Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich bitte Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben.
({0})
Gestern Nachmittag erreichte uns die schreckliche
Nachricht, dass der serbische Ministerpräsident Zoran
Djindjic vor dem Parlamentsgebäude in Belgrad auf
offener Straße erschossen worden ist. Wir sind fassungslos und entsetzt. Der feige Mord hat uns einen Freund
und Mitstreiter für Europa genommen. Schlimmer noch:
Er droht Serbien auf seinem Weg zu Demokratie und
Modernisierung zurückzuwerfen. Wir müssen alles dafür
tun, dies zu verhindern.
Erst vor wenigen Wochen hat das jugoslawische Parlament der neuen Staatenunion Serbien und Montenegro
zugestimmt. Auch damit schien ein neuer Zeitabschnitt
nach dem Bürgerkrieg und der schwierigen Nachkriegszeit zu beginnen. Zoran Djindjic hatte maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung. Das Attentat zeigt uns, wie
verletzlich die Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben in diesem Teil Europas noch immer sind.
Der Deutsche Bundestag spricht dem Parlament von
Serbien und Montenegro sein Beileid und seine Solidarität aus. Unser tiefes Mitgefühl gehört der Witwe und den
Kindern des Ermordeten. - Ich danke Ihnen.
Nun zu unserer heutigen Tagesordnung - ich beginne
mit einigen Mitteilungen -: Die Kollegen Manfred
Carstens und Gerd Höfer feierten am 23. Februar sowie der Kollege Alfred Hartenbach am 5. März jeweils
ihren 60. Geburtstag. Ich gratuliere nachträglich im Namen des Hauses sehr herzlich.
({1})
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen möchte
bei zwei ihrer Mitglieder in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates einen Tausch vornehmen.
Die Kollegin Marianne Tritz, die bisher stellvertretendes Mitglied war, soll ordentliches Mitglied werden, und
die Kollegin Claudia Roth, die bisher ordentliches Mitglied war, soll nunmehr stellvertretendes Mitglied werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann sind die Kolleginnen Marianne Tritz
als ordentliches Mitglied und Claudia Roth als stellvertretendes Mitglied der Parlamentarischen Versammlung
des Europarates gewählt.
Interfraktionell ist die Reihenfolge der verbundenen Tagesordnung dieser Woche wie folgt vereinbart worden:
Nach Tagesordnungspunkt 6 kommen Tagesordnungspunkt 15 - Ladenschlussgesetz -, Tagesordnungspunkt 7 Menschenrechtspolitik -, Tagesordnungspunkt 8 - Umsatzsteuergesetz -, Tagesordnungspunkt 9 - Kleinunternehmerförderungsgesetz -, Tagesordnungspunkt 14 Postdienstleistungen -, Zusatzpunkte 5 bis 7 - GATSVerhandlungen -, Tagesordnungspunkt 12 - EURATOMKreditlinie - und Tagesordnungspunkt 11 - WTO-Verhandlungen. Die Beratungen zu Tagesordnungspunkt 10 ehrenamtliche Richter -, Tagesordnungspunkt 16 - Potsdam-Center - und Tagesordnungspunkt 17 - Änderung des
Strafgesetzbuches - sollen ohne Debatte erfolgen. Der einzige Tagesordnungspunkt am Freitag wird die Regierungserklärung mit anschließender Aussprache sein.
Außerdem ist vereinbart worden, die Tagesordnung
um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste vorliegenden
Punkte zu erweitern:
1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Dr. Claudia Winterstein, Jürgen Türk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Das neue Gesicht
Europas - Kernelemente einer europäischen Verfassung
- Drucksache 15/577 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({3})
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Melde-
rechtsrahmengesetzes
- Drucksache 15/536 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Präsident Wolfgang Thierse
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Siegfried
Kauder ({4}), Dr. Norbert Röttgen, Wolfgang
Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum
verbesserten Schutz der Privatsphäre
- Drucksache 15/533 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann Gröhe,
Rainer Eppelmann, Holger Haibach, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Für Menschenrechte weltweit eintreten - die internationalen Menschenrechtsschutzinstrumentarien stärken
- Drucksache 15/535 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke, Birgit
Homburger, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP: Wettbewerbsbedingungen bei Vertrieb
von Postdienstleistungen schaffen
- Drucksache 15/579 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Jörg Tauss, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck ({8}), Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: GATS-Verhandlungen - Bildung
als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern
- Drucksachen 15/224, 15/506 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Ulla Burchardt
Thomas Rachel
Ursula Sowa
6 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: GATS-Verhandlungen - Transparenz und Flexibilität sichern
- Drucksache 15/576 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({9}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP: GATS-Verhandlungen - Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt
sichern
- Drucksache 15/580 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike
Flach, Christoph Hartmann ({10}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: EURATOM-Vertrag nicht aufweichen - Keine einseitigen Eingriffe in die Finanzierung
- Drucksache 15/578 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H. Carstensen
({11}), Albert Deß, Gerda Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: WTO-Verhandlungen - Europäisches Landwirtschaftsmodell absichern
- Drucksache 15/534 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden. Sind Sie mit diesen
Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur
Regelung des Aufenthalts und der Integration von
Unionsbürgern und Ausländern ({13})
- Drucksachen 15/420, 15/522 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({14})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung der Unterrichtung durch die Beauftragte
der Bundesregierung für Ausländerfragen
Bericht über die Lage der Ausländer in der
Bundesrepublik Deutschland
- Drucksache 14/9883 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({15})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Max
Stadler, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung
und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von
Unionsbürgern und Ausländern
({16})
- Drucksache 15/538 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({17})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Hans-Michael Goldmann, Dirk
Präsident Wolfgang Thierse
Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Arbeitserlaubnis für ausländische Saisonarbeitskräfte auf sechs Monate ausweiten
- Drucksache 15/368 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({18})
Innenausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminister Otto Schily das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Nach den Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen
hat die Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Frau
Merkel, die gewachsene Verantwortung - ({0})
- Ich kann noch nicht einmal den ersten Satz zu Ende
bringen, da reden Sie schon dazwischen, Herr Glos!
Wenigstens einen halben Satz sollten Sie zur Kenntnis
nehmen.
({1})
Frau Merkel hat also die gewachsene Verantwortung
der unionsregierten Länder im Bundesrat herausgestellt
und betont, die Union werde mit dem Votum der Wählerinnen und Wähler achtsam und sorgsam umgehen.
Wörtlich haben Sie von einer verantwortungsvollen Politik gesprochen, die von der Union zu erwarten sei.
Auch aus den unionsregierten Ländern war Entsprechendes zu hören. Ministerpräsident Koch hat in diesem
Zusammenhang gesagt, er wolle Kontrolle ausüben statt
Blockade betreiben. Ministerpräsident Stoiber hat konstruktive Verbesserungsvorschläge zu den Gesetzesvorlagen der Bundesregierung angekündigt.
Alles dies schien auf eine konstruktive Haltung der
CDU/CSU-Opposition schließen zu lassen, die dem
Thema auch angemessen ist. Denn bei allem politischen
Streit um die richtigen Konzepte dürfen wir eines nicht
aus den Augen verlieren: Die Neugestaltung der Zuwanderung ist eine Forderung im besonderen, herausgehobenen Interesse unseres Landes und von hoher Bedeutung
für den inneren Frieden und die Zukunft unseres Landes.
({2})
Nun haben wir aber im Bundesrat, der sich im Rahmen einer Stellungnahme zunächst mit dem Regierungsentwurf zu befassen hatte, gerade erfahren müssen, dass
es nicht weit her ist mit der angeblich verantwortungsvollen Politik. Denn das, was wir dort erleben mussten,
war doch genau das Gegenteil dessen, was von Ihnen angekündigt worden ist. Von Bayern wurde beispielsweise
im Wirtschaftsausschuss des Bundesrates ein Antrag
vorgelegt, in dem in aller Bräsigkeit verlangt wurde, den
Gesetzentwurf insgesamt abzulehnen. Auch wenn der
Antrag dort keine Mehrheit gefunden hat, ist doch zu
fragen, was damit bezweckt werden sollte.
({3})
Das kann doch wohl keine verantwortungsvolle Politik
gewesen sein.
Im Innenausschuss des Bundesrates hat die Bayerische Staatsregierung Änderungsanträge in einem Umfang von rund 150 Seiten vorgelegt. Garniert wurde das
Ganze mit plumpen „Grün raus, Schwarz rein“-Forderungen meines Kollegen Günther Beckstein. Wenn nun
kein einziger - das ist zu beachten - dieser verschärfenden Änderungsanträge in die Stellungnahme des Bundesrates aufgenommen wurde - beachten Sie das bitte! -, so
ist dies leider nicht auf Ihre bessere Einsicht zurückzuführen, sondern allein auf die FDP - da will ich die Leistung der FDP anerkennen; ein Teil der Opposition in Gestalt der FDP nimmt ihre Verantwortung wahr -, die das
verhindert hat. Hätten die unionsregierten Länder diese
Anträge zur Abstimmung kommen lassen, so hätten sie
eine deutliche Abstimmungsniederlage erlitten. Das wissen Sie doch. Deshalb haben Sie diese erst gar nicht zur
Abstimmung gestellt.
Anstatt dies nun zum Anlass zu nehmen, sich an dem
Gesetzgebungsverfahren wieder sachorientiert zu beteiligen, hat der Kollege Bosbach gleich am 15. Februar
dieses Jahres gegenüber der Nachrichtenagentur ddp angekündigt, seine Fraktion werde sämtliche Änderungsanträge des Bundesrates in die parlamentarischen Beratungen des Bundestags wieder einbringen.
({4})
Sieht man sich diese Änderungsanträge genauer an, so
ist festzustellen, dass es sich nahezu ausnahmslos um
Anträge handelt, die bereits Gegenstand der Beratungen
im vorausgegangenen Gesetzgebungsverfahren waren.
({5})
Unter diesen Anträgen befinden sich auch solche, die
seinerzeit nicht einmal im Plenum des Bundesrates eine
Mehrheit gefunden hatten, sowie solche, die im Laufe
des früheren Gesetzgebungsverfahrens bereits in den
jetzt vorliegenden Gesetzentwurf eingearbeitet worden
sind.
Herr Bosbach, mit dieser Flut von Änderungsanträgen
wird ein Änderungsbedarf suggeriert, der in Wirklichkeit
überhaupt nicht besteht.
({6})
Sie zeigen sich entrüstet darüber, dass wir den Gesetzentwurf inhaltlich unverändert erneut eingebracht haben,
und versuchen den Anschein zu erwecken, als ob sich
die Bundesregierung überhaupt nicht bewegt habe, erwähnen aber nicht, dass wir der Union bereits in vielen
Punkten weit entgegengekommen sind.
({7})
- Zu weit sind wir nicht entgegengekommen. Das
stimmt nun wieder nicht, Rüdiger Veit.
({8})
Der aktuelle Gesetzentwurf ist aber bereits ein Kompromiss - auch mit Rüdiger Veit; denn wir haben schon im
ersten Gesetzgebungsverfahren zahlreiche Änderungen
vorgenommen, mit denen wir - ich wiederhole - den
Vorstellungen der Opposition weit entgegengekommen
sind.
Von der Bayerischen Staatsregierung ist jedoch noch
eine Reihe neuer Änderungsanträge formuliert worden,
die das Staatsangehörigkeitsrecht betreffen und darauf
abzielen, die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts aus
dem Jahre 1999, die europaweit als historischer Schritt
gelobt und anerkannt wird, rückgängig zu machen. Das
werden wir nicht mitmachen.
({9})
Diese Haltung hat mit dem Zuwanderungsgesetz wahrhaft nichts zu tun. Die Diskussion über das Staatsbürgerschaftsrecht ist im Jahr 1999 geführt und abgeschlossen
und dann ist - ich betone - mit breiter Mehrheit entschieden worden. Jetzt versuchen Sie, die Verhandlungsmasse - taktisch ist das vielleicht günstig - zu vergrößern, um die Konsensfindung zu erschweren oder gar
unmöglich zu machen.
({10})
Das kann ja wohl keine verantwortungsvolle Politik
sein. Man kann sich angesichts dessen des Eindrucks
kaum erwehren, dass zumindest ein Teil der Union zwar
nach außen hin von Verantwortung spricht, in Wirklichkeit aber Blockade meint.
({11})
In dieses Bild passen auch die Überlegungen, die der
bayerische Innenminister Beckstein am 6. Februar dieses
Jahres gegenüber der „Rheinischen Post“ geäußert hat.
Er hat dabei angekündigt, dass CDU und CSU ihr bisheriges Kompromissangebot aus den gescheiterten Verhandlungen vor einem Jahr zurückziehen werden. Die
Bundesregierung und die rot-grüne Koalition müssten
der Union weiter entgegenkommen, als es noch im vergangenen Jahr erwartet worden sei. Das heißt doch im
Klartext nichts anderes als Sie wollen partout keinen
Kompromiss. Das ist die Realität.
({12})
Ich habe bereits im Bundesrat dargelegt, dass wir im
Streit um das Zuwanderungsgesetz nur dann einen Kompromiss erreichen können, wenn sich in diesem Kompromiss alle politischen Kräfte, die hier vertreten sind,
wiederfinden können. In diesem Kompromiss müssen
also auch die Position der Grünen und die Position der
FDP ausreichend Berücksichtigung finden. Sie glauben
doch wohl nicht, dass wir hier nur ein irgendwie
„schwarz angemaltes“ Gesetz zustande bringen können.
Das kann nicht gehen.
({13})
Glauben Sie mir: Auf eine Taktik, die jenseits von Sachargumenten versucht, die Koalitionspartner gegeneinander auszuspielen,
({14})
werden wir nicht hereinfallen. Ich frage Sie daher, was
die Union anstrebt: verantwortungsvolle Politik oder
Blockade? Sie müssen sich zwischen diesen beiden Alternativen entscheiden.
Es hat ohnehin den Anschein, dass Sie von der Union
sich über das, was Sie eigentlich wollen, gar nicht so
recht einig sind, weil Sie sich nicht mit der Sache auseinander setzen, sondern nur krampfhaft Vorwände für
Ihre Verweigerungshaltung suchen. Auch daher widersprechen Sie sich ständig gegenseitig.
Ich kann dafür einige Beispiele nennen. Ministerpräsident Stoiber hat in einem „Stern“-Interview vom
20. Februar 2003 geäußert, dass er nur eine kleine Lösung mit einem Kompromiss über praktische Verbesserungen bei der Integration, beim Nachzugsalter von Kindern und beim wissenschaftlichen Austausch für
möglich hält. Eine umfassende Regelung komme erst
dann in Betracht, wenn die Union wieder Regierungsverantwortung trage. Da können Sie lange warten!
({15})
Für Ministerpräsident Müller hingegen, so war am
24. Februar 2003 in der „Welt“ zu lesen, ist schwer vorstellbar - hören Sie bitte zu! -, dass es Teilkompromisse, etwa über das Nachzugsalter oder über die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt, gebe und die übrigen
Bereiche ungeregelt im Streit verblieben.
({16})
Stoiber also auf der einen Seite, Müller auf der anderen.
Demgegenüber hat Herr Bosbach nach einer Pressemeldung der „Stuttgarter Zeitung“ vom 28. Februar 2003
angekündigt, dass die Union einen eigenen Entwurf für
ein Integrationsgesetz vorlegen werde, falls die Regierung dies nicht tun werde, da sie die Differenzen in der
Zuwanderungsfrage nicht für überwindbar halte. Also ist
auch er nur für eine kleine Lösung. Dazu hatte Ministerpräsident Müller in der „Welt“ bereits festgestellt: Auch
eine von der Zuwanderung losgelöste Einigung über ein
eigenständiges Integrationsgesetz sei nicht die beste Lösung; Zuwanderung und Integration gehörten zusammen.
Dem kann ich nur zustimmen. Wir sind doch einvernehmlich der Meinung, dass die Zuwanderung nach
Deutschland derzeit weitgehend ungesteuert verläuft und
dass wir eine qualitative Änderung benötigen. Ohne
Neugestaltung des Zuwanderungsrechts bliebe es beim
gegenwärtigen Rechtszustand und in bestimmten Bereichen bei einer Zuwanderung, die wir in dieser Form und
Qualität nicht wollen. Würden wir tatsächlich nur ein Integrationsgesetz verabschieden, hätte dies zur Folge,
dass letztlich auch diejenigen an den mit hohem finanziellen Aufwand getragenen Integrationsmaßnahmen
partizipieren würden, deren Zuzug nach Deutschland wir
eigentlich unterbinden wollen. Ohne Umsteuerung
bliebe es außerdem bei dem unvermittelten Zuzug in die
Sozialsysteme, der doch gerade von Ihnen ständig beklagt wird. Sie beklagen einen Zustand, wollen ihn aber
nicht verändern. Das ist die Realität, meine Damen und
Herren.
({17})
Darauf hat dankenswerterweise auch die Frau Kollegin Werwigk-Hertneck hingewiesen. Sie hat in diesem
Zusammenhang deutlich gemacht, dass die Union mindestens eine erhebliche Mitverantwortung für den gegenwärtigen Rechtszustand habe.
Wollen wir diese negative Entwicklung künftig vermeiden, so müssen wir den Zuzug nach Deutschland
qualitativ verändern und zugleich die Zuwanderer umgehend in unsere Gesellschaft integrieren. Deshalb ist der
so oft wiederholte Satz richtig: Zuwanderung und Integration sind zwei Seiten einer Medaille. Wir müssen das
eine tun und dürfen das andere nicht lassen.
({18})
Beides ist erforderlich: Es bedarf sowohl einer Neugestaltung des Zuwanderungsrechts als auch des Aufbaus
einer umfassenden Integrationsförderung.
Dass der Bedarf nach einer grundlegenden Modernisierung des Zuwanderungsrechts besteht, darüber dürfte
nicht nur unter den Fachleuten uneingeschränkte Einigkeit bestehen. Das gilt aber auch für die wesentlichen Inhalte einer modernisierten Zuwanderungskonzeption,
wie die eingehende Diskussion der vergangenen zwei
Jahre bewiesen hat. Dies bestätigen in gleicher Weise die
Ergebnisse der Süssmuth-Kommission und der MüllerKommission, die von den Parteien vorgelegten Konzepte
und die zahlreichen Äußerungen von der Wirtschaft über
die Gewerkschaften bis hin zu den Kirchen.
Auch Ministerpräsident Müller - um ihn noch einmal
zu zitieren - hat im „Focus“ vom 13. Januar dieses Jahres erneut betont, dass wir dringend eine Reform der Zuwanderung brauchen. Er hat warnend hinzugefügt: „Eine
Strategie, die Kompromisse ausschließt, ist verantwortungslos.“
({19})
In dem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung vorgelegt hat, sind - ich will das noch einmal wiederholen die Vorstellungen der Union bereits in einem großen
Umfang berücksichtigt. Die Unterschiede in den strittigen Punkten sind daher bei weitem nicht so groß, wie sie
manchmal dargestellt werden. Ich will das an einigen
Punkten illustrieren, die von Ihnen, von der Union, mit
steter Regelmäßigkeit aufgegriffen werden.
Es wird permanent behauptet, dass in § 1 zwar die
Begrifflichkeit der Zuwanderung enthalten sei, diese
aber nicht im gesamten Gesetzentwurf konsequent
durchgehalten werde. Das gelte vor allem für die Zuwanderung zum Arbeitsmarkt. Wir haben in dem Gesetzentwurf den Zugang für ausländische Arbeitskräfte in systematischer und nicht nur in quantitativer Hinsicht völlig
neu gestaltet, weg von einem sehr komplizierten Verfahren, das uns behindert, hin zu einer marktwirtschaftlichen Systematik, die strikt am Bedarf orientiert ist; das
betone ich. Hierzu war es erforderlich, den so genannten
Anwerbestopp in Teilen aufzuheben.
Zu behaupten, dass damit eine Gefährdung des hiesigen Arbeitsmarktes verbunden sei, ist schlicht unwahr um nicht eine härtere Formulierung zu verwenden.
({20})
An dieser Stelle will ich einen Satz von Frau Rita
Süssmuth zitieren. Sie hat gesagt, sie habe in ihrem ganzen politischen Leben noch nie ein so hohes Maß an
Desinformation erlebt, wie es von Ihnen, der Unionsfraktion, über das Zuwanderungsgesetz verbreitet werde.
({21})
Das schreiben Sie sich einmal hinter die Ohren!
({22})
Erstens ist der so genannte Anwerbestopp bereits im
geltenden Recht durch zahlreiche Ausnahmen aufgeweicht. Ich empfehle einen Blick in die Anwerbestoppausnahmeverordnung. Das neue System befreit lediglich
davon, diese Verordnung permanent zu ändern, wenn sich
am Arbeitsmarkt veränderte Mangellagen herausbilden.
Zweitens haben wir den Anwerbestopp für nicht oder
nur gering Qualifizierte bewusst aufrechterhalten. Das
ist ein Bereich, dem ein großer Teil unserer inländischen
Arbeitslosen zuzuordnen ist, sodass entsprechende Arbeitsplätze grundsätzlich aus dem vorhandenen Arbeitskräftepotenzial besetzt werden können.
Drittens ist sichergestellt, dass Zuwanderung in den
deutschen Arbeitsmarkt nur dann - und nur dann - stattfinden kann, wenn alle vorhandenen Möglichkeiten
ausgenutzt worden sind, die zur Verfügung stehenden
Arbeitsplätze mit denjenigen zu besetzen, die in
Deutschland ohne Arbeit sind.
Ich glaube, Sie haben das inzwischen auch eingesehen;
denn Sie haben die Aufrechterhaltung des Anwerbestopps in Ihrer Göttinger Erklärung vom 11. Januar 2003
nicht mehr erwähnt, sondern formuliert - ich zitiere -:
Zuwanderung kann es nur für Fachkräfte geben, die
am deutschen Arbeitsmarkt nicht in ausreichender
Zahl zur Verfügung stehen.
Das ist der Inhalt unseres Gesetzes.
({23})
Wir haben das, was Sie formulieren, bereits in unser Gesetz geschrieben.
Nun führen Sie dagegen immer wieder an, dass die
uneingeschränkte Geltung des Vorrangprinzips nicht zutreffen, weil es beim Punktesystem auf ein konkretes
Arbeitsplatzangebot gar nicht ankomme. Das stimmt,
weil es sich bei dieser Variante um ein angebotsorientiertes Verfahren handelt, das allerdings nur in Kraft treten
kann, wenn Bundesrat und Bundestag zustimmen.
Ich muss Sie aber erinnern: Sie haben das selbst gewollt. Vielleicht ist Ihnen das gar nicht mehr in Erinnerung, aber im Beschluss des Bundesausschusses der
CDU Deutschlands, Ihrem so genannten kleinen Parteitag, vom 7. Juni 2001, der auf der Grundlage der Ergebnisse der Müller-Kommission gefasst wurde, heißt es:
Der vorhandene Bedarf an Fachkräften wird unter
Beachtung des Vorrangs von Ausbildung und Qualifikation jährlich festgestellt. Dadurch entfällt die
Notwendigkeit einer Subsidiaritätsprüfung im konkreten Einzelfall.
Das ist doch das Punktesystem, das Sie hier beschreiben.
({24})
Das ist nichts anderes als die Festsetzung einer jährlichen Höchstzahl.
Ich zitiere weiter:
Die Auswahl der betreffenden Personen erfolgt sodann auf der Basis eines Punktesystems,
- Sie haben gerade protestiert, es sei kein Punktesystem;
hier steht es aber das nach Alter, Schulausbildung, Beruf, Sprachkenntnissen, Berufserfahrung … differenziert.
Das entspricht auch unserem Punktesystem, das wir im
Gesetz festgelegt haben.
({25})
Auch andere Einwände, die Sie erheben, sind weit
hergeholt und dienen nur dazu, das Gesetzgebungsverfahren zu verhindern. - Ich blicke auf die Uhr und sehe,
dass ich nicht alle Punkte ansprechen kann.
({26})
- So ist es. Wenn Sie mir noch mehr Redezeit geben
wollen, können Sie das gern tun. Sie können diese Zeit
dann von Ihrer Redezeit abziehen.
({27})
Wir stehen jetzt vor der Wahl, ob wir es bei dem gegenwärtigen Rechtszustand belassen oder nicht. Das ist
die eigentliche Frage. Sie müssen wissen, was Sie tun
und was Sie lassen.
({28})
Bei allem Streit um das richtige Zuwanderungsgesetz
sollten wir uns immer die Fragen stellen: Was passiert,
wenn wir keinen Konsens erreichen?
({29})
Ist der Kompromissvorschlag, den wir hier vorlegen,
nicht doch sehr viel besser als der gegenwärtige Rechtszustand? Ohne Konsens bliebe alles beim Alten. Ich will
Ihnen sagen, was das hieße: keine Steuerung und Qualifizierung der Zuwanderung - das ist der gegenwärtige
Rechtszustand -, keine Begrenzungsmechanismen, keine Berücksichtigung unserer eigenen wirtschaftlichen
Interessen, unverminderter Zuzug in die Sozialsysteme,
keine Straffung und Beschleunigung der Asylverfahren,
keine Instrumente zur effektiven Durchsetzung der Ausreise gegenüber ausreisepflichtigen Personen, keine Vereinfachung und Entbürokratisierung des Ausländerrechtes, keine Bündelung der Behördenorganisation,
keine Regelungen für Selbstständige in Deutschland,
die Arbeitsplätze schaffen würden, keine Bleibemöglichkeiten für qualifizierte und in Deutschland bestens
integrierte ausländische Studienabsolventen, keine Förderung des Wissenschaftstransfers und des Studienstandorts Deutschland, ungelöste Integrationsprobleme,
ein Kindernachzugsalter von 16 Jahren usw. All das läge
in Ihrer Verantwortung, wenn der Zustand, den Sie selber beklagen, so bliebe. Das müssten Sie dann vor den
Wählerinnen und Wählern vertreten.
({30})
Ich biete Ihnen nach wie vor einen vernünftigen Kompromiss an. Nach meinen bisherigen Erfahrungen bin ich
aber leider nicht sehr zuversichtlich, dass es uns in den
Beratungen des Bundestages gelingt, einen Kompromiss
zu finden. Aber vielleicht ist es Ihnen im stillen Kämmerlein des Vermittlungsausschusses möglich, Ihre Vorbehalte zu überwinden und die Vernunft wieder zu entdecken, die man in der Politik braucht. In dem Sinne
bleibe ich ein Optimist.
Vielen Dank.
({31})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang
Bosbach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute über die Wiederauflage eines Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur völligen Umgestaltung
des geltenden Ausländerrechts mit dem Ziel, Deutschland zu einem klassischen, zu einem multikulturellen
Einwanderungsland zu machen. Wir wollen keine multikulturelle Gesellschaft. Wir wollen nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr Integration. Wir wollen gerne der
uns zugewachsenen größeren Verantwortung gerecht
werden. Deshalb lehnen wir das Gesetz ab.
({0})
Deutschland ist kein klassisches Einwanderungsland.
Wir können es aufgrund unserer historischen, geographischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten auch nicht
werden. Dabei geht es nicht um die Frage: Zuwanderung
ja oder nein? Diese Frage wäre einigermaßen albern. Wir
hatten in der Vergangenheit Zuwanderung und wir haben
sie zurzeit. Wir hatten nach dem Zweiten Weltkrieg Zuwanderung wie kein anderes Land auf dieser Erde. Wir
werden sie auch in Zukunft aufgrund der EU-Freizügigkeit, der Möglichkeit des Familiennachzugs oder aus humanitären Gründen haben. Es geht darum, ob die mit
diesem Gesetz geplante erhebliche Ausweitung der Zuwanderung nach Deutschland dem Interesse unseres
Landes dient. Genau das ist nicht der Fall.
({1})
Wir haben keinen Mangel an Zuwanderung, sondern
wir haben einen erkennbaren Mangel an Integration.
Deshalb ist nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr Integration das Gebot der Stunde.
({2})
Bei der Zuwanderung gehen Sie zu weit und bei der Integration bei weitem nicht weit genug.
({3})
Die Regierung weiß genau, dass und warum die
Union dieses Gesetz ablehnt. Wenn Sie es dennoch wortwörtlich wieder einbringen, dann ist das der schlagende
Beweis dafür, dass es Ihnen im Gegensatz zu allen öffentlichen Erklärungen nicht um einen Kompromiss mit
der Union, sondern um Konfrontation geht,
({4})
weil Sie offensichtlich darauf spekulieren, im Bundesrat
die unionsgeführten Bundesländer auseinander dividieren zu können.
({5})
Dieses Bemühen wird ebenso scheitern wie der unappetitliche Versuch, mithilfe eines vorsätzlichen, eines
wohlkalkulierten Verfassungsbruchs das Gesetz durch
den Bundesrat zu peitschen.
({6})
Das ist auch gut so.
({7})
Dieses Gesetz würde die Zuwanderung nicht besser
steuern, als es derzeit möglich ist. Es gibt nämlich überhaupt keine Beschränkung. Jeder, der nach geltendem
Recht kommen kann, könnte auch nach dem neuen
Recht kommen. Herr Schily hat von dieser Stelle aus
kein einziges Beispiel dafür genannt, welche Gruppe zukünftig nicht mehr oder nicht in dem Umfang, wie es
derzeit möglich ist, kommen kann. Er kann ein solches
Beispiel auch nicht nennen, weil er weiß, dass das, was
er gesagt hat, in weiten Teilen nicht das ist, was im Gesetz steht. Das lassen wir ihm nicht durchgehen.
({8})
Dieses Gesetz gibt Steuerungsinstrumente auf. Es wird
die Steuerung nicht erleichtern, sondern erschweren.
Das beliebteste Argument für das Gesetz - auch heute
wieder vorgetragen - lautet: Alle gesellschaftlich relevanten Gruppen sind dafür: die Kirchen, die Arbeitgeber, der DGB und Frau Süssmuth.
({9})
Bei dieser Aufzählung fehlt allerdings eine gesellschaftlich relevante Gruppe, die für die Union eine große Bedeutung hat. Das ist die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland.
({10})
80 Prozent - ({11})
- Herr Schily, wäre ich in punkto Zwischenrufe - genauer gesagt: in punkto Pöbelei - nur halb so empfindlich, wie Sie zu Beginn Ihrer Rede waren, dann müsste
ich hier schon längst explodiert sein.
({12})
Weil die Regierung genau weiß, welche Haltung die
Bevölkerung hat
({13})
- über 80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht mehr
Zuwanderung -, versucht sie, fälschlicherweise den Eindruck zu erwecken, als würde die Zuwanderung durch
dieses Gesetz reduziert.
({14})
Nur ein Beispiel aus dem berüchtigten Desinformationsblatt der Bundesregierung:
Weniger Zuwanderung
Das Gesetz wird die Zahl der Zuwanderer deutlich
verringern. Als Zuwanderer werden nur noch Menschen kommen, die in Deutschland eine Perspektive
haben und Chancen als qualifizierte Arbeitskräfte
geboten bekommen.
Das ist die glatte Unwahrheit; das wissen Sie.
({15})
Immerhin hat die damalige Staatssekretärin des Innenministers, die Kollegin Sonntag-Wolgast, zugegeben,
dass diese Aussage falsch ist; allerdings ist sie jetzt keine
Staatssekretärin mehr.
({16})
- In der Sendung „Münchener Runde“ am 25. März
2002 haben Sie vor dem deutschen Fernsehpublikum gesagt, die Zuwanderung werde sich ausweiten, wenn auch
nicht gravierend. Das ist das Gegenteil dessen, was in
dieser Broschüre steht und wofür der deutsche Steuerzahler 2,6 Millionen Euro bezahlen musste.
({17})
Erneut soll die Bevölkerung über die gesellschaftlichen Folgen eines Gesetzes getäuscht werden - wie
beim Staatsangehörigkeitsrecht auch. Sie haben es gerade selbst erwähnt. Herr Schily, Sie haben in der Debatte im Mai 1999 gesagt:
Weil Sie das Thema Doppelpass angesprochen haben: Ich darf Sie bitten - das meine ich sehr ernst -,
zur Kenntnis zu nehmen, dass es mir wahrlich nicht
um die Herbeiführung möglichst vieler doppelter
Staatsbürgerschaften geht. Das ist nicht unser Ziel.
Ich bin sogar der Meinung, dass doppelte Staatsbürgerschaften vermieden werden sollten.
Der Kollege Westerwelle - es tut mir Leid, Herr
Westerwelle, dass ich dies hier ansprechen muss; Sie haben Jürgen Möllemann am Bein und das ist die politische Höchststrafe für jeden Liberalen ({18})
hat in derselben Debatte wortwörtlich gesagt: „Der Doppelpass ist vom Tisch.“ Von wegen vom Tisch! Ihr Gesetz zur Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts war
ein Konjunkturprogramm für doppelte Staatsangehörigkeiten. Vor dem Gesetz wurden etwa 14 Prozent der
Ausländer unter Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit eingebürgert. Jetzt sind es knapp 50 Prozent. Genau das Gegenteil dessen, was Herr Schily hier zu den
Folgen des Gesetzes gesagt hat, ist in der Wirklichkeit
eingetreten.
({19})
Dieselbe Masche wird jetzt bei der Zuwanderung ausprobiert.
({20})
In der Gesetzesbegründung - warum haben Sie diesen
Schlüsselsatz hier nicht zitiert, warum steht er nicht in
der Broschüre der Bundesregierung? - heißt es:
Zu den öffentlichen Interessen gehört im Gegensatz
zum geltenden Ausländergesetz nicht länger eine
übergeordnete ausländerpolitische Grundentscheidung der Zuwanderungsbegrenzung oder der Anwerbestopp.
Im Klartext: Im Gegensatz zum geltenden Recht soll die
Begrenzung der Zuwanderung nach Deutschland kein
politisches Ziel mehr sein. Sie darf also auch nicht bei
Ermessensentscheidungen von der Verwaltung berücksichtigt werden. Außerdem wollen Sie den Anwerbestopp im Gegensatz zu dem, was Sie hier vor zehn Minuten gesagt haben, nicht teilweise, sondern generell
aufheben, womit Sie den deutschen Arbeitsmarkt weit
über das geltende Recht hinaus für ausländische Arbeitnehmer öffneten.
({21})
Ihre Begründung lautet, wir müssten uns am weltweiten Wettbewerb um die klügsten Köpfe beteiligen.
({22})
Natürlich müssen wir dies tun. Wir machten geradezu einen Fehler, wenn wir uns nicht auch international um
Spitzenkräfte bemühten. Aber darum geht es nur in einer
einzigen Vorschrift des Gesetzes.
({23})
- Diese Vorschrift ist im Grundsatz nicht umstritten.
Die Behauptung, der deutsche Arbeitsmarkt sei für
ausländische Arbeitnehmer faktisch verriegelt, ist angesichts der EU-Freizügigkeit sowie der Tatsache, dass wir
im vorvergangenen Jahr 342 000 Arbeitserlaubnisse an
ausländische Arbeitnehmer erteilt haben - 235 000 für
Saisonbeschäftigung und 107 000 für Dauerarbeitsverhältnisse -, grober Unfug.
Es gibt ein weiteres populäres Argument: Wir bemühen uns um die Anwerbung von Pflegekräften. Richtig.
Das ist nach geltendem Recht aber ohne weiteres möglich.
({24})
Warum erwecken Sie dann den Eindruck, dass das nur
mit dem neuen Recht möglich ist?
Das beste Argument für unsere Haltung in dieser
Frage ist die Erfahrung mit der Greencard-Initiative.
Vor gut drei Jahren gab es hier ein gewaltiges Tamtam
unter großer öffentlicher Anteilnahme. Es hieß, wir
müssten weltweit IT-Spezialisten gewinnen.
({25})
Das Ergebnis war: An einem einzigen Tag wurde, je
nach Form der Vertreter der Wirtschaft, ein Bedarf von
40 000, 50 000 oder 100 000 solcher Fachkräfte angemeldet. Die Verordnung sieht eine Beschränkung auf
20 000 vor.
Nach mehr als zweieinhalb Jahren hat es lediglich
13 700 Zusicherungen gegeben
({26})
und es sind noch nicht einmal 11 000 gekommen. Und,
Herr Tauss, Überraschung: Vier Bundesländer wenden
diese Rechtsverordnung nicht an; sie haben landesrechtliche Regelungen auf der Basis des alten Rechts.
12 Bundesländer wenden die neue Bundes-IT-Verordnung an. Mehr IT-Spezialisten sind in die vier Bundesländer gegangen, die das alte Recht anwenden, als in die
12 Bundesländer, die das neue Recht anwenden.
({27})
Das ist ein klarer Beweis dafür, dass es mit dem geltenden Recht offensichtlich besser geht, international Spitzenkräfte anzuwerben, als mit der Bundes-IT-Verordnung.
Sie wollen sicherlich wissen, welche Auswirkungen
die Greencard-Verordnung auf dem deutschen Arbeitsmarkt hatte. Dazu zeige ich Ihnen anhand eines Diagramms einmal die Entwicklung der Zahl der inländischen arbeitslosen IT-Fachkräfte. Die Zahl hat sich in
den letzten zweieinhalb Jahren fast verdreifacht.
({28})
Alles das, was Sie in punkto Greencard erzählt haben, ist
nicht eingetreten.
({29})
Kollege Bosbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Niebel? - Bitte.
Vielen Dank.
Herr Kollege Bosbach, Sie haben gerade angeführt,
was alles nach geltendem Recht schon möglich ist. Unter
anderem haben Sie angeführt, dass auch Pflegekräfte angeworben werden können, was Sie als richtig empfinden. Ist Ihnen nicht bekannt, dass diese Regelung eine
Übergangsregelung ist, die bis zum In-Kraft-Treten des
Zuwanderungsgesetzes gelten sollte und die am
31. Dezember letzten Jahres ausgelaufen ist? Sind Sie
mit mir der Ansicht, dass man eine Regelung braucht,
um die notwendigen Pflegekräfte nach Deutschland anwerben zu können?
({0})
Kein Mensch sagt doch - das gilt im Übrigen, Herr
Niebel, auch für Ihren Antrag betreffend Saisonarbeitskräfte -,
({0})
dass das geltende Recht optimal ist. Kein Mensch sagt,
dass wir keine Korrekturen vornehmen müssen.
({1})
Das gilt beispielsweise in dem von Ihnen genannten Bereich oder auch beim Thema Saisonarbeitskräfte. Warum
keine großzügigeren, flexibleren Regelungen? Dagegen
spricht nichts. Wir wenden uns gegen die generelle Aufhebung des Anwerbestopps für Arbeitskräfte aus NichtEU-Ländern.
({2})
Das hat mit dem von Ihnen angesprochenen Thema
nichts zu tun.
({3})
Wenn in Deutschland tatsächlich Fachkräfte fehlen,
dann ist das eine Herausforderung für die Bildungspolitik, für die berufliche Qualifizierung, für den Hochschulstandort Deutschland und nicht eine Entwicklung, die
mit mehr Zuwanderung beantwortet werden kann. Diese
Probleme können wir nicht mit dem Ausländerrecht lösen, sondern nur mit einer besseren Bildung und Ausbildung unserer Kinder und der jungen Generation.
({4})
Der Anwerbestopp wurde 1973 von Willy Brandt
- er war Sozialdemokrat - bei einer Arbeitslosenquote
von 1,2 Prozent und einer Ausländerarbeitslosenquote
von 0,8 Prozent erlassen. Jetzt will die gleiche SPD bei
einer Arbeitslosenquote von 11 Prozent und einer Ausländerarbeitslosenquote von 21 Prozent diesen Anwerbestopp aufheben. Das ist nicht nur unverantwortlich,
sondern paradox. Das werden wir nicht mitmachen.
({5})
Der Anteil der ausländischen Arbeitslosen ist doppelt
so hoch wie ihr Anteil an der Bevölkerung. Der Anteil
der ausländischen Sozialhilfeempfänger ist dreimal so
hoch wie ihr Anteil an der Bevölkerung. Die Zahl der
ausländischen Arbeitslosen hat sich in den letzten zehn
Jahren glatt verdoppelt. Sie beträgt heute 580 000.
Glaubt denn irgendjemand ernsthaft, dass wir diese Probleme mit der Aufhebung des Anwerbestopps oder mit
mehr Zuwanderung lösen könnten? So werden wir die
Probleme verschärfen und nicht lösen.
({6})
Solange wir auf dem Arbeitsmarkt eine derart dramatische Situation haben, in der selbst eine hervorragende
Schulausbildung und eine hervorragende berufliche
Ausbildung sowie Weiterbildung nicht vor Arbeitslosigkeit schützen, muss die Weiterqualifizierung und Vermittlung von inländischen Arbeitslosen Vorrang haben
vor einer weiteren Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt.
({7})
Natürlich ist es für die Unternehmen ein Problem,
wenn sie trotz Massenarbeitslosigkeit freie Stellen nicht
besetzen können. Das ist aber eine Herausforderung für
die Sozialpolitik, für die Arbeitsmarktpolitik. Es muss
wieder gelten, dass derjenige, der den ganzen Monat hart
gearbeitet hat, mehr in der Tasche hat als derjenige, der
Sozialleistungen bezieht. Wir müssen die Anreize erhöhen, aus den sozialen Sicherungssystemen heraus- und
in eine Beschäftigung hineinzugehen.
({8})
Das alles hat mit dem Thema „Ausländerrecht und Zuwanderung“ nichts zu tun.
({9})
Auch die demographischen Probleme in unserem
Land werden wir nicht durch eine höhere Zuwanderung
lösen. Es ist ja richtig: Wir haben eine im internationalen
Vergleich sehr niedrige Geburtenrate. Wir ersetzen die
Elterngeneration nur zu zwei Drittel. Möglicherweise
unterschätzen wir die damit verbundenen Probleme
mehr, als dass wir sie überschätzen. Aber das ist für uns,
für die CDU/CSU, keine Herausforderung für die Ausländerpolitik. Vielmehr müssen wir wieder ein konsequent kinderfreundliches Land werden und eine bessere
Familienpolitik machen.
({10})
Jetzt sage ich etwas, von dem ich weiß, dass manch
einer den Kopf schütteln oder denken wird, das sei politisch nicht korrekt. Meine feste Überzeugung ist aber
nun einmal: Mich würde es beim Thema Bevölkerungspolitik bzw. Familienpolitik freuen, wenn wir im Deutschen Bundestag mit der gleichen Leidenschaft, mit der
wir über Ausländerpolitik sprechen, auch einmal darüber
reden, wie wir in Deutschland ungeborenes Leben besser
schützen können. Auch das wäre einmal eine Debatte
wert.
({11})
Herr Schily hat vorhin die „Zuwanderung aus demographischen Gründen“ und in diesem Zusammenhang
§ 20 des Gesetzentwurfes angesprochen. Er hat gesagt,
auch wir von der CDU/CSU würden ein Punktesystem
vorsehen. Dabei haben Sie den wesentlichsten Unterschied unterschlagen.
({12})
Wir sehen zwei Säulen vor: die Zuwanderung von
Höchstqualifizierten und die von Fachkräften aufgrund
eines nationalen Arbeitsmarktbedürfnisses - und nicht,
wie Sie es regeln wollen, aufgrund eines regionalen Arbeitsmarktbedürfnisses, das über 91 Arbeitsämter zu diagnostizieren ist - mithilfe eines Punktesystems. Sie sehen drei Gruppen vor: Höchstqualifizierte, übrige
Arbeitnehmer und ein Punktesystem aus demographischen Gründen, von dem Sie selber sagen: Wir wollen
diese Vorschrift in den nächsten Jahren gar nicht anwenden. Wenn das so ist, dann können wir § 20 ersatzlos
streichen. Wenn Sie dennoch an dieser Vorschrift festhalten, dürfen Sie sich nicht wundern, wenn wir Ihnen
Ihre politischen Absichten nicht glauben.
({13})
Es ist noch gar nicht lange her, da haben Sie, Herr
Schily, in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ auf die Frage, ob man, da die Wirtschaft sage, sie
brauche internationale Arbeitskräfte, Fachkräfte und
Spitzenkräfte, nicht das geltende Recht ändern müsse,
wortwörtlich gesagt:
Wenn mir Siemens sagt, wir brauchen soundso
viele, bin ich sofort bereit. Da brauchen wir kein
Zuwanderungsgesetz, das geht schon mit dem geltenden Ausländergesetz.
Heute behaupten Sie genau das Gegenteil.
({14})
Weil durch dieses Gesetz im Bereich der humanitären
Zuwanderung die Ausweitung der Zuwanderung nach
Deutschland vorprogrammiert wird, entsteht ein Gegensatz zu dem, was Sie selber einmal zur humanitären
Zuwanderung gesagt haben, nämlich dass es in
Deutschland keine Schutzlücken gibt. Das haben Sie
über eine lange Zeit gesagt; Sie bestätigen es hier wieder.
Wenn es aber keine Schutzlücken gibt, dann gibt es auch
nicht die gesetzgeberische Notwendigkeit, solche zu
schließen. Selbstverständlich müssen wir und wollen wir
unseren humanitären Verpflichtungen nachkommen; das
ist doch völlig unstrittig. Wenn das Leben und die Freiheit eines Flüchtlings konkret bedroht sind, dann genießt
er in Deutschland Schutz. Das ist so und das wird auch
in Zukunft so bleiben. Wir wollen aber nicht über die
eindeutigen Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention hinausgehen.
({15})
Weil das, was Sie zur nicht staatlichen Verfolgung gesagt haben, zutrifft, können Sie nicht mit unserer Zustimmung rechnen. Ich zitiere den Innenminister in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“: „Wenn man aber
generell auch nicht staatliche Verfolgung als Asylgrund
anerkennen will, gäbe es praktisch keine Begrenzung
mehr.“ Weil es genau so ist, Herr Schily, können Sie von
uns nicht erwarten, dass wir diesem Gesetzentwurf zustimmen.
({16})
Außerdem ist es falsch, dass es im Grundsatz - von
einer Ausnahme abgesehen - dabei bleiben soll, dass
Asylbewerber nach bloßem Zeitablauf von drei Jahren
nicht mehr nur die abgesenkten Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz, sondern die volle Sozialhilfe bekommen. Das wollen Sie in einem kleinen Teilbereich ändern, im Übrigen bleibt es bei dieser Regelung. Angesichts einer Anerkennungsquote von zurzeit
unter 2 Prozent müssen wir jeden Anreiz nehmen, unter
Berufung auf das Asylrecht, in Wahrheit aber aus asylfremden Gründen nach Deutschland zu kommen. Herr
Schily, ändern Sie das, dann werden wir dem gerne zustimmen!
({17})
Wir müssen zurück zum alten Recht. Kein politischer
Flüchtling, dessen Leib und Leben im Heimatland bedroht wird und der hier in Deutschland Schutz sucht,
wird sich ernsthaft darüber beklagen, dass er nur für die
Zeit des Anerkennungsverfahrens abgesenkte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und nicht
die volle Sozialhilfe bekommt. Sie geben bereits nach
drei Jahren die volle Sozialhilfe. Das ist ein kapitaler
Fehler; denn wer als Asylbewerber anerkannt wird, unterliegt ohnehin nicht mehr den Regelungen des Asylbewerberleistungsgesetzes.
({18})
Es darf keine wirtschaftlichen Anreize geben, um unter
Berufung auf das Asylrecht nach Deutschland zu kommen.
Unser eigentliches Problem ist nicht das Asylrecht
selber, sondern der vielfältige Missbrauch der Inanspruchnahme des Asylrechts. Das wollen wir ändern.
Das wird aber mit Ihrem Gesetzentwurf nicht geändert.
({19})
Nun zu dem Kapitel Integration: Sie bleiben weit hinter
dem zurück, was in punkto Integration notwendig wäre.
({20})
Ihr Verhalten ist getragen von dem Bemühen, Kosten
vom Bund auf die Länder und Gemeinden abzuwälzen.
Natürlich findet Integration immer im richtigen Leben,
also vor Ort in den Städten und Gemeinden statt. Wenn
der Bund Rechtsansprüche gewährt, muss er auch die
Kosten tragen. Wir werden es nicht zulassen, dass die
Kosten auf die Städte und Gemeinden abgewälzt werden, die dank Rot-Grün ohnehin auf dem letzten Loch
pfeifen. Eine solche Politik machen wir nicht mit.
Wir müssen mehr für die nachholende Integration tun.
Wir brauchen wirksame Sanktionen für diejenigen, die
sich rechtsgrundlos weigern, trotz Rechtspflicht an einem solchen Integrationskurs teilzunehmen. Wenn wir
darauf verzichten, setzen wir das falsche Signal, nämlich
dass uns Integration offensichtlich doch nicht so viel
wert ist, wie ständig behauptet wird.
({21})
Tun Sie weniger für Zuwanderung und mehr für Integration! Dann haben Sie uns an Ihrer Seite.
({22})
Herr Schily, Sie haben uns aufgerufen, einem Kompromiss zuzustimmen, und haben gleichzeitig gesagt,
Sie seien zu Änderungen an diesem Gesetzentwurf bereit, sofern die Substanz nicht geändert werde. Im Klartext heißt das: Änderungen ja, wenn sich nichts ändert.
Dann können Sie doch nicht ernsthaft erwarten, dass wir
diesem Gesetzentwurf zustimmen.
Herr Kollege Beck, Sie haben in einem Interview gesagt: „Wir verkaufen unsere Seele nicht.“ Soll ich Ihnen
etwas sagen? - Wir verkaufen unsere Seele auch nicht.
({23})
Wir werden keinem Gesetzentwurf zustimmen, der
den Interessen des Landes nicht dient, weder heute noch
morgen.
Danke fürs Zuhören.
({24})
Ich erteile dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
({0})
Lieber Herr Bosbach,
({0})
über die Frage des Abtreibungsverbots gerade in der
Einwanderungsdebatte bevölkerungspolitisch zu diskutieren, das ist für mich nun wirklich völlig daneben.
({1})
Ich glaube, das sollten wir lassen.
({2})
Deutschland hat heute 82 Millionen Einwohner; ohne
Zuwanderung, so das Institut für Bevölkerungsforschung, wären es gerade 55 Millionen. Diese Zahlen zeigen: Deutschland ist ein Einwanderungsland.
({3})
Es geht nicht um die Anerkennung oder Leugnung eines Tatbestandes, es geht um seine Gestaltung. Moderne,
innovative Gesellschaften, die im internationalen Wettbewerb bestehen wollen, müssen atmen. Der Austausch
mit dem Ausland durch Spracherwerb und Wissenstransfer, aber eben auch durch Zu- und Abwanderung ist für
sie essenziell. Wer Abschottung betreibt, ist daher ein Innovationshemmnis und schädigt die Zukunftsfähigkeit
unseres Landes.
({4})
Bei dieser Diskussion geht es auch um Mythen und
um Realität. Der Mythos ist der Anwerbestopp mit der
Begründung: Wir brauchen keine Zuwanderung, wir
Volker Beck ({5})
haben ja so viele Arbeitslose; deshalb ist das keine Frage,
die man lösen muss. Die Realität ist die Anwerbestoppausnahmeverordnung. Wir haben IT-Fachleute angeworben und es sind weniger gekommen - das ist richtig -, als
wir zugelassen haben. Offensichtlich ist der Druck, nach
Deutschland zu kommen, gar nicht so groß und offensichtlich sind die Regelungen, die wir auf der Grundlage
des bestehenden Rechts schaffen können, nicht hinreichend attraktiv im Wettbewerb um die High Potentials
auf dem internationalen Arbeitsmarkt.
({6})
VDI-Präsident Christ hat vorgestern auf der CeBIT
gesagt: Es gibt einen jährlichen Mangel von 20 000 Ingenieuren. Wir müssen versuchen, diesen Mangel durch
eine bessere Bildungspolitik zu beheben. Aber das werden wir nicht allein mit dieser Maßnahme schaffen. Wir
brauchen auch mehr Flexibilität im Zuwanderungsrecht.
Bayern und Hessen - Herr Bosbach hat es angesprochen - werben trotz der jetzigen Situation auf dem Arbeitsmarkt Pflegepersonal für die häusliche Pflege an.
Offensichtlich kommen sie an Ihrer eigenen Ideologie
nicht vorbei und müssen letztendlich da, wo Sie regieren, die Realitäten auch anerkennen.
Was soll dieser Popanz mit dem Anwerbestopp? Hier
hat der Innenminister ja offensichtlich den absoluten
Sündenfall begangen. Mir liegt ein Antrag aus den Ausschussberatungen im Saarland vor, in dem steht: Ersetzung des Anwerbestopps durch ein den Bedürfnissen des
deutschen Arbeitsmarkts gerecht werdendes Steuerungssystem bei striktem Vorrang der Vermittlung deutscher
und bevorrechtigter ausländischer Arbeitssuchender.
({7})
Das ist genau das, was wir im Zuwanderungsgesetz formuliert haben. Das ist das, was Herr Müller will, und Sie
machen hier so einen Zinnober!
({8})
Kommen Sie zur Sachlage zurück.
Ein anderer Mythos: Wir bürden Flüchtlingen, denen
in ihrer Heimat Steinigung oder andere unmenschliche
Behandlung droht, auf, bei uns nur geduldet zu werden.
Das heißt zu Deutsch: Ihre Abschiebung wird vorübergehend ausgesetzt. Monat für Monat Kettenduldung, oft
über Jahre hinweg. Die Realität ist: Die Menschen bleiben über Jahre hier, aber wir geben ihnen keine Chance,
hier ein neues Leben zu beginnen, eine Existenz zu gründen, für ihre Kinder eine Zukunft aufzubauen. Wir zwingen sie dazu, der öffentlichen Hand auf der Tasche zu liegen. Das ist einfach eine verrückte Politik. Mit dieser Art
von Realitätsverweigerung macht das Zuwanderungsgesetz Schluss und deshalb brauchen wir es ganz dringend.
({9})
Wir steuern mit diesem Gesetz erstmals die Zuwanderung nach den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarktes und sorgen dafür, dass die Leute, die wir brauchen,
auch zu uns kommen können und attraktive Rahmenbedingungen vorfinden. Für die Flüchtlinge, die auf Dauer
hier bleiben, eröffnen wir die entsprechenden Perspektiven. Wer nicht von sich aus sieht, dass dies notwendig
ist, sollte einmal im Bericht der Ausländerbeauftragten
nachlesen. Ihr spreche ich im Namen meiner Fraktion,
der Koalition und - ich glaube, ich kann das auch für Sie
sagen - des gesamten Hauses für ihre engagierte Arbeit
meinen herzlichen Dank aus.
({10})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, kommen Sie endlich aus der Schmollecke heraus. Geben Sie
Ihre Verweigerungshaltung auf! Herr Stoiber hat in seinem „Stern“-Interview gesagt, er wolle überhaupt keine
Einigung. Herr Bosbach hat schon im Dezember verkündet, er könne sich ein Gesetz, das von Schwarz-Rot und
Rot-Grün gleichermaßen getragen werde, nicht vorstellen. Herr Beckstein hat heute über die Ticker verkünden
lassen, keine Einigung sei auch kein Unglück. Die Union
ist bei der Zuwanderungsfrage gesellschaftspolitisch und
parteipolitisch völlig isoliert. Es gibt keine relevante gesellschaftliche Gruppe, keine andere Partei, die in dieser
Frage an Ihrer Seite steht und die 137 Änderungsanträge
aus dem Bundesrat unterstützt. Deshalb belassen Sie es
bei diesen Anträgen bei einer Beratung, bringen Sie verhandlungsfähige Positionen ein und öffnen Sie sich für
die Debatte!
({11})
Arbeitgeber und Gewerkschaften, Kirchen und Menschenrechtsorganisationen unterstützen den Kompromissentwurf, den die Bundesregierung heute erneut vorgelegt
hat. Herr Reimers von der Evangelischen Kirche in
Deutschland hat gestern gesagt - ich zitiere -:
Das Zuwanderungsgesetz in seinem vorliegenden
Entwurf darf aus Sicht der EKD nicht weiter abgeschwächt werden.
Die Kirchen, so Reimers weiter, sähen daher keinen Anlass, ihre Position zu relativieren. Wenn das Gesetz verwässert werde, könne man gleich bei den bestehenden
Regelungen bleiben. Schreiben Sie sich das hinter die
Ohren! Sie führen doch das „C“ in Ihrem Parteinamen.
Deshalb sollten Sie in dieser Debatte ein wenig auf die
Stimme der Kirchen hören.
({12})
Oder hören Sie sich an, was der BDI in seinem Papier
„Innovationspolitik in der 15. Legislaturperiode“ zu diesem Thema sagt:
Engpässe auf dem Arbeitsmarkt müssen auch
durch Zuwanderung ausgeglichen werden können.
Deutschland muss die Zuwanderung aus dem Ausland am Bedarf der eigenen Wirtschaft und Gesellschaft ausrichten. Das heißt, die Auswahl der
Volker Beck ({13})
Zuwanderer muss bedarfsgerecht nach Qualifikation, Berufserfahrung, Alter, Familienstand und Integrationsfähigkeit erfolgen. ... Im globalen Wettbewerb um die besten Köpfe hat Deutschland nur
eine Chance, wenn es für Zuwanderer attraktiv ist
und sich ausländerfreundlich und integrationsbereit zeigt.
Das liest sich doch wie die Begründung zu unserem
Gesetzentwurf. Deshalb fordere ich Sie auf: Öffnen Sie
sich in dieser Frage. Gehen Sie mit uns in die Beratungen und in die Verhandlungen. Lassen Sie uns eine sachliche Debatte führen und zum Wohle unseres Landes einen Kompromiss herbeiführen!
Wir sind dazu bereit. Kompromisse bedeuten immer,
dass jeder auf den anderen zugehen muss und bereit sein
muss, in den Verhandlungen seine Position etwas zu ändern. Wir sind aber nicht dazu bereit, unsere Seele zu
verkaufen; das hat Herr Bosbach richtig wiedergegeben.
Das verlangt auch von Ihnen niemand. Wenn wir es im
Innenausschuss schaffen würden, uns zu einer gemeinsamen Lektüre dieses Gesetzentwurfes zusammenzusetzen, dann würden wir, wie ich glaube, feststellen, dass
die Differenzen nicht so groß sind, wie es in den Plenardebatten scheint. In Plenardebatten geht es nämlich
meist um Ideologie und Mythen und nicht um die Realität und den Gesetzestext.
Vielen Dank.
({14})
Ich erteile das Wort der Justizministerin des Landes
Baden-Württemberg, Frau Corinna Werwigk-Hertneck.
({0})
Corinna Werwigk-Hertneck, Ministerin ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die FDP legt heute einen alternativen Entwurf für
ein modernes Zuwanderungssteuerungs- und Integrationsgesetz vor. Es ist wirklich ärgerlich, dass die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf unverändert eingebracht hat. Es ist aber auch wirklich ärgerlich, dass
dieses Gesetz durch 137 Anträge der Union blockiert
werden soll.
({2})
Wir haben einen Vermittlungsvorschlag auf der Basis
des rot-grünen Regierungsentwurfes unter Einbeziehung vieler Punkte aus den 137 Änderungsanträgen der
Union vorgelegt.
({3})
Kernpunkte des Gesetzentwurfes sind: mehr Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung, mehr Integration
und weniger Verwaltungsbürokratie. Dem Ganzen liegt
aber zugrunde, dass wir akzeptieren müssen, dass wir ein
Einwanderungsland sind - sicherlich kein traditionelles,
aber ein faktisches. Das muss die Botschaft sein.
({4})
Es gibt einen breiten Konsens aller gesellschaftlichen
Gruppen, Wirtschaftsverbände, Kirchen und auch der
Parteien darüber, dass wir ein solches Gesetz brauchen.
Wir wollen es nicht abgespaltet wissen; denn Zuwanderungspolitik und Integrationspolitik sind zwei Seiten
einer Medaille. Ich möchte den saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller zitieren, der in einem Interview
der „Welt“ am 24. Februar und auch heute in einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt hat: „Zuwanderung und Integration gehören zusammen.“
({5})
Meine Damen und Herren, ich will nur vier Beispiele
dafür nennen, dass unser heutiges Ausländerrecht nicht
ausreicht:
Erstens. Bis heute gibt es keine gesetzliche Grundlage
für umfassende, zwischen Bund, Ländern und Kommunen abgestimmte Integrationsmaßnahmen.
({6})
Zweitens. Die Regelungen für die Zuwanderung qualifizierter Kräfte sind unzureichend und unübersichtlich.
Es reicht nicht, wenn man Insellösungen fabriziert oder
Löcher in den Anwerbestopp bohrt. Dies hat zur Folge,
dass vor allem Wirtschaftsflüchtlinge und die Ärmsten
der Armen zu uns kommen, obwohl wir eigentlich wollen, dass andere Menschen zu uns kommen. Wir sollten
sagen, was wir wollen.
({7})
Drittens. Wir schicken die ausländischen Absolventen
unserer Fachhochschulen und Universitäten nach ihrer
teuren Ausbildung wieder zurück. Andere Länder sind
dankbar, dass sie die in Deutschland ausgebildeten klugen Köpfe bekommen können.
({8})
Viertens. Für humanitäre Härtefälle gibt es immer
noch keine praktikable rechtliche Handhabe. Wir brauchen also ein flexibles und gut steuerbares System.
Wir Liberalen - ob in den Landtagsfraktionen oder in
der Bundestagsfraktion - wollen bei diesem wichtigen
Thema vermitteln und die Konsensbildung fördern. Es
bringt uns nicht weiter, wenn immer wieder die gleichen
Argumente gebracht werden. In unserem Vermittlungsvorschlag ist dies eingearbeitet. Die Bevölkerung ist es
leid, dass die Argumente jahrelang gegeneinander ausgetauscht wurden und es auch bei diesem Punkt, der eigentlich sehr nahe liegend ist, wieder keine Reformen gibt.
({9})
Ministerin Corinna Werwigk-Hertneck ({10})
Ich erinnere nur daran, dass - laut einer gestern veröffentlichten Forsa-Umfrage - 67 Prozent der Bevölkerung nicht mehr daran glauben, dass wir gute und wirksame Reformen hinbekommen. Es ist also ein Gebot,
auch bei diesem Punkt zu zeigen, dass wir es doch schaffen.
({11})
Unser liberaler Vorstoß steuert auf jeden Fall die Zuwanderung von ausländischen Fachkräften, wobei Deutsche und Deutschen gleichgestellte Arbeitnehmer stets
Vorrang genießen. Es ist Ihnen in der Union ja so wichtig, dass geklärt wird, wie bei der EU-Osterweiterung
mit den Arbeitskräften umgegangen wird. Das muss natürlich berücksichtigt werden. Dies wollen wir mit einer
Jahreszuwanderungsquote erreichen.
Warum sagen wir nicht selbstbewusst, dass wir ein
Einwanderungsland sind und dass wir im nächsten Jahr
100 000 Menschen und im übernächsten Jahr niemanden
- oder zum Beispiel in fünf Jahren 200 000 Menschen zuwandern lassen wollen? Wir können das selbst bestimmen. Dabei soll angerechnet werden - so stellen wir es
uns vor -, wer im Rahmen des Familiennachzugs und
des Asylnachzugs zu uns kommt. Von daher handelt es
sich bei der Quote um eine Höchstquote. Ich weiß gar
nicht, was die Union noch dagegen haben kann.
({12})
Dies ist übrigens ein Weg, der in Österreich, Kanada
und Australien beschritten wird. Herr Koschyk, ich habe
gelesen, Sie hätten gesagt, dass diese Quote zu einer
weiteren qualifikationsunabhängigen Zuwanderung führen würde. Ich glaube, Sie haben den Vorschlag entweder nicht gelesen oder zu wenig Vertrauen in die Union;
denn die Quote wird - das ist ganz normal - mit Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates bestimmt.
Sie muss jedes Mal ausdiskutiert werden. Darüber hinaus kann sie auch auf null gesetzt werden.
({13})
Als FDP bitten wir Sie deshalb, sich mit diesem Vorschlag ernsthaft auseinander zu setzen. Wir haben uns
viel Mühe gegeben und ihn ausdiskutiert, um die verschiedensten Positionen einzuarbeiten. Wichtig ist auch
der Integrationsteil. Wir schlagen die nachholende Integration vor. Dies ist im Entwurf enthalten. Für jeden
von uns ist es Zeit, sich von inhaltlichen Maximalvorstellungen insgesamt zu verabschieden. Es ist wesentlich, dass wir einen Konsens finden. Ansonsten schaden
wir den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in der Zukunft.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Cornelie Sonntag-Wolgast, die diese schon während
der Rede des Kollegen Bosbach angemeldet hatte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten
Kollegen und Kolleginnen, der gerade erwähnte Kollege
Bosbach hat mir vorgeworfen,
({0})
ich hätte mich in einer Sendung anders geäußert, als dies
in einem Flugblatt der Bundesregierung zum Ausdruck
komme. Herr Kollege Bosbach, nehmen Sie bitte zur
Kenntnis, dass jedes polemische Herauspicken aus dem
Zusammenhang gerade in der Diskussion um dieses Gesetz von Übel ist.
({1})
Es ging mir in der Sendung seinerzeit um die Frage,
wer nach einer zielgerichteten und wohlgeplanten migrationspolitischen Konzeption unter bestimmten Umständen, soweit Bedarf ist und niemand sonst aus der EU zur
Verfügung steht, nach Deutschland kommen kann - wie
das die Ministerin eben in ihrer Rede dargestellt hat und
wie auch Sie es vorhin vorsichtig angedeutet haben. Das
kann natürlich auch bedeuten, dass in mehreren Jahren
eine größere Zahl von Zuwanderern nach Deutschland
kommt, als es zurzeit möglich ist.
Auf der anderen Seite - das muss man in diesem Zusammenhang sehen - dämmt das Gesetz ungeordnete
Zuwanderung ein, zum Beispiel durch erhöhte Integrationsanforderungen an verschiedene Gruppen, sowohl
Ausländer als auch Aussiedler. Zudem wird im Gesetz
eine konsequentere Abschiebung derjenigen gefordert,
die bei uns nicht bleiben können und deren Zurückweisung wir aufgrund rechtstaatlicher Prinzipien verantworten können. Nichts anderes sieht dieses Gesetz vor.
Nichts anderes habe ich in all meinen Äußerungen, ob in
Interviews oder Reden, zu diesem Gesetz gesagt.
Noch eine ernsthafte Bitte, Herr Kollege Bosbach:
Gezielte und bewusste Missdeutung eines Gesetzes, wie
Sie es praktiziert haben und wie es Ihre ehemalige Kollegin mit Recht kritisiert, ist politisch unanständig. Davon
sollten Sie ablassen.
({2})
Kollege Bosbach, Sie haben Gelegenheit, darauf zu
reagieren.
Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, ich habe Sie gerade
nicht kritisiert, sondern ich habe Sie dafür gelobt, dass
Sie in der Sendung „Münchner Runde“ am 25. März
2002 richtigerweise darauf hingewiesen haben, dass es
eben nicht zu einer Reduzierung der Zuwanderung nach
Deutschland kommen wird.
Noch einmal: In dem Flugblatt, das so weit von der
Wahrheit entfernt ist, dass es dem deutschen Steuerzahler
nun wirklich nicht zumutbar ist, für diese Desinformation 2,6 Millionen Euro zahlen zu müssen, heißt es unter
der Überschrift „Weniger Zuwanderung“:
Das Gesetz wird die Zahl der Zuwanderer deutlich
verringern. Als Zuwanderer werden nur noch Menschen kommen, die in Deutschland eine Perspektive
haben und Chancen als qualifizierte Arbeitskräfte
geboten bekommen.
Kein Bürgerkriegsflüchtling, kein Asylbewerber, kein
Kontingentflüchtling und kein De-facto-Flüchtling muss
nachweisen, dass er ein Angebot für einen Arbeitsplatz hat.
({0})
Das alles ist Ihnen bekannt. Durch diese Passage wird
der Bevölkerung der Eindruck vermittelt, als könne es
überhaupt keine Zuwanderung mehr geben, wenn nicht
ein Arbeitsplatz nachgewiesen und der Lebensunterhalt
durch Erwerbseinkommen gesichert ist. Das steht in diesem Flugblatt. Dies aber ist falsch. Es ist gut, dass Sie in
der „Münchner Runde“ nicht den Inhalt dieses Flugblattes wiedergegeben, sondern die Wahrheit gesagt haben.
Ich wende mich dagegen, dass bei der Bevölkerung
hinsichtlich der Folgen des Gesetzes ein völlig falscher
Eindruck erweckt wird.
({1})
Nach dem geltenden Gesetz gibt es überhaupt keine Beschränkung. Die einzige Beschränkung, die jetzt vorgesehen ist, bezieht sich auf die Spracherfordernisse der
mitreisenden ausländischen Familienangehörigen nach
dem Bundesvertriebenengesetz. Ansonsten - dem haben
Sie gerade nicht widersprochen - bleibt es bei dem, was
ich hier gesagt habe: Jeder, der nach geltendem Recht
nach Deutschland kommen kann, kann dies auch zukünftig tun. Darüber hinaus gibt es weitere Zuwanderungsmöglichkeiten.
Sie sagen den Kirchen: Wir lassen aus humanitären
Gründen mehr Zuwanderung zu. Sie sagen den Arbeitgebern: Wir sorgen dafür, dass mehr ausländische Arbeitskräfte angeworben werden können. Sie sagen der
Bevölkerung: All dies führt zu weniger Zuwanderung. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({2})
Ich erteile der Parlamentarischen Staatssekretärin
Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine
Debatte über Zuwanderung, die in der Bevölkerung sehr
aufmerksam verfolgt wird und von der wir alle wissen,
dass sie tief an den Emotionen der Menschen rührt, ist
dann ganz schlecht, wenn sich Politik ständig bewusst
missversteht. Ich kann nur noch einmal appellieren, uns zu
bemühen, sachlich zu diskutieren, anstatt in dem hochsensiblen Bereich des bewussten Missverstehens zu agieren.
({0})
Herr Kollege Bosbach, inwiefern bringt uns eine Debatte über die Frage, ob Deutschland ein klassisches
Einwanderungsland ist oder nicht, eigentlich weiter?
Welche Folgen hat das für die Realität? Die Realität, mit
der wir uns auseinander zu setzen haben, ist: Seit den
50er-Jahren hat es sehr viel Zuwanderung nach Deutschland gegeben. Es gab auch sehr viel Abwanderung.
Deutschland ist nunmehr ein Land, in dem 7,3 Millionen
Menschen leben, die keinen deutschen Pass besitzen.
Das begründet eine politische Herausforderung und fordert politische Gestaltung.
Eben darum geht es beim Zuwanderungsgesetz: ob wir
uns endlich dazu durchringen, anzuerkennen, dass es Einwanderung gegeben hat und es sie auch weiter geben
wird, und ob wir den politischen Gestaltungsaufwand, der
mit der Einwanderung verbunden ist, wirklich annehmen.
({1})
Dazu gehört auch die Frage, ob wir Ausländer der zweiten oder dritten Generation, die in Deutschland geboren
wurden und hier leben, weiterhin als Ausländer bezeichnen oder als unsere Bürgerinnen und Bürger, ob wir akzeptieren, dass sie zu uns gehören. Dazu gehört auch,
dass wir uns damit auseinander setzen, dass sich das Gesicht einer Gesellschaft durch Einwanderung spürbar
verändert, weil Gesellschaften durch Einwanderung pluralistischer werden.
Jede sechste Ehe, die heute geschlossen wird, ist binational. Jeder dritte Schüler in den westdeutschen Großstädten hat einen Migrationshintergrund. Mehr Deutsche als Ausländer heiraten Ehepartner aus dem
Ausland. In 30 Jahren wird jeder zweite Bürger unseres
Landes einen Wanderungshintergrund haben, das heißt,
zum Beispiel eine Großmutter oder einen Großvater, die
aus anderen Ländern, aus anderen Kulturen oder anderen
Religionen kommen. Das ist die eigentliche Herausforderung, vor der wir stehen. Darauf muss sich Politik einstellen. Das tut sie mit dem vorliegenden Gesetz.
({2})
Wir kennen die Zahlen über die gewaltige Schieflage
zwischen Bildungserfolgen von Kindern aus Zuwandererfamilien und jenen von Kindern von deutschen Eltern.
Werfen Sie einen Blick in den Bericht über die Lage der
Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland! Für uns
ist das nichts Neues. Aber sind Ausländerkinder deswegen
verantwortlich für das schlechte deutsche Abschneiden bei
der PISA-Studie? Müssen wir nicht vielmehr sagen: Unsere
Schulen sind offensichtlich nicht so ausgestattet, dass sie
nach 40 Jahren Zuwanderung gelernt haben, mit den
sozialen Folgen von Migration positiv und vernünftig
umzugehen?
({3})
- Von der Schuld der Lehrer war hier überhaupt nicht die
Rede.
Tatsache ist, Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sind Teil der Gesamtschülerschaft. Wir
rechnen die Jungen schließlich auch nicht heraus; dann
sähe das Ergebnis der PISA-Studie nämlich auch schon
deutlich besser aus. Kinder und Jugendliche sind für uns
diejenigen, die wir ausbilden und qualifizieren müssen.
Schüler und Lehrer müssen in die Lage versetzt werden,
mit diesen schwierigen Herausforderungen umzugehen.
In unserer alternden Gesellschaft muss eines klar sein:
In Zukunft brauchen wir jedes Kind und jeden Jugendlichen. Deswegen sollten wir uns das Leitmotiv dieser
Debatte in Finnland zu Gemüte führen, welches lautet:
Wir brauchen hier jeden, hoffnungslose Fälle können wir
uns nicht leisten.
({4})
Auf diesen positiven Ausgangspunkt sollten wir uns verständigen.
Mit der Zuwanderung kamen auch neue Religionen.
3 Millionen Bürger islamischer Herkunft sind nunmehr
deutsche Realität. Wir wissen, dass es immer dann
schwierig wird, wenn diese neue Religion sichtbar wird,
sei es durch den Wunsch, in einer Gemeinde eine Moschee zu bauen, sei es durch das Tragen eines Kopftuches, sei es durch das in der Bevölkerung hoch umstrittene Schächten. Wir wissen, dass solche islamischen
Symbole in der deutschen Bevölkerung oft mit der Vermutung verbunden sind, dass es sich um politischen
Fundamentalismus handelt.
Damit wird viel Porzellan zerschlagen. Viele Muslime fühlen sich in ihrem Glauben nicht akzeptiert. Daher müssen wir möglichst viele Zeichen setzen, um zu
zeigen: Unsere Gesellschaft ist so tolerant, dass auch
Menschen anderen Glaubens hier ihren Raum finden,
und wir sind bereit, sie zu respektieren und ihnen die Türen zu öffnen. Erst dann werden auch diese Menschen
bereit sein, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren.
Ablehnung erzeugt Ablehnung und Rückzug. Das ist gefährlich für beide Seiten, nämlich sowohl für die Zuwanderer als auch für diejenigen, die bereits hier leben.
Im Zusammenhang mit der Integration gibt es in der
Tat Probleme. Es gibt Jugendkriminalität, eine Machismokultur und Gewaltbereitschaft - unter ausländischen
Jugendlichen wie auch unter jugendlichen Aussiedlern,
die nach dem Staatsbürgerschaftsrecht Deutsche sind.
Wir werden diese Probleme aber nur lösen, wenn wir sie
als unsere gemeinsamen Probleme begreifen, die wir mit
den Zugewanderten zusammen angehen müssen.
Es geht nicht um Ausgrenzung, sondern um Integration. Der Schlüssel dazu ist die deutsche Sprache. Darüber besteht gottlob Konsens. Das Zuwanderungsgesetz
geht mit der Erstförderung einen ersten Schritt. Wir sollten diesen Schritt gemeinsam gehen.
Es ist zwar richtig, zu fördern und zu fordern, aber - das
sage ich an die Länder gewandt - wer fördern will, der
darf sich auch nicht aus der Finanzierung stehlen. Es
geht nicht an, die Aufgaben immer wieder hin- und herzuschieben, ohne dass schließlich Ergebnisse erzielt
werden. Ich betone das im Hinblick auf die Vorschläge
der unionsgeführten Länder, die für eine Integrationsbeauftragte in der Tat sehr erfreulich sind, weil der Umfang
der Integrationsangebote deutlich erweitert werden soll.
Wir sollten aber auch ehrlich über die dadurch entstehenden Kosten sprechen.
({5})
Gesellschaftliche Veränderungen müssen sich in Gesetzen widerspiegeln. Das Ausländerrecht ist veraltet
und bürokratisch verworren; man hat dort zu oft „angebaut“.
Lassen Sie uns den Weg zu der Erkenntnis, dass Einwanderung und Integrationspolitik zusammengehören
wie zwei Seiten einer Medaille, den wir in den vergangenen zwei Jahren gegangen sind, fortsetzen und produktiv
und verantwortungsvoll den Prozess der Gestaltung einleiten.
({6})
Ich erteile dem Kollegen Hartmut Koschyk, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Beck, Sie haben zwar Ihre Argumente für den
in unveränderter Form eingebrachten Entwurf eines rot-grünen Zuwanderungsgesetzes nicht so aggressiv und bissig wie
der Bundesinnenminister, sondern wesentlich werbender, liebenswürdiger und charmanter vorgetragen, aber auch Sie
vermochten nicht, uns zu überzeugen. Denn wir glauben,
dass das bereits einmal vor dem Bundesverfassungsgericht gescheiterte rot-grüne Zuwanderungsgesetz, wenn
es Wirklichkeit werden sollte, einen großen Schaden für
unser Land bedeutet.
({0})
Wir glauben auch, meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen, dass Sie die Bevölkerung unseres Landes
über Inhalt und Auswirkungen dieses Gesetzes nach wie
vor im Unklaren lassen;
({1})
denn das rot-grüne Zuwanderungsgesetz ist tatsächlich
ein Zuwanderungserweiterungsgesetz.
({2})
Darauf ist es in seiner Grundsubstanz und in jedem
Buchstaben angelegt.
({3})
Weil Sie Angst vor der Reaktion der Bevölkerung haben,
bestreiten Sie dies.
Wir aber sagen der Bevölkerung: Wenn Rot-Grün
durchgängig alle wesentlichen den Zuzug beschränkenden Elemente des geltenden Rechts aufhebt, dann führt
dies nicht zu weniger, sondern zu mehr Zuwanderung
nach Deutschland. Eins plus eins ist für uns trotz PISA
immer noch zwei und nicht minus zwei, wie Sie uns und
der Bevölkerung glauben machen wollen.
({4})
Das rot-grüne Zuwanderungsgesetz in der vorliegenden Form ist für uns inakzeptabel. Ich betone auch im
Hinblick auf die anstehenden Ausschussberatungen: Für
uns geht es nicht um Nachverhandlungen in einigen
Punkten, sondern dieses Gesetz ist von seiner Grundstruktur her inakzeptabel und muss völlig neu überarbeitet werden.
Wir sind überzeugt, dass angesichts von fast 5 Millionen Arbeitslosen in unserem Land, leerer Staatskassen, berstender Sozialsysteme und einer desaströsen
Wirtschaftslage an den bereits von der sozialliberalen
Koalition 1981 aufgestellten und bis zur Bildung der rotgrünen Bundesregierung unumstrittenen Grundsätzen
des deutschen Ausländerrechts festgehalten werden muss.
Diese Grundsätze sehen die Integration der rechtmäßig
dauerhaft in Deutschland lebenden Ausländer vor. Wir haben - das müssen Sie doch einräumen, Frau Beck - Großes im Hinblick auf nachholende Integration der bereits bei uns lebenden Ausländer zu leisten. Deshalb
können wir einen weiteren Zuzug, der über das hinausgeht, was wir bereits an humanitären Verpflichtungen
und Familiennachzug vor allem aus Staaten außerhalb
der Europäischen Union haben, nicht mehr verkraften.
In Deutschland leben nahezu doppelt so viele Ausländer wie durchschnittlich in allen anderen Ländern der Europäischen Union: 9,3 Prozent in Deutschland, 4,8 Prozent in den anderen Mitgliedstaaten. Es ist zwar zu begrüßen, dass ausländische Mitbürger die Wirtschaft und den
Kulturaustausch in Deutschland beleben, dass sie als
Selbstständige Arbeitsplätze schaffen und dass sie auch
bereit sind, Tätigkeiten zu verrichten, für die deutsche Arbeitnehmer - bedauerlicherweise und nachdenkenswerterweise - oftmals nicht mehr zu gewinnen sind. Gleichwohl
sind Ausländer in Deutschland überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen. Während 9,9 Prozent der deutschen
Bevölkerung von Arbeitslosigkeit betroffen sind, sind
18,4 Prozent der ausländischen Bevölkerung arbeitslos.
({5})
Des Weiteren ist der Anteil der Sozialhilfeempfänger an
der ausländischen Bevölkerung überdurchschnittlich
hoch. Während deren Anteil an der deutschen Bevölkerung 2,8 Prozent beträgt, liegt ihr Anteil an der ausländischen Wohnbevölkerung bei 8,1 Prozent.
({6})
Außerdem ist der Anteil der Ausländer an der Kriminalstatistik ein Vielfaches höher als ihr Anteil an der Wohnbevölkerung.
({7})
Ich weiß nicht, warum Sie das bestreiten. Haben Sie
nicht zur Kenntnis genommen, dass der der SPD angehörende Berliner Innensenator Körting kürzlich deutlich gemacht hat, dass er den dramatischen Anstieg der
Jugendkriminalität in Berlin auf den Anteil ausländischer Jugendlicher zurückführt? Es muss uns doch erschüttern, wenn Ihr Parteifreund Körting als Berliner Innensenator sagt:
Die Kinder lernen kaum Deutsch, scheitern in der
Schule, haben schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt und verkehren nur im eigenen Milieu. Statt
Integration steht am Ende Isolation und Ausgrenzung.
So weit der Berliner Innensenator über den Befund von
Zuwanderung in Deutschland im Jahr 2003.
({8})
Kürzlich hat der Präsident der Deutschen Gesellschaft
für Demographie, Professor Herwig Birg, der auch Beiratsmitglied des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung ist, anlässlich der Jahrestagung dieser Gesellschaft der Auffassung widersprochen, Deutschland sei in
Sachen Zuwanderung ein rückständiges Land und
schotte sich gegenüber Zuwanderern ab. Vielmehr, so
Professor Birg, sei Deutschland das Industrieland mit der
höchsten Zuwanderungsrate. Er hat dargelegt, dass der
prozentuale Anteil der Zuwanderer in Deutschland an
der Gesamtbevölkerung drei- bis fünfmal höher liege als
in klassischen Einwanderungsländern wie den USA,
Australien oder Kanada. Herr Professor Birg hat auch
beklagt - das sollten auch Sie von der FDP einmal zur
Kenntnis nehmen -, dass die Politik und die veröffentlichte Meinung in Deutschland demographische Befunde
ignorierten und verstärkt für Zuwanderung plädierten,
obgleich die Zahl der Zuwanderer in Deutschland etwa
genauso groß sei wie die Zahl der Geburten. In deutschen Großstädten sei die Zahl der Zuwanderer sogar
viermal größer als die Geburtenzahl. Auch die Behauptung, Zuwanderung sei notwendig, um die Sozialsysteme zu sichern, stimme nicht, so Professor Birg, mit
wissenschaftlichen Erkenntnissen überein. Nach seinen
und anderen gesicherten Forschungsergebnissen wie
zum Beispiel denen des Ifo-Instituts
({9})
- Sie werden doch nicht die Seriosität des Ifo-Instituts
bestreiten - übersteigt die Zahl der von Zuwanderern
empfangenen Leistungen die der geleisteten Zahlungen
in die sozialen Sicherungssysteme.
({10})
Sie müssen sich schon einmal fragen lassen, was Sie
in diesem Land im Hinblick auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt angerichtet haben. Viele deutsche Spitzenkräfte
verlassen dieses Land, weil sie hier keine Zukunft mehr
sehen. Auch darüber muss man einmal in einer solchen
Debatte diskutieren.
({11})
Ich kann Ihnen nur sagen: Wer bei 5 Millionen Arbeitslosen in Deutschland den Anwerbestopp aufhebt
und den Arbeitsmarkt grundsätzlich für alle Ausländer,
nicht nur für wenige Spezialisten, die wir selbst nicht haben, öffnen will, der handelt unverantwortlich.
({12})
Wer meint, Zuwanderung aus Drittländern könne zurückgehende Bevölkerungszahlen ausgleichen, der irrt.
Das Ausländerrecht ist hierfür das falsche Instrument.
Nötig ist ein Konzept familien-, sozial- und arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen.
({13})
- Ich wusste noch gar nicht, Herr Minister Fischer, dass
Sie sich auch um Familienpolitik kümmern.
({14})
Sie haben mit der deutschen Außenpolitik genug zu tun?
Kümmern Sie sich um die deutschen Interessen, die zurzeit durch den Kurs, den diese Bundesregierung in der
Außenpolitik fährt, sträflich vernachlässigt werden!
({15})
Herr Präsident, können Sie für etwas Ruhe sorgen?
Meine Kollegen wollen im Gegensatz zu der anderen
Front dort drüben zuhören.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich unterstütze ausdrücklich die Bitte des Kollegen Koschyk. Er möchte
gehört werden. Der Kollege Koschyk soll die Chance
haben, gehört zu werden.
({0})
Herzlichen Dank, Herr Präsident.
