ich möchte noch einmal festhalten: Ein Kontrollmitteilungssystem für die Erfassung von Erträgen aus Wertpapieren und Gewinnen wird bei geschätzten 300 Millionen Konten und 16 verschiedenen Datenverarbeitungssystemen schlicht und ergreifend nicht zu bewältigen sein. Die Pflicht zur Versendung von solchen Mitteilungen der Banken an die Finanzämter wird die Kreditinstitute in diesem Land mit einem meines Erachtens nicht zu rechtfertigenden bürokratischen Aufwand und zusätzlich auch noch mit erheblichen Kosten belasten, Kosten, die letztendlich wohl an die Kunden weitergegeben werden. Auch die Banken gehen von einem immensen Kosten- und Verwaltungsaufwand aus, insbesondere bei der Bereitstellung von neuen EDV-Systemen, die notwendig ist, um laufende Depotkontrollen, die Sie vorsehen und die die Meldepflicht dann auch erforderlich machen würde, durchzuführen. ({8}) Die Banken sind schon heute zum verlängerten Arm des Staates geworden. Kein anderer Wirtschaftszweig in diesem Land wird meines Erachtens so unverhältnismäßig zur Klärung insbesondere auch steuerlicher Sachverhalte herangezogen. Bürokratieabbau im Steuerrecht kommt aber nicht nur den Unternehmen zugute, sondern eben auch den Steuerbehörden und den Arbeitnehmern. Durch eine Vereinfachung ließen sich die Kosten bei allen Betroffenen deutlich senken. In diesem Sinne sind wir alle gehalten, dort, wo es Sinn macht - auch im steuerlichen Bereich -, mit dem Bürokratieabbau endlich Ernst zu machen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Pronold von der SPD-Fraktion.

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Immer, wenn ich die FDP von Bürokratieabbau reden höre, dann fällt mir meine gymnasiale Schulbildung ein, und zwar Goethes Ausspruch: „Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ ({0}) Dieser Gesetzentwurf, den Sie hier zum wiederholten Male vorlegen, ist doch der beste Beweis, dass es Ihnen mit dem Bürokratieabbau nicht besonders ernst ist; denn die wortgleiche Wiedereinbringung Ihrer Initiative hier bedeutet doch nicht den Abbau von Bürokratie, sondern die Schaffung von mehr Bürokratie. Zumindest die Arbeit für die Bundestagsverwaltung nimmt dadurch einigermaßen zu. ({1}) Herr Müller, ich finde es schön, dass Sie hier gesagt haben: Mit Lippenbekenntnissen allein ist es nicht getan. Ich würde Ihnen empfehlen, dass Sie sich einmal in der Frage des Bürokratieabbaus an Ihre Staatsregierung wenden; ({2}) denn kein anderes Land hat so viele Gesetze, Verordnungen und Ausführungsbestimmungen wie das Bundesland Bayern, keine Staatsregierung ist so groß, üppig und überdimensioniert wie die in Bayern. Wenn Sie Ihre Hausaufgaben gemacht haben und wieder hierher kommen, dann reden wir noch einmal über die Frage von Lippenbekenntnissen. ({3}) Das Ansinnen der FDP ist aber auch inhaltlich abzulehnen. Hier wurden einige Beispiele von angeblichen Einsparungen gebracht. Ich würde in diesem Zusammenhang gern von „Milchmädchenrechnung“ reden, aber dann müsste ich mich bei den Milchmädchen entschuldigen, dass ich sie in die Nähe der FDP rücke; deswegen will ich davon nicht sprechen. Ich fand sehr interessant, Herr Pinkwart, dass Sie ein Märchen als Beispiel angeführt haben, um hier die Frage des Bürokratieabbaus zu dokumentieren. Vielleicht ist es auch ein Märchen, dass Sie es mit dem Bürokratieabbau ernst meinen; denn in Wirklichkeit haben Sie die Regelung, die Sie jetzt herausnehmen wollen, selber 1996 mit in dieses Gesetz hineingestimmt. Es ist schon ein bisschen merkwürdig, wie Sie hier vorgehen. ({4}) Es wurden noch weitere Argumente von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern, auch von Herrn Meister aus der CDU/CSU-Fraktion, angesprochen. ({5}) - Entschuldigung. ({6}) Es wurde die Relevanz der Umsatzsteuer aufgrund ihres Volumens angesprochen und die Frage gestellt, welche Steuerausfälle und Zinsausfälle zumindest vorübergehend eintreten würden, wenn man auf eine vierteljährliche Abrechnung umstellen würde. Auch die Bundesländer sind sich, zumindest bezogen auf das Jahr 2000, einig, dass keinerlei Notwendigkeit besteht, von der jetzigen Regelung abzuweichen. ({7}) Letzter Punkt. Für mich ist entscheidend - das hat auch die Kollegin Westrich angesprochen -, was der Bundesrechnungshof zu der Frage der effektiveren Umsatzsteuerkontrolle und zur Betrugsbekämpfung sowie zur Feststellung von Unregelmäßigkeiten im Falle von Unternehmensneugründungen, die von monatlichen Abgaben weitgehend ausgenommen sind, sagt. Manchmal habe ich bei der FDP den Verdacht, dass unter dem Logo Bürokratieabbau ein Etikettenschwindel erfolgt. Wo bei Ihnen Bürokratieabbau draufsteht, stecken sehr oft Forderungen nach Maßnahmen dahinter, die Steuerhinterziehungen erleichtern können. ({8}) Deshalb wird die SPD auch diesmal den Antrag ablehnen. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/359 an den Finanzausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Kleinunternehmern und zur Verbesserung der Unternehmensfinanzierung ({0}) - Drucksache 15/537 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Debatte eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für den Antragsteller hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer von der SPD-Fraktion.

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Da ich beginnen darf, möchte ich Ihnen am Anfang unser Kleinunternehmerförderungsgesetz kurz erläutern. Vorhin schimmerte durch, dass unsere Gesetze kompliziert seien und keiner mehr die Steuergesetze verstehen würde. ({0}) Daher möchte ich Ihnen die neuen Regelungen kurz darlegen. Ziel unseres Gesetzes ist - wie von Ihnen allen verlangt; wir haben es vorher schon erkannt und viel in dieser Richtung getan ({1}) der Bürokratieabbau. Das ist vor allen Dingen für Kleinunternehmen sehr wünschenswert. Deswegen haben wir dieses Thema angepackt. Schon in der Koalitionsvereinbarung haben wir festgestellt, dass der Mittelstand unnötige Bürokratie zu tragen hat; ({2}) die Eigenkapitalbasis vor allen Dingen bei Existenzgründern und Kleinunternehmen muss gestärkt werden. Das ist ein Ziel, das wir mit diesem Gesetz erreichen werden. ({3}) Bürokratie - das wissen wir alle - ist in einem gewissen Umfang notwendig und unerlässlich; aber zu viel ist schädlich. Deswegen versuchen wir ein Mittelmaß zu finden. Die wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeit ist natürlich von den Rahmenbedingungen abhängig. Deshalb müssen wir schauen, dass wir die Rahmenbedingungen - in diesem Fall die Aufzeichnungs- und Erklärungspflichten der Unternehmen - verbessern. Bei kleinen Unternehmen ist es deswegen wünschenswert, dass sie ihre Erklärungen dem Finanzamt gegenüber ohne Steuerberater machen. Das ist erstens billiger und zweitens weniger aufwendig. Deswegen werden in Zukunft die kleinen Unternehmen ihr Betriebsergebnis darlegen, ihre Entnahmen aufzeichnen und dann die Betriebsausgaben pauschal abziehen. Das bedeutet weniger Aufzeichnungspflichten und ein vereinfachtes System, in dem kein Steuerberater mehr notwendig ist. ({4}) Dieses erste Gesetzespaket ist ein Einstieg und soll an unser Hartz-Konzept anschließen. Es soll vor allen Dingen Arbeitslose dazu ermutigen, sich mit einer Ich-AG selbstständig zu machen. Dabei soll der Schutz der Sozialversicherung erhalten bleiben. Diese Vereinfachung wird dazu führen, dass auch ganz normale Arbeitnehmer in die Selbstständigkeit hineinfinden können. Außerdem heben wir die Buchführungspflichtgrenzen an, was zur Folge hat, dass auch gewerbliche Unternehmen sowie Land- und Forstwirte nur eine Einkommensüberschussrechnung erstellen müssen, wenn sie unter den vorgesehenen Grenzen bleiben. Wir haben diese Grenzen massiv angehoben: die Umsatzgrenze von bisher 260 000 Euro auf 350 000 Euro, die Wirtschaftswertgrenze von bisher 20 500 Euro auf 25 000 Euro und die Gewinngrenze von bisher 25 000 auf 30 000 Euro. Dies wird bei vielen Betrieben zu weniger Aufwand führen, weil sie keine Buchführung im bisherigen Sinne vorhalten müssen. Freiberufler sind davon ohnehin befreit. Für die anderen bringt dies ebenfalls Vorteile. Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir zum Zweiten die Finanzausstattung der Unternehmen verbessern, indem wir auch in Deutschland das Instrument der Verbriefung einführen. In anderen Ländern ist es schon heute üblich, dass Kreditinstitute ihre Liquidität verbessern, indem sie Kreditforderungen und damit verbundene Risiken verbriefen und mittels Zweckgesellschaften am Kapitalmarkt platzieren. Mit diesem Instrument werden wir dafür sorgen, dass mehr Kapital für Unternehmen zur Verfügung steht, sich die Eigenkapitalbasis der Banken verbessert und dadurch auch eine bessere Refinanzierung der Unternehmen zu gewährleisten ist. Damit werden wir den Nachteil beseitigen, dass diese Zweckgesellschaften, sofern sie überhaupt vorhanden waren, für die auf die Fremdmittel zu zahlenden Entgelte Dauerschuldzinsen zahlen mussten. Dies wird künftig nicht mehr der Fall sein. Indem sie wie Banken behandelt werden, werden diese Zweckgesellschaften zugunsten der kleinen Unternehmen und der gewerblichen Betriebe entscheidende Impulse auslösen können. ({5}) Umgehungs- und Missbrauchsmöglichkeiten, die wir in der Steuergesetzgebung häufig zu erwarten haben, werden wir dadurch vermeiden, dass der begünstigte Gewerbebetrieb nachweisen muss, dass die übertragenen Forderungen oder Kreditrisiken den im Gesetzentwurf genannten Anforderungen entsprechen. Das heißt, es darf nur das Kapital angegeben werden, das ausgeliehen wird; andere betriebliche Transaktionen werden in der Form nicht berücksichtigt. Das Ganze hat natürlich finanzielle Auswirkungen. Wenn wir Kleinunternehmen fördern wollen, geht es nicht ohne Geld. Im Jahr 2003 wird der Bund Steuermindereinnahmen in Höhe von 264 Millionen Euro zu verzeichnen haben; bis zum Jahr 2006 wird sich dies auf bis zu 390 Millionen Euro aufbauen. Das sollte uns dies aber wert sein; denn wir wollen im Rahmen unseres Hartz-Konzepts die kleinen Unternehmen fördern und ihnen helfen, nach und nach zu größeren Unternehmen zu werden. Diese Förderung des Mittelstands dürfte in unser aller Interesse sein. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Michelbach von der CDU/CSU-Fraktion.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es gibt keinen Zweifel, die verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik von Rot-Grün hat uns in die schwerste Strukturkrise seit Jahrzehnten geführt. Wie sind die Ergebnisse nach 142 Tagen der zweiten Schröder-Regierung? An jedem dieser 142 Tage sind 100 Unternehmen pleite gegangen; in diesem kurzen Zeitraum wurden fast 15 000 Existenzen vernichtet, so viele wie noch nie. Damit hat die Schröder-Regierung das Vertrauen des Mittelstandes gänzlich verspielt. Angesichts dessen hilft auch keine neue Ankündigungswelle mehr. Vertrauen und Glaubwürdigkeit sind weg. Es nützt dann auch nichts, wenn Sie immer wieder neue Programme auflegen. ({0}) An jedem dieser 142 Tage sind 6 000 Menschen arbeitslos geworden. Am Ende dieser 142 Tage waren es Hunderttausende mehr als im Oktober 2002. Das ist natürlich eine so negative Bilanz in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, wie wir sie noch nicht hatten. ({1}) Rot-Grün hat darauf bisher nur eine Antwort: eine neue Welle von Steuererhöhungen und immer neue Flickschusterei mit Einzelgesetzen statt eine zielführende Gesamtkonzeption für den Mittelstand. Wenn Sie Vertrauen gewinnen wollen, dann müssen Sie mit einem Gesamtansatz, mit einer ordnungspolitischen Leitlinie vorgehen und dürfen nicht mit immer neuen Programmen und einer Programmvielfalt kommen. Ich erinnere an Ihre Programmwut und die vielen nutzlosen großen Ankündigungen, die wir in diesem Hohen Hause schon gehört haben. Ich zähle einmal auf: JUMP-Programm - Fehlanzeige -, ({2}) Job-AQTIV-Programm - Fehlanzeige; fünf Millionen Arbeitslose -, Ich-AG-Programm, die Wunderwaffe, „Kapital für Arbeit“-Programm, „Masterplan Bürokratieabbau“-Programm, Förderbankneustrukturierungsprogramm. Morgen werden wir sicherlich in großen Tönen von dem Bundeskanzler-Kreditprogramm hören. Heute geht es um die neue Programmwunderwaffe, das Kleinunternehmerförderungsgesetz, das weit hinter den Notwendigkeiten für den Mittelstand zurückbleibt. ({3}) Damit können wir sicherlich Entbürokratisierung erreichen, aber auch hierbei gibt es wieder Halbherzigkeit und insbesondere Etikettenschwindel. Das alles ist ein praxisfernes Nullsummenspiel für den Mittelstand. Herr Clement macht gewissermaßen jeden Tag neue Lockvogelangebote, aber es gibt keinen neuen Umsatz beim Mittelstand. Neue Lockvogelangebote, aber nichts dahinter! Für den Mittelständler zählt aber nun einmal, wenn er etwas in der Kasse hat. Nur dann kann er seine Mitarbeiter bezahlen. ({4}) Von diesen undurchdachten Ankündigungsprogrammen und Scheinreformen von Rot-Grün hat der Mittelstand wirklich genug. Machen Sie einen Kurswechsel! Wir brauchen den Kurswechsel. Kreativ und zielführend sind Sie bisher immer nur bei der Etikettierung. Nirgendwo ein Gesamtkonzept, nur Etikettenschwindel, nur Halbherzigkeiten und Unzulänglichkeiten! Mit dem Entwurf eines Kleinunternehmerförderungsgesetzes werden - wir haben es gerade gehört - weder wesentliche Investitionsanreize noch Arbeitsplätze noch Wachstum in ausreichendem Maß geschaffen. Der Mittelstand braucht zielführende Reformen statt immer mehr fragwürdiger Programme. Rot-Grün hat in der Wirtschafts- und Finanzpolitik keinen Ansatz, keine Gesamtkonzeption, keine steuerrechtlichen Prinzipien, keine ordnungspolitische Leitlinie. Statt ein Gesamtkonzept für mehr Wachstum und Beschäftigung vorzulegen, streuen Sie mit dem Entwurf eines Kleinunternehmerförderungsgesetzes den Bürgern sowie natürlich auch denen, die an eine neue Existenz als Existenzgründer glauben, Sand in die Augen. Sie haben schon wieder einen großen Fehler gemacht, indem Sie bei den Existenzgründern Glaubwürdigkeit verlieren. Sie schaffen kein Vertrauen. Das ist das große Problem, das ich auch bei diesem Gesetzentwurf sehe. Auf der einen Seite will sich Rot-Grün für dieses neue Gesetz, das eine Entlastung von sage und schreibe 30 Millionen Euro für Kleinunternehmer vorsieht, geradezu feiern lassen; auf der anderen Seite wollen SPD und Grüne mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz, das morgen im Bundesrat zur Abstimmung steht, bei Bürgern und Unternehmen fast 16 Milliarden Euro abkassieren. Das merkt man doch: 30 Millionen und 16 Milliarden, das passt wirklich nicht zusammen. Für wie dumm halten Sie den Mittelstand eigentlich? Der kann doch 30 Millionen und 16 Milliarden Euro deutlich unterscheiden. Damit entspricht die angekündigte Entlastung nicht einmal 2 Prozent des Volumens des Steuervergünstigungsabbaugesetzes. Wenn es um das vorliegende Gesetz geht, müssen Sie sich auch Beispiele anschauen, die aufgrund dieser Bestimmungen gebildet werden. Beispiel eins. Im Hinblick auf die Betriebsausgabenpauschalierung sollten Sie sich einmal fragen, wie viele Selbstständige überhaupt eine Umsatzrendite von 50 Prozent aufweisen. ({5}) Ehrlich gesagt, ich kenne niemanden. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, ich sage Ihnen: 99,99 Prozent aller mittelständischen Unternehmen weisen nach meinem Dafürhalten nur eine Umsatzrendite von 1 bis 10 Prozent aus. Wo sollen denn da die 50 Prozent herkommen, die Sie als Parameter ansetzen? Wie kommen Sie eigentlich dazu, dass ein Selbstständiger 50 Prozent Gewinn hat? Sie haben nicht die geringste Ahnung davon, wie es in der mittelständischen Wirtschaft bzw. bei einem Mittelständler zugeht. Deswegen ist Ihr Ansatz völlig verfehlt. Beispiel zwei: Fraglich ist auch, wie der pauschale Betriebsausgabenabzug zu einem Abbau von Bürokratie führen soll. Bei einem Teil der Gewerbetreibenden besteht schon heute keine Buchführungspflicht. Diese sind lediglich verpflichtet, den Überschuss der Einnahmen gegenüber den Ausgaben aufzuschreiben. Das kann zur Not handschriftlich auf einem Blatt Papier erfolgen. Die Grenze, ab der eine Pflicht zur Buchführung besteht, müsste, wenn Sie wirklich eine Entbürokratisierung auf breiter Front wollen, bei einem Umsatz von mindestens 500 000 Euro und einem Gewinn von 50 000 Euro festgelegt werden. Wenn Sie in diesem Zusammenhang 30, 25 oder 20 Prozent der Mittelständler erfassen wollen und nicht nur 0,1 Prozent, dann müssen Sie springen und für den Mittelstand etwas tun. Sie dürfen also nicht nur den Teller mit der Wurst zeigen und diesen dann sofort zurückziehen und schließlich Überregulierungen und weiteren Unsinn schaffen. ({6}) Man erkennt: Aufgrund zu niedriger Schwellenwerte gibt es für die größte Zahl der Mittelstandsunternehmen weder den hoch gepriesenen Entbürokratisierungs- noch einen Vereinfachungseffekt. Beispiel drei: Der Umsatzschwellenwert von 17 500 Euro pro Jahr müsste auf 50 000 Euro erhöht werden, sollte das Gesetz einen Sinn machen. Nach Einschätzung der Bundesregierung verursacht die geplante Neuregelung Steuerausfälle von etwa 30 Millionen Euro. Angesichts eines so geringen Finanzvolumens scheint die Bundesregierung wohl nicht an ernsthaften Reformen interessiert zu sein. Angesichts der Tatsache, dass Sie Kleinunternehmern bis zu einem Umsatzschwellenwert von 17 500 Euro Versprechungen machen, muss ich Sie fragen: Denken Sie inzwischen bei den Wörtern „Kleinunternehmer“ bzw. „Mittelständler“ an Almosenempfänger? Es ist doch eine Schande, wenn einem Existenzgründer aufgrund dieses Gesetzes gesagt wird, er sei zwar ein Kleinunternehmer, aber sein Umsatz dürfe 17 500 Euro nicht übersteigen, damit er Ihrem Gesetz zur Entbürokratisierung gerecht werden kann. Das sind doch Widersprüche, die deutlich gemacht werden müssen. Es ist Zeit für einen klaren Kurswechsel. Wir von der Union wollen diesen Kurswechsel erzwingen. Dazu wird eine nationale Kraftanstrengung der ökonomischen Vernunft benötigt. Dazu braucht es insbesondere eine klare Mittelstandspolitik mit einem Gesamtkonzept und nicht Ihre Programmwut. Es liegt zwar ein Ansatz in die richtige Richtung vor; aber er bedeutet wieder nur Halbherzigkeit für den Mittelstand. Das werfen wir Ihnen bei diesem Gesetzentwurf vor. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hubert Ulrich vom Bündnis 90/Die Grünen.