Das rot-grüne Zuwanderungsgesetz will über die völkerrechtlichen Verpflichtungen hinaus
({0})
quasi im europäischen Alleingang im humanitären Bereich die Zufluchtsgründe erweitern und den Status für
Personen, die bislang vor allem in unsere Sozialsysteme
zugewandert sind, aufwerten. Dies lehnen wir ab, weil es
aus sachlichen Gründen nicht gerechtfertigt ist. Es ist
auch nach Auffassung von Völkerrechtlern, die sich gerade mit dem humanitären Völkerrecht exzellent auskennen und die wir von der Union in der Anhörung zur ersten Auflage der parlamentarischen Beratungen benannt
haben, klar, dass die von Rot-Grün beabsichtigte Einbeziehung nicht staatlicher und geschlechtsspezifischer
Verfolgung in den Flüchtlingsbegriff nicht nur über die
Genfer Flüchtlingskonvention hinausgeht.
({1})
Hinsichtlich des Schutzes vor nicht staatlicher Verfolgung ist festzustellen, dass in der internationalen Staatenpraxis die Einbeziehung nicht staatlich Verfolgter in
den Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder
sonstiger vertraglicher Schutzinstrumente nicht zugestanden wird.
({2})
Auch der EU-Praxis liegt kein Verfolgungsbegriff zugrunde, der unmittelbar staatliche oder dem Staat zumindest zurechenbare Verfolgung voraussetzt.
Sie sollten endlich mit der falschen Behauptung aufhören, Deutschland sei in dieser Frage in der Staatengemeinschaft isoliert.
({3})
Sie sind nicht in der Lage, auch nur ein Beispiel dafür zu
nennen, dass aus Deutschland Menschen abgeschoben
wurden, wenn konkret-individuell festgestellt wurde,
dass ihnen existenzielle Gefahren drohen.
({4})
Es steht völlig außer Frage, dass diesen Menschen in der
Not Schutz zu gewähren ist. Aber es ist eben nach unserer Auffassung ein grundlegender Unterschied, ob man
den Betroffenen für die Dauer ihrer Bedrohung in
Deutschland Aufenthalt gewährt oder ob man deren Zufluchtsmöglichkeiten und auch ihren Aufenthaltsstatus
grundlegend erweitert mit der Möglichkeit eines vollen
Familienzuzugs, auch bei gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, und dem Zugang zum Arbeitsmarkt
ohne jede Bedarfsprüfung. Das wollen wir nicht, meine
sehr verehrten Damen und Herren.
({5})
Sie verteidigen Ihr Gesetz ständig mit falschen Behauptungen. Sie sagen, Zuwanderung sei aus demographischen Gründen notwendig. Das ist falsch. Ich muss
Ihnen eines sagen: Gestern saßen die Innenpolitiker unserer Fraktion mit den Fachleuten der katholischen Kirche zusammen, um über diese Frage zu sprechen. Wir
haben ganz offen darüber gesprochen, wo Dissens und
wo Übereinstimmung besteht. Ich bestreite überhaupt
nicht, dass wir mit den Kirchen - das Gespräch mit den
Vertretern der katholischen Kirche gestern hat das gezeigt - im Bereich humanitärer Zuwanderung einen Dissens haben. Eines will ich Ihnen hier einmal sagen: Auch
die katholische Kirche hält aus demographischen und
aus arbeitsmarktpolitischen Gründen mehr Zuwanderung nach Deutschland nicht für gerechtfertigt.
({6})
Vereinnahmen Sie nicht ständig die Kirchen für eine generelle Zustimmung zu Ihrem Zuwanderungsgesetz!
Diese Zustimmung gibt es so nämlich nicht. Die Behauptung, dass es diese Zustimmung gibt, ist unwahr.
({7})
Ich möchte auf die Behauptung zu sprechen kommen,
Zuwanderung sei aus demographischen Gründen notwendig. Frankreich - Sie orientieren sich zurzeit doch so
sehr an Frankreich - hat gezeigt, dass man mit einer
nachhaltigen Bevölkerungspolitik sowie mit einer besseren Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, als sie in
Deutschland betrieben wird, demographische Probleme
ganz anders angehen kann, als wenn man auf Zuwanderung setzt.
Da Sie auch in dieser Debatte immer wieder den Eindruck zu vermitteln versuchen, es gehe nur noch um
Kleinigkeiten und wir seien uns im Grundsatz einig,
möchte ich Folgendes sagen: Ihrem Konzept, also dem
Konzept von Rot-Grün, und dem der Union liegen völlig
unterschiedliche Vorstellungen zugrunde. Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition wollen einen Paradigmenwechsel hin zum multikulturellen Einwanderungsland.
({8})
Wir, die Union, wollen die Bewahrung der Identität von
Staat und Gesellschaft. Wir wollen die Rücksichtnahme
auf die Aufnahmefähigkeit unseres Landes und wir
wollen die Verhinderung weiterer Zuwanderung in unsere kollabierenden sozialen Sicherungssysteme.
({9})
Wolfgang Bosbach hat bereits sehr eindrucksvoll darauf hingewiesen - ich will das wiederholen -,
({10})
dass Ihre Behauptung, Zuwanderung schaffe Arbeitsplätze, allein durch die mit der Einführung der Greencard verbundenen Geschehnisse und durch die Situation
in der IT-Branche widerlegt sei. In zwei Jahren wurden
nämlich nur 13 400 Arbeitserlaubnisse erteilt, obwohl
man einmal annahm, es gebe einen Bedarf von 50 000 bis
100 000 Arbeitskräften.
({11})
Von den 13 400 Personen, denen eine Arbeitserlaubnis
erteilt worden ist, sind nicht einmal alle gekommen. Sie
müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass von denjenigen
Inhabern einer Greencard, die nach Deutschland gekommen sind, um in der IT-Branche zu arbeiten, einige aufgrund der katastrophalen Situation in dieser Branche bereits arbeitslos sind. Das zeigt doch, dass in diesem
Bereich ein Verdrängungswettbewerb stattfindet.
Ich muss Ihnen ebenfalls sagen - das sage ich auch in
Richtung der deutschen Wirtschaft -: Wir müssen der
deutschen Wirtschaft die Verantwortung zumuten - aus
dieser Verantwortung dürfen wir sie nicht entlassen -,
dass man dem Fachkräftemangel in Deutschland auch
durch Fortbildung von Mitarbeitern in Deutschland und
durch größere Anstrengungen im Bereich der Bildung
und Ausbildung Rechnung trägt. Die bisherige Politik
in Niedersachsen ist Gott sei Dank beendet worden. Unter der Regierungsverantwortung der SPD wurde in Niedersachsen der IT-Ausbildungsbereich einer Fachhochschule geschlossen.
({12})
Hinterher haben Sie sich beklagt, dass wir zu wenig ITFachleute in Deutschland haben. Sie sollten sich nicht
hier hinstellen und behaupten, wir könnten die mit der
demographischen Entwicklung verbundenen Probleme
nur durch Zuwanderung lösen.
({13})
Sie behaupten, dass Sie in der Zuwanderungsfrage
mit Ihrem Gesetz einen breiten gesellschaftlichen Konsens erzielen. Wir bestreiten dies. Sie kommen vielleicht
mit Spitzenvertretern bestimmter, auch wichtiger gesellschaftlicher Interessengruppen zu einem Konsens,
({14})
aber nach dem Motto: Dem einen ein bisschen hiervon,
dem anderen ein bisschen davon. Uns geht es um das
Gemeinwohl; wir fühlen uns dem Gemeinwohl verpflichtet. Wir stellen die Frage, wie viel Zuwanderung
dieses Land verkraften kann. Darin wissen wir uns mit
der Mehrheit unserer Bevölkerung einig.
({15})
Ich möchte, Frau Ministerin, noch mit einem Satz auf
den Entwurf der FDP eingehen. Wir glauben nicht, dass
dieser FDP-Entwurf eine Brücke zu einem Kompromiss
und einer Einigung darstellt. Die FDP will eine Jahreszuwanderungsquote. Dabei muss die FDP wissen, dass derjenige, der nach Ausschöpfung der Jahreszuwanderungsquote über das Asylverfahren nach Deutschland kommen
will, hieran außer durch die Drittstaatenregelung nicht
gehindert werden kann; denn die Zuwanderung im humanitären Bereich lässt sich rechtlich nicht beschränken.
Sie wollen Arbeitsmigration und humanitäre Zuwanderung trennen. Dabei muss die FDP doch wissen, dass
derjenige, der von der erfolglosen Zuwanderung aus Erwerbsgründen in das Asylverfahren wechseln will, daran
wegen der Garantien des Asylgrundrechtes rechtlich
nicht gehindert werden kann und als Asylsuchender - außer bei erfolglosem Eilverfahren in Drittstaatenfällen nicht darauf verwiesen werden kann, sein Verfahren in
Deutschland vom Ausland aus zu betreiben.
Deshalb ist für uns weder der rot-grüne noch der
FDP-Gesetzentwurf zustimmungsfähig. Wir werden im
parlamentarischen Verfahren umfangreiche Änderungsanträge einbringen. Wenn Sie, Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, mit diesen Änderungsanträgen wie
bei der ersten Auflage der Zuwanderungsdebatte verfahren - durchpeitschen, nicht zur Kenntnis nehmen, ablehnen -, wird und kann es in Bezug auf ein Zuwanderungsgesetz und ein neues Zuwanderungsrecht in Deutschland
keine Einigung geben.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Joachim Hacker,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Ich bin wie unser Bundesinnenminister grundsätzlich ein Optimist und gehe Probleme mit einer optimistischen Einstellung an. Aber,
Herr Bosbach und Herr Koschyk, was Sie uns hier heute
geliefert haben, hat meine Grundeinstellung auf eine
ziemlich harte Probe gestellt. Ich glaube, Sie können vor
dem Hintergrund der Tatsache, dass in der letzten Diskussion zu dem ersten Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes Kompromisse geschlossen worden sind, dass intensiv beraten worden ist, dass auch Forderungen von
Brandenburg einer ernsthaften Prüfung unterzogen worden sind, nicht sagen, wir wären nicht bereit, über die
Fragen, die sich hier stellen, zu diskutieren.
Herr Bosbach, was Sie uns hier geboten haben, war
eine Mischung von Blockade und Scheinheiligkeit.
({0})
Ich glaube, Sie sind selber nicht gut aufgestellt. Sie wissen nicht, was Sie mit diesem Thema rechtlich machen
sollen. Die Gesellschaft sagt, dass eine Zuwanderungsgesetzgebung benötigt wird, und Sie wissen nicht, wie
Sie aus dieser Falle herauskommen sollen.
Ich hatte bei einigen Passagen der Rede von Herrn
Bosbach das Empfinden, dass der Geist des vorletzten
Jahrhunderts das Plenum erreicht hat,
({1})
um nicht zu sagen: ein Lichtstrahl aus dem Mittelalter.
({2})
Herr Koschyk, in einem Punkt muss ich auch auf Ihre
Rede eingehen. Ich finde, es ist unanständig, wenn Sie
ausländische Mitbürger, die mit uns hier in Deutschland
leben, pauschal kriminalisieren.
({3})
Sie haben den Eindruck erweckt,
({4})
wir würden nicht zur Kenntnis nehmen, dass es im Bereich der Kriminalität eine besondere Häufung einzelner ausländischer Gruppen gebe. Das ist doch unbestritten; das weiß jeder in Deutschland. Aber die
Gleichsetzung, die Sie betreiben, indem Sie Ausländer
pauschal als kriminalitätsbelastet einstufen, ist unverantwortlich.
({5})
Damit befinden Sie sich leider in einem Boot mit Agitatoren vom rechten Rand. Sie bedienen so ganz schöne
Stimmungen.
({6})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das Zuwanderungsgesetz, das wir heute beraten, hätte längst verabschiedet sein müssen. Es ist ein wichtiges, notwendiges
Gesellschaftsprojekt. Wir befinden uns da in Übereinstimmung mit wichtigen gesellschaftlichen Gruppen: mit
den Kirchen, den Arbeitgeberverbänden, den Gewerkschaften und nicht zuletzt - auch das will ich hier deutlich machen - mit sehr vielen, ich möchte fast sagen: allen Kommunalpolitikern, die darauf warten, dass wir
diesen Gesetzgebungsprozess endlich zum Abschluss
bringen. Sie warten in Bayern und auch in Hessen darauf, dass wir dieses Gesetz verabschieden.
({7})
Insofern befinden Sie sich im Übrigen in Konfrontation
mit Angehörigen Ihrer eigenen Partei und damit in der
Isolation.
({8})
Herr Koschyk, Sie haben hier wieder ein Märchen erzählt. Sie sagen, das Gesetz sei in Karlsruhe aufgrund
inhaltlicher Fehler und Mängel gescheitert. Das stimmt
doch nicht.
({9})
Lediglich das Verfahren im Bundesrat hat zur Verhandlung in Karlsruhe geführt. Nur darum geht es.
Wer hat denn das Theater inszeniert
({10})
und wer ist dafür verantwortlich, dass wir heute noch
einmal eine Debatte über ein notwendiges Zuwanderungsgesetz führen müssen? Wir haben in der Diskussion im Bundesrat Forderungen Brandenburgs nachgegeben. Das Scheitern des Gesetzes muss sich die CDU
wegen des Versagens des Innenministers Schönbohm auf
die eigene Fahne schreiben.
({11})
Herr Bosbach, nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! Das
Nein von Herrn Schönbohm war ein Wortbruch.
({12})
Es ist höchste Zeit, dass wir die Zuwanderung in einem Gesetz einheitlich regeln. Darüber sind wir uns
auch einig. Die Diskussion, ob Deutschland ein Zuwanderungs- oder ein Einwanderungsland ist, ist eine theoretische Diskussion, die uns überhaupt nicht weiterbringt.
Fakt ist, dass zwischen 1955 und 1999 mehr als
31 Millionen Menschen nach Deutschland zugezogen
sind. Richtig ist auch, dass in der gleichen Zeit etwa
22 Millionen Menschen weggezogen sind. Unterm
Strich gab es immer einen positiven Zuwanderungssaldo; in diesem Zusammenhang ist auch die Zuwanderung der Russlanddeutschen zu nennen, es waren durchschnittlich 100 000 jährlich.
({13})
Die CDU/CSU - darüber ist hier schon diskutiert
worden - führt sich als Schutzpatron des deutschen Arbeitsmarktes auf. Aber was haben Sie in den 80er- und
90er-Jahren gemacht? Der 1973 richtigerweise verhängte
Anwerbestopp ist von der Union in der Ära Helmut
Kohl mehrfach durchlöchert worden.
({14})
Sie haben Saisonarbeitskräfte für die Landwirtschaft und
die Gastronomie, zahlreiche Werkvertragsarbeitnehmer
als Bauarbeiter, Spezialitätenköche, Hausangestellte,
Lehrkräfte, Krankenschwestern,
({15})
Künstler, Artisten usw. mit Sonderregelungen nach
Deutschland geholt. Das ist doch die Wahrheit. Solche
Dinge wollen wir jetzt endlich vernünftig regeln, und
zwar einheitlich.
({16})
Herr Bosbach, nehmen Sie doch einfach einmal Ihre
Einwanderungspolitik, Ihre Ausnahmepolitik der 80erund 90er-Jahre zur Kenntnis! Daraus ist ein unübersichtliches Geflecht an Regelungen und Durchführungsverordnungen entstanden. Herr Bosbach, ich will an eines
erinnern: Bayern setzt diese Politik fort. Die bayerische
Landesregierung tritt dafür ein,
({17})
dass weitere Sonderregelungen im Bereich der Pflegekräfte greifen sollen. An dieser Stelle verstehe ich Ihre
Politik nicht. Nähern Sie sich doch unseren Vorstellungen! Wir sind diskussions- und verhandlungsbereit.
Es ist längst Zeit, eine umfassende rechtliche Regelung zu schaffen. Für uns ist dabei die Frage der Integration von zentraler Bedeutung. Das Konzept der Bundesregierung, das wir in der Koalition unterstützen,
steuert, begrenzt und fördert die Integration. Herr
Bosbach, Sie können natürlich sagen, das seien die Forderungen, die Sie stellen. Wir sagen Ja zur Steuerung,
wir fordern Begrenzung und wollen genauso wie Sie die
Integration. Wo sind wir da auseinander? Gleichzeitig
wollen wir das unüberschaubare Regelwerk abschaffen.
Zurzeit gibt es eine wirtschaftsschädliche Sperre gegen den Zuzug dringend benötigter Wissenschaftler und
Unternehmer nach Deutschland.
({18})
Unsere Wirtschaft braucht diese Fachkräfte. Sie sind
auch für die Stabilisierung unserer sozialen Sicherungssysteme dringend notwendig. Wer das verschweigt,
nimmt nicht zur Kenntnis, in welcher Situation sich die
sozialen Sicherungssysteme in Deutschland befinden.
Wer die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte
steuern will, muss ein Punktesystem aufstellen. Dieses
System ist im Gesetzentwurf enthalten. Wer zu uns kommen will, muss die entsprechenden Kriterien erfüllen.
Dabei spielen Ausbildung, Berufserfahrung, Alter und
Sprachkenntnisse, aber auch die Beziehungen des Antragstellers zu Deutschland und die Frage, ob er schon
einen Arbeitsplatz hat, eine erhebliche Rolle.
Wir wollen weiterhin, dass den in Deutschland ausgebildeten jungen Menschen keine Steine in den Weg gelegt werden.
({19})
Es ist doch widersinnig, wenn junge Menschen aus der
Dritten Welt, die gebührenfrei an den Universitäten in
Deutschland studiert haben, in andere Industriestaaten
gehen - leider gehen sie nicht immer in ihre Heimatländer zurück, wo sie dringend gebraucht werden; das können wir aber nicht steuern - und dort ihr erworbenes
Wissen anwenden. Das müssen wir anders regeln.
Ein weiterer Aspekt. Ich will für die Koalition insgesamt sagen, dass wir mit dem im Zuwanderungsgesetz
vorgesehenen beschleunigten Asylverfahren unserer
Verpflichtung zur Humanität, die sich aus dem Grundgesetz ergibt, gerecht werden. Diejenigen, die unseres
Schutzes bedürfen, müssen ihn auch weiterhin bekommen. Menschlichkeit - ich denke, da sind wir uns insbesondere mit Frau Süssmuth einig; auch Sie sollten
sich dieser Auffassung anschließen - darf nicht quotiert werden. Darin sollten wir uns alle einig sein, Herr
Bosbach.
({20})
Zuwanderer sollten dauerhaft integriert werden. Deswegen ist für uns das Integrationsprogramm eine
wichtige und gleichwertige Säule des Zuwanderungskonzeptes.
Wir müssen heute die wichtige Frage beantworten, ob
wir Zuwanderung angesichts der 4,7 Millionen Arbeitslosen brauchen. Wir antworten darauf eindeutig mit Ja.
Wir brauchen diese Zuwanderung. Dafür muss es im Gesetz eine entsprechende Regelung geben. Die heute
schon viel genannten Erfahrungen mit der Greencard
belegen nicht nur, dass es für diese Fachkräfte Arbeitsplätze in Deutschland gibt, sondern auch, dass durch sie
gleichzeitig mindestens zwei Arbeitsplätze in der betreffenden Firma bzw. in Firmen des Zulieferbereichs geschaffen werden.
Herr Kollege Hacker, Sie müssen zum Ende kommen.
Ihre Redezeit ist schon überschritten.
({0})
Herr Präsident, ich komme zum Ende. - Wenn ich mir
die Presseerklärung der FDP ansehe, Herr Gerhardt,
dann bin ich optimistisch, dass wir für unser Projekt Zustimmung erhalten werden. Ich richte an Sie, meine sehr
verehrten Damen und Herren von der Union, noch einmal den Appell: Stellen Sie sich der Lebensrealität in
Deutschland! Stellen Sie sich wie wir alle den Herausforderungen!
({0})
Gehen Sie mit uns den Weg der Diskussion!
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Hartmut Koschyk.
Herr Präsident! Herr Kollege Hacker, Sie haben mir
in Ihrer Rede den Vorwurf gemacht,
({0})
dass ich ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger in
Deutschland generell kriminalisiere.
({1})
Ich möchte mich gegen diesen ungeheuren Vorwurf auf
das Schärfste verwahren.
({2})
Sehr geehrter Herr Kollege Hacker, diese Art der Wortverdrehung und der Zitatefälschung
({3})
war vielleicht in der Führung des Kombinats Obst, Gemüse und Speisekartoffeln im Bezirk Schwerin, wo Sie
einmal Justiziar waren, üblich.
({4})
Aber das sollte nicht der Stil der Auseinandersetzung im
Deutschen Bundestag sein.
({5})
Ich muss Ihnen noch eines sagen, Herr Hacker. Ihr
Parteifreund und Berliner Innensenator Körting hat darauf hingewiesen, dass der überproportionale Anteil der
Jugendlichen in der Kriminalstatistik des Landes Berlin
auf einen hohen Anteil ausländischer Jugendlicher zurückzuführen ist. Wenn ich eine Aussage von Herrn Körting zitiere, in der er den Befund einer gescheiterten Integration dieser ausländischen Jugendlichen in Berlin
darstellt, dann können Sie das nicht so uminterpretieren,
dass ich die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger generell der Kriminalität verdächtige. Mich dann
noch in die Ecke von Rechtsradikalen zu rücken ist unanständig. Ich weise das in schärfster Form zurück.
({6})
Kollege Hacker, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Koschyk, in Ihrer
Kurzintervention haben Sie eigentlich noch das übertroffen, was Sie zuvor am Pult geboten hatten.
({0})
Sie tragen heute, 13 Jahre nach der deutschen Einheit,
hier erneut einen schlimmen Spaltpilz in die Debatte hinein - zumindest versuchen Sie es -, indem Sie Biografien von Menschen aus einer anderen Zeit für diese Debatte nutzen.
({1})
- Ich gehe auf Ihre Frage ein: Was hat das denn damit zu
tun?
Sie haben in Ihrer Rede von Ausländerkriminalität
schlechthin gesprochen. Hätten Sie es so differenziert
dargestellt, wie es der Innensenator tat
({2})
und wie es auch hier im Bundestag schon diskutiert
wurde, könnte ich mich Ihrer Argumentation anschließen. Aber Sie haben es nicht getan; Sie haben ganz allgemein von Ausländerkriminalität gesprochen. Dagegen
verwahre ich mich nochmals. Lesen Sie Ihre eigene
Rede durch und korrigieren Sie sich!
({3})
Ich erteile dem Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion,
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben in dieser Debatte eine wirklich neue Erkenntnis gewonnen: Der Kollege Wolfgang Bosbach von
der CDU will sich kein Vorbild an Goethes Faust nehmen
und seine Seele nicht verkaufen. Das ist sein gutes Recht.
Aus diesem Grund schlage ich vor, dass wir uns ein anderes Vorbild aus der Geschichte nehmen, nämlich
Alexander den Großen. Ihm ist es bekanntlich gelungen,
den Gordischen Knoten zu durchschlagen. Genau vor dieser Aufgabe stehen wir in dieser Zuwanderungsdebatte.
({0})
Freilich passt der Vergleich insofern nicht ganz, als
eine derart martialische Vorgehensweise hier nicht möglich ist. Vielmehr brauchen wir Kompromissbereitschaft
auf allen Seiten. Meine Damen und Herren, weder kann
nach dem bekannten Vorlauf Rot-Grün erwarten, dass
das vom Bundesverfassungsgericht aufgehobene Gesetz
so wieder durch das Parlament kommt,
({1})
noch kann die CDU/CSU mit Fug und Recht erwarten, dass
ihre 130 Änderungsanträge hier eine Mehrheit finden.
({2})
Meine Damen und Herren, die Debatte vermittelt leider bisher nicht den Eindruck, als wären wir wirklich auf
dem Weg zu einem Kompromiss, der allseitige Zustimmung finden könnte. Das darf aber nicht das Ende dieser
mehr als zweijährigen öffentlichen Diskussion um ein
Zuwanderungsgesetz sein.
({3})
Aus diesem Grunde ist es erforderlich, dass die gegenseitige Blockade, die bei Rot-Grün einerseits und der
CDU/CSU andererseits zu beobachten ist, aufgehoben
wird.
({4})
Deshalb hat die FDP einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht, der auf den Vorschlägen von Minister Döring
und Ministerin Werwigk-Hertneck aus Baden-Württemberg beruht.
Meine Damen und Herren, wir glauben, dass wir damit eine vernünftige Grundlage für die weiteren Gespräche in den Ausschüssen schaffen; denn es kann doch
nicht sein - ich sage dies, auch wenn Sie es nicht gern
hören -, dass viele gesellschaftliche Gruppen in einer
seltenen Einmütigkeit von uns als dem Gesetzgeber ein
Handeln verlangen, wir als Bundestag aber nicht in der
Lage sind, dem nachzukommen.
({5})
Wann hat man es schon, dass Arbeitgeber, Wirtschaft,
Gewerkschaften, Kirchen, Menschenrechtsorganisationen und alle Fachleute der Auffassung sind, dass ein solches Gesetz notwendig ist?
Meine Damen und Herren, eine gesetzliche Regelung
muss drei Kernelemente enthalten.
({6})
Erstens. Wir brauchen eine Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung auf dem Arbeitsmarkt nach unseren eigenen wohlverstandenen Bedürfnissen, nicht mehr
und nicht weniger.
({7})
Das bedeutet zum Beispiel, dass selbstverständlich der
Vorrang für die inländischen Arbeitnehmer gilt. Das bedeutet auch, dass derjenige, der sich aus dem Ausland
um einen Aufenthalt bei uns bewirbt, einen konkreten
Arbeitsvertrag vorweisen muss. Um den Bedenken aus
der CDU/CSU entgegenzukommen, dass der deutsche
Arbeitsmarkt trotz allem überlastet werden könnte,
schlagen wir jetzt vor, dass dies alles durch eine Jahreshöchstquote begrenzt wird, obgleich wir uns auch eine
marktwirtschaftlichere Lösung hätten vorstellen können.
({8})
Ich verstehe nicht, warum wir dann, wenn schon so
viele Sicherungen eingebaut sind und wenn es de facto
doch Zuwanderung nach Deutschland in ungesteuerter
Form gibt - das ist insbesondere die Zuwanderung aus humanitären Gründen -, ausgerechnet auf die Gestaltung der
Zuwanderung mit dem Ziel der Besetzung von Arbeitsplätzen verzichten sollten, mit denen Wirtschaftswachstum generiert und die Arbeitslosigkeit abgebaut wird. Das
ist nämlich das Ziel der Veranstaltung, nicht umgekehrt!
({9})
Die FDP steht aber nicht nur zu dieser eng begrenzten, im eigenen Interesse liegenden und für mehr Arbeitsplätze im Inland sorgenden Zuwanderung auf den
Arbeitsmarkt, sondern selbstverständlich auch zu den
humanitären Verpflichtungen. Wir haben keinen Anlass, uns hier an kleinlichen Debatten zu beteiligen. Für
uns ist völlig klar, dass es selbstverständlich beim Asylgrundrecht bleibt und dass auch diejenigen, die von nicht
staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung bedroht sind, unseren Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention genießen. Mehr ist dazu nicht zu sagen.
({10})
Der eigentliche Fehler in dem aufgehobenen Zuwanderungsgesetz lag darin - da sind sich alle Experten einig; Marieluise Beck hat es vorhin auch durchklingen
lassen -, dass der wichtige Teil der Integration der Zuwanderer noch nicht genügend ausformuliert war. Wir
stehen jetzt nicht am Beginn einer Debatte, sondern wir
sind nahezu am Ende eines langjährigen Diskussionsprozesses. Deswegen ist es richtig, solche Kritikpunkte
aufzugreifen. Wir sehen daher in unserem Entwurf ein
deutlich erweitertes Angebot an Integrationsmaßnahmen
- das betrifft insbesondere Sprachkurse als Schlüssel für
die Verständigung - vor.
Wir wollen außerdem den Einstieg in die so genannte
nachholende Integration;
({11})
denn es gibt auch Sprach- und Integrationsmängel bei
Ausländern, die schon einige Jahre in Deutschland sind.
Das ist auch eine Forderung der Union. Aber wir können
das nicht rückwirkend ad infinitum machen, sondern wir
wollen das zeitlich begrenzt für fünf Jahre machen, weil
sonst die finanzielle Belastung nicht darstellbar wäre.
({12})
Übrigens ist es durchaus zumutbar, wenn Zuwanderer
nach eigener Fähigkeit in angemessener Weise an den
Kosten von Sprach- und Integrationskursen beteiligt
werden.
({13})
Auch das sehen wir vor. Überhaupt muss das erweiterte
Angebot an Integrationsmaßnahmen selbstverständlich
auch mit stärkeren Anforderungen an diejenigen, die zu
uns kommen, verbunden sein, diese Angebote zu nutzen.
({14})
Deswegen soll es Sanktionen geben, wenn sie schuldhaft
nicht genutzt werden, aber auch Anreize für diejenigen,
die sich integrieren, etwa schnellerer Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft.
Wir befrachten unseren Gesetzentwurf nicht mit anderen Themen, mit denen sich der Bundestag auch einmal befassen muss. Ich nenne nur die Situation der Hunderttausende von Illegalen in Deutschland. Darüber
müssen wir ein anderes Mal reden. Wir wollen nicht zu
viel in dieses Gesetz hineinpacken. Wir haben aber ein
Anliegen, für das wir hier sofort Beifall von allen Seiten
bekommen müssten. Jenseits der Frage der Zuwanderung gibt es auch noch einen Bedarf an Saisonarbeitskräften. Diesbezüglich müssen die Verfahren unbürokratischer werden. Wir brauchen statt einer Genehmigung
für die Dauer von drei Monaten für das Gaststättengewerbe und für die Landwirtschaft, die Erntehelfer
braucht, eine solche von sechs Monaten. Dieser Antrag
von uns steht auch zur Debatte.
({15})
Ich komme zum Schluss und möchte noch Folgendes
grundsätzlich bemerken: Ich halte nichts davon, wenn
jetzt schon die Rede davon ist, dass das Ganze in den
Vermittlungsausschuss kommen und dort hinter verschlossenen Türen beraten werden soll. Warum denn?
Der Deutsche Bundestag ist doch das Forum, auf dem in
offener Debatte das Für und Wider ausgetragen wird.
„Hic Rhodus, hic salta“, sagt der Lateiner. Hier müssen
wir entscheiden. Deswegen gilt das Angebot unseres
Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Gerhardt, über die Vorschläge - wir machen mit unserem Kompromissvorschlag ein Angebot an alle anderen - jetzt hier im Deutschen Bundestag zu sprechen. Wenn wir das tun, dann
werden Sie sehen, dass das, was die FDP als Grundlage
vorschlägt, von allen Seiten akzeptiert werden kann. Das
dringend notwendige Gesetz muss endlich zustande
kommen.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zwei Sätze vorab: Die PDS war und ist der Meinung, die Bundesrepublik ist ein Einwanderungsland. Das bedeutet, wir brauchen ein Einwanderungsrecht und keine Blockaden.
({0})
Das waren übrigens exakt die zwei Eingangssätze, die
ich vor einem Jahr sprach. Denn am 1. März 2002 haben
wir hier über dasselbe Thema debattiert. Heraus kam ein
Gesetz, das inzwischen vom Bundesverfassungsgericht
kassiert wurde. Dazwischen lag eine unwürdige Bundesratsaufführung, die ich heute nicht noch einmal würdigen möchte; denn keiner der daran Beteiligten hat sich
damals mit Ruhm bekleckert.
Die PDS hat übrigens vor Jahresfrist mit Nein gestimmt, allerdings aus konträr anderen Gründen als die
Opposition zur Rechten dieses Hauses. Der rot-grüne
Entwurf war uns im Zuwanderungsteil zu regressiv und
im Asyl- und Flüchtlingsteil zu repressiv. Das hatte bekannte Gründe. Denn Bundesinnenminister Schily hatte
so lange einen Kompromiss mit der CDU/CSU gesucht,
bis Rot-Grün zur Unkenntlichkeit verfinstert war.
Die PDS im Bundestag hatte andere Maßstäbe. Unsere erste Prüffrage hieß: Gelingt mit dem Zuwanderungsgesetz ein Paradigmenwechsel? Schaffen wir also
ein Bürgerrecht, bei dem nicht die Verwertbarkeit des
Menschen, sondern das Menschsein im Vordergrund
steht?
({1})
Unsere zweite Prüffrage lautete: Sucht die Bundesrepublik mit dem Zuwanderungsgesetz Anschluss an internationale Normen oder verharrt sie in einem völkischen
Zustand aus dem vorigen Jahrhundert? Unsere dritte
Prüffrage war: Werden mit dem Zuwanderungsgesetz
endlich willkürliche Regeln abgeschafft, die nicht deutsche Bürgerinnen und Bürger noch immer zu Menschen
zweiter Klasse degradieren?
Das waren unsere Maßstäbe und das sind sie noch immer. Deshalb wird die PDS im Bundestag den jetzt wieder unverändert vorgelegten Gesetzentwurf erneut ablehnen müssen. Allerdings würden wir, wenn wir unsere
Position begründen wollten, heute nur wiederholen, was
wir vor einem Jahr schon einmal gesagt haben. Das wäre
langweilig und es wäre effektiver gewesen, wenn wir unsere alten Reden einfach noch einmal zu Protokoll gegeben hätten.
Es ist aber mehr geschehen, als dass ein Jahr verflossen ist. Wir verzeichnen in der Bundesrepublik einen
politischen Rechtsruck, was bei dem heute debattierten
Thema auch heißt: Jene Parteien, die kein modernes Zuwanderungsrecht wollen, jene Parteien, die auch fremdenfeindliche Parolen nicht scheuen, jene Parteien, die
Menschen in nützliche, unnütze und gar schädliche einteilen, haben im Moment im Bundesrat eine Blockademehrheit. CSU und CDU machen keinen Hehl daraus,
dass sie diese Blockademehrheit kräftig nutzen wollen.
Nun kenne ich Stimmen - das habe ich in vielen Briefen, die ich in den letzten Tagen erhalten habe, gelesen -,
die meinen, dass es unter diesen Umständen besser wäre,
kein Zuwanderungsgesetz zu verabschieden als ein Gesetz, das von CDU und CSU diktiert wird. Ich kann das
gut nachvollziehen. Aber bedenken wir: Das hilft den
Betroffenen überhaupt nicht. Deshalb werbe ich dringend dafür: Lassen Sie uns doch wenigstens im humanitären Bereich rechtliche Standards setzen, die längst
überfällig sind!
Ich möchte mich daher heute auf die Grundforderungen beschränken, die auch von Flüchtlings- und Migrantenorganisationen zu Recht erhoben werden:
Erstens. Der Familiennachzug in die Bundesrepublik
muss für alle Kinder möglich sein. Das heißt nach geltendem Familienrecht: bis zum Alter von 18 Jahren.
({2})
Wer das ablehnt - wir haben gestern bereits darüber debattiert -, mag Gründe haben. Unter dem Strich betreibt
er aber eine Politik, die Familien erster und Familien
zweiter Klasse schafft. Das wollen wir nicht.
Zweitens. Nicht staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung muss endlich als Fluchtgrund anerkannt
werden. Wer das nicht tut, sortiert Menschen in höchster
Not nach Gutdünken. Das wollen wir nicht.
Drittens. Opfer von Menschenrechtsverletzungen dürfen weder ab- noch zurückgeschoben werden. Wer das
will, riskiert neue Menschenopfer. Das wollen wir nicht.
Viertens. Schutzbedürftige, die nicht abgeschoben
werden dürfen oder können, müssen einen sicheren Aufenthaltsstatus erhalten. Wer das nicht will, nimmt Menschen ihre Würde.
Fünftens. Das Asylbewerberleistungsgesetz muss abgeschafft oder zumindest, wie in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, humaner praktiziert werden. Wer das
nicht will, behandelt Asylbewerber wie Aussätzige.
Der Katalog humanitärer Forderungen ist natürlich länger, wohlgemerkt: „humanitärer Forderungen“, denn mit
einem modernen Zuwanderungsrecht oder mit einem republikanischen Staatsverständnis hat das noch nichts zu tun.
Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen:
Während die US-Regierung einen Krieg vorbereitet und
die CDU-Spitze dies unterstützt, treiben den bayerischen
Innenminister Beckstein ganz andere Sorgen um. Er will,
dass Kriegsflüchtlinge auf keinen Fall Europa erreichen
und schon gar nicht die Bundesrepublik; so seine Forderung. Sie müssten in der Krisenregion - ich zitiere menschenwürdig untergebracht werden. Mit Verlaub,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, das
ist politische Schizophrenie.
({3})
Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach dieser Debatte muss ich zumindest eine
Vorbemerkung machen. Herr Kollege Koschyk, Sie haben es für richtig gehalten, sich wegen angeblich zu
scharfer, ehrverletzender Äußerungen, die ich über
Herrn Schönbohm gemacht hätte, an meinen Arbeitsgruppensprecher zu wenden. Das ist Ihr gutes Recht. Ich
komme darauf noch zurück.
Wenn Sie aber derart ehrpusselig und empfindlich
sind,
({0})
verstehe ich nicht, wie Sie dazu kamen, gegenüber dem
Kollegen Hacker in Bezug auf seine berufliche Vergangenheit in der früheren DDR eine derart abfällige Bemerkung zu machen. Das war unanständig.
({1})
Aber das ist nicht die einzige Heuchelei, mit der wir
es hier und heute zu tun haben. Vielmehr ging es munter weiter. Heute Morgen konnte man, wenn man die
Tickermeldungen gelesen hatte, noch der Meinung sein,
die CDU/CSU sei in der Frage nicht ganz aufgestellt
und es sei unklar, ob sie bereit sein könnte, beim Zuwanderungsgesetz an einem echten Kompromiss mitzuwirken. Nach den Redebeiträgen von Herrn Bosbach
und Herrn Koschyk bin ich da nicht mehr sehr optimistisch.
Immerhin sagten heute Morgen Frau Professor
Süssmuth und Ministerpräsident Müller auf der einen
Seite, das Zuwanderungsgesetz müsse es grundsätzlich geben. Die Herren Stoiber und Beckstein auf der
anderen Seite sagten, eigentlich gehe nichts mehr, wir
bräuchten nichts, es sei kein Unglück, wenn wir gar
nichts bekämen.
Heute stellt sich dann Herr Bosbach hier hin und sagt
- auch das kann so nicht stehen bleiben -, im ersten Anlauf sei versucht worden, den Gesetzentwurf durch einen
angeblich wohl kalkulierten Verfassungsbruch durch den
Bundesrat zu bringen.
({2})
Herr Kollege Bosbach, ich will Ihnen dazu etwas sagen: Da ich den Vorzug hatte, dieser Beratung im Bundesrat beizuwohnen, konnte ich nicht umhin zuzuhören,
als sich Herr Stoiber zu seinem letzten Gespräch mit
Herrn Schönbohm vor der Abstimmung ausgerechnet
anderthalb Meter neben mich gestellt hat, um ihn davon
zu überzeugen, er müsse im Bundesrat nicht nur einmal,
sondern mindestens dreimal Nein sagen.
({3})
Auch die beiden sind davon ausgegangen, dass dann,
wenn er sich anders verhalten würde, die Zustimmung
von Brandenburg möglicherweise unterstellt werden
könnte. Ich will Ihnen einmal sagen, wer damit etwas
kalkuliert hat:
({4})
Herr Schönbohm hat damit kalkuliert, dass er seinen Ministerposten behält, wenn er folgsam ist und nur einmal
Nein sagt. Im Übrigen sagte er: Herr Präsident, Sie kennen meine Auffassung.
({5})
- Das ist nicht lächerlich, das ist die Wahrheit und entspricht dem wirklichen Ablauf.
Sie sagen, Karlsruhe habe diesen Gesetzentwurf verworfen.
({6})
Karlsruhe hat den Gesetzentwurf aber nicht wegen seines Inhalts verworfen,
({7})
sondern das Gericht hat das Theaterdrehbuch verworfen,
für das Herr Koch im Bundesrat Verantwortung getragen
hat. Darum ging es.
({8})
Herr Koschyk, ich darf mich Ihnen noch einmal zuwenden. Auf der einen Seite beklagen Sie bei unserer Debatte, dass die sozialen Sicherungssysteme überlastet
seien. Sie sprachen sogar vom Kollabieren oder Zerbersten. Auf der anderen Seite ist es die CDU/CSU, die bereits
im vormaligen Gesetzgebungsverfahren, aber auch jetzt
wieder gesagt hat: Wir sind dagegen, dass Menschen, die
in Deutschland als Flüchtlinge Schutz finden müssen, weil
man sie nicht abschieben kann oder weil sie nicht ausreisen können, eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Wir
sind dafür, dass es für diese weiterhin Kettenduldungen
gibt - das betrifft etwa eine viertel Million Menschen -,
mit der Folge, dass sie nicht arbeiten können, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht verdienen können, dass ihre
Kinder keine Ausbildungsplätze antreten können und
dass ihre Integration keine Fortschritte macht, obwohl
sich ihr Aufenthalt manchmal bis Jahrzehnte erstreckt.
Wer Sozialneid schürt, indem er auf der einen Seite sagt,
er sei dagegen, dass die Sozialsysteme belastet werden,
auf der anderen Seite aber sagt, er sei ebenfalls dagegen,
dass die Menschen in die Lage versetzt werden, mit ihrer
eigenen Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, der redet mindestens widersprüchlich.
({9})
Man könnte etwas pointierter auch sagen: Er heuchelt,
und das nicht unerheblich.
({10})
Lassen Sie mich noch einmal zu den drei Komplexen
des Zuwanderungsgesetzes kommen und die Positionen
zu markieren versuchen.
Zuwanderung auf dem Arbeitsmarkt. Hier ist die
FDP meilenweit von der CDU entfernt. Wir liegen mit
unserem abgewogenen Vorschlag ziemlich genau dazwischen. Wir wollen je nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes Arbeitsmigration in begrenztem Umfang
zulassen. Die CDU/CSU legt jetzt einen neuen Änderungsantrag vor, in dem sie die Regelungen mit 1 Million Euro Investitionskapital und zehn Arbeitsplätzen bei
Selbstständigen nicht mehr will. Meine sehr verehrten
Damen und Herren, ist es eigentlich Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, dass im letzten Gesetzgebungsverfahren
genau diese Passage auf Wunsch der CDU/CSU ins Gesetz hineingekommen ist? Was können wir denn dafür,
wenn Sie ein Jahr später nicht mehr wissen, was Sie früher gefordert haben?
({11})
Sie sind auch diejenigen, die ernstlich meinen, man
könnte Höchstqualifizierte ins Land holen und ihnen sagen: Ihr bekommt eine Aufenthaltserlaubnis nur für drei
Jahre, danach könnt ihr mit euren Familien oder auch allein wieder nach Hause gehen.
({12})
So werden wir hier keinen Erfolg haben.
({13})
Nächstes Stichwort: Integration. Hier stimmen wir ja
überein, dass es wünschenswert wäre, auch diejenigen
mit zu integrieren und ihnen Deutschkurse anzubieten,
die schon länger in Deutschland leben und einen ausländischen Pass haben, und nicht nur denjenigen, die neu zu
uns kommen. Aber wenn wir einen Rechtsanspruch für
alle bereits in Deutschland lebenden Menschen ohne
deutschen Pass begründen würden, könnte das im Ergebnis nicht nur sehr viel Geld von allen staatlichen Ebenen
erfordern, namentlich vom Bund - das ist ja vor allen
Dingen Ihre Vorstellung -, sondern es würde auch bedeuten, wir müssten am Tag des In-Kraft-Tretens, theoretisch am 1. Januar 2004, für „round about“ 2 Millionen
Menschen Deutschkurse anbieten. Das kann niemand
leisten, auch organisatorisch nicht.
Wenn Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren
von der CDU/CSU oder auch von der FDP, Kollege
Dr. Stadler oder Frau Ministerin, sagen, wir müssten hier
sehr viel mehr machen, es habe Defizite gegeben, stimmen wir mit Ihnen überein. Wenn wir gemeinsam einen
Weg finden, das zu bezahlen: noch besser. Aber eines
können wir Ihnen hier nicht durchgehen lassen: Tun Sie
bitte nicht so, als wäre es ein Versäumnis der rot-grünen
Regierung oder der Mehrheit der letzten fünf Jahre, dass
es ausländische Menschen gibt, die noch nicht ausreichend Deutsch können. Das sind die Folgen Ihrer Versäumnisse in den vergangenen Jahren.
({14})
Die FDP war, wenn ich mich richtig erinnere, als Juniorpartner auch über 40 Jahre an der Bundesregierung beteiligt und hat sich wohl in diesen Fragen nicht durchsetzen können.
({15})
Meine Damen und Herren, hier könnten wir sicher zu
Kompromissen kommen, wenn es uns auch gelänge, das
Geld zu finden.
Lassen Sie mich noch einmal kurz zur Frage des Ausländerrechts kommen. Ich finde es bemerkenswert - ich
muss das wiederholen -, wie viel Angst die CDU/CSU
vor Kindern hat.
({16})
Wir reden hier über die Differenz zwischen zehn und
zwölf Jahren beim Kindernachzugsalter.
({17})
Dabei geht es insgesamt um wenige hundert Kinder pro
Jahr. Sie wollen sogar abschaffen, was wir ins Gesetz
schreiben wollen, dass nämlich Ausnahmen möglich
sind, wenn das Kindeswohl es erfordert oder wenn besondere familiäre Umstände vorliegen. Sie sind dagegen,
das besagt einer Ihrer Änderungsanträge. Das ist Ihr Familienbegriff, jedenfalls wenn es um ausländische Menschen geht.
({18})
Dieses Gesetz, das wir erneut auf den Weg gebracht
haben - darauf hat auch der Herr Bundesinnenminister
hingewiesen -, ist bereits ein politischer Kompromiss.
Wir haben im Beratungsverfahren im Innenausschuss
16 Änderungsanträge der CDU/CSU und elf Anregungen des Bundesrates aufgenommen. Darunter waren übrigens auch Änderungsanträge, die die Härtefallregelung
betreffen, die nun wiederum von der CDU/CSU nicht
gewollt wird. Wir haben außerdem die vier Brandenburger Punkte aufgenommen und sind dort Herrn Stolpe
und Herrn Schönbohm weitgehend entgegen gekommen.
Das hat, wie wir alle wissen, leider nicht gereicht.
Deswegen muss ich erneut feststellen - Herr Kollege
Koschyk, daher entschuldige ich mich nicht für das, was
ich über Herrn Schönbohm gesagt habe, sondern wiederhole es -:
({19})
Es ist besonders bedauerlich, dass Herr Schönbohm, der
sich laut „Berliner Zeitung“ vom 18. Januar 2002 ganz
weit aus dem Fenster gelehnt hat, dann nicht zu seinem
Wort gestanden hat. Auf die Frage, ob die große Koalition in Brandenburg bei der Begrenzung der Zuwanderung bei nicht staatlicher Verfolgung zustimmen würde,
wenn wir uns auf Brandenburg zubewegen würden - das
haben wir getan -, hat er gesagt: Ja, das sei die Linie, die
abgestimmt sei, auch - man höre - mit dem CDU-regierten Saarland. Diese Zusage würden sie auch einhalten,
wenn ihnen - wie es in den Beratungen des Innenausschusses geschehen ist - die Bundesregierung in der geforderten Weise entgegenkommen würde.
Daraufhin wurde nachgefragt, ob nicht die Gefahr bestehe, dass er als Koalitionär bei einer Zustimmung in einen Zwiespalt geraten könne, schließlich sei er Präsidiumsmitglied in der CDU und gleichzeitig in einer
Koalition mit der SPD. Er hat wörtlich geantwortet - ich
nehme an, das Interview, bestehend aus Fragen und Antworten, ist von ihm so autorisiert -:
Stoiber und die CDU wissen seit dem
20. Dezember, unter welchen Bedingungen wir nur
zustimmen können. Das weiß auch die Bundesregierung.
Jetzt kommt ein Satz, der für einen früheren Berufsoffizier besonders bemerkenswert ist:
Weil wir altmodische Leute sind und halten, was
wir sagen, kann man uns nicht zwischen die Fronten bringen.
Hätte er das mal wahr gemacht! Wenn ich von Wortbruch spreche, dann ist das objektiv richtig. Sie hätten
alle Veranlassung dazu, in diesem Gesetzgebungsverfahren etwas Wiedergutmachung zu leisten.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Strobl
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Herr Bundesinnenminister Schily und die
Redner der rot-grünen Koalition haben eine ganze Reihe
von Appellen an die Union gerichtet und uns gebeten,
wir mögen dem rot-grünen Zuwanderungsgesetz doch
zustimmen. Stur wie Panzer bringen Sie ein Gesetz ein,
({0})
von dem Sie aus den Beratungen im Deutschen Bundestag und im Bundesrat wissen, dass wir es ablehnen. Sie
legen, obwohl Sie wissen, dass das Bundesverfassungsgericht dieses Gesetz aus formalen Gründen für verfassungswidrig erklärt hat, uns dieses Gesetz in der alten
Fassung vor. Vor diesem Hintergrund sind die Appelle,
die Sie an uns richten, doch scheinheilig.
({1})
Scheinheilig ist auch etwas anderes. Die Überschrift
dieses Gesetzentwurfes lautet: Zuwanderung steuern und
begrenzen - Integration fördern. Dem können wir zustimmen. Das Problem ist nur: In dem Gesetz steht das
Gegenteil von dem, was die Überschrift verspricht.
({2})
Es soll nicht mehr gesteuert werden, sondern mehr ungesteuerte Zuwanderung ermöglicht werden. Dieses Zuwanderungsgesetz ist ein großer Etikettenschwindel.
({3})
Ihr Zuwanderungsgesetz ist kein Fall für das Bundesgesetzblatt, sondern für das Monatsblatt der Stiftung
Warentest. Wenn dort der Inhalt Ihres Gesetzes auf
Übereinstimmung mit der Überschrift geprüft würde,
dann wäre das Ergebnis: nicht empfehlenswert. Darüber
hinaus würden Sie wegen Irreführung des Verbrauchers
auf der Titelseite stehen. Ein solches Gesetz werden wir
Ihnen nicht durchgehen lassen.
({4})
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land. Wir wollen, dass Deutschland ein
ausländerfreundliches Land bleiben kann.
({5})
Ich nenne hierzu einige Zahlen: Deutschland steht mit
einem Ausländeranteil von 9 Prozent - das sind
7,3 Millionen Menschen; davon drei Viertel aus NichtEU-Staaten - an der Spitze der großen westlichen Industriestaaten. Insofern muss jedem verständigen Politiker
doch vollkommen klar sein, dass unser Ziel eine verstärkte Steuerung und Beschränkung der Zuwanderung
sein muss. Alles andere ist unverantwortliche Politik.
Deshalb vertreten wir von der CDU/CSU einen
grundsätzlich anderen Ansatz in der Zuwanderungspolitik als Sie von Rot-Grün. Wir wollen nämlich eine tatsächliche Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung.
Dies soll nicht nur vorne auf dem Gesetz, sondern auch
im Gesetz stehen.
({6})
Entgegen Ihren Behauptungen - insbesondere Behauptungen des Herrn Bundesinnenministers auch hier
und heute von dieser Stelle aus - wollen Sie in Wahrheit
keine verstärkte Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung. Die schlichte Wahrheit - das ist heute bei verschiedenen Debattenbeiträgen in Nebensätzen ein wenig
durchgedrungen - ist: Sie wollen, dass Deutschland ein
multikulturelles Einwanderungsland wird.
({7})
Wir wollen es nicht.
Herr Kollege Schmidt, ich nenne Ihnen gerne ein paar
Zahlen dazu. Nach dem In-Kraft-Treten des rot-grünen
Zuwanderungsgesetzes - wir hoffen, dass es nicht in
Kraft tritt ({8})
gäbe es beim jährlichen Zuwanderungssaldo ein Plus
von bis zu 100 000 Menschen.
({9})
Ich nenne und wiederhole kurz die Gründe dafür, die die
Kollegen Bosbach und Koschyk hier bereits dargestellt
haben, nämlich
({10})
die deutliche Erweiterung im Bereich der Arbeitsmigration durch die Aufhebung des Anwerbestopps, weitere
Möglichkeiten des Familiennachzugs, weitere Anreize
zur ungesteuerten Zuwanderung durch Missbrauch des
Asylrechts, eine erweiterte Härtefallregelung usw.
({11})
Das alles sind Regelungen, die die Zuwanderung nicht
begrenzen, sondern ausweiten.
({12})
Legt man den derzeitigen und langfristigen Zuwanderungssaldo von 200 000 Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, stiege der Saldo der Zuwanderer mit dem neuen Recht auf jährlich circa
300 000 an. Nach den Berechnungen des Bevölkerungswissenschaftlers Rainer Münz von der Humboldt-Universität hier in Berlin ergäbe sich damit bis 2050 ein
bundesweiter Ausländeranteil von 18 bis 20 Prozent.
Das wäre mehr als eine Verdoppelung der Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland bezogen auf
den derzeitigen Stand. Der Ausländeranteil würde in einer ganzen Reihe von großen Städten auf über
50 Prozent steigen. In vielen Großstädten wird der Anteil der Zugewanderten bei den unter 40-Jährigen im
Übrigen schon ab 2010 bei über 50 Prozent liegen.
({13})
Bei Kindern und Jugendlichen wäre ein noch höherer
Anteil zu erwarten. Durch eine Ausweitung der Zuwanderung würde die deutsche Bevölkerung in vielen Städten und Regionen zu einer Minderheit im eigenen
Land.
({14})
- Herr Kollege, das malen nicht wir an die Wand und das
sagen nicht nur wir, sondern das ist das Ergebnis, zu dem
führende Bevölkerungswissenschaftler kommen.
({15})
- Sie wären vielleicht gut beraten, wenn Sie das, was uns
die Bevölkerungswissenschaftler sagen und für die Zukunft prognostizieren,
({16})
zur Kenntnis nehmen und nicht nur Ihrer Ideologie frönen würden.
({17})
Welche Prioritäten Rot-Grün verfolgt, kann man im
Übrigen auch an der überaus nachlässigen Behandlung
des Themas Integration sehen. Der Bund zieht sich aus
der Integration zurück.
({18})
Das ist nicht nur ein Zuwanderungserweiterungsgesetz,
sondern auch ein Kostenverteilungsgesetz zulasten der
Länder und insbesondere der Kommunen. Auch dies
können wir nicht akzeptieren.
({19})
Meine Damen und Herren, eine Bemerkung des Kollegen Beck, die er hier heute wiederholt hat, war interessant: Die Union sei in der Zuwanderungsfrage völlig isoliert.
({20})
Ich möchte Ihnen hierzu nur sagen, dass eine Mehrheit
der Bürgerinnen und Bürger die Ausweitung der Zuwanderung ablehnt.
({21})
Nach einer Emnid-Umfrage im Januar 2002 sind 75 Prozent der Befragten für eine Beschränkung der Zuwanderung. In einer Umfrage im März 2002 sagten 52 Prozent,
dass ihnen der Ausländeranteil in Deutschland zu hoch
sei.
({22})
Das Institut für Demoskopie Allensbach hat im Februar
2003 ermittelt, dass 62 Prozent der Bevölkerung von einem Zuwanderungsgesetz die Verringerung des Zuzugs
von Ausländern aus Nicht-EU-Staaten erwarten. Weil
auch wir genau das wollen, ist die Union nicht isoliert.
Sie bringt vielmehr das zum Ausdruck, was eine Mehrheit der Bevölkerung in dieser Frage denkt.
({23})
Thomas Strobl ({24})
Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, haben
keine Unterstützung für die von Ihnen geplante generelle
Öffnung des Arbeitsmarktes. Sie haben heute noch weniger Unterstützung als vor einem Jahr, weil die Arbeitslosenzahl inzwischen bei knapp 5 Millionen angelangt ist.
Deswegen betreiben Sie mit Ihrem Zuwanderungsgesetz
fortgesetzt Etikettenschwindel. In der Überschrift zu diesem Gesetz steht „Steuerung und Begrenzung“, aber im
Gesetz selbst haben Sie reihenweise Tatbestände geschaffen oder ausgeweitet, die das genaue Gegenteil
bewirken, nämlich Ausweitung und Entgrenzung von
Zuwanderung. Den von Ihnen behaupteten breiten gesellschaftlichen Konsens in dieser Frage gibt es nicht;
dies ignoriert die Haltung der Bürgerinnen und Bürger.
Rot-Grün ist im Übrigen der Volkswille ziemlich
egal. Deswegen waren Sie bereit - der Kollege Bosbach
hat darauf zu Recht hingewiesen -, die Verfassung zu
brechen, um Ihre Politik gegen den Willen der großen
Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen,
({25})
so wie dies Herr Wowereit auf Geheiß des Bundeskanzlers bei der Abstimmung zum Zuwanderungsgesetz im
Bundesrat getan hat.
({26})
Hören Sie doch auf die Fachleute! Hören Sie doch auf
die vielen kritischen Stimmen in Wissenschaft und Politik! Wenn Sie schon nicht auf sie hören, dann hören Sie
wenigstens auf einen verdienten Genossen:
Wir haben unter idealistischen Vorstellungen, geboren aus der Erfahrung des Dritten Reichs, viel zu
viele Ausländer hereingeholt ..., die nicht integriert
sind, von denen die wenigsten sich integrieren wollen, denen auch nicht geholfen wird, sich zu integrieren.
So sprach Altbundeskanzler Helmut Schmidt, SPD. Ich
sage Ihnen: Der Mann hat Recht. Wir wollen einen anderen, aus unserer Sicht realistischen Weg gehen.
({27})
Unbemerkt von der Öffentlichkeit vollzieht sich auf
der Ebene der EU ein besonders trauriges Kapitel. Sie
stimmen Regelungen auf EU-Ebene zu oder widersetzen
sich ihnen jedenfalls nicht, mit denen die Zuwanderung
ausgeweitet werden soll. Ihr Motto lautet wohl: Wenn
wir unser Zuwanderungsrecht in Deutschland nicht in
unserem Sinne verändern können, dann bleibt uns noch
immer die Möglichkeit, dies auf europäischer Ebene
durchzusetzen.
({28})
Herr Kollege Beck hat dies Ende letzten Jahres in der
„Welt“ zum Ausdruck gebracht:
Dann können wir besser mit dem geltenden Ausländerrecht leben und mit den Regelungen, die auf europäischer Ebene kommen.
Nachtigall, ich hör dir trapsen.
Herr Kollege Strobl, bitte kommen Sie zum Schluss.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Es war schon ein starkes Stück, als der Herr Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Körper, gestern im
Deutschen Bundestag der deutschen Öffentlichkeit verkaufen wollte, dass wir durchaus die Möglichkeit hätten,
das Nachzugsalter auf unter zwölf Jahre zu senken.
({0})
Dabei ist allgemein bekannt, dass dies aufgrund von EURecht nicht mehr möglich ist. Dies hat im Übrigen Frau
Staatssekretärin Vogt am Vormittag desselben Tages im
Innenausschuss des Deutschen Bundestag auch so dargestellt. Herr Bundesinnenminister, nur einer Ihrer Staatssekretäre kann in dieser Frage Recht haben. Es wäre
schön gewesen, wenn Sie hier im Plenum des Deutschen
Bundestages heute Morgen ein klärendes Wort zu dieser
Frage gesagt hätten.
({1})
Herr Kollege Strobl, das war ein guter Schluss. Vielen
Dank.
({0})
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Philip Winkler
vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Strobl, obwohl Sie so gerne Herrn Birk zitieren, muss ich Ihnen heute zumuten, dass Leute wie ich
am Rednerpult des Deutschen Bundestages stehen. Das
sollte nicht die Ausnahme bleiben, sondern - Herrn Birk
wird dies vielleicht ärgern - in Zukunft noch deutlich
häufiger der Fall sein.
({0})
Nach der Greencard-Initiative des Bundeskanzlers und
der Einsetzung der parteiübergreifenden Unabhängigen
Kommission Zuwanderung hat die Bundesregierung ein
Zuwanderungsgesetz verabschiedet. Der vorgelegte Gesetzentwurf ist das Ergebnis der Einbeziehung aller, auch
der christdemokratischen Parteien. Dieses Gesetz markiert
- bei aller Kritik in Einzelpunkten - einen Paradigmenwechsel hin zu einem Einwanderungsland Deutschland.
({1})
In dem Gesetz wird Integration als gesellschaftliche
Aufgabe anerkannt. Die Zuwanderung von Arbeitskräften wird durch ein modernes Auswahlverfahren sowie
eine Abkehr von der Politik des Anwerbestopps vernünftiger und deutlich demokratischer geregelt. Die humanitären Verpflichtungen, insbesondere im Flüchtlingsrecht,
werden nunmehr umfassend und uneingeschränkt beachtet. Zum ersten Mal erkennt eine Bundesregierung die
Realität an, dass die Bundesrepublik Deutschland ein
Einwanderungsland ist.
({2})
Herr Koschyk, Ihrer Interpretation der französischen
Einwanderungsgesetzgebung kann ich nicht ganz folgen.
Schauen Sie sich doch einmal die französische Nationalmannschaft an: Bei ihrer Farbenpracht implodiert jeder
Farbfernseher.
({3})
- Familienzusammenführungspolitik.
Herr Bosbach, Sie sprachen vom Volkswillen, der bei
der Gesetzgebung befolgt werden müsse. Hinsichtlich
der Außenpolitik interessiert Sie der Volkswille überhaupt nicht. Sie haben jeden Anspruch verwirkt, den
Willen des Volkes für sich in Anspruch zu nehmen.
({4})
Schauen Sie sich doch einmal in Ihrem eigenen Bekannten- und Verwandtenkreis um: Die deutsche Gesellschaft wandelt sich. Ich finde, das ist richtig so.
({5})
In Zeiten der Globalisierung ist es ein Irrglaube, zu
denken, dass man Wanderungsbewegungen komplett
stoppen kann. Da die Möglichkeiten zur Mobilität und
Kommunikation in Zukunft nicht abnehmen, sondern zunehmen werden, werden wir es in Zukunft verstärkt mit
einem Mosaik unterschiedlicher Traditionen, Religionen
und Lebensgewohnheiten in Deutschland zu tun haben.
Eine Abschottungspolitik, wie sie in den Änderungsanträgen, die von den unionsregierten Ländern im Bundesrat
eingebracht wurden, zum Ausdruck kommt, kann diese
Entwicklung nur verzögern, jedoch nicht verhindern.
Der Geist, der hinter einigen Ihrer Anträge steckt,
meine Damen und Herren von der Union, ist jedoch gefährlich. Sie ignorieren, dass in unserem Land inzwischen die
dritte Generation der Einwanderer herangewachsen ist.
Diese Generation tritt mit viel Selbstbewusstsein auf und
lässt es sich nicht mehr so leicht gefallen, herumgeschubst zu werden. Bei diesen jungen Menschen tritt ein
anderes Selbstverständnis zutage als noch bei ihren Eltern. Sie verstecken sich nicht mehr, sondern stellen legitime Forderungen.
({6})
Diese jungen Migrantinnen und Migranten wollen, dass
ihre Art zu leben in der Gesellschaft als eine Form unter
anderen akzeptiert und anerkannt wird. Sie wollen von
der hiesigen Gesellschaft nicht mehr - auch nicht von Ihnen - durch die Brille der 60er-Jahre gesehen werden.
Unter den neuen Inländern gibt es Vertreter aller Berufsgruppen. Sie alle werden ihren Beitrag zur Weiterentwicklung unserer Gesellschaft leisten. Wenn wir ihnen diese Chance geben und sie dabei aktiv fördern,
werden sie uns helfen, Brücken nicht nur zwischen der
ersten Einwanderergeneration und der Mehrheitsgesellschaft zu bauen, sondern auch zwischen dem Herkunftsland und der Aufnahmegesellschaft.
In diesem Sinne gebe ich die Hoffnung auf das Zustandekommen eines breiten Konsenses nicht auf, obwohl Sie, meine Damen und Herren von der Union, mit
Ihren Anträgen das Rad der Geschichte zurückdrehen
wollen. Sie verschließen weiterhin die Augen vor der gesellschaftlichen Realität und den Herausforderungen einer Einwanderungsgesellschaft. Sie fallen mit dieser
Verhandlungsgrundlage zudem - das wurde schon gesagt - weit hinter die Beschlüsse Ihrer eigenen Zuwanderungskommission zurück.
Bezogen auf Ihre Anträge will ich ein persönliches
Beispiel anführen: Mit dem Antrag bezüglich des Staatsbürgerschaftsrechts wird von Ihnen eine ganze Generation hier lebender junger Menschen, die in diesem Land
geboren wurden, aus der Gesellschaft ausgeschlossen
und ihr jede Integrationschance verbaut, weil Sie der
zweiten Generation die Einbürgerungschance verwehren
wollen. Das geht so nicht.
({7})
Ich bin stolz, der Sohn einer indischen Mutter zu sein.
Ich bin aber auch stolz, ein deutscher Volksvertreter zu
sein. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Integrationswilligkeit und die Integrationsfähigkeit - Sie sprechen sie dieser ganzen Generation junger Menschen ab von Ihnen nicht richtig eingeschätzt wird. Sie sollten
sich da bewegen.
({8})
Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und
Unsicherheiten darf ein solcher Weg nicht beschritten
werden, wenn die Zukunft in einem weltoffenen Europa
gemeinsam gestaltet werden soll. Wir, die rot-grüne
Koalition, wollen ein modernes, sozial verträgliches,
europataugliches und humanes Zuwanderungsgesetz,
das den Realitäten dieses Landes gerecht wird.
Sie sind herzlich eingeladen, sich dem anzuschließen.
Vielen Dank.
({9})
Herr Kollege Winkler, ich gratuliere Ihnen im Namen
des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Lale Akgün von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem
Haus wird das Zuwanderungsgesetz heute zum zweiten
Mal beraten. Dass es beim ersten Mal nicht zu einem
parteiübergreifenden Konsens kommen konnte, hatte damit zu tun, dass die Bundestagswahl vor der Tür stand.
Ihnen, werte Kollegen von der CDU/CSU, war es wichtig, das Thema Zuwanderung zum Wahlkampfthema
machen zu können. Sie haben sich dabei alle Mühe gegeben, die Aufgaben der Politik misszuverstehen. Sie
haben nicht die Ängste der Menschen aufgenommen,
sondern Sie haben sie geschürt und instrumentalisiert.
({0})
Der Wahlkampf auf dem Rücken der Menschen ist Ihnen aber nicht gelungen; Sie haben die Bundestagswahl
verloren. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, dass der Wahlkampf vorbei ist, und kehren Sie zu einer konstruktiven Politik zurück! Denn das Thema Zuwanderung ist langfristig
von zu großer Bedeutung, um es in Bundestags- oder Landtagswahlen für kurzfristige Interessen zu verschleißen.
({1})
Ein Blick in den Bericht der Enquete-Kommission
„Demographischer Wandel“ aus der vergangenen Legislaturperiode zeigt Ihnen, dass es sich um einen generationenübergreifenden Politikansatz handeln muss, der
langfristige Planung und ein langfristig angelegtes Gesetz notwendig macht.
In diesem Zusammenhang - weil wir den Bericht der
Integrationsbeauftragten heute mitberaten - möchte ich
mich bei Frau Beck herzlich dafür bedanken, dass sie einen so konkreten und detaillierten Bericht vorgelegt hat,
der eine hervorragende wissenschaftliche Grundlage für
unsere Arbeit darstellt.
({2})
Ihrer Haltung, werte Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU, kann ich leider kein Lob aussprechen.
Ihre Haltung ist nicht nur wahlkampfgesteuert, sondern
sie zeigt ein viel tiefer sitzendes Problem in Ihren Reihen. Sie sind von einem tiefen Misstrauen gegen jedes
Fremde und Neue und speziell gegen Ausländer in unserem Land besetzt.
Wenn ich Ihre Redebeiträge verfolge, so scheinen Sie
tatsächlich zu glauben, jeder Zuwanderer habe nur das
Ziel, Deutschland maximalen Schaden zuzufügen.
({3})
So kommen Sie zu dem Schluss, dass man jede nur erdenkliche Hürde gegen die Zuwanderung in das Gesetz
aufnehmen muss, um Zuwanderern das Leben in
Deutschland zu erschweren.
({4})
Anders kann ich mir Ihre Änderungsanträge im Beratungsverfahren des Bundestages und Bundesrates nicht
erklären, in denen Sie die Hürden für Zuwanderung und
Integration verdoppeln und gleichzeitig jede Erleichterung halbieren.
({5})
Wie sieht die Realität in unserem Land aus? Heute besitzt fast jeder zehnte Mitbürger einen nicht deutschen
Pass. Es gibt mehr als 800 000 binationale Ehen. Mehr
als jeder fünfte Ausländer ist bereits in Deutschland geboren; bei den Türken ist es bereits mehr als jeder dritte.
Das heißt, Deutschland ist ein Einwanderungsland.
Das ist die Realität, auch wenn Sie vor dieser Wahrheit
den Kopf in den Sand stecken. Aber weil dies die Realität ist, gilt es nicht zu regeln und zu definieren, ob, sondern wie die Zuwanderung stattfindet und wie wir die
Zugewanderten bestmöglich integrieren. Genau dies und
nichts anderes regelt dieses Gesetz.
({6})
Sie haben das Argument gebracht, Herr Strobl,
Deutschland werde überfremdet, weil der Ausländeranteil in manchen Großstädten in den nächsten Jahrzehnten
auf bis zu 50 Prozent ansteige.
({7})
Dieser Denkweise kann man aber nur dann verfallen,
wenn man wie Sie meint, Ausländer bleiben immer Ausländer, über Generationen hinweg.
Wir hingegen meinen: Die Menschen, die in dritter
oder vierter Generation bei uns sind, sind keine Ausländer. Sie sind in dieser Gesellschaft geboren und aufgewachsen. Sie werden als Deutsche geboren, weil wir das
dank unserem republikanischen Denken mit dem neuen
Staatsangehörigkeitsrecht ermöglicht haben, während
Sie immer noch einem Denken in ethnischen Schubladen
verhaftet sind.
({8})
Dieser Denkweise kann man aber nur dann verfallen,
wenn man wie Sie meint, Ausländer bleiben immer Ausländer, über Generationen hinweg.
Wir hingegen meinen: Die Menschen, die in dritter
oder vierter Generation bei uns sind, sind keine Ausländer. Sie sind in dieser Gesellschaft geboren und aufgewachsen. Sie werden als Deutsche geboren, weil wir das
dank unserem republikanischen Denken mit dem neuen
Staatsangehörigkeitsrecht ermöglicht haben, während
Sie immer noch einem Denken in ethnischen Schubladen
verhaftet sind.
({9})
Ich möchte noch ein Beispiel nennen, bei dem Sie
sich irren. Das Flüchtlingsrecht wird an internationale
Standards angepasst. Die Anerkennung von nicht staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung bringt
keine Zunahme der Flüchtlingszahlen, sondern sie
schafft lediglich Rechtsklarheit für diejenigen, die aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention ohnehin nicht
ausgewiesen werden.
({10})
Herr Lubbers, der Vertreter des UNHCR in Deutschland,
hat gestern noch einmal betont, die Genfer Flüchtlingskonvention kenne keinen Unterschied zwischen staatlicher und nicht staatlicher Verfolgung. Die CDU wolle
einen Sonderweg, der in die völlige Isolation führe.
Seien wir doch ehrlich, es geht letztlich darum, einigen
Hundert, vielleicht wenigen Tausend Menschen, die
grausamste Verfolgung hinter sich haben, ein Stück
mehr Rechtssicherheit zu geben. Warum betreiben Sie
hier Fundamentalopposition? Wie kann Ihre christliche
Seele diese Menschen ernsthaft als Bedrohung ansehen?
({11})
Ich sage nur: Schämen Sie sich dafür!
({12})
Rechtssicherheit und gesetzgeberische Klarheit für
unser Land und für diejenigen Menschen, die zu uns
kommen, heißt übrigens auch, Integration zu erleichtern; denn die Zuwanderer wissen, was auf sie zukommt,
und können somit ihre Zukunft in Deutschland gestalten.
Deshalb wollen wir ein Integrationskonzept für diejenigen, die zu uns kommen, mit Sprachkursen als wichtigem, aber nicht alleinigem Baustein. Wir wollen des
Weiteren einen Rechtsanspruch auf Integration, weil wir
eine bestimmte Vorstellung von Integration haben. Für
uns ist Integration Teilhabe in allen Lebensbereichen
und Mitgestaltung der Lebensperspektiven in diesem
Land. Wir wollen und werden diese Vision in konkrete
Politik umsetzen. Sie hingegen verkaufen die Bilder von
gestern als Politik von morgen.
In jüngster Zeit wird wieder einmal die PISA-Studie
zitiert, wenn es darum geht, die Defizite von Migrantenkindern bei Sprache und schulischen Leistungen herauszustellen. Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, beschränken sich darauf, darüber zu lamentieren. Wir hingegen handeln, indem wir bei der Sprachkompetenz ansetzen, und zwar schon vor Beginn des
Schulbesuchs. Verstärkte Kindergartenbetreuung und
unsere Politik zur Förderung von Ganztagsschulen sind
die logischen Resultate aus dem Rechtsanspruch auf Integration.
({13})
Übrigens, die Sozialdemokraten haben Erfahrungen
mit Integrationsoffensiven. Denken Sie an die Bildungsoffensive der 70er-Jahre, mit der wir den Zugang zu Bildung für Arbeiterkinder, insbesondere den Zugang zu
Gymnasien, verstärkt haben. Ich bin mir sicher, dass sich
in allen Fraktionen dieses Hauses Abgeordnete finden
lassen, die damals davon profitiert haben. Das gleiche
Engagement wünsche ich mir heute, wenn wir die Integrationsoffensive für die Kinder und Jugendlichen der
Migranten beginnen. So selbstverständlich es heute ist,
dass ehemalige Arbeiterkinder hier Gesetze beschließen,
so selbstverständlich sollte es in 30 Jahren sein, dass Kinder ehemaliger Migranten als deutsche Juristen, Wissenschaftler und Fachleute in diesem Hohen Hause beraten.
({14})
Ich weiß, dass wir Erfolg damit haben werden; denn wir
Sozialdemokraten glauben an Chancengleichheit und
wissen, wie man sie umsetzt.
Herr Bosbach, noch einem anderen Argument möchte
ich entgegentreten, nämlich dem, dass Ausländer stärker
von Arbeitslosigkeit betroffen seien und häufiger Sozialhilfe bezögen. Das stimmt zwar, aber an eines sollten Sie
sich erinnern: Als die Anwerbeabkommen geschlossen
worden sind, hat nicht die SPD regiert. Damals wurden
Menschen in der Schwerindustrie, im Bergbau für den
Einsatz unter Tage und in der Stahlindustrie gesucht. Es
wurden ungelernte Arbeitskräfte gebraucht und solche
wurden auch angeworben. Sie sind heute vom Strukturwandel besonders stark betroffen, weil in sie nicht investiert worden ist und weil sie nicht aus- und weitergebildet worden sind. Daraus kann man ihnen keinen Vorwurf
machen; denn wir hatten damals keine Konzepte für Integration und Deutschland stand nicht auf der Agenda.
Das ist die Wahrheit. Ich sage bewusst: „Wir“ hatten
keine Konzepte für Integration; denn auch die SPD hat
damals über die Bedeutung von Integration nicht nachgedacht. Wir wollen mit unserem Gesetz erreichen, dass
wir aus unseren Fehlern lernen und künftig der Integration der Einwanderer vom ersten Tag an die ihr gebührende Bedeutung beimessen.
Ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam aus
unseren Fehlern lernen. „Stolz“ ist doch ein ganz wichtiger Begriff für Sie. Sorgen Sie deshalb dafür, dass
Deutschland auch stolz auf seine Opposition sein kann.
Springen Sie über Ihren Schatten und stimmen Sie mit
uns für unseren Gesetzentwurf!
({15})
Frau Kollegin Akgün, auch Ihnen gratuliere ich im
Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/420, 15/522, 14/9883, 15/538
und 15/368 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie
Zusatzpunkt 1 auf:
4 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({1})
- zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch den Bundeskanzler zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Kopenhagen
am 12. und 13. Dezember 2002
- zu dem Antrag der Abgeordneten Peter
Hintze, Dr. Gerd Müller, Michael Stübgen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Der Weg für die Osterweiterung ist frei:
Abschluss der Beitrittsverhandlungen auf
dem Europäischen Rat von Kopenhagen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel Bahr
({2}), Ernst Burgbacher, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP
Historischer Erweiterungsgipfel verstärkt
Druck auf innere Reformen der Europä-
ischen Union
- Drucksachen 15/215, 15/195, 15/216,
15/451 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Gloser
Rainder Steenblock
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Der europäischen Verfassung Gestalt geben Demokratie stärken, Handlungsfähigkeit erhöhen, Verfahren vereinfachen
- Drucksache 15/548 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Claudia
Winterstein, Jürgen Türk, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Das neue Gesicht Europas: Kernelemente einer europäischen Verfassung
- Drucksache 15/577 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Redner hat der Kollege Peter Hintze von der CDU/CSUFraktion.
({5})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Europa ist gestern von einem feigen Mordanschlag
auf den serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic
erschüttert worden. Wir trauern um einen mutigen Politiker, der für den Demokratieprozess in seinem Land und
damit auch für Europa einen bleibenden Beitrag geleistet
hat. Die Konstante des Zoran Djindjic war der Kampf
für Demokratie und gegen Diktatur. Wir setzen darauf,
dass die Mörder rasch gefasst werden und dass ihr Anliegen scheitert.
Politische Instabilität in einem Teil Europas betrifft in
seinen Auswirkungen den ganzen Kontinent. Die äußerst
fragile Stabilität auf dem Balkan muss mithilfe und im
Interesse Europas gehalten und gefestigt werden. Ich begrüße es außerordentlich, dass der EU-Außenbeauftragte
Javier Solana bereits heute nach Belgrad reist, um der
Regierung bei ihrer Reformbemühung zu helfen. Der
Demokratisierungsprozess im ehemaligen Jugoslawien
braucht unsere weitere Unterstützung.
({0})
2003 wird als das Jahr der europäischen Weichenstellungen in die Geschichte eingehen. Wir stehen vor der
bislang größten Erweiterung der Europäischen Union.
Zugleich wollen wir Europa mit einer Verfassung ein
neues Gesicht geben und es nach innen und nach außen
stark für die Zukunft machen. Schließlich führt uns in
diesen Tagen der Irakkonflikt vor Augen, welche außenund sicherheitspolitischen Herausforderungen die Europäische Union in den kommenden Jahren zu bewältigen
hat.
Die zentrale Frage, vor der wir heute stehen, lautet:
Wie machen wir Europa angesichts neuer Herausforderungen zu einer wirtschaftlich, politisch und kulturell
starken Gemeinschaft? Der Erfolg der Europäischen
Union beruht auf zwei Einsichten: Das europäische Projekt kann nur gelingen, wenn der Gemeinschaftsgedanke die nationalen Partikularinteressen überwiegt.
({1})
Und: Europa ist auf eine enge transatlantische Partnerschaft ebenso angewiesen wie Amerika auf einen
starken europäischen Pfeiler.
Seit Konrad Adenauer zeichnet eine kluge Politik aus,
dass sie die Interessen Deutschlands am besten in einem
versöhnlichen Ausgleich und in einer herzlichen Freundschaft mit Frankreich und zugleich in einer festen Verbindung mit den Vereinigten Staaten von Amerika aufgehoben sah. Ich halte es für ein Gebot der Vernunft, an
dieser Einsicht in der deutschen Politik festzuhalten.
({2})
Es war ein verhängnisvoller Fehler, dass die Bundesregierung mit dieser Kontinuität gebrochen hat. Sie hat
sich in den vergangenen Monaten dazu hinreißen lassen,
dieses Prinzip der doppelten Bindung auf dem Altar des
Wahlkampfes zu opfern. Was wir damit erleben, ist ein
verhängnisvoller Paradigmenwechsel in der deutschen
Politik, nämlich eine Goslarisierung unserer gesamten
Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik.
({3})
Ich will zur Erregung der Kollegen von Rot-Grün sagen: Es ist schon ein trauriger Vorgang, wenn sich ein
deutscher Bundeskanzler im Wahlkampf dazu hinreißen
lässt, alle politischen Prinzipien der Kanzler von Konrad
Adenauer über Willy Brandt bis Helmut Kohl in einer
einzigen Rede zu zertrümmern und damit die Axt an die
Wurzeln der NATO und der Europäischen Union zu legen.
({4})
Mit ihrer „Ohne uns, egal was kommt“-Rhetorik hat
die Bundesregierung die bisher größte Vertrauenskrise in
den transatlantischen Beziehungen hervorgerufen und
eine gemeinsame europäische Position verhindert.
({5})
Darin liegt das Problem in der derzeitigen europa- und
außenpolitischen Debatte. Die Schuld dafür liegt bei
Deutschland. Um der Gerechtigkeit willen möchte ich
sagen: Dafür trägt Großbritannien eine Mitverantwortung. Beide haben sich vor Kenntnis der Fakten und vor
dem Austausch untereinander festgelegt: Großbritannien
war auf jeden Fall für, Deutschland war auf jeden Fall
gegen einen militärischen Einsatz. Dadurch wurde die
Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Position
verhindert. Das war ein schwerer Fehler.
({6})
Heute sprechen wir auch über den Konvent. Ich hoffe
und erwarte - ich will es meinem Kollegen Peter
Altmaier ans Herz legen -, dass in die Verfassung für die
Europäische Union ein Grundsatz aufgenommen wird,
der es der Union ermöglicht, erst einmal eine gemeinsame Position zu formulieren, bevor nationale Widersprüche auftreten.
({7})
Dass diese Position im zweiten Schritt von dem einen oder
anderen Staat dann möglicherweise nicht mitgetragen
wird, das ist etwas anderes. Aber wir halten es für falsch,
das Projekt Europa derart infrage zu stellen, dass das gemeinsame Handeln durch ein Veto konterkariert wird, bevor die Chance auf gemeinsames Handeln besteht.
({8})
Ein zweiter Komplex spielt hier eine große Rolle. Wir
stehen vor der größten Erweiterung in unserer Geschichte. Was sollen eigentlich die Länder, die der Europäischen Union bald beitreten werden, von der Art halten, wie sie bei uns aufgenommen werden und wie wir
mit ihnen umgehen? Haben sie nicht eine faire Partnerschaft und eine faire Beteiligung verdient? Was haben
sie stattdessen erfahren? Sie haben dafür Kritik erfahren,
dass sie es gewagt haben, sich in dieser Schicksalsfrage,
die auch sie angeht, zu äußern und ihr eigenes Interesse
zu formulieren. Die Europäische Union muss eine Gemeinschaft von Gleichen sein. Da kann es nicht Europäer erster und zweiter Klasse geben. Es muss heißen:
Als Schicksalsgemeinschaft stehen, beraten und handeln
wir zusammen.
({9})
Es mag sein, dass die Beitrittsstaaten etwas in guter
Erinnerung haben, was bei uns in Vergessenheit geraten
ist: dass nämlich die Neuordnung in Europa, die Überwindung des Eisernen Vorhangs, die Niederringung der
Diktatur und das Engagement, das die Vereinigten Staaten von Amerika in Europa zur Herstellung einer friedlichen und freiheitlichen Ordnung gezeigt haben, sehr
wohl etwas miteinander zu tun haben. Ich füge hinzu: Es
wäre gut, wenn sich auch die deutsche Regierung an dieses Handeln Amerikas für und in Europa erinnerte.
({10})
Das Referendum in Malta war ein erstes Signal dafür,
dass Europa von den Menschen in den Beitrittsländern
angenommen wird. Weitere Referenden stehen jetzt auf
der Tagesordnung. Sie werden umso erfreulicher für uns
sein, je weniger wir das Vertrauen der Menschen in ein
solidarisches und faires Europa enttäuschen und je deutlicher wir machen: Die Länder, die zu uns kommen, verstehen wir als einen Gewinn, als eine kulturelle und politische Bereicherung. Wir dürfen nicht den Eindruck
erwecken, es seien im Grunde Störenfriede, die wir an
unseren wichtigen Beratungen nicht beteiligen wollten.
({11})
Es scheint mittlerweile zum guten Ton zu gehören,
den Vereinigten Staaten von Amerika Unilateralismus
und Hegemonialstreben vorzuwerfen und Europa gegen
die USA auszuspielen. Dabei entsteht der fatale Eindruck, dass nicht Saddam Hussein - er hat seine Nachbarstaaten überfallen und 17 UN-Resolutionen gebrochen -, sondern die Vereinigten Staaten das Problem
seien. Damit werden die Tatsachen auf den Kopf gestellt.
({12})
Es waren die USA, die nach dem 11. September 2001
einen Primat der Diplomatie bewiesen und für eine internationale Koalition gegen den Terror gesorgt haben. Es
waren die USA, die mit der UN-Resolution 1441 den
Grundstein für eine wirksame Abrüstung des Irak gelegt
haben. Es sind die USA, die, zusammen mit Großbritannien, für eine weitere UN-Resolution werben, um den
Diktator in Bagdad zur Kooperation zu zwingen und
eine sich möglicherweise als notwendig erweisende militärische Intervention völkerrechtlich zu legitimieren.
Statt auf unsere Freunde zuzugehen und zusammen
mit den USA und Großbritannien einen politischen
Kompromiss im Weltsicherheitsrat zu suchen, schmiedet
diese Bundesregierung Koalitionen mit Moskau und Peking gegen unseren wichtigsten sicherheitspolitischen
Partner
({13})
und belastet damit auch das Zusammenwirken in Europa
auf erhebliche Weise.
({14})
Ich habe die Sorge, dass bei alldem der zivilisatorische Kern des Völkerrechts aus den Augen verloren
wird. Die schrecklichen Erfahrungen aus zwei Weltkriegen mit zwei menschenverachtenden Diktaturen lehren
uns: Eine friedliche Ordnung der Welt gelingt nur auf der
Grundlage allgemein verbindlicher Normen. Sie funktioniert nur dann, wenn die internationale Gemeinschaft bereit und in der Lage ist, ihre Regeln durchzusetzen.
Wem an einer Durchsetzung des Völkerrechts gelegen
ist, der muss freilich wissen, dass die Völkergemeinschaft hierbei auf die Vereinigten Staaten von Amerika
angewiesen ist. Sie sind die einzige demokratisch legitimierte Macht, die in der Lage ist, den Beschlüssen der
Vereinten Nationen Geltung zu verschaffen.
Ich will uns hier ganz ruhig sagen: Eine Demütigung
der USA und ein Triumph des Diktators von Bagdad
würden die Welt erheblich gefährlicher machen, gerade
für uns in Europa.
({15})
Der hehre Wunsch nach einer multipolaren Welt führt
in die Irre. Mit ihm verkommt das Völkerrecht zu einer
bloßen Hülle; denn es suggeriert eine politisch-moralische Gleichordnung von Demokratie und Diktatur und
dass es egal sein kann, mit wem wir kooperieren, Hauptsache, es sind Mächte.
Das ist nicht unsere Auffassung, meine Damen und
Herren; denn damit würden wir unser Schicksal letztlich
in die Hände von Unrechtsstaaten legen, für die das Völkerrecht immer nur ein taktisches Instrument ist. Freiheit
und Zivilisation dürfen nie zum Spielball von Unrechtsregimen werden. Wir würden einen schweren Fehler machen, wenn wir es in der aktuellen Krise dahin trieben,
dass etwa die Vereinigten Staaten von Amerika nicht
mehr bereit wären, wie sie es auf dem Balkan, in Afghanistan und mit Leib und Leben für uns in Europa waren,
für Freiheit und gegen Diktatur einzutreten.
({16})
Es wird Zeit, dass Deutschland seine Koordinaten
wieder richtig setzt und wir uns die Frage stellen: Wem
wollen wir uns anvertrauen, wenn es um elementare Gefahren für die Zivilisation durch Terrorismus, Diktatur
und Massenvernichtungswaffen geht? Diesen Gefahren
können Europa und Amerika nur gemeinsam begegnen.
Wenn wir da eine Stimme haben wollen, wenn wir das
mitbestimmen und mitgestalten wollen, dann müssen wir
für die Voraussetzungen sorgen. Das heißt, dass wir erstens in einer fairen Weise in Europa zu einer gemeinsamen Haltung finden müssen - gegen diesen Grundsatz
ist verstoßen worden - und dass wir zweitens dafür sorgen müssen, dass wir in der Lage sind, in einer Welt, die
sich geändert hat, in der es neue und gefährliche Bedrohungsszenarien gibt, zu handeln. Wir dürfen nicht nur
wirtschaftlich stark und ansonsten verletzlich sein, sondern müssen auch die Fähigkeiten haben und schaffen, in
Krisen der Welt mit einzugreifen und mitzuhelfen, damit
diese Krisen nicht die Welt erfassen, sondern wir die
Krisen bewältigen.
Die Antwort muss eine weitere Integration sein. Hier
ist der Verfassungskonvent aufgefordert, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu mehr zu machen
als zu einem Nebeneinander von 15, 25 oder noch mehr
nationalen Außen- und Sicherheitspolitiken. Es kommt
darauf auf, dass wir unsere Kräfte bündeln, dass wir beispielsweise das Nebeneinander unserer Streitkräfte in
ein Miteinander führen - erster Schritt: europäische Eingreiftruppe auch als Teil der NATO-Response-Force,
zweiter Schritt: eine europäische Armee -, und dass wir
unsere Soldaten, wenn wir sie mit diesem wichtigen
Auftrag in die Welt senden, auch mit einem Material
ausstatten, das sie schützt, statt mit einem veralteten Material, das sie gefährdet.
({17})
Deswegen lautet unser Appell an die Bundesregierung:
Es besteht die Fürsorgepflicht, dass diejenigen, die für
Recht und Freiheit eintreten, auch vernünftig ausgerüstet
werden.
({18})
Europa ist nicht in bester Verfassung, aber ich habe
die Hoffnung, dass wir mithilfe des Konvents eine gute
Verfassung bekommen, die die Dinge zum Besseren
wendet. Es ist jedenfalls aller Anstrengungen wert, Europa transparenter, effizienter und demokratischer zu
gestalten. Ich danke den deutschen Mitgliedern des
Konvents dafür - sie kommen aus dem Europäischen
Parlament, dem Bundestag und der Regierung -, dass sie
daran arbeiten, eine solche Verfassung zu entwickeln,
die diesen Namen auch verdient. Europa kann jedenfalls
stolz darauf sein.
Ich freue mich für meine Fraktion, dass Peter
Altmaier, der in Brüssel im Konvent zusammen mit seinen Kollegen eine erstklassige Arbeit leistet, gleich unsere Position im Einzelnen skizziert.
({19})
Herr Kollege Hintze, kommen Sie bitte zum Schluss.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss meiner Rede.
Europapolitisch sollten wir bei der Erarbeitung der
Verfassung und in unserem konkreten Tun alles daransetzen, unsere Handlungsfähigkeit zu erweitern und das
Leben sowie das wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Wohlergehen der Bürger Europas zu bewahren.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Roth von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
würde gern mit Ihnen über die Chancen Europas und
darüber sprechen, wie wir Europa gemeinsam voranbringen können; denn die Erweiterung der EU muss jetzt
durch eine substanzielle Vertiefung der Integration flankiert werden. Das war und ist eine Grundregel deutscher
Europapolitik. Ich hoffe, dass darüber Konsens in diesem Hause besteht.
Was drohte sonst? Wir hätten sonst Stillstand,
schlimmstenfalls den schleichenden Zerfall des europäischen Einigungswerks. Darüber, dass wir Letzteres nicht
wollen, sind wir einer Meinung. Mit der Erweiterung
werden sich das Gesicht und die Chancen Europas
grundlegend verändern. Mit Energie und Beharrlichkeit
muss jetzt die Vertiefung der Europäischen Union vorangebracht werden.
Wer bei der Erweiterung aufs Gas drückt, aber bei der
Vertiefung gleichzeitig die Handbremse zieht, bringt die
Europäische Union auf einen ganz gefährlichen Schleuderkurs.
({0})
Damit es nicht zu einem gesamteuropäischen Schleudertrauma kommt, muss der europäische Konvent eine
mutige Verfassung für die Europäische Union erarbeiten,
die vor allem den Bedürfnissen der Bürgerinnen und
Bürger gerecht wird. Weder mit einem Verfassungsplacebo noch mit einer Mogelpackung werden wir die
Herausforderungen der Zukunft meistern können.
Ich werde jetzt ein Bild erwähnen, das zumindest der
Außenminister bestens kennt: den Marathonlauf. Die Arbeiten des europäischen Konvents ähneln nämlich einem
Marathonlauf. Nach einer umfangreichen Warmlaufphase geht man das Rennen behutsam an, teilt sich seine
Kräfte gut ein, verpasst keine der Verpflegungspausen,
weil sonst ein Hungerast droht, beobachtet genau den
Zustand der Mitläufer und hebt sich Reserven für einen
langen Schlussspurt auf. Wir sind jetzt im letzten Drittel
des Verfassungsmarathons und dürfen uns keine Schwächen erlauben.
Es gibt zwei Gestaltungsprinzipien, die für uns im
Mittelpunkt der Debatte stehen: Handlungsfähigkeit einerseits und Demokratie andererseits. Die Konventsmethode zur Ausarbeitung der europäischen Verfassung
ist für sich genommen schon ein gewaltiger Schritt hin
zu mehr Demokratie in Europa. Verfassung bedeutet immer mehr Sicherheit, mehr Stabilität und mehr Frieden.
Sie bedeutet auch die friedliche Austragung von Konflikten.
Vielleicht ist der furchtbare Mord an Zoran Djindjic
für uns alle ein Fanal, das uns ermutigen sollte, noch
schneller und engagierter diesen europäischen Verfassungsprozess voranzutreiben, der hoffentlich in absehbarer Zeit die Teilstaaten der ehemaligen Bundesrepublik
Jugoslawien umfassen wird, denn auch ihnen muss eine
europäische Perspektive gegeben werden. Auch das ist
eine Botschaft, die von diesem fürchterlichen Attentat
ausgehen muss. Darin stimme ich dem Kollegen Hintze
voll zu.
({1})
Erstmals wirken Parlamentarier aktiv und unmittelbar an der europäischen Verfassungsgebung mit. Endlich! Diese Reformmethode hat bislang gut funktioniert
Michael Roth ({2})
und zu ermutigenden Zwischenergebnissen geführt. Unseren Konventsmitgliedern, Herrn Meyer, dem Außenminister, Martin Bury als seinem Stellvertreter und auch
dem Kollegen Altmaier, möchte ich herzlich danken. Sie
alle setzen sich für dieses herausragende Projekt ein, für
das wir im Deutschen Bundestag so lange gearbeitet und
für das wir so lange gestritten haben.
Diese Konventsmethode muss in der europäischen
Verfassung verankert werden. Die kommende Regierungskonferenz, die in diesem Jahr hoffentlich ihre Arbeit abschließen kann, muss die letzte ihrer Art sein. Die
Ergebnisse des Konvents dürfen im Nachhinein nicht
verwässert werden.
Wer es mit dem Begriff von der Union der Bürgerinnen und Bürger in Europa ernst meint, der kommt an einer weiteren Stärkung des Europäischen Parlamentes
- der Bürgerkammer, wie wir es fortschrittlich nennen nicht vorbei. Wir fordern eine umfassende und gleichberechtigte Mitentscheidung des Europäischen Parlaments
in allen Feldern der Gesetzgebung.
({3})
Ein ebenso wichtiger Schritt zu mehr Demokratie und
parlamentarischer Verantwortlichkeit in Europa ist die
Wahl des künftigen Präsidenten der EU-Kommission
durch das Europäische Parlament. Den Bürgerinnen und
Bürgern muss klar sein, warum es sich lohnt, für Europa
zur Wahl zu gehen. Unterschiedliche Spitzenkandidaten
der europäischen Parteien, die unterschiedliche politische Ziele verfolgen, machen deutlich, dass es in Europa
- auch da gibt es noch eine Menge zu tun - eben auch
um einen Wettbewerb der Ideen und der Personen geht.
Das macht aber nur dann Sinn, wenn das Europäische
Parlament anschließend den Kommissionspräsidenten
mit der so genannten Kanzlermehrheit wählt. Das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit wäre ein Affront gegen
Europas Wählerinnen und Wähler.
({4})
Neben der Demokratie müssen wir zugleich die
Handlungsfähigkeit nachhaltig stärken; denn eine erweiterte EU wird mit den Mechanismen von heute sonst
zum gelähmten Bürokratiemoloch. Die Rezepte sind uns
allen längst bekannt: die Durchsetzung des Mehrheitsprinzips bei den Entscheidungen der EU-Mitgliedstaaten
im Rat in grundsätzlich allen Bereichen, auch in der Justiz- und Innenpolitik und eben auch in der Außen- und
Sicherheitspolitik. Ohne Mehrheitsprinzip in der Außenund Sicherheitspolitik wird es so sein, dass am Ende derjenige „Mister Europe“ angerufen wird, der durch sein
Veto die Entscheidungen der EU lahm legen kann. So
einfach und zugleich so schwierig ist das.
Aber wo sind die Konzepte seitens der Union? Ich muss
Sie fragen: Wo ist Deutschland in der Außenpolitik isoliert? Die gegenwärtige Situation wurde schon geschildert.
Wir alle tun uns nicht leicht mit der Frage, wie wir den Prozess der Herausbildung einer europäischen Außenpolitik
mit der transatlantischen Tradition verbinden können.
Aber Ihre Plattitüden und Ihre larmoyante Kritik zeigen
überhaupt keine Alternativen zu dem schwierigen Weg
auf, den die Bundesregierung und auch wir beschreiten.
({5})
Ich sehe keine substanzielle Alternative und keinen Fortschritt in dem, was Sie, Herr Hintze, eben zum Ausdruck
gebracht haben.
({6})
Wer in dieser Frage bremst, der verurteilt die EU zum
Stillstand. In einer Europäischen Union der Größe 25
plus x gibt es entweder Mehrheitsentscheidungen im Rat
oder es gibt gar keine Entscheidungen.
Wer Europa demokratischer und handlungsfähiger
machen will, der braucht keinen gewählten Präsidenten
des Europäischen Rates. Wir bejahen zwar eine bessere
Sichtbarkeit Europas in der internationalen Politik. Wir
sagen gleichwohl Nein zum Oberkommando der großen
Mitgliedstaaten über die Gemeinschaftsinstitutionen.
Eine Vorsitzlösung für den Europäischen Rat ist nur
dann akzeptabel, wenn sie wirklich gemeinschaftstauglich ist. Ich bin froh, dass auch die Bundesregierung in
diesem Sinne denkt und handelt.
({7})
Wer die jüngsten Entwicklungen im und um den Konvent beobachtet, der wird das Gefühl nicht los, dass
einige Akteure massiv versuchen, den europäischen Verfassungsprozess zu schwächen. Die Diskussion über
Zeitpläne, Ratifizierungserfordernisse und die Beteiligung bestimmter Akteure sind durchsichtige Manöver.
Sie dienen nur einem einzigen Zweck: die Reformschritte möglichst kurz ausfallen zu lassen. Wir dürfen
das nicht hinnehmen. Wir werden das - das ist übereinstimmende Auffassung - sicherlich nicht hinnehmen;
denn wer jetzt das Ziel der Vertiefung Europas hintertreibt, setzt mehr als nur die Erweiterung aufs Spiel. Er
gefährdet den Integrationsprozess insgesamt.
Was wäre denn die Alternative zu einer zukunftsgewandten Verfassung? Etwa ein Regelwerk, das den Status quo zementiert? Das würde Europa in eine tiefe Krise
führen und könnte dazu führen, dass einige integrationswillige Mitgliedstaaten voranschreiten, um politisch das
durchzusetzen, was in der Union als Ganzes nicht mehr
möglich ist. Das wollen wir nicht. Wir wollen ein Europa, das zusammenhält, ein Europa der Solidarität, das
auf die Herausforderungen der Globalisierung demokratische und sozial gerechte Antworten findet. Wir wollen
ein Europa, das in der internationalen Politik und im
transatlantischen Dialog eine aktiv gestaltende Rolle
spielt. Richtig ist zwar, dass wir letztlich niemanden
zwingen können, diesen Weg mit uns zu beschreiten.
Aber es ist scheinheilig, so zu tun, als könne eine erweiterte Europäische Union ohne weitere substanzielle Integrationsfortschritte funktionsfähig bleiben.
Michael Roth ({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch eine Bemerkung in eigener Sache: Die voranschreitende europäische Integration und der Verfassungsprozess gehen auch
an uns Abgeordneten nationaler Parlamente nicht spurlos vorüber. Europapolitik ist schon heute ein integraler
Bestandteil der Innenpolitik. Die Denk- und Handlungsmuster der klassischen Außenpolitik lassen sich einfach
nicht auf die europäische Politik übertragen. Dieser Tatsache müssen sich die nationalen Parlamente, also auch
der Deutsche Bundestag, noch stärker bewusst werden.
Im parlamentarischen Handeln muss dieser Entwicklung
Rechnung getragen werden. Es ist wichtig, dass der
Deutsche Bundestag schon jetzt beginnt, sich mit den
möglichen Ergebnissen des europäischen Verfassungsprozesses aktiv auseinander zu setzen. Wir Parlamentarier müssen europatauglich sein und Europa in den
Mittelpunkt unserer Arbeit rücken. Das betrifft alle Politikfelder: Innen-, Justiz-, Umwelt- oder auch Verbraucherschutzpolitik.
Deswegen haben wir als Koalitionsfraktionen einen
sehr weit reichenden Antrag präsentiert, mit dem wir
zum Ausdruck bringen wollen, dass der Deutsche Bundestag diesen Prozess nicht nur als Beobachter begleitet,
sondern auch konkrete Vorschläge unterbreitet, wie der
Konventsprozess zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden kann. Wenn wir, liebe Kolleginnen und
Kollegen, das Europäische Parlament nachhaltig stärken
und unsere parlamentarischen Mitwirkungsrechte auf
nationaler Ebene effektiv nutzen, dann wird Demokratie
in Europa künftig mit einem großen D geschrieben.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger von der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zwei Prozesse,
deren Erfolg oder Misserfolg über die Zukunft Europas
entscheiden wird: die Osterweiterung, für die auf dem
Europäischen Gipfel von Kopenhagen endgültig grünes
Licht gegeben worden ist, und das Projekt der europäischen Verfassung. Beide gehören untrennbar zusammen.
Ohne eine gelungene Reform der EU-Strukturen mit den
Zielen mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, verbürgte
Grundrechte und Handlungsfähigkeit wird das erweiterte
Europa nicht als politisches Europa bestehen können.
({0})
Der feige Mord an Serbiens Premier Djindjic zeigt
uns auf, wie notwendig die demokratische, wirtschaftliche und rechtsstaatliche Stärkung der ost- und südosteuropäischen Staaten ist. Die politische Entscheidung für
die Osterweiterung der EU - sie war in den vergangenen
Jahren heftig umstritten - wird durch dieses Attentat erneut bekräftigt. Es hat gleichsam den Auftrag, in diesem
Prozess weiter voranzugehen, noch einmal formuliert.
({1})
Europa befindet sich an der entscheidenden Wegkreuzung. Die europäische Verfassung, eine von der
FDP schon lange Jahre gehegte Vision, die von vielen
noch während der Ausarbeitung der Europäischen
Grundrechte-Charta als Utopie abgetan wurde, könnte
schon bald Realität sein, wenn der Konvent seinen ehrgeizigen Zeitplan einhält und bald Entwürfe für alle Artikel der Verfassung vorlegt, wenn nicht allen an diesem Prozess Beteiligten der Atem ausgeht - Herr Roth,
beim Marathon braucht man bekanntlich besondere
Techniken -, wenn die tiefen Zerwürfnisse zwischen einigen Mitgliedstaaten überwunden werden und wenn
die Gefahr gebannt wird, dass große und kleine Mitgliedstaaten gegeneinander ausgespielt werden. Manche nennen die künftige Verfassung ja schon heute in einem Atemzug mit der amerikanischen Verfassung von
Philadelphia aus dem Jahre 1787. Aber das ist wirklich
Zukunftsmusik.
Heute müssen wir uns auf die gegenwärtigen Herausforderungen konzentrieren. Dazu muss ich ganz klar sagen: Die Ereignisse der letzten Wochen und Monate und
ihre möglichen Auswirkungen auf den Verfassungsprozess im Konvent bereiten uns als FDP-Bundestagsfraktion große Sorgen.
({2})
Das Ringen um den erfolgreichen Weg zur Abrüstung
des Irak hat tiefe Gräben in der heutigen und der erweiterten EU entstehen lassen oder aufgedeckt. Auch die
Bundesregierung trägt mit ihrer falschen Frühfestlegung
dafür Verantwortung.
({3})
Genauso gilt das für die nicht zuerst in der EU abgesprochene deutsch-französische Initiative. In diesem Zusammenhang ist auch der Brief der Acht zu nennen - ein einmaliger Vorgang, der durch schwere diplomatische und
handwerkliche Mängel zu einer in dieser Form bisher
nicht gekannten Konfrontation in der Europäischen
Union geführt hat. Auch der dann endlich auf dem Sondergipfel am 27. Februar gefundene Minimalkonsens hat
diese Kluft bis heute nicht schließen können.
Diese Zerwürfnisse, vielleicht ein Teil Missverständnisse, können die Arbeiten des Konvents nicht nur behindern; sie können das ganze Projekt der europäischen
Verfassung gefährden.
({4})
Dann würde dieses aus unserer Sicht notwendige Projekt
vielleicht in einer Reihe mit der hervorragenden Paulskirchen-Verfassung stehen, die leider nie die Wirkung
entfaltet hat, die man eigentlich von ihr erwartet hat.
Das ist keine Schwarzmalerei. Ursprünglich war im
Konvent zum Beispiel vorgesehen, Ende dieses Monats
über die verfassungsrechtliche Ausgestaltung einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik
zu beraten. Das Präsidium des Konvents musste diese
Beratung und die Vorlage von Textentwürfen um mehrere Wochen auf April oder Mai vertagen, um nicht das
Risiko einzugehen, im Konvent den Streit zwischen den
Regierungsvertretern sofort neu zu entfachen. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen schönen Verfahrensregelungen für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auf dem Papier und der Realität würde die Arbeiten
des Konvents gegenwärtig unglaubwürdig erscheinen
lassen.
Es sind allerdings nicht nur die außenpolitischen Ereignisse, die den Erfolg der Arbeit des Konvents gefährden. Man muss auch der Tatsache ins Auge sehen, dass
die wesentlichen Fragen, insbesondere die institutionellen und damit die Machtfragen, bisher noch ungeklärt
sind und dass es angesichts der Vielzahl völlig gegenläufiger Interessen und Vorstellungen ungewiss ist, ob die
Delegierten hierüber Einigkeit erzielen werden.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat ihre Vorstellungen
von einem verfassten Europa mit ihrem Antrag zu den
Kernelementen einer europäischen Verfassung zur heutigen Sitzung vorgelegt; denn der Deutsche Bundestag
muss sich jetzt mit schriftlich formulierten Vorschlägen
einbringen, die dann auch zu einem Auftrag und zu einer
Stärkung der deutschen Vertretung im Konvent führen.
Lassen Sie mich auf zwei Punkte eingehen; meine
Kollegin Frau Dr. Winterstein wird noch konkret auf unseren Antrag zu sprechen kommen. Es geht - das ist für
uns wichtig - um das neue Gesicht Europas, also die politisch-demokratisch legitimierte Vertretung Europas
nach außen, und die außenpolitische Repräsentanz der
Europäischen Union. Bei diesen beiden Themen gilt es,
die Weichen dafür zu stellen, ob Europa auch in Zukunft
den Integrationskurs der vergangenen Jahre verfolgen
wird oder ob letztlich doch der intergouvernementale
Ansatz noch mehr an Boden gewinnt.
Für uns - das sagen wir ganz klar - steht die Stärkung
der Position des Kommissionspräsidenten - die Kommission ist ja das Integrationsorgan der Europäischen
Union - im Mittelpunkt.
({5})
Das wird natürlich von vielen unterstützt. Das ist auch
Element der deutsch-französischen Initiative. Aber die
birgt mit der Doppelspitze, die Sie, Herr Roth, in dieser
Form auch kritisiert haben, sehr wohl Gefahren in sich,
zum Beispiel die, dass der Ratspräsident oder wie auch
immer Sie ihn nennen mögen, der vom Rat gewählt ist,
die Position des Kommissionspräsidenten schwächt,
dass gar nicht klar ist, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, wer für Europa nach außen spricht und es
insgesamt nach außen repräsentiert. Das wird durch eine
Doppelspitze eher verwässert denn gestärkt. Deshalb
wollen wir diesen Weg nicht.
({6})
Wir sehen schon bei den jetzigen Beratungen im Konvent, dass dieses Kompromissmodell, auf das Sie, Herr
Außenminister, sich eingelassen haben - so habe ich das
immer verstanden -, in dieser Form keinen Erfolg haben
wird. Es gibt nicht wenige Vertreter im Konvent und
auch nicht wenige Mitgliedstaaten, die die Wahl des
Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament nicht wollen. Das würde bedeuten, dass wir zwar
einen gestärkten Ratsvorsitz bzw. Ratspräsidenten hätten, dass aber das Europäische Parlament, das ursprünglich den Kommissionspräsidenten wählen sollte, nicht
gestärkt würde. Deshalb ist dieses Modell aus unserer
Sicht nicht die richtige Weichenstellung.
Da meine Redezeit vorbei ist, Herr Präsident,
({7})
noch ein Wort zur so genannten Doppelhutlösung. Der
Schaffung eines europäischen Außenministers stimmen
wir zu.
({8})
Aber in der Ausprägung, die jetzt vorgeschlagen worden
ist, kann und darf dies nur eine Übergangsregelung sein.
Denn die Gefahr, dass diese Persönlichkeit zwischen Rat
und Kommission zerrieben wird, ist schon jetzt festgeschrieben. Deshalb sollte hier allenfalls eine Übergangsregelung geschaffen werden.
Der Verfassungsprozess sollte sich zwar an den vorgegebenen Zeitplan halten. Wichtiger ist mir aber eine
gut ausgearbeitete Verfassung, die am Ende dieses Jahres
auf einer Regierungskonferenz vorliegt, als Beratungen
im Konvent, die keine Änderungsanträge berücksichtigen und die Bürgerinnen und Bürger nicht einbeziehen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Anna Lührmann vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Europäerinnen und Europäer! Man könnte fast
meinen, dass in Europa ein Gespenst umgeht: das Gespenst einer europäischen Verfassung.
({0})
Auch wenn die Mächte des alten Europas noch zaudern: In
wenigen Monaten werden die europäischen Bürgerinnen
und Bürger ihre europäische Verfassung in der Hand halten.
Mit diesem alten Europa meine ich nicht das alte Europa des Herrn Rumsfeld, sondern das alte Europa, das
sich primär durch nationale Interessen definiert.
({1})
Ich meine das alte Europa, das hinter verschlossenen Türen Entscheidungen trifft, das alte Europa, in dem das
Europäische Parlament oft nichts zu sagen hat.
Das neue Europa hingegen, an dem im europäischen
Konvent gerade gearbeitet wird, steht für Demokratie,
Handlungsfähigkeit und Transparenz.
({2})
Die europäische Verfassung wird das Fundament für dieses neue Europa legen, von dem alle profitieren werden.
Die Ereignisse der letzten Wochen haben uns dramatisch verdeutlicht, warum die EU so dringend eine
europäische Verfassung braucht. Denn wie in einem
Worst-Case-Scenario mussten wir miterleben, wie uneinig Europa ohne effiziente Entscheidungsverfahren und
ohne eine einheitliche Vertretung nach außen sein kann.
({3})
Das alte Europa hat sich also, als es brenzlig wurde, als
handlungsunfähig erwiesen.
Herr Hintze, wenn ich mich recht entsinne, dann haben auch die CDU/CSU-Europapolitiker schon lange davor gewarnt, dass die EU-Institutionen nicht für eine solche Krise ausgelegt sind. Da hilft kein Polemisieren
Ihrerseits gegenüber der Bundesregierung. Da helfen nur
konstruktive Vorschläge im Verfassungskonvent.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD - Dr. Friedbert Pflüger ({4}): Das haben wir doch gemacht! Einen
konstruktiven Vorschlag nach dem anderen! Dr. Gerd Müller ({5}): Außer uns
macht keiner konstruktive Vorschläge!)
Der Konvent kann zwei Grundvoraussetzungen dafür
schaffen, dass Europa wieder weltweit mit einer Stimme
sprechen kann: Erstens brauchen wir einen europäischen Außenminister als Impulsgeber. Zweitens brauchen wir im Rat im Bereich der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik endlich qualifizierte Mehrheitsentscheidungen. Diese beiden Vorschläge haben dank
der Initiative der Bundesregierung gemeinsam mit
Frankreich gute Chancen, im Konvent angenommen zu
werden.
({6})
Die momentane Vielstimmigkeit sollte für uns Europäerinnen und Europäer also kein Grund zur Resignation
sein. Denn gerade wenn die Nacht am dunkelsten ist, ist
der Morgen am nächsten.
({7})
In den letzten Jahren konnten wir schon häufiger erleben, wie hell der europäische Stern am Nachthimmel
erstrahlen kann. Schon das alte Europa hat in den vergangenen Jahren viele internationale Projekte vorangetrieben, die für die Zukunft meiner Generation extrem
wichtig sind, so zum Beispiel das Kioto-Protokoll oder
den Internationalen Strafgerichtshof.
Vor dem Hintergrund der Herausforderungen des
21. Jahrhunderts liegen noch viele wichtige Aufgaben
vor dem neuen Europa: Es geht um nichts Geringeres als
um die gerechte Gestaltung der Globalisierung in allen
Teilen der Welt. Es geht um eine Weltinnenpolitik, die
Kriege verhindert, bevor sie beginnen. Es geht um den
Zugang zu Wasser für alle und das ist noch längst nicht
alles.
Genau diese Ziele Frieden, Demokratie, Solidarität
und Umweltschutz sind typisch europäisch. Nur wenn
Europa an einem Strang zieht, werden wir eine Chance
haben, diese Ziele auch weltweit zu verwirklichen. Dafür müssen diese Ziele jetzt in der Verfassung festgeschrieben werden.
({8})
Auch die innere Organisation der EU muss dringend reformiert werden. Wir brauchen demokratischere
und effizientere Institutionen in Europa. Nur dadurch
werden wir zu einer wirklich zukunftsfähigen Politik in
der EU kommen. Im neuen Europa muss das Europäische Parlament in allen Bereichen der Gesetzgebung mitentscheiden können, damit die Europawahlen endlich zu
einer tatsächlich demokratischen Abstimmung über europäische Politik werden. Deshalb soll das Parlament
den Präsidenten der Europäischen Kommission wählen oder die Präsidentin.
({9})
Eine EU der 25 wird nicht in der Lage sein, schnell
auf neue Herausforderungen zu reagieren, wenn weiterhin in vielen Bereichen einzelne Staaten aufgrund nationaler Interessen Entscheidungen blockieren können.
Denn schon jetzt gibt es große Probleme durch das Vetorecht. In vielen Politikbereichen werden zukunftsweisende Projekte nicht angepackt, weil auf die nationalen
Interessen einzelner Staaten Rücksicht genommen werden muss. So gibt die EU immer noch die Hälfte ihres
Geldes für eine verfehlte Agrarpolitik aus oder eines der
reichsten Länder der EU erstreitet sich immer wieder einen Rabatt bei den Beitragszahlungen.
Das absurdeste Beispiel jedoch betrifft den Tabakanbau: Auf der einen Seite subventioniert die EU den Anbau von Tabak und auf der anderen Seite will sie gleichzeitig die Tabakwerbung verbieten. Deshalb brauchen
wir dringend die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips im Rat.
({10})
Wir hier im Bundestag - und besonders auch unsere
Vertreter im Konvent - sollten sich in den nächsten Wochen und Monaten dafür einsetzen, dass wir eine zukunftsfähige Verfassung schaffen, eine Verfassung, die
Europa international handlungsfähig macht, eine Verfassung, die Europa auf ein demokratisches Fundament
stellt, eine Verfassung für eine Europäische Union der
Bürgerinnen und Bürger, also eine Verfassung für ein
neues Europa.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Altmaier von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die
Notwendigkeit der Reform der europäischen Außen-,
Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind wir uns alle
in diesem Hause einig. Herr Bundesaußenminister, was
in der deutsch-französischen Initiative zu diesem Thema
gesagt worden ist, wird doch von uns allen unterschrieben und mitgetragen: im Konvent, im Deutschen Bundestag und überall. Aber Sie, sehr geehrter Herr Bundesaußenminister, sollten dann wenigstens ab und an den
Versuch unternehmen, sich auch in der Praxis an Ihre eigenen hehren Prinzipien zu halten.
({0})
Es war doch gerade die deutsche Bundesregierung,
die mit ihrem Alleingang, mit ihrem deutschen Sonderweg verhindert hat, dass Javier Solana auch nur die Spur
einer Chance hatte, eine gemeinsame europäische Position zu formulieren,
({1})
denn Schröder hat auf der einen Seite hü geschrien und
Blair hat auf der anderen Seite hott gerufen. Inzwischen
ist das Pferd tot und alle beklagen die Situation.
Ganz ähnlich ist es doch bei der Frage, wie Europa in
Zukunft im Innern organisiert sein soll. Ich habe nicht
gesehen, dass sich der Bundeskanzler in irgendeiner
Weise für die Debatte interessiert, wer in Europa was
machen soll.
({2})
Er hat offenbar kein Problem damit, dass Europa in Zukunft für alles und jedes zuständig ist. Nur, wenn Europa
dann handelt - Beispiele sind VW und die Wettbewerbspolitik -, ist der Bundeskanzler der erste, der die Europäische Kommission vors Schienbein tritt und die europäische Integration infrage stellt. Genau diesen Zustand
können wir uns in Europa nicht leisten.
({3})
Meine Damen und Herren, wir brauchen - das muss
das Ergebnis des Konvents sein - nicht irgendeine Verfassung. Wir brauchen nicht irgendwelche Kompromisslösungen. Wir brauchen eine starke und entscheidungsfähige Europäische Union, die sich auf Kernaufgaben
konzentriert, die demokratisch legitimiert und kontrolliert ist.
Wenn wir die Probleme der Bürgerinnen und Bürger,
die es in Europa auch nach 40 Jahren Integration gibt,
ernst nehmen und lösen wollen, dann ist nicht entscheidend, ob wir in der Theorie einen Staatenbund oder einen Bundesstaat haben, dann kommt es darauf an, wie
wir Europa so konstruieren, dass es handeln kann. Dann
können beispielsweise Probleme nicht mit dem alten
Einstimmigkeitsprinzip nach dem Modell der deutschen
Kultusministerkonferenz gelöst werden. Das wird in einer Europäischen Union mit 25 Mitgliedstaaten nicht
funktionieren.
({4})
Meine Damen und Herren, wir müssen auch über die
Frage sprechen, wer für welche Probleme in Zukunft zuständig sein soll. Nicht jedes Problem in Europa ist auch
ein Problem für Europa. Wenn eine staatliche Ebene alles machen will, wird sie in Wirklichkeit nichts mehr
richtig machen. Das ist die Begründung für die Debatte
über Kompetenzabgrenzung und Kompetenzkontrolle.
Wir wollen Prinzipien definieren. Wir wollen auch die
Rolle der nationalen Parlamente stärken. Dabei wollen
wir keine neuen Institutionen und keine neuen Gremien,
aber wir wollen beispielsweise für den Deutschen Bundestag und für den deutschen Bundesrat das Recht, die
Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips notfalls auch
gerichtlich vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zu kontrollieren und durchzusetzen.
({5})
Ich begrüße es ausdrücklich, Herr Bundesaußenminister, dass auch Sie, dass die Bundesregierung diese
Forderung wenigstens im Antrag für den Konvent unterstützt hat, auch wenn wir in der täglichen Debatte im
Konvent nicht den Eindruck hatten, dass diese Probleme
Ihnen besonders auf den Nägeln brennen.
({6})
Meine Damen und Herren, nach dem blamablen
Scheitern der Regierungskonferenz von Nizza, wo sich
nicht Europa blamiert hat, sondern wo sich die nationalen Regierungen, die ihre eigenen kleinlichen Interessen
zu Tode geritten haben,
({7})
blamiert haben, kann man heute bereits sagen: Der Konvent ist ein Erfolg.
({8})
Wir haben in diesem einen Jahr mehr erreicht als alle anderen Initiativen in den letzten fünf Jahren gemeinsam.
({9})
Und das hat einen Grund. Der erste Grund liegt in der
Öffentlichkeit der Sitzungen. Die Öffentlichkeit der
Sitzungen und damit die Überwachung durch die Presse
und durch die europäischen Bürgerinnen und Bürger begrenzt die Möglichkeit für nationale Regierungen, offensichtlichen Unsinn zu machen. Deshalb haben wir bislang
nicht erlebt, dass nationale Regierungen im Konvent mit
Vetorecht, mit Blockade oder mit offensichtlich unbegründeten und nicht durchsetzbaren Vorschlägen hervorgetreten sind. Darin liegt eine große Chance für den
Konvent, zu einem Ergebnis zu kommen.
Zweitens. Wir machen in diesem Konvent ja gerade
keine Politik, bei der jeder national seine Erbsen zählt
und das ganze Projekt in Frage stellt, wenn er nicht alle
Erbsen bekommt, die er haben möchte. Nein, wir diskutieren in diesem Konvent nach politischen Richtungen,
nach unterschiedlichen Konzepten und Vorstellungen. In
dieser Diskussion ist der lettische Delegierte, der eine
gute Idee hat, genauso viel wert wie der Delegierte aus
Frankreich oder Deutschland, der eine gute Idee hat. Das
ist das Modell, nach dem wir Europa in Zukunft organisieren müssen, und eben nicht nach nationalen Partikularinteressen. Dann wären wir als Bundesrepublik Deutschland mit unserer europäischen Zentrallage und mit
unserem Interesse an funktionierender Integration immer
und automatisch die Verlierer.
Deshalb unterstreiche ich auch das, was die Vorredner
gesagt haben. Wir müssen das Konventmodell auf Europa übertragen. Wir brauchen öffentliche Ratssitzungen, wenn über europäische Gesetze entschieden wird.
Wir brauchen schlanke Strukturen. Wir brauchen einen
vernünftigen Interessenausgleich zwischen Groß und
Klein. Weder dürfen die Großen die Kleinen noch dürfen
die Kleinen die Großen dominieren. Deshalb, Herr Bundesaußenminister, sorgen Sie bitte dafür, dass dieses
unselige Gerede über ein Direktorium von großen
Mitgliedstaaten, über den Europäischen Rat als die
Entscheidungszentrale in der Europäischen Union,
das es in der Anfangszeit des Konvents gegeben hat, beendet wird. Ich weiß, Sie denken anders darüber. Wir
müssen es nur im Konvent mehrheitsfähig machen und
durchsetzen.
({10})
Meine Damen und Herren, die Debatte über die Institutionen mündet immer wieder in folgende Fragen:
Brauchen wir einen oder zwei europäische Präsidenten?
Brauchen wir einen Doppelhut? Brauchen wir eine Doppelspitze? Brauchen wir eine Pyramide? Soll es einen
Chairman oder einen Präsidenten für den Europäischen
Rat geben? All diese Debatten versteht und begreift
draußen niemand. Deshalb wird der Erfolg des Konvents
auch davon abhängen, ob es uns gelingt, die entscheidenden europäischen Machtfragen so zu formulieren,
dass die Öffentlichkeit sie versteht, damit die Öffentlichkeit den Konvent auch unterstützt, wenn er sich gegen
Regierungen und deren Positionen durchsetzen muss.
Zwei Aspekte sind meiner Meinung nach wichtig,
ganz egal, auf welchem Weg man einen Kompromiss
findet. Wir brauchen keine neuen bürokratischen Monster, die die Entscheidungsprozesse in Europa weiter
komplizieren und erschweren. Wenn in der Debatte über
eine Kompromissfindung herauskäme, dass neben der
EU-Kommission eine Parallelbürokratie beim Europäischen Rat entstehen würde, dann hätten wir etwas falsch
gemacht und hätten die Erwartungen der Bürger nicht erfüllt, sondern enttäuscht.
({11})
Der zweite Punkt. Wir müssen dafür sorgen, dass die
Selbstverständlichkeit, als die wir die Demokratie in unseren Mitgliedsstaaten empfinden, endlich auch auf die
europäische Ebene übertragen wird. Bis zu 70 Prozent
all unserer Gesetze kommen aus Brüssel. Es werden in
Brüssel Entscheidungen gefällt, die die Bürger unmittelbar betreffen, nicht nur die Landwirte, sondern auch Studenten und mittelständische Unternehmer. Wir müssen
dafür sorgen, dass dieses Europa mindestens so demokratisch organisiert wird wie die Willensbildung in
Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Belgien und jedem anderen europäischen Land.
Es gibt allerdings noch einen großen Unterschied.
Dieser Punkt ist wichtig; ich möchte ihn für all diejenigen ansprechen, die uns zuhören, weil er etwas mit der
Europamüdigkeit und Europaverdrossenheit zu tun hat.
Wenn Sie als Bürger eines Mitgliedsstaates mit Ihrer Regierung und den Entscheidungen, die sie trifft, unzufrieden sind, dann haben Sie alle vier oder fünf Jahre die
Möglichkeit, Ihre Regierung zu wählen bzw. abzuwählen. Sie haben die Möglichkeit, der Regierung einen
Denkzettel zu geben. Sie können bei Bundestags- oder
Landtagswahlen über politische Konzepte entscheiden.
Sie können als Bürger mit entscheiden, welche Politik in
den nächsten vier oder fünf Jahren gemacht wird.
Diese Möglichkeit hat der Bürger auf europäischer
Ebene nicht. Es ist nicht erkennbar, welchen Einfluss
und welche Auswirkungen die Wahl zum Europäischen
Parlament auf die Politik hat, die in Europa gemacht
wird. Deshalb müssen wir dieses Prinzip aus den Mitgliedsstaaten auf Europa übertragen. Die Bürger müssen
die Möglichkeit haben, mit der Wahl zum Europäischen Parlament auch über ihre Exekutive zu entscheiden. Deshalb, Herr Bundesaußenminister: Egal, was wir
mit unseren französischen Freunden hinsichtlich der
Frage des Kommissions- und des Ratspräsidenten vereinbaren, egal, ob es noch Kompromissmöglichkeiten
gibt, an die niemand von uns denkt, wir müssen erreichen, dass der Ausgang der Wahlen zum Europäischen
Parlament einen entscheidenden Einfluss darauf hat, wer
in Europa regiert und wie in Europa regiert wird.
({12})
Meine Damen und Herren, diese Europäische Union
von 25 Mitgliedstaaten ist ein Experiment ohne Beispiel
in der Nachkriegsgeschichte. Es gibt weltweit kein Integrationsmodell, das ähnlich weit vorangeschritten ist,
das eine ähnlich hohe Integration aufweist, das ähnlich
viele Mitgliedstaaten, Kulturen und Sprachen unter einem Dach vereinigt. Deshalb müssen wir alles tun, damit
dieses Experiment gelingt. Ich denke, dass sich jeder im
Konvent darüber im Klaren ist. Wir schaffen einen europäischen Verfassungsvertrag, also eine Verfassung in
Form eines Vertrages, auch deshalb, um europäische
Identität zu stiften. Ein solches Gebilde kann auf Dauer
nur funktionieren, wenn die Bürger keine Zweifel bezüglich der Identität haben, wenn sie wissen, wer zusammengehört und wie dieses Gebilde aussieht.
Deshalb ist es, wie ich glaube, wichtig, dass wir in
diesem Verfassungsvertrag die Grundrechte-Charta an
die erste Stelle setzen und sie nicht in irgendein Protokoll oder irgendwelche Erklärungen am Schluss des Dokumentes packen.
({13})
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist ein
Kernelement unseres Menschenbildes und unseres
Staatsverständnisses. Dieser Satz steht in Art. 1 Abs. 1
unseres Grundgesetzes und in Art. 1 Satz 1 der Europäischen Grundrechte-Charta. Es wäre großartig, wenn es
uns gelänge, diesen Satz auch in der europäischen Verfassung zu verankern.
Meine Damen und Herren, wir haben drei Monate
Zeit, um dem Deutschen Bundestag ein Ergebnis vorzulegen. Als Vertreter des Bundestages gemeinsam mit
dem Kollegen Meyer in diesem Konvent will ich meinen
Kolleginnen und Kollegen und allen hier in diesem
Hause sagen: Ich bin der Auffassung, dass wir alles tun
sollten, um diese drei Monate zu nutzen. Wir sollten
nicht darüber reden, den Zeitplan aufzuweichen. Wir
sollten keinen Druck aus dem Kessel nehmen. Wir sollten uns von den großen Schwierigkeiten bei den Themen
Irak und Außenpolitik nicht entmutigen lassen. Diese
müssen vielmehr ein Ansporn für uns sein, dafür zu sorgen, dass so etwas in Zukunft nicht wieder vorkommt.
Ich glaube, wir haben in diesem Konvent die Chance, die
Lehren aus der Geschichte, auch aus der jüngsten Geschichte, zu ziehen.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erste
Redner der Opposition hat heute zu Recht darauf hingewiesen, dass in diesem Jahr zwei Entscheidungen, die zu
Recht historisch genannt werden, anstehen, nämlich die
Erweiterung und die neue europäische Verfassung, der
neue Vertrag.
Kollege Altmaier, Sie haben zu Recht unterstrichen
- das freut mich -, dass der Konvent schon heute ein
Erfolg ist. Nun bin ich nicht ganz so weit; das will ich
erst noch sehen. Ich teile allerdings Ihren Optimismus, dass er ein Erfolg werden kann. Ich freue mich,
dass die Opposition dies unterstreicht; denn ich denke,
es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Wechsel
in der Regierung im Jahre 1998 eine Voraussetzung
dafür war, dass wir hinsichtlich der Erweiterung der
EU mit der praktischen Arbeit beginnen konnten; bis
dahin gab es nämlich nur abstrakte Versprechungen,
aber kein Öffnen der einzelnen Verhandlungskapitel.
({0})
Der zweite Punkt ist die Agenda 2000, die eine wichtige Voraussetzung für einen Kompromiss, der uns alles
andere als leicht gefallen ist, war. Auch das dürfen wir
nicht vergessen.
({1})
Schließlich komme ich zum dritten Punkt: Auch der
Verfassungsprozess ist von der Bundesregierung unter
Bundeskanzler Gerhard Schröder angeschoben worden,
({2})
weil wir anders als Sie der Meinung waren, dass eine Erweiterung auf 25 Mitglieder und mehr - wir werden bei
der 25er-Union nicht stehen bleiben - ohne eine grundsätzliche Reform der Verträge und der europäischen Verfassung nicht möglich ist.
Sie sagen, dass Nizza gescheitert ist. In Nizza haben
wir den Konvent beschlossen. Ich bitte Sie, das nicht zu
vergessen.
({3})
Wie Ihre Rhetorik bei unseren Nachbarn in Frankreich
ankommen wird, bitte, das liegt in Ihrer Verantwortung. Aber wenn ich mir das gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrungen und Entwicklungen
anschaue, dann wird mir klar, dass dieser Konvent noch
sehr wichtig sein wird, um auftretende Brüche und Gräben in der erweiterten Union überbrücken zu können
und um nicht in die Gefahr einer Avantgarde-Bildung
hineinzulaufen.
Kollege Hintze, ich möchte hier keine Irak-Debatte
führen. Ich frage mich nur: Wen in diesem Land und in
den anderen europäischen Ländern meinen Sie mit Ihren
Worten eigentlich noch erreichen zu können? Sie - Ihre
Parteivorsitzende und Ihr Kanzlerkandidat haben dies
ebenfalls getan - schweigen bei der entscheidenden
Frage. Es geht darum, ob Sie wollen, dass die Inspektionen abgebrochen werden und dass wir uns der Resolution der USA, Spaniens und Großbritanniens anschließen. Wenn dies so ist, dann sollten Sie sagen, dass Sie
das wollen und dass Sie für einen Krieg gegen Saddam
Hussein sind. Hier haben wir einen tiefen Widerspruch.
({4})
Es nützt doch nichts, nur im Verfahren zu bleiben. Sie
müssen zum Punkt kommen.
Diese Bundesregierung hat gegenüber den amerikanischen Partnern von Anfang an - und zwar lange vor dem
Wahlkampf - ihre tiefe Skepsis und Sorge bezogen auf
einen Krieg im Irak zum Ausdruck gebracht, weil sie
erstens der Überzeugung ist, dass vor allem die langfristigen Risiken gewaltig sind. Dabei geht es nicht nur um
die humanitären Risiken, die ein solcher Krieg für unschuldige Menschen bedeuten würde, sondern zweitens
auch um die Frage des Zusammenhalts der Antiterrorkoalition und die Konsequenzen für den Kampf gegen
den Terrorismus. Drittens geht es um die Frage der regionalen Stabilität, die gerade uns als direkten regionalen Nachbarn langfristig tiefe Sorgen macht.
Herr Kollege Hintze, ich komme zum zweiten Punkt
in diesem Zusammenhang: Unter schwierigen Bedingungen hat diese Bundesregierung - der Bundeskanzler,
ich und andere Mitglieder der Bundesregierung und der
Koalition - in ihrer Regierungsgeschichte die Entscheidung für eine militärische Intervention als das letzte
Mittel zweimal für unabweisbar gehalten, nämlich im
Kosovo und in Afghanistan. Bevor man über Krieg
spricht, sollte man bedenken, dass es dabei um das letzte
und nicht um das nächste Mittel oder um formale
Gründe geht, Kollege Hintze.
({5})
Angesichts der gegenwärtigen Situation, in der ich die
Berichte der Inspektoren zur Kenntnis nehme, sage ich Ihnen: Bevor man über den Krieg als das letzte Mittel redet,
muss klar sein, dass alle anderen Mittel erschöpft sind.
Wenn ich die Berichte von Blix und al-Baradei zur Grundlage nehme, dann erkenne ich, dass sie nicht erschöpft
sind. Blix hat gesagt, dass er nicht über Wochen und nicht
über Jahre, sondern über Monate, die er braucht, spricht.
Sie wissen es doch so gut wie ich: Wenn Saddam
Hussein die Zerstörung der Raketen zum 1. März abgelehnt hätte, dann wäre das der Anlass dafür gewesen,
dass jetzt zu militärischen Maßnahmen gegriffen worden
wäre. Aber man kann es nicht als irrelevant bezeichnen,
wenn bei der Zerstörung wirklich Fortschritte gemacht
werden. Genau das wollen wir mit dem deutsch-französischen Memorandum erreichen: Mit der Setzung von
Fristen soll sichergestellt werden, dass tatsächlich abgerüstet wird. Das ist unsere Position. Wir sagen Nein zum
Krieg, während Sie in dieser Frage herumeiern und den
Menschen nicht klar machen, was Ihre Position ist.
({6})
Kollege Pflüger hat schon sehr früh im Ausschuss erklärt, dass es für ihn wichtiger sei, an der Seite der USA
zu stehen, und er deswegen für den Krieg sei. Diese
Worte sollte er einmal hier wiederholen.
({7})
Auch die Vorsitzende Merkel sollte sich einmal äußern.
Dann gäbe es in dieser Frage Klarheit.
({8})
Zurück zu Europa. Wir kommen jetzt in die entscheidende Phase der Erweiterung.
({9})
- Ich saß doch neben Ihnen, als Sie erklärt haben, dass
für Sie nun der „material breach“ gegeben sei, Kollege
Pflüger. Sie wissen so gut wie ich, was dann die Konsequenzen sind.
({10})
Ich wundere mich, dass Sie sich jetzt darüber so aufregen. Ihre Position ist doch bekannt.
({11})
- Das ist keine Lüge. Das zeigt nur, dass ein schwankender Halm ein Muster an Stabilität im Verhältnis zur Position der Union in der Frage ist: Wie halte ich es mit
einem Krieg im Irak?
({12})
Die Erweiterung - ich komme zu einem Punkt, der
zu Recht angesprochen wurde - macht eine neue Verfassung notwendig. Diese neue Verfassung ist vor dem
Hintergrund der weltpolitischen Herausforderungen
umso wichtiger. Ich denke, es wäre keine gute Perspektive, in eine De-facto-Avantgarde innerhalb oder außerhalb der Verträge hineingetrieben zu werden. Deshalb
müssen wir gerade jetzt in der Endphase ein ambitioniertes Ziel anstreben. Ich rate jedoch dazu, die Realitäten
anzuerkennen. Es ist nicht so, dass ich mir nicht weiter
gehende Schritte wünschen würde, aber wir müssen am
Ende, ausgehend von der nationalen Position, zu Kompromissen kommen.
Herr Kollege Altmaier, dabei sind Ihre Vorschläge
nicht sehr hilfreich. Natürlich gibt es Interessenunterschiede zwischen großen und kleinen Staaten. In der erweiterten Union der 25 wird es Realität sein, dass die
Staatenmehrheit bei den kleinen Ländern liegt, während
gleichzeitig die sechs größten Mitgliedstaaten über
70 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Das schafft
ein sehr großes Ausgleichsproblem, und zwar nicht nur
in der Frage des Europäischen Rates, sondern auf nahezu
allen Ebenen. Es wird schwierig sein, hier ein Gleichgewicht zu finden. Eine Lösung wird sich nur finden lassen, wenn man sich, ausgehend von den unterschiedlichen Interessen, an einem Kompromiss orientiert.
Dasselbe Problem gilt zwischen den neuen und den
alten Mitgliedstaaten. Wir Deutsche haben dafür eine besondere Sensibilität, weil wir die Schwierigkeiten des
Zusammenwachsens in unserem Alltag und auch bei der
Gesetzgebung erleben: zwischen den alten und den
neuen Bundesländern und auch zwischen den Menschen
in dieser Stadt. Selbstverständlich verstehe ich, dass derjenige, der 50 Jahre Unterdrückung und Sowjetkommunismus erlebt hat, eine ganz spezifische Sicht, basierend
auf dieser Erfahrung, auf die USA hat. Auch wir hatten
und haben eine spezifische Sicht auf die USA, die sich
von anderen unterscheidet. Natürlich verstehe ich auch,
dass Polen jenseits dieser 50 Jahre noch eine andere Erinnerung hat. Auch das ist mir völlig klar. Dabei spielen
wir Deutsche eine nicht ganz unwichtige Rolle. Daraus
erwächst noch einmal eine andere Perspektive.
Die alte Union stand für das Zuschütten des Grabens
der Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich. Die neue Union wird das Überwinden des Eisernen Vorhangs bedeuten. Dass das Zeit braucht, wissen
gerade wir Deutsche.
({13})
Aber eine erweiterte Union wird starke integrative Institutionen brauchen, sonst wird sie nicht funktionieren.
Alle Mitgliedstaaten, alte wie neue, haben ein Interesse
daran, dass die Union funktioniert; denn eine nicht funktionierende Union würde sofort zu einer informellen
Gruppenbildung führen - Geschichte lässt sich nicht aufhalten -, weil dann die Interessen der Mitgliedstaaten
mit ihrem ganzen Schwergewicht zur Geltung kämen.
Das ist die Aufgabe. Dabei geht es um die Ausgestaltung der wesentlichen Punkte. Ich sehe in der Tat eine
Möglichkeit ganz konkret vor uns. Ich persönlich hätte
mir gewünscht, dass es nur einen Präsidenten gibt. Aber
ich muss feststellen: Dazu ist es noch zu früh. Es gibt im
Konvent Überlegungen, die Festlegung auf einen Präsidenten nach zwei oder drei Wahlperioden in die Verfassung hineinzuschreiben. Das heißt, in zehn oder 15 Jahren wird diese Idee Realität werden. Dann ist eine neue
Generation herangewachsen. Das halte ich für eine nicht
unkluge Idee.
Wir müssen darauf Acht geben, dass das institutionelle Dreieck gestärkt bleibt, wenn wir zwei Präsidenten
haben. Bei 25 oder mehr Mitgliedstaaten halte ich es für
ein Unding, an der rotierenden Präsidentschaft im Europäischen Rat festzuhalten. Das wird nicht funktionieren.
Ein permanenter Vorsitz im Europäischen Rat bedeutet
de facto eine Stärkung des Rates. Auch deswegen wird
es so wichtig sein, dass die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament erfolgt.
Diese Punkte hängen für uns unmittelbar zusammen.
Die Größe der Kommission müssen wir uns ebenfalls anschauen. Eine Kommission, die aus 25 Kommissaren besteht - gemäß dem Nizza-Vertrag wird sie so
groß sein -, macht eine starke innere Differenzierung
notwendig, weil sie an eine Funktionalitätsgrenze stößt
bzw. bereits jenseits dieser Grenze ist. Die Alternative ist
das Rotationsmodell, welches für die großen Mitgliedstaaten besonders bitter ist. Sie haben bereits auf einen
Kommissar verzichtet. Selbst wenn das Rotationsmodell
einen langen Zeitraum umfassen würde - es gibt große,
mittlere und kleine Mitgliedstaaten -, würde es immer
eine Phase geben, in der ein großes Land nicht vertreten
wäre. Das ist ohne jeden Zweifel eine bittere Pille, die zu
schlucken wäre. Gleichwohl: Im Interesse der Funktionalität würde ich mich einem solchen Kompromissvorschlag, wie er im Präsidium des Konvents diskutiert
wird, nicht verschließen. Das sind für mich zwei wesentliche Punkte.
Der dritte Punkt ist die Ausdehnung der Mitentscheidungsrechte des Parlaments auf alle gesetzgeberischen
Maßnahmen. Das halte ich für einen sehr wichtigen
Punkt.
Ich warne davor, sich beim Doppelhut des Außenministers sofort auf die volle Integration zu versteifen, weil
das eine lange Perspektive braucht. Bis die Mitgliedstaaten ihre Souveränitätsrechte - vor allem hinsichtlich des
ius bellum - aufgeben, wird viel Zeit vergehen. Wenn es
gut läuft, erzielen wir eine verstärkte Parallelität bei der
Integration. Die Position des Außenministers der
Union wird in erster Linie im Rat verankert sein, weil
dort das Hauptgewicht liegt. Ich halte es aber für unverzichtbar, dass er zugleich in der Kommission eine besondere Rolle spielt. Das ist der Inhalt des Vorschlags des
Doppelhuts, der zurzeit mehrheitsfähig zu sein scheint.
Aus den bisherigen Erfahrungen können wir entsprechende Konsequenzen ziehen.
({14})
Kollege Altmaier, ich möchte den Art. 14 im jetzt
vorliegenden Entwurf noch einmal neu formuliert sehen.
Das Problem liegt für mich nicht so sehr im Inhalt des
„Briefes der Acht“ als im Verfahren. In Europa wird es
immer verschiedene Meinungen geben. In einem vielfältigen Europa kann das nicht anders sein. Wir müssen uns
aber auf eine Methode einigen, mit der wir eine gemeinschaftliche Position finden können. Das ist meine Kritik
am „Brief der Acht“.
({15})
In Art. 14 muss eine entsprechende Konsequenz gezogen werden. Ich denke, es gibt entsprechende Formulierungen, um verpflichtend sicherzustellen, dass die
Mitgliedstaaten wie auch die gemeinschaftlichen Institutionen im Falle auftauchender ernsthafter Krisen oder
im Falle substanzieller Veränderungen in den Beziehungen zu strategischen Partnern eine gemeinschaftliche
Haltung finden. Das ist meines Erachtens in Art. 14
machbar.
({16})
- Die Debatte können wir gerne an anderer Stelle führen.
Für mich ist ein anderer Punkt entscheidend. Ich
stimme Ihnen teilweise zu. Hinsichtlich des Klagerechts
der Bundesländer muss ich Ihnen leider widersprechen.
Ich habe Präsident d’Estaing noch einmal klar gemacht,
wie wichtig das für uns, vom nationalen Standpunkt aus
betrachtet, ist. Ich denke, das wird mit berücksichtigt
werden.
Mich wundert, dass Sie, als Vertreter der Christlich
Demokratischen Union, die Frage, wie der Gottesbezug
in der Verfassung verankert werden kann - beim Besuch im Vatikan spielte das eine große Rolle -, nicht aufgenommen haben.
({17})
Um diese Dinge geht es konkret. Der vorliegende
Entwurf ist gut. Die entsprechenden nationalen Initiativen sind geeignet, einen Kompromiss zu finden. Ich bin
dafür, dass wir nicht verzögern, sondern während der italienischen Präsidentschaft, in der zweiten Jahreshälfte,
im Rahmen einer kurzen Regierungskonferenz zum Abschluss kommen. Voraussetzung dafür ist, dass die in
Kopenhagen beschlossene Teilnahme der Kandidaten,
die de jure noch nicht Vollmitglieder sind, die aber die
Beitrittsverträge bereits unterzeichnet haben, eine wirkliche volle Teilhabe bedeutet. Dann wären die Bedenken
dieser Länder ausgeräumt. Im Klartext heißt das, dass
wir dann zügig vorankommen können. Gerade angesichts der internationalen und der weltwirtschaftlichen
Lage meine ich, dass eine handlungsfähige Union, die
mit der Erweiterung zu einer Union der 25 Mitgliedstaaten ernst macht und dieses ehrgeizige und schwierige
Projekt umsetzt, durchaus in der Lage ist, sich eine flexible, demokratische und handlungsfähige Verfassung zu
geben. Dieses Ziel halte ich für erreichbar. In diesem
Punkt sind wir uns auch alle einig.
({18})
Es sind zwei Kurzinterventionen der Kollegen Pflüger
und Hintze angemeldet. Ich schlage vor, dass wir sie hintereinander aufrufen und dass dann der Außenminister
Gelegenheit hat, sie gegebenenfalls zusammen zu beantworten. - Herr Kollege Pflüger.
Herr Minister Fischer, ich habe eben mit etwas Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass Sie aus einer
vertraulichen Ausschusssitzung zitiert haben. Wenn Sie
schon aus dieser Sitzung zitieren, bitte ich Sie darum,
({0})
richtig zu zitieren, statt eine Lüge zu verbreiten. Denn
nichts anderes haben Sie getan.
({1})
Es gibt schließlich ein Ausschussprotokoll, in dem wir
das nachlesen können.
Ich habe mich - wie alle Kollegen in der Unionsfraktion - zu keinem Zeitpunkt für einen Krieg ausgesprochen, weder direkt noch indirekt. Denn wir wollen ebenso
wie jeder andere in diesem Hause den Frieden. Unterlassen Sie es bitte, Herr Minister, die Menschen in diesem
Hause und in unserem Lande in diejenigen einzuteilen, die
den Frieden wollen, und diejenigen, die den Krieg wollen!
Das vergiftet die Atmosphäre und ist zudem unwahr.
({2})
Was uns unterscheidet, ist, dass wir die Meinung vertreten, dass es militärischen Druckes bedarf, um die Arbeit der Inspektoren und die Entwaffnung, die auch Sie
als wichtiges Ziel ansehen, durchführen zu können. Militärischer Druck kann aber nicht erzeugt werden, wenn
von vornherein erklärt wird - wie es die Bundesregierung getan hat -: Alles ist denkbar, aber nicht, dass wir
militärisch vorgehen.
Wenn sich jedes Land so verhalten hätte, dann gäbe es
keinen militärischen Druck, keine Inspektoren und keine
Entwaffnung des Irak. Das ist der Widerspruch, auf den
ich in der Ausschusssitzung hingewiesen habe und den
Sie bis heute nicht aufgeklärt haben.
({3})
Was ich in der Tat kritisiert habe, ist die deutschfranzösisch-russische Initiative. Ich habe sie kritisiert,
weil sie eben keine klaren Ultimaten setzt, wie es uns
Herr Blix vorgemacht hat. Herr Blix hat einen Brief an
Saddam Hussein geschrieben, in dem er mitgeteilt hat,
dass die al-Samud-Raketen bis zum 1. März vernichtet
werden müssen. Es war ziemlich klar, dass andernfalls
der Sicherheitsrat militärisch vorgehen würde.
Diese Art von deutlichen Ultimaten und Zielvorgaben
gibt es in der deutsch-französisch-russischen Initiative
nicht, sondern sie erlaubt im Kern, dass Saddam Hussein
das alte Spiel fortsetzen kann. Ohne den Zeithorizont zu
begrenzen, gibt sie ihm die Möglichkeit, seine taktischen
Spiele fortzusetzen. Das machen wir nicht mit.
Es muss klar gemacht werden, dass die Inspektoren
eine Chance bekommen sollen. Aber darüber muss mit
unseren amerikanischen Partnern und mit den NATOPartnern gesprochen werden, statt mit China, Russland
und Frankreich innerhalb der Weltgemeinschaft Achsen
zu bilden, um gegen unsere amerikanischen Bündnispartner vorzugehen.
({4})
Darin unterscheiden wir uns in der Tat. Wir werden sehen, ob Sie mit Ihrer Politik wirklich einen Krieg verhindern oder ob es bei den schönen Friedensbekenntnissen
bleibt, Herr Minister. Mein Verdacht ist, dass Sie mit Ihrer Politik nicht sehr weit gekommen sind.
({5})
Sie klingt schön; aber sie sichert nicht den Frieden in unserem Land.
({6})
- Es geht zwar um den Frieden am Golf, Herr Fischer;
aber es geht auch um die Sicherheit hier bei uns. Neben
Ihnen sitzt Minister Schily, der deutlich sagt, dass es
auch bei uns große Risiken gibt.
Lassen Sie mich Ihnen versichern: Wenn wir nicht etwas für die Entwaffnung des Irak tun, dann bekommen
wir das große Problem, dass es irgendwann bei uns Terrorismus in Verbindung mit Massenvernichtungswaffen geben wird. Um das auszuschließen, müssen wir
Saddam gegenüber eine klare und deutliche Sprache
sprechen. Das hat nichts mit Kriegstreiberei zu tun. Lassen Sie bitte in Zukunft die Unterstellung gegenüber irgendjemandem in diesem Haus, dass er sich einen Krieg
wünschen würde! Ich will die friedliche Entwaffnung
des Irak. Darum geht es mir und meiner Fraktion.
({7})
Herr Kollege Hintze, ich darf noch einmal darauf hinweisen, dass Kurzinterventionen auf drei Minuten begrenzt sind.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir sind es von unserem Bundesaußenminister ja gewohnt, dass er zuweilen, um die parlamentarischen Debatten - ich möchte es freundlich formulieren - zu würzen, auf Unschärfen und manchmal leider auch auf
Unterstellungen zurückgreift. Heute hat er sich beider
Stilmittel bedient.
Erstens. Die Konferenz von Nizza - ich beginne mit
den Unschärfen - ist eindeutig gescheitert. Sie, Herr Minister, meinten sich daran zu erinnern, dass in Nizza der
Konvent beschlossen worden sei. Ich bitte Sie, das in
Ruhe zu überprüfen; denn der Konvent ist nicht in
Nizza, sondern in Laeken beschlossen worden. Richtig
ist, dass sich die Bundesregierung eine Initiative aus der
Mitte des Parlaments und des Europaausschusses zu Eigen gemacht hat. Das finden auch wir gut. Aber ich bitte
um der historischen Wahrheit willen, die Dinge richtig
darzustellen.
Zweitens. Sie haben auf den Vatikan und die Frage
abgehoben, ob der Anfang der zukünftigen europäischen
Verfassung einen Gottesbezug, also einen Hinweis auf
unsere Verantwortung vor Gott, enthalten soll. Vielleicht
können Sie uns einmal klar sagen, wie Sie dazu stehen.
Ich jedenfalls bin dafür. Die Europäische Volkspartei, in
der alle Christdemokraten zusammengeschlossen sind,
hat einen entsprechenden Antrag gestellt. Wenn auch Sie
als Konventsmitglied das unterstützen würden - so habe
ich Sie jedenfalls verstanden -, dann wäre das wenigstens ein kleiner Erfolg bzw. tätige Reue für die Unterstellungen, mit denen Sie aus taktischen Gründen die Opposition im Deutschen Bundestag überziehen.
Herr Bundesaußenminister, wissen Sie, was mir fast
die Sprache raubt? Sie stellen sich an das Rednerpult des
Deutschen Bundestages und freuen sich über die Erfolge
der Inspektionen. Woher kommen denn die Erfolge der
Inspektionen? Sie sind eindeutig und ausschließlich auf
die Tatsache zurückzuführen, dass der Diktator den realen Druck der militärischen Entschlossenheit spürt. Nur
deswegen ist er ein Stück weit zurückgewichen. Die
Frage lautet nun: Wird dieser Druck aufrechterhalten
oder wird er derartig unterminiert, dass am Ende des Inspektionsverfahrens der Diktator und mit ihm alle Schurken dieser Welt triumphieren können? Das ist der entscheidende Unterschied.
({0})
Da hilft es nichts, dass Sie sich öffentlich über den
Kollegen Pflüger aufregen. Sie behaupten, er breche die
Vertraulichkeit, und gleichzeitig legen Sie vor dem Deutschen Bundestag dar - das finde ich pikant -, was er - angeblich - in nicht öffentlicher Sitzung gesagt hat. Wenn
Sie so etwas machen, dann wäre es zumindest wünschenswert, dass Sie ihn richtig zitieren würden. Aber das
alles hilft überhaupt nichts; denn die entscheidende Frage
ist, ob sich die Völkergemeinschaft das Instrument erhält,
Diktatoren in den Arm zu fallen, oder nicht. Hier ist die
Bundesregierung gefordert, nicht dem Land in den Arm
zu fallen, das als einziges in der Lage ist, dem Völkerrecht Geltung zu verschaffen.
({1})
Herr Minister, bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Pflüger,
ich habe Ihnen das schon in der damaligen Ausschusssitzung entgegengehalten. Ich habe nichts zurückzunehmen. Gleichwohl habe ich Sie nicht als Kriegstreiber bezeichnet. Diesen Begriff haben Sie gerade selber in die
Debatte eingeführt und zurückgewiesen. Einen solchen
Begriff habe ich Ihnen gegenüber nicht verwendet.
Ich möchte noch ein paar andere Dinge richtig stellen.
Das deutsch-französische Memorandum scheinen Sie
überhaupt nicht oder nur schlecht gelesen zu haben;
denn genau dort beziehen wir uns auf das Arbeitsprogramm, das Herr Blix entsprechend der Resolution 1284
vorlegen soll und in dem er detailliert die einzelnen
Schritte, versehen mit Benchmarks oder, wo es möglich
ist, mit einem so genannten Zeitfaktor, exakt beschreiben
soll, so wie es bei den al-Samud-Raketen bereits geschehen ist.
({0})
- Ich habe Ihnen zugehört und jetzt hören Sie mir bitte
auch zu. - Genau das wird im deutsch-französischen
Memorandum gefordert, ja noch mehr: Deutschland und
Frankreich sind in einer Sicherheitsratssitzung aktiv geworden und haben verlangt, dass dieses Arbeitsprogramm vorgezogen wird. Mittlerweile wird es präsentiert. Ob das zeitlich noch reicht, ist eine andere Frage.
Aber es waren nicht Deutschland und Frankreich, sondern
andere Länder, die sich in dieser Sitzung energisch gegen das Vorziehen des Arbeitsprogramms ausgesprochen
haben. Die Behauptung, dass das deutsch-französische
Memorandum keine verbindlichen Zeitfaktoren enthalte,
ist also völliger Unsinn. Der französische Präsident hat
bei seinem Besuch in Berlin anlässlich des BlaesheimTreffens auf einer Pressekonferenz genau darauf noch
einmal hingewiesen.
Nun komme ich zu der von Ihnen und auch von Ihnen, Herr Hintze, hergestellten Verbindung zwischen
Terrorismusbekämpfung und dem Irak. Das ist mein
grundsätzliches Problem. Wenn es nach mir gegangen
wäre, hätte ich nach dem 11. September - dafür habe ich
bei der amerikanischen Seite immer geworben - eine andere Tagesordnung aufgestellt. Es gab keine Alternative
zu unserem Einsatz in Afghanistan. Deshalb sind wir
mit großer Entschlossenheit gemeinsam an der Seite
unseres durch die verbrecherischen Attentate angegriffenen wichtigsten Bündnispartners außerhalb Europas
in den Einsatz gegangen. Wir haben heute über
2 000 Bundeswehrsoldaten in Afghanistan. Wir haben
Sondereinheiten im Rahmen von Enduring Freedom in
Kuwait und am Horn von Afrika.
Ich habe aber schon damals gesagt, dass ich keinen
Zusammenhang zum Irak sehe und dass ich auch keine
Appeasement-Politik im Irak sehe, sondern Containment-Politik, die wirkt. Ich habe gesagt, dass Saddam
ein schlimmer Diktator ist, dass ich aber an die zweite
Stelle die Lösung der Regionalkonflikte setzen würde,
vor allem die des Nahostkonflikts. Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir den Irakkonflikt nicht als Nummer eins auf die Tagesordnung gesetzt, jetzt nicht und so
nicht. Das haben wir den amerikanischen Partnern aus
den Gründen, die ich vorher genannt habe, und auch einigen anderen immer gesagt. Aber es gibt die Resolution
1441, es gibt die Entscheidungen, es gibt den Druck.
Angesichts dieses Drucks muss ich fragen: Gibt es
tatsächlich eine Verbindung zwischen den Anschlägen
vom 11. September und dem Irak? Kollege Pflüger hat
gerade wieder gesagt, der Terror könnte kommen. Mit
diesem Ansatz habe ich ein Problem. Wenn wir nicht
mehr eine konkrete Bedrohung haben, sondern die abstrakte Vermutung, es könnte eines Tages eine Bedrohung
kommen, und diese Vermutung als Grund für einen präventiven Militärschlag nehmen,
({1})
dann bekommen wir bei der Frage einer zukünftigen Weltordnung - ich formuliere das jetzt sehr diplomatisch - ein
schlichtes Balanceproblem. Wir bekommen auch ein völkerrechtliches Problem. Das wissen Sie nur zu gut.
({2})
- Doch. Deswegen, sage ich Ihnen, ist die Verbindung zu
den Anschlägen vom 11. September schon eine entscheidende Frage.
Die Begründungen wechseln auch. Zuerst hatten wir
die Begründung durch den 11. September, dann die Begründung, dass eine nukleare Aufrüstung droht. Es
würde mich nicht wundern, wenn auch Sie dies im Spätsommer mit vertreten hätten. Dann kam die Begründung
mit den biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen. Jetzt geht es um die Frage der humanitären
Intervention, um einen furchtbaren Diktator von der
Macht zu entfernen.
Das sind wechselnde Begründungen. Ich kann Ihnen
nur sagen: Vor diesem Hintergrund ist unsere Skepsis
eher größer als kleiner geworden.
({3})
Sie sagen: Alle Schurken dieser Welt triumphieren.
Was ist denn die Botschaft einer Politik, die in Nordkorea auf Verhandlungen setzt - was ich richtig finde; damit Sie mich nicht missverstehen -, die dies aber vor
dem Hintergrund tut, dass dort möglicherweise schon
Nuklearwaffen vorhanden sind? Umgekehrt wurde im
Falle von Saddam, bei dem keine Verbindungen zu den
Anschlägen vom 11. September bestehen, der aber ein
furchtbarer Diktator ist, eine Containment-Politik gemacht. Warum gibt es denn seit Jahren die kurdische Autonomie? Ich habe mich dafür eingesetzt und bekam dafür teilweise Prügel. Es hat die Flugverbotszonen
gegeben. Ich habe mich immer dafür eingesetzt. Sie kennen nur zu gut die Botschaft, die mit einer solchen Politik signalisiert wird. Sie teilen diese Sorgen, wie ich aus
Gesprächen mit Einzelnen weiß. Die Botschaft kann
sein: Hast du eine Nuklearwaffe, dann wird verhandelt;
hast du sie nicht, dann wird nicht verhandelt. Wenn das
die Botschaft ist, dann, fürchte ich, bekommen wir auf
mittlere Sicht ein ganz anderes Problem. Denn diese
Botschaft wird von den Schurken dieser Welt, die Sie,
Herr Hintze, zu Recht benannt haben, dann verstanden
werden, mit all den großen Proliferationsrisiken.
({4})
Deswegen ist für mich - das besagt auch die UNCharta - die entscheidende Frage die Proportionalität,
die Verhältnismäßigkeit. Sind alle nichtmilitärischen
Mittel erschöpft? Es tut mir Leid, aber nach dem, was ich
in den Sitzungen in New York höre - ich erinnere insbesondere an die beiden letzten Berichte von al-Baradei
und Blix, den Inspektoren -, muss ich sagen: Es ist
meine feste persönliche Überzeugung, dass wir jetzt die
Chance hätten, wirklich eine weitgehende Abrüstung des
Irak mit diesen Instrumenten der Inspektoren zu erreichen, wenn wir genügend Zeit bekommen.
({5})
Genau das versuchen wir zu machen. Das hat doch
nichts mit Allianzbildung oder Ähnlichem zu tun. Für
mich ist die nordatlantische Allianz unverzichtbar. Aber
sie ist eine Allianz freier Demokratien. Wir haben gerade
auch von den USA gelernt, dass eine Demokratie im
Diskutieren und im Widerspruch besteht. Das ist für
mich ein ganz wesentlicher Punkt.
({6})
In einer Allianz freier Demokratien wird es Widersprüche geben. Es kommt nicht nur auf das Wie an, sondern
aus meiner Sicht kommt es vor allem auf die Substanz
an. Wenn ich von einem Krieg als letztem Mittel nicht
überzeugt bin, dann werde ich auch in Zukunft widersprechen. Das habe ich unter anderem von den USA und
ihrem Demokratieverständnis gelernt, Kollege Pflüger.
({7})
So werde ich es auch in Zukunft handhaben.
Wenn Russland und China heute aufseiten der USA
und Großbritanniens stünden, dann spräche man nicht
von einer neuen Achse, sondern dann würde man deren
Unterstützung selbstverständlich gerne annehmen, weil
man damit eine Mehrheit im Sicherheitsrat hätte.
Ich halte den möglichen Krieg gegen den Irak angesichts der - nicht änderbaren - geopolitischen Lage in
Bezug auf die Folgewirkungen für uns alle für hochriskant. Andere sind nicht mehr unmittelbar betroffen,
wenn sie ihre Truppen aus der Region abgezogen haben.
Wir können Europas geopolitische Lage nicht ändern.
Der Nahe Osten wird nämlich immer unser Nachbar
sein und dadurch werden die Probleme, die dort existieren, immer unsere Probleme - ich denke dabei insbesondere an unsere Sicherheit - sein.
Da ich mir all dessen bewusst bin und gleichzeitig
eine bestimmte Entscheidung nicht mittragen kann, weil
ich der Meinung bin, die Risiken seien zu groß und die
nicht militärischen Mittel seien noch nicht erschöpft,
entspricht es meinem Verständnis von einer Allianz
freier Demokratien, dass man das, was man meint, auch
so sagt, und zwar in der gebotenen Klarheit. Genau das
haben wir getan und das werden wir auch in Zukunft tun.
({8})
Wegen der besonderen Wichtigkeit dieses Themas bin
ich sowohl bei den Fragen als auch bei der Antwort mit
unseren Regelungen in der Geschäftsordnung sehr großzügig umgegangen. Ich weise nur darauf hin, dass ich
nicht die Absicht habe, das in der gesamten Debatte so
zu handhaben.
({0})
Als nächste Rednerin in dieser Debatte hat nun die
Frau Kollegin Dr. Winterstein für die FDP-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte in dieser Debatte zum Thema europäische Verfassung zurückkehren.
({0})
Wir alle im Plenum wissen, wie wichtig die Europäische Union für uns als europäische Bürger ist. Die EU
hat in vielen Lebensbereichen einen direkten Einfluss
auf die Unionsbürger. Ich sehe es als unsere Aufgabe,
also als die Aufgabe der Politiker, an, den Bürgerinnen
und Bürgern dies positiv zu vermitteln.
({1})
Wir müssen erreichen, dass sich die Bürgerinnen und
Bürger der erweiterten Europäischen Union stärker mit
dem gemeinsamen Rahmen identifizieren und die Institutionen in Brüssel nicht als fern und abgehoben beurteilen.
Mit dem Entwurf für eine neue Europäische Verfassung werden die Staaten Europas erstmals ihre gemeinsamen Wertvorstellungen in einem Dokument zusammenfassen und entsprechend verankern. Die neue
erweiterte Union braucht jetzt dringend neue Strukturen,
um damit auch ihre zukünftigen Aufgaben meistern zu
können.
({2})
Auf den Punkt gebracht: Die neue Verfassung muss
mehr Bürgernähe, mehr Transparenz sowie mehr demokratische Legitimationen schaffen und natürlich die
Handlungsfähigkeit der Institutionen sicherstellen. Wir
von der FDP legen heute einen detaillierten Antrag vor,
in dem wir aufzeigen, wie diese Ziele zu erreichen sind
und wie eine europäische Politik gestärkt werden kann.
Ich will einige wichtige Punkte herausgreifen:
Ein ganz entscheidender Bestandteil der künftigen europäischen Verfassung muss die Grundrechtecharta
sein.
({3})
Diese Grundrechtecharta ist aus unserer Sicht so fundamental wichtig, dass sie nicht in einen Anhang verbannt
werden darf, sondern selbstverständlich im vorderen Teil
der Verfassung der EU verankert werden muss.
({4})
Der Bürger muss seine verbürgten Grundrechte gerichtlich durchsetzen können.
({5})
Wir wollen das Europäische Parlament deutlich stärken. Wir schlagen deshalb vor, dass der Präsident der
Europäischen Kommission künftig vom Europäischen
Parlament gewählt wird und natürlich auch abgewählt
werden kann. Dies ist ein wichtiger Schritt, um das bestehende Demokratiedefizit zu beseitigen.
({6})
Wir schlagen weiterhin vor, dem Europäischen Parlament künftig das Recht zu geben, Legislativvorschläge zu
unterbreiten, und damit das bisher bestehende Monopol der
Kommission zu beenden. Zur notwendigen Stärkung des
Parlaments gehört auch, das Mitentscheidungsrecht auf
alle europäischen Rechtsetzungsbereiche auszudehnen.
Wir wollen die Größe der Kommission auf maximal
15 Kommissare begrenzen und uns hierbei an der Zahl
der Geschäftsbereiche orientieren. Nur ein schlanker Zuschnitt sichert die Handlungsfähigkeit der Kommission
in einer so erweiterten Union.
({7})
Wenn Sie nun fragen, wie bei 15 Kommissaren die
Beteiligung aller Nationalitäten gesichert werden soll,
dann sage ich Ihnen: Wir müssen weg vom Nationalitätenproporz. Bei der Auswahl der Kommissare soll nicht
die Nationalität, sondern die Kompetenz entscheidend
sein.
({8})
Für die Handlungsfähigkeit des Europäischen Rates
und der Ministerräte ist es notwendig, das Einstimmigkeitsprinzip abzuschaffen. Künftig muss in allen EU-Politikbereichen, außer bei Verfassungs- und Verteidigungsfragen, mit Mehrheit oder qualifizierter Mehrheit
entschieden werden können. Dabei muss sichergestellt
sein, dass die Stimmenmehrheit die Mehrheit der Unionsbürger repräsentiert.
Wir brauchen eine klare Abgrenzung der Kompetenzen zwischen EU und Mitgliedstaaten.
({9})
Die Aufteilung in ausschließliche, geteilte und unterstützende Zuständigkeiten halten wir für sinnvoll.
Unser Antrag enthält eine, wie ich finde, sehr wichtige Klarstellung: Die Formulierung von Zielen der
Union begründet allein noch keine Zuständigkeit der EU
im jeweiligen Bereich.
Abschließend: Ganz besonders wichtig ist das Subsidiaritätsprinzip.
({10})
Die EU soll im Rahmen der ihr zugewiesenen Kompetenzen nur das regeln, was regional und national nicht
ebenso gut oder vielleicht sogar besser geregelt werden
kann. Wir unterstützen von daher den Vorschlag, für die
Parlamente der Mitgliedstaaten eine frühzeitige Einspruchsmöglichkeit und bei Nichtberücksichtigung eine
Klagemöglichkeit zu schaffen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, nochmals:
Es kommt darauf an, der Europäischen Union für diese
Erweiterung eine gemeinsame Verfassung zu geben, die
ein demokratisches, transparentes und bürgernahes Europa schafft. Die Parlamente der Mitgliedstaaten sind
jetzt aufgefordert, ihre konkreten Vorschläge zu unterbreiten. Die FDP legt mit diesem Antrag ihren Beitrag
vor.
Danke.
({11})
Frau Kollegin Winterstein, zu Ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag darf ich Ihnen herzlich gratulieren,
verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit.
({0})
Das Wort hat nun der Staatsminister Martin Bury.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein
starkes vereintes Europa als gleichberechtigter Partner
der Vereinigten Staaten von Amerika, so stellte sich John
F. Kennedy die Fortentwicklung der europäischen Integration vor. Seine Vision einer Partnerschaft zwischen
dem neuen, auf Integrationskurs befindlichen Europa
und den USA brachte er 1962 in Philadelphia, dem Ursprungsort der amerikanischen Verfassung, in einer Rede
zum Ausdruck, in der er gleichzeitig die Bedeutung der
Verfassung für das Entstehen eines geeinten, starken
Amerika unterstrich.
Heute steht Europa kurz davor, sich selbst eine Verfassung zu geben, eine Verfassung, die Europa stärker
und handlungsfähiger machen wird. Nur so hat die Europäische Union eine Chance, zu einem wirklichen Partner
der USA bei der Wahrnehmung globaler Verantwortung zu werden, der in diese Partnerschaft seine eigenen,
spezifischen Erfahrungen einbringt. Kernelemente dieser
spezifisch europäischen Erfahrung sind das Leid durch
Krieg im eigenen Land, aber auch der friedliche Interessenausgleich, zu dem Deutschland und Frankreich vor
50 Jahren gefunden haben. Beide Seiten haben hiervon
profitiert und eine beispiellos erfolgreiche Entwicklung
in Gang gesetzt.
({0})
Deutschland und Frankreich haben dabei von Anfang
an nicht den Fehler begangen, sich ausschließlich auf
ihre Zusammenarbeit zu konzentrieren. Sie wurden zum
Motor der europäischen Integration. Es gilt bis heute:
Ohne deutsch-französische Kooperation im Vorfeld
der Erweiterung oder im Konvent wären Fortschritte in
Europa kaum denkbar. Der Erfolg deutsch-französischer
Gemeinschaftsinitiativen beruht dabei nicht auf Dominanz, sondern auf der Fähigkeit zu Kompromissen.