Hubert Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003649, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute in erster Lesung über den Entwurf eines Kleinunternehmerförderungsgesetzes. Der Hintergrund für diese Maßnahme ist die schlichte Notwendigkeit, zum einen im Rahmen der Maßnahme der Ich-AG und all dessen, was damit zusammenhängt, Existenzgründungen in Deutschland und zum anderen den bestehenden Klein- und vor allen Dingen Kleinstbetrieben das Bestehen auf dem Markt zu erleichtern. Das Kleinunternehmerförderungsgesetz basiert auf der bereits bestehenden Kleinunternehmerregelung. Es ist eine Weiterführung bzw. - auch das kann man sagen - eine Verbesserung. Herr Michelbach, Sie haben gerade einige Zahlen genannt. Wenn Sie sich das, was zwischen der SPD und den Grünen vereinbart worden ist, genauer anschauen würden, dann wüssten Sie, dass wir im nächsten Jahr mit den 35 000 Euro, die wir bereits vereinbart haben, von dem, was Sie gerade gefordert haben, nämlich einen Schwellenwert von 50 000 Euro, gar nicht so weit entfernt sein werden. Wir bewegen uns also in genau diese Richtung und erfüllen an dieser Stelle somit auch Ihre Forderungen. Das Kleinunternehmerförderungsgesetz ist ein weiterer Meilenstein in den Bemühungen, die Rahmenbedingungen der kleinen und mittelgroßen Betriebe in Deutschland zu verbessern. Dies ist ja nicht die erste Maßnahme, die die rot-grüne Bundesregierung durchführt. Ich darf an eine wichtige Maßnahme dieser Bundesregierung aus der letzten Wahlperiode erinnern: die Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer bei Personengesellschaften. Dies war, gerade für dieses Segment von Unternehmerinnen und Unternehmern, ein großer Wurf. Sie war eine Verbesserung für das Heer von Personengesellschaften gegenüber den Kapitalgesellschaften. Auch darf man nicht die beiden wirklich großen Bemühungen und Erfolge dieser Bundesregierung aus der letzten Wahlperiode vergessen. Dies war das bisher größte Förderprogramm für den Mittelstand, das in Deutschland durchgeführt wurde: die große Steuerreform. ({0}) - Ja, Herr Schauerte, wenn Sie sich an den Kopf fassen, dann muss ich Sie wohl einmal an Ihre Steuersätze aus dem Jahre 1998 erinnern: Sie waren bei einem Spitzensteuersatz von 53 Prozent. Wir sind bei 48,5 Prozent. Der Eingangssteuersatz lag bei 26 Prozent, heute liegt er bei 19,9 Prozent. Wir werden den Eingangssteuersatz auf 15 Prozent und den Spitzensteuersatz auf 42 Prozent senken. Das ist eine wirkliche Steuerreform, die unterm Strich bis zum Jahre 2006 zu einer Steuerersparnis in Höhe von 62 Milliarden Euro führen wird. ({1}) Das ist eine Leistung, die die frühere liberal-konservative Koalition nie zu Wege gebracht hat. ({2}) Heute geht es auch um Bürokratieabbau. Auch hier muss ich mir zunächst einmal folgende Frage stellen: Wer hat denn die ganze Bürokratie, mit der wir uns heute herumschlagen, aufgebaut? ({3}) Es war doch 16 Jahre lang die CDU und sage und schreibe 29 Jahre lang die FDP! Heute tut die FDP so, als hätte sie damit überhaupt nichts zu tun und als sei sie die Wirtschaftspartei, die Bürokratie abbaut. Sie haben sie aber aufgebaut. Wir können den Schutt jetzt wieder wegräumen. So sieht es doch real aus. ({4}) An dieser Stelle muss ich einmal ein Lob für Bundeswirtschaftsminister Clement loswerden. ({5}) - Herr Clement hat nichts getan? Er setzt an genau dem Segment unserer Wirtschaft an, an dem man ansetzen muss und in dem sich 70 Prozent unserer Arbeitsplätze befinden: im Mittelstand. ({6}) Dort versucht er - er tut dies gegen große Widerstände, was man an dieser Stelle auch einmal honorieren sollte -, Maßnahmen durchzusetzen, die Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, in Ihrer eigenen Regierungszeit nie durchgesetzt hätten, und er wird es auch schaffen. ({7}) Ich möchte jetzt gar nicht auf alle Einzelheiten eingehen, da ich dafür nicht genug Zeit habe. Das Kleinunternehmerförderungsgesetz setzt an zwei zentralen Punkten an. Der erste Punkt ist der Bürokratieabbau. Ich möchte jetzt nicht noch einmal auf die Einzelheiten eingehen, da sie bereits dargestellt wurden. Der zweite wichtige Punkt ist die Verbesserung von Kreditmöglichkeiten. Die Verbriefung, die jetzt von der rotgrünen Koalition umgesetzt wird, ist, gerade mit Blick auf Basel II und die damit zusammenhängenden Kreditschwierigkeiten der kleinen und mittelgroßen Betriebe, ein sehr wichtiger und richtiger Schritt. Was ich allerdings - das sage ich ganz offen - an dieser Stelle nicht verstehen kann, ist der Widerstand der CDU und insbesondere der Widerstand des Herrn Merz. Der Presse habe ich entnommen, dass sich Herr Merz über diese Maßnahme ein bisschen lustig macht, indem er sagt, dass sie nichts bringen wird, da sie nur für die ganz kleinen Betriebe gelten wird. Aber diese Verniedlichung verdeutlicht ja die Denkweise des Herrn Merz oder vielleicht sogar das fehlende Gefühl für die Kleinbetriebe. Man muss sich einfach klar machen: Aus Kleinbetrieben werden, zumindest teilweise, irgendwann einmal Großbetriebe. ({8}) Wenn ich das nicht einsehe und diese Betriebe nicht fördere, dann habe ich in dieser Wirtschaft einiges nicht verstanden. Aber das „Handelsblatt“ vom 20. Januar dieses Jahres hat, glaube ich, über die Wirtschaftskompetenz des Herrn Merz und der gesamten CDU/CSU-Fraktion ein gutes und treffendes Urteil abgegeben. Im „Handelsblatt“ hieß es nämlich, dass im Jahre 2003 ein neuer Insolvenzrekord Deutschland erschüttern werde. Doch eine Megapleite werde in den Statistiken fehlen: der wirtschaftspolitische Bankrott der CDU/CSU. Diese Aussage trifft den Nagel auf den Kopf. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Carl-Ludwig Thiele von der FDP-Fraktion.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Ulrich, ich glaube schon, dass die derzeitige wirtschaftliche Situation nicht ausschließlich auf das Verhalten von Herrn Merz zurückzuführen sein kann, denn noch ist die Regierungsverantwortung nicht übernommen. Noch liegt sie bei Ihnen und das war bedauerlicherweise in den letzten vier Jahren auch schon der Fall. Das muss schnellstmöglich geändert werden, damit es mit unserem Land wieder aufwärts geht. ({0}) Mit diesem Gesetz setzt Rot-Grün die Flickschusterei am deutschen Steuerrecht fort. Morgen will der Kanzler seine Regierungserklärung abgeben und einschneidende Reformen verkünden. Die Hoffnungen - das darf man in diesem Zusammenhang nicht verkennen - auf durchgreifende Reformen beziehen sich auch und gerade auf die Steuerpolitik. Deshalb darf es gerade in der Steuerpolitik nicht mit einem Kleinklein weitergehen. Folglich ist dieses Gesetz ein viel zu kurzer Wurf. ({1}) Wir brauchen nicht zusätzliche steuerliche Ausnahmen und Sonderregelungen. Wir dürfen nicht in diesem Kleinklein weitermachen. Wir brauchen einen größeren Wurf, einen größeren Ansatz und eine Reform, die den Namen Steuerreform tatsächlich verdient. Die Steigerung in der Steuerpolitik lautet doch: kompliziert, komplizierter, rot-grün. Mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz haben Sie das Vertrauen der Bürger in eine planbare und verlässliche Steuerpolitik grundlegend und nachhaltig geschädigt. Wir brauchen eine grundlegende Steuerreform und deshalb setzt sich die FDP nach wie vor für ein einfacheres und gerechteres Steuersystem mit weniger Ausnahmen und erheblicher Senkung der Steuersätze ein. Nach Vorstellung der FDP soll es nur noch eine Einkunftsart geben. Der Eingangssteuersatz soll 15 Prozent betragen, dann folgen 25 Prozent und der Spitzensteuersatz von 35 Prozent. Am Tag vor der vom Bundeskanzler selbst so apostrophierten Ruckrede, von der ein Aufbruchsignal für unser Land ausgehen soll, erleben wir hier wieder klassische klein-kleine Politik. ({2}) Es erstaunt schon sehr, dass einen Tag vor der Befassung des Bundesrates mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz von Rot-Grün nunmehr ein neues Steuervergünstigungsgesetz vorgelegt wird, in dem neue Vergünstigungen enthalten sind. Wahrscheinlich werden diese Vergünstigungen, sollten sie je Gesetz werden, in einem nächsten Steuervergünstigungsabbaugesetz von Ihnen wieder gestrichen. ({3}) Auf der einen Seite wollen Sie die Bürger und die Steuerpflichtigen durch das Steuervergünstigungsabbaugesetz mit mehr als 15 000 Millionen Euro pro Jahr zusätzlich belasten. ({4}) - 15 000 Millionen Euro, Frau Staatssekretärin, sind 15 Milliarden Euro. ({5}) -Nein, das war ein Verständnisfehler. - Auf der anderen Seite versuchen Sie, mit diesem Gesetz öffentlich den Eindruck zu erwecken, als käme nun endlich der steuerpolitische Durchbruch für kleine Unternehmen in unserem Lande. Das ist genauso, als wenn Sie auf einen Bauernhof gehen und ein Schwein wegnehmen und anschließend derjenige, dem Sie vorher das Schwein genommen haben, noch Danke schön dafür sagen soll, dass Sie ihm ein Kotelett zurückgeben. Das kann nicht funktionieren. ({6}) - Ja, aber es ist leider Ihre Politik, Frau Scheel. Insofern ist das leider gar kein Witz, sondern es ist die Realität. Es zeigt, wie Rot-Grün Steuerpolitik betreibt. Diese Realität werden wir weiter kritisieren und wollen wir verändern. ({7}) Die Steuerpflicht ist an dieser Stelle auch nicht das erste Problem; denn die meisten Existenzgründer haben