In vielen Einzelfragen liegen die Ausgangspositionen
Deutschlands und Frankreichs auch heute noch weit auseinander. So war es bei der Frage einer Begrenzung der
Agrarausgaben im Zusammenhang mit der Erweiterung
oder bei der Konventsinitiative zur institutionellen Reform der EU. Unsere gemeinsame Stärke besteht gerade
darin, aus unterschiedlichen Ausgangspositionen gemeinsame Vorschläge zu entwickeln, die geeignet sind,
auch die anderen Partner in der EU zu gewinnen.
({1})
Mit der Erweiterung entsteht ein größeres Europa.
Der Konvent muss die Voraussetzungen dafür schaffen,
dass die erweiterte Europäische Union handlungsfähig,
bürgernah und demokratisch wird. Die Erweiterung
zwingt uns dazu, längst überfällige Reformen endlich in
Angriff zu nehmen. Kompromisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner können wir uns bei bald 25 und mehr
Mitgliedstaaten nicht mehr leisten.
Es ist gerade in Europa nicht außergewöhnlich, dass der
Problemdruck den notwendigen Fortschritt beschleunigt
oder erst ermöglicht. Wir sind uns einig, dass am Ende
der Arbeit des Konvents ein Verfassungsentwurf stehen
muss, der erstmals einen einheitlichen Rahmen für das
Handeln der europäischen Institutionen schafft.
Für uns ist besonders wichtig, dass Europa bürgernäher wird. Deshalb ist das Subsidiaritätsprinzip und seine
Durchsetzung in der europäischen Praxis von großer Bedeutung. Wir begrüßen Vorschläge für entsprechende
Frühwarnmechanismen, halten jedoch darüber hinaus
ein Klagerecht der nationalen Parlamente, und zwar beider Kammern, das heißt in Deutschland des Deutschen
Bundestages und des Bundesrates, unabhängig voneinander, für unverzichtbar. Wir wollen die Rechtsinstrumente vereinfachen und klare Kompetenzregelungen
vereinbaren. Jeder soll nachvollziehen können, wer in
der Union für was zuständig ist.
Doch eine Verfassung ist mehr als eine Beschreibung
von Institutionen und Verfahren. Wir wollen, dass sich
die Bürgerinnen und Bürger Europas mit der neuen Europäischen Union identifizieren können. Deshalb setzen
wir uns auch für die Aufnahme der Grundrechtecharta in
die europäische Verfassung ein, und zwar an prominenter Stelle. Ich freue mich, dass die entsprechende Initiative der Bundesregierung nicht nur die Unterstützung aller deutschen Konventsvertreter, sondern auch die
Unterstützung von über 100 Mitgliedern des Verfassungskonvents gefunden hat.
({2})
Das ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil
die Europäische Union nicht nur eine Union der Staaten
und Völker, sondern zugleich eine Union der Bürgerinnen und Bürger ist. Das muss auch in der neuen Verfassung entsprechend zum Ausdruck kommen.
Für die Akzeptanz europäischer Institutionen ist nicht
zuletzt deren Handlungsfähigkeit von Bedeutung. Der
deutsch-französische Vorschlag zur Fortentwicklung der
europäischen Institutionen stärkt Parlament, Kommission und Rat und damit die Europäische Union insgesamt. Die größte Herausforderung - das erfahren wir
nicht zuletzt in der aktuellen weltpolitischen Debatte und
das prägt auch die heutige Debatte des Bundestages - ist
die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der
EU. Diese Debatte berührt selbstverständlich auch die
Arbeit des Konvents; er ist kein Elfenbeinturm.
Eine Verfassung ist jedoch mehr als eine Antwort auf
tagespolitische Fragen. Wir bauen den Rahmen, in dem
sich in Zukunft gemeinsame europäische Willensbildung
vollziehen kann und soll. Das setzt entsprechenden Willen voraus - keine Frage -, aber auch geeignete Institutionen und Verfahren.
Unser Vorschlag, die Schaffung eines europäischen
Außenministers, würde Europa in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ein Gesicht geben. Noch
wichtiger ist für mich die Perspektive, in Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden, damit die EU auch mit
einer Stimme sprechen kann.
In der Bevölkerung gibt es gerade in der Irakfrage
schon heute über alle nationalen Grenzen hinweg ein gemeinsames europäisches Bewusstsein. Es ist die Verantwortung der politischen Akteure, auch in der Opposition,
das entsprechende europäische Selbstbewusstsein an den
Tag zu legen, ein Selbstbewusstsein, das auf Partnerschaft setzt, aber Ergebenheitsadressen nicht nötig hat.
({3})
Meine Damen und Herren, zur Weiterentwicklung der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gehört für
mich auch die Perspektive einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion. Die EU der 15 gibt im
Vergleich zu den USA etwa 50 Prozent der Mittel für militärische Aufgaben aus; aber unsere militärischen Fähigkeiten liegen weit unterhalb dieser Marke. Deshalb
müssen wir unsere Fähigkeiten und Ressourcen bündeln,
stärker kooperieren und unsere Bedarfsplanung harmonisieren.
Da sich auf absehbare Zeit nicht alle Mitgliedstaaten
an einer ESVU beteiligen können oder wollen, sollten
wir das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit nutzen, um dieses Schlüsselprojekt für den europäischen Integrationsprozess voranzubringen.
Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
ist keine Konkurrenz zur NATO, erst recht keine Alternative, sondern eine unverzichtbare Stärkung der transatlantischen Partnerschaft.
Auch das hatte John F. Kennedy bereits angepeilt: eine
NATO, die auf zwei starken Pfeilern, einem amerikanischen und einem europäischen Pfeiler, steht.
Wir sind im Konvent - ohne Frage - weit gekommen,
weiter, als manche Skeptiker vermutet haben. Aber noch
ist nicht völlig sicher, ob das größere Europa wirklich
mehr sein wird als eine erweiterte Freihandelszone. Für
uns in Deutschland war die EU stets mehr als nur ein
Markt, nämlich eine Gemeinschaft mit gemeinsamen
Werten und Zielen. Lassen Sie uns weiterhin gemeinsam
daran arbeiten, diese Werte und Ziele in der europäischen Verfassung zu verankern und die institutionellen
Voraussetzungen zu schaffen, um diesen Werten und
Zielen Geltung zu verschaffen - in Europa und darüber
hinaus.
({4})
Wir haben die historische Chance, die Teilung unseres
Kontinents zu überwinden und ein Europa der Freiheit,
des Friedens und des Zusammenhalts zu schaffen. Lassen Sie uns diese Chance nutzen!
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Rupprecht,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir
Junge in Europa, die heute 20- bis 30-Jährigen, erleben
Europa anders als die Nachkriegsgeneration. Wir fragen
primär nach den Chancen, die uns Europa bietet. Wir
wollen in einem starken und handlungsfähigen Europa
leben, einem Europa der Vielfalt und der Regionen.
Aber zwischen diesem europäischen Traum - er ist
auch mein Traum - und der politischen Wirklichkeit in
Europa wird die Kluft größer. Deutschland war früher
die treibende Kraft für die Gemeinschaft. Heute spaltet
es Europa; ein Riss geht quer durch Europa.
({0})
Es ist doch traurig, dass trotz aller Dramen, die sich auf
der Welt abspielen, die gemeinsame Außenpolitik völlig
verloren geht.
Das großartige Deutschland, jahrzehntelang der wirtschaftliche Motor in Europa, ist heute ein Sanierungsfall.
({1})
100 000 gut ausgebildete junge Leistungsträger verlassen Deutschland jedes Jahr, weil sie bei uns keine Zukunft sehen.
({2})
Der Kanzler sagt, dass das neue große Europa möglichst
niemandem Angst machen solle.
({3})
Reden Sie doch einmal mit den Menschen! 61 Prozent
der Menschen in Deutschland haben Angst vor der Osterweiterung.
({4})
Trotz oder gerade weil ich von der europäischen Idee
begeistert bin, hinterfrage ich, ob der europäische Zug
auf dem richtigen Gleis steht und ob er in die richtige
Richtung fährt. Ich frage Sie: Schafft der Verfassungsvertrag handlungsfähige Institutionen? Bringt er eine
Klärung der Kompetenzen zwischen Brüssel, Berlin und
den Regionen Katalonien oder Bayern? Vor allem:
Bringt er, wo nötig, eine Rückverlagerung der Kompetenzen?
Mal ehrlich: Innerlich haben viele von uns bereits zugestimmt - man macht es halt so; Europa ist eben gut
und toll -, ohne zu wissen, was im Verfassungsvertrag
stehen wird. Ich denke aber, dass der Verfassungsvertrag
die Zustimmung auch wert sein muss. Ob er es ist, werden wir dann sehen, wenn er vorliegt. Ein Ja und Amen
zu allem kann und darf es nicht geben.
({5})
Es ist doch kaum zu ertragen, wie sich Landesparlamente und der Bundestag in den vergangenen Jahren
schleichend selbst entmachtet haben. Zeitlich verzögert
winken wir die Sammellisten durch und winken ab. Wir
brauchen handlungsfähige Parlamente in Deutschland.
Ich hoffe, dass der Verfassungsvertrag hier eine Besserung bringt.
Kommen wir zur Osterweiterung. Die Wiedervereinigung Europas ist ein großartiger Prozess, großartig
auch für Deutschland. Aber die Osterweiterung ohne
Vollzug der institutionellen Reformen und ohne Klärung
der Kompetenzen zu beschließen ist zumindest riskant.
Wir machen den zweiten Schritt vor dem ersten, weil
man sich in Nizza nicht fähig gezeigt hat.
Es wird auch Verlierer geben, die wir auffangen müssen. Osteuropa muss aufgebaut werden - keine Frage.
Diese Gelder werden aber bei uns fehlen. Auch das ist
keine Frage. Was passiert in Ostdeutschland? Über
Nacht soll die europäische Förderung wegfallen. Ein nationaler Ausgleich ist - zumindest bisher - nicht gewährleistet. Wie soll es weitergehen? Die Betroffenen wollen
das wissen.
({6})
Ostbayern, meine Oberpfälzer Heimat, wird im Vergleich zu unserem tschechischen Nachbarn das höchste
Fördergefälle der Welt verkraften müssen. Das bricht
Strukturen und verursacht Verwerfungen. Trotz aller
Freundschaft verstehen die Menschen das nicht.
({7})
Der Kanzler machte in der Weidener Erklärung den
Menschen Hoffnung; der damalige Fraktionsvorsitzende Ludwig Stiegler versprach seinerzeit, ein geschlossenes Grenzgürtelprogramm aufzulegen. Sehr geehrte Damen und Herren, die Menschen warten noch
heute. Es wurde versprochen und es wurde gebrochen.
Europa wird nur dann erfolgreich sein, wenn es ein
Europa der Regionen wird - davon bin ich zutiefst
überzeugt -, ein Europa der Vielfalt mit seinen faszinierenden kulturellen Unterschieden, Sprachen und Traditionen. Bauen wir in Europa auf Dezentralität und Vielfalt, wie es erfolgreiche Länder, aber auch Unternehmen
tun. Nehmen wir uns erfolgreiche Regionen zum Vorbild: Regionen in Irland, in Kalifornien, in Asien und
immer mehr in Mittel- und Osteuropa. Dort wird die regionale Kraft, das regionale Können unterstützt und
Großartiges aufgebaut. Dort entstehen boomende und
ausstrahlende Kerne. Aber dazu brauchen unsere Regionen Handlungskompetenz; sie hatten diese Kompetenz
früher mehr als heute. Wir brauchen eine Neuverteilung
der Kompetenzen, eine dezentralere Strukturpolitik
ebenso wie eine dezentralere Agrarpolitik, wir brauchen
ein vernünftiges Maß. Das wäre modern und erfolgreich.
Das wäre ein wichtiger Schritt auch für ein boomendes
Europa.
Ein Letztes: Als junger Europäer und Christ wünsche
ich mir ein menschliches Europa. Das muss auch für
Vertriebene gelten. Sie haben unsägliches Leid erfahren;
Menschen sind zutiefst in ihrer Seele verletzt worden.
Die Vertriebenen erwarten zu Recht eine Distanzierung
von dem Unrecht, das ihnen widerfahren ist.
({8})
Albert Rupprecht ({9})
Es ist die Pflicht der Bundesregierung, mit allem Nachdruck hierauf zu drängen.
Die Wiedervereinigung Deutschlands war und ist für
uns eine gemeinsame Aufgabe. Damals gab es mit Helmut
Kohl eine klare nationale und europäische Führungspersönlichkeit. Herr Schröder stellte sich im Bundestag in die Stiefel von Willy Brandt und sagte zur Osterweiterung: „Es
wächst zusammen, was zusammengehört.“ Nur acht Wochen nach diesem Satz stehen wir in Europa vor einem
Scherbenhaufen. Was ist das für eine Weitsicht, was ist
das für eine politische Führung?
({10})
Sehr geehrte Damen und Herren, wir brauchen in
Deutschland und in Europa klare Führung statt Beliebigkeit.
Herzlichen Dank.
({11})
Herr Kollege Rupprecht, ich gratuliere auch Ihnen
herzlich zu Ihrer ersten Rede im Plenum des Deutschen
Bundestages und verbinde dies mit allen guten Wünschen für Ihre weitere Arbeit.
({0})
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Axel Schäfer
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Europa ist
auf einem guten Weg zur Verfassung. Lassen Sie es mich
in einem Bild darstellen: Der europäische Zug rollt rascher und rascher in Richtung Integration. Seit 1951 haben wir die Lokomotive mehrfach generalüberholt: vom
kohlegefüllten Stahltender der Montanunion über die
Diesellok der Wirtschaftsgemeinschaft bis hin zur E-Lok
des Binnenmarktes. Heute sitzen wir im Hochgeschwindigkeitszug nach Brüssel. Statt wie früher nur sechs
Waggons bewegen wir künftig 25 oder 30. Mit neuen Instrumenten passen wir die alten europäischen Gleise an
das rasante Tempo an; die Ära der Bummelzüge ist vorbei. Nur mit starken, schnellen Zügen wie ICE, TGV,
Thalys und Eurostar kann die EU beim Wettbewerb mithalten. Es bleibt keine Zeit mehr, anzuhalten und zu verschnaufen. Wir müssen der europäischen Lokomotive in
voller Fahrt die Räder wechseln.
({0})
Mit dem EU-Verfassungskonvent und der zeitgleichen historischen Erweiterung um zunächst zehn Länder
bringen wir unseren Kontinent nahe an das heran, was
einmal die Vereinigten Staaten von Europa sein werden.
Für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist dies
Grundbestandteil ihrer geschichtlichen Identität. Unsere
Forderung nach deutscher Einheit als Anfang eines solidarischen europäischen Staates datiert aus dem Jahr
1866 und war im ersten Wahlprogramm des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu finden. Heute ist das
fast Wirklichkeit.
Weitestgehend erfüllt ist auch das Vermächtnis jener
politischen Häftlinge im KZ Buchenwald aus 13 Ländern und dem gesamten Spektrum der demokratischen
Linken. Sie mahnten nach der glücklichen Befreiung
durch US-Soldaten im Jahr 1945, Europas kulturelle
Mission in der Welt zu erneuern. Die erste Voraussetzung dafür sahen sie in der deutsch-französischen und in
der deutsch-polnischen Verständigung. Auf diese Tradition sind wir stolz - und das zu Recht.
({1})
Sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik
Deutschland, Willy Brandt, Helmut Schmidt und
Gerhard Schröder, haben, jeder zu seiner Zeit, dazu
Wegweisendes geleistet. Die besonderen Verdienste von
christdemokratischen Regierungschefs wie Konrad
Adenauer und Helmut Kohl um Europa möchte ich an
dieser Stelle ausdrücklich einbeziehen.
Eine EU-Verfassung des Jahres 2003 ist allerdings
nur möglich, weil die deutsche Ratspräsidentschaft 1999
ein Erfolg war, weil diese Bundesregierung mit dem
Konvent zur Grundrechtecharta den Integrationsprozess
vom Kopf auf die Füße gestellt hat und weil SPD und
Grüne die öffentliche Debatte der Bürgerinnen und Bürger sowie der Parlamentarierinnen und Parlamentarier an
die Stelle von Geheimdiplomatie von Regierungsvertretern und Beamten gesetzt hat.
({2})
Der seinerzeitige Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Kollege Schäuble, hat den damaligen EU-Gipfel, an
dem ich als Mitglied des Europäischen Parlaments als
Gast teilnehmen konnte, für gescheitert erklärt - trotz
der Erfolge im Kosovo, trotz des EU-Konvents, den wir
auf den Weg gebracht hatten. Die Geschichte ist darüber
hinweggegangen und hat unsere Position bestätigt.
Diese europäische Konstitution wird bestimmt ein
Modell ohne Beispiel; sie ist aber nicht ohne Vorbilder.
Gerade bei der Geburt einer Verfassung heute ist es
wichtig, an „The Birth of a Nation“ von 1776 bis 1787
zu erinnern. Damals schufen sich Menschen aus der alten Welt in Amerika eine neue. Heute bilden in Europa
alte Staaten ein neues Gemeinwesen. Genau darin sehen
viele jenseits des Atlantiks heute ein Vorbild für regionale Zusammenschlüsse - Stichwort NAFTA.
Die amerikanische Verfassung beginnt mit den Worten „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen“. In der
europäischen Verfassung beginnen wir fast gleichlautend
mit dem Wunsch der Völker und Staaten Europas, ihre
Zukunft gemeinsam zu gestalten.
Gerade weil Europa und die USA so vieles an Überzeugungen und Grundsatzfragen verbindet, können wir
unterschiedliche Positionen im Einzelfall austragen und
aushandeln. Ein Blick auf den Bericht des Europäischen
Axel Schäfer ({3})
Parlaments 2002 zu den transatlantischen Beziehungen
zeigt 64 Punkte, bei denen es in der Politik Meinungsverschiedenheiten gibt. Von der Irakfrage war damals
überhaupt nicht die Rede. Gerade dabei kommt es auf
gleiche Augenhöhe und zuweilen auch auf Tapferkeit
vor dem Freund an.
({4})
Der europäische Verfassungskonvent bedeutet in stürmischen Zeiten zugleich eine klare Akzentuierung unseres Profils. Ortega y Gasset hat vor fast 50 Jahren festgestellt: In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem
den Deutschen, Spanier, Franzosen und vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut. - Wer
heute die Selbstbehauptung Europas will, braucht Selbstbewusstsein und Selbstachtung. Aus gemeinsamen Werten muss gemeinsames Handeln erwachsen. Deshalb ist
diese Verfassung auch die allgemeine Antwort auf eine
konkrete Frage, die der Irakkonflikt stellt. Sie lautet: Ist
das vereinte Europa mehr als die Summe seiner Teile
oder fliehen wir in Zeiten, in denen die fortschreitende
Globalisierung harte Fakten schafft, zurück in den weichen Schein von Renationalisierung? Nur Zusammenarbeit oder doch Zusammenschluss?
Jawohl, Europa braucht Mut und wir brauchen Mut zu
Europa. Mit dem EU-Konvent verbinden wir einen kritischen, einen kreativen und einen offenen gesellschaftlichen Dialog. Denn eine Verfassung wird für Menschen
gemacht. Sie müssen sich darin wiederfinden. Sie muss
klare Orientierungen, eindeutige Formulierungen und
auch Hoffnungen enthalten - im blochschen Sinne: „Ins
Gelingen verliebt“.
Für uns gilt: Europa ist der Weg und das Ziel; der
Frieden ist das Mittel und der Zweck. Deshalb bringen
wir Deutsche in die künftige EU-Verfassung unsere
Staatsräson vor dem Hintergrund der Präambel des
Grundgesetzes ein. Wir wollen als gleichberechtigtes
Land in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt
dienen.
Glück auf!
({5})
Herr Kollege Schäfer, als früheres Mitglied des Europäischen Parlaments war das selbstverständlich nicht
Ihre erste parlamentarische Rede. Aber dies war Ihre
erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich herzlich
gratuliere,
({0})
verbunden mit allen guten Wünschen für die Fortsetzung
Ihrer langjährigen Arbeit an dem gemeinsamen großen
Thema Europa.
Nun erteile ich dem Kollegen Andreas Schockenhoff
für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! In dem Antrag, den uns die Koalitionsfraktionen zu unserer heutigen Debatte vorlegen, heißt es
- ich zitiere -:
Um den neuen außen- und sicherheitspolitischen
Anforderungen gerecht zu werden, muss Europa
auf der internationalen Bühne mit einer Stimme
sprechen. … Dies ist auch im Interesse einer ausgewogenen und dauerhaften transatlantischen Partnerschaft wichtiger denn je.
Leider erleben wir derzeit, wie eklatant Anspruch und
Wirklichkeit rot-grüner Außenpolitik auseinander klaffen.
({0})
Durch die einseitige Vorfestlegung im Irakkonflikt
unabhängig von dem Ergebnis der UN-Inspektionen hat
die Bundesregierung nicht nur die atlantische Partnerschaft dramatisch beschädigt. Sie hat Europa gespalten.
Bei allem Optimismus, der in dieser Debatte zu Recht
zum Ausdruck gekommen ist, müssen wir feststellen,
dass der europäische Einigungsprozess in einer der
größten Krisen, die es in den letzten Jahren gab, steckt.
Das gilt vor allem für substanzielle Fortschritte im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, wobei zurzeit
die Vertrauensbasis, die dafür notwendig ist, nachhaltig
zerrüttet ist.
Das ist deshalb umso dramatischer, als der europäische Einigungsprozess auch nach der Osterweiterung
und nach dem Konvent fortgesetzt werden muss. Nur in
einem großen, politisch einigen und handlungsfähigen
Europa können wir im 21. Jahrhundert unsere Interessen
wahren und unserer Verantwortung gerecht werden.
Dieses Europa ist eben kein Gegensatz zur atlantischen
Partnerschaft, sondern ein wesentlicher Teil davon. Europäische Einigung und transatlantische Allianz sind
existenzielle Grundlagen für die Sicherung unserer Zukunft.
Natürlich haben gerade wir Deutschen ein ureigenes
Interesse am Erweiterungsprozess. Mit dem Beitritt unserer östlichen Nachbarn erzielen wir einen historischen
Erfolg bei der dauerhaften Sicherung von Frieden in
Freiheit. Wie labil Frieden und Freiheit auf unserem
Kontinent immer noch sind, das haben wir gestern in
brutaler Weise durch die Ermordung des serbischen Ministerpräsidenten Djindjic wieder vor Augen geführt bekommen.
Im Übrigen hat die Befriedung des Balkans in den
90er-Jahren auch deutlich gemacht: Ohne die Vereinigten Staaten von Amerika können wir Europäer die dauerhafte Stabilisierung Ostmitteleuropas und Südosteuropas
nicht leisten. Ich bin mir nicht sicher, ob in den Vereinigten Staaten von Amerika die Akzeptanz des Engagements amerikanischer Soldaten auf unserem Kontinent
erhalten bleibt, wenn europäische Partner die Solidarität
verweigern, wenn sich Amerika bedroht fühlt,
({1})
und wenn europäische Diplomaten im Sicherheitsrat offen gegen die Vereinigten Staaten von Amerika Stimmen
sammeln.
Gestern hat der NATO-Rat beschlossen, mit Ablauf
dieses Monats die Operation Allied Harmony in Mazedonien vorzeitig zu beenden. Von April an soll die Europäische Union diesen Einsatz übernehmen. Die CDU/
CSU begrüßt dies ausdrücklich. Dies ist der erste militärische Einsatz im Rahmen des internationalen Krisenmanagements, der von der Europäischen Union geführt
wird. Obwohl die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wegen des Irakkonflikts einen herben Rückschlag
erlitten hat, ist sie doch so weit institutionalisiert, dass es
zumindest im Kleinen Fortschritte zu verzeichnen gibt.
Die enge Zusammenarbeit mit der NATO und auch der
Rückgriff auf Fähigkeiten und Mittel der NATO bei der
Übernahme des Mandats in Mazedonien sind vorgesehen. Auch hier zeigt sich wieder: Dort, wo die Europäische Union - und sei es nur im Kleinen - international
agiert, ist sie ohne eine enge Abstimmung mit der NATO
und damit ohne das „backing“ der Vereinigten Staaten
von Amerika nicht handlungsfähig.
Die deutsch-französische Zusammenarbeit - Herr
Staatsminister Bury hat zu Recht darauf hingewiesen bleibt für die europäische Einigung essenziell. Eine
Grundlage deutscher Außenpolitik war immer, eine ausgewogene Balance zwischen transatlantischer Kooperation und deutsch-französischer Partnerschaft zu suchen.
Diese Balance hat der Bundeskanzler aufgegeben.
Zu den Grundlagen unserer Außenpolitik hat auch
immer gehört, dass wir auf der einen Seite eine privilegierte Partnerschaft mit Frankreich pflegen, uns andererseits aber auch zum Anwalt der Interessen kleinerer EUMitgliedstaaten machen. Auch diese Ausgewogenheit
hat der Bundeskanzler aufgegeben, und zwar erstmals das hat nachhaltiger gewirkt, als uns heute lieb sein
kann - mit der offenen Brüskierung Österreichs, nachdem Wolfgang Schüssel zum Bundeskanzler gewählt
wurde.
({2})
Vor allem in den Staaten, die jetzt der Europäischen
Union beitreten, hat dies psychologisch eine verheerende
Auswirkung gehabt. Gerade die Ost- und Mitteleuropäer
haben immer wieder gesagt: So etwas passiert nur einem
kleinen oder mittleren Land und wir, die beitreten, sind
alles kleine und mittlere Länder; einem großen Land
wäre das nicht passiert. Auch die Art und Weise der
deutsch-französischen Vorgehensweise im Irakkonflikt
gegenüber den kleinen und auch gegenüber den jetzt beitretenden Staaten war
({3})
psychologisch verheerend.
({4})
Die deutsch-französische Partnerschaft ist eben kein Majorat, sondern sie ist Motor der Einigung. Sie muss im
Interesse der Europäischen Union wirken.
Deshalb will ich abschließend auf das eingehen, was
Sie, Herr Bury, zum Instrument der verstärkten Zusammenarbeit gesagt haben. Selbstverständlich kann in einem Europa mit 25 Mitgliedern vor allem im Bereich der
Außen- und Sicherheitspolitik nicht alles mit allen Mitgliedern gemacht werden. Aber wir müssen auf dieses
Instrument zurückgreifen können. Nach unserer Auffassung gilt: Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik
in Europa darf es keine verstärkte Zusammenarbeit geben, an der nicht beide, also Deutschland und Frankreich, beteiligt sind. Es darf aber auch keine verstärkte
Zusammenarbeit geben, die nicht für alle anderen EUMitglieder zu einem späteren Zeitpunkt, zu dem sie dies
wollen und können, offen bleibt.
({5})
Was Sie zur Arbeitsteilung vor allem mit Blick auf die
diplomatischen oder militärischen Fähigkeiten gesagt
haben, ist selbstverständlich. Wir werden nächste Woche
bei der Haushaltsberatung sehen, ob Sie diesem Anspruch auch Taten und entsprechende Mittel folgen lassen.
Die Osterweiterung der Europäischen Union ist eine
historische Chance und Herausforderung für die deutsche Außenpolitik. Es ist höchste Zeit, die Handlungsfähigkeit, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit
zurückzugewinnen, die durch den Sonderweg der Bundesregierung gegenüber den heutigen und künftigen
Partnern in der EU verspielt worden ist.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Markus Meckel für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrter Kollege
Schockenhoff, Sie sind wahrhaftig ein akzeptierter Außenpolitiker, aber manchmal fehlt die Wahrnehmung der
Realitäten. Es ist richtig, dass sich die Situation in Europa so darstellt, dass es eine Spaltung der Europäer in
der Frage, wie der Irak entwaffnet werden soll, gibt, dass
es insoweit unterschiedliche Positionen gibt. Das ist aber
nicht einfach der Bundesregierung anzulasten, sondern
das liegt daran, dass hier sehr unterschiedliche Positionen und Ansätze miteinander in Einklang gebracht werden müssen.
Zurzeit sind vier europäische Staaten Mitglied im
Sicherheitsrat. Es gibt ein ständiges Mitglied - Frankreich -, das der deutschen Position sehr nahe steht.
Dann gibt es ein anderes ständiges Mitglied - Großbritannien -, das der Position der USA und Spaniens sehr
nahe steht. Dort reden und diskutieren wir darüber, welches der beste Weg zur Abrüstung des Irak ist.
Es stellt sich die Frage - diese Frage hat der Außenminister schon an Sie gerichtet -, wie Sie sich da einordnen. Sind Sie der Meinung, dass ein „schwerwiegender
Verstoß“ gegen die Resolution 1441 vorliegt - ein „material breach“ -, oder sind Sie der Meinung, dass die Inspektionen auf der Grundlage dessen, was jetzt geschieht,
fortgeführt werden sollen? Das sind die politischen Entscheidungen, vor denen Sie stehen. Sie müssen im Rahmen der Konstellation Europas versuchen, Ihre eigene
Position zu beziehen.
Wenn wir uns diese unterschiedliche Situation ansehen - die unterschiedlichen Einschätzungen sind offensichtlich -, dann stellen wir fest, dass sich die griechische Präsidentschaft erfolgreich um eine gemeinsame
Position bemüht hat, auf die man sich am 27. Januar
einigte. Wir haben dann erleben müssen, dass nicht die
Ost- und Mitteleuropäer die Initiative ergriffen haben,
sondern Herr Blair und Herr Aznar. Man kann vermuten,
dass sie vielleicht nicht ganz alleine auf den Gedanken
gekommen sind, eine Initiative zu starten, um diesen
Konsens kaputtzumachen.
Wir kritisieren nicht den Inhalt der Erklärung, der sich
unsere osteuropäischen Partner angeschlossen haben,
sondern das Prozedere. Ich komme gerade aus Polen und
Budapest, wo mir sehr deutlich gesagt wurde, dass man
dies aus heutiger Sicht für problematisch hält. Die Diskussion findet in den Ländern statt. Auch in Budapest
und in Polen wird darüber diskutiert und es wird allgemein gesagt, dass wir so nicht miteinander umgehen
sollten. Den Regierungschefs Polens und Deutschlands,
die sich so gut kennen und so oft gesehen haben wie vorher niemals Regierungschefs der beiden Länder, sollte so
etwas nicht passieren. Aber wer wollte es dem polnischen Regierungschef vorwerfen, wenn wir gleichzeitig
feststellen müssen, dass auch der polnische Staatspräsident es vorher nicht wusste?
Es gibt also manchmal Kommunikationsschwierigkeiten in einem Staat, es gibt Kommunikationsschwierigkeiten in Europa. Ich denke, wir alle sollten und können daraus lernen. Ich glaube, es ist uns allen, und zwar
sowohl den Beitrittsstaaten als auch den Mitgliedstaaten,
bewusst, dass es darum geht, Europa auch in der Außenund Sicherheitspolitik gemeinsam stark zu machen.
Bei der Betrachtung der jetzigen Situation sehen wir
heute normalerweise zuallererst die gespaltene Position
Europas. Wenn wir uns aber die Entwicklung der GASP
und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ESVP, seit 1999 und eben nicht nur die Entwicklung seit gestern ansehen, stellen wir fest, dass ungeheuer viel passiert ist. Das kann niemand von uns
leugnen. Ich denke dabei natürlich an das Schaffen der
entsprechenden Institutionen und der entsprechenden
Ausschüsse sowie an das Zusammenbinden der militärischen und der zivilen außenpolitischen Arbeit. In dieser
zentralen Frage hat gerade Europa besondere Verdienste,
auch in der Vergangenheit.
({0})
Dies wollen wir gemeinsam weiterentwickeln zu einer integrativen Außenpolitik Europas, in der die politischen,
ökonomischen, zivilen und auch die militärischen Möglichkeiten, die Europa hat, zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zusammengeführt werden.
Meine Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es ist ein
großer Fortschritt, dass Europa auch eine sicherheitspolitische Dimension hat und außenpolitisch wirklich gemeinsam agiert. Das wurde bis 1999 nicht für möglich
gehalten. Dass wir dazu heute im Konvent einen ganz
breiten Konsens haben, ist bereits mehrfach angesprochen worden. Dass es möglich ist, bereits über einen europäischen Außenminister zu sprechen, ist ein ungeheurer Fortschritt.
Heute geht es darum, diesen politischen Willen angemessen umzusetzen. Ich denke, dass es gerade im transatlantischen Verhältnis ausgesprochen wichtig für uns
alle ist, dass Europa gemeinsam agiert und gemeinsam
auftritt. Es wäre ein völlig falsches transatlantisches Verständnis, zu glauben, durch eine Spaltung Europas nutze
man Amerika. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, den
wir uns deutlich machen müssen. Das transatlantische Verhältnis wird umso stärker sein, je klarer Europa Amerika
als Partner auf gleicher Augenhöhe begegnet, als Partner
mit gemeinsamen Werten, in gemeinsamen Institutionen
und mit ganz zentralen gemeinsamen Interessen weltweit.
({1})
Die Erweiterung der EU ist beschlossen. Im nächsten
Monat wird die feierliche Unterzeichnung stattfinden,
({2})
aber wir werden auch die Referenden in den Beitrittsstaaten haben. Wir haben die Wackelpartie und die Diskussion in Malta erlebt und sind froh, dass dieses Land,
das als erstes sein Referendum abgehalten hat, recht
deutlich zugestimmt hat. Es wird dort, wie wir wissen,
zwar noch einen parlamentarischen Prozess und Wahlen
geben, aber ich glaube, Malta ist auf einem guten Wege.
Schwieriger wird die Abstimmung in Slowenien, der
wir mit Spannung entgegensehen. Dort ist zwar die Akzeptanz für die EU groß, allerdings wurde das Referendum mit der Abstimmung über die NATO-Mitgliedschaft verbunden. Eine NATO-Mitgliedschaft ist in der
Bevölkerung nicht sehr populär. Wenn es zu einem Krieg
kommen sollte - wir hoffen zwar alle, dass er verhindert
werden kann; aber es sieht ja nicht danach aus -, und
dies im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit
dem Referendum, dann müssen wir uns durchaus große
Sorgen machen.
Ich hoffe, dass alle Referenden erfolgreich durchgeführt werden. Es darf bei den neuen Mitgliedstaaten
Ost- und Mitteleuropas nicht der Anschein erweckt
werden - so kam das etwa durch die Reaktion Chiracs
auf den Brief der Acht bei ihnen an -, dass sie nicht zur
Definition eigener, selbstständiger Positionen und zum
Einbringen ihrer Positionen in die europäische Meinungsbildung berechtigt sein sollten. Wir wollen sie als
wirkliche Partner. Es ist richtig, dass sie sich als solche
zur Sprache bringen.
Deshalb ist es meiner Meinung nach gut, wenn der polnische Außenminister Initiativen zur Gestaltung der
Nachbarschaft ergreift. Die Europäische Union hat jetzt
dazu einen Text vorgelegt. Wir werden darüber reden
müssen, wie die Gestaltung einer guten Nachbarschaft in
der Europäischen Union auch mit Blick auf künftige Erweiterungsprozesse vorangebracht werden kann. Der
Mord an Zoran Djindjic, den wir gerade erleben mussten,
ist für uns ein ganz klares Signal und eine Warnung, dass
wir aktiv werden müssen und dass wir den Ländern in dieser Region und den restlichen Ländern Europas verstärkt
eine Perspektive auf eine Mitgliedschaft geben müssen.
({3})
Meine Damen und Herren, wir haben uns sowohl im
Rahmen der EU, wo wir mit dem Headline Goal die
militärische Dimension implementieren wollen, als
auch im Rahmen der NATO, wo wir die Response Force
beschlossen haben, hohe Ziele gesetzt und müssen nun
zusehen, dass dies kompatibel wird. Dazu gibt es den
festen Willen. Dabei müssen wir darauf achten, dass wir
die Grundsätze wirklich in der Praxis umsetzen. Wir haben nur eine Bundeswehr. Angesichts der Defizite, die
im Bereich der Streitkräfte - bei den Transportkapazitäten, bei der Kommunikation und der Aufklärung - vorhanden sind, werden wir große Anstrengungen tun müssen. Das geht nur durch Arbeitsteilung, durch Bündelung
und dadurch, dass wir in Absprache mit den anderen europäischen Partnern gemeinsam handeln.
Wichtig scheint mir - damit möchte ich schließen -,
dass wir auch in der Frage der Rüstungs- und Anschaffungspolitik in Europa zu gemeinsamer Aktion, zu gemeinsamem Handeln kommen. Im Rahmen des Konvents ist der Vorschlag gemacht worden, eine
europäische Rüstungsagentur zu schaffen. Ich denke,
das ist ein ganz zentrales Thema, nicht nur für die europäische Rüstungswirtschaft, die gegenüber der Rüstungswirtschaft der USA konkurrenzfähig sein soll, sondern auch für eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Wir
brauchen gemeinsames Handeln im Rüstungssektor.
Deswegen sollten wir diese Agentur intensiv unterstützen, einmal deswegen, weil sie Forschungs- und Entwicklungsvorhaben in Europa fördern kann, aber auch
deswegen, um die Einhaltung der Kapazitätsziele, die
wir als Staaten versprochen haben, zu erreichen.
Meine Damen und Herren, wir sind auf einem guten
Weg und sollten uns dessen auch bewusst sein. Im
Jahr 1989/90 haben wir - denken Sie einmal zurück noch über „Vertiefung oder Erweiterung?“ diskutiert.
Heute sind wir dabei, in einem parallelen Prozess beides
zu erreichen. Wir haben die große Erweiterung beschlossen und sollten alles dafür tun, dass die Referenden gelingen. Darüber hinaus werden wir am Ende des Jahres
hoffentlich eine europäische Verfassung haben. Dies
wird ein großer Erfolg sein.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Erwin
Marschewski, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Vorredner haben zu Recht gesagt, dass die Osterweiterung
der Europäischen Union ein epochales Ereignis ist. Dass
Demokratie, Menschenrechte und Minderheitenschutz in
dann 25 Staaten Europas mit 450 Millionen Menschen
absolute Geltung haben werden, hat der Union Kraft gegeben, seit Jahrzehnten auf dieses Ziel hinzuarbeiten.
Wir wollen diese historische Chance nutzen, die auch
eine noch intensivere Verständigung mit unseren östlichen Nachbarn umfasst.
({0})
Verständigung und Aussöhnung - das sind Ziele, die
die Heimatvertriebenen bereits im August 1950 in ihrer
Stuttgarter Charta proklamiert haben. Es geht darum, die
Gräben zuzuschütten und ein geeintes Europa zu schaffen,
in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.
Weil dies auch unsere Ziele sind, haben wir als Union die
wichtige Brückenfunktion der deutschen Heimatvertriebenen und Volksgruppen in Mittel- und Osteuropa stets in
besonderer Weise herausgestellt. Deswegen werden wir
die berechtigten Anliegen der Heimatvertriebenen im
Rahmen der Osterweiterung zur Sprache bringen.
({1})
Weil das Recht auf die Heimat gilt, muss die in der
Europäischen Union geltende Freizügigkeit ein Schritt
hin zur Verwirklichung dieses Rechts auf die Heimat
sein, und weil sich Europa als Rechts- und Wertegemeinschaft versteht, müssen Völker und Volksgruppen ohne
rechtliche Diskriminierung zusammenleben können.
Deswegen betone ich: Die Vertreibungsdekrete und
Vertreibungsgesetze sind Unrecht.
({2})
Daher darf zum Beispiel das so genannte tschechische
Straffreistellungsgesetz von 1946, durch das die Verbrechen an Deutschen und Ungarn bis hin zur Tötung straffrei gestellt wurden, keine Gültigkeit mehr haben. Gleiches gilt für die Aufhebung der Unschuldsvermutung
und die entschädigungslose Enteignung. Sie dürfen
keine notwendigen Sanktionen mehr sein, wie es das
tschechische Verfassungsgericht noch 1995 bedauerlicherweise ausdrücklich erklärt hat.
Herr Kollege Marschewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel?
Bitte schön, Herr Präsident.
Bitte sehr.
Sehr geehrter Herr Kollege, ich denke, wir alle in diesem Hohen Hause sind uns einig, dass Vertreibungen
Unrecht sind. Dies ist hier von Vertretern aller Fraktionen mehrfach gesagt worden.
Ich glaube, es gibt aber ein Missverständnis. Deshalb
möchte ich Sie dazu etwas fragen. Wollen Sie damit sagen, dass Sie dieses Thema jetzt, nachdem die Verhandlungen mit diesen Ländern über den Beitritt zur Europäischen Union zu einem Ende geführt worden sind - die
Verträge sind zwar noch nicht unterschrieben, aber die
Verhandlungen sind beendet -, erneut aufgreifen und
einbringen wollen? Wollen Sie damit sagen, dass dies für
Sie ein neues Feld ist und dass diese Frage in den Verträgen noch in irgendeiner Weise berücksichtigt werden
muss? Hier wäre Klarheit wichtig.
Herr Meckel, ich will eines sagen: Vertreibung und
ethnische Säuberung dürfen nirgendwo Bestandteil einer
bestehenden Rechtsordnung sein. Es kann nicht sein,
dass diese Dinge zum Beispiel in der Tschechischen Republik noch in den Gesetzesblättern stehen. Das muss
durch eine Erklärung des Parlaments oder Ähnliches beendet werden können. Denn für uns ist es doch eindeutig
- dies will ich mit meinen Ausführungen sagen -: Dies
alles steht im klaren Widerspruch zu dem Geist und den
Werten der Europäischen Union und des Völkerrechts.
Das ist unsere Intention.
({0})
- Ich möchte in den verbleibenden Minuten gern zu
Ende ausführen, verehrter Herr Kollege.
Um eines noch zu sagen: Wir Deutsche wissen natürlich um das schwere Unrecht, das die Nazis auch vielen
Völkern Osteuropas zugefügt haben. Das, was Helmut
Kohl ausgedrückt hat, ist aber auch richtig:
Weder wird deutsche Schuld durch das Unrecht der
Vertreibung auch nur um ein Jota gemindert, noch
hebt deutsche Schuld das Unrecht der Vertreibung
auf.
Deswegen - das ist meine weitere Antwort - müssen
diese Themen auch im Verhältnis zu unseren östlichen
Nachbarn offener und intensiver angesprochen werden;
sonst könnten sie den Weg in eine gemeinsame Zukunft
erschweren, Herr Kollege Meckel.
Es ist die Verpflichtung der Bundesregierung, genau dies
zu tun. Wir beide kennen doch Art. 6 des Vertrages über
die Europäische Union. In ihm sind die Grundsätze der
Freiheit, der Demokratie, der Menschenrechte und der
Rechtstaatlichkeit festgeschrieben, die die Mitgliedstaaten akzeptieren müssen. Was aber in diesen Dekreten
steht, ist eben nicht rechtstaatlich. Sie stehen in eklatantem Widerspruch zu Art. 6 des EU-Vertrages. Die Vertreibungsdekrete sind Unrecht und müssen aufgehoben
werden. Dafür steht die Union ein.
({1})
Mit dieser Haltung stehen wir nicht allein. Sie wissen,
dass sich der UNO-Menschenrechtsausschuss in Genf in
mindestens sechs Entscheidungen entsprechend geäußert
hat. Sie wissen, dass auch das Europäische Parlament die
Aufhebung verlangt hat. Wenn Sie gar nichts überzeugt:
Der Bayerische Landtag hat mit den Stimmen von CSU
und SPD einen Beschluss in diesem Sinne gefasst.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, ich sage dazu nur: Tut es ihnen gleich!
Sie wissen doch genauso gut wie wir: Nur wenn wir
auch das ansprechen, wenn wir darüber diskutieren und
wenn wir zu anderen Ergebnissen kommen, können wir
als Nachbarn in eine gemeinsame und bessere europäische Zukunft gehen.
Herzlichen Dank.
({2})
Bevor ich dem Kollegen Meckel das Wort zu einer
Kurzintervention erteile, möchte ich - ganz freundlich darauf hinweisen, dass der zwischen den Fraktionen vereinbarte Zeitplan unserer heutigen Plenardebatte schon
kräftig aus dem berühmten Ruder gelaufen ist. Ich wäre
dankbar, wenn alle dies bei ihren Zusatzfragen, Interventionen und der Ausnutzung ihrer Redezeit berücksichtigen.
Bitte schön, Herr Meckel.
Vielen Dank, Herr Präsident. Ich werde mich kurz
fassen.
Herr Marschewski, wir sind uns völlig einig, dass wir
die Fragen von vergangenem Unrecht und von Vertreibung, dass wir unsere europäische Geschichte überhaupt
noch intensiv zum Thema machen müssen. Das gilt nicht
nur für unsere östlichen Nachbarn, sondern das betrifft
unsere Situation in Europa insgesamt. Wir brauchen über
die Ländergrenzen hinweg den gemeinsamen Willen zur
Behandlung von Geschichte und sollten versuchen, gemeinsam Geschichte zu schreiben. Ich stimme Ihnen
auch ausdrücklich darin zu, dass sich alle Staaten der
Europäischen Union an die europäische Rechtsordnung
halten müssen.
Eine Frage ist mir aber wichtig und deshalb habe ich
mich doch noch zu einer Kurzintervention gemeldet - das
ist in Ihrer Rede offen geblieben -: Wollen Sie sagen,
dass Sie Gesprächsbedarf sehen, oder wollen Sie sagen,
dass Sie bis zum Abschluss der Verträge und ihrer Ratifizierung entweder von der Europäischen Kommission
eine entsprechende Initiative erwarten, um das Thema
Verteibung zur Sprache zu bringen, oder sich von den
Nachbarländern eine entsprechende Entscheidung als Voraussetzung für die Zustimmung Ihrer Fraktion zur Aufnahme in die Europäische Union erhoffen. Diese Frage
möchte ich sehr gerne von Ihnen beantwortet haben.
Herr Kollege Marschewski, möchten Sie antworten? Gut, dann erteile ich Ihnen das Wort.
Herr Kollege Meckel, ich spreche nicht für alle Außenpolitiker der Union; das ist wahr. Aber ich kenne die
Meinung unserer Außenpolitiker. Sie alle vertreten eindeutig die Auffassung: Wir müssen noch einmal miteinander reden. Der Deutsche Bundestag hat in seinen Sitzungen nach dem Krieg zum Volksgerichtshof und zu
vielen anderen scheußlichen Dingen Nein gesagt und sie
als Unrecht verurteilt. So etwas erwarte ich zum Beispiel
auch von unseren tschechischen Freunden. Was hindert
sie daran, es uns gleichzutun und die Dekrete, die Vertreibung, die Aberkennung der Staatsbürgerschaft, die
Verurteilungen zum Tode, Totschlag und vieles andere
als Unrecht zu verurteilen? Das erwarten wir. Wir erwarten, dass die Bundesregierung - der Außenminister ist
nicht mehr anwesend - dies intensiv und kraftvoll vorträgt.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Kurt Bodewig, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde es gut, dass wir uns heute die Zeit nehmen, über
zwei wirklich historische europäische Ereignisse zu
sprechen: die Entwicklung einer europäischen Verfassung und das große Thema des Beitritts, also die Tatsache, dass Europa ab dem 1. Mai 2004 anders aussehen
wird.
Das Bemühen der Opposition, künstlich Gegensätze
zu erzeugen, ist nur zum Teil gelungen. Schließlich führen wir heute eine Debatte über Europa und nicht über
den Irak, auch wenn ein geeintes, starkes Europa meines
Erachtens eine Antwort in der Irakdebatte ist. Ich will
nachher darauf eingehen.
Es ist wichtig, festzustellen, dass die künstliche Trennung zwischen Ost und West aufgehoben worden ist. Die
Qualität dieses Ereignisses können wir gar nicht hoch
genug schätzen.
({0})
Ich bedauere, dass dies in der Debatte kaum Widerhall
gefunden hat. Ist es so selbstverständlich, dass es in
Europa, zumindest in den Grenzen der Europäischen
Union, seit 58 Jahren keinen Krieg mehr gegeben hat?
Für diese Region der Welt ist das der längste Zeitraum
friedlichen Zusammenlebens in der Historie. Auch das
ist Europa.
Ich gratuliere dem Kollegen Rupprecht zu seiner ersten Rede. Seine bayerische Euroskepsis macht mich jedoch sehr nachdenklich. Ich fand das Statement, das Sie
hier in Richtung Europa abgegeben haben, traurig, weil
dieses Europa - auch nach der Erweiterung - eine hohe
Attraktivität hat. Eine Zone der Sicherheit und Demokratie zu haben ist keine Selbstverständlichkeit. Der
Mordanschlag von gestern hat dies unterstrichen. Es ist
ein großer Wert, dass in Europa eine Zone der Sicherheit, der Demokratie und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit besteht, die nach der Erweiterung bis ins Baltikum, nach Bulgarien und Rumänien reichen wird. Das
bedeutet eine ganz neue Attraktivität.
Einige von uns haben eine Einladung nach Oslo bekommen. Die Norweger diskutieren auf einmal über einen Beitritt zur Europäischen Union. Diese neuen Entwicklungen zeigen: Es gibt eine Attraktivität dieses
größten ökonomischen Binnenmarktes der Welt, der
nach der Erweiterung 450 Millionen Menschen umfassen und damit - auch das sollten wir sehen - ein starkes
Gegengewicht zu den Wirtschaftsräumen in Nordamerika und Asien bilden wird.
Ich halte es für Unsinn, eine Debatte zu führen, ob es
sich um ein altes oder ein neues Europa handelt. Europa
hat eine Geschichte, die mit Werten verbunden ist. Zukünftig werden wir ein gemeinsames Europa haben. Das
ist eine Antwort auf all diejenigen, die in Europa künstliche Gräben errichten wollen. Wir wollen ein gemeinsames und starkes Europa im Sinne einer Lebensverbesserung der Menschen und der Friedenssicherung.
({1})
In der Zuwanderungsdebatte heute Morgen hat ein
Kollege der Union den Begriff vom gordischen Knoten
gebraucht.
({2})
Wenn dieser Begriff in eine Richtung treffend ist, dann
in Bezug auf den Gipfel von Kopenhagen. Dort ist, gerade in Bezug auf die schwierigen Verhandlungen mit
Polen, ein gordischer Knoten durchschlagen worden,
und zwar nicht zuletzt vom Bundeskanzler. Das sollten
wir anerkennen und dafür sind wir dem Kanzler zu Dank
verpflichtet.
({3})
Herr Altmaier, das ist auch die Antwort auf Ihren Beitrag, in dem Sie uns glauben lassen wollten, der Bundeskanzler sei hinsichtlich Europa desinteressiert. Das Gegenteil ist richtig. Es geht um große Linien und um
konkrete Kleinarbeit. Beides wird von dieser Bundesregierung mit Unterstützung des Parlaments hervorragend
gehandhabt.
Mein Dank gilt natürlich auch Günter Verheugen, der
in einer sehr schwierigen Situation die Interessen der
Staaten überein gebracht hat. Leider ist der schwere
Zypernkonflikt, der übrigens auch Gradmesser für die
Europafähigkeit der Türkei ist, noch nicht gelöst.
Die Unterzeichnung der Beitrittsverträge mit zehn
Staaten am 16. April ist dennoch ein historischer Vorgang. Die Erweiterung wird zu Wachstum, ausländischen Direktinvestitionen und klaren wirtschaftlichen
Impulsen führen. Ich fand die Formulierung von Sir
Leon Brittan in diesem Zusammenhang sehr treffend:
Die Bedeutung der Osterweiterung ist nur vergleichbar mit dem Abschluss der Römischen Verträge im Jahr 1957.
Wenn uns das bewusst ist, können wir positiv nach vorne
schauen und den bayerischen Skeptizismus zur Seite
schieben.
Ich will noch etwas zu Herrn Marschewski sagen. Ich
glaube, Ihre ganze Herangehensweise ist falsch. Dieses
Europa wird ein Europa der Gemeinsamkeit und der Begegnung sein. Am sichersten wird gegen Vertreibung
und ethnische Säuberung wirken, dass sich die Menschen kennen lernen. Wenn junge Menschen miteinander
in einen Austausch treten, ist das das Wirkungsvollste,
was wir auch im Sinne der Vertriebenen tun können. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten.
({4})
Lassen Sie mich auch das Thema Handel ansprechen.
Die EU-Osterweiterung hatte seine Vorgeschichte mit einem Europaabkommen, mit dem faktisch eine europäische Freihandelszone einherging. Allein der Beitrittsprozess hat nun bewirkt, dass die Kandidatenstaaten in
Vorleistung gegangen sind: Sie haben die Stabilitätskriterien ernst genommen und durchgesetzt. Das sind deutliche Erfolge.
Der Handelsbilanzüberschuss der EU gegenüber den
zehn Beitrittsländern beträgt 20 Milliarden Euro.
Deutschland hat hieran einen Anteil von 50 Prozent.
Die ökonomische Wirkung ist also auch im Sinne
Deutschlands positiv, wobei für die Beitrittskandidaten
die strukturellen Chancen für eine wirtschaftliche Entwicklung noch größer sind als im Europa der Fünfzehn. Beides zusammengenommen wird dazu führen,
dass neue Wachstumschancen entwickelt werden und
dass ein Europa geschaffen wird - damit ende ich an
dem Punkt, an dem ich begonnen habe -, das Frieden
gewährleistet und eine starke Kraft darstellt.
Ich glaube, dass dieses Europa nicht gegen Amerika
gerichtet ist. Das Problem der acht Unterzeichner des
vielfach angesprochenen Briefes bestand doch vielmehr
darin, dass sein Inhalt nicht einmal in Übereinstimmung
mit der Auffassung der eigenen Bevölkerung stand.
Dieses Europa wird ein friedliches Europa mit guten
Beziehungen zu den USA und anderen großen Zentren
dieser Welt sein. Wir sollten dieses friedliche Europa in
einem gemeinsamen Verständnis und mit Ihrer Unterstützung aufbauen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun die Kollegin Frau Dr. Lötzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einige
EU-Beitrittskandidaten mit Polen an der Spitze haben in
der Frage eines Krieges gegen den Irak eine andere Meinung vertreten als Frankreich und Deutschland. Wir als
PDS teilen die Auffassung dieser Länder ausdrücklich
nicht, weil wir der Meinung sind, dass Krieg kein Mittel
der Politik sein darf.
({0})
Aber offensichtlich haben einige Politiker der EU vergessen, dass auch EU-Beitrittsstaaten souveräne Staaten sind. Sie haben wie jedes andere Land das Recht auf
eine eigene Meinung und damit auch auf eine argumentative Antwort.
({1})
Insbesondere die Reaktion des französischen Präsidenten war sicherlich nicht von Argumenten dominiert und
ist daher symptomatisch.
Damit komme ich zu einem Aspekt, der in dieser Debatte bisher noch keine Rolle gespielt hat. Die Beitrittsländer werden von der EU häufig wie Schuljungen behandelt, die gefälligst keine eigene Meinung vertreten
sollen. Meinungsmacher sind Frankreich, Deutschland
und Großbritannien; die anderen Länder haben das
Recht, sich dieser Meinung anzuschließen. Diese Sichtweise ist mir bei den Beitrittsverhandlungen immer wieder aufgefallen.
Die Verhandlungen wurden von oben herab geführt.
Die Beitrittsländer wurden häufig wie Bittsteller behandelt. Die Ergebnisse der Verhandlungen sind gerade für
Polen in vielen Fragen eine Zumutung. Die EU fordert,
dass alle Regeln durch die Beitrittsländer 1 : 1 übernommen werden, gewährt aber gleichzeitig den zukünftigen
EU-Bürgern nicht die gleichen Rechte wie den Alt-EUBürgern. Vor allem Deutschland hat mit völlig überzogenen Übergangsregeln - ich nenne nur die Einschränkung
der Niederlassungsfreiheit für Bürger aus den Beitrittsländern für sieben Jahre - EU-Bürger erster und zweiter
Klasse festgeschrieben.
Ich denke, die EU braucht dringend neue politische
und strukturelle Ansätze. Man darf die Beitrittsländer
nicht wie Erstklässler behandeln, sondern man muss ihnen Spielräume lassen, damit sie Neues ausprobieren
und Innovationen in die EU hineintragen können.
({2})
Dabei handelt es sich um eine Lehre, die wir auch aus
den Erfahrungen in Ostdeutschland ziehen müssen.
Die kritiklose Übernahme verkrusteter Strukturen der alten Bundesrepublik war ein schwerer Fehler und hat zur
Stagnation in Ostdeutschland beigetragen. Das stelle ich
nicht nur aus eigener Erkenntnis fest, sondern ich darf
als Beispiel Professor Simon, seinerzeit Präsident des
Wissenschaftsrates, zitieren, der von den im Kern verrotteten Hochschulen sprach - in der alten Bundesrepublik,
wohlgemerkt!
Lassen Sie mich einige Anmerkungen zu der Arbeit
des Konvents machen. Die PDS im Bundestag begrüßt
die Erarbeitung einer Verfassung für die Europäische
Union. Eine künftige Union der Fünfundzwanzig braucht
grundlegende Reformen. Sie braucht Institutionen und
Verfahren, die auch mit 25 Mitgliedern funktionieren.
Die PDS setzt sich dafür ein, dass folgende vier Punkte
in der zukünftigen Verfassung auf jeden Fall berücksichtigt werden:
Erstens: Sozialstaatlichkeit. Wir wollen, dass Sozialstaatlichkeit und soziale Marktwirtschaft in der Verfassung festgeschrieben werden; offene Marktwirtschaft ist
uns zu wenig. Massenarbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und Armut sind europäische Themen, die wir in
Europa gemeinsam angehen müssen. Dazu sollten wir
uns auch verbindlich verpflichten.
Zweitens: Grundrechte. Die Grundrechte-Charta
muss - das ist schon von einigen Vorrednern angesprochen worden - in vollem Wortlaut an den Anfang der
Verfassung gestellt werden. Schon lange haben wir uns
für ihre volle Rechtsverbindlichkeit eingesetzt. Alle Versuche, die in ihr enthaltenen sozialen Grundrechte zu
verwässern, lehnen wir als PDS ab.
({3})
Drittens: Demokratie. Das Demokratiedefizit der Europäischen Union muss in der Verfassung endlich angegangen werden. Das bedeutet Stärkung der Rechte der
Bürgerinnen und Bürger sowie Stärkung der Rechte des
Europäischen Parlaments.
Viertens: Friedensverpflichtung. Wir halten es nicht
zuletzt vor dem Hintergrund der Diskussionen über einen drohenden Krieg gegen den Irak für unerlässlich,
eine Friedensverpflichtung in der europäischen Verfassung zu verankern. Darum muss sich die deutsche Bundesregierung im Konvent noch mehr bemühen. Es sollte
doch eine Selbstverständlichkeit sein, die Europäische
Union auch in ihrem außenpolitischen Handeln auf das
Völkerrecht und insbesondere auf die Ächtung von Angriffskriegen zu verpflichten.
Herzlichen Dank.
({4})
Letzter Redner in der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Nüßlein, CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Das Zusammenwachsen Europas
und die Freundschaft Amerikas haben nach zwei Weltkriegen Frieden, Freiheit und Wohlstand gesichert. Darüber besteht Konsens.
({0})
Herr Bodewig, ich denke, dass dies bereits in der heutigen Debatte entsprechend gewürdigt wurde. Konsens besteht aber auch darüber - so hoffe ich jedenfalls -, dass
die EU nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine
Wertegemeinschaft ist.
({1})
Die europäischen Werte haben ihre Wurzeln im Christentum und in der Aufklärung. Deshalb setzen wir uns
von der CDU/CSU für die „invocatio dei“ ein. Der Bezug zu Gott ist die kulturelle Klammer Europas, die jede
Verfassung, auch die europäische, übersteigende Verpflichtung zur Verantwortung vor der höchsten Macht.
({2})
Dass sich manche heute schwer mit dem Bekenntnis zu
Gott tun, haben wir schon bei der Vereidigung des amtierenden Atheistenkabinetts erlebt.
({3})
Kollege Marschewski hat Recht: In unserer europäischen Wertegemeinschaft haben die diskriminierenden
Benes-Dekrete keinen Platz. Leider warten die Europäer
noch immer auf die tschechische Distanzierung vom Unrecht der Vertreibung, aber auch auf eine klare Stellungnahme der rot-grünen Mehrheit in diesem Haus.
Wenn man auf dem von mir dargestellten Wertefundament steht, dann wird auch klar, dass einer EU-Vollmitgliedschaft der Türkei die Basis fehlt. Daran sollten wir
künftig keinen Zweifel lassen, um einerseits die Integrationsfähigkeit Europas nicht zu überfordern und andererseits die Partnerschaft mit der Türkei, die ich für sehr
wichtig halte, nicht zu gefährden.
Deutschland ist der bevölkerungsreichste Staat und der
mit Abstand größte Nettozahler der Europäischen Union.
Bei mir in Schwaben gilt - Schwaben ist ja kein unwesentlicher Teil Europas -: Wer zahlt, schafft an; wer bezahlt,
bestimmt die Richtung. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass die Bundesregierung endlich die berechtigten
deutschen Interessen in Europa und in der Konventsarbeit
durchsetzt. Ich frage Sie: Wo ist Ihr Gesamtansatz, Ihr
Konzept, das die Rolle Deutschlands in der Europäischen
Union beschreibt? Vor Rot-Grün waren wir Deutschen
Motor in Europa. Jetzt sind wir Schlusslicht.
({4})
- Ich würde an dieser Stelle auch lieber etwas anderes
erzählen.
Es ist wichtig, dass ein Verfassungsvertrag klare Kompetenzabgrenzungen nach dem Subsidiaritätsprinzip enthält. Auch das ist übrigens ein Baustein christlicher Soziallehre. Nun gibt es Aufgaben, die unbestritten der
Gemeinschaft zuzuordnen sind, zum Beispiel die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik oder die Stabilität des
Euro. Inzwischen mussten wir erleben, wie Rot-Grün die
gemeinsame Sicherheitspolitik auf dem Wahlkampfaltar
opfert. Wir müssen uns immer wieder anschauen, wie RotGrün wegen seiner kranken Finanzpolitik die Stabilitätskriterien des Euro zu Grabe tragen will.
({5})
- Keiner von der SPD. Sie würden nämlich die Realität
nicht so deutlich ansprechen.
({6})
Ihr politisches Siechtum in Deutschland darf aber
nicht auch noch den Integrationsprozess in Europa infizieren.
Die strikte Beschränkung der EU auf Kernaufgaben,
die nur gemeinschaftlich lösbar sind, ist gerade im Hinblick auf die Osterweiterung notwendig. Ich halte es,
offen gesagt, für illusorisch, eine Vertiefung und eine Erweiterung der Europäischen Union vereinbaren zu wollen.
({7})
- Im Bereich der Kompetenzen. - Wir brauchen stattdessen eine Rückübertragung von Kompetenzen, insbesondere eine Öffnung hin zu regionalen Eingriffsmöglichkeiten im Bereich der Struktur- und Agrarpolitik. Nur so
ist die Osterweiterung für Deutschland zu verkraften und
insgesamt zu finanzieren.
({8})
Aber angesichts des wirtschaftlichen Desasters, das RotGrün anrichtet, spielen für Sie strukturelle Verwerfungen
wohl keine Rolle mehr.
({9})
Die Landwirtschaft, zu der ich heute gar nichts gehört habe, hat Ministerin Künast längst abgeschrieben.
Unsere Bauern wissen: Die Landwirtschaftsministerin
hat keine Kompetenz.
({10})
- Sie haben wahrscheinlich keine.
Ich bitte Sie, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen. Für viele sind die Risiken der Osterweiterung
greifbarer als die Chancen. Für viele steht Brüssel für
Bürokratie. Wenn wir bei diesen Institutionen über den
Doppelhut diskutieren, dann geht ihnen schon lange der
Hut hoch. Nur Transparenz sichert Akzeptanz. Vergessen Sie bitte auch nicht die Zuständigkeiten des Deutschen Bundestages, also unsere Informations-, Kontrollund Mitwirkungsrechte!
({11})
- Ich sage ja: unsere Rechte. - Europäisches Recht darf
nicht hinter verschlossenen Türen geschaffen werden.
Ich appelliere gerade an die Kollegen der SPD und der
Grünen: Es ist in Ihrem eigenen Interesse, wenn Sie die
parlamentarischen Kontrollrechte nicht zu sehr aus der
Vogelperspektive der Regierungsfraktionen sehen. Lange
werden Sie das nämlich nicht mehr sein.
Vielen herzlichen Dank.
({12})
Herr Kollege Nüßlein, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag. Ich erlaube mir
für die Zukunft die kleine Anregung, bei der verallgemeinernden Charakterisierung von Institutionen oder
Personen sich um die Zurückhaltung oder Präzision zu
bemühen, die dem Gegenstand angemessen ist.
({0})
- Die liefere ich, Herr Kollege, gerne nach.
({1})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union auf Drucksache 15/451. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp-
fehlung die Annahme des Entschließungsantrags der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 15/215 zu der Abgabe einer Regierungs-
erklärung durch den Bundeskanzler zu den Ergebnissen
des Europäischen Rates in Kopenhagen am 12. und
13. Dezember 2002. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalition
gegen die Stimmen der Opposition bei einer Enthaltung
angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Nr. 2 der Be-
schlussempfehlung des Ausschusses. Hier geht es um
die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
auf Drucksache 15/195 mit dem Titel „Der Weg für die
Osterweiterung ist frei: Abschluss der Beitrittsverhand-
lungen auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der
FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion ange-
nommen.
Ich weise darauf hin, dass zu dem Antrag „Der Weg
für die Osterweiterung ist frei: Abschluss der Beitritts-
verhandlungen auf dem Europäischen Rat in Kopenha-
gen“ eine Reihe von Erklärungen zur Abstimmung vor-
liegt, und zwar von den Kollegen Sehling, Zeitlmann,
Aigner und zahlreichen anderen Kolleginnen und Kolle-
gen aus der CDU/CSU-Fraktion.1) Diese Erklärungen
werden dem Protokoll beigefügt.
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europä-
ischen Union empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 15/451 die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/216
mit dem Titel „Historischer Erweiterungsgipfel verstärkt
Druck auf innere Reformen der Europäischen Union“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU-Frak-
tion angenommen.
1) Anlage 2
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Wir kommen zur Abstimmung über die unter Tages-
ordnungspunkt 4 b sowie unter Zusatzpunkt 1 aufgeführ-
ten Vorlagen. Interfraktionell wird die Überweisung der
Vorlagen auf den Drucksachen 15/548 und 15/577 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen, wobei die Vorlage auf Drucksache 15/548 zu-
sätzlich an den Haushaltsausschuss überwiesen werden
soll. Besteht darüber Einverständnis? - Das ist offenkun-
dig der Fall. Dann haben wir die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 18 a, 18 b, 10,
17 sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
18 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verwendung von Verwaltungsdaten für Zwecke der
Wirtschaftsstatistiken ({2})
- Drucksache 15/520 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({3})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Dieter Thomae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Kompetenzen des Sports bei Prävention
und Rehabilitation besser nutzen
- Drucksache 15/474 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({4})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
10 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und
Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften
zur Wahl und Berufung ehrenamtlicher Richter
- Drucksache 15/411 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
17 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des
Strafgesetzbuches und anderer Gesetze - Widerruf der Straf- und Strafrestaussetzung ({5})
- Drucksache 15/310 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Innenausschuss
ZP 2a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Melderechtsrahmengesetzes
- Drucksache 15/536 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Siegfried Kauder ({7}), Dr. Norbert
Töttgen, Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Privatsphäre
- Drucksache 15/533 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({8})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 c sowie
16 auf. Hierbei handelt es sich um Beschlussfassungen
zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zunächst zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 19 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 19 zu Petitionen
- Drucksache 15/482 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Sammelübersicht 19 mit breiter
Zustimmung angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 20 zu Petitionen
- Drucksache 15/483 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist auch die Sammelübersicht 20 mit
breiter Zustimmung angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 21 zu Petitionen
- Drucksache 15/484 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist auch die Sammelübersicht 21 einvernehmlich angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({12}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Werner Hoyer, Günther Friedrich Nolting,
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Ulrich
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Adam, Ilse Aigner, Dietrich Austermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Transatlantische Beziehungen stärken - Potsdam Center fördern
- Drucksachen 15/194, 15/519 Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Arnold
Christian Schmidt ({13})
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/194 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fünfter Bericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ({14})
- Drucksache 15/105 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({15})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für. wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Es liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann haben wir so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zu Beginn erteile ich der
Bundesministerin Renate Schmidt das Wort.
({16})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Herren! Meine sehr geehrten Damen! Vor 92 Jahren, am
19. März 1911, wurde der erste Internationale Tag der
Frau begangen. Frauen kämpften um ihr Wahlrecht, um
bessere Bezahlung, aber immer auch um friedliche Lösungen bei internationalen Konflikten.
In Deutschland haben wir seit Bestehen der Bundesrepublik die juristische Gleichstellung von Frauen und
Männern erreicht. Während zum Beispiel noch bis 1957
das Arbeitsverhältnis meiner Mutter ohne ihre Zustimmung von meinem Vater hätte gekündigt werden können, es eine Schlüsselgewalt des männlichen Haushaltsvorstands gab und er in Erziehungsfragen das letzte Wort
hatte, sind das - Elisabeth Selbert und ihren Mitstreiterinnen sowie auch einigen Mitstreitern sei Dank - die
gewonnenen Schlachten von gestern.
({0})
Die faktische Gleichstellung ist jedoch trotz aller
Fortschritte noch nicht erreicht. Dies belegen die Abstände bei der Einkommens- und Rentenhöhe von
Frauen und Männern genauso wie der zu geringe Anteil von Frauen in Führungspositionen. Vieles davon
wurde seit 1998 aktiv angegangen. Der Fünfte Staatenbericht zum Übereinkommen der Vereinten Nationen
zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der
Frau, CEDAW, zeigt eine gute Bilanz gleichstellungspolitischer Initiativen. Mit dem Programm „Frau und
Beruf“ und dem „Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“ hat die Bundesregierung auch international Maßstäbe gesetzt. Aber der Bericht zeigt ebenfalls - davor sollten wir nicht die Augen
verschließen - Handlungsnotwendigkeiten für heute
und die nächste Zukunft auf.
Was wurde erreicht? Wir haben heute in Deutschland die am besten gebildete und ausgebildete Frauengeneration, die es je gab. Junge Frauen haben heute die
jungen Männer bei den Bildungsabschlüssen sowohl in
Quantität als auch in Qualität eingeholt und teilweise
überholt. Das hatte auch Folgen für das Einkommen.
Bei den 20- bis 30-Jährigen liegt das Durchschnittseinkommen der Frauen nur noch um 10 Prozent niedriger
als das der Männer; im Gegensatz dazu bestehen bei
den Gruppen höheren Alters Einkommensunterschiede
von 25 bis 30 Prozent.
Daraus und auch aus der Tatsache, dass Frauen bei
Führungsfunktionen nach wie vor einen auch im europäischen Vergleich zu geringen Anteil haben, hat die
Bundesregierung Konsequenzen gezogen, unter anderem
durch die gleichstellungsorientierte Neufassung des Betriebsverfassungsgesetzes, nach der Unternehmen und
Betriebsrat bei allen betrieblichen personellen Maßnahmen auf Gleichstellungsgesichtspunkte zu achten haben.
Wir haben durch das neue Gleichstellungsgesetz für den
öffentlichen Dienst des Bundes, das ich mir in ähnlicher
Form auch für alle Länder wünsche, und durch die Verankerung des Prinzips einer umfassenden Gleichstellung
beider Geschlechter, des so genannten Gender-Mainstreaming-Prinzips, Instrumente geschaffen, die erste
Früchte tragen.
({1})
Übrigens: Noch nie haben einer Regierung, sowohl
auf Landes- als auch auf Bundesebene, so viele Ministerinnen angehört wie dieser Bundesregierung.
Wir haben mit der Verbesserung der Anrechnung von
Teilzeitbeschäftigung und der Höhe der Anwartschaftszeiten den Einstieg - ich betone: den Einstieg - in eine
eigenständige Alterssicherung von Frauen geschaffen
und mit dem Gesetz zur sozialen Grundsicherung im Alter insbesondere Frauenarmut im Alter beseitigt.
({2})
Durch die Flexibilisierung der Elternzeit und den
Rechtsanspruch auf Teilzeitbeschäftigung
({3})
können sich Mütter und Väter besser denn je Familienund Erwerbsarbeit teilen.
Darüber hinaus haben wir präventiv durch unseren
auch international beachteten Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in diesem Bereich wesentliche Erfolge erzielt. Wir werden den Aktionsplan
mit allen betroffenen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen fortschreiben.
({4})
Aber vor allem die gesetzlichen Maßnahmen haben
Wirkung gezeigt, und zwar umso bessere, je mehr die
Landesregierungen hinter den Intentionen des Gewaltschutzgesetzes standen. So wurden in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel im ersten Halbjahr 2002 mehr als
2 000 Wohnungsverweisungen des Täters durch die Polizei ausgesprochen und damit 2 000 Müttern und ihren
Kindern der Verbleib in ihren Wohnungen ermöglicht.
({5})
Gemeinsame zielorientierte Arbeit führt zum Erfolg.
Im Interesse der Frauen werden wir das auch für die
Gleichstellung in der Privatwirtschaft umsetzen.
({6})
Ende 2003 wird die Bilanzierung hinsichtlich der vom
Bundeskanzler mit den Wirtschaftsverbänden abgeschlossenen freiwilligen Vereinbarung vorgenommen.
Die hochrangige Begleitgruppe ist installiert. Das IAB
liefert uns Zahlen. Ich bin hoffnungsfroh, dass wenigstens einige positive Veränderungen erkennbar werden.
Auf der Ebene der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber, beim DGB, bei vielen Großbetrieben und auch einigen kleineren und mittleren Betrieben rennt man mit
der Forderung nach frauen- und familienfreundlichen
Arbeitsbedingungen inzwischen offene Türen ein.
Diese Vorbilder werde ich sichtbar machen. Der nächste
Wettbewerb „Der familienfreundliche Betrieb“ wird den
Schwerpunkt „flexible Arbeitszeiten und Kinderbetreuung“ haben.
Vorbildliches betriebliches Verhalten muss sich aber
in der Breite und nach unten fortsetzen. Deshalb werden
wir durch eine von uns in Auftrag gegebene Studie nachweisen, dass es sich auch betriebswirtschaftlich lohnt,
die gut ausgebildeten Frauen zu halten, die Inanspruchnahme von Teilzeit und Elternzeit für Frauen und Männern zu fördern und nicht zu behindern und - das ist mir
besonders wichtig - Kompetenzen, die in der Familie erworben wurden, im Beruf auch positiv zu bewerten und
nicht als Dequalifikation zu erachten.
({7})
Ich werde dazu beitragen, dass diese Erkenntnisse
nicht nur Allgemeingut werden, sondern auch durch lokale Bündnisse für familien- und frauenfreundliche Arbeitsbedingungen, zu denen selbstverständlich nicht nur
betriebliche, sondern auch öffentliche Anstrengungen
gehören, umgesetzt werden. Letzteren werden wir mit
unseren beiden Programmen, dem 4-Milliarden-EuroProgramm für den Ausbau von Ganztagsschulen und
dem 1,5-Milliarden-Euro-Programm zur Verbesserung
der Betreuung der unter 3-Jährigen, Rechnung tragen.
Ich betone nochmals: Dafür gibt es keine Zuständigkeit des Bundes; es ist eine freiwillige Leistung. Länder
und Kommunen sind schon seit langem in der Verpflichtung, das umzusetzen, was im Kinder- und Jugendhilferecht steht, nämlich den bedarfsgerechten Ausbau von
Kinderbetreuungsplätzen zu gewährleisten. Hier wurde
in den letzten drei Jahrzehnten leider zu wenig getan.
({8})
- Frau Lenke, ich mache da keine Unterschiede. Hier haben sich weder CDU- noch SPD-regierte Länder besonders hervorgetan. Das kann man für alle - mit graduellen
Unterschieden - sagen.
Natürlich weiß ich, dass allein bei Mentalitätsveränderungen - auch wenn sie noch so sehr auf harten Fakten beruhen - der Zeitraum bis zur faktischen Gleichstellung
noch einmal mindestens 92 Jahre betragen würde. Dazu
funktioniert Old-Boys‘-Network leider Gottes im Gegensatz zu Young-Women‘s-Network einfach noch zu gut.
({9})
Deshalb brauchen wir natürlich auch gesetzliche Maßnahmen.
Die EU-Gleichstellungsrichtlinie, die in meinem
Haus federführend umgesetzt werden wird, bietet uns
eine Reihe von Möglichkeiten. Wir werden sie nutzen
und daraus gemeinsam mit Gewerkschaften und Arbeitgebern ein vernünftiges Instrument für die Gleichstellung von Frauen und Männern machen, und zwar über
das hinaus, was wir bereits mit dem neuen Betriebsverfassungsgesetz umgesetzt haben. Es wird unter anderem
eine nationale Gleichbehandlungsstelle und in diesem
Rahmen für Fälle von grundsätzlicher Bedeutung ein
Klagerecht geben. Es wird auch Sanktionen geben, die
diesen Namen verdienen.
Diskriminierungen wegen des Geschlechts gibt es nach
wie vor und allenthalben. So hat zum Beispiel das ZEW
in Mannheim ermittelt, dass sich die Inanspruchnahme
von Elternzeit negativer auf das künftige ArbeitseinkomBundesministerin Renate Schmidt
men auswirkt als Arbeitslosigkeit von ähnlich langer
Dauer. Ich werde darauf achten, dass mit der richtigen
und notwendigen weiteren Umsetzung des Hartz-Konzepts, nämlich der Zusammenlegung von Arbeitslosenund Sozialhilfe, nicht neue mittelbare Diskriminierungen
für Frauen entstehen. Diese Gefahr besteht und wir müssen schauen, dass wir sie abwenden.
({10})
Diskriminierend ist auch, dass es in Deutschland zwar
gleichen Lohn für gleiche Arbeit, nicht aber für gleichwertige Arbeit gibt. Zwischenzeitlich gibt es sehr gute
und praktikable Methoden, mit denen Gleichwertigkeit
von Arbeit ermittelt werden kann. Ich werde mich für
Rahmenrichtlinien stark machen - und sie in meinem
Ministerium erarbeiten -, die den Tarifvertragsparteien
helfen können, zu einer geschlechtergerechten Einkommensfindung zu kommen, aber auch helfen, Diskriminierungstatbestände aufzudecken.
Einkommensunterschiede resultieren neben den häufigeren Unterbrechungszeiten und den damit einhergehenden selteneren Führungspositionen für Frauen - auch
aus dem Berufswahlverhalten von Frauen. Bei den ITAusbildungsberufen verharrt der Anteil der Mädchen bei
unter 14 Prozent. Mit dem neuen Programm „Informationsgesellschaft Deutschland 2006“ wollen wir das ändern. Ziel ist die Steigerung des Anteils der Frauen in
diesen Berufen auf 40 Prozent.
({11})
Der Girls‘ Day, der Mädchenzukunftstag, wird dazu beitragen, das Interesse junger Frauen an angeblich frauenuntypischen Berufen zu steigern.
({12})
An einer weiteren Stelle werden wir tätig werden: Die
Aufteilung der Steuerklassen III und V kann bei Frauen
den Eindruck erwecken, ihre Arbeit sei nichts wert. Wir
werden eine Lösung dieses Problems herbeiführen, und
zwar so, dass das monatlich zur Verfügung stehende Familieneinkommen nicht geschmälert wird und gleichzeitig die derzeit in der Steuerklasse V arbeitende Ehefrau
das ihr zustehende Nettoeinkommen erhält.
({13})
Gleichstellungspolitik will heute mehr als vor
20 Jahren. Sie will beiden Geschlechtern alle Lebensmöglichkeiten ohne Diskriminierung eröffnen. Das nennt
man Gender Mainstreaming. Denn auch Männer sind
benachteiligt, auch wenn sie es seltener merken als
Frauen. Wenn 75 Prozent der Männer, so das Ergebnis einer jüngsten Umfrage, für einen gewissen Zeitraum gerne
teilzeitbeschäftigt wären oder Elternzeit in Anspruch
nähmen, dies aber nur zu einem Bruchteil tun, dann ist
dies auch eine Beschneidung von Lebensmöglichkeiten
aus Angst um den beruflichen Erfolg, aber auch wegen
des Ansehensverlustes bei Kollegen und Vorgesetzten.
({14})
Deshalb werden wir den Begriff Gender Mainstreaming nicht nur als Schlagwort benutzen, sondern Gender
Mainstreaming im öffentlichen Dienst des Bundes praktizieren und in den Köpfen der Verantwortlichen verankern. Dazu werden wir vor allem mit dem Aufbau eines
Gender-Kompetenzzentrums Hilfestellung leisten.
({15})
Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Damen, Gleichstellungspolitik ist mehr als Familienpolitik
und Familienpolitik ist mehr als Gleichstellungspolitik.
Keiner dieser Politikbereiche darf jemals Anhängsel des
anderen sein oder werden. Politik für Frauen und mit
Frauen ist eine Frage der Gerechtigkeit und darüber hinaus immer zugleich gute Familienpolitik, gute Gesundheitspolitik, gute Bildungs- und Sozialpolitik, gute Wirtschaftspolitik und damit ein Stück Zukunftssicherung für
uns alle: für Männer, für Frauen und natürlich für unsere
Kinder.
({16})
Ich erteile das Wort der Kollegin Maria Eichhorn,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, Schönreden hilft nicht. Die Armut der Frauen
hat sich leider nicht verringert. Im Gegenteil: Sie wird
sich verstärken. Das ist für mich die wichtigste Erkenntnis aus dem Bericht. Dazu werde ich ganz besonders
Stellung nehmen.
Deutschland ist aus der Balance geraten. Die Schere
zwischen Arm und Reich hat sich in den letzten Jahren
immer stärker geöffnet. Betroffen sind vor allem Erwerbslose, mittlerweile 4,7 Millionen Menschen, sowie
Familien mit Kindern. Besonders ernüchternd ist die
wirtschaftliche Lage der Frauen in Deutschland. Drei
von vier Frauen zwischen 30 und 59 sind im Alter von
Armut bedroht. Das hat das Deutsche Institut für Altersvorsorge festgestellt. Die Gründe hierfür liegen in
den typisch weiblichen Erwerbsbiographien. Frauen
verzichten wegen der Kindererziehung auf Erwerbstätigkeit oder unterbrechen sie. Sie sind häufiger teilzeitbeschäftigt, haben die schlechter bezahlten Jobs und
sind öfter von Arbeitslosigkeit betroffen. Die Folge sind
geringere Rentenansprüche, die oft kaum zum Leben
reichen.
1998 erklärte der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung, Frauen dürften nicht dafür bestraft werden, dass Phasen der Kindererziehung und Erwerbsarbeit
einander abwechseln.
({0})
Dem ist zuzustimmen. Aber wie sieht die Wirklichkeit
aus? Was der Deutsche Frauenrat bereits im Juni 2000
festgestellt hat, wurde vom Statistischen Bundesamt am
Wochenende bestätigt: Frauen sind die Verliererinnen
der rot-grünen Rentenreform.
({1})
Sie verdienten 2002 immer noch ein Drittel weniger als
Männer. Die Kluft zwischen den Einkommen wird sich
in Zukunft noch vergrößern. Ursache dafür ist die
Riester-Rente.
({2})
„Gleichberechtigung Fehlanzeige“, so lautete eine
entsprechende Überschrift in der „Süddeutschen Zeitung“. Die Riester-Rente verhindert, dass Frauen und
Männer jemals gleich viel Geld haben werden. Der
Grund liegt in den Produkten der Anbieter. Diese sehen
überwiegend schlechtere Tarife für Frauen als für Männer vor. Wenn ein 30-jähriger Mann und eine 30-jährige
Frau die gleiche Summe in ihre Rentenvorsorge stecken,
erhält der Mann bei einem Versicherungsbeispiel
784 Euro Rente, die Frau jedoch 105 Euro weniger. Das
ist ein Skandal.
({3})
Als Begründung wird die statistisch höhere Lebenserwartung der Frauen angeführt. Dies bedeutet im Klartext: Frauen müssen entweder während ihres Berufslebens mehr für ihre Altersvorsorge sparen oder im Alter
mit weniger Geld auskommen. Dies ist eine Ungleichbehandlung sondergleichen.
({4})
Es kann ja wohl nicht sein, dass der Staat eine solche
diskriminierende Altersvorsorge fördert. Die Bundesregierung nimmt dies lediglich bedauernd zur Kenntnis.
Sie akzeptiert also, dass die Frauen die Verliererinnen
der Rentenreform sind.
Nach Meinung der Verfassungsrechtlerin Sacksofsky
ist diese Unterscheidung jedoch ein klarer Verstoß gegen
Art. 3 des Grundgesetzes, wonach niemand wegen seines Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden
darf. Sie sieht hier eine unmittelbare Diskriminierung,
die das Bundesverfassungsgericht sofort kippen würde.
Aber auch dann, wenn andere Verfassungsrechtler dies
anders sähen, läge immer noch eine mittelbare Diskriminierung vor, gegen die der Staat vorgehen muss.
Die Bundesregierung kann nicht weiterhin die Hände
untätig in den Schoß legen und sich hinter den Marktgesetzen verstecken. Sie muss dafür sorgen, dass diese Ungleichheit beseitigt wird. Die Privatvorsorge darf Frauen
nicht zusätzlich belasten. Wir brauchen daher UnisexTarife. Die Rentenreform der Bundesregierung ist und
bleibt ein Antifrauenprogramm. Die Renten für Frauen
sind im Durchschnitt von denen der Männer weit entfernt. Hinzu kommt: je mehr Kinder, desto weniger
Rente.
Für uns ist der Ausbau der eigenständigen Alterssicherung für Frauen besonders wichtig. Viele Frauen
wollen Beruf und Familie miteinander vereinbaren. Voraussetzung sind flexible Arbeitszeiten, vielfältige qualifizierte Angebote zur Teilzeitarbeit und der Ausbau einer
bedarfsgerechten Kinderbetreuung für alle Altersstufen.
Das heißt, wir brauchen ein Konzept, das den Bedürfnissen der Eltern und insbesondere denen der Kinder gerecht wird.
({5})
Dies ist uns besonders wichtig. Sie setzen allein auf
Ganztagsangebote, wir dagegen auf ein vielfältiges Betreuungsangebot, das individuelle Erfordernisse berücksichtigt.
({6})
Viele Frauen unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit, um
sich voll der Erziehung ihrer Kinder zu widmen. Diese
Frauen brauchen mehr Unterstützung beim Wiedereinstieg in den Beruf. Es ist einfach nicht hinnehmbar, dass
Mütter nach der Zeit der Familienphase oft nur noch in
schlecht bezahlten, berufsfremden Tätigkeiten unterkommen. Dazu müssen aber erst einmal Arbeitsplätze
geschaffen werden. Hier hat die Bundesregierung völlig
versagt.
({7})
Monat für Monat steigen die Arbeitslosenzahlen. Wir
sind sehr gespannt, was der Kanzler morgen dazu sagen
wird. Aber wir brauchen nicht nur Worte, sondern endlich Taten.
({8})
Meine Damen und Herren, die eigenständige soziale
Sicherung ist ein Teil der Alterssicherung von Frauen.
Genauso wichtig ist die Hinterbliebenenrente. Die Absenkung des Rentenniveaus durch Rot-Grün trifft die
Frauen doppelt: bei ihrer eigenen Rente und bei der Witwenrente. Seit dem letzten Jahr ist die Witwenrente von
60 Prozent auf 55 Prozent abgesenkt. Das entspricht einer realen Kürzung um 8,3 Prozent. Diese Einschnitte
können auch durch die Zuschläge für Kinder nicht ausgeglichen werden. Das gesamte Versorgungsniveau sinkt
trotzdem um bis zu 25 Prozent. Das Einfrieren des Freibetrags und damit die Abkopplung von der allgemeinen
Einkommensentwicklung konnte die Union im Vermittlungsausschuss Gott sei Dank verhindern.
({9})
Für uns steht fest, dass auf absehbare Zeit auf die Witwenrente nicht verzichtet werden kann; denn nach Expertenberechnungen wird die Rente von Frauen auch in
30 Jahren im Durchschnitt nur etwa die Hälfte der Rente
von Männern betragen. Es ist unhaltbar, dass die Aufwertung der Kindererziehungszeiten mit den Kürzungen
bei der Witwenrente finanziert wird. Statt Frauen stärker
zu entlasten, werden sie noch weiter belastet. Das ist unsozial und ungerecht, meine Damen und Herren.
({10})
Dies gilt auch für die Förderung der Privatvorsorge,
durch die Gutverdienende bevorzugt werden. Während
eine Verkäuferin mit einem Einkommen von 15 000 Euro
eine Zulage von 155 Euro bekommt, bekommt ihr Chef
mit einem Jahreseinkommen von 50 000 Euro zusätzlich
noch einen Steuervorteil von 650 Euro. Wo ist da Gerechtigkeit?
({11})
Die Union hat in ihrer Regierungszeit die Berücksichtigung der Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung eingeführt und damit den Grundstein für eine
gerechtere Alterssicherung für Frauen gelegt. Generationengerechtigkeit und soziale Verträglichkeit, das war
und ist unsere Maxime. Diese sucht man bei Ihnen vergebens. Wir wollen eine Alterssicherung für Frauen, die
Altersarmut verhindert und Ungerechtigkeiten beseitigt.
Ihre Rentenreform ist bereits heute Makulatur. Trotz Reform steigen die Beiträge weiter an.
({12})
Daher fordern wir: Ändern Sie das Rentengesetz! Sorgen
Sie dafür, dass die Frauen nicht weiter die Verliererinnen
der Rentenreform sind!
({13})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard
Schewe-Gerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die heutige Debatte über den Fünften Staatenbericht der Bundesregierung zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau bietet
die Gelegenheit, die Gleichstellungssituation in unserem
Land etwas näher zu beleuchten. Alle vier Jahre muss
Deutschland dem zuständigen UN-Ausschuss über die
Entwicklung der Lebenssituation von Frauen berichten.
Ich freue mich besonders, zu unserer Debatte auch die
Vertreterinnen zahlreicher Frauenverbände zu begrüßen,
die heute auf der Tribüne Platz genommen haben. Herzlich willkommen!
({0})
Ihre oft auch kritischen Positionen im Interesse der
Frauen sind uns ein Ansporn für unsere Arbeit.
Das CEDAW-Abkommen zur Beseitigung jeder Form
von Diskriminierung der Frau aus dem Jahr 1979 verpflichtet die Bundesregierung, die Gleichberechtigung
von Mann und Frau in wirtschaftlicher, sozialer, kultureller, bürgerlicher und politischer Hinsicht sicherzustellen. Durch die Verabschiedung des Fakultativprotokolls
ist aus diesem CEDAW-Abkommen inzwischen auch ein
rechtlich verbindliches Instrument entstanden. Seit Januar 2002 können Frauen im Falle einer Diskriminierung
nämlich individuell Beschwerde bis hin zu den Vereinten
Nationen einlegen. Zurzeit wird in Deutschland das erste
Untersuchungsverfahren durchgeführt. Im Falle von
zehn weiblichen Angestellten in Diplomatenhaushalten
wird auf systematische Benachteiligungen hin geprüft.
Der vorliegende Fünfte CEDAW-Bericht belegt eindrucksvoll, welche Fortschritte in den vergangenen vier
Jahren durch die Politik der rot-grünen Bundesregierung
erzielt wurden. Diese Fortschritte waren auch dringend
nötig; denn die von CDU/CSU geführte Regierung - das
belegen die Zahlen - hatte uns 1998 eine eher miserable
gleichstellungspolitische Situation hinterlassen.
({1})
Anders, meine Damen und Herren von der Opposition, kann ich die lange Mängelliste des CEDAW-Ausschusses zu den damals überfälligen gleichstellungspolitischen Notwendigkeiten nicht erklären. Stellen Sie sich
die Kritik des Ausschusses wie einen TÜV-Bericht für
die Gleichstellungspolitik vor! Der Ausschuss hat der
damaligen Bundesregierung eine Mängelliste mit mehr
als 28 Punkten zur Erledigung ausgehändigt. Wenn Sie
mir erlauben, im Bild zu bleiben, sage ich: Was die von
CDU/CSU geführte Bundesregierung gleichstellungspolitisch hinterlassen hatte, konnte bestenfalls als „nicht
fahrtüchtig“ bezeichnet werden.
({2})
- Es ist so! Wir haben es leider schriftlich, Frau
Eichhorn.
Die Kritik der Vereinten Nationen an der Gleichstellungspolitik der von CDU/CSU geführten Regierung bezieht sich auf zwei zentrale Bereiche - das hört sich anders an als Ihre Rede; die Medaille hat eben zwei Seiten -,
einmal den fehlenden Abbau der systematischen Diskriminierung von Frauen, insbesondere im Erwerbsleben,
und zum anderen die mangelhaften Maßnahmen zum
Schutz von Frauen, insbesondere Migrantinnen, vor
Gewalt.
In diesen beiden Bereichen haben wir nachhaltige
Verbesserungen erzielen können. Ich nenne nur einige:
das Elternzeitgesetz, das Teilzeitgesetz, ein Gleichstellungsgesetz für den öffentlichen Dienst, gesetzliche Änderungen für die Erwerbsarbeit, das Lebenspartnerschaftsgesetz, die Verbesserung der rechtlichen und
sozialen Situation von Prostituierten, das Gewaltschutzgesetz, der eigenständige Aufenthalt für ausländische
Ehefrauen. Ich könnte diese Liste noch verlängern. Alles
das haben wir in vier Jahren erreicht. Frau Eichhorn, das
sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen!
({3})
Wir sehen es aber auch als unsere Verpflichtung an,
Frauen, die Opfer furchtbarster Menschenrechtsverletzungen, etwa von Verstümmelungen, Vergewaltigungen
in kriegerischen Auseinandersetzungen und Zwangsprostitution, werden, in Deutschland Schutz zu geben. Darum beinhaltet das Zuwanderungsgesetz - heute Morgen
wurde darüber diskutiert - die Anerkennung geschlechtsspezifischer und nicht staatlicher Verfolgung
nach der Genfer Flüchtlingskonvention.
Meine verehrten Kollegen und Kolleginnen von der
Opposition, Sie haben es nicht nur während Ihrer Regierungsverantwortung versäumt, etwas zum verbesserten
Schutz der Migrantinnen zu tun, sondern verhindern
noch heute dringend notwendige Reformen. Ihre fehlende Zustimmung im Bundesrat kann ich nur als eines
bezeichnen: als verantwortungslos. Das sieht der CEDAW-Ausschuss ganz genauso.
({4})
Als würde das nicht reichen, haben Sie bereits angekündigt, erzielte Verbesserungen der rot-grünen Regierung
wieder rückgängig zu machen. Wir werden es nicht zulassen, dass künftig ausländische Ehefrauen vier Jahre in unzumutbaren Ehen verharren, um nicht aus Deutschland ausgewiesen zu werden. Das werden Sie nicht erreichen.
Ich will es überhaupt nicht verhehlen: Wir haben noch
unendlich viel zu tun, bevor wir gerade im Erwerbsleben und bei der traditionellen Rollen- und Aufgabenverteilung eine faktische Gleichstellung von Frauen und
Männern erreicht haben. Diese Verantwortung nehmen
wir ernst. Das wissen die Frauen; darum haben sie RotGrün wiedergewählt. Wir werden alles dafür tun, dass
die Lohnungerechtigkeit, die im Hinblick auf das durchschnittliche Frauen- und Männereinkommen besteht und
30 Prozent ausmacht, bald der Vergangenheit angehört.
Beginnend beim öffentlichen Dienst werden wir die Tarifparteien auf nicht diskriminierende Tarife verpflichten, wie es der Europäische Gerichtshof fordert. Ich freue
mich, dass auch die Ministerin das gerade so formuliert
hat. Die jungen Frauen, die inzwischen bessere Schulund Hochschulabschlüsse haben als ihre männlichen
Kollegen, lassen sich nicht länger mit 70 Prozent des
durchschnittlichen Einkommens abspeisen. Frauen wollen 100 Prozent. Es ist an der Zeit für Lohngerechtigkeit.
({5})
Zu Recht mahnt der CEDAW-Ausschuss aber auch
die mangelnden Anreize für die Privatwirtschaft an, aktiv an der Gleichstellungspolitik mitzuwirken. Mit der
Vereinbarung mit den Spitzenverbänden der Privatwirtschaft ist ein Anfang gemacht. Das ist zu wenig; das wissen wir. Wir werden die Erfolge prüfen und ich hoffe, es
wird Erfolge geben.
({6})
- Dann kommen gesetzliche Regelungen, verehrte Frau
Kollegin. Aber darauf komme ich in den nächsten Sätzen zu sprechen. Sie sollten sich also etwas gedulden.
Weitere Maßnahmen wie die Koppelung der Vergabe
von öffentlichen Aufträgen an die Umsetzung der
Gleichstellung und Regelungen für die Privatwirtschaft
müssen bei der Umsetzung von EU-Richtlinien folgen.
({7})
Aber auch bei den Reformen des Arbeitsmarktes und der
sozialen Sicherungssysteme muss das Prinzip „Gender
Mainstreaming“ besser als bisher verwirklicht werden.
Ich nenne die für Frauen höheren Beiträge für die private
Altersvorsorge. Ich lasse nicht in meiner Forderung
nach, dass wir hier Änderungen vornehmen müssen. In
diesem Punkt kann ich Ihnen, Frau Eichhorn, zustimmen; damit habe ich kein Problem.
Die Anmerkung des Ausschusses, stärker die notwendige Verhaltensänderung von Männern in den Blick zu
nehmen, ist Rückenwind für die Position der Grünen.
Damit deutlich mehr Väter schon früh Verantwortung für
ihre Kinder übernehmen, wäre ein kurzer Vaterschaftsurlaub sicherlich ein sehr guter Anreiz. Auch die Mahnung
des Ausschusses, die Wirkung des Ehegattensplittings
im Hinblick auf die Verfestigung von stereotypen Rollen
zu überprüfen, ist Wasser auf unsere Mühlen. Denn das
Ehegattensplitting und die Steuerklasse V haben sich als
Erwerbshindernisse für Frauen herausgestellt. Das müssen wir ändern.
({8})
- Verehrte Kollegin Lenke, die FDP hat bis vor einem
Jahr in ihrem Programm die Abschaffung des Ehegattensplittings vorgesehen. Irgendwann ist Ihnen in den Sinn
gekommen, dass das für einzelne Personen eine Steuererhöhung darstellen könnte.
({9})
Dann haben Sie es wieder herausgestrichen. Wir befanden uns lange in einem Boot.
({10})
- Herr Thiele, ich weiß das genau.
({11})
Lassen Sie mich mit einem Zitat aus der Begründung
des CEDAW-Abkommens schließen; denn auf die Friedenspolitik im Zusammenhang mit Frauen bin ich überhaupt nicht eingegangen. Wir haben gestern im Rahmen
einer Umfrage zur Kenntnis nehmen können, dass
94 Prozent der Frauen gegen einen Kriegseinsatz sind.
Auch in diesem Zitat aus dem CEDAW-Abkommen
wird auf die Friedenspolitik eingegangen. Dort heißt es:
Voraussetzung für die vollständige Entwicklung eines Landes, für das Wohlergehen der Welt und für
die Sache des Friedens ist die größtmögliche und
gleichberechtigte Mitwirkung der Frau in allen Bereichen.
Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Ich danke Ihnen.
({12})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ina Lenke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
komme gern auf die Rede meiner Kollegin von den Grünen zurück. Sie hat ja auf das Steuerrecht abgehoben. Zu
diesem Bereich können Sie sich ja einmal untereinander
aussprechen. Denn die Ministerin hat, während Sie von
den Grünen gesagt haben, dass Sie in diesem Bereich etwas tun wollen, in einer Veröffentlichung ausgeführt,
dass das Ehegattensplitting nicht abgeschafft wird.
({0})
In den letzten vier Jahren habe ich festgestellt, dass nur
sehr wenige Ideen von den Grünen hier im Bundestag
umgesetzt wurden.
({1})
Ich freue mich - das möchte ich vorab sagen -, Frau
Ministerin, dass Sie in Ihrer Rede - das haben wir in den
letzten vier Jahren gefordert - darauf eingegangen sind,
dass wir die Lohnsteuerklasse V endlich abschaffen
müssen. Es handelt sich hier um eine faktische Benachteiligung, nicht aber um eine rechnerische.
({2})
- Nein, das habe ich hier im Bundestag zum allerersten
Mal von Ihnen gehört. Das hat nie auf der Agenda von
SPD und Grünen gestanden.
({3})
Auch wir werden eigene Vorschläge machen. Dann wollen wir einmal sehen, ob es hier im Bundestag eine
Mehrheit zur Abschaffung der Steuerklasse V geben
wird.
({4})
Meine Damen und Herren, nun möchte ich zum aktuellen Tagesordnungspunkt, dem Fünften Bericht zum
Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung
jeder Form der Diskriminierung der Frau, kommen. Hier
erfüllt die Bundesregierung grundsätzlich ihre Berichtspflicht
({5})
und legt uns auch eine nützliche Datensammlung vor.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Daten sind
wenig erfreulich. Ihr Bericht verweist auf die vielfältige
Benachteiligung von Frauen in Deutschland und liefert
unzählige Belege dafür. Aus dieser Verantwortung können Sie sich nicht stehlen. Denn Sie sind bereits ein halbes Jahrzehnt an der Regierung
({6})
und haben Ihre Aufgabe nicht so hundertprozentig erfüllt,
wie die Jubelarien meiner Kollegin von den Grünen, Frau
Schewe-Gerigk, das heute sichtbar machen sollten.
Spannend ist, was in diesem Bericht nicht gesagt
wird,
({7})
was untergeht und was falsch verstanden werden muss.
({8})
So listet die Bundesregierung in ihrer Analyse zwar gewissenhaft die eigenen und fremden Aktivitäten zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen auf. Aber auf
bestehende eklatante Defizite kommen Sie, Frau
Schmidt, in Ihrem Bericht nicht zu sprechen.
({9})
In der Summe entspricht der Bericht der Bundesregierung meines Erachtens somit nicht dem Alltag der
Frauen in Deutschland. Ich meine, er ist geschönt.
({10})
Deswegen hat die FDP-Fraktion einen eigenen Entschließungsantrag zu dem CEDAW-Bericht eingebracht, über den wir ja auch demnächst in einer öffentlichen Ausschusssitzung beraten werden.
({11})
Wir wollen damit in entscheidenden Punkten die wahren
Situationen und Zusammenhänge aufzeigen. In unserem
Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, diese Defizite zügig zu beseitigen.
({12})
Sie haben uns im Boot, wenn Sie darauf liberale, nicht
nur soziale und grüne Antworten geben.
({13})
Ich möchte in meinem Beitrag auf die dramatische
Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt und in der
Wirtschaft in Deutschland zurückkommen. Bei über
4,7 Millionen Arbeitslosen sind die Chancen für Frauen,
eine unbefristete, existenzsichernde Vollzeitstelle zu finden, so schlecht wie nie. Die Zusammenhänge zwischen
verfehlter Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik und Benachteiligungen von Frauen verschweigt der Bericht geflissentlich;
({14})
denn es ist ja ein Bericht der Bundesregierung. Die gestiegene Erwerbstätigenquote von Frauen wird gelobt.
Jedoch wird nicht deutlich gemacht, dass zwar mehr
Frauen arbeiten, aber nur in Teilzeit und nicht in Vollzeit.
({15})
Die Bundesregierung fördert diese Entwicklung, indem sie zwar gesetzliche Ansprüche auf Teilzeitbeschäftigung schafft, aber nicht für die nötige Kinderbetreuung
sorgt.
Ich möchte auf die Vorgängerin von Ministerin
Schmidt zu sprechen kommen, die im letzten halben Jahr
der vergangenen Legislaturperiode einen Betreuungsgipfel vorgeschlagen hat. Dieser Betreuungsgipfel hat nicht
stattgefunden.
({16})
Jetzt verspricht uns die neue Ministerin wiederum einen
Betreuungsgipfel. Wollen wir einmal abwarten, was das
Ergebnis dieses Betreuungsgipfels sein wird!
({17})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, gerne.
({0})
Frau Lenke, Sie haben gerade die Situation von
Frauen auf dem Arbeitsmarkt und die Regelungen zur
Teilzeitarbeit angesprochen. Ich möchte Sie fragen, ob
Sie die Zahlen über die Verteilung von Vollzeitbeschäftigung und Teilzeitbeschäftigung bei Frauen kennen. Wir
haben in der Tat bei den Vollzeitbeschäftigten einen
Rückgang von 98 000 zu verzeichnen, aber auf der anderen Seite - das ist entscheidend - haben wir über
900 000 teilzeitbeschäftigte Frauen mehr. Das heißt also:
neunmal mehr beschäftigte Frauen durch Teilzeitjobs.
({0})
Von daher war unser Gesetz, mit dem wir die Teilzeitregelung geschaffen haben, durchaus richtig. Kennen Sie
diese Zahlen oder kennen Sie sie nicht? Das würde ich
gerne wissen.
Frau Humme, Sie geben mir eine sehr gute Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass Sie Ihre Statistik bei der
Zahl der geringfügig Beschäftigten geschönt haben.
({0})
Früher, als die geringfügig Beschäftigten noch pauschal
Lohnsteuer gezahlt haben, waren sie in dieser Berechnung
nicht enthalten. Ich glaube, 400 000 - Herr Kolb, ist das
so? -, jedenfalls mehrere hunderttausend Beschäftigte,
sind durch die Umstellung von der pauschalen Lohnsteuer
hin zur pauschalen Abführung an die Sozialversicherung
mit in diese Statistik gekommen. Wenn Sie diese Zahlen
herausrechnen, sieht die Statistik längst nicht mehr so gut
aus, wie Sie mir hier weismachen wollen.
({1})
Ich will die Diskussion hier nicht verlängern. Wir können uns gern im Ausschuss darüber unterhalten. Dann
kann ich Ihnen genau sagen - die Zahlen sind auch in
unserem Antrag enthalten -, dass diese Quoten nur wenig gestiegen sind.
Wir sind ja gar nicht so weit auseinander, aber liberale
Ansätze sind halt andere als die der SPD.
({2})
Wir meinen, es sind auch erfolgreiche Ansätze. Bei uns
wären die Arbeitslosenzahlen nicht so hoch gestiegen
und sie würden nicht noch mehr steigen, wenn wir an der
Regierung wären.
({3})
Ich meine, dass die Bundesregierung die Entwicklung
hinsichtlich der Teilzeitbeschäftigung fördert, weil die
Kinderbetreuung fehlt. Ich hoffe, dass die Regierung
sich endlich mit den Ländern zusammensetzt und die
Voraussetzungen für vielfältige Formen der Kinderbetreuung schafft. Ich denke nicht nur an staatliche Kinderbetreuung, sondern zum Beispiel auch an Tagesmütter
und private Angebote.
({4})
- Ja, aber in den letzten Jahren ist nichts von Ihnen gekommen, Sie haben nur darüber geredet.
Meine Damen und Herren, die hohe Arbeitslosigkeit
wirkt sich nicht nur materiell auf Frauen aus, jedes Prozent der Arbeitslosigkeit dreht auch das Rad der Gleichberechtigung von Frauen wieder ein Stück zurück.
({5})
Frau Ministerin, Sie haben am Anfang Ihrer Rede gesagt, dass Sie mit der Situation der Frauen in unserem
Land nicht voll zufrieden sind und dass es noch vieles zu
verändern gibt. Ich denke dabei an die Verfehlungen und
die Untätigkeit Ihrer Regierung in Bezug auf den Arbeitsmarkt, die Steuergesetze und die Wirtschaftsgesetze
und nenne als Beispiel den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit. Wenn Frau Schewe-Gerigk jetzt auch noch ein
Gleichberechtigungsgesetz für die Wirtschaft ankündigt, kann ich Ihnen nur sagen: Damit werden wir nicht
mehr Frauen in Arbeit bekommen, Frau Schewe-Gerigk.
({6})
Ich glaube, durch ein solches Gesetz wird es mehr Umgehungstatbestände geben, als dass es überhaupt etwas
bringt.
Ich komme jetzt zu den Frauen als stiller Reserve. Ich
glaube, dass viele Frauen wegen der hohen Arbeitslosigkeit gar nicht mehr den Mut haben, ihre Arbeitskraft auf
dem Arbeitsmarkt anzubieten. Deshalb tauchen sie in der
Arbeitsmarktstatistik nicht mehr auf. Das wollen wir
nicht. Die nachhaltige Integration von Frauen in allen
gesellschaftlichen Bereichen und besonders in der Arbeitswelt ist entscheidend für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
Ich möchte zu einer Gemeinsamkeit zurückkommen.
Wir haben ein gemeinsames frauenpolitisches Ziel und
ich denke, wir sollten trotz unterschiedlicher Ansätze
versuchen, dieses Ziel in der Realität umzusetzen. Die
Potenziale von Frauen - ich komme zum Schluss, Frau
Präsidentin -, ihr Wille und ihre Fähigkeit, ihr Leben eigenverantwortlich für sich und die Familie zu gestalten,
müssen durch kluge Politik befördert werden. Ich meine,
durch eine bessere Politik als die jetzige. Geben Sie sich
einen Ruck, sehen Sie sich auch die liberalen Konzepte
an. Ich denke, dann werden wir gemeinsam in diesem
Parlament etwas für Frauen tun können.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christel Humme.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Auch ich möchte es nicht versäumen, die Vertreterinnen der Frauenverbände, die oben auf der Tribüne sitzen, herzlich im Bundestag willkommen zu heißen. Ich
hoffe, dass wir ihnen heute eine Diskussion liefern - um
mit dem Schlusswort von Frau Lenke zu sprechen -, aus
der deutlich wird, welche Frauenpolitik hier im Bundestag gemacht wird.
Der Fünfte Staatenbericht, über den wir heute reden,
ist gleichzeitig der erste dieser rot-grünen Bundesregierung. Er stellt eine hervorragende Bestandsaufnahme zu
Beginn der 15. Legislaturperiode dar - kein Schönreden,
wie Sie gerade gesagt haben - und ermuntert uns, unsere
erfolgreiche Gleichstellungspolitik fortzusetzen.
({0})
Ich weiß: Vier Jahre sind nach 16 Jahren gleichstellungspolitischer Durststrecke äußerst wenig. Wir haben diese
vier Jahre aber genutzt, um umzusteuern und unsere Politik den gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen.
2001 waren 931 000 Frauen - das sind fast 1 Million
Frauen - mehr erwerbstätig als 1997. Die Zahl der erwerbstätigen Frauen hat sich seit der Vorlage des Vierten
Staatenberichts deutlich erhöht; sie liegt jetzt bei
58,8 Prozent. Das zeigt deutlich, dass Frauen eine gleiche Teilhabe am Erwerbsleben wollen. Die konservative Politik des Entweder-oder, das heißt, sich zwischen
beruflichem Erfolg und Familienglück entscheiden zu
müssen, hat uns ganz eindeutig in die Sackgasse geführt.
({1})
Ich denke, das ist ein Skandal. Wir wollen das, was in
anderen europäischen Ländern schon selbstverständlich
ist, nämlich die Freiheit, sich für Familie und Beruf entscheiden zu können. Das nenne ich echte Wahlfreiheit.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, junge Frauen sind
den Männern bereits eine Nasenlänge voraus, wenn es
darum geht, die Grundlagen für erfolgreiches Berufsleben zu legen. 55 Prozent aller Abiturzeugnisse werden
zum Beispiel an junge Frauen gegeben. Dafür werden
sie mittlerweile auch im Job belohnt; denn Frauen bis
30 Jahre sind - das bestätigt der Bericht - ebenso häufig
in Führungspositionen anzutreffen wie ihre männlichen
Kollegen. Das ist eine kleine Sensation. Also: Alles in
Ordnung in der gleichstellungspolitischen Welt? - Ich
denke: mitnichten. Berufliche Diskriminierung aufgrund
verfestigter Rollenmuster ist für die Mehrheit der Frauen
nach wie vor die bittere Realität. Das sagt uns der Bericht ebenfalls. Diese Rollenmuster zu überwinden war
und ist unsere Daueraufgabe.
Vieles von dem, was der CEDAW-Ausschuss noch
1998 in diesem Zusammenhang anmahnte, haben wir
umgesetzt. Ich nenne die Schaffung eines Rechtsanspruches auf Teilzeit, Öffnung der Bundeswehr für Frauen,
({3})
Berücksichtigung der Frauenbelange im Betriebsverfassungsgesetz, Flexibilisierung der Elternzeit sowie die
Schaffung von Programmen zur Förderung der Frauen in
Wissenschaft und Lehre und zur Erweiterung des Berufswahlspektrums von Mädchen. Ich könnte diese Liste
noch beliebig fortführen.
({4})
Sie sehen: Der Abbau von Beschäftigungshemmnissen
für Frauen zieht sich wie ein roter Faden durch alle Politikfelder. Das ist gelebtes Gender Mainstreaming.
({5})
Aber es bleibt natürlich noch viel zu tun. Vollzeitbeschäftigte Frauen verdienten im Vergleich zu vollzeitbeschäftigten Männern im Jahr 2002 ganze 30 Prozent weniger. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Frau
Eichhorn, das ist der eigentliche Grund, warum die Höhe
der Renten so unterschiedlich ausfällt: Es gibt nämlich zu
wenige gut bezahlte, vollzeitbeschäftigte Frauen. Deshalb
gibt es so viele Probleme beim Erwerb eines eigenen Rentenanspruchs. Das Ergebnis heute hat seine Ursache noch in
Ihrer Regierungszeit. Das muss man eindeutig festhalten.
({6})
Wir werden, was die Entlohnung angeht, mit gutem
Beispiel vorangehen. Denn es gilt, den Bundesangestelltentarif auf Fallstricke für Frauen zu untersuchen. Wichtig ist - das wurde gerade erwähnt - auch die Überprüfung der Steuerklasse V. Wenn vom Bruttoeinkommen
kaum etwas übrig bleibt, ist das für Frauen kein Anreiz
zur Arbeitsaufnahme.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, genauso zentral wie
der Abbau von Beschäftigungshemmnissen für Frauen
ist der Abbau von Erziehungshemmnissen für Väter. Beruf und Familie, das muss wie selbstverständlich auch
ein Männerthema sein.
({8})
Deshalb gehen wir davon aus, dass die freiwillige Vereinbarung zur Förderung der Chancengleichheit von
Frauen und Männern in der Privatwirtschaft, die zwischen der Wirtschaft und der Bundesregierung getroffen
wurde, bis Ende 2003 zu Ergebnissen führt. Auch wir als
Gesetzgeber werden handeln und die EU-Gleichstellungsrichtlinie in nationales Recht umsetzen.
({9})
Aber der entscheidende Hemmschuh für die gleiche
Teilhabe von Männern und Frauen am Erwerbsleben ist
nach wie vor, dass Möglichkeiten zur Kinderbetreuung sowie Ganztagsschulen fehlen. Darin besteht zwischen uns
Einigkeit, Frau Lenke. Ich bin dankbar, dass die Bundesregierung mit den Programmen zum Ausbau von Ganztagsschulen und von Betreuungseinrichtungen für Kinder bis zu drei Jahren hier die Weichen richtig stellt.
({10})
An dieser Stelle richte ich meinen Dank an die Ministerinnen Renate Schmidt und Edelgard Bulmahn, die gerade diese Programme ganz besonders stark unterstützen.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Paradigmenwechsel - es ist ja einer - bedeutet für die Zukunft eine höhere Frauenerwerbstätigkeit, mehr Beschäftigung im
Dienstleistungssektor und bessere Chancen für Alleinerziehende, aus der Armutsfalle zu kommen. Vielleicht
werden auch in Deutschland wieder mehr Frauen Ja zu einem Kind sagen. Nur so gelingt uns eine nachhaltige Lösung der Probleme unserer sozialen Sicherungssysteme
und nur so werden wir, genauso wie in den anderen europäischen Staaten, den demographischen Wandel meistern.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung geht
bei einem konsequenten Ausbau der Bildungseinrichtungen für Kinder von mehr als 100 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen allein für Erzieherinnen und Erzieher aus.
Sie sehen: Unser Programm für Betreuung ist auch ein
Programm für Bildung und Beschäftigung.
Ich freue mich sehr, dass es auch in den unionsgeführten Ländern immer mehr Kolleginnen und Kollegen gibt,
die das genauso sehen und deshalb beim Programm zum
Ausbau der Ganztagsschulen mitmachen möchten. Lassen Sie uns hier endlich zusammen handeln. Die Frauen
in Deutschland erwarten das von uns.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Grübel.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich rede heute bewusst als männliches Mitglied meiner
Fraktion und offensichtlich auch als einziger Mann überhaupt in dieser Debatte zum Fünften Bericht.
({0})
Für mich ist die Gleichstellung eine Aufgabe, die
Frauen und Männer gleichermaßen betrifft.
({1})
Bildlich gesprochen: Wenn eine Seite stehen bleibt, wird
es verhältnismäßig schwierig und es wird lange dauern,
bis beide Seiten wieder zusammen sind. Schneller wird
es gehen, wenn beide Seite aufeinander zugehen.
({2})
Gleichstellungspolitik ist für mich daher nicht nur Frauenpolitik, sie muss auch die Männer gewinnen. Eine gute
Gleichstellungspolitik hat Frauen und Männer im Blick.
Meines Erachtens kommt diese Blickrichtung im vorgelegten Bericht etwas zu kurz. Ich möchte dies an einigen
Beispielen darstellen:
Bezogen auf den Bereich der Gleichstellung von
Frauen und Männern im Berufsleben wird im Bericht
dargestellt, wie sich der Frauenanteil in so genannten
Männerberufen entwickelt hat. Zum Beispiel wird dargestellt, dass sich der Anteil der selbstständigen Unternehmerinnen zwar im letzten Jahr nicht erhöht hat, dass er
aber von 1991 bis 2001 um immerhin 2 Prozent auf
28 Prozent gestiegen ist. Meiner Meinung nach fehlt im
Bericht die Betrachtung der anderen Seite. Wie hat sich
die Zahl der Männer in so genannten Frauenberufen entwickelt?
Es ist sicherlich sehr begrüßenswert, dass Mädchen
auch in technische Berufe oder in den naturwissenschaftlichen Bereich gehen und dass sie dort gefördert werden.
Doch warum fordert die Gesellschaft männliche Abiturienten nicht in gleichem Maße dazu auf, Sozialpädagogik zu studieren oder Grundschullehrer zu werden?
({3})
Warum machen fast keine jungen Männer, die mit Kindern
gut umgehen können, eine Ausbildung zum Erzieher?
({4})
Nach wie vor stellen Geschlechterbilder ein großes
Hindernis dafür dar, dass Menschen gemäß ihren Fähigkeiten und Talenten etwa in Unternehmen oder sozialen
Einrichtungen tätig sind. Potenziale und Kompetenzen
bleiben auf diese Weise ungenutzt.
Die so genannten Männerberufe sind auch aus Sicht
eines Mannes nicht das Maß aller Dinge. Da im Fünften
Bericht nur dargestellt wird, wie viele Frauen in Männerberufe gehen, wird in den Köpfen der Menschen
weiterhin das Vorurteil bestehen bleiben, dass die so genannten Frauenberufe weniger wert sind. Das hat dann
auch Auswirkungen auf die gleiche Bezahlung von
Frauen und Männern.
({5})
Hätten wir in Zukunft mehr Grundschullehrer und Erzieher, hätte dies auch noch einen anderen Vorteil für
Jungen und Mädchen: Sie würden mit einem neuen
Frauen- und Männerbild groß werden.
({6})
Ein stärkeres Engagement von Männern in so genannten
Frauenberufen ist aber auch für viele Frauen eine Herausforderung.
({7})
- Entschuldigung, wenn ich Sie getroffen haben sollte.
({8})
Eine Studie aus Schweden hat ergeben, dass männliche
Erzieher überdurchschnittlich oft Mobbing durch Kolleginnen ausgesetzt sind, dass diese Kolleginnen Erzieher
als unmännlich betrachten und ihnen gleichzeitig fachliche Kompetenz absprechen. Ich kann Ihnen diese Studie zur Verfügung stellen. Wir müssen also beide Seiten
sehen, um das Ganze zu betrachten.
In dem Teil des Berichts über die Beteiligung von
Frauen am politischen und öffentlichen Leben wird beispielhaft dargestellt, dass der Anteil der Frauen in der
Arbeitsgruppe Frauenhandel sehr groß ist. Dieses Gremium wurde 1997 von der unionsgeführten Bundesregierung eingerichtet. Diese Arbeit ist sehr gut und wichtig. Dennoch muss zumindest die Frage erlaubt sein, ob
ein möglichst hoher Frauenanteil wirklich ein Erfolg ist.
Denkbar wäre sicherlich auch, dass es für die Beseitigung von Diskriminierung und für die Gleichstellung gut
wäre, wenn Frauen und Männer in solchen Gremien
gleichermaßen zusammenarbeiten.
Entsprechendes gilt auch für viele soziale Bereiche.
Man kann natürlich den hohen Frauenanteil als Erfolg
darstellen. Man muss aber aus meiner Sicht eher beklagen, dass es viel zu wenig Männer im sozialen Bereich
gibt.
({9})
Aber auch beim zuständigen Bundestagsausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend muss die Frage erlaubt sein, ob es unter dem Gesichtspunkt der Gleichstellung sinnvoll ist, dass sich zum Beispiel bei den Grünen
dem Thema Familie, Senioren, Frauen und Jugend nur
Frauen widmen.
({10})
Auch bei der SPD sind die Männer deutlich in der Minderheit.
({11})
- Die FDP ist bei den ordentlichen und stellvertretenden
Mitgliedern vorbildlich.
({12})
Nach meinem Geschmack werden die Männer in diesen Fraktionen zu stark aus ihrer Verantwortung und ihrer Mitarbeit entlassen. In der CDU/CSU sind gleichzeitig starke Frauen und starke Männer in diesem Bereich
tätig.
({13})
Das zeigt auf, welch hohen Stellenwert die Gleichstellungspolitik für uns Unionsmänner hat.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Winkler?
Ja.
Bitte.
Sehr geehrter Kollege Grübel, ist Ihnen bekannt, dass
die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen seit
etlichen Jahren die Fraktion mit dem höchsten Frauenanteil ist, nämlich weit über 60 Prozent, und dies dazu
beitragen könnte, dass in einem Arbeitsgebiet, egal welcher Art, zufällig nur Frauen sind? Würden Sie auch in
Betracht ziehen, eine solche Quote auch in Ihrer Fraktion
anzustreben?
({0})
Meine erste Anmerkung, Herr Kollege: Die Zahlen
sind, wie sie sind. Meine zweite Anmerkung: Die CDU/
CSU hat eine Frau als Fraktionsvorsitzende und eine
Frau als Bundesvorsitzende. Wenn man sich die Medienanteile ansieht, stellt man fest, dass die Frauen dort bei
uns sehr stark vertreten sind.
({0})
Eine dritte Anmerkung: Wenn Ihre Fraktion bereits über
einen Frauenanteil von 60 Prozent verfügt, ist es umso
erstaunlicher, dass sich für den Bereich Familie, Senioren, Frauen und Jugend nicht ein Mann findet, der bereit
ist, dort mitzuarbeiten.
({1})
Allein die zahlenmäßige Überlegenheit müsste es erzwingen, dass wenigstens ein einziger Mann das Thema
als so wichtig empfindet, dass er in diesem Bereich mitarbeitet.
({2})
Frau Ministerin Renate Schmidt, ich möchte auch etwas zu Ihrem Ministerium sagen. Der Blick in das Organigramm zeigt, dass Belange der Gleichstellung in Ihrem
Ministerium reine Frauensache sind. Wenn ich die Namen im Organigramm richtig gelesen habe, besteht die
Abteilung 4 ausschließlich aus Frauen. Ich hielte es für
richtig, für diese Aufgabe der Gleichstellung auch Männer zu gewinnen. Ich sehe ein, dass dort Frauen in Führungspositionen tätig sind, aber es müsste auch möglich
sein, wenigstens einen Mann in der ganzen Abteilung
aufzutreiben, der ein Referat leitet.
({3})
- Die Parlamentarischen Staatssekretärinnen sind sicherlich beide Frauen.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass Männer zu leicht
aus der gemeinsamen Verantwortung entlassen werden.
Wir wollen den Bericht am 2. April im Ausschuss diskutieren. Die vorläufige Liste der einzuladenden Verbände
zu dieser Sitzung weist alles auf, was in Deutschland im
Bereich von Frauenorganisationen Rang und Namen hat.
Von den Frauenorganisationen der Parteien bis hin zur
eingetragenen Genossenschaft „Weiberwirtschaft“ sind
70 Verbände aufgefordert, an der Sitzung teilzunehmen.
Es mag sein, dass in dieser Runde schnell Einigkeit herzustellen ist. Für mich wäre es aber sinnvoll, wenn
Gleichstellungsthemen breiter in die gesellschaftlichen
Gruppen getragen werden, sonst bleiben Gleichstellungspolitikerinnen und -politiker und Frauenverbände
in einer Nische unter sich.
Frauen und Männer sollten sich an der Erziehung der
Kinder und an der Hausarbeit gleichermaßen beteiligen.
Diesen Satz kann mit Sicherheit jeder unterschreiben.
Eltern sollten die Möglichkeit haben, frei zu entscheiden, wer in welchem Umfang berufstätig und wer für die
Erziehung und Hausarbeit zuständig ist. Voraussetzung
hierfür ist aber auch eine angemessene finanzielle Ausstattung der Familien und ein ausreichendes Betreuungsangebot.
({4})
Bessere Betreuungsangebote können nur gemeinsam mit
den Kommunen und Ländern erreicht werden. Die Tatsache, dass die Kommunen kein Geld haben, ist das größte
Hindernis bei dem Ausbau der Betreuungseinrichtungen.
Wir dürfen gespannt sein, wann und wie die Bundesregierung hier tätig wird.
({5})
- Die Finanzausstattung ist auch Sache des Bundes.
({6})
Bei der Lektüre des umfangreichen Fünften Berichts
der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen
der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von
Diskriminierung der Frau fällt auf, dass ein wichtiger
Bereich fast vollständig fehlt, nämlich das Thema der
Gleichstellung von Frauen und Männern mit Migrationshintergrund. Das wundert mich schon allein deshalb,
weil die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung
gleichzeitig Parlamentarische Staatssekretärin im Ministerium ist.
Der Botschafter der Türkei hat uns in dieser Woche
eine Broschüre zur Integration der Türken in Deutschland vorgelegt. Dort wird dargestellt, dass bei über
40 Prozent der Ehen die Frau aus der Türkei zugezogen
ist. Dies hat ganz erhebliche Auswirkungen auf die Integration und die sprachliche Kompetenz insbesondere der
Kinder. Dies hat aber auch ganz erhebliche Auswirkungen auf die Gleichstellung von Frauen und Männern mit
Migrationshintergrund. Möglicherweise ist das Ausdruck eines traditionellen Rollenverständnisses junger
türkischer Männer, auch wenn sie schon längere Zeit in
Deutschland leben.
Dieser Bereich sollte von Ihrem Ministerium ausführlich beleuchtet werden.
Abschließend möchte ich klar sagen: Gleichstellung
funktioniert nur, wenn Frauen und Männer gleichermaßen daran arbeiten. Dazu fordern wir Sie alle auf!
({7})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor 24 Jahren ist das internationale Übereinkommen zur
Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau in
Kraft getreten. Die Bundesrepublik Deutschland trat ihm
nach nur sechs Jahren bei. Das war am Beginn der Ära
Kohl. Nach Jahren konservativer Frauenpolitik gab es
1998 einen Regierungswechsel. Die Neuen versprachen
Besserung. Sie verhießen, die Auswirkung aller Gesetze
und Maßnahmen auf die Geschlechter zu prüfen, und sie
gelobten, Benachteiligungen von Frauen zu verhindern
und vorhandene Benachteiligungen abzubauen. Das hat
die PDS begrüßt, weil es modern, europäisch und frauenfreundlich ist.
Ich räume gerne ein: Nach fünf Jahren Rot-Grün gibt
es etwas auf der Habenseite: das Gewaltschutzgesetz,
das Kinderrechteverbesserungsgesetz oder die Änderung
des Bundeserziehungsgeldgesetzes. Es geht um weniger
Gewalt gegen Frauen, um mehr Rechte für Kinder und
um Mittel für die Erziehung. Die PDS hat das nicht immer im Detail, aber in der Richtung begrüßt.
Nun komme ich aber zur Sollseite, zu den Defiziten
- sie sind zum Teil gravierend - von Rot-Grün:
Beispiel eins: Lohngleichheit von Frauen und Männern. Noch immer erhalten Frauen keinen gleichen Lohn
für gleiche oder gleichwertige Arbeit. Frauen im Westen
erhalten 75 Prozent und Frauen im Osten 94 Prozent der
vergleichbaren Männereinkommen. Sie werden darauf
verweisen, dass die Differenz abnimmt. Ich sage Ihnen:
Bei gleich bleibender Entwicklung können die Frauen
im Osten in 30 Jahren und die Frauen im Westen in
160 Jahren mit gleichen Löhnen wie ihre Kollegen rechnen. Ich finde, das ist etwas sehr spät.
({0})
Die Bundesregierung verweist in diesem Zusammenhang gerne auf die Tarifautonomie. In anderen Bereichen
tut sie das nicht. Sie haben aber Recht: Auch die Gewerkschaften sind für diesen Zustand verantwortlich.
({1})
Eines können Sie mir aber nicht erklären: Weshalb sind
im Jahre 13 der Einheit die Frauen im Westen noch immer doppelt diskriminiert?
Zweites Beispiel: Hartz. Ich habe hier schon mehrfach darauf hingewiesen, dass die so genannten HartzRegelungen für die neuen Bundesländer, aber auch für
die strukturschwachen Regionen in den alten Bundesländern Gift sind. Besonders katastrophal sind die Auswirkungen auf Frauen. Das Lohndumping in frauenspezifischen Berufen boomt. Sozialversicherungspflichtige
Teilzeit- und Vollzeitstellen werden durch geringfügige
Beschäftigungsverhältnisse verdrängt.
Dasselbe trifft übrigens auch für die Mittel der Arbeitsförderung zu. Sie streichen sie um Milliarden zusammen und wieder sind Frauen im Osten und in strukturschwachen Regionen im Westen die ersten Opfer.
Drittes Beispiel: die Gesundheitsreform. Die Debatte
über diese Reform ist im Gange. Ich finde es bemerkenswert, dass dabei frauenspezifische Aspekte kaum eine
Rolle spielen, obwohl wir doch in diesem Ressort eine
Ministerin haben. Dabei wäre eine qualitativ bessere
Gesundheitsversorgung von Frauen, insbesondere von
Migrantinnen, dringend geboten. Deshalb sollte die Versorgung von Migrantinnen möglichst schnell in das Gesundheitssystem integriert und keine Forschung und Erprobung von Medikamenten erlaubt werden, wenn diese
nicht geschlechtsspezifisch angelegt ist. Außerdem ist
eine Aufklärungskampagne des Gesundheitsministeriums zur Hormonersatztherapie dringend notwendig, um
das ihr innewohnende Risiko der Neuerkrankung an
Brustkrebs zu senken.
Ich gebe zu: Mir fällt es als Mitglied einer parlamentarischen Gruppierung, die zu 100 Prozent aus Frauen
besteht, leicht, mich so zu diesen Themen zu äußern. Wir
sollten aber parteiübergreifend dafür sorgen, dass der
nächste Bericht noch positiver ausfällt. Das gilt insbesondere, wenn wir über den bundesdeutschen Tellerrand
hinausblicken.
Im vergangenen Jahr hat sich die Lage der Frauen in
der Welt verschlechtert. Immer mehr Frauen und Kinder
sind Opfer von Krieg und Gewalt geworden. Auch daran
sollten wir in den aktuellen außen- und innenpolitischen
Auseinandersetzungen denken. Vielleicht sollte Frau
Merkel noch einmal darüber nachdenken, welche Auswirkungen ihre Außenpolitik auf die Lage der Frauen
zum Beispiel im Irak hat.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kerstin Griese.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir ziehen heute eine Bilanz der Frauenpolitik und ich
will aus der Sicht der Generation junger Frauen etwas
dazu sagen, was sich verändert hat und was wir von der
Politik erwarten.
1994 lautete das Motto der Aktionen der sozialdemokratischen Frauen: „Die Hälfte des Himmels, die Hälfte
der Erde, die Hälfte der Macht“. Inzwischen haben die
Frauen die Hälfte des Kabinetts erobert. Das ist ein Novum. Denn so viel Frauenpower gab es noch nie in einer
Regierung.
({0})
Mit der Bundesfrauenministerin Renate Schmidt gibt
es insgesamt sechs Ministerinnen sowie viele Staatssekretärinnen und Staatsministerinnen.
({1})
Das begrüße ich deshalb, weil eine Forderung zur selbstverständlichen Realität geworden ist: Frauen wollen die
Hälfte der Macht.
Im Parlament ist bei einigen Fraktionen noch Nachholbedarf zu verzeichnen. Herr Grübel, ich stimme Ihnen zu, dass Frauen und Männer gleichermaßen zu beteiligen sind. Ich lade auch alle Männer sehr herzlich in
unseren Ausschuss für Familien, Senioren, Frauen und
Jugend ein. Sie lade ich zum Karneval in meinen Wahlkreis ein; aber das ist ein anderes Thema.
({2})
Zu was laden Sie ihn ein?
({0})
In den Fraktionen des Bundestags sieht es sehr unterschiedlich aus. Während der Frauenanteil in der SPDFraktion bei über 35 Prozent liegt, beträgt er in der
CDU/CSU-Fraktion weniger als 23 Prozent und in der
FDP-Fraktion etwa 25 Prozent. Da muss sich schon noch
etwas tun.
({0})
Frauen stellen auch die Hälfte der Wählerschaft. Wir
als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wissen
sehr gut, dass die Frauen die Bundestagswahl entschieden haben, indem sie unsere moderne Frauen- und Familienpolitik den alten Hüten von der Union vorgezogen
haben.
({1})
Der CEDAW-Bericht, den wir heute diskutieren,
mahnt an, dass die Beteiligung von Frauen in der Politik
noch gesteigert werden muss. Denn noch immer gibt es
eine traditionelle Rollenverteilung, die die Ursache für
die geringere Beteiligung von Frauen an politischen Ämtern ist. Interessanterweise sind Frauen aber in der Mehrheit, wenn es um das ehrenamtliche Engagement geht.
Auch das sollte uns zu denken geben. Ich begrüße es
sehr, dass die Bundesregierung ein Bündel von Maßnahmen aufgelegt hat, um junge Frauen für politisches Engagement zu gewinnen.
Das Problem in unserer Gesellschaft liegt aber noch
an einer anderen Stelle, wie der Prospekt des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und seines Vorstandes
zeigt, der ausschließlich aus Männern besteht. Insofern
besteht unser Hauptproblem nicht darin, dass im Frauenausschuss des Bundestags so viele Frauen vertreten sind,
sondern darin, wie es in der Führungsebene der deutschen Wirtschaft aussieht.
({2})
Ich möchte noch ein weiteres Motto eines Frauentages zitieren, weil es sehr aktuell und programmatisch ist.
1988 hat unsere Kollegin Inge Wettig-Danielmeier den
Satz geprägt: „Wer die menschliche Gesellschaft will,
muss die männliche überwinden.“ Ich glaube, darum
geht es. Der heutigen Generation junger Frauen geht es
- das ist für sie ganz selbstverständlich - um ein Miteinander von Männern und Frauen, um Gleichberechtigung in der Schule, in der Ausbildung und im Studium.
Das ist für uns eigentlich die Grundlage. Das fordern wir
auch für Familie und Partnerschaft ein. Deshalb steht die
individuelle und flexible Lebensplanung im Vordergrund. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat eine
neue Dimension erreicht und stellt neue Anforderungen
an die Politik, an die Gesellschaft und insbesondere an
die Männer. Ich bin um jeden froh, der sich damit beschäftigt. Es geht um eine menschliche Gesellschaft, um
die Balance von Leben und Arbeit.
Die meisten jungen Frauen nutzen optimistisch ihre
Chancen. Ganz interessant ist, dass viele mit dem Begriff „Frauenförderung“ eigentlich nichts mehr anfangen
können; denn sie fühlen sich gar nicht als defizitäres Wesen, das gefördert werden müsste. Und das ist auch gut
so. Wir machen dieses Selbstbewusstsein junger Frauen
sowie ihre guten Ausbildungs- und Schulabschlüsse zum
Ausgangspunkt unserer modernen und lebensnahen
Frauenpolitik. Frauen - das ist schon von vielen gesagt
worden - machen die besseren Schulabschlüsse. Allerdings ist ihr Anteil an denjenigen, die promovieren, nur
noch ein Drittel. Der große Karriereknick kommt bei den
C-4-Professuren; denn dort beträgt der Frauenanteil nur
noch 7,1 Prozent. Ein solcher Knick kommt dann, wenn
jede noch so gut ausgebildete Frau auf dem Arbeitsmarkt
allein auf ihre Gebärfähigkeit reduziert wird und deshalb
noch immer Nachteile erleiden muss.
({3})
Deshalb - das ist meine feste Überzeugung - muss sich
in der gesamten Gesellschaft, bei Männern und Frauen,
etwas ändern.
Wir wollen eine menschliche Gesellschaft, die gleiche
Chancen bietet, und zwar sowohl für Frauen auf Karriere
als auch für die neuen Väter auf Familienzeit, die viele
Männer so gerne nehmen wollen, aber tatsächlich sind es
nur 2 Prozent. Das neue Elternzeitgesetz und das Recht
auf Teilzeitarbeit sind gute Schritte in die richtige Richtung. Auch in der Wissenschaft geht es voran. Inzwischen sind ein Viertel der Juniorprofessuren mit Frauen
besetzt. Das ist ein Fortschritt.
Ich bin mir außerdem ganz sicher, dass unser Schwerpunkt, den wir beim Ausbau von Kinderbetreuungsmöglichkeiten gesetzt haben - die Ministerin hat immer wieder
betont, dass sie für Vielfalt ist, dass wir die ganze Bandbreite der Angebote nutzen wollen, von den Tagesmütterinitiativen über die Einrichtungen der Kirchen und der
Wohlfahrtsverbände bis hin zu den staatlichen Einrichtungen -, ein Riesenschritt für mehr Chancengleichheit von
Frauen und Männern sein wird. Das wird die Praxis jenseits aller ideologischen Debatten sicherlich zeigen.
({4})
Ich möchte noch auf zwei Bereiche eingehen, in denen wir mit der Frauenpolitik der rot-grünen Koalition
ganz entscheidende Fortschritte zu verzeichnen haben.
Erstens: der Schutz von Frauen vor Gewalt. Hier setzen wir Zeichen; denn Gewalt im häuslichen Bereich ist
keine Privatsache. Das 2002 in Kraft getretene Gewaltschutzgesetz bietet Schutz vor Gewalttaten. Die Gewaltopfer - das sind meistens Frauen - haben einen Anspruch
auf Wohnungsüberlassung. Das Gewaltschutzgesetz gibt
das Signal: Das Opfer bleibt, der Täter geht! Ich denke,
das ist das richtige Signal.
({5})
Zweitens: die Asyl- und Menschenrechtspolitik.
Der CEDAW-Bericht ist das wichtigste internationale
Dokument, in dem klargestellt wird: Frauenrechte sind
Menschenrechte. In dem Bericht wird die Bundesregierung für die Novellierung des Ausländergesetzes gelobt
und es wird angemahnt, wie wichtig es ist, dass sich
Deutschland als Ziel- und Transitland des Menschenhandels damit beschäftigt; denn Menschenhandel ist in erster Linie noch immer Mädchen- und Frauenhandel. In
dem CEDAW-Bericht wird die Einrichtung der bundesweiten Arbeitsgruppe zur Bekämpfung des Frauenhandels gelobt, die Erfolge zu verzeichnen hat.
Ich möchte noch ein aktuelles Thema ansprechen, das
mich sehr schockiert hat. Ich habe gelesen, dass die unionsgeführten Länder die geschlechtsspezifischen Fluchtursachen aus dem Zuwanderungsgesetz streichen wollen. Ich halte das für einen Skandal.
({6})
Ich appelliere ganz deutlich insbesondere an die Kolleginnen der Opposition: Lassen Sie das nicht zu! Wenn
Sie sich die zurzeit laufende Plakatkampagne gegen die
Beschneidung von Mädchen ansehen, dann wissen Sie
doch, dass frauenspezifische Fluchtursachen grausame
Realität sind. Ich bin mir ganz sicher, dass die deutsche
Gesellschaft in ihrem Bewusstsein längst weiter ist und
dass es eigentlich kaum noch jemanden gibt, der leugnet,
dass frauenspezifische Verfolgung existiert und ein lebensbedrohlicher Grund sein kann, ein Land zu verlassen.
Im CEDAW-Bericht werden wir ausdrücklich aufgefordert, den Schutz ausländischer Frauen, insbesondere den
weiblicher Asylsuchender, zu verstärken.
Wir wollen hier keinen Rückschritt. Wir wollen die frauenspezifischen Fluchtursachen im Gesetz belassen. Deshalb sage ich Ihnen: Treten Sie Ihren Männern auf die Füße
- das müssen wir manchmal auch bei unseren machen -, damit diese Errungenschaften für die Frauen nicht den Profilierungskämpfen an der CDU-Spitze zum Opfer fallen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hannelore
Roedel.
Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Frauen im Bundestag und am Rednerpult sind heute
selbstverständlich. Das war nicht immer so. Das Parlament durften Frauen erst 1918 betreten. Heutzutage gibt
es sie, die erfolgreichen Frauen an der Spitze, aber viel
zu wenige. Die Führungspositionen sind nach wie vor
fest in männlicher Hand.
Auch wenn in Deutschland genauso viele Frauen wie
Männer ihr Studium erfolgreich abschließen, stellen
Frauen nur ein Drittel der Doktoranden, ein Fünftel der
Habilitierten und ein Zehntel der Professoren. Nicht nur
hier ist Deutschland wiederum Schlusslicht in Europa.
Dies ist besonders bedauerlich und zeigt auch die Vergeblichkeit vieler gut gemeinter Maßnahmen von RotGrün. Denn mit der Regierungsübernahme 1998 kündigte die Koalition den Durchbruch in der Gleichstellungspolitik an und erklärte diesen Bereich zum gesellschaftlichen Reformprojekt.
({0})
Die von mir zitierten Zahlen belegen: Viel Lärm um
nichts. Auch die neueste Initiative unserer Bildungsministerin mit den so genannten Juniorprofessuren wird
an diesen Tatsachen wenig ändern. Diese Professur soll
sechs Jahre dauern, erfordert laufend Qualifikationsnachweise und kann mit knapp 30 Jahren angetreten
werden. Doch gerade in diesem Alter entscheiden sich
die meisten Frauen für Kinder. Damit stellt sich wieder die Entweder-oder-Frage. Mit derartigen Junior-Initiativen ist den Frauen also nicht wirklich geholfen.
Statt mit der Frauenförderung erst im Alter von
30 Jahren zu beginnen, müssen die Weichen früher gestellt und Mädchen bereits in der Grundschule gefördert werden.
({1})
Unabdingbar sind weiterhin Transparenz bei den Entscheidungswegen, eine ausgewogene Zusammensetzung in den Entscheidungsgremien und familienfreundliche Bedingungen. Aber das alles ist für uns ja nichts
Neues. Schon zu unserer Regierungszeit haben wir Anfang der 90er-Jahre mit dem Hochschulsonderprogramm
den Grundstein für eine erfolgreiche Frauenförderung
gelegt. Bei Rot-Grün dagegen, die sich, wie von mir gerade erwähnt, die Gleichstellung der Frauen auf die
Fahne geschrieben haben, bleibt dieser Bereich weiterhin Baustelle.
Die Situation der Frauen in Wissenschaft und Forschung ist aber nur ein Teilaspekt der Lebenswirklichkeit von Frauen. Die größte Diskriminierung für Frauen,
egal welchen Berufs, liegt in der hohen Arbeitslosigkeit
in diesem Land.
({2})
Über 4,7 Millionen Menschen sind auf der Suche nach
einem Arbeitsplatz und über 2 Millionen von ihnen sind
Frauen. Diese Zahlen sprechen für sich und sind die bittere Konsequenz Ihrer verfehlten Wirtschaftspolitik.
({3})
Jetzt, meine Damen und Herren der Koalition, sitzen Sie
hier und erwarten, dass morgen mit der Regierungserklärung
des Kanzlers ein Wunder geschieht, das sämtliche Probleme löst.
({4})
Wir brauchen jedoch keine Wunder, sondern konkretes
und wirkungsvolles Handeln. Was nützt zum Beispiel
ein Anspruch auf Teilzeit, wenn Frauen nicht einmal
die Einladung zum Bewerbungsgespräch bekommen?
Unternehmen ziehen den Bewerber vor, von dem man
annimmt, dass er keine Wünsche nach Teilzeit äußert. So
bewirken Ihre Schutzgesetze nur eins: nämlich den Arbeitsuchenden vor dem Arbeitsplatz zu schützen.
({5})
Die beste Frauenförderung ist eine gute Wirtschaftspolitik. Das zeigt das Beispiel Bayerns, wo so viele Frauen
wie in keinem anderen Bundesland erwerbstätig sind.
({6})
Frauen brauchen aber genauso eine gute Familienpolitik. Sie aber wollen den Familien durch ewig neue
Steuer- und Abgabenerhöhungen das Leben immer
schwerer machen. Man nehme nur das Beispiel Ehegattensplitting. Auch wenn Ihre Pläne vorübergehend auf
Eis liegen, so ist doch im CEDAW-Bericht die Diskussion aufs Neue angeregt. Das Ehegattensplitting ist aber
für die Union, abgesehen von der verfassungsrechtlichen
Bedeutung, wesentlicher Teil einer modernen Frauenund Familienpolitik.
({7})
Warum? - Es entspricht nun einmal genau dem am meisten gelebten Familienmodell. Ohne Kinder gehen beide
Partner einer Berufstätigkeit nach. Mit Kindern wechseln Erziehungszeiten und Berufstätigkeit im unterschiedlichen Ausmaß einander ab. Ob ein Partner das
Familieneinkommen alleine verdient, beide gleich viel
dazu beitragen
({8})
oder sonst eine Aufteilung gewählt wird - die Jahressteuerbelastung des Familieneinkommens ist in allen
denkbaren Varianten die Gleiche. Damit bewirkt der
Splittingvorteil ein indirektes Familiengeld und honoriert damit die von einem Partner erbrachte Erziehungsleistung als gleichwertig zur Erwerbstätigkeit des anderen Partners.
({9})
Damit ist gleichgültig, welches Modell die Eltern nehmen
und wofür sie sich entscheiden, denn dies bedeutet echte
Wahlfreiheit für Erziehung und/oder Erwerbstätigkeit.
Eine vernünftige Frauenpolitik muss Lösungen für die
vielfältigen Lebensentwürfe von Frauen anbieten. Die
Union hat mit dem Programm „Faire Politik für Familien“ und umfassenden Konzepten wirkliche Alternativen für Deutschland für mehr Dynamik, Wachstum und
Beschäftigung vorgelegt.
Kurz nach dem Internationalen Frauentag liegt es nun
an Ihnen, Frauen endlich die Perspektiven aufzuzeigen,
für die sie schon so lange kämpfen. Margaretha von
Wrangell schrieb dazu 1923 an ihre Mutter:
Ich habe viele Kämpfe in meinem Berufe. Jedoch
weiß ich, wofür ich kämpfe.
Sie muss es wissen; denn sie war vor 80 Jahren die erste
ordentliche Professorin in Deutschland.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/105 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 15/599 und der Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/601 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft zur Finanzierung von
Bundesverkehrswegen
({0})
- Drucksache 15/199 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer ({2}), Eduard Oswald,
Georg Brunnhuber, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Errichtung einer Bundesfernstraßenfinanzierungs- und Managementgesellschaft
({3})
- Drucksache 15/299 ({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({5})
- Drucksache 15/416 Berichterstattung:
Abgeordnete Georg Brunnhuber
Reinhard Weis ({6})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Margrit Wetzel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jeder ruft nach einer Reform und wir machen sie.
({0})
Selbst wenn die Opposition versucht, das im Bundesrat
zu verhindern: Wir setzen wichtige Reformen im Verkehrsbereich fort. Auch deshalb verabschieden wir heute
den im vorigen Jahr schon einmal vorgelegten Gesetzentwurf, der die Einrichtung einer Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft vorsieht. Dieser Gesetzentwurf
hat den gleichen Wortlaut wie der, den wir im vergangenen Jahr eingebracht haben.
Wir sind der Meinung, dass diese Gesellschaft ihre
Arbeit rechtzeitig vor dem 1. September dieses Jahres
aufnehmen können muss. Wir haben über unseren früheren Entwurf ausführlich diskutiert, wir haben eine Anhörung durchgeführt und wir haben wichtige Elemente aus
den Anregungen der Sachverständigen aufgenommen.
Das Ergebnis, das wir damals erzielt haben, kann sich
heute wirklich sehen lassen.
({1})
Denn mit diesem Gesetz organisieren wir den Einstieg in
die Nutzerfinanzierung von Verkehrsinfrastruktur.
Aus den Einnahmen der LKW-Maut soll der größtmögliche Teil schnell, transparent und unbürokratisch in
den Ausbau gravierender Engpässe auf den Straßen, auf
den Schienenwegen und auf den Wasserstraßen gelenkt
werden. Das verkehrsträgerübergreifende Bedienen aus
der LKW-Maut und aus den Nutzerentgelten auf Bundeswasserstraßen entspricht den Vorstellungen eines vereinten und zusammenwachsenden Europas. Auch darüber muss man sich klar sein. Die Bundesfernstraßen
werden forciert ausgebaut und durch die Beseitigung der
Engpässe bei den Schienenwegen und bei den Wasserstraßen gewinnen wir neue Kapazitäten und entlasten
gleichzeitig die Straßen; das kommt den Straßen letztendlich zugute.
({2})
Im speziell dafür aufgelegten Anti-Stau-Programm
sind die Projekte, um die es geht, zusammengestellt. Die
Gesellschaft darf keine Kredite aufnehmen, damit - das
ist uns ganz wichtig - kein unkontrollierbarer Schattenhaushalt des Bundes entsteht. Noch wichtiger ist uns
aber, dass wir für den Ausbau der fünften und sechsten
Fahrstreifen an Bundesautobahnen über das so genannte
A-Modell zusätzliches privates Kapital mobilisieren.
Das heißt, wir stecken mehr Geld in die Verkehrsinfrastruktur. Das ist neu und das nennen wir Fortschritt.
({3})
Die Gründung dieser Gesellschaft ist eine reine Organisationsprivatisierung für nicht hoheitliche Aufgaben des
Bundes. Die Entscheidung über die Projekte bleibt beim
Parlament. Sie werden als Anlage in einer besonderen
Titelgruppe des Bundeshaushaltsgesetzes festgehalten.
Damit und mit der jährlichen Berichtspflicht der
Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft schaffen
wir Transparenz und zugleich auch die Akzeptanz derjenigen, die zahlen müssen. Denn dass die verladende
Wirtschaft durch die LKW-Maut höhere Kosten hat,
wird nur akzeptiert, wenn sich zugleich sichtbar etwas
bei den Investitionen bewegt.
Wir regeln über dieses Gesetz außerdem die Zweckbindung der Mittel aus der LKW-Maut. Die Zuweisung
erfolgt zwar jährlich; aber wir überwinden die Jährlichkeit der kameralistischen Haushaltsführung des Bundes,
indem nicht verausgabte Mittel noch im nächsten und
übernächsten Jahr eingesetzt werden können. Wir schaffen damit eine völlig neue Flexibilität, die für Investitionen bei allen drei Verkehrsträgern dringend notwendig
und absolut neu ist. Das ist der Einstieg in eine ganz
wichtige Weiterentwicklung der Finanzierung unserer
Verkehrsinfrastruktur, bei der wir dann hoffentlich zügig
weiterkommen.
Außerdem soll die schlank organisierte Gesellschaft zu
einem Kompetenzzentrum für Privatfinanzierung und
damit für die Mobilisierung privaten Kapitals werden.
Mit der Änderung des Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetzes haben wir gute Rahmenbedingungen geschaffen, die von den Mitarbeitern der neuen Gesellschaft
kreativ genutzt und mit Leben erfüllt werden sollen. Die
Gesellschaft soll geeignete Betreibermodelle ermitteln.
Sie soll die Vergabe von Konzessionen betreuen, die privatwirtschaftliche Realisierung von Verkehrsinfrastrukturvorhaben vorbereiten, sie durchführen und abwickeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bauwirtschaft
brennt darauf, in die dann möglichen Betreibermodelle
der Public-Private-Partnership einzusteigen. Wir stehen
damit am Beginn einer ganz neuen Entwicklung. Das
rechtfertigt, diese Aufgaben aus dem BMVBW auszugliedern.
({4})
- Ich interpretiere den Applaus jetzt so, dass dieser neue
Schritt unterstützt wird, und nicht etwa als Kritik am
BMVBW.
({5})
Das soll damit nicht ausgedrückt werden; ganz im Gegenteil: Wenn ein Ministerium selbst auf den Gedanken
kommt, eine völlig neue Aufgabe auszugliedern und damit den Versuch zu unternehmen, Bürokratie abzubauen,
({6})
aus den eingefahrenen Wegen herauszukommen und neue
Chancen zu eröffnen, dann finde ich das in hohem Maße
anerkennenswert. Das verdient unsere Unterstützung. Es
zeigt, dass wir in der Lage sind, aus den Fehlern der
Vergangenheit zu lernen; denn unter der Kohl-Regierung
wurden mit Privatfinanzierung schlechte Erfahrungen gemacht. Ich erinnere nur an die Konzessionsmodelle der
privaten Vorfinanzierung, die nur kurzfristig scheinbaren
Erfolg hatten und die uns jetzt die Handlungsspielräume
einengen, sodass wir noch jetzt unter ihnen leiden, oder
auch an die Unzulänglichkeiten des Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetzes, das wir durch entsprechende
Verordnungen erst einmal so modernisieren mussten, dass
es in der Zukunft wahrgenommen werden kann, dass die
Chancen, die darin liegen, überhaupt umsetzbar sind. Genau das sind die Bereiche, in die die neue Gesellschaft einsteigen soll und in denen sie Fortschritte erzielen soll.
Was unterscheidet nun unseren Gesetzentwurf von
dem CDU-Gesetzentwurf?
({7})
- Ich bitte um Entschuldigung, Herr Oswald, so viel Zeit
muss sein. - Die CDU/CSU möchte die Mittel ausschließlich und vollständig in den - so heißt es wörtlich „Unterhalt der Bundesfernstraßen“ lenken.
({8})
Das entspricht weder unseren Vorstellungen noch denen
der Europäischen Union von einer integrierten Verkehrspolitik. Die Union will, dass die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft Kredite aufnehmen darf. Das
heißt, es werden Schattenhaushalte gebildet. Sie sagen:
Was schert mich mein Geschwätz von gestern? Denn offenbar haben Sie vergessen, dass Sie uns in der letzten
Legislaturperiode bei der Beratung ebendieses Gesetzes
noch vorgeworfen haben - ich zitiere aus der Beschlussempfehlung -:
Mit der jetzt vorgesehenen Gründung der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft werde allenfalls ein Schattenhaushalt geschaffen, aber keines
der gesteckten Ziele erreicht.
Da sieht man einmal, wie kurz gedacht die Konzepte
der CDU/CSU - so viel Zeit muss sein; ich betone dabei
bewusst die CSU - sind. Sie sind es, die den Bundesverkehrswegeplan als Märchenbuch wie vorher weiterschreiben wollen und Schattenhaushalte aufbauen wollen. Ich denke, das ist nicht das, was die Bevölkerung
will. Die Menschen wollen Planungssicherheit und Klarheit über das, was vor Ort passiert. Sie können im
schlimmsten Fall auch einmal ein Abwarten akzeptieren;
aber sie müssen erfahren, dass sie gegebenenfalls warten
müssen. Diejenigen, die bauen, müssen das einschätzen
können.
({9})
Außerdem handelt es sich bei Ihrem Gesetzentwurf
um einen reinen Ampelverschnitt; denn es ist nichts Eigenes enthalten. Man muss sich wirklich einmal das Vergnügen machen, diesen Entwurf zu lesen. Ich kann uns
das nur empfehlen. Die formalen Teile sind aus unserem
Gesetzentwurf abgeschrieben und die politischen aus der
Beschlussempfehlung zum alten Gesetzentwurf der FDP
abgekupfert. Das wird uns heute als CDU-Gesetzentwurf
vorgelegt. Das ist nicht zu fassen.
Kommen wir zu dem zurück, was wir wollen. Wir
wollen, dass die Entscheidung darüber, wo gebaut wird,
im Parlament bleibt. Über die Prioritäten entscheiden wir
und niemand anders. Das ist das originäre Recht des Parlaments.
({10})
Es darf keine Schattenhaushalte geben und es wird sie
auch nicht geben. Wir werden aber zusätzliches privates
Kapitel mobilisieren. Die Abwicklung der Engpassbeseitigung muss zügig beginnen und transparent und unbürokratisch sein. Das wird die moderne, pfiffige Gesellschaft mit dem komplizierten Namen auch leisten. Den
zukünftigen Mitarbeitern dieser Gesellschaft wünsche
ich viel Erfolg. Die Wirtschaft wartet darauf, dass wir
mit dieser Art der Finanzierung anfangen, ebenso warten
die Gemeinden darauf, die an den Engpassstellen liegen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg
Brunnhuber.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir entscheiden heute über zwei Gesetzentwürfe,
über den der Regierungskoalition zum Thema Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft
({0})
und über den der CDU/CSU zur Bundesfernstraßenfinanzierungs- und Managementgesellschaft.
({1})
Ich habe mir aufgeschrieben, wie die Überschrift lautet: Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaftsgesetz. Das sind 53 Buchstaben, es ist ein Wortmonster.
Im Grunde genommen ist das auch schon das Bedeutendste, was man über dieses Gesetz sagen kann.
({2})
Sie haben es wieder nicht begriffen. Sie haben wie bei
der LKW-Maut, an der Sie seit dreieinhalb Jahren herumdoktern und nichts zustande bringen,
({3})
wiederum aus einer guten Idee Murks gemacht. Auch
hier machen Sie alle Fehler, die man machen kann. Sie
sind wirklich mit einem großen Genie ausgezeichnet.
Die Fehler, die man machen kann, suchen und finden Sie
und machen sie anschließend auch. Das ist auch hier
wieder der Fall.
({4})
Eigentlich ist die Überschrift in Ordnung
({5})
und man könnte meinen, Sie wüssten, was Sie wollen.
Die Formulierung in § 1 möchte ich vortragen, damit
man weiß, was Sie gern machen möchten.
({6})
Zur Errichtung der Gesellschaft heißt es, dass Aufgaben des Bundes der Finanzierung von Neubau, Ausbau,
Erhaltung und Betrieb von Bundesfernstraßen und
Bundeswasserstraßen sowie von Bau, Ausbau und Ersatzinvestitionen der Schienenwege der Eisenbahnen
des Bundes
({7})
einer Gesellschaft des privaten Rechts in der Rechtsform
einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu übertragen seien. Dieser Text ist absolut in Ordnung.
({8})
Hätten Sie jetzt den Mut gehabt oder die Intelligenz
besessen - das lasse ich offen -, das weiter zu betreiben,
dann hätten Sie nicht in § 2 formulieren dürfen, dass dies
„nach Maßgabe der jährlichen Haushaltsgesetze und
nach den Weisungen des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen“ geschehen soll.
Gleichzeitig stellen Sie fest, dass diese Gesellschaft
nicht berechtigt ist, Anleihen und Kredite aufzunehmen
oder Bürgschaften, Garantien oder ähnliche Haftungen
zu übernehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
meine Damen und Herren von der Regierungsbank, damit haben Sie nichts anderes vor als das, was bisher die
Beamten im Verkehrsministerium gemacht haben, in
eine Gesellschaft vorzulagern. Wahrscheinlich machen
es sogar die gleichen Beamten. Dafür hätten Sie keine
Gesellschaft gebraucht.
Frau Kollegin Wetzel, vielleicht erinnern Sie sich daran: Es gab vor ziemlich genau einem Jahr eine Anhörung. Bei dieser Anhörung waren Sachverständige anwesend, nicht einer hat das, was Sie jetzt machen, auch
nur im Ansatz für gut befunden.
({9})
Der Bundesrechnungshof - zumindest auf ihn sollten Sie
hören - hat gesagt: Dieses Gesetz ist so unnötig wie ein
Kropf. - Recht hat er. Dem schließt sich die Opposition
an.
({10})
Wenn Sie gelegentlich wenigstens das tun würden, was
Ihre Kommissionen Ihnen vorschlagen, dann könnte man
noch die Hoffnung haben, dass irgendwann etwas Vernünftiges herauskommt. Sie hatten eine hochrangige Kommission „Verkehrsinfrastrukturfinanzierung“ eingesetzt.
Sie hat Ihnen genau das vorgeschlagen, was die CDU/
CSU mit ihrem Gesetz umsetzen will.
Ein weiterer Punkt. Herr Klimmt hat am 5. September
2000 die von der Kommission erarbeiteten Vorschläge in
Empfang genommen. Damals war in der Presse, hauptsächlich in den Verkehrspublikationen, zu lesen - wir
haben genau aufgepasst -, er werde dafür sorgen, dass
mangels allgemeiner Haushaltsmittel diese Vorschläge
1 : 1 umgesetzt würden. In der Zwischenzeit wissen wir:
Wenn Sie sagen, Sie würden etwas 1 : 1 umsetzen, bedeutet dies eigentlich, dass die Vorschläge im Papierkorb
landen - siehe Hartz.
({11})
Man muss sich fast schon fragen, warum Sie eigentlich
Kommissionen einsetzen, wenn Sie von vornherein wissen, dass das, was dabei herauskommt, von Ihnen in keiner Weise umgesetzt wird.
({12})
Ich möchte noch einen weiteren Punkt anführen. Bei
der Diskussion über die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft muss man natürlich auch darüber
reden, wie Sie mit der LKW-Maut und den entsprechenden Verordnungen bisher umgegangen sind. Diese Gesellschaft soll mit den Einnahmen aus der LKW-Maut
sinnvolle Maßnahmen finanzieren. Bis jetzt wurde aber
noch kein Cent eingenommen. Niemand weiß, ob bis
zum 31. August überhaupt Geld fließen wird.
({13})
Seit drei Jahren erklären Sie permanent in diesem Hause
und der gesamten Öffentlichkeit - also nicht nur dem
Transportgewerbe -, dass die Maßnahmen mit Brüssel
hervorragend abgesprochen seien, dass sowohl die
Mauthöhe als auch die Harmonisierungsmaßnahmen bezüglich des Transportgewerbes in Ordnung seien und
dass alles geklärt sei.
({14})
Jetzt muss man aber feststellen: Nachdem Sie dreieinhalb Jahre, von denen Sie zwei Jahre prozessieren mussten, in Brüssel verhandelt haben, erklären der Minister
und seine Staatssekretäre, Fürchterliches sei geschehen,
die Verkehrskommission sei gar nicht bereit, über Ihre
Vorschläge zu diskutieren.
({15})
Sie will weder über die Mauthöhe - sie wird angefochten - noch über die Harmonisierungsschritte verhandeln. Dazu sage ich Ihnen: Entweder sind Sie unfähig
oder Sie haben uns belogen. Nur eine von diesen Möglichkeiten kann zutreffen.
({16})
Dazu hätten wir schon gerne ein Wort von Frau Wetzel
oder vielleicht nachher von einem Vertreter der Regierung gehört.
Im Ausschuss haben Sie gestern den Eindruck erweckt, dass Sie zwar nicht wissen, wie es jetzt weitergeht, dass Sie aber davon ausgehen, dass die Genehmigung zum 31. August erfolgen wird. Wenn Sie so
weitermachen, bekommen wir in diesem Jahr zwar das
modernste und teuerste Mautsystem der Welt; aber diese
Technik kann nicht eingesetzt werden, weil Sie keine
Genehmigung aus Brüssel für dieses Vorhaben bekommen. Das ist ein Armutszeugnis auf der ganzen Linie.
Die gesamte Verkehrspolitik in Deutschland nähert sich
letztendlich langsam dem Chaos, wie wir es in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik dieser Regierung erkennen können.
({17})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe Ihnen vor
14 Tagen Folgendes vorgehalten: Wenn Sie eine vernünftige Politik machten
({18})
und auch nur ein bisschen auf das eingingen, was die
Opposition hier sagt, dann hätten Sie in Brüssel schon
einen Streitpunkt weniger. Sie haben nämlich auch den
Streitpunkt noch nicht ausgeräumt, dass nach Brüsseler
Auffassung das viele Geld, das von LKWs kassiert wird,
nach Abzug der Systemkosten und gewisser Harmonisierungskosten wieder in die Straßenverkehrsinfrastruktur zurückfließen muss. Wenn Sie in Brüssel Erfolg haben wollen, dann kann ich Ihnen nur empfehlen, sich
unsere Anträge nochmals genau anzusehen. Wenn Sie
intelligent genug sind, sie auch zu verstehen, dann werden Sie ihnen auch zustimmen.
({19})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir von der
CDU/CSU-Fraktion haben ernst genommen, was Ihre
Kommissionen von der Pällmann-Kommission bis zur
Infrastrukturfinanzierungskommission vorgeschlagen
haben. Wir haben das, was sie den Ministerien vorgeschlagen haben, expressis verbis in Vorlagen gegossen.
Eine dieser Vorlagen liegt heute als Gesetzentwurf vor.
Wir können darüber abstimmen. Wenn Sie wollen, dass
in Deutschland wieder ordentlich Straßenbau betrieben
wird, sodass der Autofahrer nicht permanent im Stau
steht, und der Gütertransport auf der Straße vernünftig
organisiert wird, dann stimmen Sie unserem Gesetzentwurf heute zu.
Herzlichen Dank.
({20})
Jetzt hat der Abgeordnete Albert Schmidt das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Verkehrsministerkonferenz hat bereits im
April 2002 einstimmig, Herr Kollege Brunnhuber, also
einschließlich der Verkehrssenatoren und -minister der
CDU/CSU-geführten Länder, beschlossen, der Bund
möge die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft
möglichst schnell einrichten, damit die Einführung der
LKW-Maut im Jahr 2003 so reibungslos wie möglich erfolgen könne. Was lernen wir daraus? Inzwischen gibt es
eine Union der Bundesländer, in der vernünftige Leute
sitzen, die wissen, was richtig ist, und die BrunnhuberCDU/CSU im Bundestag, die das Gegenteil dessen propagiert, was die eigenen Kollegen in den Ländern sagen
und wollen.
({0})
Dieselbe Schlachtordnung hatten wir schon gestern im
Ausschuss, als es generell um das Thema LKW-Maut
ging. Ich fürchte, Herr Kollege Brunnhuber, dass Sie den
falschen Kalender benutzen. Sie müssen einmal begreifen, dass die Dinge im Fluss sind, dass sich die europäische Verkehrspolitik und die deutsche Verkehrspolitik
entwickeln und dass über das, was jetzt auf der Tagesordnung steht, unter den halbwegs vernünftigen Verkehrspolitikern dieses Landes weitgehend Konsens besteht.
Nun komme ich zur Sache: Der heute vorliegende Gesetzentwurf der Koalition ist mit dem inhaltsgleich, was
wir am 17. Mai 2002 in zweiter und dritter Lesung hier
beraten und beschlossen hatten, was aber der Diskontinuität anheim fiel, weil zwischenzeitlich ein neuer Bundestag gewählt wurde. Das, was hier Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft heißt, klingt in der
Tat wie ein bürokratisches Monstrum. In diesem Punkt
gebe ich Ihnen ausdrücklich Recht, Herr Kollege
Brunnhuber. In Wahrheit ist es aber das Gegenteil davon:
Es ist ein neues, innovatives Finanzierungsinstrument,
das im Gegensatz zu dem, was Sie hier behauptet haben,
die Impulse der europäischen Verkehrspolitik aufgreift,
die besagen, dass zu einer Steuerfinanzierung der Verkehrswege als zweite Säule eine Nutzerfinanzierung treten müsse und dass die Nettoeinnahmen aus dieser
LKW-Maut gerade nicht, wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf von vorgestern wieder verlangen, ausschließlich
Albert Schmidt ({1})
dem Straßenbau gewidmet werden, sondern für ein integriertes Verkehrssystem verwandt werden, das alle Verkehrsträger gemäß ihren Leistungen entwickelt
({2})
und damit auch einen Beitrag zum Abbau der Staus auf
den Straßen leistet.
({3})
Über jeden LKW, den wir von der Straße bringen, freut
sich doch auch der PKW-Fahrer, weil er endlich eine
freie zweite Spur hat, wenn die rechte Spur schon zu einer Mauer von LKWs geworden ist.
({4})
Worum geht es bei dieser Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft also in Wahrheit? Es geht erstens
um die Herstellung von Transparenz. Es geht darum,
deutlich zu machen, für jeden nachvollziehbar zu machen, dass die Einnahmen, die aus diesem System generiert werden, netto überwiegend zur Ertüchtigung des
Verkehrsnetzes eingesetzt werden. Es geht zweitens darum, durch diese Transparenz auch Akzeptanz zu schaffen. Natürlich kommt auf viele Transportunternehmen
eine erhebliche Belastung zu. Von daher haben sie auch
Anspruch darauf, verlässlich zu erfahren, dass die Gelder reinvestiert werden. Akzeptanz gewinnen wir nur,
wenn wir glaubhaft machen können, dass nicht jedes
Jahr darum gezittert werden muss, ob der Bundesfinanzminister das Geld für diesen Zweck einsetzt, dass nicht
jedes Jahr darum gekämpft werden muss, sondern dass
dieses Geld gleichsam mit einem rosa Schleifchen umwunden wird, in die Schatulle der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft gelegt wird und damit dem
Verkehrswegebau gewidmet ist. Wenn Sie das nicht begreifen, Herr Brunnhuber, dann weiß ich nicht, wie ich
es Ihnen noch erklären soll.
({5})
- Das ist dann Ihr Problem.
Mit diesem Instrument wird natürlich noch ein drittes
Ziel erreicht. Das ist - ich will es gar nicht verschweigen - die Entlastung der öffentlichen Kassen.
({6})
Das ist übrigens kein deutsches, sondern ein europaweites Problem. Wir werden uns Verkehrsnetze dieser
Dichte und dieser Qualität auf Dauer nur leisten können,
wenn wir eine zweite Finanzierungssäule einführen.