zunächst erheblich mehr Kosten als Einnahmen. Insofern bezweifle ich auch, dass der errechnete steuerliche Ausfall für Existenzgründer tatsächlich in der von Rot-Grün vorgesehenen Größenordnung eintritt. Man muss sich natürlich fragen: Nutzt dieses Gesetz oder ist es lediglich weiße Salbe? Sind die Steuern tatsächlich das Problem oder ist es nicht vielmehr die Bürokratie? Wir brauchen Bürokratieabbau, dort muss angesetzt werden. Das würde den Existenzgründern erheblich mehr helfen als dieses Gesetz. ({8}) Ihnen ist ja auch bewusst, dass Sie mit dieser neuen steuerlichen Ausnahmebestimmung zu Missbrauch förmlich einladen. Gleichzeitig mit der Schaffung dieser steuerlichen Ausnahme erklären Sie, dass der Gesamtbetrag der Einkünfte 35 000 Euro und im Falle der Zusammenveranlagung 70 000 Euro nicht übersteigen soll. In Ihrer Begründung weisen Sie zutreffend darauf hin, dass die Begrenzung dazu dienen soll, unerwünschte Gestaltungen durch die Verlagerung von Einkünften zu vermeiden. Das wird Ihnen aber nur begrenzt gelingen, weil hier wirklich ein Steuerschlupfloch geschaffen wird. Sie werden noch erleben, wie Steuerfindige dieses Schlupfloch nutzen werden. ({9}) Trotz des Versuchs, die Missbrauchsmöglichkeiten, die sich natürlich durch diese neue Ausnahmeregelung ergeben, wieder einzugrenzen, schaffen Sie genau das Gegenteil dessen, was Sie an anderer Stelle fordern. Sie verkomplizieren unser Steuerrecht, statt es zu vereinfachen. Auch an dieser Stelle doktern Sie ausschließlich an Symptomen herum, anstatt eine mutige und klare Reform zu beschließen. Wir brauchen mehr Mut und eine andere Denkweise der Regierung als die ausschließlich fiskalische Sichtweise des Finanzministers. Es ist kennzeichnend, dass Rot-Grün in der Debatte zu diesem wie auch zum vorigen Tagesordnungspunkt ausschließlich von einem Stabilitätspakt spricht. Es handelt sich aber um einen Stabilitäts- und Wachstumspakt. ({10}) Dass Sie mit Ihrer Politik das Wachstum in Deutschland so abwürgen, ist ein Zeichen für Hoffnungslosigkeit. Dem werden wir entschieden entgegentreten. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für die Bundesregierung zählt die Verbesserung der Förderung von Kleinunternehmern und Existenzgründern zu den Prioritäten, um Wachstum und Beschäftigung zu sichern und zu stärken. Mit diesem Gesetz leisten wir dazu einen Beitrag, der - das sage ich besonders in Richtung der Opposition - nicht unterschätzt werden sollte. Wir verbessern einerseits die Finanzierungsbedingungen, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, und stärken die Eigenkapitalbasis von Existenzgründern. Andererseits bauen wir unnötige Bürokratie ab und sorgen für eine spürbare Vereinfachung des Steuerrechts. Mit diesem Gesetz werden auch die ersten Teile des von der Bundesregierung am 26. Februar dieses Jahres beschlossenen Sofortprogramms zum Bürokratieabbau umgesetzt. Die Bedeutung dieses Sofortprogramms brauche ich eigentlich nicht zu betonen. Es wurde hier mehrmals davon gesprochen, es müsse uns ein großer Wurf gelingen. Ich weiß nicht, was genau man sich darunter vorstellen soll. Bei Hunden spricht man bei sieben Welpen auf einmal von einem großen Wurf. Allerdings muss auch bei einem solchen Wurf jeder dieser Welpen für sich lebensfähig sein. So gibt es auch im Rahmen des Sofortprogramms einzelne Projekte, die in dieses Programm hineinpassen. Dazu zählt auch das Programm zum Bürokratieabbau. Überflüssige Bürokratie beeinträchtigt gravierend die Möglichkeit zur Entfaltung produktiver oder innovativer Tätigkeiten. Umfang und Komplexität rechtlicher Regelungen sowie ihre häufigen Änderungen erschweren es gerade den kleinen Unternehmen, den Überblick über die vielfältigen Rechte und Pflichten zu behalten sowie den damit verbundenen Anforderungen gerecht zu werden. Das Gleiche gilt in besonderem Maße für Existenzgründer, die ihre Aufmerksamkeit und Energie in der Startphase ganz anderen Dingen widmen sollten und wollen. Deshalb ist die rasche Umsetzung unseres Sofortprogramms zum Bürokratieabbau so wichtig. Die Bürokratie ist - darauf hat schon der Kollege Ulrich hingewiesen in der Bundesrepublik Deutschland schließlich nicht erst in den letzten vier Jahren, ({0}) sondern über Jahrzehnte hinweg aufgebaut worden. Wir haben über diese lange Zeit gemeinsam zu deren Aufbau beigetragen, deswegen sollten Sie uns nun auch bei ihrem Abbau helfen. Es sollte sich niemand einen schlanken Fuß machen. Es darf niemand behaupten, auf der Ebene von Bund und Ländern hätten nur bestimmte Mehrheiten zum Aufbau beigetragen und andere Mehrheiten nicht. Durch das Zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, in dem die ersten Teile des so genannten Hartz-Konzeptes umgesetzt werden, sollen Existenzgründer besonders gefördert werden. Es wurden deshalb durch Änderungen im Dritten, Vierten und Sechsten Buch Sozialgesetzbuch gezielt Anreize geschaffen, durch die Arbeitslose verstärkt zur Gründung selbstständiger Existenzen im Rahmen der so genannten Ich-AG angeregt werden sollen. So wird der Übergang in die Selbstständigkeit zeitlich befristet sozial flankiert, indem die Gründerinnen und Gründer einer solchen IchAG in den Schutz der Sozialversicherung einbezogen bleiben und Fördermittel bekommen. Zudem wird der Schritt in die Selbstständigkeit durch den so genannten Existenzgründungszuschuss gefördert. Zur weiteren Förderung dieser neuen Form der Selbstständigkeit sind darüber hinaus Vereinfachungen des Steuerrechts erforderlich. Dazu haben wir heute Vorschläge vorgelegt. Nach den Empfehlungen der HartzKommission werden für die steuerliche Behandlung der Ich-AG unkomplizierte, leicht zu handhabende Regelungen benötigt. So fühlen sich gerade Existenzgründer vielfach dadurch belastet, dass nach den geltenden Bestimmungen des Steuerrechts bereits bei geringen Einnahmen bzw. Umsätzen umfassende Aufzeichnungsund Erklärungspflichten bestehen. Schon zur Erfüllung der elementaren Buchführungspflichten muss vielfach die Hilfe von Steuerberatern hinzugezogen werden. Beim bisher geltenden Recht bezüglich der Buchführungspflichten haben wir in den letzten Jahren nichts geändert. Wir verändern es erst jetzt, und zwar zum Positiven. Die bisher bestehenden Regelungen sind auf Ihre Verantwortung zurückzuführen. Durch sie entstehen Kosten, die die zumeist ohnehin geringen Gewinne der Existenzgründer zusätzlich schmälern. Das gilt in gleichem Maße natürlich auch für eine Vielzahl bereits bestehender Klein- und Kleinstunternehmen, für die deshalb ebenfalls ein Bedarf an Vereinfachungen besteht. Ich spreche hier ausdrücklich von Klein- und Kleinstunternehmen und wende mich an den gerade telefonierenden Kollegen Michelbach. Es geht hier nicht um das, was wir im eigentlichen Sinne unter Mittelstand verstehen. Der Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland ist groß und vielfältig; die Definitionen sind unterschiedlich. Es geht stattdessen um die Gründung von Klein- und Kleinstunternehmen, aus denen, wie wir hoffen, mit unserer gemeinsamen Unterstützung größere Unternehmen werden können. In dem Gesetzentwurf haben wir deshalb eine vereinfachte Gewinnermittlungsmöglichkeit für Existenzgründer und Kleinunternehmer verankert. Nach der Vereinfachungsregelung darf der Kleinunternehmer die Hälfte seiner Betriebseinnahmen pauschal als Betriebsausgaben abziehen. Selbstverständlich gehen wir dabei von der Annahme aus, dass dieser Kleinstunternehmer seinen Umsatz letztlich durch seine eigene Arbeitskraft und ohne weitere größere Kosten erzielt. Nur dann ist das natürlich interessant. Sobald er Kosten in größerem Umfang hat, ist er natürlich an Abschreibungen und am Vorsteuerabzug interessiert und wird selbstverständlich für die normale Besteuerung optieren. Es geht um diejenigen - dies sage ich ein wenig untechnisch -, die für sich allein herumpuzzeln und mit der Arbeit beginnen, aus der, wie wir alle hoffen, einmal mehr wird. Für die Zeit, in der sie damit beginnen, sich mit ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten am Markt zu behaupten, wollen wir ihnen diese Erleichterung geben. Einen größeren Anspruch verbinden wir damit ja gar nicht. Wir sagen nicht, dass das eine Mittelstandsförderung ist. Das hat niemand von uns behauptet. Es geht - ich sage es noch einmal - darum, diejenigen, die allein aufgrund ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten anfangen wollen, zu arbeiten, in der Anfangsphase von bürokratischen Hemmnissen zu befreien. Die vereinfachte Gewinnermittlung, bei der pauschal angenommen wird, dass die Hälfte des Umsatzes Kosten sind, ist selbstverständlich eine große Erleichterung. Das geht natürlich auch mit der Umsatzsteuerregelung, die im geltenden Recht eine Umsatzsteuerbefreiung bei einem Umsatz von bis zu 16 600 Euro vorsieht, einher. Kollege Michelbach, daher kommt auch die Grenze. Wir sprechen von 17 500 Euro und heben damit die Grenze nach dem geltenden Recht etwas an. Das dürfen wir ohne die Genehmigung der EU. Wir dürfen aber keine Umsatzsteuerbefreiung in jeder denkbaren Höhe durchführen. Das müssten wir uns von der EU-Kommission genehmigen lassen. Wirklich bürokratieentlastend und helfend ist das nur, wenn die vereinfachte Gewinnermittlung mit der Umsatzsteuerfreiheit einhergeht. Deshalb