Dazu brauchen wir diese Gesellschaft.
Jetzt will ich noch sagen, was diese Gesellschaft nicht
darf. Da schließe ich an das an, was die Kollegin Margrit
Wetzel zutreffend ausgeführt hat. Wir als Parlamentarier
- ich hoffe, da sind wir alle im selben Boot oder im selben Zug oder wie immer Sie es gern hätten - wollen ja
nicht, dass mit einem solchen Instrument, sei es auch in
privater Rechtsform, das Parlament auf kaltem Weg entmachtet wird.
({7})
Deshalb haben wir Folgendes festgehalten:
Erstens. Diese Gesellschaft hat keine Ermächtigung,
selbstständig Kredite oder Anleihen aufzunehmen. Das
heißt, eine Neuverschuldung oder Höherverschuldung
auf diesem Umweg wird es nicht geben.
Zweitens. Sämtliche Projekte, die diese Gesellschaft
entwickelt und umsetzt, müssen in einem Bericht gegenüber dem Parlament jährlich dokumentiert werden und
der Gesetzgeber selbst, wir hier im Parlament, entscheidet, welche Projekte mit welcher Priorität realisiert werden. Die Entscheidung darüber, was gebaut wird und
was nicht gebaut wird, bleibt also bei uns und hier gehört
sie auch hin.
Ich fasse zusammen: Die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft ist ein innovatives Instrument zur
Einführung einer zweiten Säule der Verkehrsfinanzierung. Das ist der eigentliche Paradigmenwechsel, der
dahinter steckt. Diese Gesellschaft schafft Transparenz
bezüglich der Mittelverwendung. Sie schafft Akzeptanz.
Sie setzt das Prinzip der Verursachergerechtigkeit astrein
um. Sie schafft - letzter Punkt - Flexibilität. Mit dieser
Gesellschaft haben wir zum ersten Mal die Möglichkeit,
Haushaltsreste ins nächste Haushaltsjahr zu übertragen
und dann zu verwenden. Wir entgehen damit ein Stück
weit dem kameralistischen Haushaltsprinzip. Ich verstehe, dass das nicht jedem Bundesfinanzminister gefällt, aber es ist vernünftig, weil es hilft, auf Dauer Planungssicherheit zu gewährleisten, und das wollen wir.
({8})
Ich darf Sie also bitten, Ihren verstaubten Begriff von
Verkehrsfinanzierung von vorgestern ad acta zu legen,
sich in den Mainstream der deutschen und europäischen
Verkehrspolitik einzureihen und unserem Gesetzentwurf
heute von ganzem Herzen zuzustimmen.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Günther.
Frau Präsidentin! Mein sehr verehrten Damen und
Herren! Beide Gesetzentwürfe, die heute debattiert werden, bleiben - Kollege Brunnhuber, das ist unabhängig
von der Zahl der Buchstaben in der Überschrift - eigentlich hinter dem zurück, was sie als Ziel vorgeben und was
in der Tat anstrebenswert wäre, nämlich ein echter Einstieg in die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur durch
die Nutzer anstelle der bisherigen reinen Finanzierung
über den Haushalt. Dieses Manko gilt für beide Entwürfe
gleichermaßen. Beide Entwürfe bringen im Endeffekt
Joachim Günther ({0})
nicht den Einstieg in die Nutzerfinanzierung, wobei der
CDU/CSU-Entwurf weiter geht und zumindest die Kreditfähigkeit der Gesellschaften berücksichtigt.
Warum wollen wir eigentlich - unter den Fachkollegen übrigens fraktionsübergreifend - diese Nutzerfinanzierung?
Erstens. Verkehrswege sind in der Volkswirtschaft
entscheidende Produktionsfaktoren und Investitionen in
die Verkehrswege müssen kontinuierlich und ohne Abhängigkeit von Zufälligkeiten der gerade herrschenden
Haushaltslage stattfinden.
({1})
Verkehrswegeinvestitionen sind etwas qualitativ anderes als konsumtive Ausgaben.
({2})
Deshalb gehören sie nicht in den Haushalt.
({3})
Zweitens. Die Nutzungskapazitäten der Verkehrswege
sollten durch ein marktkonformes Anreizsystem optimiert werden. Dazu braucht man ein Gebührensystem.
Drittens. Die Summe der für Investitionen zur Verfügung stehenden Mittel soll durch die Beteiligung der
Nutzer, aber auch durch die Beteiligung privaten Kapitals erhöht werden. Das steht ja auch in dem Gesetzentwurf der Koalition.
({4})
Ich zitiere:
Da über eine Mobilisierung privaten Kapitals bei
der Verkehrswegefinanzierung breiter Konsens besteht, soll die Gesellschaft auch Aufgaben im Zusammenhang mit der Vorbereitung, Durchführung
und Abwicklung von privatwirtschaftlichen Projekten übernehmen.
({5})
Das ist richtig. Das wollen auch wir. Aber wenn Sie
das wollen, dann sollten Sie dieser Gesellschaft Handlungsspielräume geben.
({6})
- Nein. Der Entwurf der Koalition lässt zum Beispiel bei
der Kreditaufnahme kaum Handlungsspielräume zu.
Frau Wetzel, Sie sagen, es solle keinen Schattenhaushalt geben. Sie, Herr Schmidt, sagen, das Parlament
werde sonst ausgeschaltet. Dazu kann ich nur sagen:
Ohne eine flexible Handhabung des Kreditwesens im
Zusammenhang mit privaten Investoren werden solche
Projekte im Endeffekt nicht durchführbar sein.
({7})
Aus dieser Sicht ist Ihr Vorschlag kein ernsthafter
Einstieg in das System der Nutzerfinanzierung. Denn er
führt nicht zu einer Abkoppelung vom Bundeshaushalt.
Die neue Infrastrukturfinanzierungsgesellschaft bekommt erstens nicht alle Einnahmen aus der LKW-Maut
und zweitens schon gar nicht - zumindest das wäre notwendig - die verbindliche Zuweisung zukünftiger Gebühreneinnahmen. Sie bekommt nur das, was der Finanzminister ihr Jahr für Jahr zur Verfügung stellt. Er hat
bei der Einnahmenverteilung das letzte Wort.
({8})
Schon jetzt ist klar, dass er diese Einnahmen auch für
verkehrsfremde Zwecke verwenden wird.
Wir erleben im Zusammenhang mit der LKW-Maut
gerade, dass sich Herr Eichel den Einnahmeverlust aus
der LKW-Vignette - das sind rund 450 Millionen Euro mit 750 Millionen Euro aus der LKW-Maut kompensieren lässt - und das für allgemeine, verkehrsfremde Zwecke.
Kurz gesagt, wenn diese Gesellschaft so gestaltet
wird, dann ist sie ein lahmer Gaul und eine ausgelagerte
Abteilung des Verkehrsministeriums, die am Gängelband des Finanzministers hängt.
Was wir brauchen, ist eine Finanzierungsgesellschaft,
die von Beginn an unabhängig vom Bundeshaushalt operiert und mittelfristig zu einer Betreibergesellschaft für
die Bundesfernstraßen weiterentwickelt wird. Stattdessen setzen Sie bei der Finanzierungsgesellschaft das fort,
was Sie bei der Maut angefangen haben: Sie verwirren
die Bürger mit inkonsequenten und in sich widersprüchlichen Konzepten. Bei der Maut, die normalerweise eine
lupenreine Gebühr mit konsequenter Zweckbindung für
den Verkehrswegebau sein müsste, lassen Sie den Zugriff des Finanzministers zu. Die Finanzierungsgesellschaft unterstellen Sie in wesentlichen Punkten ebenfalls
den Weisungen des Finanzministers.
Das hat mit einem wirkungsvollen Schritt in Richtung
Nutzerfinanzierung nichts zu tun. Aber da alle so große
Hoffnungen auf den morgigen Tag setzen, geben auch
wir die Hoffnung nicht auf, dass ab Morgen alles besser
und schneller vorangeht. Unter den heutigen Bedingungen müssen wir die beiden vorliegenden Gesetzentwürfe
aber ablehnen.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Herr Brunnhuber, Sie haben hier wider besseres
Wissen wiederholt, was Sie gestern im Ausschuss gesagt
haben: dass die EU die Maut infrage stellt.
({0})
Sie haben davon gesprochen, dass sich Brüssel dazu geäußert habe. Brüssel hat gar nichts gesagt. Die Maut
wird nicht infrage gestellt. Frau Palacio hat ein Interview
gegeben und das ist alles.
Sie kritisieren zum Beispiel das Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaftsgesetz. Ich habe einmal
nachgezählt: Es sind 53 Buchstaben. Ihr Bundesfernstraßenfinanzierungs- und Managementgesellschaftsgesetz hat übrigens 63 Buchstaben - und das nur für
einen Verkehrsträger. Wir sind also sehr sparsam mit den
Buchstaben umgegangen.
({1})
- ich muss dazu sagen: Ich habe den Bindestrich auch
mitgezählt. Sonst wären es 62.
Meine Damen und Herren, der Inhalt des Gesetzentwurfes ist ja schon vorgestellt worden. Es handelt sich
nicht um irgendein Gesetz, sondern um einen wichtigen
Baustein eines Konzeptes. Dieses Konzept heißt: nachhaltige Mobilität durch integrierte Verkehrspolitik.
({2})
Bekanntlich lässt sich ja nur steuern, was sich auch bewegt. Es gibt ja den Pauschalvorwurf, Verkehrspolitik
sei zu statisch. Wenn ich die Straßen- und Schienenfundamentalisten und die Elfenbeinturmwissenschaftler abziehe, dann bleibt die Frage: Wie zukunftsfähig ist oder
war unser bisheriges System in Bezug auf Finanzierung,
den „Modal Split" und ökologische Aspekte?
Verkehrsinfrastruktur wird nicht um ihrer selbst willen gebaut und unterhalten, sondern um den Mobilitätsbedarf der Wirtschaft und die Mobilitätsbedürfnisse der
Menschen zu befriedigen.
({3})
Dabei gibt es natürliche und politisch gewollte Grenzen.
Kein Land der Welt kann Infrastruktur für die Spitzenzeiten vorhalten. Das muss man hier eindeutig sagen.
Wir haben mit verschiedenen Grundsatzentscheidungen
und konkreten Maßnahmen wieder Bewegung in die
deutsche Verkehrspolitik gebracht;
({4})
zum Beispiel mit der Entscheidung, Straße und Schiene
finanziell weitgehend gleich zu behandeln,
({5})
mit der Entscheidung, Hinterlandanbindungen für die
deutschen Seehäfen im neuen Bundesverkehrswegeplan
mit besonderer Bedeutung zu versehen, und vor allem
mit der Einführung der LKW-Maut zum 31. August dieses Jahres.
In einigen Bereichen sind wir sicherlich zum Vorreiter
in Europa geworden, zum Beispiel in der konsequenten
Umsetzung einer integrierten Verkehrspolitik, in vielen
Bereichen holen wir nur das nach, was andere schon seit
Jahrzehnten machen. Dies tun wir zum Beispiel beim
Einstieg in die ergänzende Nutzerfinanzierung. Die
Feststellung, dass die bisherige alleinige Finanzierung
der Verkehrsinfrastruktur über den allgemeinen Haushalt
an ihre Grenzen stößt, ist keine deutsche Erfindung.
Der vorliegende Gesetzwurf zielt darauf ab, das Gebührenaufkommen aus der LKW-Maut weitgehend der
Finanzierungsgesellschaft für den Bau von Verkehrsinfrastruktur zukommen zu lassen.
({6})
Dadurch entsteht eine zweite Säule der Finanzierung.
Die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft wird
zunächst das ASP-Programm, das Anti-Stau-Programm, finanzieren. Darüber hinaus enthält der Gesetzentwurf auch Spielraum für die Durchführung weiterer
verkehrsübergreifender Programme.
Das ASP - das ist das Besondere, das wir auch sehr
bewusst gemacht haben - setzt da an, wo wir das, was
sich wieder bewegt, auch steuern können, nämlich da,
wo es volkswirtschaftlich besonders wertvoll ist und
heute volkswirtschaftlich besonders schädlich und unsinnig: beim Stau auf Straße, Schiene und Wasserstraße.
Bezüglich des Staus auf der Straße gibt es folgende
Faustregel: 40 Prozent werden durch erhöhtes Verkehrsaufkommen, 40 Prozent durch Unfälle und 20 Prozent
durch Baustellen verursacht. Bei Staus auf der Schiene
und auf der Wasserstraße sind es immer vergeudete Verlagerungspotenziale. Deshalb ist es richtig und volkswirtschaftlich sinnvoll, genau hier anzusetzen.
({7})
Die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft
wird noch eine weitere Aufgabe übernehmen - Frau
Wetzel hat das schon gesagt -: Sie soll ein Kompetenzzentrum für die Entwicklung und Betreuung von Betreibermodellen werden. Um mit einem anderen Verkehrsträger zu argumentieren, sage ich dazu: Es ist höchste
Eisenbahn. Um uns herum wird nämlich nicht nur überlegt, welche innovativen Möglichkeiten es gibt, neue
Wege aufzuzeigen, um notwendige Investitionen im öffentlichen Bereich zu finanzieren, sondern sie werden im
Ausland teilweise auch schon praktiziert.
Wenn ich zum Beispiel an das Eisenbahnnetz denke,
das Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden ist, dann stelle
ich fest: Private Investitionen in öffentliche Infrastrukturprojekte waren in der Vergangenheit durchaus Teil der
unternehmerischen Initiativen. Im 20. Jahrhundert haben
der Staat und seine öffentlichen Körperschaften diese
Aufgabe weitgehend übernommen. Der Einsatz privaten
Kapitals war nicht nur unüblich, sondern auch durch gesetzliche Regelungen blockiert. Er wird heute immer
noch durch gesetzliche Regelungen blockiert. Hier besteht Nachholbedarf, wenn wir in Europa wettbewerbsfähig werden wollen. Zurzeit sind wir nicht wettbewerbsfähig.
Mit der Umsetzung der A-Modelle sind wir sicherlich
auf der Überholspur, aber überholt haben wir noch nicht.
Ich will auch nicht missverstanden werden. Vorhin ist
schon gesagt worden, dass private Investitionen in
Verkehrsinfrastruktur kein Windhundrennen sind. Was
wann, wo und wie gebaut wird, bestimmt der Gesetzgeber, und daran wird und darf sich auch nichts ändern.
({8})
Bei der Umsetzung unserer Betreibermodelle geht es
auch darum, eine Visitenkarte für unsere Straßenbauer
und für unsere Bauindustrie zu drucken, vor allen Dingen
für die mittelständische Bauindustrie. Die Betriebe bauen
doch phantastische Straßen und wenn es jetzt darum geht
zu beweisen, dass sie diese Straßen auch betreiben und
unterhalten können, haben sie unsere Unterstützung nötig. Deshalb soll die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft auch ein Kompetenzzentrum werden. Ich
möchte gern, dass unsere guten Straßenbauer auch außerhalb dieses Landes, irgendwo in Europa oder international, Straßen bauen. Ich denke, wir haben auf diesem Gebiet einiges vorzuweisen, und mit den A-Modellen
werden wir den Beweis antreten, dass wir es können und
damit auch wettbewerbsfähig sein werden.
Meine Damen und Herren, auf der VMK im April
letzten Jahres - das ist schon angesprochen worden wurde der einstimmige Beschluss gefasst, die
Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft rechtzeitig zu errichten, damit sie bei Einführung der LKWMaut arbeitsfähig ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie
sich diesem Votum anschließen könnten.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Blank.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Staatssekretärin, der Fachmann aus Ihrem Ministerium
hat gestern im Verkehrsausschuss zu LKW-Maut und
Brüssel etwas ganz anderes gesagt, als Sie hier ausführen.
({0})
Im Übrigen darf ich Sie, Frau Staatssekretärin, vielleicht
daran erinnern: Wir haben mit Verkehrsminister
Wissmann im Jahr 1993 die LKW-Gebühr eingeführt.
({1})
Mit Ihrem Gesetz vollziehen Sie nur den Umstieg von
einer zeitbezogenen auf eine streckenbezogene Gebühr.
Aber nicht einmal das bekommen Sie ordentlich hin.
({2})
Meine Damen und Herren, das ist die Methode RotGrün: Alle, die nicht Ihrer Meinung sind, erklären Sie,
Frau Staatssekretärin und Herr Kollege Schmidt, für
dumm.
({3})
Sie fahren das Land in den Ruin und beauftragen später
diejenigen, die man zuvor für dumm erklärt hat, das
Land wieder in Ordnung zu bringen. Das ist die Methode
Rot-Grün!
({4})
Meine Damen und Herren, es sollte doch mittlerweile
allen klar und allgemeines Gedankengut sein, dass für
die Gestaltung der Zukunft Deutschlands der Erhalt und
die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur von großer Bedeutung sind. 1 Milliarde Euro Investitionen bedeuten 20 000 Arbeitsplätze. Wir haben auch festgestellt und es ist gemeinsames Gedankengut, dass die
bisherige Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur an die
Grenzen des allgemeinen Haushalts stößt und wir eine
Lösung finden müssen. Deshalb wurde die so genannte
Pällmann-Kommission ins Leben gerufen,
({5})
die den Auftrag hatte, Vorschläge zu unterbreiten, wie
künftig die Finanzierung, der Betrieb und der Unterhalt
von Verkehrsinfrastruktur gehandhabt werden sollen,
also Vorschläge für den Wechsel von der bisher praktizierten Haushaltsfinanzierung in eine Nutzerfinanzierung und natürlich auch für die Gewinnung von privatem
Kapital.
Aus unserer Sicht gehen die Vorschläge der
Pällmann-Kommission in die richtige Richtung und
grundsätzlich sehen wir die Gründung von Verkehrsinfrastrukturgesellschaften als sinnvoll an. Der vorliegende Gesetzentwurf der Regierungskoalition ist
jedoch deutlich der falsche Ansatz,
({6})
denn keines der gesteckten Ziele wird erreicht und keine
der Vorstellungen der Pällmann-Kommission wird verwirklicht. Sie errichten eine Gesellschaft mit Geschäftsführer und verursachen damit Overhead-Kosten, früher
hat man das Wasserkopf genannt. Es entstehen Kosten,
aber die Gesellschaft hat kein originäres Einnahmerecht.
Das Geld kommt aus dem Bundeshaushalt. Die Gesellschaft macht also nur das, was eine Abteilung im Ministerium locker hätte machen können. Mit der Gesellschaft
wird ein Schattenhaushalt geschaffen und kein privates
Geld gewonnen.
({7})
Diese Form der Gesellschaft hätten Sie sich sparen können. Es wäre auf jeden Fall besser gewesen, wenn der Verkehrsminister mehr Geld für den Straßenbau in den Bundeshaushalt eingestellt hätte. Das Gegenteil war aber der
Fall. Sie haben in den Jahren 1999 und 2000 Kürzungen
vorgenommen, die Sie im Jahr 2001 nur aufgrund der
UMTS-Lizenzerlöse zum Teil zurücknehmen konnten. Ich
nenne das Stichwort Zukunftsinvestitionsprogramm.
Ihre ganzen Programme haben aber nichts gebracht.
Die Maßnahmen aus dem Investitionsprogramm, das bis
Ende 2002 angesetzt war, sind noch nicht abgearbeitet.
({8})
Im Gegenteil: Die Dauer für die Verwirklichung aller
Maßnahmen, die in dem Programm enthalten sind, reicht
wahrscheinlich weit über das Jahr 2010 hinaus.
Die Verwirklichung des Anti-Stau-Programms, das
im Jahr 2000 mit großem Getöse verkündet wurde, sollte
ab Januar 2003 mit den Einnahmen aus der LKW-Maut
begonnen werden. Jetzt soll es die LKW-Maut erst ab
September geben.
({9})
Technisch ist das sicherlich machbar. Aber Sie haben die
Rechnung ohne den Wirt, das heißt, die zuständige EUKommission, gemacht. Die wird noch großen Ärger in
Bezug auf die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen für das Transportgewerbe und die Verwendung
der Einnahmen aus der LKW-Maut bereiten.
({10})
Dies könnte die Einführung der LKW-Maut verzögern
bzw. zum Scheitern der Maut führen.
({11})
Ich frage mich: Hat die Bundesregierung eigentlich
keine Gespräche geführt? War sie so blauäugig, davon
auszugehen, dass alles, was von ihr vorgeschlagen wird,
von der EU-Kommission abgenickt wird? Große und
grobe Fehler sind gemacht worden.
({12})
Auch bei der Gestaltung des Gesetzes wurden Fehler
gemacht. In der Anhörung zum Entwurf der Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode hat sich die
überwiegende Mehrheit der Sachverständigen gegen die
Vorschläge im Gesetz ausgesprochen. Ihr Gesetz ist unzureichend und mangelhaft, wie eigentlich alles, was
von dieser Regierungskoalition und dieser Bundesregierung kommt.
({13})
Sie wollen und wollten nicht auf Sachverständige hören.
Auch unsere guten Vorschläge - siehe unseren Gesetzentwurf - stoßen auf taube Ohren. Sie sind nach wie vor
beratungsresistent.
({14})
Ich möchte auf einen für das Parlament wichtigen
Kritikpunkt hinweisen. Durch die Festlegung privat zu
finanzierender Projekte durch eine separat von der Bundesregierung zu erlassende Rechtsverordnung, die nur
ein Einvernehmen mit den betroffenen Landesregierungen erfordert, wird eine Beteiligung des Parlaments
umgangen. Gutes Beispiel ist die gestrige Diskussion um
die Mautverordnung. Die Beteiligung des Parlaments ist
dabei gleich null. Das kann Ihr Demokratieverständnis
sein, unseres ist es nicht.
({15})
Bei dieser Problematik haben wir sogar die Verbände,
den Bund Naturschutz und den Verkehrsclub Deutschland, auf unserer Seite. Das können Sie im Wortprotokoll
der Anhörung nachlesen. Dabei stehen diese Verbände
ansonsten weniger auf unserer Seite; sie tendieren eher in
Ihre Richtung. Diese Verbände sagten übereinstimmend,
dass dem Deutschen Bundestag die Entscheidungshoheit
und die Kontrolle darüber entzogen wird, wie die Verkehrsinfrastruktur weiterentwickelt werden soll.
In einem ersten Schritt sollen der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft die Einnahmen aus der streckenbezogenen Autobahnbenutzungsgebühr für schwere
LKW zufließen. Was steckt dahinter? Mit Ihrem Gesetz
wollen Sie durch die Belastung der Straße den gesamten
Verkehrsbereich alimentieren. Wir treten dafür ein, dass
die für die Nutzung der Bundesfernstraßen erhobenen
Abgaben in den Unterhalt der Bundesfernstraßen zurückfließen.
({16})
- Herr Kollege Weis, Unsinn ist das nun wirklich nicht;
denn in Ihrem Vorschlag fließen die Abgaben nicht in
die Straße zurück, sondern gehen an alle Verkehrsträger.
Nach Abzug der Betreiber- und Harmonisierungskosten muss das Geld aus der Straße in die Straße reinvestiert werden.
({17})
Nur so macht die LKW-Maut, die eine Gebühr und keine
Steuer ist, Sinn. Die Gebühr kann so vollständig zweckgebunden für den Straßenbau verwendet werden. Dies
könnte - wenn man nur wollte - im Gesetz verankert
werden.
({18})
Was geschieht stattdessen? Es wird keinen müden
Euro mehr für den Straßenbau geben; denn der Straßenbauhaushalt wird reduziert und ein Großteil der LKWMaut fließt in den allgemeinen Haushalt des Finanzministers. Das ist aus unserer Sicht ein Skandal.
({19})
Nun möchte ich den Kollegen Schmidt, den ich leider
nicht mehr sehe,
({20})
an seine Aussagen in der Debatte vom 17. Mai 2002 erinnern. Er führte damals aus, dass die transportierende
Wirtschaft durch die Einführung der LKW-Maut erhebliche zusätzliche Kosten zu erwarten habe. Richtig! Die
Akzeptanz der Maut hänge davon ab, dass garantiert
werden kann, dass die Nettoeinnahmen wieder in das
Verkehrsnetz reinvestiert werden. Es war von Ihnen damals nicht gesagt worden, dass sich der Finanzminister
800 Millionen Euro pro Jahr aus der LKW-Maut holen
will.
({21})
Um das sicherzustellen, transparent und umsetzbar zu
machen - das haben Sie damals ausgeführt -, brauche
man die Gesellschaft. So weit Herr Kollege Schmidt.
In diesem Zusammenhang sprachen Sie auch von einer Zweckbindung. Ihren Aussagen von damals kann
man nur zustimmen. Tatsache ist jedoch, dass der Finanzminister kassiert und kein Cent mehr - in diesem
Jahr wahrscheinlich weniger und in den nächsten Jahren
trotz der LKW-Maut auch nicht viel - in den Straßenbau
fließen wird. Tja, Herr Kollege Schmidt, Sie haben damals ein wenig vollmundig getönt.
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit.
({0})
Fest steht, dass wir mehr Geld für den Straßenbau benötigen. Es wäre eine Aufgabe des Verkehrsministers, sich
bei seinem Kollegen Eichel durchzusetzen, damit dieser
mehr Geld für die wichtigen Investitionen locker macht
({0})
und nicht die Haushaltsansätze aufgrund der LKWMaut-Einnahmen reduziert.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Errichtung einer Ver-
kehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft - 53 Buch-
staben - zur Finanzierung von Bundesverkehrswegen.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Wohnungswesen
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/416, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Gibt
es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zwei-
ter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenom-
men worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist damit auch in dritter Lesung mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der
CDU/CSU zur Errichtung einer Bundesfernstraßenfinan-
zierungs- und Managementgesellschaft: Der Ausschuss
für Verkehr, Bau und Wohnungswesen empfiehlt unter
Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/416,
den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stim-
men der CDU/CSU abgelehnt worden. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verlängerung der Ladenöffnung an Samstagen
- Drucksachen 15/396, 15/521 ({0})
-Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Rainer
Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Aufhebung des Ladenschlussgesetzes
- Drucksache 15/106 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({2})
- Drucksache 15/591 -
Berichterstattung:
Abg. Wolfgang Grotthaus
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Wolfgang
Börnsen ({4}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Ladenschlussgesetz modernisieren
- Drucksachen 15/193, 15/591 Berichterstattung:
Abg. Wolfgang Grotthaus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre
ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Wolfgang Grotthaus, SPD.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Dieses Thema haben wir in den zurückliegenden
Wochen und Monaten schon zweimal hier im Plenum
behandelt. Wir haben es auch ausgiebig in den zuständigen Ausschüssen diskutiert. Eigentlich könnte man meinen, dass genug darüber geredet worden ist, dass die Situation geklärt ist und dass man abstimmen sollte. Ich
glaube, dass man trotzdem noch einmal klarstellen
sollte, worum es eigentlich geht.
Uns liegt heute ein Antrag der FDP zur Beratung vor.
Dieser Antrag beinhaltet, dass die Ladenschlusszeiten
gänzlich aufgehoben werden sollen, dass also die Geschäftsinhaber ihre Geschäfte an den Werktagen rund um
die Uhr - von 0 bis 24 Uhr - öffnen können und dass die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wenn die Geschäftsinhaber dies als notwendig erachten, in dieser Zeit zur Verfügung zu stehen haben.
In dem uns vorliegenden Antrag der CDU/CSU-Fraktion wird die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der letztendlich genau das Gleiche wie der FDP-Antrag beinhalten soll, nämlich eine
komplette Freigabe der Ladenöffnungszeiten an den
Werktagen. Nicht unerwähnt will ich eine Bundesratsinitiative lassen, in der ebenfalls die vollständige Freigabe
der Ladenöffnungszeiten gefordert wird; hinzu kommt
eine Ergänzung, wonach die Länder in ihrer Hoheit darüber bestimmen dürfen, wie sie die Ladenöffnungszeiten
festsetzen.
Ich will am Anfang sofort deutlich machen: Diesem
Entwurf werden wir, wenn er hier im Plenum behandelt
wird, in keiner Weise zustimmen, weil wir befürchten,
dass es in Bezug auf die Ladenöffnungszeiten zu einem
Flickenteppich in der Republik kommen wird. Dies
könnte dazu führen, dass zum Beispiel in Mainz andere
Ladenöffnungszeiten als in Wiesbaden gelten, womit
sich Käuferströme über Ländergrenzen hinweg entwickeln, die aus unserer Sicht nicht gewollt sind.
({0})
Ihnen liegt der Gesetzentwurf der Bundesregierung
vor. Dieser Gesetzentwurf beinhaltet als wesentlichen
Teil die Verlängerung der Ladenöffnungszeit an
Samstagen von 16 auf 20 Uhr, also eine Erweiterung
der Ladenöffnungszeit um wöchentlich vier Stunden.
Wie ist es zu dieser Initiative gekommen? Es lassen sich
gesellschaftliche Veränderungen beim Käuferverhalten
sowie Arbeitsplatzverluste und Konzentrationen im Einzelhandel feststellen. Hierzu ist anzumerken, dass sich
durch eine Veränderung der Ladenöffnungszeiten die
Konzentrationsbewegungen nicht verändern werden - es
wird zu weiteren Konzentrationen kommen -, dass dadurch Arbeitsplätze nicht neu entstehen werden - dies
hat uns der Einzelhandelsverband bestätigt -, sondern
dass es im Wesentlichen darum geht, den negativen
Trend zu bremsen oder gänzlich zu stoppen.
Ich will daran erinnern, dass der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Rexrodt unter der Kohl-Regierung
zum damaligen Zeitpunkt argumentiert hat, man müsse
die Ladenöffnungszeiten gänzlich freigeben, weil damit
133 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten.
Tatsächlich sind in dieser Zeit 50 000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Es gibt also eine Facette vieler Ansatzpunkte im Einzelhandel, die man berücksichtigen muss.
Daher sage ich hier in aller Deutlichkeit: Dies ist nur
eine Facette. Wir werden nachfolgend weitere Facetten
aufgreifen und entsprechende Gesetzentwürfe in den
Bundestag einbringen, um darüber zu diskutieren.
Am Montag haben wir zu dieser Thematik eine Expertenanhörung gehabt. Dabei hat sich ganz klar herausgestellt, dass die Mehrheit der Experten den Gesetzentwurf
der Bundesregierung als optimale Zusammenführung der
im Bereich des Einzelhandels vorhandenen Interessen
ansieht. Dies bedeutet für uns, dass der Entwurf der Bundesregierung heute eigentlich die einhellige Zustimmung
bekommen sollte. Wir gehen aber davon aus, dass die
Opposition diesem Vorschlag, wie er in der Anhörung
vorgestellt wurde, nicht zustimmen wird. Aber auch wir
haben schon angekündigt, dass wir den Gesetzentwurf
der FDP und den Antrag der CDU/CSU ablehnen werden, weil beide nicht dazu führen, die Interessen des Einzelhandels, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
und der Verbraucher auf einen gemeinsamen Nenner zu
bringen.
Wie haben sich die Experten geäußert? Ich will deutlich machen, dass insbesondere die christlichen Arbeitnehmervertreterorganisationen, die katholische Arbeiterbewegung und die evangelische Arbeiterbewegung,
einen zumindest für mich neuen Begriff in die Diskussion eingebracht haben, nämlich den Sozialfaktor Zeit.
Der Sozialfaktor Zeit spielte in der Diskussion eine herausragende Rolle. Es wurde den anwesenden Abgeordneten klar gemacht, dass am Wochenende, also auch am
Samstag, das ehrenamtliche Engagement und die Familie eine entscheidende Rolle spielen. Daher sei es wichtig, gerade den Samstag in die Familienplanung und die
soziale Planung einzubeziehen. Deswegen ist deutlich
gemacht worden, dass gerade diese beiden Organisationen eine 24-stündige Öffnungszeit ablehnen würden.
Daher glauben wir, dass unser Antrag, dem gestern im
Ausschuss mehrheitlich zugestimmt worden ist und der
sich daran nicht orientiert hat, aber durch diese Anhörung eine Zustimmung bekommen hat, den Bedenken
der Vertreter der christlichen Arbeitnehmerverbände,
aber auch den Arbeitgeberintentionen und - was uns
sehr, sehr wichtig ist - den Interessen der Arbeitnehmer
im Einzelhandel Rechnung trägt.
Wie haben wir unseren Antrag formuliert? Wir haben
gesagt, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Verkaufsstellen verlangen können, in jedem Kalendermonat an einem Samstag von der Beschäftigung freigestellt zu werden. Wir haben nicht explizit festgeschrieben, dass man freistellen muss. Wir wissen, dass es in
den Betrieben und Geschäften Beschäftigte gibt - im
Wesentlichen sind es Frauen -, die nur am Wochenende
arbeiten wollen. Dann, wenn sie frei haben wollen, melden sie das vorher an. Der Arbeitgeber kann flexibel darauf reagieren. Wir wollten diese Flexibilität in diesem
Gesetzentwurf und ebenso in unserem ergänzenden Antrag festhalten. Wir haben mit Freude festgestellt, dass
die große Oppositionspartei diesem Antrag zugestimmt
hat.
Ich mache darauf aufmerksam, dass dies für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Einzelhandel eine
Verbesserung ist. Sie haben auf Verlangen frei zu bekommen. Ich mache deutlich, dass dies auch für die Geschäfte in Bahnhöfen und für Tankstellen gilt, sodass wir
für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesen
Bereichen ebenfalls eine Verbesserung erreicht haben.
Dies ist letztendlich eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung, an die sich die Tarifvertragsparteien halten müssen.
Dies bedeutet: Die Flexibilität für die Arbeitnehmer
ist vorhanden und die Flexibilität für die Arbeitgeber ist
vorhanden. Von daher haben wir Ihnen mit unserem Antrag eine entsprechende Verbesserung des Antrags der
Bundesregierung vorgeschlagen.
Das Fazit, das man aus der Diskussion und aus unserem Antrag ziehen kann, lautet: Es gibt gesellschaftliche
Veränderungen in dieser Republik. Diese Veränderungen wollen und müssen wir gemeinsam mitgestalten. Es
gibt widerstreitende Interessen, die zu beachten sind.
Wir glauben, dass wir mit der - je nachdem, aus welcher
Sicht man das sieht; ich sage: minimalen - Verlängerung
der Ladenöffnungszeiten den Verbraucherinnen und Verbrauchern in dieser Republik entgegenkommen. Ich gehe
davon aus, dass wir den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern mit der flexibleren Handhabung entgegenkommen
und dass wir den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
in der Form entgegenkommen, dass wir ein Recht auf
ein freies Wochenende in das Gesetz mit einbringen.
Ich habe vor einigen Minuten gesagt, dass dies eine
Facette ist, um den Einzelhandel zu stärken. Meine Fraktion sieht die Notwendigkeit für weitere Diskussionen in
nächster Zeit. Aus unserer Sicht haben wir darüber zu
diskutieren, wie wir den Einzelhandel in den Innenstädten stabilisieren können und wie wir die Revitalisierung
der Innenstädte zustande bringen. Wir haben einen
übergreifenden Branchendialog zu führen. Dabei wollen
wir auf diesem Weg, den wir jetzt gegangen sind, weiter
gehen. Wir wollen diese Gespräche mit den Einzelhandelsverbänden, mit den Gewerkschaften, mit den Kommunen, mit den Landesgesetzgebern, also mit allen, die
den Einzelhandel mit stabilisieren können, führen. Wir
gehen davon aus, dass wir weitere Initiativen entwickeln
werden.
Ich sage abschließend: Den Antrag der CDU/CSU
werden wir ablehnen.
({1})
Den Antrag der FDP werden wir ebenfalls ablehnen.
({2})
Wir sagen der Bundesregierung einen herzlichen Dank
dafür, dass sie im Sinne der von mir Genannten aktiv geworden ist.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hartmut
Schauerte.
({0})
- Aufpassen!
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2002 waren im deutschen Einzelhandel
durchschnittlich 2,5 Millionen Personen beschäftigt. Das
sind 133 000 Personen weniger bzw. 13 Prozent weniger
Vollzeitarbeitsplätze als zum Zeitpunkt der letzten Änderung des Gesetzes 1996.
Die Umsätze sind seit 1996 rückläufig. Auch die Unternehmenszahlen sind rückläufig; die Verkaufsstellen
sind deutlich reduziert worden. Das alles hat unter dem
geltenden Ladenschlussgesetz stattgefunden.
Der deutsche Einzelhandel befindet sich zurzeit in einer der schwierigsten Situationen, die er jemals durchlaufen hat. Die Erträge sind schlecht und auch im internationalen Wettbewerb nimmt er eine schlechte Position ein.
Dass all das unter dem geltenden Ladenschlussgesetz
stattgefunden hat, muss zwar nicht heißen, dass es auch
darauf zurückzuführen ist, aber geholfen hat das Gesetz
jedenfalls nicht.
({0})
Im Prinzip hatte es keine Wirkung.
Hängt das, was ich eben beschrieben habe, mit den
Schutzwirkungen des Gesetzes oder mit den in ihm enthaltenen Begrenzungen zusammen? Diese Frage werden
wir nicht eindeutig beantworten können. Sehr wahrscheinlich würden wir lediglich in einen punktuellen und
interessengesteuerten Streit geraten.
Jedenfalls hat der deutsche Einzelhandel keinen
Grund, mit der gegenwärtigen Situation und insbesondere der geltenden Rechtslage zufrieden zu sein. Insoweit ist es vernünftig, über notwendige Maßnahmen
nachzudenken.
Unserer Meinung nach sollte eine Regelung, bei der
wir nicht mehr nachweisen können, ob sie nützlich ist,
eher entfallen als fortbestehen.
({1})
Das ist der Ansatz, den wir in Fällen der Entbürokratisierung und der Deregulierung wählen. Entscheidend
müsste die Frage sein, ob die Regelung hilfreich ist und,
wenn ja, in welcher Form und an welcher Stelle. Dieser
Beweis ist aber nicht zu führen. Man könnte genauso gut
das Gegenteil behaupten. Deshalb halten wir eine Reform für notwendig.
Wir haben bei der letzten Reform des Ladenschlussgesetzes einer Verlängerung der Ladenöffnungszeiten an
Werktagen bis 20 Uhr zugestimmt. Diese Regelung war
damals heiß umkämpft. Inzwischen hat die Wirklichkeit
gezeigt: Die deutschen Läden schließen in der Regel
zwischen 18 und 19 Uhr, obwohl sie bis 20 Uhr geöffnet
bleiben könnten. Das heißt, wir haben eine zeitliche
Grenze festgesetzt, die in Wirklichkeit keine Rolle spielt
und nicht ausgeschöpft wird. Die Läden schließen in der
Regel früher. Es gibt wenige Fälle, in denen jenseits dieser Grenze möglicherweise noch Spielraum für Geschäfte besteht. Selbst wenn wir die Grenze abschaffen,
wird es nur wenige Einzelfälle geben, in denen in diesem
Bereich noch Geschäfte generiert werden können, weil
eine konkrete Nachfrage besteht.
Warum soll das untersagt werden?
({2})
Warum muss das Vorhaben gestoppt werden? Warum
muss man an dieser Stelle so ängstlich sein? Wir haben
es schließlich mit mündigen Bürgern zu tun. Aus der
Abschaffung der Ladenöffnungszeiten ergibt sich kein
Gebot, die Läden rund um die Uhr zu öffnen. Vielmehr
werden die Nachfrage sowie die geschäftlichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten bestimmen, wann die
Läden geöffnet sind. Das wird sich auf eine vernünftige
Weise regulieren.
({3})
„Markt intern“ hat sich in einem bitterbösen Informationsbrief gegen diese weitere Liberalisierung ausgesprochen. Um deutlich zu machen, wie unlogisch häufig
argumentiert wird, möchte ich einen Punkt daraus anführen: Dass der alte Gesetzeszopf weg müsse, sei eine
Lüge; er müsse eigentlich beibehalten werden. Von den
Gegnern werde das Ladenschlussgesetz als Anachronismus dargestellt. Das Gesetz sei erst 1956 in Kraft getreten. Es sei mittlerweile elfmal überarbeitet und insofern
immer wieder modernisiert worden. Vergleiche mit dem
Ausland seien ohnehin nicht möglich.
Beim Vergleich mit dem Ausland wird übersehen,
dass die gesetzestheoretische Freiheit in der Praxis im
Ausland keine längeren Öffnungszeiten bedeutet.
({4})
Außerhalb der Tourismuszentren schließen die Geschäfte dort häufig früher oder haben aufgrund anderer
Lebensrhythmen ausgedehnte Mittagspausen.
Was hindert uns daran, eine ähnliche Feststellung für
Deutschland zu treffen? Auch bei uns haben sich die Lebensgewohnheiten etwas geändert; sie weisen eine größere Unterschiedlichkeit auf. Warum können wir diese
Freiheit nicht zulassen?
Ich kann nicht feststellen, dass die Arbeitnehmer in
den ausländischen Einzelhandelsgeschäften brutal ausgebeutet oder schlechter behandelt werden als die Arbeitnehmer in Deutschland und dass die Umsatzergebnisse des Einzelhandels in den Ländern, in denen die
Ladenschlusszeiten freigegeben sind, schlechter sind
als die des Einzelhandels in Deutschland. Warum müssen wir dann an der bisherigen engen Regelung festhalten?
Die Position der CDU/CSU ist deswegen ganz klar:
Wir wollen die Ladenschlusszeiten grundsätzlich freigeben, das heißt, wir wollen keine 20-Uhr-Grenze, auch
nicht am Samstag; denn wir sind uns sicher, dass sich die
Menschen vernünftig verhalten und selber Grenzen finden werden, die ihrem jeweiligen Lebensgefühl entsprechen.
({5})
Wir wollen aber - das halten wir für richtig und wichtig - den Sonntag weiterhin schützen, und zwar zumindest in so starkem Maße wie bisher. Deswegen möchten
wir, liebe Kollegen von der FDP, den Ländern auch nicht
die Möglichkeit geben, eventuell Ausnahmeregelungen
zu beschließen; denn daraus könnten sich neue Risiken
für den Sonntagsschutz ergeben. Lassen Sie mich dazu
ein paar Bemerkungen machen. Zurzeit ist der Sonntagsschutz bundesgesetzlich geregelt. Er ist eine Konsequenz
aus den Vorgaben unserer heutigen Verfassung, die festlegt - das ist aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen worden -, dass der Sonntag gesetzlich zu
schützen ist. Wenn man den Sonntagsschutz per Bundesgesetz beseitigen will, dann muss man zunächst einmal
bedenken, dass der Sonntagsschutz in einigen Bundesländern völlig unzureichend und gänzlich anders geregelt ist. Ich möchte Ihnen ein praktisches Beispiel nennen - ich möchte noch nicht einmal von solch gottlosen
Regierungen wie der in Berlin reden, wo die Regierung
mit dem Schutz des Sonntags macht, was sie will; das
wollen wir nicht zulassen -: Einige Stadtstaaten würden,
wenn sie die Möglichkeit hätten, die Regelung zum
Sonntagsschutz weit öffnen. Ich kann mir gut vorstellen,
welches Theater es zum Beispiel im Speckgürtel gäbe,
wenn es zu einer solchen Öffnung käme. Es wird dann
sicherlich heißen: Wir müssen das Gleiche tun, weil
sonst Kaufkraft abgezogen wird. Ich bin mir sicher, dass
man dann überhaupt keine Grenzen mehr finden wird.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin sehr wohl für
den Föderalismus. Aber bei Gütern, die über jeden Zweifel erhaben sind und die ich deswegen deutschlandweit
geschützt sehen will - dazu gehört für uns der Sonntag -,
({6})
möchte ich auf die Möglichkeit der freien Gestaltung für
die einzelnen Länder verzichten. Ich sage deshalb: Nein,
der Sonntag muss weiterhin bundesgesetzlich geschützt
werden. Wir halten an unserer Linie fest, weil sie vernünftig ist.
Ich möchte - das ist schon angesprochen worden noch auf einen weiteren Gesichtspunkt eingehen, nämlich
das Cityprivileg, dessen Einführung ständig gefordert
wird. Wir lehnen dieses Privileg ab, weil wir neue Grenzen für Quatsch halten. Ich sage Ihnen voraus, dass Sie,
wenn Sie Ihre 20-Uhr-Regelung und die Einführung des
Cityprivilegs an einigen interessierten Standorten - der
Wunsch danach wächst ja ständig - tatsächlich realisieren, über kurz oder lang eine neue Ladenschlussdebatte
führen müssen. Man hat das Cityprivileg aus der Mottenkiste wieder herausgeholt und argumentiert, dass man
wieder etwas für die Geschäfte in den Innenstädten tun
müsse und dass man deswegen die Geschäfte auf der grünen Wiese schlechter stellen müsse. Wenn dieses Privileg
eingeführt wird, dann werden neue künstliche Grenzen
entstehen. Sie werden damit also nichts weiter als Unsicherheit und neues Theater erreichen. Deswegen ist unser
Ansatz richtig, die Ladenschlusszeiten gänzlich freizugeben, wobei der Sonntag mit aller Konsequenz geschützt
bleibt.
In der Diskussion über das Cityprivileg gibt es außerdem ein interessantes „logisches“ Argument. Die Einführung dieses Privilegs wird ja gewünscht, weil man
hofft, durch längere Ladenöffnungszeiten bessere Geschäfte zu machen. Deswegen befürworten die Geschäfte in den Innenstädte das Cityprivileg. Warum sollen das aber nur die Großstädte dürfen? Warum sollen,
wenn sie wollen, nicht auch der ländliche Raum und die
kleinen Städte selbstständig über ihre Ladenöffnungszeiten entscheiden dürfen?
({7})
- Nein, das, was Sie vertreten, ist im Grunde ein Großstadtprivileg. Deshalb ist auch die BAG dafür. Hier geht
es ja nicht um einen Kaufhof im ländlichen Raum, sondern um Einzelhandelsunternehmen auf der Düsseldorfer Kö. Darauf läuft es letztendlich hinaus. Dazu sagen
wir Nein; denn wir halten eine weitere Verschiebung der
Kaufkraftströme vom Land in die Ballungsräume für unvernünftig. Wir müssen vielmehr die Versorgung im
ländlichen Raum auf hohem Niveau erhalten. Deswegen
ist das Cityprivileg falsch. Ich sage Ihnen voraus: Sie
werden aufgrund Ihrer Regelung betreffend das Cityprivileg eine neue Ladenschlussdiskussion führen müssen.
Wir stehen hier am Vorabend einer Jahrhundertrede
des Bundeskanzlers
({8})
und diskutieren über den Ladenschluss. Jetzt sehen wir
uns einmal an, was bei der SPD bezogen auf den Ladenschluss los ist. Ich habe gedacht, es geht um eine Verlängerung der Öffnungszeiten an Samstagen um vier Stunden. Bei uns geht es ja um mehr. Für Sie waren die vier
Stunden unheimlich viel. Sie haben eine Sondersitzung
der Fraktion machen müssen,
({9})
um die Abweichler, die diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen wollten, zur Räson zu bringen.
({10})
Das muss man sich einmal vorstellen. Angesichts dieser
Jahrhundertreform haben Sie heute Morgen eine Sondersitzung der Fraktion gemacht. In dieser Sondersitzung
der Fraktion
({11})
haben 25 Leute gegen den Regierungsentwurf gestimmt
und sie behaupten, das auch durchhalten zu wollen.
({12})
Wir müssten Ihnen eigentlich den Gefallen tun, eine
namentliche Abstimmung über den Gesetzentwurf zu
fordern.
({13})
Die wäre interessant.
({14})
Wissen Sie, warum die interessant wäre? Herr Wend,
stellen Sie sich doch einmal vor: Am Vorabend der Jahrhundertrede bekommt der Kanzler bei der Kleinsten der
vorgesehenen Reformen nicht einmal die eigene Mehrheit zustande.
({15})
Das muss man sich einmal vorstellen. Wie soll das denn
beim Kündigungsschutz, bei der Arbeitsmarkt- oder der
Gesundheitsreform gehen? Wie viele Sondersitzungen
wollen Sie denn noch machen? Wie oft sollen wir Sie
denn mit namentlichen Abstimmungen verschonen, damit Sie nicht unangenehm auffallen?
({16})
Das ist doch wirklich mehr als peinlich.
({17})
Wo ist Ihre Fraktionsführung, wo ist Ihre Geschlossenheit? Es wäre hochinteressant festzustellen, wie Sie
nachher tatsächlich abstimmen. Es juckt mich immer
noch, den Antrag auf namentliche Abstimmung zu stellen. Das wäre hochinteressant für Sie. Sie würden sich
wundern.
({18})
Das ist schon ein hochnotpeinlicher Vorgang, wie der
Löwe SPD am Beginn eines Reformprozesses von historischem Ausmaß dasteht. Er hat keine Mehrheit bei dem
Vorhaben, den Ladenschluss am Samstag um vier Stunden zu verlängern. Peinlich, peinlich, peinlich!
Danke schön.
({19})
Nächster Redner ist der Kollege Hubert Ulrich, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Thema Ladenschluss beschäftigt uns heute
zum dritten Mal innerhalb der letzten Monate und heute
auch abschließend.
({0})
- Auch gerne Ladenöffnung.
({1})
Wir machen heute einen weiteren, auch in meinen
Augen kleinen Schritt zur Erweiterung der Ladenöffnungszeiten am Samstag von 16 auf 20 Uhr.
({2})
- Zwischenrufe können Sie sich sparen, Sie kennen
meine Position.
({3})
Wir müssen als Regierungskoalition auf die veränderten
Lebens- und Arbeitsgewohnheiten der Menschen reagieren. Insbesondere durch die Reform aus dem Jahre 1996
hat sich gezeigt, dass der Samstag von den Konsumentinnen und Konsumenten bedeutend stärker angenommen wird, als das zunächst erwartet wurde. Die logische
Konsequenz daraus ist natürlich eine Verlängerung der
Öffnungszeit am Samstag auf zunächst 20 Uhr.
Ich will ein Thema ansprechen, das auch Herr
Schauerte zur Sprache gebracht hat. Ich bin dabei der
festen Überzeugung, dass wir die Problematik der Ladenöffnungszeiten tiefer diskutieren müssen. Wir müssen einfach einmal sehen, was in unserem Land durch
das Ausräumen der Innenstädte aufgrund des Ausweichens auf die grüne Wiese geschieht. Die Zahlen sind
hier in den Debatten bereits genannt worden. Die großen
Discounter auf der grünen Wiese haben nun einmal gegenüber den Händlern in unseren Innenstädten ganz bedeutende Wettbewerbsvorteile. Herr Schauerte, daran
können Sie nicht vorbeireden. Der Wettbewerb ist völlig
verzerrt. Politik muss sich einfach ernsthafte Gedanken
darüber machen, was daran verändert werden kann.
Ich kann noch einen Schritt weiter gehen. Die Perversion sind die Factory Outlet Center. Diese bedeuten einen Generalangriff auf die deutschen Innenstädte. So ist es
nun einmal. Darauf muss es Reaktionen seitens der Politik
geben. Dort ist die Wettbewerbsverzerrung perfekt.
Was kann noch getan werden, um auf diesem Gebiet
einen gewissen Ausgleich zu schaffen? Was im Raum
steht, ist einfach nur eine zeitliche Differenzierung der
Ladenöffnungszeiten, um den Innenstädten einen gewissen Vorteil zu verschaffen, was auch erreicht würde.
({4})
- Sie geben mir gerade das Stichwort „verfassungsrechtlich“.
Zunächst möchte ich etwas über den Vergleich mit
dem Ausland sagen. Schauen Sie in die Vereinigten
Staaten von Amerika! Dort sind die Innenstädte aufgrund solcher Center verödet. Bleiben wir in Europa und
schauen wir einmal nach Schweden! In Schweden dominieren drei große Einzelhandelsunternehmen den ganzen
Lebensmittelmarkt. Diese drei Unternehmen machen
90 Prozent des gesamten Umsatzes. Wie sieht es in
Schweden mit den Preisen aus? Zunächst sanken die
Einzelhandels- und Lebensmittelspreise ein gutes Stück.
Dann bildete sich ein Oligopol. Heute ist das Lebensmittelpreisniveau in Schweden das höchste in ganz Europa.
Das ist eine Folge der dortigen Verhältnisse.
Herr Schauerte, Sie argumentieren juristisch und sagen, ein solches Cityprivileg lasse sich juristisch nicht
halten. Professor Isensee hat genau das in einem Gutachten bestritten und ist zum gegenteiligen Ergebnis gekommen. In einer Expertise des Bundesjustizministeriums
aus dem Jahre 2000 heißt es klipp und klar: Wesentlich
ist, den Gleichheitsgrundsatz des deutschen Grundgesetzes zu wahren. Dies geschieht durch die Bewahrung der
Gemeinwohlbelange und durch die Förderung von Innenstädten. Die zur Erreichung dieses Ziels eingesetzten
Mittel müssen verhältnismäßig sein und eine Differenzierung der Ladenschlusszeiten ist ein solches verhältnismäßiges Mittel.
({5})
Sie argumentieren - das haben Sie auch veröffentlicht mit der Abgrenzungsproblematik. Dank des Investitionszulagengesetzes gibt es in diesem Bereich sehr einfache und sehr brauchbare Möglichkeiten. Die bestehenden Regelungen, die in Deutschland seit Jahrzehnten
angewandt werden - Stichworte sind das Baugesetzbuch
und die Baunutzungsverordnung -, machen eine glasklare Unterscheidung zwischen Innenstadtlagen und Lagen auf der grünen Wiese möglich. Bereits heute wird
zwischen Gewerbegebieten, Kerngebieten und Mischgebieten differenziert. Wir alle kennen diese Begrifflichkeiten. Diese Regelungen wurden in Deutschland bisher
in 400 000 Fällen angewandt - und das ohne eine einzige Klage. Man sollte in dieser Angelegenheit also nicht
juristisch argumentieren, sondern bestenfalls politisch.
({6})
- Ich habe gerade die verfassungsrechtliche Problematik
erläutert, Frau Kopp. Ihr Problem, Frau Kopp, und das
Problem der FDP allgemein ist, dass Sie sich noch nie
für die Klein- und Kleinstbetriebe sowie die mittelständischen Betriebe interessiert haben. Sie denken nur an
die großen Unternehmen auf der grünen Wiese. Dementsprechend ist Ihre Politik seit Jahrzehnten. Das beweisen
Sie auch jetzt wieder durch diesen Zwischenruf.
({7})
Machen Sie sich einmal Gedanken darüber, warum in
den letzten Jahren gerade im Einzelhandel mehr als
100 000 Arbeitsplätze verloren gingen! Es waren die
großen Unternehmen, die dafür gesorgt haben, dass Arbeitsplätze in den Innenstädten abgebaut wurden. Frau
Kopp, die Zahlen sprechen für sich - man muss sich das
immer wieder einmal klar machen -: Der prozentuale
Anteil der Personalkosten im Fachhandel in den Innenstädten liegt bei 18,5 Prozent; der gleiche Anteil bei den
Verbrauchermärkten auf der grünen Wiese liegt bei
8,6 Prozent. Das ist ein enormer Unterschied.
({8})
- Das liegt an vielem: Es liegt an der viel größeren und
viel preiswerteren Fläche, die den Unternehmern auf
der grünen Wiese zur Verfügung steht. Man braucht
dort nur „eindimensional“ zu bauen. Man hat dort eine
gute Verkehrsanbindung. Außerdem verfügt man über
zentrale Marketingkonzepte und beim Einkauf bestehen große Margen. Es gibt dort eine ganze Reihe von
Vorteilen gegenüber den Anbietern in Innenstädten.
Auch große Kaufhäuser in Innenstädten können diese
Vorteile - das darf man nicht vergessen - nicht wettmachen.
({9})
Der einzige Weg, den Anbietern in den Innenstädten
einen gewissen Vorteil zu verschaffen, ist nun einmal
eine Differenzierung, wofür ich mich klar ausspreche.
Ich weiß, dass unser Koalitionspartner in dieser Angelegenheit eine andere Position hat. Trotzdem kämpfe ich
für dieses Ziel. Ich weiß, dass es auch innerhalb der sozialdemokratischen, aber auch innerhalb der christdemokratischen Fraktion eine größere Gruppe von Abgeordneten gibt, die das ähnlich sieht. Ich bin der Meinung,
dass wir dieses Thema weiter diskutieren sollten. Ich
halte es für sehr wichtig, auch mit Blick auf die Zukunft,
sich darüber Gedanken zu machen.
Diese Regierung hat neben der weiteren Liberalisierung der Ladenschlusszeiten eine ganze Reihe anderer
Maßnahmen durchgeführt, um dem Einzelhandel und
dem Mittelstand Vorteile zu verschaffen. Die aktuellste
Maßnahme ist die Schaffung des Niedriglohnsektors
im Zusammenhang mit dem Hartz-Konzept.
({10})
- Für das Hartz-Konzept waren Sie verantwortlich?
({11})
Allein in diesem Bereich - der von den Grünen und nicht
von der CDU/CSU in die Diskussion gebracht wurde wird, so der HDE, mit 100 000 neuen Arbeitsplätzen gerechnet. Dass Sie uns via Bundesrat dabei unter die
Arme gegriffen haben, Herr Schauerte, ist richtig. Aber
die Initiative kam von den Grünen.
Meine Redezeit ist um, ich bedanke mich für Ihre
Aufmerksamkeit.
({12})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gudrun Kopp,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!
Lieber Herr Kollege Ulrich, im Gegensatz zu Ihnen
komme ich aus einem unternehmergeführten mittelständischen Betrieb.
({0})
Versuchen Sie bitte nicht, mir zu erzählen, was Mittelstand ist.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, bezüglich des Themas Reformen gibt es kein Frühlingserwachen. Ich
glaube, dass es hier im Deutschen Bundestag eine neue,
größer werdende Allianz der Regulierungswütigen gibt,
die plötzlich wieder neue Blüten treiben lassen.
({1})
Es geht nicht nur darum, dass sich die SPD und auch die
Grünen nur trauen, hier einen Gesetzentwurf mit einem
Minischritt von gerade einmal vier weiteren Stunden Ladenöffnungszeit vorzulegen, sondern auch um einen anderen Punkt, den ich deutlich erwähnen möchte. Dabei
kann ich leider auch die CDU/CSU-Fraktion nicht herauslassen.
Lieber Herr Schauerte, Sie haben vergessen, zu erwähnen, wie Sie zu den Punkten Sonderregelungen und
Verbeugung vor den Gewerkschaften stehen und abgestimmt haben. Zu unserer großen Überraschung ist jetzt
im Gesetzentwurf der rot-grünen Regierung vorgesehen,
dass die Beschäftigten in den Verkaufsstellen ein verbrieftes Recht auf einen freien Samstag einmal im Monat
erhalten sollen. Ich muss Ihnen sagen: Das ist absurd;
({2})
das ist absoluter Unsinn. Ich finde es bedauerlich, dass
die CDU/CSU-Fraktion dem auch noch zustimmt - Sie
bilden eine Koalition der Unbelehrbaren -, weil dadurch
Sondertatbestände geschaffen werden.
({3})
- Ich sage Ihnen das sofort. Es ist doch so, dass Sie hier
eine Bevormundung hineinbringen. Sie wissen doch
selber, dass Sie damit in die Tarifhoheit der beiden Partner, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, eingreifen. Sie
müssten eigentlich wissen, dass es aufgrund einer tarifvertraglichen Einigung bereits heute eine Fünftagewoche gibt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Blank?
Nein, ich gestatte jetzt keine.
Außerdem lassen Sie die Frage offen, wie Sie gegenüber anderen Arbeitnehmern argumentieren wollen, zum
Beispiel in der Gastronomie, in der Freizeitbranche oder
in der Gesundheitsbranche.
({0})
Dies ist ein weiterer ordnungspolitischer Fauxpas.
({1})
Wir als FDP-Bundestagsfraktion stellen dem ganz
klar unsere Forderung entgegen. Wir wollen die Abschaffung des Ladenschlussgesetzes für Werktage
ohne Wenn und Aber. Wir legen - um Legendenbildung
vorzubeugen - genauso Wert darauf, dass Sonn- und Feiertage verfassungsrechtlich geschützt bleiben, so wie sie
das jetzt sind. Mit einem Unterschied: Wir folgen dem
Subsidiaritätsprinzip und möchten, dass die Länder je
nach kultureller Tradition entscheiden, welche Ausnahmen gelten.
({2})
Im Übrigen gibt es schon heute, je nach Bundesland
unterschiedliche Feiertage. Das funktioniert hervorragend, wenn man den Menschen ein Stück mehr Eigenständigkeit und weniger Regulierung zutraut. Das sollten
wir hinbekommen.
Ich betone noch einmal, dass der nötige Schutz für
die Mitarbeiter, die betroffen sind, nach wie vor gilt.
Auch wir stehen hinter dem Arbeitszeitgesetz und den
Arbeitsschutzgesetzen. Aber wir legen Wert auf mehr
Eigenständigkeit und weniger staatliche Regelungen.
Wir legen auch Wert auf eine größere Verbraucherorientierung.
Niemand wird gezwungen - auch das hat Herr
Schauerte richtig ausgeführt -, ein Geschäft 24 Stunden
lang zu öffnen. Es geht darum, das nötige Zeitfenster zu
haben, um die eigenen Nischenchancen am Markt zu
nutzen. Das finde ich hervorragend.
({3})
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt anbringen.
Ich fand bei der Anhörung am vergangenen Montag die
Ausführungen des Rechtswissenschaftlers Professor
Hufen sehr interessant. Er hat angeregt, zu hinterfragen,
ob in einem freiheitlichen Rechtsstaat das Aufrechterhalten von kleinlichen Regulierungen wie im Ladenschlussgesetz überhaupt noch verfassungskonform ist. Dieser
Umkehreffekt ist ein Aspekt, den viele in diesem Haus
überhaupt noch nicht bedacht haben. Eigentlich müssten
diejenigen, die nach wie vor regulieren wollen, begründen, weshalb sie das wollen.
({4})
Angesichts der Tatsache, dass wir morgen früh eine so
genannte „Ruckrede“ des Kanzlers hören werden, nach
der sich alles am Standort Deutschland verbessern wird,
muss ich sagen: Ich persönlich habe die Hoffnung aufgegeben, dass es hier so etwas wie Reformfähigkeit
({5})
oder einen Aufbruch in die Neuzeit geben wird. Das ist
dramatisch und tragisch; denn spürbare Steuerentlastungen, Reformen bei der Gesundheitspolitik und die Senkung der Abgaben, die den Mittelstand, die Wirtschaft
sowie die Bürger und die Verbraucher belasten, würden
den Mittelstand stabilisieren. Das wäre eine echte Reform, die zur Stabilisierung des Wirtschaftsstandorts
Deutschland führen würde. Diese haben wir wahrlich
nötig.
Ich finde es lächerlich und peinlich, dass wir heute ein
weiteres Mal über das Regulierungswerk Ladenschluss
diskutieren. Wir haben eigentlich viel größere Sorgen.
({6})
Wir sollten das Problem lösen, indem wir auf ein solches
Gesetz verzichten. Das wäre eine hervorragende Nachricht. Wir sollten nicht immer wieder neue Gesetze
schaffen, sondern Mut zum Schritt nach vorn haben.
({7})
Ich sehe es aber zusammen mit meiner Fraktion realistisch: Es wird noch eine Weile dauern, bis Vernunft,
Sachverstand und ordnungspolitisches Denken und Handeln in dieses Haus einziehen werden.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Max Straubinger, CDU/
CSU-Fraktion.
Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute wiederum über die Ladenöffnungszeiten, besser gesagt, über die Ladenschlusszeiten
in unserem Land. Die SPD freut sich, am Vortag der
Rede des Bundeskanzlers noch ein großes Reformprojekt
präsentieren zu können. Das bedeutet, die Geschäfte
können am Samstag vier Stunden länger öffnen. Das ist
eine großartige Reform. Sie können stolz darauf sein;
denn sie zeigt - das wird auch den Wählerinnen und
Wählern bewusst -, wie reformunfähig SPD und Bündnis 90/Die Grünen mittlerweile geworden sind.
({0})
Derzeit gilt die strenge Ladenöffnungsregelung, nach
der die Geschäfte von 6 Uhr morgens bis 20 Uhr abends
geöffnet sein können.
({1})
Diese Möglichkeit wird heute schon von den verschiedenen Einzelhändlern nicht genutzt. Der Bäcker öffnet
frühmorgens, wie es für ihn richtig ist, und schließt
wahrscheinlich vor 20 Uhr. Der Textilhändler dagegen
öffnet später und schließt vielleicht um 20 Uhr, in der
Regel aber früher.
Warum ist das so? Es ist deshalb so, weil die unternehmerische Entscheidung es gebietet, über den Grenzertrag nachzudenken, ihn zu bestimmen und darauf letztendlich die Öffnungszeiten abzustimmen.
Ich glaube, dass der Parlamentarische Staatssekretär
Ditmar Staffelt bei der Einbringung des Gesetzentwurfs
einen sehr wichtigen Satz gesagt hat:
Ich zitiere mit Erlaubnis der Frau Präsidentin:
Ich glaube, wir haben recht daran getan, die Unternehmen des Einzelhandels durch die Erweiterung
des Öffnungsrahmens an Samstagen in die Lage zu
versetzen, sich besser auf Verbraucherwünsche einzustellen und ihre Leistungen dem Bedarf und dem
Kundenaufkommen anzupassen. Ich sage an dieser
Stelle noch einmal: Niemand wird verpflichtet, sein
Geschäft bis 20 Uhr offen zu halten. Jeder soll nach
Maßgabe und geschäftlichem Interesse seinen Laden offen halten oder ihn schließen, wenn er das für
richtig hält.
Wer sich diesem letzten Satz anschließt, der müsste eigentlich dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion, in dem
eine Abschaffung der Ladenöffnungszeiten von Montag
bis Samstag gefordert wird, zustimmen. Es soll den Einzelhändlern überlassen sein, wann sie ihre Geschäfte öffnen und wann sie sie zusperren.
Ich möchte mich auch mit der These befassen, die
längeren Ladenöffnungszeiten würden den Strukturwandel und die Unternehmenskonzentration bzw. die Umsatzkonzentration beschleunigen. Wir sollten uns in
diesem Zusammenhang einmal einige Zahlen zu Gemüte
führen. 1995 gab es in Deutschland laut Auskunft des
HDE 95 Millionen Quadratmeter Verkaufsflächen. Im
Jahr 2002 waren es 110 Millionen Quadratmeter. Das ist
eine Steigerung um knapp 16 Prozent.
Man könnte nun ableiten, dass die Beschäftigung zugenommen haben müsste. Das ist aber nicht der Fall. Die
Beschäftigung ist vielmehr massiv gesunken. Das zeigt
sehr deutlich, dass in diesem Bereich die Öffnungszeiten
nichts für die Beschäftigung gebracht haben. Dies
müsste meines Erachtens auch den Vertretern von SPD
und Grünen einleuchten. Letztendlich haben sich einzig
und allein die Finanzkraft und die Marktmacht der einzelnen Handelskonzerne, die sich leider Gottes bei uns
auf acht Unternehmen konzentrieren, durchgesetzt. Das
ist das entscheidende Kriterium und nicht die Frage, ob
in der Woche die Geschäfte eine, zwei oder vier Stunden
länger geöffnet werden können. Es geht darum, den Verbraucherinnen und Verbrauchern für sie angenehme Öffnungszeiten zu bieten.
({2})
Ich glaube, es wäre besser gewesen, dem kleinstrukturierten Handel Nischen zu eröffnen. Bündnis 90/Die
Grünen hat immer wieder davon gesprochen, besonders
die Citylagen zu unterstützen, weil hier abends verstärkt
kulturelles Leben stattfindet. Daher sollte es den Einzelhändlern dort möglich sein, unter Umständen die Geschäfte länger zu öffnen. Unser Antrag wird dieser Tatsache durch die Forderung nach Abschaffung der
Ladenöffnungszeiten von Montag bis Samstag gerecht.
Ich glaube, dass die SPD und die Grünen weiterhin
darauf setzen, dass die Menschen Konsumverzicht üben
sollten, wie es der Fraktionsvorsitzende der SPD,
Müntefering, vorgegeben hat.
({3})
Das Entscheidende ist: Wenn Sie etwas für den kleinstrukturierten Einzelhandel tun wollen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, dann entlasten Sie die Einzelhandelsunternehmer
von überbordender Bürokratie.
({4})
Dazu trägt die Abschaffung des Ladenschlussgesetzes
bei. Entlasten Sie sie von zu hohen Sozialversicherungsbeiträgen und von zu hohen Steuerbelastungen! Ich
nenne in diesem Zusammenhang die Abschaffung der
Ökosteuer, die vor allen Dingen bei Altbauten zu höheren Heizkosten führt. Das würde unsere Einzelhandelsunternehmen fördern. So könnten Sie tatsächlich etwas
für den Mittelstand tun.
Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Genau einen Monat nach der ersten Lesung des
Gesetzentwurfs der Bundesregierung wird heute die Änderung des Ladenschlussgesetzes im Deutschen Bundestag abschließend beraten.
({0})
Ich bedanke mich ausdrücklich bei allen Kolleginnen
und Kollegen, die dazu beigetragen haben, dass der Gesetzentwurf so zügig beraten wurde. Ich bedanke mich
auch für eine sehr intensive und inhaltsreiche Diskussion
in der Ausschusssitzung am vergangenen Mittwoch.
Wenn es nicht darum geht, Fensterreden zu halten und
Ideologien vor sich herzutragen, sondern darum, sich mit
Problemen auseinander zu setzen, dann kann man erstaunliche Erfahrungen mit den Kolleginnen und Kollegen aus der Unionsfraktion, aber auch aus der SPDFraktion machen.
Die Sachverständigenanhörung des Ausschusses für
Wirtschaft und Arbeit am Montag dieser Woche hat erneut das weite Spektrum der Positionen zum Ladenschluss deutlich gemacht. Die Auffassungen reichen von
einer völligen Freigabe der Ladenöffnungszeiten in der
Woche bis hin zur Ablehnung jedweder Änderung des
geltenden Rechts. Diese Positionen kennen wir bereits
seit Jahren; sie hatten daher nur einen geringen Neuigkeitswert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin seit
1987 Mitglied des Deutschen Bundestages und habe jede
Debatte über Ladenöffnungszeiten miterlebt. Mir ist kein
neues Argument mehr begegnet und mir fällt auch kein
neues Argument mehr ein. Wir alle machen die Erfahrung, dass man die Argumente und Positionen nutzt, um
die jeweils eigene ideologische Haltung zu begründen.
Davon sollten wir uns verabschieden.
({1})
In zwei zentralen Punkten waren aber weitgehend einheitliche Positionen festzustellen: Alle Verbände stimmten darin überein, dass der verfassungsmäßig garantierte
Schutz der Sonn- und Feiertage nicht angetastet werden
dürfe. Weitgehende Einigkeit gab es auch in der Frage
der Bundeseinheitlichkeit. Kein Verband hat sich dafür
ausgesprochen, die Regelung des Ladenschlusses den
Ländern zu überlassen.
Die Anhörung hat daher die Bundesregierung in ihrer
Haltung bestärkt, dass wir auch weiterhin ein bundeseinheitliches Ladenöffnungsgesetz brauchen. Ein Bundesgesetz sichert den Schutz der Sonn- und Feiertage. Die
Bundesregierung ist sich mit nahezu allen Beteiligten
- dem Einzelhandel, den Kirchen und Gewerkschaften sowie der Mehrheit der Bevölkerung einig, dass insbesondere die verfassungsrechtlich geschützte Sonn- und
Feiertagsruhe nicht angetastet werden darf.
({2})
Das Ladenschlussgesetz enthält klare, einheitliche Regelungen, die an Sonn- und Feiertagen nur einen sehr eingeschränkten Verkauf erlauben. Wer dagegen wie die FDPFraktion das Ladenschlussgesetz ganz abschaffen will,
({3})
der nimmt in Kauf, dass die Ladenöffnung an Sonn- und
Feiertagen durch Landesrecht geregelt würde.
Ich möchte keinen Wettbewerb der Länder um die
Frage, wo die Geschäfte sonntags am längsten öffnen
dürfen. Die Folgen sind doch klar - hier unterstütze ich
das, was der Kollege Schauerte gesagt hat -: Man muss
nur an die Stadtstaaten denken, um zu wissen, dass das
Recht zersplittert und der Sonn- und Feiertagsschutz
ausgehöhlt würden. Es geht nicht um das Spiel „Alles
oder nichts“, auch nicht darum, wer die beste marktwirtschaftliche Theorie erfunden hat. Es geht um sachgerechte, praktikable Lösungen, die die Interessen aller Beteiligten widerspiegeln.
({4})
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der
Ladenöffnung an Samstagen setzt die Bundesregierung
auf eine Reform mit einer maßvollen Ausweitung der
Ladenöffnungszeiten. Der Gesetzentwurf ist eine tragfähige Lösung, die den Bedürfnissen der Kundinnen und
Kunden sowie des Einzelhandels gerecht wird. Die Balance zwischen den Interessen der Geschäftsinhaber, der
Verbraucherinnen und Verbraucher sowie der Beschäftigten bleibt erhalten.
Es ist nicht wegzudiskutieren: Der Samstag ist inzwischen zu einem Haupteinkaufstag geworden. Es gibt
ein Bedürfnis der Verbraucherinnen und Verbraucher,
samstags auch nach 16 Uhr einkaufen zu können.
Der Regierungsentwurf sieht eine Verlängerung der
gesetzlichen Ladenöffnungszeiten an Samstagen bis
20 Uhr vor. Der Einzelhandel kann dann an allen Werktagen von Montag bis Samstag im Zeitraum von 6 bis
20 Uhr öffnen. Wir ermöglichen damit eine zeitgemäße
und bedarfsorientierte Öffnung der Läden.
Seit dem In-Kraft-Treten des Ladenschlussgesetzes
im Jahre 1956 haben sich die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik
Deutschland erheblich verändert. Der Gesetzgeber hat
auf diese Veränderung mit einer Überprüfung der Regelung zum Ladenschluss reagiert und das Recht den geänderten Realitäten angepasst.
Wir reichen unsere Hand aber nicht für eine Öffnung
rund um die Uhr. Es besteht wenig Bedarf, nachts um
3 Uhr Socken oder Haferflocken zu kaufen, wie es einer
der Sachverständigen am Montag auf den Punkt gebracht hat. Dass aber ein Bedürfnis für eine längere Öffnung am Samstag besteht, zeigen auch die Erfahrungen
in Niedersachsen mit den verlängerten Ladenöffnungszeiten während der Weltausstellung EXPO 2000. Die
Verbraucherinnen und Verbraucher haben die verlängerten Öffnungszeiten an Samstagen rege genutzt. Wer sich
heute in Citylagen begibt - wir diskutieren über das
Cityprivileg -, der weiß, dass die Innenstädte bis 16 Uhr
brummen und dass es danach in den Innenstädten leer
wird. Die Menschen stimmen mit ihren Füßen ab. Der
Gesetzgeber muss, finde ich, Schritt für Schritt auf diese
geänderten Bedürfnisse reagieren und entsprechende
Möglichkeiten schaffen.
({5})
Die Ausweitung der gesetzlichen Ladenöffnungszeiten an Samstagen trägt dem veränderten Kaufverhalten Rechnung. Durch die Erweiterung des Öffnungsrahmens an Samstagen werden die Unternehmen
des Einzelhandels in die Lage versetzt, sich besser auf
die Verbraucherwünsche einzustellen und ihre Leistungen dem Bedarf und dem Kundenaufkommen anzupassen.
Der Trend im Einzelhandel zeigt seit Jahren nach unten. Sinkende Umsätze und sinkende Arbeitsplatzzahlen
kennzeichnen die Situation. Ich stimme ausdrücklich der
folgenden Aussage zu: Der Einzelhandel hat nur dann
eine Chance, diesen Abwärtstrend zu stoppen und umzukehren, wenn er sich den Bedürfnissen der Verbraucherinnen und Verbraucher öffnet und sich an ihnen orientiert.
Dazu wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen Beitrag leisten.
Ich bin davon überzeugt, dass die neue Regelung einen positiven Impuls für den privaten Konsum geben
wird. Gleichzeitig wird durch die erweiterte Öffnungsmöglichkeit an Samstagen ein wirksamer Beitrag insbesondere zur Belebung der Innenstädte geleistet.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält eine
maßvolle Anpassung der Ladenöffnungszeiten, die die
veränderten Verbrauchergewohnheiten berücksichtigt
und die Balance zwischen den unterschiedlichen Interessen im Einzelhandel gewährleistet. Wir erhalten den Ladenschluss an den übrigen Werktagen und schützen den
Sonntag weiterhin als Ruhetag.
Ein letzte Anmerkung möchte ich zu dem machen,
was Herr Kollege Schauerte gesagt hat. Wir nehmen
jetzt nicht die Diskussion von morgen vorweg. Herr
Kollege Schauerte, wenn Sie eine namentliche Abstimmung wollen - ich finde das schon bemerkenswert -,
dann stellen Sie doch einen Antrag. Daran hindert Sie
doch niemand. Ich weiß allerdings, dass die inhaltlichen Positionen Ihres Gesetzentwurfs auch in Teilen Ihrer eigenen Fraktion außerordentlich umstritten sind. Es
gibt eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen, die der
Auffassung sind, dass man in einer ganz anderen Art
und Weise etwas für den Schutz insbesondere des kleinteiligen Einzelhandels leisten müsste. Wenn Sie also die
Sorge haben, dass wir dieses Gesetz nicht verabschieden können, dann beantragen Sie doch eine namentliche Abstimmung. Sie werden sehen, was dabei herauskommt.
Ich bedanke mich auf alle Fälle für die gute inhaltliche Diskussion. Wir sind mit diesem Gesetzentwurf auf
dem richtigen Weg.
Schönen Dank.
({6})
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Kurt
Segner, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Mehr als 4,7 Millionen Menschen waren im Februar
ohne Arbeit. Das ist die höchste Arbeitslosenzahl während der Amtszeit der rot-grünen Bundesregierung.
({0})
Die Unternehmerpleiten erreichen neue Rekordzahlen.
Umsätze brechen auf breiter Front ein. Der Einzelhandel
hat im Jahr 2002 das schlechteste Ergebnis seit 1945 erzielt.
Vor diesem Hintergrund sind alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, die zu mehr Dynamik, mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in unserem Land beitragen.
Was wir brauchen, ist wieder mehr Ludwig Erhard: mehr
soziale Marktwirtschaft,
({1})
mehr Freiraum für den Einzelnen und weniger Staat.
Ludwig Erhard schrieb bereits 1957 in seinem Buch mit
dem Titel „Wohlstand für alle“:
Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will
das Risiko des Lebens selber tragen, will für mein
Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du,
Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin.
({2})
Mit dem Gesetzentwurf der rot-grünen Bundesregierung, mit der Verlängerung der Ladenöffnungszeit am
Samstag bis 20 Uhr wird zwar ein kleiner Schritt in die
richtige Richtung gemacht. Doch Sie von der SPD fallen
immer wieder in das alte Gedankengut zurück, alles regeln zu wollen. Warum lassen wir den Geschäftsinhaber
nicht selber entscheiden, wann er seinen Laden öffnen
oder schließen möchte?
Auch mit dem Änderungsantrag zur Direktvermarktung, den Sie vor circa 48 Stunden eingebracht haben,
waren Sie auf dem richtigen Weg. Aber bereits 24 Stunden später hat Sie der Mut verlassen und Sie haben den
eigenen Antrag wieder zurückgezogen.
({3})
Wir brauchen ein Ladenschlussgesetz, das sich mit
den veränderten Lebensgewohnheiten und Bedürfnissen
des Kunden deckt. Kleine Mittelständler und Existenzgründer haben so die Möglichkeit, Marktnischen leichter
zu besetzen. Auch der Konsument entzieht sich immer
mehr der Bevormundungsrolle des Staates, indem er frei
entscheidet, wann und wo er seine Einkäufe erledigt sei es im Bahnhof oder im Flughafen, sei es beim Tankstellenshopping oder im Internet. Von dieser Ladenöffnungsfreiheit haben zahlreiche Demonstranten von Verdi
an einem Sonntag Gebrauch gemacht, indem sie den Demonstrationstag als Einkaufstag nutzten.
({4})
- So ist es.
Das bestehende Ladenschlussgesetz erweist sich für
Handel und Dienstleistung als Hemmschwelle. Die Freigabe des Ladenschlusses ist auch im Interesse der Familie. Auch für den Tourismusstandort Deutschland ist es
ein Schritt in die richtige Richtung. Aber die Neuregelung muss auch den sozialen und kulturellen Grundlagen
unseres Landes Rechnung tragen. Deshalb sind die
Sonn- und Feiertage in der jetzigen Form zu wahren.
Mit dem Antrag der CDU/CSU kommen wir folgendem Ziel ein Stück näher: mehr Freiheit und weniger
Bürokratie, mehr Wachstum und Beschäftigung. Aber
dies allein reicht nicht aus. Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger wieder mehr Geld
in der Tasche haben.
Meine Damen und Herren von der SPD und von den
Grünen, wenn Sie schon nicht Ihrem Gesetzentwurf zustimmen können, dann bitte ich Sie im Interesse unseres
Landes: Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Danke schön.
({5})
Herr Kollege Segner, Sie hielten gerade Ihre erste
Rede in diesem Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen sehr
herzlich dazu und wünsche Ihnen persönlich alles Gute.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ver-
längerung der Ladenöffnungszeiten an Samstagen,
Drucksachen 15/396 und 15/521. Dazu liegen uns drei
persönliche Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 der
Geschäftsordnung vor: die persönliche Erklärung der
Abgeordneten Ernst Hinsken, Renate Blank und Stephan
Mayer, die persönliche Erklärung von Fritz Schösser und
Horst Schmidbauer und die persönliche Erklärung von
36 Abgeordneten der SPD-Fraktion.1) Diese Erklärungen
liegen dem Präsidium schriftlich vor.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/591, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen
({0})
der CDU/CSU und der FDP angenommen.
({1})
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. ({2})
Wer stimmt dagegen? ({3})
Im Präsidium herrscht über diese Frage keine Einigkeit.
({4})
Ich bitte Sie daher, sich zum Hammelsprung aus dem
Plenarsaal zu begeben.
Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer ihre
Plätze eingenommen? Das ist von hier vorne wegen der
einfallenden Sonne sehr schwer zu erkennen. - Wenn
dies der Fall ist, eröffne ich die Abstimmung.
Sind jetzt alle Kolleginnen und Kollegen im Saal? Ich schließe die Abstimmung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe das Ergebnis des Hammelsprungs bekannt. Mit Ja haben gestimmt
279 Mitglieder des Parlaments, mit Nein 224, Enthaltungen gibt es keine.
({0})
Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da wir noch weitere
Abstimmungen zu diesem Thema haben, möchte ich Sie
bitten, sich in Ihre Fraktionsreihen zu begeben. Wir tun
uns dann mit der Ermittlung der Abstimmungsergeb-
nisse leichter.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak-
tion der FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Aufhe-
bung des Ladenschlussgesetzes, Drucksache 15/106.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit auf
Drucksache 15/591, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen der Koalition, bei Zustimmung
der FDP und bei Enthaltung der CDU/CSU, abgelehnt.1) Anlage 3 bis 5
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-
tere Beratung.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksa-
che 15/591 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
mit dem Titel „Ladenschlussgesetz modernisieren“. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Bechluss-
empfehlung, den Antrag auf Drucksache 15/193 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalition und einer Stimme
aus der CDU/CSU gegen die Stimmen der CDU/CSU im
Übrigen bei Enthaltung der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d sowie
Zusatzpunkt 3 auf:
7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
59. Tagung der Menschenrechtskommission
der Vereinten Nationen
- Drucksache 15/549 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({2}) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
6. Bericht der Bundesregierung über ihre
Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Be-
ziehungen und in anderen Politikbereichen
- Drucksachen 14/9323, 15/171 Nr. 1, 15/397 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Hermann Gröhe
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({3}) zu dem Antrag
der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Menschenrechte als Leitlinie der deutschen
Politik
- Drucksachen 15/136, 15/495 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Hermann Gröhe
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({4}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Werner
Hoyer, Daniel Bahr ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien nicht vergessen
- Drucksachen 15/64, 15/496 Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Melanie Oßwald
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hermann Gröhe, Rainer Eppelmann, Holger
Haibach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Für Menschenrechte weltweit eintreten - die
internationalen Menschenrechtsschutzinstrumentarien stärken
- Drucksache 15/535 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir jetzt in
der Tagesordnung - die ohnehin ziemlich lang ist - weitermachen? Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die
bei dem Tagesordnungspunkt nicht zuhören wollen, den
Plenarsaal zu verlassen. - Vielleicht können die Kolleginnen und Kollegen, die in den Gängen und hinten an
der Tür ihre Gespräche fortsetzen, dieses außerhalb des
Saales tun; ich bitte darum.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Rudolf Bindig, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir führen diese Menschenrechtsdebatte zu einem
wichtigen Zeitpunkt und in einer schwierigen außenpolitischen Situation. In wenigen Tagen beginnt in Genf die
59. Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. So mühsam sich die Beratungen in Genf
immer wieder gestalten, weil das Gremium einerseits aus
Staaten besteht, die die Menschenrechte voranbringen
wollen, und andererseits aus Staaten, die Fortschritte
eher verhindern wollen, so unverzichtbar ist doch das
jährliche Treffen.
Die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen ist das wichtigste internationale Gremium, das
sich regelmäßig mit der Lage der Menschenrechte weltweit befasst und Menschenrechtsverletzungen durch
Staaten öffentlich kritisiert. Dieses Jahr tagt die Menschenrechtskommission unter dem Vorsitz Libyens, das
selbst ein Problemland ist. Die Beratungen fallen in eine
Zeit, in der die internationale Gemeinschaft darum ringt,
den Konflikt mit dem Irak friedlich zu lösen.
Nach wie vor ist die Weltpolitik von den Terroranschlägen des 11. September und dem anschließenden
Kampf gegen den internationalen Terrorismus geprägt.
So legitim dieser Kampf auch ist, so problematisch sind
vielerorts seine Auswirkungen auf die Menschenrechte.
Als Menschenrechtler müssen wir klarstellen: Der
Kampf gegen den Terrorismus darf weder zu einer Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten führen noch
darf er als Vorwand für die Unterdrückung innenpolitischer Gegner und für militärische Interventionen dienen.
({0})
Tief besorgt sind wir darüber, dass einige Staaten die
Anwendung von Folter mit der Begründung rechtfertigen, mit den so erlangten Informationen könnten neue
Terroranschläge verhindert werden. Dies widerspricht
völkerrechtlichen Konventionen. Nicht einmal in
Kriegszeiten oder im Falle eines öffentlichen Notstandes
darf das Verbot von Folter eingeschränkt werden.
({1})
Das sollten sich auch diejenigen merken, die in Deutschland eine Diskussion zu dem Thema Folter losgetreten
haben. Auch das Verbot von Auslieferungen oder Abschiebungen bei einer drohenden Folter oder Todesstrafe
darf auf keinen Fall mit dem Verweis auf den Kampf gegen den Terrorismus aufgeweicht werden.
Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen haben zur Vorbereitung der 59. Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen einen
gemeinsamen Antrag vorgelegt. Wir wollen darin die
Bundesregierung in ihrem Einsatz für die weltweite Förderung der Menschenrechte unterstützen. Unsere entscheidenden Forderungen sind:
Erstens. Die Menschenrechtskommission muss bei
der internationalen Staatengemeinschaft nachdrücklich
die Einhaltung der Menschenrechte und des Völkerrechts - auch im Antiterrorkampf - einfordern.
Zweitens. Die MRK soll als Forum genutzt werden,
um die Implementierung des internationalen Menschenrechtsschutzes voranzubringen und möglichst viele Staaten zur Zeichnung und Ratifizierung von Menschenrechtsabkommen zu bewegen.
Drittens. Besondere Beachtung bei der Tagung der
Menschenrechtskommission ist der Stärkung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu schenken, dem Bericht des Sonderberichterstatters gegen Folter sowie den menschenrechtsverletzenden Praktiken der
Scharia.
Viertens. Besondere Initiativen sollen von der Bundesregierung im Verbund mit der Europäischen Union in
Bezug auf die Besorgnis erregende Menschenrechtssituation in der Volksrepublik China, in Simbabwe, Kolumbien und in der Russischen Föderation, speziell in
Tschetschenien, unternommen werden.
Die genannten Länderbeispiele haben wir aus folgenden Gründen besonders hervorgehoben: In China hat
sich die Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen im
Rahmen der Antikriminalitätskampagne „Hartes Durchgreifen“ drastisch erhöht. Der Katalog der Straftaten, für
die die Todesstrafe verhängt wird, wurde durch eine
Neudefinition des Tatbestandes „schweres Verbrechen“
erweitert und umfasst auch gewaltfreie Delikte wie Bestechung, Veruntreuung, Steuerhinterziehung und Spekulation. Oftmals werden nach Schnellverfahren die Verurteilten sofort hingerichtet. Eine neue negative Qualität
hat auch die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit in China erreicht. Eine eigens eingerichtete Internetpolizei kontrolliert und blockiert den Zugang zum
Internet. In den Provinzen werden Befürworter größerer
kultureller und politischer Autonomie mit Extremismus,
Separatismus und Terrorismus in Verbindung gebracht.
Die Kontrolle Pekings über das öffentliche, kulturelle
und religiöse Leben Tibets bleibt weiterhin erdrückend.
Kolumbien leidet seit Jahrzehnten an gewaltsamen
inneren Konflikten, bei denen paramilitärische Gruppen,
Guerillas und Drogenhändler, aber auch staatliche
Sicherheitsorgane schwerste Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen begehen. Mit 3 000 Entführungen
und 30 000 Morden pro Jahr herrscht in Kolumbien ein
Klima der Gewalt, in dem sich niemand mehr sicher fühlen kann und in dem Verbrechen ohne strafrechtliche
Konsequenzen begangen werden können.
Simbabwe ist eines jener Länder in Afrika, deren
Menschenrechtslage sich dramatisch verschlechtert hat.
Diktatur, Korruption, Massenenteignungen von weißen
Farmern und eine ungewöhnlich lange Dürreperiode haben eine menschenrechtliche und humanitäre Katastrophe
ausgelöst. Die Opposition ist schwersten Menschenrechtsverletzungen wie Folter und willkürlichen Verhaftungen
ausgesetzt, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind
faktisch aufgehoben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine besondere Herausforderung für die Menschenrechtspolitik stellt weiterhin der Tschetschenienkonflikt in der Russischen Föderation dar. Ohne Zweifel ist Russland in der Außenpolitik
gegenwärtig ein wichtiger Akteur und Partner. Zusammen mit Frankreich, Deutschland und weiteren Ländern
bemüht es sich, den Irakkonflikt ohne einen Krieg zu lösen. Ein solcher Krieg würde Abertausenden von Menschen das Leben kosten, also ihr elementares Menschenrecht, das Recht auf Leben, verletzen. Innenpolitisch
dagegen ist Russland in Tschetschenien selbst tief in einen Konflikt verstrickt, in dem es immer wieder zu
schwersten Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen durch die beiden Konfliktparteien, das russische
Militär und die tschetschenischen Kämpfer, kommt.
Kann und darf nun - so stellt sich aus menschenrechtlicher Sicht die Frage - die positive Rolle Russlands in
der Irakfrage dazu führen, dass über die menschenrechtliche Lage in Tschetschenien hinweggesehen wird? Die
Antwort ist glasklar: Menschenrechtsverletzungen können und dürfen niemals gegen „positive Taten“ aufgewogen werden.
({2})
Massentötungen, außergerichtliche Hinrichtungen, Folter, Verschwindenlassen, Vergewaltigungen, Plünderungen und Raub müssen als das gesehen werden, was sie
sind: schwerste Menschenrechtsverletzungen, die nicht
relativiert, ignoriert und beschönigt werden dürfen.
({3})
Diese Auffassung haben wir nicht nur im Koalitionsantrag zur Menschenrechtskommission zum Ausdruck gebracht, sondern auch in dem interfraktionellen Antrag
„Achtung der Menschenrechte und des humanitären
Völkerrechts in Tschetschenien“. Hier sind verschiedene
Initiativen zu Tschetschenien gebündelt, welche im
Deutschen Bundestag und in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates unternommen worden sind.
Darin wollen wir klar machen, dass es auch in Tschetschenien keine Alternative zu einem gewaltfreien politischen Prozess gibt.
In diesen Tagen habe ich erneut im Auftrag der Parlamentarischen Versammlung des Europarates einen Bericht zur menschenrechtlichen Lage in Tschetschenien
erstellt. Der Bericht listet sowohl die schweren Menschenrechtsverletzungen auf, welche von den russischen
Sicherheitskräften begangen werden, als auch die Verbrechen der tschetschenischen Kämpfer. Die Verbrechen
russischer Militärs an der Zivilbevölkerung können mit
Ort, Zeit und Datum exakt belegt werden. Es ist eine
Chronik des Grauens, von Massakern, Massengräbern,
außergerichtlichen Hinrichtungen, Verschwinden von
Personen, Folter, Vergewaltigung und anderen Menschenrechtsverletzungen. Auf tschetschenischer Seite
geht es vor allem um die brutale Geiselnahme in Moskau, den Terroranschlag in Grosny sowie um Entführung
und Tötung moskaufreundlicher Tschetschenen und ihrer Familien.
Zwar stellen die russischen Justizbehörden Untersuchungen über Menschenrechtsverletzungen an. Leider
muss aber festgestellt werden, dass in den meisten Fällen
die Verantwortlichen nicht ermittelt, geschweige denn
zur Rechenschaft gezogen werden. Ernüchtert bin ich zu
der Erkenntnis gekommen, dass die Anklagebehörden
der Russischen Föderation entweder unwillig oder unfähig sind oder dass sie systematisch daran gehindert
werden, diejenigen zu finden und vor Gericht zu bringen, welche für die schweren Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind.
Der Generalsekretär des Europarates hat erst vor wenigen Tagen dargelegt, dass sich die Menschenrechtssituation in Tschetschenien im Jahr 2003 erneut erheblich verschlechtert habe. Die Zahl der Verschwundenen
sei weiter angestiegen. Allein im Januar 2003 seien
63 Fälle von Verschwindenlassen registriert worden. Das
sind zwei Fälle pro Tag.
Angesichts dieser schrecklichen Lage müssen wir unmissverständlich fordern, dass die Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien, die das Ausmaß von Verbrechen gegen die Menschlichkeit angenommen haben,
sofort eingestellt und die Täter zur Verantwortung gezogen werden.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Tschetschenien,
auf der kommenden MRK-Sitzung und in der bilateralen
Außenpolitik - immer muss deutlich werden, dass die
Menschenrechte Leitlinie der deutschen Politik sind und
bleiben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Der nächste Redner ist der Kollege Hermann Gröhe,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenige Tage vor Beginn der 59. Tagung der
Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in
Genf diskutieren wir heute über Anträge zu ebendieser
Tagung, zur Menschenrechtspolitik insgesamt und zur
Lage in Tschetschenien.
Schaut man sich die Anträge an, so stellt man viele
Gemeinsamkeiten fest, aber auch manchen markanten
Unterschied. Gerade wenn es darum geht, Klartext in Sachen Menschenrechte zu sprechen, ist es gut, wenn wir
dies gemeinsam tun können.
({0})
Deshalb freue ich mich, dass es zur Lage in Tschetschenien eine von allen Fraktionen gemeinsam getragene und
in der Sache wie in der Sprache sehr deutliche Beschlussempfehlung auf der Grundlage eines FDPAntrags gibt. Die klare Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien unterscheidet sich
wohltuend von manch fragwürdigem Lob von Kanzler
Schröder für Putins Tschetschenienpolitik.
({1})
Frau Kollegin Oßwald wird dazu Weiteres für unsere
Fraktion ausführen. Schon jetzt möchte ich aber Ihnen, Herr
Kollege Bindig, für Ihren besonderen persönlichen Einsatz
im Hinblick auf die Lage in Tschetschenien danken.
({2})
Auch die beiden vorliegenden Anträge zur
59. Tagung der Menschenrechtskommission zeichnen
sich durch erfreuliche Gemeinsamkeiten aus. Dies ist zu
begrüßen; denn die Tagung steht vor großen Herausforderungen. Bereits die Tagung im vergangenen Jahr war
in erheblichem Umfang von Konfrontation, Blockbildung und der Solidarisierung von Staaten geprägt, denen
man zu Recht schwere Menschenrechtsverletzungen
vorwerfen muss. Ja, man muss so weit gehen, festzustellen, dass das Verhalten einer ganzen Reihe von Mitgliedstaaten der MRK geeignet ist, die Glaubwürdigkeit und
Funktionsfähigkeit der UN-Menschenrechtspolitik insgesamt massiv zu gefährden. Dies gilt vor allem für die
zunehmende Tendenz, die Debatte über bestimmte Länderresolutionen erst gar nicht auf die Tagesordnung zu
setzen. Länder wie die Volksrepublik China, die gar
nicht erst bereit sind, die Menschenrechtslage im eigenen Land überhaupt zu diskutieren, zeigen damit, dass
ihre Beteuerungen in Sachen Menschenrechte wenig
glaubhaft sind.
Inakzeptabel sind alle Versuche, die Mitwirkungsmöglichkeiten von Nichtregierungsorganisationen,
zum Beispiel durch Verkürzung von Sitzungszeiten, zu
beschränken; denn die Mitwirkung der Nichtregierungsorganisationen ist ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit in Genf. Wir sind diesen Nichtregierungsorganisationen für ihren unermüdlichen Einsatz sehr dankbar.
({3})
Die Arbeit der Sonderberichterstatterinnen und Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, besonders
aber die Arbeit des neuen Hochkommissars für Menschenrechte, Vieira de Mello, hat große Anerkennung
und alle nur denkbare Unterstützung verdient. Gerade
weil es zunehmend Versuche von einzelnen Staaten oder
Staatenkoalitionen gibt, die Möglichkeiten der Menschenrechtskommission deutlich abzuschwächen, halten
wir es für ein falsches Signal, dass sich die Bundesrepublik Deutschland wie alle EU-Mitgliedstaaten in der
MRK bei der Wahl Libyens zum Vorsitz der Menschenrechtskommission enthalten hat. In Libyen selbst
sind grundlegende Freiheitsrechte, beispielsweise die
Meinungs- und Pressefreiheit, massiv eingeschränkt. Mit
dem Verbot der Bildung von politischen Parteien verstößt das Land gegen grundlegende politische Mitwirkungsrechte. Der Deutsche Bundestag würde dem guten
Beispiel des Europäischen Parlaments folgen, wenn er
durch Annahme unseres Antrags sein Bedauern über dieses Abstimmungsverhalten klar zum Ausdruck bringen
würde.
({4})
Soweit es um die bedrückende Menschenrechtssituation in einzelnen Ländern geht, gibt es eine Reihe von
Gemeinsamkeiten zwischen dem Antrag der Unionsfraktion und dem der Koalitionsfraktionen. Leider ist die
Lage in so vielen Ländern kritikwürdig, dass wohl kein
Antrag eine vollständige Aufzählung enthält. Aber es
fällt schon auf, dass der Antrag von Rot-Grün weder die
Lage in Nordkorea noch in Vietnam noch in Kuba überhaupt erwähnt. Dabei gehört die stalinistische Diktatur in
Nordkorea unstrittig zu den Staaten, in denen die Menschen am schlimmsten unterdrückt werden. Menschenschindern, die das eigene Volk verhungern lassen, aber
atomare Aufrüstung betreiben, sollten wir gemeinsam
entschieden entgegentreten.
({5})
Auch die sich verschärfende Lage ethnischer und religiöser Minderheiten in Vietnam verlangt unseren tatkräftigen Einsatz für die Unterdrückten.
Bei Ländern, die sowohl die Regierungskoalition als
auch die Unionsfraktion in ihren Anträgen ansprechen,
bleibt Rot-Grün bedauerlicherweise ebenfalls sehr
schwammig. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die
konkrete Benennung der Instrumente des internationalen Menschenrechtsschutzes. So fordert der rotgrüne Antrag die Bundesregierung auf - ich zitiere -,
„auf die Volksrepublik China einzuwirken“, wenn es um
bestimmte Menschenrechtsverletzungen geht. Doch wie
soll das geschehen? Warum bekennt sich Rot-Grün nicht
mehr zur Notwendigkeit einer Länderresolution zur
Lage in China, wie dies im Antrag der Union geschieht?
Auch im Hinblick auf die Lage in Simbabwe spricht
Rot-Grün von einer Verurteilung, ohne eine Resolution,
wie wir sie für geboten halten, konkret zu fordern.
Soweit es um die Kritik an der Menschenrechtssituation in China geht, ist es mehr als nur bedauerlich, dass
sich die gesamte Europäische Union hinter den USA
versteckt. Auch die Bundesregierung erklärt immer wieder, die EU werde eine entsprechende Meinungsbildung
erst nach Vorlage eines Resolutionsentwurfs der USA
herbeiführen können.
Ganz auf der Linie dieser fragwürdigen Zurückhaltung liegen die Aussagen zur Lage in China im Menschenrechtsbericht der Bundesregierung, der ebenfalls
Gegenstand unserer heutigen Debatte ist und der in anderen Teilen durchaus, etwa als Nachschlagewerk zum
internationalen Menschenrechtsschutz, hohe Anerkennung verdient.
„Klar verfehlt“, so nennt Amnesty International die
in diesem Bericht enthaltene Bewertung der Menschenrechtslage in der Volksrepublik China. Amnesty International fährt fort - ich erlaube mir zu zitieren -:
Zudem erscheint es fast zynisch, wenn von „häufiger Verhängung der Todesstrafe“ die Rede ist,
obwohl allein im Zeitraum von April bis Juni vergangenen Jahres im Rahmen einer landesweiten
Kampagne zur Kriminalitätsbekämpfung in der
VR China mehr Menschen exekutiert worden sind
als in den restlichen Ländern der Erde in den vergangenen drei Jahren zusammengenommen.
Die so genannte Administrativhaft, die unbefristete
Inhaftierung in Straflagern ohne richterlichen Beschluss,
die in unserem Ausschuss nach einhelliger Auffassung
zu den drängendsten Problemen der Menschenrechtssituation in China gehört, wird im Bericht mit keiner Silbe
erwähnt. Wer hier fragwürdig beschönigt oder Kritik bis
zur Unkenntlichkeit diplomatisch verpackt, der verfehlt
den eigenen Anspruch in der Menschenrechtspolitik und
sollte nicht immer wieder so tun, als würden die Menschenrechte erst seit der rot-grünen Regierungsübernahme überhaupt ernst genommen.
({6})
Sie wissen das ja besser; denn der Durchbruch für einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof, den
wir alle voranbringen wollen, wurde mit dem Römischen
Statut im Juli 1998 erreicht und ist ganz maßgeblich dem
beharrlichen Drängen der damaligen Bundesregierung
zu verdanken. Wir wünschen den vor zwei Tagen eingeführten 18 Richterinnen und Richtern des Internationalen Strafgerichtshofs, nicht zuletzt dem deutschen Völkerrechtler Hans-Peter Kaul, viel Erfolg bei ihrer nicht
leichten, aber so wichtigen Aufgabe.
({7})
Meinungsverschiedenheiten zwischen der Union und
Rot-Grün werden auch deutlich, wenn man sich den Antrag „Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Politik“
von Rot-Grün ansieht. Auch wenn dieser Antrag viele
richtige Einzelforderungen enthält, kann er unsere Zustimmung nicht finden. Er ist geprägt von einer einseitigen Betonung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte und trägt damit der Unteilbarkeit der
Menschenrechte insgesamt sowie dem unaufgebbaren
Zusammenhang zwischen den bürgerlichen und politischen Rechten einerseits und den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten andererseits nicht ausreichend Rechnung. So werden etwa die massive
Bedrohung der Pressefreiheit in vielen Konfliktregionen
der Welt oder andere Einschränkungen im Bereich der
Meinungsfreiheit - Stichwort: Internet - nicht einmal
erwähnt.
Wenn später einiges im Rahmen des Antrags zur Sitzung der Menschenrechtskommission nachgereicht wird,
vermag dies die Schlagseite eines Antrages, der gerade
die Leitlinie darstellen soll, nicht auszugleichen.
Wenn Sie sich in Ihrem Antrag zugute halten, dass Sie
einen eigenständigen Bundestagsausschuss für Menschenrechte eingerichtet haben - Sie haben dies 1998 getan - sowie das Amt eines Menschenrechtsbeauftragten,
kann auch das nicht unkommentiert bleiben. Gewiss, die
Einrichtung eines Menschenrechtsausschusses ist ein
Fortschritt. Aber die Regierung muss ihn auch so behandeln. Man kann feststellen, dass Teile der Bundesregierung, allen voran das Bundesinnenministerium - dessen
Abwesenheit auf der Regierungsbank uns nicht überrascht; nach dem Hammelsprung sind sie schnell hinfortgeeilt -, diesen Ausschuss nicht ernst nehmen. Es reicht
nicht, ihn hochzuloben, wenn man gleichzeitig Ausschussbeschlüsse zur Erhöhung der humanitären Hilfe
im Haushaltsausschuss gar nicht erst ernst nimmt.
({8})
Sie loben die Einrichtung des Amtes des Menschenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt. Aber
der Amtsinhaber weiß bis heute nicht, ob er die Tätigkeit
in dieser Legislaturperiode überhaupt wird fortsetzen
dürfen. Wer den Amtsinhaber schäbig behandelt, sollte
auch nicht die Einrichtung des Amtes mit Selbstlob versehen.
Es bleibt vieles zu tun - vieles, was wir gemeinsam
tun können, manches, über das wir uns streiten müssen.
Wo dieser Streit Wetteifern um den bestmöglichen
Schutz von unterdrückten Menschen bedeutet, ist es ein
lohnender Streit.
Ich danke Ihnen.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christa Nickels,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die 59. Tagung der Menschenrechtskommission in Genf
findet in einer äußerst kritischen weltpolitischen Situation statt. Der Boden, auf dem wir so fest und sicher zu
stehen meinten, ist ins Wanken geraten und droht uns
teilweise unter den Füßen wegzubrechen.
Unser Wertefundament muss sich in dieser kritischen
Lage bewähren, sonst wird es uns in Zukunft nicht mehr
tragen können. Diese Werte, in deren Zentrum vor allem
die Menschenrechte als universale und unveräußerliche
Rechte stehen, sind kein Zeichen westlicher kultureller
Überlegenheit. Sie sind in jahrhundertelangen Leidensund Unrechtserfahrungen hart erkämpft worden und von
daher zu wertvoll, als dass sie links liegen gelassen werden dürften und wir eine Aushöhlung tatenlos oder ohne
entsprechende Reaktion hinnehmen dürften.
({0})
Wo stehen wir heute? Die Geltung der Menschenrechte ist heute in einem Ausmaß bedroht, das ich noch
vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätte.
Nach dem 11. September und angesichts eines drohenden Irakkrieges haben wir berechtigte Verlustängste.
Menschenrechtspolitik bewährt sich in dieser Lage nur
dann, wenn sie strikt unparteiisch und unbestechlich ist.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen zur 59. Sitzung der
Menschenrechtskommission kritisiert deshalb die Relativierung von Menschenrechten im Zuge des Antiterrorkampfs ebenso wie Menschenrechtsverletzungen
aufgrund von politischer Instrumentalisierung und menschenrechtswidriger Anwendung von islamischem Schariarecht.
Die Aufweichung des Folterverbots und die Auslieferung oder Abschiebung bei drohender Folter oder Todesstrafe sind verboten. Die Information über ein Massaker
an kriegsgefangenen Taliban weist auf einen klaren
Verstoß gegen geltendes Völkerrecht hin. In Teilen der
Antiterrorkoalition ist die zunehmende Neigung festzustellen, doppelte Standards anzuwenden und Menschenrechte nur noch ihren eigenen Bürgerinnen und Bürgern
sowie denen der Verbündeten zuzugestehen. All das bedroht das Fundament, auf dem demokratische Zivilgesellschaften und die Idee einer Weltvölkergemeinschaft bis heute gebaut haben.
({1})
Wenn ein Kampf der Kulturen als Kampf zwischen
der muslimisch geprägten Welt und der südlichen Hemisphäre auf der einen Seite und den westlichen Industriestaaten auf der anderen Seite tatsächlich ausbricht, dann
hat Osama Bin Laden gewonnen, dann hat er sein Ziel
erreicht. Wenn unter dem Banner des Antiterrorkampfs
Völkerrecht missachtet und gebrochen wird und wenn
der Kampf der Kulturen herbeigebombt wird, dann
macht sich die Antiterrorkoalition zum Erfüllungsgehilfen ihres Hauptfeindes und dann zerstört sie auf viele
Jahre hinaus die Chance, die Quellen des Terrorismus
auszutrocknen und dem Weltfrieden ein Stück näher zu
kommen.
({2})
Wir müssen uns klar machen, was tatsächlich im
Schatten eines möglichen Irakkriegs zu passieren droht.
Alle Krisenherde, die nach dem 11. September vorrangig
hätten angegangen werden müssen, bleiben ungelöst und
drohen zurückzufallen und zu eskalieren: Im Nahen Osten wird sich eine neue Generation von Selbstmordattentätern auf den Weg machen und die „Homelandisierung“
der palästinensischen Gebiete wird weitergehen. Der
Schrecken und das Leid der Zivilbevölkerung in Israel
und in den palästinensischen Gebieten werden sich noch
um eine schreckliche Stufe steigern. Die Kurdenproblematik wird mit neuer Gewalt wieder aufbrechen, wie es
sich im Nordirak bereits jetzt andeutet. Der Wiederaufbau Afghanistans wird gefährdet. Die Sicherheitslage in
Afghanistan hat sich als Vorbotin im Schlagschatten eines drohenden Irakkriegs bereits verschärft. Für Tschetschenien ist eine friedliche Lösung ferner als je zuvor.
Als Vorsitzende des Menschrechtsausschusses muss
ich mich fragen: Wie lässt sich ein Krieg im Irak rechtfertigen, für den es keinen zwingenden Grund gibt, der
dort aber unfassbar viel menschliches, humanitäres
Elend zusätzlich schaffen wird? Die Vereinten Nationen
rechnen mit 600 000 bis 1,5 Millionen Flüchtlingen, einer weiteren Million Binnenflüchtlingen und mindestens
10 Millionen irakischen Menschen, die im Kriegsfall sofort vom Food-for-Oil-Programm abgeschnitten wären.
Und was bedeutet ein „schockierender Schlag“, wie USVerteidigungsminister Rumsfeld ihn angedroht hat, für
die irakische Zivilbevölkerung?
Es gibt aber noch eine andere Frage, die mich genauso
umtreibt: Was heißt diese Entwicklung für uns selbst? Was
tun wir uns selbst an? Im Schatten des Antiterrorkampfs
verrohen unsere Gesellschaften. Noch als wir Anfang dieses Jahres den Antrag zur Sitzung der Menschenrechtskommission in Genf erarbeitet haben, der betont, dass Folter unter keinen Umständen gerechtfertigt ist, hätte ich nie
für möglich gehalten, dass wir mitten in Deutschland eine
Folterdebatte führen müssten - ausgelöst ausgerechnet
vom Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes. Das,
was jetzt passiert, hat mit unserer Art, den Kampf gegen
den Terror zu führen, zu tun und wirft uns im weltweiten
Kampf gegen Folter unglaublich weit zurück.
({3})
Vor kurzem habe ich als Ausschussvorsitzende einen
Brief an den russischen Botschafter wegen des Tschetschenienkonflikts geschrieben. Postwendend kam die
Antwort des Botschafters zurück, er habe den Brief erhalten, aber er würde doch gerne wissen, was ich denn
zur Menschenrechtslage in Deutschland zu sagen hätte.
Diese Geschichte hat allerdings eine Fortsetzung, die
ich Ihnen auch nicht verschweigen möchte: Herr
Mackenroth hat sich ausdrücklich dafür entschuldigt,
dass er diese unsägliche Debatte losgetreten hat. In einem
Gespräch mit mir hat er zugesagt, dass er sich mit seinem
Verband für eine Kampagne für Menschenrechte und
gegen Folter einsetzen wird. Wenn diese Kampagne
wirklich zustande kommt, dann ist sie ein Beitrag zu einer absolut notwendigen Aufgabe, die wir alle jetzt zu
leisten haben. Jede Generation muss sich die Menschenrechte, die sie besitzt und genießt, wieder zu Eigen machen, sie erneut für alle befestigen und verteidigen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Rainer Funke, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es steht
nicht gut um die Sache der Menschenrechte. Die ganze
Welt schaut wie gebannt auf den Kampf gegen den internationalen Terrorismus, auf Krieg oder Frieden im Irak,
auf die Bedrohung durch den Islam-Fundamentalismus.
Es ist verständlich, dass dabei die Menschenrechtssituation in nahezu vergessenen Regionen der Welt hinten herunterfällt und dass Länder wie Pakistan, Saudi-Arabien
oder sogar Syrien für den Augenblick ausschließlich als
Partner und Verbündete gesehen werden. Das ist verständlich, aber auch tragisch und vor allem falsch.
({0})
Die Menschen in Deutschland und in anderen westlichen Gesellschaften haben Angst um ihre Sicherheit.
Sie fühlen sich bedroht und sie sind im Streben nach
mehr Sicherheit kurzfristig bereit, Einschränkungen der
Freiheitsrechte in Kauf zu nehmen, die das Wesen ihrer
Gesellschaften ganz wesentlich ausmachen. Das ist vielleicht verständlich, aber brandgefährlich. Wer mit der
Rechtsstaatlichkeit spielt, spielt mit dem Feuer.
({1})
Das gilt natürlich vor allem dann, wenn man in Deutschland mit Blick auf die Kriminalitätsbekämpfung jetzt sogar diskutiert, Foltermethoden in Ermittlungsverfahren
einzuführen. Ich kann mich da nur dem anschließen, was
meine Vorredner gesagt haben: Wehret den Anfängen!
({2})
Die Menschen in Deutschland beobachten genauso
gebannt, wie Bundeskanzler Schröder im Windschatten
des französischen Präsidenten Chirac eine neue Achse
mit Moskau und Peking schmiedet, um den Krieg zu
verhindern. Es ist irgendwie verständlich, dass Herr
Schröder oder Herr Fischer dabei nicht gleichzeitig die
weiter massiven Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien oder die Lage in Tibet und die immer zahlreicher werdenden Todesurteile in China in den Mittelpunkt rückt. Auch das ist verständlich, aber auch
tragisch und mindestens genauso falsch.
({3})
Die Beachtung der Menschenrechte überall auf der
Welt und der Einsatz für ihre universelle Durchsetzung
sind und bleiben mittel- und langfristig das wichtigste
Mittel, um Demokratie, Frieden und Stabilität international zu gewährleisten und dem internationalen Terrorismus seinen Nährboden zu entziehen, genauso wie vermeintlich drohenden „Kulturkämpfen“. Das darf nicht
für kurzfristige Allianzen oder vermeintliche Sicherheitsgewinne aufs Spiel gesetzt werden.
Deshalb ist es gut und wichtig, dass wir heute zur anstehenden 59. Tagung der Menschenrechtskommission
in Genf diese Menschenrechtsdebatte im Deutschen
Bundestag führen. Dieser Tagung kommt angesichts der
weltpolitischen Großwetterlage eine ganz besondere Bedeutung zu. Wir können nur hoffen, dass ihr Verlauf und
vor allem ihre Ergebnisse in den Medien breiten Niederschlag finden. Es muss natürlich vor allem darauf gedrängt werden, dass die Ergebnisse gut und möglichst
konkret sein werden.
Die Menschenrechtskommission spielt über ihre Länder- und Themenresolutionen als Hüterin der Menschenrechte weltweit eine entscheidende Rolle. Wäre das nicht
so, wären die Bemühungen nicht so groß, unliebsame
Resolutionen zu verhindern. Diese Bemühungen sind der
eigentliche Adelsschlag für die MRK in Genf. Ob es in
diesem Zusammenhang eine glückliche Entscheidung
war, in diesem Jahr mit Billigung der europäischen Länder ausgerechnet den Libyern den Vorsitz der MRK zu
übertragen, wage ich an dieser Stelle zu bezweifeln.
({4})
Zu Tschetschenien ist im letzten Jahr keine Resolution verabschiedet worden. Auch in diesem Jahr ist die
Chance leider groß, dass entsprechende Versuche scheitern werden. Trotzdem: Auch das Scheitern einer entsprechenden Resolution würde das Licht der Öffentlichkeit
auf die mehr als bedenkliche Situation vor Ort lenken.
Ich freue mich deshalb, dass es auf Anstoß der FDPFraktion im Ausschuss eine klare Mehrheit für eine entsprechende Beschlussempfehlung gegeben hat und dass
sie heute mit Zustimmung aller Fraktionen verabschiedet
werden kann. Die Situation in Tschetschenien ist bis
heute durch außergerichtliche Hinrichtungen, Folter,
Verschleppungen, Säuberungsaktionen und Vergewaltigungen gekennzeichnet. Sie mögen mir verzeihen: Unter
„Kampf gegen den internationalen Terrorismus“ subsumiere ich als Jurist das nicht. Ich danke dem Kollegen
Bindig sehr für seinen Einsatz, den er sowohl in Tschetschenien vor Ort als auch in Moskau in dieser Sache geleistet hat.
({5})
In diesem interfraktionellen Tschetschenien-Antrag
des Menschenrechtsausschusses fordert der Bundestag
die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass in der
MRK eine Resolution oder zumindest ein Chairman’s
Statement zu Tschetschenien auf die Tagesordnung
kommt. Ich hoffe sehr, dass die Schmiede der deutschrussischen Achse im Bundeskanzleramt und im Auswärtigen Amt dies zur Kenntnis nehmen, entsprechend handeln und beim russischen Präsidenten Putin endlich Besserung einfordern.
Ich hoffe, dass wir in der Lage sein werden, in Genf
auch einen China-Resolutionsentwurf zur Sprache zu
bringen. Dies könnte mit Hilfe der viel gescholtenen
USA gelingen. Ob es dazu kommt, ist allerdings noch
zweifelhaft.
Genauso wichtig wie die Länderarbeit ist die Themenarbeit der MRK. Am Beispiel der Kinderrechte
verweise ich hier nur auf die Kindersoldaten in vielen
Ländern, die Kinderarbeit sowie den Schutz der Kinder
vor Missbrauch auch und gerade in Ländern der so genannten Ersten Welt. Kinderrechte sind Menschenrechte;
wir müssen die Rechte der Kleinsten und Schwächsten
auch in unserer Gesellschaft stärker schützen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist überschritten.
Ja, ich komme zum Schluss.
Meine Damen und Herren, die Regierungsfraktionen
haben den Antrag „Menschenrechte als Leitlinie der
deutschen Politik“ eingebracht. Über manches Detail
und über die manchmal doch übertriebene Rhetorik dieses Antrags haben wir uns im Ausschuss gestritten; vieles findet aber unsere uneingeschränkte Zustimmung.
Vor allem gilt dies für den Titel des Antrags. Leitlinie
der Politik sollten die Menschenrechte sein: im weltweiten Zusammenleben der Völker, für das Handeln unserer
Regierung und auch für die in Zeiten wachsender Unsicherheit nicht ganz einfache Gestaltung unserer Innenpolitik.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Christoph Strässer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Als vor einiger Zeit beschlossen wurde, auch in
diesem Frühjahr eine Menschenrechtsdebatte in diesem
Hause zu führen, war wahrscheinlich uns allen nicht
klar, dass diese Debatte geradezu eine makabre Aktualität auch für die innenpolitische Entwicklung in unserem
eigenen Land gewinnen würde. Die Diskussion über die
Zulässigkeit von Foltermaßnahmen zur Erzwingung von
Aussagen Beschuldigter im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ist hier schon angesprochen worden. Ich bin
sehr froh darüber - ich denke, dies gilt für alle - und
hoffe, dass von dieser Debatte ein klares politisches Signal ausgeht und dieses Hohe Haus einmütig jede Form
von Folter und jede Diskussion über die Einschränkung
des Folterverbots entschieden verurteilt.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus diesem
Grunde ist es für uns wichtig, dass diese Debatte heute
stattfindet. Auch in unserer eigenen Gesellschaft scheint
es nötig zu sein, die Menschenrechte regelmäßig ins Bewusstsein zu rufen. Wir müssen uns ständig in Erinnerung rufen, dass wir auf die Umsetzung von Grund- und
Menschenrechten auch in unserem eigenen Land achten
müssen. Anderenfalls laufen wir Gefahr, Menschenrechte in guten Zeiten als selbstverständlich und in
schlechten Zeiten als Luxus anzusehen.
({1})
Dieser Gefahr müssen wir beharrlich vorbeugen, denn
wie wir aus der Geschichte und leider auch aus dem aktuellen Zeitgeschehen wissen, sind Menschenrechte weder selbstverständlich noch Luxus. Sie sind vielmehr die
Basis für unsere Gesellschaft: für das Zusammenleben in
unserem Volk genauso wie für unser Zusammenleben
mit anderen Völkern und Nationen. Sie sind die Grundlage für unseren rechtsstaatlich verfassten demokratischen Staat und damit die Legitimation jeglichen Handelns von Legislative und Exekutive, gleich welcher
Couleur. Wir dürfen sie unter keinen Umständen und
keinen Interessen opfern.
({2})
Die Koalitionsfraktionen tragen diesem Grundgedanken durch Vorlage des Antrages „Menschenrechte als
Leitlinie der deutschen Politik“ Rechnung. Nun haben
wir uns zwar viel Mühe gegeben, aber an der einen oder
anderen Stelle die Dinge möglicherweise auch nicht so
beurteilt wie Sie, Herr Kollege Gröhe, als Sie es gerügt
haben.
({3})
Weil Sie die möglicherweise ungleichgewichtige Berücksichtigung von Rechten angesprochen haben, will
ich nur sagen: Wir haben zum Teil den Eindruck, dass
bestimmte ökonomische und soziale Grundrechte in der
Vergangenheit nicht den Stellenwert eingenommen haben, den sie verdienen. Deshalb haben wir an dieser
Stelle einen berechtigten politischen Schwerpunkt gesetzt. Ich hoffe, dass das in absehbarer Zeit vielleicht
nicht mehr nötig sein wird. Das war der Grund dafür,
dass wir das an dieser Stelle so getan haben.
Wir haben des Weiteren versucht, mit diesem Antrag
die Menschenrechtspolitik, wie sie in dieser Legislaturperiode auf den Weg gebracht werden soll, komprimiert
darzustellen. Wir haben natürlich auch nicht vergessen,
dass wir noch das eine oder andere Defizit aufzuarbeiten
haben. Dazu werde ich gleich ganz kurz noch etwas sagen.
Der Antrag fußt in wesentlichen Bereichen auf den
Feststellungen im 6. Bericht der Bundesregierung über
die Menschenrechtspolitik. Ich möchte jedenfalls für uns
sagen, dass wir uns für die Vorlage dieses ausführlichen
Kompendiums bei der Bundesregierung ganz ausdrücklich bedanken, weil es eine gute Arbeitsgrundlage für die
Menschenrechtspolitik darstellt.
({4})
Ich habe es schon gesagt: Es gibt Defizite, an deren
Beseitigung noch intensiv zu arbeiten ist. Ich denke zum
Beispiel daran, dass - ich freue mich, Herr Kollege
Funke, dass auch Sie die Kinderrechte angesprochen haben - noch immer nicht der Vorbehalt Deutschlands zu
Art. 22 der UN-Kinderrechtskonvention aufgehoben
wurde, der nun seit immerhin zehn Jahren existiert. Ich
halte es allerdings für einen außerordentlichen Fortschritt, dass sich die Bundesregierung den Forderungen
dieses Hauses aus der 14. Legislaturperiode wie auch der
vielen Nichtregierungsorganisationen angeschlossen hat
und endlich die Aufhebung dieses Vorbehalts anstrebt.
({5})
Wer die besondere Schutzbedürftigkeit unbegleiteter
ausländischer Kinder anerkennt - das tun wir -, der darf
sich einer Aufhebung dieses Vorbehalts nicht widersetzen. Ich appelliere von dieser Stelle aus ganz klar und
deutlich an die Bundesländer, diesen Schritt endlich konstruktiv zu begleiten, damit wir auch insofern den Standards entsprechen.
({6})
Am Dienstag dieser Woche hat eine Institution formal
ihre Arbeit aufgenommen, deren Einrichtung einen Meilenstein in der internationalen Umsetzung menschenrechtlicher Grundsätze bedeuten kann. Ich meine den
Internationalen Strafgerichtshof, der nach der Vereidigung der Richterinnen und Richter am 11. März in Den
Haag seine Arbeit aufnehmen kann. Das ist deshalb ein
Meilenstein für die Menschenrechtspolitik, weil, wie es
zum Beispiel in der „Berliner Zeitung“ vom 10. März zu
lesen war, ein Menschheitstraum sich zu erfüllen beginnt, der Traum, die schlimmsten Verbrecher, die womöglich einen ganzen Staat zur Verübung ihrer Taten
missbrauchen, zur Rechenschaft zu ziehen.
({7})
Es ist gut, dass sich diese Bundesregierung und auch
vorherige Bundesregierungen so vehement für die Etablierung dieser Institution eingesetzt haben. Wir dürfen
nicht akzeptieren, dass das Recht des Stärkeren vor die
Stärke des Rechts gesetzt wird.
({8})
Wir akzeptieren nicht, wenn bestimmte Staaten von anderen die Einhaltung von Standards verlangen, ohne
diese für sich selber zu akzeptieren.
({9})
Wir akzeptieren auch nicht, dass Entscheidungen der
Staatengemeinschaft nur dann akzeptiert werden, wenn
sie dem eigenen politischen Kalkül nicht widersprechen.
({10})
Dies ist das Gegenteil einer Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, für die sich die Bundesregierung
in dankenswerter Weise so nachdrücklich einsetzt. Es ist
mehr als bedauerlich, dass die USA als einzig verbliebene Weltmacht eine Beteiligung ablehnen und sich auf
diese Weise, wie ich finde, politisch isolieren; wir sehen das bei anderen internationalen Abkommen leider
auch.
Ich jedenfalls wünsche den nunmehr eingesetzten
Richterinnen und Richtern und ganz besonders Herrn
Kaul für die Erfüllung ihrer Aufgabe alles erdenklich
Gute. Lassen Sie sich nicht von dem so genannten Invasionsgesetz für die Niederlande beeindrucken, das die
Regierung der USA ermächtigen soll, amerikanische
Staatsangehörige mit Gewalt aus dem Zugriff des Gerichts zu befreien! Wer so mit Rechten umgeht, hat,
denke ich, sein Recht verspielt, anderen diese Rechte
vorzuhalten.
({11})
Die Tatsache, dass sich der 6. Menschenrechtsbericht
nicht nur auf die auswärtige Politik erstreckt, gibt ihm
eine neue Bedeutung. Wir wollen die Menschenrechtspolitik weiter stärken und Kohärenz zwischen den einzelnen Politikbereichen herstellen; dazu dient unser Antrag. Wir halten es für unverzichtbar, dass hierfür im
7. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung an den
Deutschen Bundestag ein nationaler Aktionsplan in
Form eines eigenständigen Kapitels aufgenommen wird,
in dem offene Fragen der Umsetzung der Menschenrechte und Strategien zu ihrer Lösung aufgelistet werden. Diese Umsetzung beruht auf einer Empfehlung der
Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993. Auch diesen Empfehlungen und Beschlüssen der internationalen
Staatengemeinschaft sollten wir endlich nachkommen,
so wie es der Antrag vorsieht. Ich hoffe, dass die Bundesregierung das tut.
({12})
Vor diesem Hintergrund begrüßen wir, dass die
Bundesregierung die Flüchtlings- und Migrationspolitik an hohen menschenrechtlichen Standards ausrichten will. Wir wollen dies nicht nur auf internationaler und europäischer, sondern natürlich auch auf
nationaler Ebene umsetzen. Wir wollen die Harmonisierung der europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik unter dem Aspekt der Menschenrechte und der
Verwirklichung der Menschenwürde auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention betreiben. Angesichts der heute Vormittag geführten Debatte betone ich ausdrücklich: Dies schließt unserer Ansicht
nach - das fordern wir in unserem Antrag - die Anerkennung geschlechtsspezifischer und nicht staatlicher Verfolgungsgründe ein.
({13})
In unserem Antrag fordern wir, die Zeichnung des
Zusatzprotokolls zum Übereinkommen gegen Folter
und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe zu prüfen, so wie es von
der Generalversammlung der Vereinten Nationen im
vergangenen Jahr in der 57. Sitzungsperiode angenommen wurde. Diese Forderung hat durch die fatalen Diskussionen in unserem Land eine nicht vorhersehbare
Aktualität gewonnen, auf die wir alle gerne verzichtet
hätten.
({14})
Die Debatte um die Zulässigkeit von Folter muss
schnell beendet werden, und zwar nicht nur juristisch,
sondern vor allem auch politisch. Die politische Botschaft muss klar sein: Alle Rechtsnormen, Art. 1 unseres
Grundgesetzes, Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Art. 5 der Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte, enthalten ein Folterverbot ohne
Wenn und Aber. Dies sind nicht nur rechtliche Normen,
sondern auch Ergebnis eines Politikverständnisses, nach
dem die Wahrung der Würde des Menschen das höchste
Gut ist, das es umfassend zu schützen gilt. Es gibt nicht
„ein bisschen Folter“. Bei den politisch Verantwortlichen
darf es kein Verständnis für solche Maßnahmen geben,
wenn wir nicht einen Dammbruch erleben wollen, dessen Folgen wir nicht mehr aufhalten können. Dies verstehe ich als einen Appell an uns selbst.
({15})
Als jemand, der neu in diesem Parlament ist und der
an anderen Stellen Dinge erlebt hat, die er sich so nicht
vorgestellt hat, sage ich: Die Zusammenarbeit im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
könnte ein Beispiel für das Verfahren bei Auseinandersetzungen auch an anderer Stelle in diesem Hohen
Hause sein. Ich freue mich außerordentlich, dass ich in
diesem Ausschuss mitarbeiten darf. Denn dort macht
man parlamentarische Erfahrungen, die sich von dem
unterscheiden, was man in anderen Bereichen erlebt.
Ich wünsche mir, wir könnten diese Art der Zusammenarbeit auf alle politischen Diskussionen und Debatten übertragen.
({16})
Ich glaube, das würde zu mehr Streitkultur und zu mehr
politischer Kultur in diesem Hohen Hause führen.
Ich wünsche mir, dass dies stattfindet, und bedanke
mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Herr Kollege Strässer, ich gratuliere Ihnen im Namen
dieses Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Melanie Oßwald von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue
mich, heute im Plenum meine erste Rede halten zu können. Leider bietet das Thema, über das ich sprechen
werde, keinen Anlass zur Freude. In den Vorjahren
scheiterte man in der EU-Menschenrechtskommission
immer wieder daran, das Thema des Tschetschenienkonfliktes ernsthaft zu behandeln; das haben wir heute schon
öfter gehört. Der Handlungsbedarf ist jedoch dringender
denn je.
Deshalb fordern wir in unserem Antrag von der Bundesregierung: Deutschland muss in Abstimmung mit den
EU-Staaten und den anderen Ländern der westlichen
Staatengruppe gemeinsam darauf hinwirken, dass in einer Resolution die Menschenrechtsverletzungen von beiden Seiten im Tschetschenienkrieg thematisiert werden
und die russische Regierung zu einer ehrlichen politischen Lösung mit internationaler Hilfe gedrängt wird.
({0})
Wie Sie vielleicht wissen, habe ich vor zwei Wochen
eine Reise nach Moskau unternommen, um mich vor Ort
über den aktuellen Stand der Tschetschenienproblematik
zu informieren. Nach wie vor stehen sich Befürworter
und Gegner der gegenwärtigen russischen Politik weitestgehend unversöhnlich gegenüber. Trotz aller
Bemühungen, wachsende Stabilität und Normalität in
Tschetschenien zu suggerieren, vermittelt die aktuelle
Lageentwicklung ein komplett anderes Bild. Tschetschenien steckt nach wie vor in der Sackgasse eines von beiden Seiten brutal geführten Krieges, in dem Moskau unverändert auf seiner Macht besteht und sein Vorgehen als
Teil des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus
rechtfertigt. Daher ist die Empörung unter russischen
Menschenrechtsorganisationen sehr verständlich. Ein
Sprecher der Menschenrechtsorganisation Memorial
sagte zu Schröders Tschetschenienpolitik: Entweder ist
Schröder ein Zyniker oder er zeichnet sich durch Inkompetenz aus.
({1})
Herr Schröder ist Sozialdemokrat. Ich frage mich, was
an seiner Haltung zur Tschetschenienpolitik sozial und
demokratisch sein soll.
({2})
Vonseiten der Bundesregierung ist es dringend notwendig, ihre an sich guten Ansätze in ihrem 6. Bericht
über ihre Menschenrechtspolitik auch tatsächlich zu verfolgen. Es muss nach wie vor ein fundiertes Konzept
zum Tschetschenienkonflikt erarbeitet werden. Denn die
Tschetschenienpolitik hat sich von Herbst 1999 bis heute
im Kern nicht verändert.
({3})
Obwohl Bundesminister Fischer immer wieder beteuert,
dieses Thema bei russischen Vertretern anzusprechen,
wurde dies offensichtlich nicht in der erforderlichen
Härte unternommen. Ich habe auch noch nie von einer
Erfolgsbilanz gehört. Wahrscheinlich gibt es nichts zu
berichten.
Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe hat einen interfraktionellen Antrag zum Thema
„Menschenrechte in Tschetschenien nicht vergessen“ erarbeitet. Ich habe mich - das wurde heute schon öfter erwähnt - über die Zusammenarbeit gefreut. Herr Bindig,
ich finde es schade, dass wir uns zwar in großen Teilen
einig sind und auch gemeinsam etwas erreichen wollen,
dass Sie sich aber manchmal mit Ihrer Partei schwer tun,
klare und harte Forderungen zum Konflikt zu formulieren.
({4})
Trotz allem konnten wir einige Forderungen durchsetzen. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass nicht nur das
Mandat der OSZE für Tschetschenien verlängert wird.
Vielmehr sollte Deutschland Russland dazu drängen, solche Hilfe auch vonseiten der Vereinten Nationen und des
Europarates zu akzeptieren und nicht blind zu kritisieren.
Menschenrechtsverletzungen müssen konsequent aufgeklärt, Täter bestraft und eine effektive Verwaltung und
Justiz geschaffen, die humanitäre Situation der tschetschenischen Bevölkerung muss verbessert und der Wiederaufbau des Landes vorangetrieben werden. Russland
muss den Boden bereiten, damit humanitäre Hilfsorganisationen wieder sicher vor Ort arbeiten können.
Vielleicht kennen Sie das Beispiel Arjan Erkel. Ich
habe Ihnen das entsprechende Flugblatt aus Moskau mitgebracht. Er ist Missionschef bei „Ärzte ohne Grenzen“
im Nordkaukasus und wurde vor einem halben Jahr von
Unbekannten entführt. Bisher gibt es von ihm kein bewiesenes Lebenszeichen. Ich sage Ihnen: So kann es
doch nicht weitergehen.
({5})
Neueste Meldungen über Terroranschläge in Tschetschenien machen zusätzlich deutlich, dass Tschetschenien
keinesfalls, wie in der russischen Öffentlichkeit oft behauptet wird, weitgehend befriedet ist und dass dort in genau zehn Tagen ein Verfassungsreferendum durchgeführt werden kann. Ich frage Sie: Ist ein derartiges
Referendum überhaupt demokratisch, wenn ein großer Teil
der Bevölkerung, der sich als Flüchtlinge in Russland
befindet und dort übrigens massiv rassistisch verfolgt wird
- dies hat auch die Menschenrechtsorganisation Memorial
bestätigt -, keine Möglichkeit hat, ohne Lebensgefahr zurückzukehren und mitzuwählen, während in Tschetschenien stationierte Soldaten ein Wahlrecht haben?
Es bestehen erhebliche Zweifel, ob angesichts der
derzeitigen Zuspitzung eine derartige politische Lösung
ohne internationale Hilfe überhaupt möglich ist. Es wundert mich nicht, dass internationale Beobachter - um es
nicht zu legitimieren - eine Begleitung des Referendums
verweigern. Selbstverständlich hat die Russische Föderation das Recht, Terrorismus mit rechtsstaatlichen Mitteln zu bekämpfen. Auch hat sie nach der verbrecherischen Geiselnahme Ende Oktober Anspruch auf unsere
Solidarität. Die tschetschenischen Kämpfer sind aber
nicht mit den Terroristen vom 11. September 2001 zu
vergleichen, da sie für komplett andere Ziele kämpfen.
Der Westen muss alles vermeiden, was von Russland
als Blankoscheck für das militärische Vorgehen gegen
die Zivilbevölkerung in der Kaukasusrepublik verstanden werden kann. Morde, Folter und Erpressungen beider Konfliktparteien in Tschetschenien, einem Teil Europas, sind völlig inakzeptabel und verlangen den klaren
Widerspruch unserer Völkergemeinschaft. Der Weg von
der Leisetreterei zur Komplizenschaft ist nicht weit.
Massive Einschränkungen der Pressefreiheit in
Russland zeigen zudem, dass die russische Tschetschenienpolitik auch die demokratische Entwicklung in
Russland dramatisch beeinflusst. Die Möglichkeit, nunmehr nahezu jede kritische Berichterstattung zum Kaukasuskonflikt in die Nähe des Terrorismus zu rücken und
strafrechtlich zu verfolgen, ist mit unserem Verständnis
von Meinungsfreiheit absolut unvereinbar.
({6})
Es ist wichtig, dass Deutschland und seine transatlantischen und europäischen Partner ihre engen Beziehungen
zum russischen Präsidenten und zur russischen
Regierung nutzen müssen, um gerade jetzt auf die Einhaltung der Menschenrechte im Tschetschenienkonflikt zu
drängen. Gerade weil der Bundeskanzler ein überdurchschnittlich gutes Freundschaftsverhältnis zum russischen
Präsidenten pflegt, wie er immer behauptet, verlange ich
von ihm, sich endlich für eine aufrichtige politische Lösung des Konfliktes in Tschetschenien einzusetzen.
Die Gewalt an der tschetschenischen Zivilbevölkerung muss unverzüglich gestoppt werden. Es muss an
Putin appelliert werden, bei der Suche nach einer politischen Lösung für den Tschetschenienkonflikt konsequent menschenrechtliche und humanitäre Standards zu
beachten. Dazu möchte ich Sie hiermit auffordern.
Danke schön.
({7})
Frau Kollegin Oßwald, auch Ihnen gratuliere ich im
Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Das Wort hat jetzt die Staatsministerin Kerstin Müller.
Meine Damen und Herren! Menschenrechtspolitik ist
für uns Querschnittspolitik. Von dieser Maxime geht der
vorliegende 6. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung aus. Das bedeutet, dass Menschenrechtspolitik sich
in allen Politikbereichen widerspiegeln muss. Sie berührt
Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik genauso wie
solche der Wirtschafts- und Entwicklungspolitik.
Gerade weil die Bundesregierung einen umfassenden
menschenrechtlichen Ansatz verfolgt, gehört dazu auch
der Einsatz für Freiheits- und Bürgerrechte im eigenen
Land und in Europa. Das will ich hier sehr deutlich sagen. Wir sind nur dann glaubwürdig mit diesem umfassenden Ansatz, wenn wir auch kritisch fragen: Wie halten wir es bei uns mit den Menschenrechten? Wie gehen
wir hier mit Flüchtlingen und Minderheiten um? Dem
stellt sich der 6. Menschenrechtsbericht und wir werden
in den 7. Menschenrechtsbericht einen nationalen Aktionsplan aufnehmen, wie es der Ausschuss beschlossen
hat.
({0})
Meine Damen und Herren, viele von Ihnen haben es
erwähnt: Vor zwei Tagen wurde in Den Haag der Internationale Strafgerichtshof feierlich eingeweiht. Das ist
ein historischer Meilenstein in der Geschichte des Völkerrechts. Herr Gröhe, vielleicht können wir uns auf Folgendes einigen: Deutschland, das heißt wir und auch die
Vorgängerregierung, hat sich von Anfang an sehr intensiv dafür eingesetzt, dass es diesen Gerichtshof gibt. Wir
haben nie einen Zweifel daran gelassen: In einer globalisierten Welt muss es doch gerade darum gehen, die Herrschaft des Rechts zu stärken und einer Politik entgegenzutreten, die auf das Recht des Stärkeren setzt. Das wird
die zentrale Aufgabe dieses Gerichtshofes sein.
({1})
Die wirkliche Arbeit beginnt erst und deshalb kommt
es darauf an, die Funktionsfähigkeit und die Effektivität
dieses Gerichtshofes zu stärken. Leider gibt es noch immer Staaten, die dem Gerichtshof ablehnend oder kritisch
gegenüberstehen. Deshalb gilt: Nur mit einer möglichst
universellen Unterstützung durch die Staatengemeinschaft kann die Arbeit des Gerichtshofs dauerhaft wirklich ein Erfolg werden. Daher möchte auch ich hier noch
einmal ganz klar an alle appellieren, die noch zögern:
Unterstützen Sie die Arbeit des Gerichtshofes. Er wird
für den Schutz der Menschenrechte in der Zukunft ganz
wichtig werden.
({2})
In der kommenden Woche beginnt die 59. Sitzung der
VN-Menschenrechtskommission. Wo stehen wir am
Vorabend? Natürlich macht uns die Lage der Menschenrechte in vielen Staaten große Sorgen. Gewalt, Unterdrückung und Not sind weiterhin weltweit an der Tagesordnung. Vielerorts werden die Menschenrechte massiv
beeinträchtigt, in bewaffneten Konflikten, durch Folter
und Todesstrafe, durch die Verletzung der Rechte von
Frauen, Kindern und Minderheiten und durch die Vorenthaltung elementarer sozialer und bürgerlicher Grundrechte.
Doch es gibt auch Hoffnung, zum Beispiel in Afghanistan. Zu unseren Prioritäten zählen auch hier unter anderem Menschen- und Frauenrechte. Das hat Außenminister Fischer in der letzten Woche gegenüber seinem
afghanischen Amtskollegen noch einmal sehr deutlich
gemacht.
Ich sehe zum Beispiel ein positives Signal darin, dass
die afghanische Regierung am 5. März das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung
der Frau, das CEDAW, das heute auch hier im Hohen
Hause diskutiert wurde, ratifiziert hat. Das ist ein positives Signal. Damit verpflichtet sich die afghanische Regierung, den Grundsatz der Gleichberechtigung in die
Verfassung aufzunehmen und ihn auch umzusetzen. Wir
werden die afghanische Regierung bei dieser Umsetzung
unterstützen.
({3})
Mit besonderer Sorge erfüllt uns der nun schon zehn
Jahre andauernde Konflikt in Tschetschenien. Es ist
klar: Es muss eine politische Lösung geben. Diese mahnen wir an. Dafür setzen wir uns ein. Das haben die
meisten meiner Vorredner - fast alle haben dieses Thema
angesprochen - zu Recht gefordert. In zehn Tagen findet
in Tschetschenien das Referendum über den Verfassungsentwurf statt. Das könnte vielleicht ein erster
Schritt hin zu einer politischen Lösung sein. Wir wünschen uns, auch die Bundesregierung, dass die OSZE
und der Europarat bei dieser Volksabstimmung angemessen präsent sein werden, und setzen uns dafür ein,
dass die OSZE ihre Arbeit in Tschetschenien fortsetzen
kann. Das ist sehr wichtig. Das werden wir auf allen
Ebenen deutlich machen.
({4})
Klar ist: Terroristische Anschläge wie die in Moskau
und Grosny sind ohne Wenn und Aber zu verurteilen.
Dennoch muss in diesen Fällen wie auch generell gelten:
Der Schutz der Menschenrechte und die Verhältnismäßigkeit der Mittel müssen auch und gerade beim Kampf
gegen den Terrorismus gewahrt bleiben. Meine Damen
und Herren von der Opposition, das haben die Bundesregierung und der Bundeskanzler deutlich gemacht und
werden es auch weiterhin immer wieder deutlich machen, öffentlich, aber auch in vielen einzelnen bilateralen
Gesprächen. Es darf keinen Antiterrorrabatt geben. Das
hat Außenminister Fischer immer wieder sehr deutlich
gemacht. Das bleibt unsere Maxime in der Tschetschenienpolitik.
Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, nur andere Staaten hätten Hausaufgaben zu machen. In
Deutschland wurde unlängst die Auffassung vertreten,
dass unter gewissen Umständen eine Lockerung des Folterverbots in Kauf genommen werden könne. Ich
möchte hier in aller Deutlichkeit klarstellen: Nach der
Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und nach den Übereinkommen der VN ist der Schutz vor Folter absolut und darf
unter keinen Umständen, auch nicht im Falle eines öffentlichen Notstandes, relativiert werden.
({5})
Das macht auch unsere Verfassung deutlich, ein Blick
hätte genügt. Nach Art. 1 des Grundgesetzes ist die
Menschenwürde unantastbar. Und Art. 1 gilt überall,
auch bei Verhören. Das hat der Bundesinnenminister
heute noch einmal zu Recht gesagt. Deshalb hoffe ich,
dass diese Debatte ein für alle Mal beendet ist.
({6})
Ich komme zum Schluss. Der vorliegende Koalitionsantrag „Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Politik“ fasst die aktuellen und zukünftigen Aufgaben der
Menschenrechtspolitik eindringlich zusammen. Ich kann
Ihnen versichern: Die Bundesregierung ist und bleibt
den dort dargelegten Grundsätzen verpflichtet. Konsequente Menschenrechtspolitik ist und bleibt die Leitlinie
unseres Handelns.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Holger Haibach von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Staatsministerin, wenn Menschenrechte eine
Querschnittsaufgabe sein sollen, dann frage ich mich,
wo die Vertreter der Bundesregierung bei dieser Debatte
sind. Ich sehe nur die Vertreter von zwei Ministerien.
Von den restlichen Ministerien, die das Thema Menschenrechte in hohem Maße angeht, wie zum Beispiel
vom Innenministerium oder dem Bundeskanzleramt, ist
niemand zu sehen. Das finde ich beachtlich.
({0})
Es tut mir Leid, dass ich auch darüber hinaus Öl ins
Feuer gießen muss. Aber die heutige Menschenrechtsdebatte hat sehr deutlich eine entscheidende Schwachstelle
in der Menschenrechtspolitik der rot-grünen Bundesregierung aufgezeigt. Bei der Beobachtung von und der Reaktion auf Menschenrechtsverletzungen, die von staatlicher Seite motiviert, begünstigt oder zumindest geduldet
werden, geht man ganz offensichtlich sehr einseitig vor.
Das werde ich an drei Beispielen deutlich machen.
Gestern hat Frau Staatsministerin Müller im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe in Bezug auf den Irak ausgeführt, die Menschenrechtslage dort
sei besorgniserregend. Dieser Aussage ist in ihrer Deutlichkeit nichts hinzuzufügen. Bedauerlich ist allerdings,
dass sich solch eindeutige Aussagen nicht im Reden und
Handeln der Regierungskoalition niederschlagen.
({1})
Es ist das Recht von Vertretern der Koalition, sich als
Bewahrer des Friedens und der Menschenrechte in der
Welt zu präsentieren und dafür an Demonstrationen teilzunehmen. Ob das klug ist, darf mit gutem Recht bezweifelt werden.
({2})
Das, was Sie mit Ihrem Antrag „Menschenrechte als
Leitlinie der deutschen Politik“ vom 3. Dezember und
Ihrem Antrag zur heutigen Debatte getan haben, geht
aber nicht.
({3})
Einerseits haben Sie die Bundesregierung für ihren Einsatz dafür gelobt, dass sie auf die Partner der Antiterrorkoalition dahin gehend einwirkt - ich zitiere jetzt Ihren
Antrag -, „dass menschenrechtliche Normen und das humanitäre Völkerrecht in einem Antiterrorkampf beachtet
werden“. Andererseits erwähnen Sie in diesem Antrag
die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, die
seit Jahren in den Berichten von Amnesty International
und den Human Rights Watch Reports immer wieder angeprangert werden, mit keinem Wort.
In Ihrem heutigen Antrag wird der Irak immerhin an
zwei Stellen erwähnt und an einer Stelle sogar eindeutig
verurteilt. Dass Sie anderen Ländern, wie Russland,
China, Kolumbien oder Simbabwe, ganze Absätze widmen - übrigens völlig zu Recht -, zeigt doch, dass es mit
einer ausgewogenen Betrachtungsweise offenbar nicht
ganz so weit her ist.
({4})
Im Übrigen gibt auch der Menschenrechtsbericht der
Bundesregierung leider wenig Anlass zur Hoffnung.
({5})
In diesem immerhin über 350 Seiten starken Werk findet
der Irak ganze dreimal Erwähnung. Ich denke, es ist
richtig und wichtig, gerade an dieser Stelle das Bild der
öffentlichen Diskussion in Deutschland einmal zurechtzurücken. Sie befassen sich in Ihrem Antrag lange mit
der Frage, was im Kampf gegen den Terror sein darf und
was nicht. Damit bin ich vollkommen einverstanden. Sie
dürfen bei aller berechtigten oder unberechtigten Kritik
an der amerikanischen Haltung aber bitte nie vergessen,
dass es doch Saddam Hussein und nicht George Bush
ist, der die Menschenrechte seit Jahrzehnten mit Füßen
tritt, seine Bevölkerung unterdrückt und seine Nachbarn
mit Krieg bedroht und überzieht.
({6})
Es würde auch von einer verantwortungsvollen Politik
der Bundesregierung zeugen, das bei passender Gelegenheit deutlich zu machen. Leider kann ich nicht feststellen, dass dies in ausreichendem Maße geschieht.
({7})
Frau Kollegin Nickels, noch ein Wort zum „Food for
Oil“-Programm: Wenn man sich die Berichte der NGOs
anschaut, erkennt man, dass es zumindest eine sehr
große Unstimmigkeit darüber gibt, ob dieses Programm
so hilfreich war, wie Sie es hier dargestellt haben.
({8})
Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Beispiel, das
ich ansprechen möchte, dem Iran. Es ist richtig, dass die
vom iranischen Parlament und auch von Staatspräsident
Khatami getragene Politik hoffnungsvolle Ansätze zeigt.
Es ist auch richtig, diese Politik zu fördern und die sie
tragenden Kräfte zu stabilisieren. Dies muss besonders
gegen den Einfluss des Wächterrates geschehen, der nun
wirklich jeden Versuch, Menschlichkeit und Menschenrechte im Iran voranzubringen, unterminiert. Es ist weiterhin richtig, dies im Rahmen einer abgestimmten europäischen Haltung zu tun. Angesichts der vielfältigen
Menschenrechtsverletzungen darf dies aber nicht dazu
führen, dass wir die Bundesregierung aus ihrer Verantwortung entlassen, auch auf bilateraler Ebene alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um eine Verbesserung der Situation im Iran zu erreichen. Auch hier vermisse ich
noch entschiedenere Anstrengungen.
({9})
Die Frage einer europäischen Haltung bringt mich
zum letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. In Ihrem
Antrag vom 3. Dezember mahnen Sie - ich zitiere nochmals - „ausdrücklich die Fortführung der Rechtsstaatsdialoge mit der Volksrepublik China und der Türkei“ an.
Ein Hinweis auf die Türkei fehlt in Ihrem heutigen Antrag völlig. Sollten Ihnen hier etwa der Bundeskanzler
oder der Bundesaußenminister die Feder geführt bzw.
gerade nicht geführt haben,
({10})
weil ein türkischer EU-Beitritt ja offensichtlich zu den
außenpolitischen Lieblingsprojekten dieser beiden Herren zählt? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
({11})
Es ist ja nicht zu bestreiten, dass der türkische Staat
zumindest auf der Verfassungsebene ganz entscheidende
Fortschritte im Bereich der Menschenrechte getan hat.
Es gibt aber doch genauso unbestreitbar immer noch einen entscheidenden Unterschied zwischen der Verfassungsnorm und der Realität in der Türkei. Die Beispiele,
die wir in letzter Zeit dafür erleben konnten, Prozesse
gegen die Vertreter politischer Stiftungen, die Tatsache,
dass religiöse Minderheiten immer noch an ihrer Religionsausübung gehindert werden, die problematische Einrichtung der Gefängnisse des so genannten F-Typs und
die Unterdrückung von Minderheiten insgesamt, zeigen
doch sehr deutlich, wo das Problem liegt.
Es gäbe noch vieles mehr zu nennen. Bei allem Interesse an einer weiteren Einbindung der Türkei in die
Europäische Union darf auch hier nicht nach dem VogelStrauß-Prinzip vorgegangen werden, das ja lautet: Es
kann nicht sein, was nicht sein darf.
({12})
Die drei genannten Beispiele machen deutlich, dass
wir seitens der CDU/CSU-Fraktion im Vorfeld der Tagung der UN-Menschenrechtskommission mehr von der
Bundesregierung erwarten, als der vorliegende Antrag
der Koalition zu bieten hat. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie bei der bevorstehenden Tagung
die von uns benannten Punkte mit der gleichen Deutlichkeit und Offenheit vertritt, wie sie die Koalition aufgeführt hat. Der vorliegende Antrag lässt allerdings befürchten, dass es sozusagen zweierlei Menschenrechte
gibt: solche, die aus übergeordneten Gründen angesprochen werden dürfen, und solche, die bedauerlicherweise
gerade nicht passend sind. Auch für die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland gilt: Die Menschenrechte sind unteilbar.
Nochmals: Der Antrag der Koalition ist aus unserer
Sicht zu ungenau und die dadurch unterstützte Politik zu
einseitig. Deshalb werden wir ihn ablehnen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({13})
Herr Kollege Haibach, auch Ihnen gratuliere ich im
Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 15/549 mit dem Titel: 59. Tagung der
Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der CDU/CSUFraktion und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zum
6. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen
Politikbereichen, Drucksachen 14/9323 und 15/397. Der
Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Berichts der Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen, die aus
zwei Teilen besteht. Wer stimmt für die Entschließung unter Nr. 1 der Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
CDU/CSU-Fraktion und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Wer stimmt für die Entschließung unter Nr. 2
der Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 7 c: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 15/495 zu dem
Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen mit dem Titel: Menschenrechte als Leitlinie
der deutschen Politik. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/136 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
von CDU/CSU und Enthaltung der FDP angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf
Drucksache 15/496 zu dem Antrag der Fraktion der FDP
mit dem Titel: Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien nicht vergessen. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 15/64 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 3: Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/535 mit dem Titel:
Für Menschenrechte weltweit eintreten - die internationalen Menschenrechtsschutzinstrumentarien stärken. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion und
der FDP-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig
Thiele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes
- Drucksache 15/359 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
({1})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser
Aussprache nicht teilzunehmen wünschen, den Saal
möglichst geräuschlos zu verlassen, damit die anderen
der Debatte aufmerksam folgen können.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort für den Antragsteller der Kollege Professor
Dr. Pinkwart von der FDP-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir stehen am Vorabend einer als groß angekündigten Rede. Ein Ruck soll durch unser Land gehen. Ich
denke, angesichts der dramatischen wirtschaftlichen und
finanziellen Lage unseres Landes ist es notwendig, dass
es endlich einen solchen Ruck gibt.
({0})
Aber wir mussten bereits in der Vergangenheit erfahren: Worte ersetzen keine Taten. Meine Erwartungen
sind deshalb weniger auf die Rede selbst als auf die daran hoffentlich folgenden konkreten Schritte gerichtet.
Die mittlerweile meterdicken Gutachten der Sachverständigen weisen hierzu einen klaren Weg. Wirtschaft
und Verbraucher müssen von konfiskatorischen Steuern
und Abgaben und vor allen Dingen von überbordender
Bürokratie befreit werden.
({1})
In Bezug auf den Bürokratieabbau hat sich die Regierung zumindest sprachlich zwischenzeitlich fortschrittsgewandt gezeigt. Das sieht man an den Anglizismen, die der Superminister neuerdings verwendet. Das
reicht vom „Masterplan“ bis zum „Small Business Act“.
Aber Etiketten allein reichen nicht aus; auch nicht die
Tatsache, dass die Forderungen nach einem Masterplan
„Bürokratieabbau“ den Mitgliedern dieses Hauses mittlerweile offensichtlich leicht über die Lippen gehen.
Wir müssen dem Bürokratieberg in diesem Land konkret zu Leibe rücken, und zwar deshalb, weil die Bürokratie die Wirtschaft in unserem Land mit über
30 Milliarden Euro Bürokratiekosten belastet. Das ist
eine wahrlich schwerwiegende Last für dieses Land.
({2})
Dabei ist es so, dass jede Einzelregulierung für sich
genommen hinnehmbar erscheinen kann. In der Summe
aber - das ist das Fatale - fesseln und knebeln diese Regulierungen unser Land in einer Weise, wie es Gulliver
im Land der Zwerge ergangen ist.
({3})
Viele kleine Fesseln hielten ihn am Boden und lähmten
seine Kräfte.
({4})
Um wieder auf die Beine zu kommen, musste jede einzelne Fessel gekappt werden. Dies gilt im übertragenen
Sinne auch für die bürokratische Überregulierung der
deutschen Wirtschaft. Dabei kommt es stets dann zum
Schwur, wenn wie heute eine Fessel gekappt werden soll.
Um welche Fessel es sich handelt, will ich Ihnen kurz
erläutern. Es sind die Umsatzsteuervoranmeldungen; das
klingt vergleichsweise harmlos. Sie werden bisweilen
monatlich von den Betrieben erwartet, obwohl in Umsatzsteuergesetz im Grundsatz eine quartalsweise Regelung vorgesehen ist. Von dieser Quartalsregelung wird
aber stets dann abgewichen, wenn die Umsatzsteuerzahllast für das vorangegangene Kalenderjahr mehr als
6 163 Euro beträgt. Dies ist aber tatsächlich schon dann
der Fall, wenn Betriebe weniger als 50 000 Euro Jahresumsatz haben. Also sind viele Betriebe - auch die
kleinen - in diesem Land von dieser Regelung berührt.
Welch bürokratischer Aufwand dadurch entsteht, will
ich Ihnen exemplarisch darstellen. In der Regel wird in
der Buchhaltung des Unternehmens oder beim Steuerberater das Umsatzsteuervoranmeldeformular ausgedruckt,
geprüft, unterschrieben, verschickt, anschließend im Finanzamt geöffnet, geprüft, digital erfasst, abgeheftet und
dann per Einzugsermächtigung oder Überweisung der
Zahl- oder Erstattungsvorgang ausgelöst. Dies alles geschieht zwölfmal im Jahr plus der jährlichen Umsatzsteuererklärung.
Würden, wie in unserem Gesetzentwurf vorgesehen,
die Umsatzsteuervoranmeldungen nicht mehr monatlich,
sondern nur noch quartalsweise abgegeben, würde die
Zahl dieser Vorgänge - es sind zig Millionen im Jahr um zwei Drittel verringert und damit entsprechend der
Bürokratieaufwand in den Betrieben und in den Finanzämtern um zwei Drittel verkleinert.
({5})
Es handelt sich um eine der Fesseln, die wir schon
längst hätten kappen können. Denn bereits in der vergangenen Legislaturperiode lag ein entsprechender Gesetzentwurf vor, dem die Fraktionen der SPD, der Grünen
wie auch der PDS aus, wie ich meine, vorgeschobenen
Gründen nicht zugestimmt haben.
Die staatlichen Buchhalter dieser Welt werden möglicherweise auch jetzt wieder anmerken, dass es mittlerweile Verfahren gibt, die Umsatzsteuervoranmeldung
online abzuwickeln. Aber auch Onlineverfahren müssen von Unternehmen administriert und geprüft werden.
Auch Onlineverfahren verursachen Arbeitsaufwand und
Kosten. Mit einem Onlineverfahren einen überflüssigen
bürokratischen Vorgang zu vereinfachen macht diesen
noch lange nicht sinnvoll.
({6})
Ich erwarte - zumindest lässt das bisherige Verfahren
das erwarten -, dass die Etatisten unter Ihnen in der folgenden Diskussion auch das vermeintliche Missbrauchspotenzial einer derartigen Regelung in den Vordergrund stellen werden. Wer aber seinen Bürgern und
den Unternehmern misstraut und Kontrolle vor Freiheit
setzt, wird in Deutschland keine Dynamik entfalten.
({7})
Wir brauchen Freiheit, um die wirtschaftlichen Kräfte
zu entfesseln. Helfen Sie daher mit, dass dieser Gesetzentwurf in der parlamentarischen Beratung endlich die
notwendige Unterstützung bekommt! Es wäre ein Signal
an die Wirtschaft und an die Menschen im Lande, dass
wir es wirklich ernst meinen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Lydia Westrich von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Pinkwart, wir kommen jetzt von Ihrer
Ruck-Rede wieder auf den Boden des vorliegenden Gesetzentwurfs zurück. Lassen Sie uns also mit Ihrem kleinen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes beschäftigen, der die Abschaffung der
Verpflichtung zur Abgabe der monatlichen Umsatzsteuervoranmeldungen zum Inhalt hat und der nach Ihrer
Meinung zum Abbau der Bürokratie beitragen soll.
Meiner Beobachtung nach gehört er zu dem Sammelsurium aktionistischer Anträge und Gesetzentwürfe der
FDP, die keinen roten Faden erkennen lassen, sich in ihrer Wirkung teilweise widersprechen und das Land und
die Wirtschaft keineswegs voranbringen würden, wenn
wir ihnen zustimmen würden.
({0})
Bereits Anfang 2001 haben wir bekanntlich den vorliegenden Gesetzentwurf schon einmal abgelehnt, weil
er - das sollten Sie endlich zur Kenntnis nehmen - mit
großen Haushaltsrisiken verbunden ist. An dieser Stelle
zeigt sich wieder einmal beispielhaft die Doppelzüngigkeit der FDP. Einerseits reiten Sie im Finanzausschuss
stundenlang auf dem Stabilitätspakt herum und fordern
ein festes Bekenntnis dazu ein - als ob das notwendig
wäre -, andererseits verteilen Sie aber zumindest verbal
in Ihren Anträgen mit vollen Händen Geld, ohne auch
nur einen Blick auf die Grundsätze der Haushaltsklarheit
und Haushaltswahrheit zu verschwenden.
({1})
Bezeichnenderweise, Herr Meister, steht bei diesem
Gesetzentwurf unter dem Punkt „Kosten“: „Keine“. Die
Wahrheit ist: Schon bei der ersten Einbringung des Gesetzentwurfs wurde Ihnen vom Finanzministerium mitgeteilt, dass bei der Umsetzung des Gesetzentwurfs im
betreffenden Haushaltsjahr einmalig 15 Milliarden Euro
fehlen würden, nicht mitgerechnet die erheblichen Zinsverluste, die nicht einmalig wären, sondern jährlich wiederkehren würden.
Nächste Woche verabschieden wir einen Haushalt mit
vielen schmerzhaften Einschnitten in wichtigeren Bereichen. Aber er ist unter Einhaltung der Kriterien des
Stabilitätspaktes solide durchfinanziert. Wenn die Koalitionsfraktionen Ihrem Gesetzentwurf zustimmen würden, wären alle Bemühungen um einen sauber finanzierten Haushalt 2003 zunichte. Ich denke, so kann man mit
den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes nicht umgehen. Das käme dem Ausstellen ungedeckter Schecks
auf die Zukunft gleich.
({2})
Bei der Opposition ist von verantwortungsvoller Politik
keine Rede mehr. Das bedauere ich sehr. Die Umsatzsteuer ist eine der Haupteinnahmequellen des Staates.
Selbst die Kommunen, bei denen Sie den Verfall der
Einnahmebasis ständig beklagen, rechnen mit den konstanten Einnahmen aus der Umsatzsteuer. Ich dachte,
wir wären zusammen angetreten, den Missbrauch und
die Kriminalität gerade bei dieser Steuer sehr energisch
zu bekämpfen. Wenn es aber um die Bekämpfung von
Steuermissbrauch und Wirtschaftskriminalität geht,
dann stehen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition - das gilt nicht nur für die FDP, sondern auch
für die CDU/CSU -, wirklich nicht in der ersten Reihe.
({3})
Ich kann mich an keinen Antrag erinnern, den Sie dazu
gestellt haben, geschweige denn an einen, den Sie kämpferisch gleich mehrere Male eingebracht haben. Wenn
Sie das getan hätten, hätten wir vielleicht irgendwann
zugestimmt.
Der Bundesrechnungshof hat ausdrücklich die Abgabe monatlicher Umsatzsteuervoranmeldungen im
Kampf gegen die überbordende kriminelle Energie im
Umsatzsteuerbereich als wirksame Maßnahme empfohlen, und zwar generell. Wir halten trotzdem an der 1996
beschlossenen Regelung fest, wonach das Kalendervierteljahr der Regelvoranmeldungszeitraum ist, weil erstens
- hier bin ich mit Ihnen einer Meinung - mehr als
50 Prozent der Unternehmen, vor allem die kleineren,
von dieser Vereinfachung profitieren und weil zweitens
die meisten Unternehmen ehrliche Steuerzahler sind, die
wir nicht belasten wollen. Nur bei einer größeren Umsatzsteuerschuld müssen wir im Interesse der staatlichen
Einnahmen auf der monatlichen Abgabe der Voranmeldung an das Finanzamt bestehen. Das schulden wir allen
staatlichen Ebenen, also Bund, Länder und Kommunen.
Dafür erhalten die Unternehmen aber auch zeitnah ihren
Vorsteuerabzug für die getätigten Investitionen.
Das Schlimme an Ihrem Gesetzentwurf ist, dass Sie
die Notwendigkeit der regelmäßigen Einnahmen aus der
Umsatzsteuer genau kennen; denn sonst hätten Sie das
schon 1996, als Sie noch Regierungsverantwortung getragen haben, gemäß Ihrem heutigen Gesetzentwurf regeln können. Davon hätten die Unternehmen also nicht
erst 2001, sondern schon 1996 profitieren können. Aber
damals wollten Sie keine Haushaltsrisiken eingehen. Ich
denke, das ist kein gutes Politikverständnis.
({4})
Die Umsatzsteuervoranmeldung ist - das wissen Sie
selber - ein Nebenprodukt der Buchhaltung und ist in
den meisten Fällen per Knopfdruck abrufbar. Auch bei
den Finanzämtern - ich habe mich kundig gemacht läuft die Bearbeitung routiniert. Weder die Länder noch
Unternehmerverbände haben die von Ihnen gestellte
Forderung erhoben; denn auch sie sehen keinen Handlungsbedarf. Welche Vereinfachung eine Regelung bringen soll, wonach das Kalenderjahr in vier verschieden
lange Zeiträume - vier Monate, drei Monate, noch einmal drei Monate und dann zwei Monate - eingeteilt
wird, erschließt sich selbst jemandem nicht, der etwas
von Buchhaltung versteht.
Wir werden also wie vor zwei Jahren Ihren heute eingebrachten Gesetzentwurf ablehnen; denn er ist wenig
durchdacht, ohne Notwendigkeit und vor allem nicht
finanzierbar. Verantwortungslose Politik mit nicht kalkulierbaren Haushaltsrisiken ist mit uns nicht zu machen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Seiffert von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Steuerrecht in Deutschland ist unter der rotgrünen Regierung zu einem bürokratischen Monster verkommen.
({0})
Es ist zu einem Dickicht geworden, das selbst von den
Steuerfachleuten nicht mehr durchschaut werden kann,
allenfalls vielleicht von Ihnen von Rot-Grün. Gerechter
ist das Steuerrecht durch die von Ihnen zu verantwortenden Verkomplizierungen auch nicht geworden. Im Gegenteil: Was ist denn gerecht daran, dass große Unternehmen, die in Deutschland Milliardengewinne erzielen,
hier keine Steuern zahlen? Daran ist im Übrigen nicht
nur die Konjunktur schuld. Das ist auch Eichels „Leistung“.
Je komplizierter und undurchschaubarer das Steuerrecht ist, desto mehr Gestaltungsmöglichkeiten bietet es
den Steuerspezialisten der großen, weltweit tätigen Konzerne. Die kleinen und mittleren Unternehmen, die sich
genauso wenig wie der einfache Steuerzahler solche
Spezialisten und Gestaltungskünstler leisten können,
sind die Dummen. Gerade kleine und mittelständische
Betriebe liefern mit erheblichem bürokratischem Aufwand monatlich ihre Steuern ab.
Vor diesem Hintergrund ist der Gesetzentwurf, den
die FDP vorgelegt hat, nur zu verständlich. Die Abschaffung der Verpflichtung zur monatlichen Umsatzsteuervoranmeldung für Kleinbetriebe ist zumindest sehr überlegenswert; denn diese Voranmeldung, die den Charakter
einer „richtigen“ Steuererklärung mit allen finanziellen
und juristischen Folgen hat, verursacht sowohl für die
Finanzverwaltung als auch für die Kleinunternehmen einen ganz erheblichen bürokratischen Mehraufwand.
Insofern ist das Ziel des FDP-Entwurfs, nämlich im
Bereich der Umsatzsteuer für Kleinunternehmen ein
Stück Bürokratie abzubauen, durchaus wohlwollend zu
sehen. In den vergangenen Jahren war doch eine stetige
Zunahme der Bürokratie festzustellen. Dieser kaum
mehr zu bewältigende bürokratische Aufwand trägt ganz
erheblich zum schwachen Wirtschaftswachstum in diesem Lande bei. Es ist nur logisch, dass die Bürokratie
besonders die Innovation, die Beweglichkeit und auch
den unternehmerischen Mut des Mittelstandes einengt.
Statt sich überall einzumischen, sollte sich der Staat auf
seine Kernaufgaben konzentrieren und Bürgern und Unternehmen mehr Freiheit und Selbstverantwortung einräumen. Zumindest darin sollten wir uns in diesem
Hause einig sein.
({1})
Derzeit müssen Bürger und Unternehmen allein auf
Bundesebene 2 197 Gesetze mit 47 000 Einzelvorschriften sowie 3 131 Rechtsvorschriften mit fast 40 000 Einzelvorschriften befolgen. Wer also gesetzestreu sein will,
der muss sich allein auf Bundesebene mit 85 000 gesetzlichen Vorgaben auseinander setzen. Das ist übrigens
auch in der letzten Legislaturperiode nicht besser, sondern schlimmer geworden. Es waren fast 1 000 neue Gesetze und Rechtsvorschriften, die hinzugekommen sind.
Wenn Sie also von Bürokratieabbau reden - der Bundeskanzler wird dies ja morgen an dieser Stelle wieder
tun; „wir bauen Bürokratie ab“, wird er sagen -,
({2})
so ist dies purer Zynismus, Frau Kollegin.