orientieren wir uns auch an den Freigrenzen im Umsatzsteuerrecht. Das ist also nicht willkürlich. Eine richtige Bürokratieentlastung gibt es natürlich nur, wenn die Umsatzsteuer gar nicht anfällt und die Einkommensbesteuerung sehr vereinfacht wird. Wir behaupten nicht, dass dies eine Mittelstandsförderung im engeren Sinne ist. Es geht darum, diejenigen, die mit der Arbeit beginnen und mit ihren eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten neu am Markt sind, zu stärken. Das ist der entscheidende Punkt. Es wird immer wieder gesagt, dass es in vielen Ländern der Welt eine sehr viel höhere Selbstständigenquote als in der Bundesrepublik Deutschland gibt. Das liegt natürlich daran, dass der Maronenverkäufer oder der Schuhputzer in Portugal als selbstständig gelten. Solche Tätigkeiten gibt es in der Bundesrepublik Deutschland gar nicht. Ich will jetzt nicht sagen, dass zukünftig Maronenverkäufer oder Schuhputzer gefördert werden sollen. Darum geht es mir wirklich nicht. ({1}) Wir werden aber mit diesen Ländern verglichen und uns wird immer wieder vorgehalten, es gäbe dort eine höhere Selbstständigenquote als in der Bundesrepublik Deutschland. Dabei vergisst man, zu erwähnen, dass es sich dabei um Menschen handelt, die für sich alleine eine nicht viel Geld bringende Tätigkeit ausüben und gleichwohl als Selbstständige in der Statistik stehen auch in Südeuropa. Ich will noch die Anhebung der Buchführungspflichtgrenzen erwähnen. Herr Kollege Michelbach, Sie haben das eben kritisiert. Immerhin gehen wir von den Grenzen aus, die Sie in Ihrer Gesetzgebungsverantwortung gesetzt haben. Wir heben sie an. Auch hier gibt es eine Erleichterung. Die Standardisierung der Einnahmenüberschussrechnung - das will ich noch sagen - ist von großer Bedeutung. Auch dies wird nicht nur den an der Wirtschaft Beteiligten, sondern auch der Finanzverwaltung sehr helfen. Ein Wort noch zur Stärkung der Unternehmensfinanzierung: Wir schaffen eine Gewerbesteuererleichterung im Bereich der so genannten Zweckgesellschaften, die zum Beispiel eine Verbriefung von Krediten vornehmen. Das ist natürlich ein etwas anderes Feld, das nichts mit der Kleinstunternehmensförderung im engeren Sinne zu tun hat. Dies ist ein wirklich innovatives Instrument. Das erwähne ich deshalb, weil Sie uns immer vorwerfen, wir hätten keine Ideen, sondern würden immer nur auf alten Pfaden wandeln. Bisher findet Verbriefung in der Bundesrepublik Deutschland nicht statt, sondern kam ausschließlich im Ausland zur Anwendung. Wir sorgen dafür, dass die Zweckgesellschaften bei der Gewerbesteuer mit Banken gleichgestellt werden. Damit wird Verbriefung zum ersten Mal in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden. Lediglich die Kreditanstalt für Wiederaufbau hat mit diesem Instrument schon seit einigen Jahren Erfahrungen sammeln können. Die Verbriefung führt zu einer Eigenkapitalstärkung der in der Bundesrepublik Deutschland tätigen Banken und infolgedessen zur Möglichkeit der Ausreichung weiterer Kredite. Dies wird dem Mittelstand in seiner Gesamtheit und nicht nur den Kleinstunternehmen zugute kommen. Ich glaube nicht, dass die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition diesen Gesetzentwurf ablehnen werden. Ich bin sicher, dass sie ihm zustimmen werden. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Schauerte von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. Ich möchte vorweg drei kurze Bemerkungen machen, die sich insbesondere an Sie richten, Herr Ulrich. Erste Bemerkung: Wenn Sie unsere Steuerreform, die im Prinzip richtig war, nicht blockiert hätten, dann hätten wir vier Jahre früher eine Steuerreform mit vernünftigen Steuersätzen gehabt und alles wäre deutlich besser. ({0}) Zweite Bemerkung: Da Sie von Größenordnungen geredet haben, möchte ich Sie daran erinnern, dass Sie es mit Ihrer Regierungskunst fertig gebracht haben, in zwei Jahren 50 Milliarden Euro an die Großkonzerne dieses Landes zurückzugeben. ({1}) Damit haben Sie nahezu alle Haushalts- und Finanzplanungen zunichte gemacht. Eine solche Größenordnung habe ich mir vorher nicht vorstellen können. Dies ist der eigentliche steuerpolitische Skandal der zurückliegenden vier Jahre. ({2}) Dritte Bemerkung: Sie haben dafür geworben, Minister Clement einmal zu loben. Ich kenne ihn aus NordrheinWestfalen sehr gut. Er galt als Mann der 100 Baustellen. Freunde von ihm haben darauf hingewiesen, dass es kein Richtfest gegeben hat. Kritiker behaupten, dass er bei seinen 100 Baustellen schon über das Schnurgerüst gestolpert ist. Sie werden erleben, dass er über Ankündigungen im Wesentlichen nicht hinauskommt; denn den Beweis des Gegenteils ist er bisher schuldig geblieben. ({3}) - Wer hat Ihnen denn das Hartz-Konzept nahe gebracht? Es müsste eigentlich Karl-Josef-Laumann-Konzept heißen. Wo sind wir denn hier? ({4}) Das Einzige, was beim Hartz-Konzept funktioniert - wir haben uns gerade die erste Zwischenbilanz von der Bundesanstalt für Arbeit zeigen lassen -, sind die Minijobs. Offensichtlich berechtigen diese Sie zu den schönsten Hoffnungen. Ihr wärt doch kein Jota weitergekommen, wenn wir es euch nicht vorgemacht hätten. Den Unsinn mit den 400-EuroMinijobs, dem vollen Sozialbeitragssatz auf Einkommen bis 800 Euro und das Scheinselbstständigengesetz habt ihr endlich wieder rückgängig gemacht. An dieser Stelle kann es also besser werden. Herzlichen Glückwunsch! ({5}) Auf die aktuelle katastrophale Lage antworten Sie mit diesem Programm. Wenn jemand Angst vor der Lösung schwieriger Aufgaben hat, dann beschäftigt er sich mit den kleinen Aufgaben. Genau das ist es, was Sie hier machen. Sie trauen sich nicht an die wirklichen Fragen heran, sondern doktern daher an relativ kleinen Wehwehchen herum, obwohl das ganze Wirtschaftshaus lichterloh brennt. Sie kommen mir wie eine Feuerwehrtruppe vor, der es angesichts eines brennenden Hauses mit viel Mühe gelungen ist, Frau Dr. Hendricks, ein Glas Wasser zu organisieren, um wenigstens den Eindruck des Löschens zu erwecken. Mehr ist das, was Sie jetzt tun, nicht. Das hilft aber nicht wirklich. Deswegen muss es jedoch nicht falsch sein. Wenn der Hunger groß ist, dann hilft auch ein Brotkrümel, aber er verbessert die Ernährungslage nicht nachhaltig und grundsätzlich. Aus diesem Handeln kann nichts werden. ({6}) Ihr Tun ist eher propagandistisch gemeint als in der Substanz wirklich hilfreich. Zudem ist es eine Beschäftigung von Parlamentariern. Sie werfen uns den kleinstmöglichen Knochen hin, damit wir an ihm herumnagen. Aber bei den wirklich notwendigen Aufgaben haben Sie die Waffen gestreckt. ({7}) Es kann natürlich sein, dass morgen das Wunder von der Spree passiert: Aus Schröder wird ein mutiger Visionär. Bisher lässt Ihr Wirken aber nur eine bedauerliche Bilanz zu. Zur Sache: Die Richtung ist in Ordnung, aber mit minimalem Bewegungsfortschritt. Wir werden über vieles reden können, zum Beispiel über die Größenordnungen. Ich darf daran erinnern, dass die Ansätze bei der Umsatzsteuer in der letzten Legislaturperiode schon deutlich waren. Wir hatten in der letzten Legislaturperiode 40 000 Euro und 400 000 Euro beantragt, nicht 30 000 und 350 000 Euro, wie Sie es jetzt machen. Insoweit haben wir schon in der letzten Legislaturperiode die Richtung vorgegeben. Uns scheinen diese Grenzen noch zu niedrig zu sein. Ich sage Ihnen - damit bin ich im Prinzip schon am Ende meiner Rede -: Dieses Programm wird kein Befreiungsschlag für den Mittelstand sein. Es wird kein Ruck durch unser Land gehen, sondern es wird nur tröpfchenweise dem einen oder anderen helfen können. Im Übrigen ist das, was Hans Michelbach im Einzelnen als Kritik vorgetragen hat, richtig. Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung zum Thema Banken und Mehrwertsteuerregelung für die Asset-Backed-Security-Finanzierung machen. Das ist eine überfällige, notwendige Sache, die wir nur begrüßen können. Das zeigt wieder einmal, dass wir in vielen Fällen inländische Produktionen nicht halten können, weil unser Steuerrecht nicht so flexibel ist wie in den Ländern um uns herum. Das ist also eine Hilfe. Ich bin auch dankbar, dass wir von dem Weg ab sind, dass allein die IKB das machen soll. Das ist eigentlich nicht die zentrale Aufgabe der IKB, sondern das ist die normale Aufgabe des deutschen Kreditgewerbes. Es muss steuerlich in die Lage versetzt werden, dies unter europäischen Wettbewerbsbedingungen zu organisieren. Der Schritt kann also nur breite Zustimmung finden. ({8}) Je schneller das gelingt, umso besser; denn wir brauchen im Mittelstand auch diese Art der Finanzierung. Ich denke, wir werden im Bundesrat - das Ganze ist ja zustimmungspflichtig - sorgfältig beraten. Wir werden über Einzelheiten und über Verbesserungen in der einen oder anderen Struktur beraten. Es mag sein, dass wir am Ende zustimmen werden. Ich kann das noch nicht übersehen, weil wir nicht wissen, was Ihnen dazu noch einfällt. ({9}) Eine gewisse positive Tendenz ist bei uns vorhanden. Aber halten Sie den Ball bitte schön flach. Es ist ein Miniprogramm; das denkbar kleinste Programm zur Lösung eines erstaunlich großen Problems. ({10}) Wir werden uns nicht verweigern. Aber das ist allenfalls ein zarter Hauch vom Anfang gründlicher Reformen, zu denen Sie immer noch keinen Mut haben. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/537 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatzpunkt 4 auf: 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Johannes Singhammer, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Flächendeckende Versorgung mit Postdienstleistungen sicherstellen - Drucksache 15/466 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke, Birgit Homburger, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wettbewerbsbedingungen bei Vertrieb von Postdienstleistungen schaffen - Drucksache 15/579 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Allerdings wollen eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen ihre Reden zu Protokoll geben. Es handelt sich um die Kollegen Ulrich Kelber und Hubertus Heil von der SPD-Fraktion und die Kollegin Michaele Hustedt von Bündnis 90/Die Grünen1). Die Kollegen von CDU/ CSU und FDP wollen allerdings reden. Ich weiß nicht, ob der Wunsch in Anbetracht der geringen Zuhörerzahl immer noch besteht. ({2}) - Also, Sie bestehen darauf. Das ist Ihr gutes Recht. Dann gebe ich das Wort als erstem Redner dem Kollegen Johannes Singhammer von der CDC/CSU-Fraktion. ({3})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieser Tagesordnungspunkt schließt nahtlos an den vorhergehenden an. Wir wollen, dass 7 000 private mittelständische Postagenturen Existenzsicherheit erhalten und dass vonseiten der Deutschen Post AG mit den privaten Postagenturbetreibern fair und partnerschaftlich umgegangen wird. Wir wollen, dass die Deutsche Post AG als Privatunternehmen weiterhin Gewinn machen kann. Wir wollen aber auch, dass die Menschen in Deutschland weiterhin flächendeckend mit Postdienstleistungen versorgt werden. Nun ist bekannt, dass derzeit viele Tausende Agenturbetreiber in großer Sorge sind. Bürgermeister und Landräte fürchten um die Postversorgung in Gemeinden und Kreisen. Postagenturverträge werden in großem Umfang gekündigt. Innerhalb von zwei Wochen sollen sich Postagenturbetreiber für einen geänderten Vertrag entscheiden. ({0}) Viele befürchten hinsichtlich der flächendeckenden Versorgung weiße Flecken auf der Landkarte. ({1}) Viele private Postagenturbetreiber empfinden die neuen Vertragsbedingungen, die ihnen präsentiert werden, als wesentlich ungünstiger. Viele Landräte und Bürgermeister befürchten deshalb, dass eine schlechtere Versorgung droht. Die größten wirtschaftlichen Einbußen erwarten die einzelnen privaten Postagenturbetreiber durch folgende Regelungen: Es soll eine Vergütungsreduktion um 25 bis 30 Prozent erfolgen. Die Kündigungsfristen der Verträge sollen von bisher zwölf und mehr Monaten auf maximal sechs Monate verkürzt werden. Damit geht eine entsprechende Planungs- und Investitionsunsicherheit einher. Gravierende Änderungen drohen bei der Vergütungsstruktur. Künftig sollen 80 Prozent auf pauschale Vergütung und nur noch 20 Prozent auf einen leistungsbezogenen Anteil entfallen. Bisher war das Verhältnis exakt umgekehrt. Der Vorsitzende des Verbandes der Postagenturunternehmer, Herr Modery, rechnet im Schnitt nur noch mit einem Stundenlohn von 4,50 Euro in diesen privaten Agenturen. Die finanziellen Einbußen werden von der Deutschen Post AG nicht bestritten. Von ihrer Seite heißt es: Die Grundvergütung hat sich als zu hoch erwiesen. An die Stelle der transaktionsabhängigen Bezahlungen tritt nunmehr eine pauschale Vergütung für die einfachen Serviceleistungen. Aus der Umstellung resultiert insgesamt zunächst eine individuelle Absenkung der bisherigen Vergütung. Wir befürchten nun, dass bei einem Drittel der privaten Postagenturen die bestehenden Verträge nicht mehr verlängert werden, weil sie sich als nicht mehr rentabel erweisen. ({2})1) Anlage 6 Unterstützt wird diese Befürchtung durch große Werbeanzeigen, mit denen die Post AG zusammen mit einer Versandhauskette letztlich eine andere Vertragsgestaltung mit Verdienstmöglichkeiten von nur 400 Euro - das entspricht den Minijobs, über die wir eben gesprochen haben -, also auf einem niedrigeren Niveau, durchzusetzen versucht. Das Postgesetz sieht in Verbindung mit der Post-Universaldienstleistungs-Verordnung, die die frühere Bundesregierung unter dem damaligen Postminister Wolfgang Bötsch seinerzeit durchgesetzt hat ({3}) und die sich insgesamt als erfolgreich erwiesen hat, vor, bundesweit mindestens 12 000 stationäre Einrichtungen zu betreiben, von denen nach geltender Gesetzeslage bis zum 31. Dezember 2007 mindestens 5 000 Einrichtungen mit unternehmenseigenem Personal betrieben werden müssen. Mindestens 7 000 private Partner müssen gefunden werden, die die Postagenturen betreiben. Zudem haben wir festgelegt, dass eine lückenlose Flächendeckung zu gewährleisten ist. ({4}) - Wir haben die Rahmenbedingungen geschaffen. Selbstverständlich kann die Deutsche Post AG im Rahmen ihrer unternehmerischen Freiheit neue vertragliche Vereinbarungen eingehen. Das ist ihr gutes Recht. Wir sind zwar für Vertragsfreiheit, aber wir wollen, dass das Prinzip der Flächendeckung nicht gefährdet wird. Jetzt kommen wir zu dem entscheidenden Punkt. Die Bundesregierung als Mehrheitsaktionär der Deutschen Post AG muss zu ihrer politischen Verantwortung stehen und ihren Einfluss als Eigentümer geltend machen. ({5}) Sie kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Wir betonen in diesem Zusammenhang, dass es nicht darum geht, plötzlich das Aktienrecht zu ändern und entsprechende Änderungen hinsichtlich des Einflusses der Eigentümer vorzunehmen. Die Bundesregierung steht aber als Mehrheitsaktionär der Deutschen Post AG in der Verantwortung. Selbst Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement hat das in einem Schreiben an den bayerischen Wirtschaftsminister vom 31. Januar dieses Jahres eingeräumt: Im vorliegenden Fall müssen die Verträge jedoch so gestaltet werden, dass die Deutsche Post AG ihre rechtlichen Verpflichtungen einer flächendeckend angemessenen und ausreichenden Versorgung mit Postdienstleistungen auch erfüllen kann. Damit hat er Recht und dafür verdient er Beifall. ({6}) Die Gewerkschaften, denen viele Kollegen der Opposition angehören, verlangen im Übrigen Ähnliches, wenn auch in einem anderen Zusammenhang. Erst vor wenigen Tagen, am 11. März dieses Jahres, empörte sich die bei Verdi für den Bereich Post zuständige Gewerkschaftsfunktionärin, Frau Sigrud Schmid, dass der Bund als Mehrheitsaktionär nicht darauf dränge, dass die Post in Sachen Übernahme der Auszubildenden vorbildlich agiere. Die Eigentümerverantwortung des Bundes kann nicht je nach Laune wahrgenommen werden, sondern muss konsequent für alle Geschäftsbereiche gelten. ({7}) Die Deutsche Post zu privatisieren war richtig. Wir können stolz sein, dass die Deutsche Post AG ein erfolgreiches Unternehmen ist, das nach einem aktuellen Bericht der EU-Kommission - er ist erst vor wenigen Tagen erschienen - als Universaldienstleister im europäischen Bereich bei der Rentabilität an der Spitze liegt und mit 2 038 Millionen Euro Gewinn im Jahr 2000 weit vor allen anderen Postunternehmen in der Europäischen Union lag. Allerdings darf die Deutsche Post AG - jetzt kommt die Verpflichtung, die sich daraus ergibt - ihre Monopolstellung nicht ausnutzen. Wir wollen, dass sie ihre Verantwortung auch gegenüber den mittelständischen Betrieben wahrnimmt und ihnen ein fairer und gerechter Partner ist. Aktive Mittelstandsförderung in diesem Bereich heißt für uns ganz konkret, dass die 7 000 kleinen und mittelständischen Postagenturen einen Anspruch haben, dass ihre Interessen auch auf der Eigentümerseite der Deutschen Post AG vertreten werden. Deshalb hat die Bundesregierung die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass die Deutsche Post AG zu einem klaren Kurs kommt, der sich an einer fairen und partnerschaftlichen Geschäftspolitik orientiert. ({8}) Die Deutsche Post AG braucht angesichts ihrer starken Stellung auch einen starken Verhandlungspartner. Ich meine - so steht es auch in unserem Antrag -, ein solch starker Partner könnte beispielsweise der Verband der Postagenturunternehmer oder der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels sein. Mit solchen Vertragspartnern kann die Deutsche Post AG auf gleicher Augenhöhe über die Vertragsmuster und die inhaltliche Ausgestaltung der neuen Verträge verhandeln. So wäre echte Partnerschaft möglich. Wenn das alles nicht zur Durchsetzung des von uns festgelegten Flächendeckungsprinzips und der von mir skizzierten Forderungen führen sollte, dann müssten als allerletzte Lösung Bußgelder verhängt werden. Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir wollen ein Miteinander und kein Gegeneinander. Wir wollen eine erfolgreiche Post und viele erfolgreiche mittelständische Postagenturen. Wir haben unseren Antrag so konzipiert, dass es eine gute Zukunft für alle Beteiligten gibt. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Funke von der FDP-Fraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ausgangspunkt unserer heutigen Debatte ist ja der überfallartige Versuch der Deutschen Post AG, die bisherigen Agenturverträge, mit denen es eigentlich keine Probleme gab, zulasten der zumeist mittelständischen und kleineren Unternehmen zu verändern. Dieser Versuch findet seinen Ausdruck in einem 39-seitigen Vertrag, den man den Kleinunternehmen mit der Aufforderung übergeben hat: Ihr müsst diesen Vertrag spätestens in zwei Wochen unterschrieben haben! ({0}) Dieses Vertragswerk trägt auch noch den schönen Titel Partnervertrag. ({1}) Von partnerschaftlichen Verhältnissen kann überhaupt keine Rede sein. Wenn Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, mit Ihren Partnern, auf welchem Gebiet auch immer, so umgehen würden, wie die Deutsche Post AG mit ihren Agenturen umgeht, ({2}) dann sind Sie bald in allen Lebensbereichen allein. ({3}) Genau das will offensichtlich die Post AG auch selber. Wir müssen auch befürchten, dass die Post AG diese Politik umsetzt. Denn wenn man einseitig als Monopolist den Partner zu knebeln und in seiner wirtschaftlichen Existenz niederzumachen versucht, dann wird man alsbald allein dastehen und die bisherigen Dienstleistungen der Agenturen nicht mehr in Anspruch nehmen können. Gerade da sind wir als Politiker gefragt, obwohl die Post AG inzwischen privatisiert ist ({4}) und in der Rechtsform der Aktiengesellschaft an der Börse notiert ist. In diesem Fall ist nämlich die Versorgung der Bevölkerung mit den Postdienstleistungen gefährdet, ({5}) und das zu einer Zeit, in der die Deutsche Post AG die Zahl ihrer eigenen Filialen immer weiter zurückführt. ({6}) - Darf ich einmal Ihren Redefluss etwas unterbrechen, Herr Kollege?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Dreßen, würden Sie, wenn Sie schon hier sind, dem Redner das Gehör schenken? - Vielen Dank.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- Nicht nur das, er sollte auch nicht so laut reden, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Hier zeigt sich, wie Recht die FDP damit hat, dass sie seit Jahren fordert, dass das Briefpostmonopol der Deutschen Post AG aufgegeben werden muss. ({0}) Nur ein Monopolist wie die Deutsche Post AG kann sich in so erdrückender Weise gegenüber den vermeintlich kleinen Vertragspartnern verhalten und Geschäftsbedingungen diktieren. Die Postagenturen werden, wenn die Verträge umgesetzt werden, 25 bis 30, zum Teil sogar mehr Prozent ihrer Einkünfte verlieren und sie müssen dafür sogar noch mehr Dienstleistungen erbringen. Nun wird man der FDP entgegenhalten wollen, dass die Deutsche Post AG als privates Unternehmen jetzt dem Aktiengesetz unterliegt und der Vorstand deshalb unternehmerisch und unabhängig handeln darf. Das ist richtig, aber der Bund hat noch die Mehrheit am Unternehmen und somit auch in Person des Herrn Wirtschaftsministers, der immerhin durch seinen Parlamentarischen Staatssekretär vertreten ist - darüber freuen wir uns sehr -, über die Regulierungsbehörde, über den Aufsichtsrat oder die Hauptversammlung die Möglichkeit, doch Einfluss auf das Unternehmen zu nehmen. Dieses ist auch notwendig. ({1}) Hier zeigt sich einmal mehr, dass es nicht allein darauf ankommt, eine private Rechtsform zu schaffen, sondern dass Privatisierung auch bedeuten muss, dass das Unternehmen voll dem Wettbewerb ausgesetzt wird. Privatisierung und Wettbewerb müssen Hand in Hand gehen. Jetzt zeigt sich, dass es ein Fehler war, die von Anfang an bestehende Forderung der FDP auf Aufhebung des Postmonopols abzuweisen und dieses Postmonopol sogar noch bis zum Jahr 2007 zu verlängern, was Sie vor kurzem getan haben. ({2}) Die Deutsche Post AG missbraucht ihre Marktmacht. Deswegen ist es auch folgerichtig, dass das Bundeskartellamt im Wege seiner Missbrauchsaufsicht das Vertriebssystem der Post AG überprüft, damit der Eintritt großer wirtschaftlicher Schäden zulasten der Postkunden infolge monopolistischer Verhaltensweise vermieden werden kann. Die Bundesregierung sollte entweder über ihren Einfluss als Hauptaktionär oder über die Regulierungsbehörde darauf hinwirken, dass diese Knebelverträge zwischen der Deutschen Post AG und den Postagenturen bis zum Abschluss der Prüfung durch das Kartellamt nicht in Kraft treten. ({3}) Insoweit haben wir ausdrücklich auf unseren Antrag zu verweisen, der sich etwas von dem CDU/CSU-Antrag unterscheidet. Meine Damen und Herren, die Zeit drängt. Die Regierung ist im Interesse der mittelständischen Wirtschaft und der Postkunden aufgefordert, schnell zu handeln. Bitte tun Sie endlich etwas für die Postkunden. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Börnsen von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! ({0}) - Ich finde, dieser Anlass ist schon ernst genug, um verantwortungsvoll darüber zu diskutieren, wie sich die Post in der Frage der Vertragsneugestaltung verhält. Der bürgernahe Bundespräsident Walter Scheel hat das Lied von der Post populär gemacht: Hoch auf dem gelben Wagen Sitz ich beim Schwager vorn. Vorwärts die Rosse traben, Lustig schmettert das Horn. ({1}) - Denen, die jetzt lachen, darf ich nur sagen: Wenn die letzte Strophe kommt - auch die werde ich noch vortragen -, dann wird einigen das Lachen im Halse stecken bleiben. In einer optimistischen Aufbruchstimmung dürften sich die 7500 Postagenturbetreiber befunden haben, die dort, wo die Post ihr Filialnetz rigoros ausdünnte, den Postdienst übernommen haben. Besonders im ländlichen Raum wurde damit nicht nur ein Kahlschlag verhindert; mit dem Einstieg der privaten Anbieter verbesserte sich vielmehr auch der Service: längere Öffnungszeiten und freundlichere Bedienung. Außerdem wurde und wird die Möglichkeit von den Bürgern als Vorteil empfunden, die Post dort zu erledigen, wo auch andere Dienstleistungen in Anspruch genommen werden können. Sicherlich war die Skepsis zu Beginn der neuen Postepoche groß, Brief- und Paketdienste durch Fachfremde in Anspruch zu nehmen; doch die Akzeptanz wuchs mit der Qualität der Agenturen. Auch wenn Senioren und Mitbürger ohne Auto im ländlichen Raum weitere Wege akzeptieren mussten, hat sich das weitmaschige Agentursystem bewährt. ({2}) Jetzt will es der Postvorstand offensichtlich zerschlagen, denn eine Reduzierung der Vergütung um 25 bis 35 Prozent raubt fast jeder zweiten Postagentur die Existenzgrundlage. Wie in frühkapitalistischen Zeiten presst jetzt ein Staatsmonopolist die abhängigen Kleinunternehmen aus. Der Mittelstand wird wieder einmal getroffen. Mit rüden und rücksichtslosen Methoden ist die Post dabei, Tabula rasa im Vertriebssystem zu machen. Dazu sollte es nicht kommen. ({3}) Verantwortlich für diesen Schritt, der zusätzliche Arbeitslosigkeit und Existenzvernichtung bedeutet, ist der Vorstand der Deutschen Post AG, dem unter anderem Walter Scheuerle, Sozialdemokrat und Gewerkschaftsmitglied, angehört. Mitverantwortlich für die Verelendung einer ganzen Branche und für weniger Bürgerservice ist auch der Aufsichtsrat, in dem unter anderem Herr Staatssekretär Manfred Overhaus einen wichtigen Platz einnimmt. Der Hauptverantwortliche für den „Anti-AgenturKurs“ ist jedoch die rot-grüne Bundesregierung mit Finanzminister Hans Eichel. ({4}) Sie ist der Mehrheitseigner. Hans Eichel ist der eigentliche Boss der Post. Er duldet, dass demnächst Tausende von Postagenturen geschlossen werden. Er akzeptiert damit, dass die Post als Staatsmonopolist gegen sämtliche Grundsätze der Marktwirtschaft verstößt. Sein fehlendes Handeln hat dazu beigetragen, dass Brüssel wegen unerlaubter Quersubventionierung mit Strafgebühren bei der Post eingreifen musste. 900 Millionen Euro mussten zurückgezahlt werden. Jetzt sollen die Kleinunternehmen vor Ort für diese Strafgebühren aufkommen. Die Post entpuppt sich als ganz dreister Riese. ({5}) Es sind Hans Eichel und Bundeskanzler Gerhard Schröder gewesen, die 2001 die endgültige Privatisierung der Post verhinderten und sich für die Fortsetzung des Staatsmonopols einsetzten. Ich wiederhole: Es ist die rot-grüne Bundesregierung als Hauptaktionär, die die Umsetzung der neuen Knebelverträge zulässt und Tausenden von mittelständischen Betrieben die Existenzgrundlage nimmt. Jedoch propagiert man gleichzeitig die Neugründung von Unternehmen durch subventionierte Ich-AGs. Fragwürdiger und widersprüchlicher kann eine Wirtschaftspolitik wirklich nicht sein. ({6}) Alles Handeln unterliegt den Zielen, Global Player Nummer eins bei den Postdienstleistungen und außerdem Dividendenkönig zu werden. Es sieht ganz danach auch, dass diese Strategie auf dem Rücken von Kleinunternehmern und Mitarbeitern umgesetzt werden soll. Vergessen Sie nicht: Allein in den letzten zehn Jahren mussten 140 000 Postbedienstete entlassen werden. Das passiert, wenn man Global Player Nummer eins werden will. ({7}) - Was haben Sie denn dagegen getan? ({8}) Wolfgang Börnsen ({9}) Deshalb sind unsere Forderungen: erstens Stopp aller Neuverträge, zweitens Anerkennung des Verbandes der Postagenturbetreiber als eigentlichen Verhandlungspartner, drittens Vorlage eines zeitnahen Gutachtens über die tatsächliche Lage der Agenturen, viertens eine weitere Sonderprüfung des Bundeskartellamtes zum Gebaren der Post, fünftens eine Garantie, dass es nicht im kommenden Jahr eine neue Welle von Verträgen gibt. ({10}) Jetzt nimmt man den Agenturen die Luft zum Atmen. Einige Postshops liegen schon jetzt im Minus.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Börnsen, ich muss Sie jetzt einmal unterbrechen, weil der Kollege Kelber Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen möchte. Genehmigen Sie das?

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin dazu nicht bereit, Herr Kelber. ({0}) Wissen Sie, weshalb? Die Reaktion Ihrer Kollegen ist ganz typisch: Man lacht und freut sich bei diesem Thema. Haben Sie in den letzten Wochen und Monaten einmal die Agenturbetreiber besucht? ({1}) Wissen Sie, wie denen zumute ist? ({2}) Denen steht das Wasser bis zum Hals. 30 Prozent weniger Einkommen, weniger Dienstleistung für ihre Mitarbeiter - meinen Sie, darüber kann man noch lachen? Ich schäme mich für die Leute, die sich darüber vergnügen. ({3}) Diese Friss-oder-stirb-Strategie kann man nicht dulden, gerade von Ihrer Seite nicht. Die Dividende für die Aktionäre wurde auf 40 Cent erhöht. Damit bekommt der Hauptanteilseigner, die Bundesregierung, satte 223 Millionen Euro in den Haushalt. 907 Millionen Euro musste die Post wegen unrechtmäßiger Quersubventionen an die Bundesregierung zurückzahlen. Damit erhielt Minister Eichel von der Post im vergangenen Jahr 1,13 Milliarden Euro. Da kann man schon mal ein Auge zudrücken, wenn die Post Stellen streicht, Filialen auflöst und Agenturen und ihre mittelständischen Betreiber in den Ruin treibt - so ein bissiger Pressekommentar. Wir stehen als Union an der Seite der Opfer dieser neuen Poststrategie. ({4}) „Knebelverträge“ ist noch die zahmste Formulierung bei diesen Attacken. ({5}) Ein Kurswechsel ist machbar; Sie haben ihn in der Hand, Sie können ihn veranlassen bzw. dazu beitragen, denn Sie stellen die Bundesregierung. Sie wissen, dass die rot-grüne Regierung, der Hauptanteilseigner, Einfluss nehmen kann. Sie lassen nichts zu. Handeln Sie! Dann haben die Postagenturen eine Zukunft. ({6}) Vergessen Sie nicht: Durch die Fortsetzung des Monopols - im Jahr 2001 beschlossen, 2003 aufgegeben, erst für 2007 anvisiert - wurden fast 600 Unternehmen, die sich damals auf das Anbieten von Postdienstleistungen eingestellt haben, ins Aus gestellt. 20 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mussten entlassen werden, weil das Staatsmonopol gegen das Gesetz, gegen das, was das Parlament im Grunde genommen gewollt hat, fortgesetzt wurde. Das sind auch Ihre Arbeitslosen und das ist absolut unvertretbar. ({7}) Die Postagenturen, denen das Wasser jetzt bis zum Hals steht, die Frust erleben durch die derzeitige Behandlung, die im Grunde genommen eine Abkehr der Politik erfahren, haben nur dann eine Zukunft, wenn Sie bereit sind, unserem Antrag zuzustimmen und bei dem mitzumachen, was unser Antrag bedeutet, nämlich eine Umkehr in den Vertragsverhandlungen, wenn Sie mithelfen, die Post in die Lage zu versetzen, fair mit diesen Partnern umzugehen, die bisher auch fair mit den Bürgern umgegangen sind. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Ulrich Kelber, SPD-Fraktion.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Börnsen, der Antrag Ihrer Fraktion war so sachfremd und so populistisch, dass wir uns entschieden hatten, nicht zu reden. Auf die Unverschämtheiten jedoch, die Sie hier herausposaunt haben, bedarf es drei kurzer Anworten: Erstens zum Thema Aktienrecht: Sie sind in Ihrer fünften Legislaturperiode. Bitte informieren Sie sich einmal über ein solch grundlegendes Recht, das der Bundesregierung sogar verbietet, sich als Hauptaktionär in das Geschäft der Post AG einzumischen, wenn sie nicht schadenersatzpflichtig werden will. ({0}) Zweitens. Schauen Sie sich einmal über Ihre linke Schulter um, dann sehen Sie den sehr geschätzten Kollegen Bötsch dort sitzen, der die entscheidenden Rechtsgrundsätze, die auch zu den Rationalisierungen und Liberalisierungen geführt haben, als Minister umgesetzt hat. Aufgrund dieser Rechtsgrundsätze haben wir in diesem Jahr zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine Portosenkung erreicht. Sie sollten nicht anderen vorwerfen, was aus Ihrer eigenen Fraktion gekommen ist. Dritter und letzter Punkt. Sie können mir vielleicht bestätigen, ob ich das als jemand, der damals dem Bundestag noch nicht angehört hat, im Protokoll richtig nachgelesen habe: Am 4. November 1999 ist darüber diskutiert worden, ob der Post vorgeschrieben wird, mehrere tausend Postagenturen zu betreiben. Der Kollege Funke hat die Post-Dienstleistungsverordnung deswegen abgelehnt; er hat gesagt: Es ist falsch, so etwas vorzuschreiben. Das Protokoll vermerkte dazu Beifall von FDP, CDU und CSU. Erklären Sie das einmal. Die meisten der Postagenturen, über die wir uns heute unterhalten, gäbe es gar nicht, wenn Sie damals die Mehrheit gehabt hätten. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Einen Moment, Herr Börnsen. Mir liegt der Wunsch nach einer weiteren Kurzintervention des Kollegen Rainer Funke vor. Anschließend gebe ich Ihnen die Gelegenheit, zu antworten. Herr Funke, bitte.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zu der Frage des Aktienrechts, - damit da keine Missverständnisse entstehen -: Natürlich muss sich der Vorstand am Aktiengesetz orientieren. Hier ist es aber so, dass wir einen regulierten Markt haben; die Post unterliegt der Aufsicht durch die Regulierungsbehörde. Insoweit hat der Bundeswirtschaftsminister, der ja die Dienstaufsicht über diese Behörde hat, auch Einfluss auf das Marktverhalten der Deutschen Post AG. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Entschuldigen Sie, das Wort hat der Kollege Funke. Wenn Sie ihn ausreden lassen würden, würde das schneller vorübergehen.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Des Weiteren hat der Bund sowohl als Hauptaktionär als auch im Wege der Aufsicht, vertreten durch Staatssekretär Overhaus, der die Post schon seit vielen Jahren begleitet hat ({0}) - nicht nur zum Vorteil der Post; das muss ich auch sagen -, hinreichende Möglichkeiten - das gilt auch noch für die Regierung Kohl; da war er auch schon im Aufsichtsrat -, auf die Post AG einzuwirken, damit die Agenturverträge nicht so gestaltet werden, wie sie den Agenturen von der Post AG aufgedrückt werden sollen. Im Übrigen habe ich mit angeregt, dass sich das Bundeskartellamt einmal ansieht, wie diese Verträge zum Nachteil der Postagenturen und der Postkunden ausgelegt werden. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Börnsen zur Erwiderung.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe jetzt, glaube ich, ein Dutzend Postagenturen in ländlichen Regionen ({0}) und habe erfahren, dass immer nur in Einzelverhandlungen mit den Agenturbetreibern gesprochen wird. Der eine muss 11 Prozent mehr bezahlen, der andere 28 Prozent, der nächste 35 Prozent, dem Vierten ist der Computer gestrichen worden, dem Fünften wird mitgeteilt, er müsse jetzt seine Pakete selbst weiterfahren. Mit den Agenturbetreibern, die im Grunde genommen hilflos sind, wird in einer Art und Weise umgegangen, dass man wirklich zornig wird. Darauf hat auch eine ganze Reihe Ihrer Kollegen mit Wut und Ärger reagiert. Ich möchte Ihnen dazu meinen Standpunkt darlegen. Sie haben die Möglichkeit - Rainer Funke hat das ganz klar gesagt -, zu handeln. Warum sitzt denn eigentlich Ihr Staatssekretär aus dem Bundesfinanzministerium im Aufsichtsrat der Post? ({1}) Sie wissen doch ganz genau, welche Möglichkeiten es gibt. Sie wissen auch, dass Sie dem Image der Post und der Sache selbst schaden, wenn Sie weiter so verfahren. Ich nehme Ihren Hinweis auf den Kollegen Wolfgang Bötsch gerne auf. In seiner Zeit ist mit den Mitarbeitern und Kunden noch fair umgegangen worden. ({2}) Als die Post in Brüssel in Bedrängnis kam, ist er von Hauptstadt zu Hauptstadt gereist, um klar zu machen, wo die Interessen der Post eigentlich liegen. Er hat mit Erfolg die Sache der Post vorangetrieben. Die Post verfolgt im Moment die Strategie - genau das ist das Problem -, Tausende von Postagenturen Zug um Zug dichtzumachen, um in Zukunft mit einem ganz großen Betreiber - vielleicht heißt er sogar Quelle - flächendeckend das Geschäft zu machen. Dann ist in der Fläche keine Postagentur mehr zu finden. Das ist leider das Wolfgang Börnsen ({3}) eigentliche Ziel. Wir sollten gemeinsam dafür eintreten - Sie sind letzten Endes selbst mit dabei gewesen -, dass wir ein flächendeckendes Netz an Postagenturen haben. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/466 und 15/579 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Zusatzpunkte 5 bis 7 auf: ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck ({1}), Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN GATS-Verhandlungen - Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern - Drucksachen 15/224, 15/506 Berichterstattung: Abgeordnete Ulrike Flach Ulla Burchardt Thomas Rachel Ursula Sowa ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN GATS-Verhandlungen - Transparenz und Flexibilität sichern - Drucksache 15/576 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({2}), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP GATS-Verhandlungen - Bildung als öffent- liches Gut und kulturelle Vielfalt sichern - Drucksache 15/580 - Ich höre, dass zu diesem Tagesordnungspunkt alle Reden zu Protokoll gegeben werden sollen.1) Ich verzichte auf das Verlesen der Namen der Redner. Sie können dem Protokoll entnommen werden. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/506 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „GATS-Verhandlungen - Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/224 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/576 mit dem Titel „GATS-Verhandlungen - Transparenz und Flexibilität sichern“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/580 mit dem Titel „GATS-Verhandlungen - Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der CDU/CSU und Zustimmung der FDP abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie den Zusatzpunkt 8 auf: 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Angelica Schwall-Düren, Michael Müller ({3}), Horst Kubatschka, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt, Rainder Steenblock, Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Keine Zustimmung zur Erhöhung der EURATOM-Kreditlinie - Drucksache 15/575 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP EURATOM-Vertrag nicht aufweichen - Keine einseitigen Eingriffe in die Finanzierung - Drucksache 15/578 - Auch hier sollen mit Ihrem Einverständnis alle Reden zu Protokoll genommen werden.2) Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/575 mit dem Titel „Keine Zustimmung zur Erhöhung der EURATOM-Kreditlinie“. Wer stimmt für diesen An- trag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge- gen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/578 mit dem Titel „EURATOM-Vertrag 1) Anlage 7 2) Anlage 8 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms nicht aufweichen - Keine einseitigen Eingriffe in die Finanzierung“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines nicht förmlichen Disziplinarverfahrens zu erweitern und diese jetzt als Zusatzpunkt 10 aufzurufen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Dann rufe ich jetzt Zusatzpunkt 10 der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines nicht förmlichen Disziplinarverfahrens - Drucksache 15/607 Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt auf Drucksache 15/607, die Genehmigung zu erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatzpunkt 9 auf: 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold Hemker, Dr. Sascha Raabe, Matthias Weisheit, weiterer Abgeordneter und der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für eine nachhaltige Agrarpolitik und einen gerechten Interessenausgleich bei den laufenden WTO-Verhandlungen - Drucksache 15/550 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({5}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H. Carstensen ({6}), Albert Deß, Gerda Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU WTO-Verhandlungen - Europäisches Landwirtschaftsmodell absichern - Drucksache 15/534 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({7}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen werden; ich verzichte darauf, die Namen der Redner vorzulesen. Daher kommen wir gleich zu den Überweisungen. Interfraktionell ist die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/550 und 15/534 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. März 2003, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.