({3})
Nach einer OECD-Studie liegt Deutschland in Sachen
regulatorische und administrative Hemmnisse unter
21 Staaten auf Platz 16. Das sagt doch eigentlich alles.
Das ist die Realität.
Die größten bürokratischen Dummheiten, die Sie in
der letzten Legislaturperiode gemacht haben, haben wir
noch alle im Ohr: das Scheinselbstständigkeitsgesetz, die
Neuregelung der 325-Euro-Jobs - mittlerweile haben Sie
das dank unserer tatkräftigen Hilfe wieder zurückgenommen, aber vier Jahre wurden die Menschen schikaniert -, die Mindestbesteuerung für Unternehmen, die
bis heute in der Praxis nicht anwendbar ist, die RiesterRente, deren guter Ansatz durch überzogene Bürokratie
wieder kaputtgemacht worden ist, das Betriebsverfassungsgesetz, Recht auf Teilzeit und schließlich die Bauabzugsteuer, bei der wir dummerweise auch noch mitgemacht haben.
({4})
In dieser Legislaturperiode machen Sie gerade so weiter. Das Steuervergünstigungsabbaugesetz schafft doch
nicht mehr Klarheit und mehr Durchschaubarkeit, sondern neue Bürokratie. Denken Sie doch nur an die Kontrollmitteilungen, die der Minister noch vor wenigen Tagen verteidigt hat!
({5})
Wir werden dieses Gesetz übrigens morgen im Bundesrat stoppen.
Wenn wir das Wachstum in Deutschland beschleunigen und damit die Möglichkeit für mehr Arbeitsplätze
schaffen wollen, dann sollten wir auf drei Prinzipien setzen: Freiheit, Eigenverantwortung und Subsidiarität.
({6})
Sie dagegen setzen auf mehr Staat, mehr Misstrauen und
mehr Kontrolle. Dieser Weg führt ins Elend. Die Flut
von Regelungen, Gesetzen und Vorschriften überfordert
Bürger, Unternehmen und Verwaltung gleichermaßen.
Deshalb muss das alles auf den Prüfstand.
Deshalb ist auch der FDP-Entwurf überlegenswert.
Gerade mittelständische und kleine Unternehmen würden sehr davon profitieren, wenn die monatliche Umsatzsteuervoranmeldung entfallen könnte. Mir scheint allerdings der Gedanke, die monatliche Voranmeldung für
alle Unternehmen wegfallen zu lassen, noch nicht ganz
zu Ende gedacht. Es sind nämlich zwei Faktoren zu bedenken. Das hat die Frau Kollegin richtig gesagt.
Erstens. Die Umsatzsteuer gehört zu den größten
Steuerquellen des Staates. Wenn die Vereinnahmung der
Umsatzsteuervorauszahlungen nur noch vierteljährlich
erfolgen kann, dann wird dies zwangsläufig bei Bund
und Ländern zu erheblichen Liquiditätsproblemen führen, zumindest vorübergehend.
({7})
Zweitens. Unternehmen mit Vorsteuerüberhängen,
also Umsatzsteuererstattungsansprüchen, können die
Umsatzsteuer folgerichtig dann auch nicht mehr monatlich, sondern nur noch vierteljährlich zurückbekommen.
({8})
Auch das würde mit Sicherheit für viele Liquiditätsprobleme bringen.
Wir sollten also den FDP-Entwurf im Ausschuss
sorgfältig beraten. Ich kann der rot-grünen Mehrheit nur
empfehlen, diesen Vorschlag nicht schon wieder nur deshalb abzulehnen, weil er von der Opposition kommt.
({9})
Dieses Verfahren, das Sie fünf Jahre praktiziert haben,
nämlich alles abzulehnen, was von dieser Seite kommt, ist
Deutschland im Übrigen verdammt schlecht bekommen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Seiffert, auch ich finde, dass wir alle in der Verantwortung stehen, für Bürokratieabbau zu sorgen.
({0})
Verantwortlich dafür sind aber eben nicht nur der Bund,
sondern auch die Länder, die Kommunen und vor allem
die Standesorganisationen, Stichwort Handwerksordnung. Man muss sich einmal anschauen, wie viel Bürokratie sich diese Organisationen selbst schaffen. Darüber
hinaus erwarten sie von der Politik, dass sie für eine
Vielzahl von bürokratischen Regeln sorgt, um bestimmte
Dinge zu organisieren und zu regulieren. Angesichts
dessen muss man sich schon fragen, ob es Sinn macht,
deren Forderung nach Bürokratieabbau wirklich ernst zu
nehmen.
Ich meine, wir alle müssen dafür sorgen, dass es in
diesem Land weniger Bürokratie gibt. Das von Ihnen genannten Beispiel der Bauabzugsteuer war keine Idee der
rot-grünen Bundesregierung, sondern eine Idee der Bauindustrie, die sie gemeinsam mit einigen CDU- bzw.
CSU-regierten Ländern entwickelt hat. Das muss man
hier der Klarheit halber einmal sagen.
({1})
Herr Pinkwart, leider ist es nicht so, dass die Verabschiedung dieses Entwurfs zu einer Win-Win-Situation
führen würde. Es wäre nämlich nicht so, dass dadurch
mehr Bürokratie abgebaut werden könnte und Unternehmen Finanzverwaltung zum Nulltarif bekämen. Mit anderen Worten: Es wäre nicht so, dass der Staat keine Probleme hätte und die Unternehmen bürokratisch entlastet
wären.
Die Realität - die Kollegin Westrich hat darauf schon
hingewiesen - ist wirklich anders. Die Umsetzung der
von Ihnen hier eingebrachten Überlegung wäre nicht
kostenfrei zu haben. Wenn wir Ihren Vorschlag ernst
nehmen und umsetzen würden, dann gäbe es im Haushalt ein Defizit von 15 Milliarden Euro, weil die entsprechenden Mittel erst 2004 und nicht 2003 in die öffentlichen Kassen fließen würden. Zusätzlich wäre der Jahr
für Jahr eintretende Zinsaufwuchs zu finanzieren. Das
würde letztendlich eine Verlagerung der Belastung in die
nächsten Rechnungsjahre bedeuten, die nicht akzeptabel
ist.
Da Sie immer wieder sagen, der Stabilitätspakt sei Ihnen wichtig - das gilt auch für die FDP - und es gelte,
ihn einzuhalten - die Umsetzung Ihrer Forderungen
würde zwar immer wieder das Gegenteil bedeuten; aber
das macht ja nichts -, möchte ich sogar so weit gehen, zu
behaupten, dass Ihr Vorschlag aus haushaltspolitischer
Sicht ein getarnter Anschlag auf die Maastricht-Kriterien ist,
({2})
der unsere Bemühungen, eine vernünftige Haushaltskonsolidierung vorzunehmen, wirklich völlig konterkariert.
Das wäre das Ergebnis der Realisierung Ihres Vorschlags.
Nach Abwägung der Vor- und der Nachteile möchte
ich Ihnen zwei Hauptgründe dafür nennen, die monatlichen Umsatzsteuervoranmeldungen nicht völlig abzuschaffen:
Erstens. Der Vorschlag der FDP konterkariert die gegenwärtigen Anstrengungen von Bund und Ländern, gegen den Umsatzsteuerbetrug durch kriminelle Organisationen verstärkt vorzugehen. Seit dem Jahr 2000 ist ein
ganzes Paket von Maßnahmen wirksam, mit dem wir die
Steuerhinterziehung bei der Umsatzsteuer eindämmen
wollen. In diesem Rahmen geben Unternehmensgründer
im Jahr der Gründung und im ersten Folgejahr, unabhängig von den tatsächlich erzielten Umsätzen, ihre Voranmeldungen monatlich ab. So kommen die Finanzämter
schneller an Informationen über neue Unternehmen. Auf
diese Weise können sie feststellen, ob es Karussellgeschäfte gibt. Diesbezüglich gab es in diesem Land Riesenprobleme. Wir haben damit angefangen, die mit Umsatzsteuerbetrug verbundenen Probleme, unter anderem
mit dieser Maßnahme, besser in den Griff zu bekommen.
Zweitens. Würden wir dem Vorschlag der FDP folgen,
würden Existenzgründern und Existenzgründerinnen
- Herr Seiffert hat es angedeutet - Liquiditätsnachteile
entstehen; denn sie könnten ihre Vorsteuerüberhänge erst
später entsprechend geltend machen, obwohl sie die Erstattung der Vorsteuer sehr oft als Anschubfinanzierung benötigen. Diese Regelung kann also Existenzgründern und
Existenzgründerinnen schaden. Auch das muss man sehen.
Abschließend möchte ich einen Punkt ansprechen, bei
dem ich schon ein wenig mit dem Kopf schütteln muss.
Wenn man sich den Gesetzentwurf unter handwerklichen
Gesichtspunkten anschaut, erkennt man, dass er wirklich
kein Meisterwerk ist. Er ist Pfusch. Frau Kollegin
Westrich hat das bereits gesagt und ich greife diese Formulierung gerne auf. Sie streichen § 18 Abs. 2 Satz 2 des Umsatzsteuergesetzes, beziehen sich aber im folgenden Satz
wieder auf diese Passage, die nach Ihrem Willen überhaupt
nicht mehr existieren soll. Das kann man nicht nachvollziehen. Man kann sich nur darüber wundern. Aber mit der
Zahl 18 hatten Sie ja schon immer ein Problem und das hat
sich in diesem Gesetzentwurf wieder gezeigt.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Stefan Müller von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf der FDP zur Abschaffung der
monatlichen Umsatzsteuervoranmeldung greift ein
Thema auf, das, wie ich meine, zu diskutieren durchaus
wert ist. In den anstehenden Beratungen im Finanzausschuss werden wir ausreichend Gelegenheit haben, darüber zu sprechen und zu diskutieren, ob es unter Berücksichtigung vieler Aspekte, die hier schon angesprochen
worden sind, Sinn macht, die geltende Rechtslage zu
verändern.
Frau Westrich, wenn Sie schon in der ersten Lesung
Ihre Ablehnung signalisieren, zeigt mir das, dass Sie an
einer ordentlichen Diskussion kein Interesse haben.
({0})
Im Übrigen gibt es auch im Bereich der Umsatzbesteuerung schon heute wesentliche Vereinfachungsvorschriften. Ich nenne als Beispiel die Umsatzsteuerpauschalierung, die eine wesentliche Verwaltungsvereinfachung bedeutet. Die Landwirte sparen sich dadurch
den Aufwand der monatlichen Umsatzsteuervoranmeldung und die Finanzverwaltung erspart sich die Prüfung
der Steuerbescheide und die Ausdehnung der Betriebsprüfung auf die Umsatzsteuer.
({1})
Umso weniger verständlich war für mich, dass Sie,
meine Damen und Herren von SPD und Grünen, in der
ursprünglichen Fassung des Steuervergünstigungsabbaugesetzes bei dieser Umsatzsteuerpauschalierung eine
Senkung von 9 auf 7 Prozent vorgesehen hatten. Dies
hätte nämlich zu einer deutlichen Mehrbelastung bei den
Steuerpflichtigen und bei den Steuerbehörden geführt.
({2})
Es hätte mit ziemlicher Sicherheit auch dazu geführt,
dass die betroffenen Landwirte die Pauschalierung abgewählt und zur Regelbesteuerung gewechselt hätten.
Aber, meine Damen und Herren von SPD und Grünen, zumindest in diesem Punkt haben Sie sich ausnahmsweise einmal nicht beratungsresistent gezeigt. Das
macht das ganze Gesetz jedoch noch lange nicht besser.
({3})
Der Gesetzentwurf der FDP bringt uns dankenswerterweise dazu, heute wieder einmal über das Thema
Bürokratieabbau im deutschen Steuerrecht und über
Steuervereinfachungen zu sprechen. Lassen Sie mich zunächst einmal eines feststellen: Wir von der CDU/CSU
werden jeden Vorschlag mittragen, der eine wesentliche
Vereinfachung bringt und tatsächlich zu einem Bürokratieabbau beiträgt. Es muss sich hierzulande die Erkenntnis durchsetzen, dass wir endlich Ernst machen müssen
mit dem Abbau einer erdrückenden Bürokratielast für
Private und Unternehmer. Seit Jahren und Jahrzehnten
wird hierzulande über den Bürokratieabbau diskutiert.
Trotz vielerlei Bemühungen sind Initiativen immer
Stefan Müller ({4})
wieder gescheitert und haben nicht zu dem gewünschten
Ergebnis geführt.
Der Kollege Seiffert hat es schon angesprochen: Es
gab auf Bundesebene bis Mitte des vergangenen Jahres
weit über 5 000 Gesetze und Rechtsverordnungen mit
nahezu 90 000 Einzelvorschriften. Dieses Dickicht an
Vorschriften ist schon heute bei weitem nicht mehr zu
übersehen. Gleiches gilt für das deutsche Steuerrecht.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, mit Lippenbekenntnissen allein ist es nun einmal nicht getan. Die
öffentlichen Äußerungen und plakativen Sprüche, die
wir von Ihnen immer wieder hören, stehen im Gegensatz
zu dem, was Sie in diesem Hause, soweit ich es nach einem halben Jahr beurteilen kann, auf den Weg gebracht
haben oder in Zukunft auf den Weg bringen wollen.
({5})
Die von Ihnen im Bundestag beschlossene Besteuerung von privaten Veräußerungsgewinnen führt weder
zum Abbau von Steuervergünstigungen noch zu einer
Steuervereinfachung.
({6})
- Vielen Dank für den Zwischenruf. Sie bringt Geld; genau da liegt der Hase im Pfeffer. Ihnen geht es schlicht
und ergreifend darum, Ihre fiskalischen Vorstellungen
voranzubringen. An einer Steuervereinfachung sind Sie
in keiner Weise interessiert.
({7})
Systematisch sind die privaten Veräußerungsgewinne
eine völlige Neuerung, die eine Reihe von Auslegungsund Vollzugsschwierigkeiten nach sich ziehen wird. Es
ist doch fraglich, ob wertvolle Teppiche und Antiquitäten, die sich im Gebrauch befinden, Gegenstände des
täglichen Gebrauchs sind oder nicht. Fraglich ist doch
auch, wie deren Veräußerung von der Finanzverwaltung
kontrolliert werden soll.
Nicht fraglich ist jedoch, dass das System der Kontrollmitteilungen, das Sie im Steuervergünstigungsabbaugesetz beschlossen haben und auch bei der Zinsabgeltungsteuer beabsichtigen einzuführen, zu einer
bürokratischen Belastung par excellence führen wird.
Umso unverständlicher ist es mir, dass wir im Zusammenhang mit der Zinsabgeltungsteuer wieder über die
Einführung von Kontrollmitteilungen diskutieren; ich
nehme an, das ist Ihr Lieblingsthema. Die Kontrollmitteilungen widersprechen an sich schon der Idee einer
Abgeltungsteuer. Ich hoffe, dass Herr Eichel dies auch
endlich einsieht; von der Bundesregierung hört man ja
fast tagtäglich andere und am laufenden Band auch widersprüchliche Meldungen.
Ich möchte noch einmal festhalten: Ein Kontrollmitteilungssystem für die Erfassung von Erträgen aus
Wertpapieren und Gewinnen wird bei geschätzten
300 Millionen Konten und 16 verschiedenen Datenverarbeitungssystemen schlicht und ergreifend nicht zu bewältigen sein. Die Pflicht zur Versendung von solchen
Mitteilungen der Banken an die Finanzämter wird die
Kreditinstitute in diesem Land mit einem meines Erachtens nicht zu rechtfertigenden bürokratischen Aufwand
und zusätzlich auch noch mit erheblichen Kosten belasten, Kosten, die letztendlich wohl an die Kunden weitergegeben werden. Auch die Banken gehen von einem
immensen Kosten- und Verwaltungsaufwand aus, insbesondere bei der Bereitstellung von neuen EDV-Systemen, die notwendig ist, um laufende Depotkontrollen,
die Sie vorsehen und die die Meldepflicht dann auch erforderlich machen würde, durchzuführen.
({8})
Die Banken sind schon heute zum verlängerten Arm des
Staates geworden. Kein anderer Wirtschaftszweig in diesem Land wird meines Erachtens so unverhältnismäßig
zur Klärung insbesondere auch steuerlicher Sachverhalte
herangezogen.
Bürokratieabbau im Steuerrecht kommt aber nicht nur
den Unternehmen zugute, sondern eben auch den Steuerbehörden und den Arbeitnehmern. Durch eine Vereinfachung ließen sich die Kosten bei allen Betroffenen deutlich senken. In diesem Sinne sind wir alle gehalten, dort,
wo es Sinn macht - auch im steuerlichen Bereich -, mit
dem Bürokratieabbau endlich Ernst zu machen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Pronold von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Immer, wenn ich die FDP von Bürokratieabbau reden höre, dann fällt mir meine gymnasiale Schulbildung
ein, und zwar Goethes Ausspruch: „Die Botschaft hör’
ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“
({0})
Dieser Gesetzentwurf, den Sie hier zum wiederholten
Male vorlegen, ist doch der beste Beweis, dass es Ihnen
mit dem Bürokratieabbau nicht besonders ernst ist;
denn die wortgleiche Wiedereinbringung Ihrer Initiative
hier bedeutet doch nicht den Abbau von Bürokratie, sondern die Schaffung von mehr Bürokratie. Zumindest die
Arbeit für die Bundestagsverwaltung nimmt dadurch einigermaßen zu.
({1})
Herr Müller, ich finde es schön, dass Sie hier gesagt
haben: Mit Lippenbekenntnissen allein ist es nicht getan.
Ich würde Ihnen empfehlen, dass Sie sich einmal in der
Frage des Bürokratieabbaus an Ihre Staatsregierung
wenden;
({2})
denn kein anderes Land hat so viele Gesetze, Verordnungen und Ausführungsbestimmungen wie das Bundesland
Bayern, keine Staatsregierung ist so groß, üppig und
überdimensioniert wie die in Bayern. Wenn Sie Ihre
Hausaufgaben gemacht haben und wieder hierher kommen, dann reden wir noch einmal über die Frage von
Lippenbekenntnissen.
({3})
Das Ansinnen der FDP ist aber auch inhaltlich abzulehnen. Hier wurden einige Beispiele von angeblichen
Einsparungen gebracht. Ich würde in diesem Zusammenhang gern von „Milchmädchenrechnung“ reden, aber
dann müsste ich mich bei den Milchmädchen entschuldigen, dass ich sie in die Nähe der FDP rücke; deswegen
will ich davon nicht sprechen.
Ich fand sehr interessant, Herr Pinkwart, dass Sie ein
Märchen als Beispiel angeführt haben, um hier die Frage
des Bürokratieabbaus zu dokumentieren. Vielleicht ist es
auch ein Märchen, dass Sie es mit dem Bürokratieabbau
ernst meinen; denn in Wirklichkeit haben Sie die Regelung, die Sie jetzt herausnehmen wollen, selber 1996 mit
in dieses Gesetz hineingestimmt. Es ist schon ein bisschen merkwürdig, wie Sie hier vorgehen.
({4})
Es wurden noch weitere Argumente von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern, auch von Herrn Meister aus
der CDU/CSU-Fraktion, angesprochen.
({5})
- Entschuldigung.
({6})
Es wurde die Relevanz der Umsatzsteuer aufgrund ihres
Volumens angesprochen und die Frage gestellt, welche
Steuerausfälle und Zinsausfälle zumindest vorübergehend eintreten würden, wenn man auf eine vierteljährliche Abrechnung umstellen würde. Auch die Bundesländer sind sich, zumindest bezogen auf das Jahr 2000,
einig, dass keinerlei Notwendigkeit besteht, von der jetzigen Regelung abzuweichen.
({7})
Letzter Punkt. Für mich ist entscheidend - das hat
auch die Kollegin Westrich angesprochen -, was der
Bundesrechnungshof zu der Frage der effektiveren
Umsatzsteuerkontrolle und zur Betrugsbekämpfung sowie zur Feststellung von Unregelmäßigkeiten im Falle
von Unternehmensneugründungen, die von monatlichen
Abgaben weitgehend ausgenommen sind, sagt. Manchmal habe ich bei der FDP den Verdacht, dass unter dem
Logo Bürokratieabbau ein Etikettenschwindel erfolgt.
Wo bei Ihnen Bürokratieabbau draufsteht, stecken sehr
oft Forderungen nach Maßnahmen dahinter, die Steuerhinterziehungen erleichtern können.
({8})
Deshalb wird die SPD auch diesmal den Antrag ablehnen.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/359 an den Finanzausschuss
vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung
von Kleinunternehmern und zur Verbesserung der
Unternehmensfinanzierung ({0})
- Drucksache 15/537 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Debatte eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für den Antragsteller hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Da ich beginnen darf, möchte ich Ihnen am Anfang
unser Kleinunternehmerförderungsgesetz kurz erläutern. Vorhin schimmerte durch, dass unsere Gesetze
kompliziert seien und keiner mehr die Steuergesetze verstehen würde.
({0})
Daher möchte ich Ihnen die neuen Regelungen kurz darlegen.
Ziel unseres Gesetzes ist - wie von Ihnen allen verlangt; wir haben es vorher schon erkannt und viel in dieser Richtung getan ({1})
der Bürokratieabbau. Das ist vor allen Dingen für
Kleinunternehmen sehr wünschenswert. Deswegen haben wir dieses Thema angepackt.
Schon in der Koalitionsvereinbarung haben wir festgestellt, dass der Mittelstand unnötige Bürokratie zu tragen hat;
({2})
die Eigenkapitalbasis vor allen Dingen bei Existenzgründern und Kleinunternehmen muss gestärkt werden. Das
ist ein Ziel, das wir mit diesem Gesetz erreichen werden.
({3})
Bürokratie - das wissen wir alle - ist in einem gewissen
Umfang notwendig und unerlässlich; aber zu viel ist
schädlich. Deswegen versuchen wir ein Mittelmaß zu
finden.
Die wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeit ist natürlich von den Rahmenbedingungen abhängig. Deshalb müssen wir schauen, dass wir die Rahmenbedingungen - in diesem Fall die Aufzeichnungs- und
Erklärungspflichten der Unternehmen - verbessern. Bei
kleinen Unternehmen ist es deswegen wünschenswert,
dass sie ihre Erklärungen dem Finanzamt gegenüber
ohne Steuerberater machen. Das ist erstens billiger und
zweitens weniger aufwendig. Deswegen werden in Zukunft die kleinen Unternehmen ihr Betriebsergebnis darlegen, ihre Entnahmen aufzeichnen und dann die Betriebsausgaben pauschal abziehen. Das bedeutet weniger
Aufzeichnungspflichten und ein vereinfachtes System,
in dem kein Steuerberater mehr notwendig ist.
({4})
Dieses erste Gesetzespaket ist ein Einstieg und soll an
unser Hartz-Konzept anschließen. Es soll vor allen Dingen Arbeitslose dazu ermutigen, sich mit einer Ich-AG
selbstständig zu machen. Dabei soll der Schutz der Sozialversicherung erhalten bleiben. Diese Vereinfachung
wird dazu führen, dass auch ganz normale Arbeitnehmer
in die Selbstständigkeit hineinfinden können.
Außerdem heben wir die Buchführungspflichtgrenzen an, was zur Folge hat, dass auch gewerbliche Unternehmen sowie Land- und Forstwirte nur eine Einkommensüberschussrechnung erstellen müssen, wenn sie
unter den vorgesehenen Grenzen bleiben. Wir haben
diese Grenzen massiv angehoben: die Umsatzgrenze von
bisher 260 000 Euro auf 350 000 Euro, die Wirtschaftswertgrenze von bisher 20 500 Euro auf 25 000 Euro und
die Gewinngrenze von bisher 25 000 auf 30 000 Euro.
Dies wird bei vielen Betrieben zu weniger Aufwand führen, weil sie keine Buchführung im bisherigen Sinne
vorhalten müssen. Freiberufler sind davon ohnehin befreit. Für die anderen bringt dies ebenfalls Vorteile.
Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir zum Zweiten
die Finanzausstattung der Unternehmen verbessern, indem wir auch in Deutschland das Instrument der Verbriefung einführen. In anderen Ländern ist es schon
heute üblich, dass Kreditinstitute ihre Liquidität verbessern, indem sie Kreditforderungen und damit verbundene Risiken verbriefen und mittels Zweckgesellschaften am Kapitalmarkt platzieren. Mit diesem Instrument
werden wir dafür sorgen, dass mehr Kapital für Unternehmen zur Verfügung steht, sich die Eigenkapitalbasis
der Banken verbessert und dadurch auch eine bessere
Refinanzierung der Unternehmen zu gewährleisten ist.
Damit werden wir den Nachteil beseitigen, dass diese
Zweckgesellschaften, sofern sie überhaupt vorhanden
waren, für die auf die Fremdmittel zu zahlenden Entgelte
Dauerschuldzinsen zahlen mussten. Dies wird künftig
nicht mehr der Fall sein. Indem sie wie Banken behandelt werden, werden diese Zweckgesellschaften zugunsten der kleinen Unternehmen und der gewerblichen Betriebe entscheidende Impulse auslösen können.
({5})
Umgehungs- und Missbrauchsmöglichkeiten, die wir
in der Steuergesetzgebung häufig zu erwarten haben,
werden wir dadurch vermeiden, dass der begünstigte Gewerbebetrieb nachweisen muss, dass die übertragenen
Forderungen oder Kreditrisiken den im Gesetzentwurf
genannten Anforderungen entsprechen. Das heißt, es
darf nur das Kapital angegeben werden, das ausgeliehen
wird; andere betriebliche Transaktionen werden in der
Form nicht berücksichtigt.
Das Ganze hat natürlich finanzielle Auswirkungen.
Wenn wir Kleinunternehmen fördern wollen, geht es
nicht ohne Geld. Im Jahr 2003 wird der Bund Steuermindereinnahmen in Höhe von 264 Millionen Euro zu verzeichnen haben; bis zum Jahr 2006 wird sich dies auf bis
zu 390 Millionen Euro aufbauen. Das sollte uns dies
aber wert sein; denn wir wollen im Rahmen unseres
Hartz-Konzepts die kleinen Unternehmen fördern und
ihnen helfen, nach und nach zu größeren Unternehmen
zu werden. Diese Förderung des Mittelstands dürfte in
unser aller Interesse sein.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Michelbach von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt keinen Zweifel, die verfehlte Wirtschafts- und
Finanzpolitik von Rot-Grün hat uns in die schwerste
Strukturkrise seit Jahrzehnten geführt. Wie sind die Ergebnisse nach 142 Tagen der zweiten Schröder-Regierung? An jedem dieser 142 Tage sind 100 Unternehmen
pleite gegangen; in diesem kurzen Zeitraum wurden fast
15 000 Existenzen vernichtet, so viele wie noch nie.
Damit hat die Schröder-Regierung das Vertrauen des
Mittelstandes gänzlich verspielt. Angesichts dessen hilft
auch keine neue Ankündigungswelle mehr. Vertrauen
und Glaubwürdigkeit sind weg. Es nützt dann auch
nichts, wenn Sie immer wieder neue Programme auflegen.
({0})
An jedem dieser 142 Tage sind 6 000 Menschen arbeitslos geworden. Am Ende dieser 142 Tage waren es
Hunderttausende mehr als im Oktober 2002. Das ist natürlich eine so negative Bilanz in der Wirtschafts- und
Finanzpolitik, wie wir sie noch nicht hatten.
({1})
Rot-Grün hat darauf bisher nur eine Antwort: eine neue
Welle von Steuererhöhungen und immer neue Flickschusterei mit Einzelgesetzen statt eine zielführende Gesamtkonzeption für den Mittelstand. Wenn Sie Vertrauen
gewinnen wollen, dann müssen Sie mit einem Gesamtansatz, mit einer ordnungspolitischen Leitlinie vorgehen und dürfen nicht mit immer neuen Programmen
und einer Programmvielfalt kommen. Ich erinnere an Ihre
Programmwut und die vielen nutzlosen großen Ankündigungen, die wir in diesem Hohen Hause schon gehört haben. Ich zähle einmal auf: JUMP-Programm - Fehlanzeige -,
({2})
Job-AQTIV-Programm - Fehlanzeige; fünf Millionen
Arbeitslose -, Ich-AG-Programm, die Wunderwaffe,
„Kapital für Arbeit“-Programm, „Masterplan Bürokratieabbau“-Programm, Förderbankneustrukturierungsprogramm. Morgen werden wir sicherlich in großen Tönen
von dem Bundeskanzler-Kreditprogramm hören.
Heute geht es um die neue Programmwunderwaffe,
das Kleinunternehmerförderungsgesetz, das weit hinter
den Notwendigkeiten für den Mittelstand zurückbleibt.
({3})
Damit können wir sicherlich Entbürokratisierung erreichen, aber auch hierbei gibt es wieder Halbherzigkeit
und insbesondere Etikettenschwindel.
Das alles ist ein praxisfernes Nullsummenspiel für
den Mittelstand. Herr Clement macht gewissermaßen jeden Tag neue Lockvogelangebote, aber es gibt keinen
neuen Umsatz beim Mittelstand. Neue Lockvogelangebote, aber nichts dahinter! Für den Mittelständler zählt
aber nun einmal, wenn er etwas in der Kasse hat. Nur
dann kann er seine Mitarbeiter bezahlen.
({4})
Von diesen undurchdachten Ankündigungsprogrammen und Scheinreformen von Rot-Grün hat der Mittelstand wirklich genug. Machen Sie einen Kurswechsel!
Wir brauchen den Kurswechsel. Kreativ und zielführend
sind Sie bisher immer nur bei der Etikettierung. Nirgendwo ein Gesamtkonzept, nur Etikettenschwindel, nur
Halbherzigkeiten und Unzulänglichkeiten!
Mit dem Entwurf eines Kleinunternehmerförderungsgesetzes werden - wir haben es gerade gehört - weder
wesentliche Investitionsanreize noch Arbeitsplätze noch
Wachstum in ausreichendem Maß geschaffen. Der Mittelstand braucht zielführende Reformen statt immer
mehr fragwürdiger Programme. Rot-Grün hat in der
Wirtschafts- und Finanzpolitik keinen Ansatz, keine Gesamtkonzeption, keine steuerrechtlichen Prinzipien,
keine ordnungspolitische Leitlinie. Statt ein Gesamtkonzept für mehr Wachstum und Beschäftigung vorzulegen,
streuen Sie mit dem Entwurf eines Kleinunternehmerförderungsgesetzes den Bürgern sowie natürlich auch denen, die an eine neue Existenz als Existenzgründer
glauben, Sand in die Augen. Sie haben schon wieder einen großen Fehler gemacht, indem Sie bei den Existenzgründern Glaubwürdigkeit verlieren. Sie schaffen kein
Vertrauen. Das ist das große Problem, das ich auch bei
diesem Gesetzentwurf sehe.
Auf der einen Seite will sich Rot-Grün für dieses neue
Gesetz, das eine Entlastung von sage und schreibe
30 Millionen Euro für Kleinunternehmer vorsieht, geradezu feiern lassen; auf der anderen Seite wollen SPD
und Grüne mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz, das morgen im Bundesrat zur Abstimmung steht,
bei Bürgern und Unternehmen fast 16 Milliarden Euro
abkassieren. Das merkt man doch: 30 Millionen und
16 Milliarden, das passt wirklich nicht zusammen. Für
wie dumm halten Sie den Mittelstand eigentlich? Der
kann doch 30 Millionen und 16 Milliarden Euro deutlich
unterscheiden. Damit entspricht die angekündigte Entlastung nicht einmal 2 Prozent des Volumens des Steuervergünstigungsabbaugesetzes.
Wenn es um das vorliegende Gesetz geht, müssen Sie
sich auch Beispiele anschauen, die aufgrund dieser Bestimmungen gebildet werden.
Beispiel eins. Im Hinblick auf die Betriebsausgabenpauschalierung sollten Sie sich einmal fragen, wie viele
Selbstständige überhaupt eine Umsatzrendite von
50 Prozent aufweisen.
({5})
Ehrlich gesagt, ich kenne niemanden. Meine Damen und
Herren von Rot-Grün, ich sage Ihnen: 99,99 Prozent aller mittelständischen Unternehmen weisen nach meinem
Dafürhalten nur eine Umsatzrendite von 1 bis 10 Prozent
aus. Wo sollen denn da die 50 Prozent herkommen, die
Sie als Parameter ansetzen? Wie kommen Sie eigentlich
dazu, dass ein Selbstständiger 50 Prozent Gewinn hat?
Sie haben nicht die geringste Ahnung davon, wie es in
der mittelständischen Wirtschaft bzw. bei einem Mittelständler zugeht. Deswegen ist Ihr Ansatz völlig verfehlt.
Beispiel zwei: Fraglich ist auch, wie der pauschale
Betriebsausgabenabzug zu einem Abbau von Bürokratie führen soll. Bei einem Teil der Gewerbetreibenden
besteht schon heute keine Buchführungspflicht. Diese
sind lediglich verpflichtet, den Überschuss der Einnahmen gegenüber den Ausgaben aufzuschreiben. Das kann
zur Not handschriftlich auf einem Blatt Papier erfolgen.
Die Grenze, ab der eine Pflicht zur Buchführung besteht,
müsste, wenn Sie wirklich eine Entbürokratisierung auf
breiter Front wollen, bei einem Umsatz von mindestens
500 000 Euro und einem Gewinn von 50 000 Euro festgelegt werden. Wenn Sie in diesem Zusammenhang 30,
25 oder 20 Prozent der Mittelständler erfassen wollen
und nicht nur 0,1 Prozent, dann müssen Sie springen und
für den Mittelstand etwas tun. Sie dürfen also nicht nur
den Teller mit der Wurst zeigen und diesen dann sofort
zurückziehen und schließlich Überregulierungen und
weiteren Unsinn schaffen.
({6})
Man erkennt: Aufgrund zu niedriger Schwellenwerte
gibt es für die größte Zahl der Mittelstandsunternehmen
weder den hoch gepriesenen Entbürokratisierungs- noch
einen Vereinfachungseffekt.
Beispiel drei: Der Umsatzschwellenwert von
17 500 Euro pro Jahr müsste auf 50 000 Euro erhöht werden, sollte das Gesetz einen Sinn machen. Nach Einschätzung der Bundesregierung verursacht die geplante Neuregelung Steuerausfälle von etwa 30 Millionen Euro.
Angesichts eines so geringen Finanzvolumens scheint die
Bundesregierung wohl nicht an ernsthaften Reformen interessiert zu sein. Angesichts der Tatsache, dass Sie
Kleinunternehmern bis zu einem Umsatzschwellenwert
von 17 500 Euro Versprechungen machen, muss ich Sie
fragen: Denken Sie inzwischen bei den Wörtern „Kleinunternehmer“ bzw. „Mittelständler“ an Almosenempfänger? Es ist doch eine Schande, wenn einem Existenzgründer aufgrund dieses Gesetzes gesagt wird, er sei zwar ein
Kleinunternehmer, aber sein Umsatz dürfe 17 500 Euro
nicht übersteigen, damit er Ihrem Gesetz zur Entbürokratisierung gerecht werden kann. Das sind doch Widersprüche, die deutlich gemacht werden müssen.
Es ist Zeit für einen klaren Kurswechsel. Wir von der
Union wollen diesen Kurswechsel erzwingen. Dazu wird
eine nationale Kraftanstrengung der ökonomischen Vernunft benötigt. Dazu braucht es insbesondere eine klare
Mittelstandspolitik mit einem Gesamtkonzept und nicht
Ihre Programmwut. Es liegt zwar ein Ansatz in die richtige Richtung vor; aber er bedeutet wieder nur Halbherzigkeit für den Mittelstand. Das werfen wir Ihnen bei
diesem Gesetzentwurf vor.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hubert Ulrich vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sprechen heute in erster Lesung über den
Entwurf eines Kleinunternehmerförderungsgesetzes.
Der Hintergrund für diese Maßnahme ist die schlichte
Notwendigkeit, zum einen im Rahmen der Maßnahme
der Ich-AG und all dessen, was damit zusammenhängt,
Existenzgründungen in Deutschland und zum anderen
den bestehenden Klein- und vor allen Dingen Kleinstbetrieben das Bestehen auf dem Markt zu erleichtern. Das
Kleinunternehmerförderungsgesetz basiert auf der bereits bestehenden Kleinunternehmerregelung. Es ist eine
Weiterführung bzw. - auch das kann man sagen - eine
Verbesserung.
Herr Michelbach, Sie haben gerade einige Zahlen genannt. Wenn Sie sich das, was zwischen der SPD und
den Grünen vereinbart worden ist, genauer anschauen
würden, dann wüssten Sie, dass wir im nächsten Jahr mit
den 35 000 Euro, die wir bereits vereinbart haben, von
dem, was Sie gerade gefordert haben, nämlich einen
Schwellenwert von 50 000 Euro, gar nicht so weit entfernt sein werden. Wir bewegen uns also in genau diese
Richtung und erfüllen an dieser Stelle somit auch Ihre
Forderungen.
Das Kleinunternehmerförderungsgesetz ist ein weiterer Meilenstein in den Bemühungen, die Rahmenbedingungen der kleinen und mittelgroßen Betriebe in
Deutschland zu verbessern. Dies ist ja nicht die erste
Maßnahme, die die rot-grüne Bundesregierung durchführt. Ich darf an eine wichtige Maßnahme dieser Bundesregierung aus der letzten Wahlperiode erinnern: die
Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer bei Personengesellschaften.
Dies war, gerade für dieses Segment von Unternehmerinnen und Unternehmern, ein großer Wurf. Sie war
eine Verbesserung für das Heer von Personengesellschaften gegenüber den Kapitalgesellschaften. Auch darf
man nicht die beiden wirklich großen Bemühungen und
Erfolge dieser Bundesregierung aus der letzten Wahlperiode vergessen. Dies war das bisher größte Förderprogramm für den Mittelstand, das in Deutschland durchgeführt wurde: die große Steuerreform.
({0})
- Ja, Herr Schauerte, wenn Sie sich an den Kopf fassen,
dann muss ich Sie wohl einmal an Ihre Steuersätze aus
dem Jahre 1998 erinnern: Sie waren bei einem Spitzensteuersatz von 53 Prozent. Wir sind bei 48,5 Prozent.
Der Eingangssteuersatz lag bei 26 Prozent, heute liegt er
bei 19,9 Prozent. Wir werden den Eingangssteuersatz auf
15 Prozent und den Spitzensteuersatz auf 42 Prozent
senken. Das ist eine wirkliche Steuerreform, die unterm
Strich bis zum Jahre 2006 zu einer Steuerersparnis in
Höhe von 62 Milliarden Euro führen wird.
({1})
Das ist eine Leistung, die die frühere liberal-konservative Koalition nie zu Wege gebracht hat.
({2})
Heute geht es auch um Bürokratieabbau. Auch hier
muss ich mir zunächst einmal folgende Frage stellen:
Wer hat denn die ganze Bürokratie, mit der wir uns heute
herumschlagen, aufgebaut?
({3})
Es war doch 16 Jahre lang die CDU und sage und
schreibe 29 Jahre lang die FDP! Heute tut die FDP so,
als hätte sie damit überhaupt nichts zu tun und als sei sie
die Wirtschaftspartei, die Bürokratie abbaut. Sie haben
sie aber aufgebaut. Wir können den Schutt jetzt wieder
wegräumen. So sieht es doch real aus.
({4})
An dieser Stelle muss ich einmal ein Lob für Bundeswirtschaftsminister Clement loswerden.
({5})
- Herr Clement hat nichts getan? Er setzt an genau dem
Segment unserer Wirtschaft an, an dem man ansetzen
muss und in dem sich 70 Prozent unserer Arbeitsplätze
befinden: im Mittelstand.
({6})
Dort versucht er - er tut dies gegen große Widerstände,
was man an dieser Stelle auch einmal honorieren sollte -,
Maßnahmen durchzusetzen, die Sie, meine Damen und
Herren von der Opposition, in Ihrer eigenen Regierungszeit nie durchgesetzt hätten, und er wird es auch schaffen.
({7})
Ich möchte jetzt gar nicht auf alle Einzelheiten eingehen,
da ich dafür nicht genug Zeit habe.
Das Kleinunternehmerförderungsgesetz setzt an zwei
zentralen Punkten an. Der erste Punkt ist der Bürokratieabbau. Ich möchte jetzt nicht noch einmal auf die Einzelheiten eingehen, da sie bereits dargestellt wurden. Der
zweite wichtige Punkt ist die Verbesserung von Kreditmöglichkeiten. Die Verbriefung, die jetzt von der rotgrünen Koalition umgesetzt wird, ist, gerade mit Blick
auf Basel II und die damit zusammenhängenden Kreditschwierigkeiten der kleinen und mittelgroßen Betriebe,
ein sehr wichtiger und richtiger Schritt.
Was ich allerdings - das sage ich ganz offen - an dieser Stelle nicht verstehen kann, ist der Widerstand der
CDU und insbesondere der Widerstand des Herrn Merz.
Der Presse habe ich entnommen, dass sich Herr Merz
über diese Maßnahme ein bisschen lustig macht, indem
er sagt, dass sie nichts bringen wird, da sie nur für die
ganz kleinen Betriebe gelten wird. Aber diese Verniedlichung verdeutlicht ja die Denkweise des Herrn Merz
oder vielleicht sogar das fehlende Gefühl für die Kleinbetriebe. Man muss sich einfach klar machen: Aus
Kleinbetrieben werden, zumindest teilweise, irgendwann
einmal Großbetriebe.
({8})
Wenn ich das nicht einsehe und diese Betriebe nicht fördere, dann habe ich in dieser Wirtschaft einiges nicht
verstanden.
Aber das „Handelsblatt“ vom 20. Januar dieses Jahres
hat, glaube ich, über die Wirtschaftskompetenz des
Herrn Merz und der gesamten CDU/CSU-Fraktion ein
gutes und treffendes Urteil abgegeben. Im „Handelsblatt“ hieß es nämlich, dass im Jahre 2003 ein neuer Insolvenzrekord Deutschland erschüttern werde. Doch
eine Megapleite werde in den Statistiken fehlen: der
wirtschaftspolitische Bankrott der CDU/CSU. Diese
Aussage trifft den Nagel auf den Kopf.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Carl-Ludwig Thiele
von der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Herr Ulrich, ich glaube
schon, dass die derzeitige wirtschaftliche Situation nicht
ausschließlich auf das Verhalten von Herrn Merz zurückzuführen sein kann, denn noch ist die Regierungsverantwortung nicht übernommen. Noch liegt sie bei Ihnen
und das war bedauerlicherweise in den letzten vier Jahren auch schon der Fall. Das muss schnellstmöglich geändert werden, damit es mit unserem Land wieder aufwärts geht.
({0})
Mit diesem Gesetz setzt Rot-Grün die Flickschusterei
am deutschen Steuerrecht fort. Morgen will der Kanzler seine Regierungserklärung abgeben und einschneidende Reformen verkünden. Die Hoffnungen - das darf
man in diesem Zusammenhang nicht verkennen - auf
durchgreifende Reformen beziehen sich auch und gerade
auf die Steuerpolitik. Deshalb darf es gerade in der Steuerpolitik nicht mit einem Kleinklein weitergehen. Folglich ist dieses Gesetz ein viel zu kurzer Wurf.
({1})
Wir brauchen nicht zusätzliche steuerliche Ausnahmen und Sonderregelungen. Wir dürfen nicht in diesem
Kleinklein weitermachen. Wir brauchen einen größeren
Wurf, einen größeren Ansatz und eine Reform, die den
Namen Steuerreform tatsächlich verdient. Die Steigerung in der Steuerpolitik lautet doch: kompliziert, komplizierter, rot-grün.
Mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz haben Sie
das Vertrauen der Bürger in eine planbare und verlässliche Steuerpolitik grundlegend und nachhaltig geschädigt. Wir brauchen eine grundlegende Steuerreform und
deshalb setzt sich die FDP nach wie vor für ein einfacheres und gerechteres Steuersystem mit weniger Ausnahmen und erheblicher Senkung der Steuersätze ein. Nach
Vorstellung der FDP soll es nur noch eine Einkunftsart
geben. Der Eingangssteuersatz soll 15 Prozent betragen,
dann folgen 25 Prozent und der Spitzensteuersatz von
35 Prozent.
Am Tag vor der vom Bundeskanzler selbst so apostrophierten Ruckrede, von der ein Aufbruchsignal für unser
Land ausgehen soll, erleben wir hier wieder klassische
klein-kleine Politik.
({2})
Es erstaunt schon sehr, dass einen Tag vor der Befassung
des Bundesrates mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz von Rot-Grün nunmehr ein neues Steuervergünstigungsgesetz vorgelegt wird, in dem neue Vergünstigungen enthalten sind. Wahrscheinlich werden diese
Vergünstigungen, sollten sie je Gesetz werden, in einem
nächsten Steuervergünstigungsabbaugesetz von Ihnen
wieder gestrichen.
({3})
Auf der einen Seite wollen Sie die Bürger und die Steuerpflichtigen durch das Steuervergünstigungsabbaugesetz mit mehr als 15 000 Millionen Euro pro Jahr zusätzlich belasten.
({4})
- 15 000 Millionen Euro, Frau Staatssekretärin, sind
15 Milliarden Euro.
({5})
-Nein, das war ein Verständnisfehler. - Auf der anderen
Seite versuchen Sie, mit diesem Gesetz öffentlich den
Eindruck zu erwecken, als käme nun endlich der steuerpolitische Durchbruch für kleine Unternehmen in unserem Lande. Das ist genauso, als wenn Sie auf einen
Bauernhof gehen und ein Schwein wegnehmen und anschließend derjenige, dem Sie vorher das Schwein genommen haben, noch Danke schön dafür sagen soll, dass
Sie ihm ein Kotelett zurückgeben. Das kann nicht funktionieren.
({6})
- Ja, aber es ist leider Ihre Politik, Frau Scheel. Insofern ist das leider gar kein Witz, sondern es ist die Realität. Es zeigt, wie Rot-Grün Steuerpolitik betreibt.
Diese Realität werden wir weiter kritisieren und wollen
wir verändern.
({7})
Die Steuerpflicht ist an dieser Stelle auch nicht das
erste Problem; denn die meisten Existenzgründer haben
zunächst erheblich mehr Kosten als Einnahmen. Insofern
bezweifle ich auch, dass der errechnete steuerliche Ausfall für Existenzgründer tatsächlich in der von Rot-Grün
vorgesehenen Größenordnung eintritt.
Man muss sich natürlich fragen: Nutzt dieses Gesetz
oder ist es lediglich weiße Salbe? Sind die Steuern tatsächlich das Problem oder ist es nicht vielmehr die Bürokratie? Wir brauchen Bürokratieabbau, dort muss angesetzt werden. Das würde den Existenzgründern
erheblich mehr helfen als dieses Gesetz.
({8})
Ihnen ist ja auch bewusst, dass Sie mit dieser neuen
steuerlichen Ausnahmebestimmung zu Missbrauch
förmlich einladen. Gleichzeitig mit der Schaffung dieser
steuerlichen Ausnahme erklären Sie, dass der Gesamtbetrag der Einkünfte 35 000 Euro und im Falle der Zusammenveranlagung 70 000 Euro nicht übersteigen soll. In
Ihrer Begründung weisen Sie zutreffend darauf hin, dass
die Begrenzung dazu dienen soll, unerwünschte Gestaltungen durch die Verlagerung von Einkünften zu vermeiden. Das wird Ihnen aber nur begrenzt gelingen, weil
hier wirklich ein Steuerschlupfloch geschaffen wird.
Sie werden noch erleben, wie Steuerfindige dieses
Schlupfloch nutzen werden.
({9})
Trotz des Versuchs, die Missbrauchsmöglichkeiten,
die sich natürlich durch diese neue Ausnahmeregelung
ergeben, wieder einzugrenzen, schaffen Sie genau das
Gegenteil dessen, was Sie an anderer Stelle fordern. Sie
verkomplizieren unser Steuerrecht, statt es zu vereinfachen. Auch an dieser Stelle doktern Sie ausschließlich an
Symptomen herum, anstatt eine mutige und klare Reform zu beschließen. Wir brauchen mehr Mut und eine
andere Denkweise der Regierung als die ausschließlich
fiskalische Sichtweise des Finanzministers.
Es ist kennzeichnend, dass Rot-Grün in der Debatte
zu diesem wie auch zum vorigen Tagesordnungspunkt
ausschließlich von einem Stabilitätspakt spricht. Es handelt sich aber um einen Stabilitäts- und Wachstumspakt.
({10})
Dass Sie mit Ihrer Politik das Wachstum in Deutschland
so abwürgen, ist ein Zeichen für Hoffnungslosigkeit.
Dem werden wir entschieden entgegentreten.
({11})
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für
die Bundesregierung zählt die Verbesserung der Förderung von Kleinunternehmern und Existenzgründern
zu den Prioritäten, um Wachstum und Beschäftigung zu
sichern und zu stärken. Mit diesem Gesetz leisten wir
dazu einen Beitrag, der - das sage ich besonders in Richtung der Opposition - nicht unterschätzt werden sollte.
Wir verbessern einerseits die Finanzierungsbedingungen, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen,
und stärken die Eigenkapitalbasis von Existenzgründern.
Andererseits bauen wir unnötige Bürokratie ab und sorgen für eine spürbare Vereinfachung des Steuerrechts.
Mit diesem Gesetz werden auch die ersten Teile des
von der Bundesregierung am 26. Februar dieses Jahres
beschlossenen Sofortprogramms zum Bürokratieabbau
umgesetzt. Die Bedeutung dieses Sofortprogramms
brauche ich eigentlich nicht zu betonen. Es wurde hier
mehrmals davon gesprochen, es müsse uns ein großer
Wurf gelingen. Ich weiß nicht, was genau man sich darunter vorstellen soll. Bei Hunden spricht man bei sieben
Welpen auf einmal von einem großen Wurf. Allerdings
muss auch bei einem solchen Wurf jeder dieser Welpen
für sich lebensfähig sein. So gibt es auch im Rahmen des
Sofortprogramms einzelne Projekte, die in dieses Programm hineinpassen. Dazu zählt auch das Programm
zum Bürokratieabbau.
Überflüssige Bürokratie beeinträchtigt gravierend die
Möglichkeit zur Entfaltung produktiver oder innovativer
Tätigkeiten. Umfang und Komplexität rechtlicher Regelungen sowie ihre häufigen Änderungen erschweren es
gerade den kleinen Unternehmen, den Überblick über
die vielfältigen Rechte und Pflichten zu behalten sowie
den damit verbundenen Anforderungen gerecht zu werden. Das Gleiche gilt in besonderem Maße für Existenzgründer, die ihre Aufmerksamkeit und Energie in der
Startphase ganz anderen Dingen widmen sollten und
wollen.
Deshalb ist die rasche Umsetzung unseres Sofortprogramms zum Bürokratieabbau so wichtig. Die Bürokratie
ist - darauf hat schon der Kollege Ulrich hingewiesen in der Bundesrepublik Deutschland schließlich nicht erst
in den letzten vier Jahren,
({0})
sondern über Jahrzehnte hinweg aufgebaut worden. Wir
haben über diese lange Zeit gemeinsam zu deren Aufbau
beigetragen, deswegen sollten Sie uns nun auch bei ihrem Abbau helfen. Es sollte sich niemand einen schlanken Fuß machen. Es darf niemand behaupten, auf der
Ebene von Bund und Ländern hätten nur bestimmte
Mehrheiten zum Aufbau beigetragen und andere Mehrheiten nicht.
Durch das Zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, in dem die ersten Teile des so genannten Hartz-Konzeptes umgesetzt werden, sollen
Existenzgründer besonders gefördert werden. Es wurden
deshalb durch Änderungen im Dritten, Vierten und
Sechsten Buch Sozialgesetzbuch gezielt Anreize geschaffen, durch die Arbeitslose verstärkt zur Gründung
selbstständiger Existenzen im Rahmen der so genannten
Ich-AG angeregt werden sollen. So wird der Übergang
in die Selbstständigkeit zeitlich befristet sozial flankiert,
indem die Gründerinnen und Gründer einer solchen IchAG in den Schutz der Sozialversicherung einbezogen
bleiben und Fördermittel bekommen. Zudem wird der
Schritt in die Selbstständigkeit durch den so genannten
Existenzgründungszuschuss gefördert.
Zur weiteren Förderung dieser neuen Form der
Selbstständigkeit sind darüber hinaus Vereinfachungen
des Steuerrechts erforderlich. Dazu haben wir heute Vorschläge vorgelegt. Nach den Empfehlungen der HartzKommission werden für die steuerliche Behandlung der
Ich-AG unkomplizierte, leicht zu handhabende Regelungen benötigt. So fühlen sich gerade Existenzgründer
vielfach dadurch belastet, dass nach den geltenden Bestimmungen des Steuerrechts bereits bei geringen Einnahmen bzw. Umsätzen umfassende Aufzeichnungsund Erklärungspflichten bestehen. Schon zur Erfüllung der elementaren Buchführungspflichten muss vielfach die Hilfe von Steuerberatern hinzugezogen werden.
Beim bisher geltenden Recht bezüglich der Buchführungspflichten haben wir in den letzten Jahren nichts geändert. Wir verändern es erst jetzt, und zwar zum Positiven. Die bisher bestehenden Regelungen sind auf Ihre
Verantwortung zurückzuführen. Durch sie entstehen
Kosten, die die zumeist ohnehin geringen Gewinne der
Existenzgründer zusätzlich schmälern.
Das gilt in gleichem Maße natürlich auch für eine
Vielzahl bereits bestehender Klein- und Kleinstunternehmen, für die deshalb ebenfalls ein Bedarf an Vereinfachungen besteht. Ich spreche hier ausdrücklich von
Klein- und Kleinstunternehmen und wende mich an den
gerade telefonierenden Kollegen Michelbach. Es geht
hier nicht um das, was wir im eigentlichen Sinne unter
Mittelstand verstehen. Der Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland ist groß und vielfältig; die Definitionen sind unterschiedlich. Es geht stattdessen um die
Gründung von Klein- und Kleinstunternehmen, aus denen, wie wir hoffen, mit unserer gemeinsamen Unterstützung größere Unternehmen werden können.
In dem Gesetzentwurf haben wir deshalb eine vereinfachte Gewinnermittlungsmöglichkeit für Existenzgründer und Kleinunternehmer verankert. Nach der Vereinfachungsregelung darf der Kleinunternehmer die
Hälfte seiner Betriebseinnahmen pauschal als Betriebsausgaben abziehen. Selbstverständlich gehen wir
dabei von der Annahme aus, dass dieser Kleinstunternehmer seinen Umsatz letztlich durch seine eigene Arbeitskraft und ohne weitere größere Kosten erzielt. Nur
dann ist das natürlich interessant. Sobald er Kosten in
größerem Umfang hat, ist er natürlich an Abschreibungen und am Vorsteuerabzug interessiert und wird selbstverständlich für die normale Besteuerung optieren.
Es geht um diejenigen - dies sage ich ein wenig
untechnisch -, die für sich allein herumpuzzeln und mit
der Arbeit beginnen, aus der, wie wir alle hoffen, einmal
mehr wird. Für die Zeit, in der sie damit beginnen, sich mit
ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten am Markt zu behaupten, wollen wir ihnen diese Erleichterung geben. Einen
größeren Anspruch verbinden wir damit ja gar nicht. Wir
sagen nicht, dass das eine Mittelstandsförderung ist. Das
hat niemand von uns behauptet. Es geht - ich sage es noch
einmal - darum, diejenigen, die allein aufgrund ihrer
Fähigkeiten und Fertigkeiten anfangen wollen, zu arbeiten, in der Anfangsphase von bürokratischen Hemmnissen zu befreien. Die vereinfachte Gewinnermittlung, bei
der pauschal angenommen wird, dass die Hälfte des Umsatzes Kosten sind, ist selbstverständlich eine große Erleichterung.
Das geht natürlich auch mit der Umsatzsteuerregelung, die im geltenden Recht eine Umsatzsteuerbefreiung bei einem Umsatz von bis zu 16 600 Euro vorsieht,
einher. Kollege Michelbach, daher kommt auch die
Grenze. Wir sprechen von 17 500 Euro und heben damit
die Grenze nach dem geltenden Recht etwas an. Das dürfen wir ohne die Genehmigung der EU. Wir dürfen aber
keine Umsatzsteuerbefreiung in jeder denkbaren Höhe
durchführen. Das müssten wir uns von der EU-Kommission genehmigen lassen.
Wirklich bürokratieentlastend und helfend ist das nur,
wenn die vereinfachte Gewinnermittlung mit der Umsatzsteuerfreiheit einhergeht. Deshalb orientieren wir
uns auch an den Freigrenzen im Umsatzsteuerrecht. Das
ist also nicht willkürlich. Eine richtige Bürokratieentlastung gibt es natürlich nur, wenn die Umsatzsteuer gar
nicht anfällt und die Einkommensbesteuerung sehr vereinfacht wird. Wir behaupten nicht, dass dies eine Mittelstandsförderung im engeren Sinne ist. Es geht darum,
diejenigen, die mit der Arbeit beginnen und mit ihren
eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten neu am Markt
sind, zu stärken. Das ist der entscheidende Punkt.
Es wird immer wieder gesagt, dass es in vielen Ländern der Welt eine sehr viel höhere Selbstständigenquote als in der Bundesrepublik Deutschland gibt. Das
liegt natürlich daran, dass der Maronenverkäufer oder
der Schuhputzer in Portugal als selbstständig gelten. Solche Tätigkeiten gibt es in der Bundesrepublik Deutschland gar nicht. Ich will jetzt nicht sagen, dass zukünftig
Maronenverkäufer oder Schuhputzer gefördert werden
sollen. Darum geht es mir wirklich nicht.
({1})
Wir werden aber mit diesen Ländern verglichen und uns
wird immer wieder vorgehalten, es gäbe dort eine höhere Selbstständigenquote als in der Bundesrepublik
Deutschland. Dabei vergisst man, zu erwähnen, dass es
sich dabei um Menschen handelt, die für sich alleine
eine nicht viel Geld bringende Tätigkeit ausüben und
gleichwohl als Selbstständige in der Statistik stehen auch in Südeuropa.
Ich will noch die Anhebung der Buchführungspflichtgrenzen erwähnen. Herr Kollege Michelbach, Sie
haben das eben kritisiert. Immerhin gehen wir von den
Grenzen aus, die Sie in Ihrer Gesetzgebungsverantwortung gesetzt haben. Wir heben sie an. Auch hier gibt es
eine Erleichterung.
Die Standardisierung der Einnahmenüberschussrechnung - das will ich noch sagen - ist von großer Bedeutung. Auch dies wird nicht nur den an der Wirtschaft
Beteiligten, sondern auch der Finanzverwaltung sehr
helfen.
Ein Wort noch zur Stärkung der Unternehmensfinanzierung: Wir schaffen eine Gewerbesteuererleichterung
im Bereich der so genannten Zweckgesellschaften, die
zum Beispiel eine Verbriefung von Krediten vornehmen. Das ist natürlich ein etwas anderes Feld, das nichts
mit der Kleinstunternehmensförderung im engeren Sinne
zu tun hat. Dies ist ein wirklich innovatives Instrument.
Das erwähne ich deshalb, weil Sie uns immer vorwerfen,
wir hätten keine Ideen, sondern würden immer nur auf
alten Pfaden wandeln. Bisher findet Verbriefung in der
Bundesrepublik Deutschland nicht statt, sondern kam
ausschließlich im Ausland zur Anwendung. Wir sorgen
dafür, dass die Zweckgesellschaften bei der Gewerbesteuer mit Banken gleichgestellt werden. Damit wird
Verbriefung zum ersten Mal in der Bundesrepublik
Deutschland stattfinden. Lediglich die Kreditanstalt für
Wiederaufbau hat mit diesem Instrument schon seit einigen Jahren Erfahrungen sammeln können.
Die Verbriefung führt zu einer Eigenkapitalstärkung
der in der Bundesrepublik Deutschland tätigen Banken
und infolgedessen zur Möglichkeit der Ausreichung weiterer Kredite. Dies wird dem Mittelstand in seiner Gesamtheit und nicht nur den Kleinstunternehmen zugute
kommen. Ich glaube nicht, dass die Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition diesen Gesetzentwurf ablehnen werden. Ich bin sicher, dass sie ihm zustimmen
werden.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Schauerte von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herzlichen Dank.
Ich möchte vorweg drei kurze Bemerkungen machen,
die sich insbesondere an Sie richten, Herr Ulrich. Erste
Bemerkung: Wenn Sie unsere Steuerreform, die im Prinzip richtig war, nicht blockiert hätten, dann hätten wir
vier Jahre früher eine Steuerreform mit vernünftigen
Steuersätzen gehabt und alles wäre deutlich besser.
({0})
Zweite Bemerkung: Da Sie von Größenordnungen geredet haben, möchte ich Sie daran erinnern, dass Sie es
mit Ihrer Regierungskunst fertig gebracht haben, in zwei
Jahren 50 Milliarden Euro an die Großkonzerne dieses
Landes zurückzugeben.
({1})
Damit haben Sie nahezu alle Haushalts- und Finanzplanungen zunichte gemacht. Eine solche Größenordnung
habe ich mir vorher nicht vorstellen können. Dies ist der
eigentliche steuerpolitische Skandal der zurückliegenden vier Jahre.
({2})
Dritte Bemerkung: Sie haben dafür geworben, Minister
Clement einmal zu loben. Ich kenne ihn aus NordrheinWestfalen sehr gut. Er galt als Mann der 100 Baustellen.
Freunde von ihm haben darauf hingewiesen, dass es kein
Richtfest gegeben hat. Kritiker behaupten, dass er bei seinen 100 Baustellen schon über das Schnurgerüst gestolpert ist. Sie werden erleben, dass er über Ankündigungen
im Wesentlichen nicht hinauskommt; denn den Beweis
des Gegenteils ist er bisher schuldig geblieben.
({3})
- Wer hat Ihnen denn das Hartz-Konzept nahe gebracht?
Es müsste eigentlich Karl-Josef-Laumann-Konzept heißen. Wo sind wir denn hier?
({4})
Das Einzige, was beim Hartz-Konzept funktioniert - wir
haben uns gerade die erste Zwischenbilanz von der Bundesanstalt für Arbeit zeigen lassen -, sind die Minijobs. Offensichtlich berechtigen diese Sie zu den schönsten Hoffnungen.
Ihr wärt doch kein Jota weitergekommen, wenn wir es euch
nicht vorgemacht hätten. Den Unsinn mit den 400-EuroMinijobs, dem vollen Sozialbeitragssatz auf Einkommen bis
800 Euro und das Scheinselbstständigengesetz habt ihr endlich wieder rückgängig gemacht. An dieser Stelle kann es
also besser werden. Herzlichen Glückwunsch!
({5})
Auf die aktuelle katastrophale Lage antworten Sie mit
diesem Programm. Wenn jemand Angst vor der Lösung
schwieriger Aufgaben hat, dann beschäftigt er sich mit
den kleinen Aufgaben. Genau das ist es, was Sie hier
machen. Sie trauen sich nicht an die wirklichen Fragen
heran, sondern doktern daher an relativ kleinen Wehwehchen herum, obwohl das ganze Wirtschaftshaus lichterloh brennt.
Sie kommen mir wie eine Feuerwehrtruppe vor, der es
angesichts eines brennenden Hauses mit viel Mühe gelungen ist, Frau Dr. Hendricks, ein Glas Wasser zu organisieren, um wenigstens den Eindruck des Löschens zu
erwecken. Mehr ist das, was Sie jetzt tun, nicht. Das hilft
aber nicht wirklich. Deswegen muss es jedoch nicht
falsch sein. Wenn der Hunger groß ist, dann hilft auch
ein Brotkrümel, aber er verbessert die Ernährungslage
nicht nachhaltig und grundsätzlich. Aus diesem Handeln
kann nichts werden.
({6})
Ihr Tun ist eher propagandistisch gemeint als in der Substanz wirklich hilfreich. Zudem ist es eine Beschäftigung
von Parlamentariern. Sie werfen uns den kleinstmöglichen Knochen hin, damit wir an ihm herumnagen. Aber
bei den wirklich notwendigen Aufgaben haben Sie die
Waffen gestreckt.
({7})
Es kann natürlich sein, dass morgen das Wunder von der
Spree passiert: Aus Schröder wird ein mutiger Visionär.
Bisher lässt Ihr Wirken aber nur eine bedauerliche Bilanz zu.
Zur Sache: Die Richtung ist in Ordnung, aber mit minimalem Bewegungsfortschritt. Wir werden über vieles reden können, zum Beispiel über die Größenordnungen. Ich
darf daran erinnern, dass die Ansätze bei der Umsatzsteuer
in der letzten Legislaturperiode schon deutlich waren. Wir
hatten in der letzten Legislaturperiode 40 000 Euro und
400 000 Euro beantragt, nicht 30 000 und 350 000 Euro,
wie Sie es jetzt machen. Insoweit haben wir schon in der
letzten Legislaturperiode die Richtung vorgegeben. Uns
scheinen diese Grenzen noch zu niedrig zu sein.
Ich sage Ihnen - damit bin ich im Prinzip schon am
Ende meiner Rede -: Dieses Programm wird kein Befreiungsschlag für den Mittelstand sein. Es wird kein
Ruck durch unser Land gehen, sondern es wird nur
tröpfchenweise dem einen oder anderen helfen können.
Im Übrigen ist das, was Hans Michelbach im Einzelnen
als Kritik vorgetragen hat, richtig.
Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung zum
Thema Banken und Mehrwertsteuerregelung für die Asset-Backed-Security-Finanzierung machen. Das ist eine
überfällige, notwendige Sache, die wir nur begrüßen
können. Das zeigt wieder einmal, dass wir in vielen Fällen inländische Produktionen nicht halten können, weil
unser Steuerrecht nicht so flexibel ist wie in den Ländern
um uns herum. Das ist also eine Hilfe.
Ich bin auch dankbar, dass wir von dem Weg ab sind,
dass allein die IKB das machen soll. Das ist eigentlich
nicht die zentrale Aufgabe der IKB, sondern das ist die
normale Aufgabe des deutschen Kreditgewerbes. Es
muss steuerlich in die Lage versetzt werden, dies unter
europäischen Wettbewerbsbedingungen zu organisieren.
Der Schritt kann also nur breite Zustimmung finden.
({8})
Je schneller das gelingt, umso besser; denn wir brauchen
im Mittelstand auch diese Art der Finanzierung.
Ich denke, wir werden im Bundesrat - das Ganze ist
ja zustimmungspflichtig - sorgfältig beraten. Wir werden über Einzelheiten und über Verbesserungen in der
einen oder anderen Struktur beraten. Es mag sein, dass
wir am Ende zustimmen werden. Ich kann das noch
nicht übersehen, weil wir nicht wissen, was Ihnen dazu
noch einfällt.
({9})
Eine gewisse positive Tendenz ist bei uns vorhanden.
Aber halten Sie den Ball bitte schön flach. Es ist ein Miniprogramm; das denkbar kleinste Programm zur Lösung eines erstaunlich großen Problems.
({10})
Wir werden uns nicht verweigern. Aber das ist allenfalls
ein zarter Hauch vom Anfang gründlicher Reformen, zu
denen Sie immer noch keinen Mut haben.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/537
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatzpunkt 4
auf:
14 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Johannes Singhammer, Karl-Josef Laumann,
Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Flächendeckende Versorgung mit Postdienstleistungen sicherstellen
- Drucksache 15/466 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Birgit Homburger, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wettbewerbsbedingungen bei Vertrieb von
Postdienstleistungen schaffen
- Drucksache 15/579 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Allerdings wollen eine Reihe von Kolleginnen und
Kollegen ihre Reden zu Protokoll geben. Es handelt sich
um die Kollegen Ulrich Kelber und Hubertus Heil von
der SPD-Fraktion und die Kollegin Michaele Hustedt
von Bündnis 90/Die Grünen1). Die Kollegen von CDU/
CSU und FDP wollen allerdings reden. Ich weiß nicht,
ob der Wunsch in Anbetracht der geringen Zuhörerzahl
immer noch besteht.
({2})
- Also, Sie bestehen darauf. Das ist Ihr gutes Recht.
Dann gebe ich das Wort als erstem Redner dem Kollegen Johannes Singhammer von der CDC/CSU-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieser Tagesordnungspunkt schließt nahtlos an den
vorhergehenden an. Wir wollen, dass 7 000 private mittelständische Postagenturen Existenzsicherheit erhalten
und dass vonseiten der Deutschen Post AG mit den privaten Postagenturbetreibern fair und partnerschaftlich umgegangen wird. Wir wollen, dass die Deutsche Post AG
als Privatunternehmen weiterhin Gewinn machen kann.
Wir wollen aber auch, dass die Menschen in Deutschland weiterhin flächendeckend mit Postdienstleistungen
versorgt werden.
Nun ist bekannt, dass derzeit viele Tausende Agenturbetreiber in großer Sorge sind. Bürgermeister und Landräte fürchten um die Postversorgung in Gemeinden und
Kreisen. Postagenturverträge werden in großem Umfang gekündigt. Innerhalb von zwei Wochen sollen sich
Postagenturbetreiber für einen geänderten Vertrag entscheiden.
({0})
Viele befürchten hinsichtlich der flächendeckenden Versorgung weiße Flecken auf der Landkarte.
({1})
Viele private Postagenturbetreiber empfinden die neuen
Vertragsbedingungen, die ihnen präsentiert werden, als
wesentlich ungünstiger. Viele Landräte und Bürgermeister befürchten deshalb, dass eine schlechtere Versorgung
droht.
Die größten wirtschaftlichen Einbußen erwarten die
einzelnen privaten Postagenturbetreiber durch folgende
Regelungen: Es soll eine Vergütungsreduktion um 25
bis 30 Prozent erfolgen. Die Kündigungsfristen der Verträge sollen von bisher zwölf und mehr Monaten auf maximal sechs Monate verkürzt werden. Damit geht eine
entsprechende Planungs- und Investitionsunsicherheit
einher.
Gravierende Änderungen drohen bei der Vergütungsstruktur. Künftig sollen 80 Prozent auf pauschale Vergütung und nur noch 20 Prozent auf einen leistungsbezogenen Anteil entfallen. Bisher war das Verhältnis exakt
umgekehrt.
Der Vorsitzende des Verbandes der Postagenturunternehmer, Herr Modery, rechnet im Schnitt nur noch mit
einem Stundenlohn von 4,50 Euro in diesen privaten
Agenturen. Die finanziellen Einbußen werden von der
Deutschen Post AG nicht bestritten. Von ihrer Seite heißt
es:
Die Grundvergütung hat sich als zu hoch erwiesen.
An die Stelle der transaktionsabhängigen Bezahlungen tritt nunmehr eine pauschale Vergütung für die
einfachen Serviceleistungen. Aus der Umstellung
resultiert insgesamt zunächst eine individuelle Absenkung der bisherigen Vergütung.
Wir befürchten nun, dass bei einem Drittel der privaten Postagenturen die bestehenden Verträge nicht mehr
verlängert werden, weil sie sich als nicht mehr rentabel
erweisen.
({2})1) Anlage 6
Unterstützt wird diese Befürchtung durch große Werbeanzeigen, mit denen die Post AG zusammen mit einer
Versandhauskette letztlich eine andere Vertragsgestaltung mit Verdienstmöglichkeiten von nur 400 Euro - das
entspricht den Minijobs, über die wir eben gesprochen
haben -, also auf einem niedrigeren Niveau, durchzusetzen versucht.
Das Postgesetz sieht in Verbindung mit der Post-Universaldienstleistungs-Verordnung, die die frühere Bundesregierung unter dem damaligen Postminister
Wolfgang Bötsch seinerzeit durchgesetzt hat
({3})
und die sich insgesamt als erfolgreich erwiesen hat, vor,
bundesweit mindestens 12 000 stationäre Einrichtungen
zu betreiben, von denen nach geltender Gesetzeslage bis
zum 31. Dezember 2007 mindestens 5 000 Einrichtungen mit unternehmenseigenem Personal betrieben werden müssen. Mindestens 7 000 private Partner müssen
gefunden werden, die die Postagenturen betreiben. Zudem haben wir festgelegt, dass eine lückenlose Flächendeckung zu gewährleisten ist.
({4})
- Wir haben die Rahmenbedingungen geschaffen.
Selbstverständlich kann die Deutsche Post AG im
Rahmen ihrer unternehmerischen Freiheit neue vertragliche Vereinbarungen eingehen. Das ist ihr gutes Recht.
Wir sind zwar für Vertragsfreiheit, aber wir wollen, dass
das Prinzip der Flächendeckung nicht gefährdet wird.
Jetzt kommen wir zu dem entscheidenden Punkt. Die
Bundesregierung als Mehrheitsaktionär der Deutschen Post AG muss zu ihrer politischen Verantwortung
stehen und ihren Einfluss als Eigentümer geltend machen.
({5})
Sie kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Wir
betonen in diesem Zusammenhang, dass es nicht darum
geht, plötzlich das Aktienrecht zu ändern und entsprechende Änderungen hinsichtlich des Einflusses der Eigentümer vorzunehmen. Die Bundesregierung steht aber
als Mehrheitsaktionär der Deutschen Post AG in der Verantwortung. Selbst Bundeswirtschaftsminister Wolfgang
Clement hat das in einem Schreiben an den bayerischen
Wirtschaftsminister vom 31. Januar dieses Jahres eingeräumt:
Im vorliegenden Fall müssen die Verträge jedoch so
gestaltet werden, dass die Deutsche Post AG ihre
rechtlichen Verpflichtungen einer flächendeckend
angemessenen und ausreichenden Versorgung mit
Postdienstleistungen auch erfüllen kann.
Damit hat er Recht und dafür verdient er Beifall.
({6})
Die Gewerkschaften, denen viele Kollegen der Opposition angehören, verlangen im Übrigen Ähnliches,
wenn auch in einem anderen Zusammenhang. Erst vor
wenigen Tagen, am 11. März dieses Jahres, empörte sich
die bei Verdi für den Bereich Post zuständige Gewerkschaftsfunktionärin, Frau Sigrud Schmid, dass der Bund
als Mehrheitsaktionär nicht darauf dränge, dass die Post
in Sachen Übernahme der Auszubildenden vorbildlich
agiere. Die Eigentümerverantwortung des Bundes kann
nicht je nach Laune wahrgenommen werden, sondern
muss konsequent für alle Geschäftsbereiche gelten.
({7})
Die Deutsche Post zu privatisieren war richtig. Wir
können stolz sein, dass die Deutsche Post AG ein erfolgreiches Unternehmen ist, das nach einem aktuellen
Bericht der EU-Kommission - er ist erst vor wenigen
Tagen erschienen - als Universaldienstleister im europäischen Bereich bei der Rentabilität an der Spitze liegt
und mit 2 038 Millionen Euro Gewinn im Jahr 2000 weit
vor allen anderen Postunternehmen in der Europäischen
Union lag.
Allerdings darf die Deutsche Post AG - jetzt kommt
die Verpflichtung, die sich daraus ergibt - ihre Monopolstellung nicht ausnutzen. Wir wollen, dass sie ihre
Verantwortung auch gegenüber den mittelständischen
Betrieben wahrnimmt und ihnen ein fairer und gerechter
Partner ist. Aktive Mittelstandsförderung in diesem Bereich heißt für uns ganz konkret, dass die 7 000 kleinen
und mittelständischen Postagenturen einen Anspruch haben, dass ihre Interessen auch auf der Eigentümerseite
der Deutschen Post AG vertreten werden. Deshalb hat
die Bundesregierung die Verpflichtung, dafür zu sorgen,
dass die Deutsche Post AG zu einem klaren Kurs
kommt, der sich an einer fairen und partnerschaftlichen
Geschäftspolitik orientiert.
({8})
Die Deutsche Post AG braucht angesichts ihrer starken Stellung auch einen starken Verhandlungspartner.
Ich meine - so steht es auch in unserem Antrag -, ein
solch starker Partner könnte beispielsweise der Verband
der Postagenturunternehmer oder der Hauptverband des
Deutschen Einzelhandels sein. Mit solchen Vertragspartnern kann die Deutsche Post AG auf gleicher Augenhöhe über die Vertragsmuster und die inhaltliche Ausgestaltung der neuen Verträge verhandeln. So wäre echte
Partnerschaft möglich. Wenn das alles nicht zur Durchsetzung des von uns festgelegten Flächendeckungsprinzips und der von mir skizzierten Forderungen führen
sollte, dann müssten als allerletzte Lösung Bußgelder
verhängt werden.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir wollen ein
Miteinander und kein Gegeneinander. Wir wollen eine
erfolgreiche Post und viele erfolgreiche mittelständische
Postagenturen. Wir haben unseren Antrag so konzipiert,
dass es eine gute Zukunft für alle Beteiligten gibt.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Funke von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ausgangspunkt unserer heutigen Debatte ist ja der überfallartige
Versuch der Deutschen Post AG, die bisherigen Agenturverträge, mit denen es eigentlich keine Probleme gab,
zulasten der zumeist mittelständischen und kleineren
Unternehmen zu verändern. Dieser Versuch findet seinen
Ausdruck in einem 39-seitigen Vertrag, den man den
Kleinunternehmen mit der Aufforderung übergeben hat:
Ihr müsst diesen Vertrag spätestens in zwei Wochen unterschrieben haben!
({0})
Dieses Vertragswerk trägt auch noch den schönen Titel
Partnervertrag.
({1})
Von partnerschaftlichen Verhältnissen kann überhaupt
keine Rede sein. Wenn Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, mit Ihren Partnern,
auf welchem Gebiet auch immer, so umgehen würden, wie die Deutsche Post AG mit ihren Agenturen
umgeht,
({2})
dann sind Sie bald in allen Lebensbereichen allein.
({3})
Genau das will offensichtlich die Post AG auch selber. Wir müssen auch befürchten, dass die Post AG diese
Politik umsetzt. Denn wenn man einseitig als Monopolist den Partner zu knebeln und in seiner wirtschaftlichen
Existenz niederzumachen versucht, dann wird man alsbald allein dastehen und die bisherigen Dienstleistungen
der Agenturen nicht mehr in Anspruch nehmen können.
Gerade da sind wir als Politiker gefragt, obwohl die
Post AG inzwischen privatisiert ist
({4})
und in der Rechtsform der Aktiengesellschaft an der
Börse notiert ist. In diesem Fall ist nämlich die Versorgung der Bevölkerung mit den Postdienstleistungen gefährdet,
({5})
und das zu einer Zeit, in der die Deutsche Post AG die
Zahl ihrer eigenen Filialen immer weiter zurückführt.
({6})
- Darf ich einmal Ihren Redefluss etwas unterbrechen,
Herr Kollege?
Herr Kollege Dreßen, würden Sie, wenn Sie schon
hier sind, dem Redner das Gehör schenken? - Vielen
Dank.
- Nicht nur das, er sollte auch nicht so laut reden, dass
man sein eigenes Wort nicht mehr versteht.
Hier zeigt sich, wie Recht die FDP damit hat, dass sie
seit Jahren fordert, dass das Briefpostmonopol der Deutschen Post AG aufgegeben werden muss.
({0})
Nur ein Monopolist wie die Deutsche Post AG kann
sich in so erdrückender Weise gegenüber den vermeintlich kleinen Vertragspartnern verhalten und Geschäftsbedingungen diktieren. Die Postagenturen werden, wenn
die Verträge umgesetzt werden, 25 bis 30, zum Teil sogar mehr Prozent ihrer Einkünfte verlieren und sie müssen dafür sogar noch mehr Dienstleistungen erbringen.
Nun wird man der FDP entgegenhalten wollen, dass die
Deutsche Post AG als privates Unternehmen jetzt dem
Aktiengesetz unterliegt und der Vorstand deshalb unternehmerisch und unabhängig handeln darf. Das ist richtig,
aber der Bund hat noch die Mehrheit am Unternehmen
und somit auch in Person des Herrn Wirtschaftsministers,
der immerhin durch seinen Parlamentarischen Staatssekretär vertreten ist - darüber freuen wir uns sehr -, über
die Regulierungsbehörde, über den Aufsichtsrat oder die
Hauptversammlung die Möglichkeit, doch Einfluss auf
das Unternehmen zu nehmen. Dieses ist auch notwendig.
({1})
Hier zeigt sich einmal mehr, dass es nicht allein darauf
ankommt, eine private Rechtsform zu schaffen, sondern
dass Privatisierung auch bedeuten muss, dass das Unternehmen voll dem Wettbewerb ausgesetzt wird. Privatisierung und Wettbewerb müssen Hand in Hand gehen.
Jetzt zeigt sich, dass es ein Fehler war, die von Anfang an bestehende Forderung der FDP auf Aufhebung
des Postmonopols abzuweisen und dieses Postmonopol
sogar noch bis zum Jahr 2007 zu verlängern, was Sie vor
kurzem getan haben.
({2})
Die Deutsche Post AG missbraucht ihre Marktmacht.
Deswegen ist es auch folgerichtig, dass das Bundeskartellamt im Wege seiner Missbrauchsaufsicht das Vertriebssystem der Post AG überprüft, damit der Eintritt
großer wirtschaftlicher Schäden zulasten der Postkunden
infolge monopolistischer Verhaltensweise vermieden
werden kann.
Die Bundesregierung sollte entweder über ihren Einfluss als Hauptaktionär oder über die Regulierungsbehörde darauf hinwirken, dass diese Knebelverträge zwischen der Deutschen Post AG und den Postagenturen bis
zum Abschluss der Prüfung durch das Kartellamt nicht
in Kraft treten.
({3})
Insoweit haben wir ausdrücklich auf unseren Antrag zu
verweisen, der sich etwas von dem CDU/CSU-Antrag
unterscheidet.
Meine Damen und Herren, die Zeit drängt. Die Regierung ist im Interesse der mittelständischen Wirtschaft
und der Postkunden aufgefordert, schnell zu handeln.
Bitte tun Sie endlich etwas für die Postkunden.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Börnsen von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen!
({0})
- Ich finde, dieser Anlass ist schon ernst genug, um verantwortungsvoll darüber zu diskutieren, wie sich die
Post in der Frage der Vertragsneugestaltung verhält.
Der bürgernahe Bundespräsident Walter Scheel hat
das Lied von der Post populär gemacht:
Hoch auf dem gelben Wagen
Sitz ich beim Schwager vorn.
Vorwärts die Rosse traben,
Lustig schmettert das Horn.
({1})
- Denen, die jetzt lachen, darf ich nur sagen: Wenn die
letzte Strophe kommt - auch die werde ich noch vortragen -, dann wird einigen das Lachen im Halse stecken
bleiben.
In einer optimistischen Aufbruchstimmung dürften
sich die 7500 Postagenturbetreiber befunden haben, die
dort, wo die Post ihr Filialnetz rigoros ausdünnte, den
Postdienst übernommen haben. Besonders im ländlichen
Raum wurde damit nicht nur ein Kahlschlag verhindert;
mit dem Einstieg der privaten Anbieter verbesserte sich
vielmehr auch der Service: längere Öffnungszeiten und
freundlichere Bedienung. Außerdem wurde und wird die
Möglichkeit von den Bürgern als Vorteil empfunden, die
Post dort zu erledigen, wo auch andere Dienstleistungen
in Anspruch genommen werden können.
Sicherlich war die Skepsis zu Beginn der neuen
Postepoche groß, Brief- und Paketdienste durch Fachfremde in Anspruch zu nehmen; doch die Akzeptanz
wuchs mit der Qualität der Agenturen. Auch wenn Senioren und Mitbürger ohne Auto im ländlichen Raum weitere Wege akzeptieren mussten, hat sich das weitmaschige Agentursystem bewährt.
({2})
Jetzt will es der Postvorstand offensichtlich zerschlagen, denn eine Reduzierung der Vergütung um 25 bis
35 Prozent raubt fast jeder zweiten Postagentur die Existenzgrundlage. Wie in frühkapitalistischen Zeiten presst
jetzt ein Staatsmonopolist die abhängigen Kleinunternehmen aus. Der Mittelstand wird wieder einmal getroffen. Mit rüden und rücksichtslosen Methoden ist die Post
dabei, Tabula rasa im Vertriebssystem zu machen. Dazu
sollte es nicht kommen.
({3})
Verantwortlich für diesen Schritt, der zusätzliche Arbeitslosigkeit und Existenzvernichtung bedeutet, ist der
Vorstand der Deutschen Post AG, dem unter anderem
Walter Scheuerle, Sozialdemokrat und Gewerkschaftsmitglied, angehört. Mitverantwortlich für die Verelendung einer ganzen Branche und für weniger Bürgerservice ist auch der Aufsichtsrat, in dem unter anderem
Herr Staatssekretär Manfred Overhaus einen wichtigen
Platz einnimmt.
Der Hauptverantwortliche für den „Anti-AgenturKurs“ ist jedoch die rot-grüne Bundesregierung mit Finanzminister Hans Eichel.
({4})
Sie ist der Mehrheitseigner. Hans Eichel ist der eigentliche Boss der Post. Er duldet, dass demnächst Tausende
von Postagenturen geschlossen werden. Er akzeptiert damit, dass die Post als Staatsmonopolist gegen sämtliche
Grundsätze der Marktwirtschaft verstößt. Sein fehlendes
Handeln hat dazu beigetragen, dass Brüssel wegen unerlaubter Quersubventionierung mit Strafgebühren bei
der Post eingreifen musste. 900 Millionen Euro mussten
zurückgezahlt werden. Jetzt sollen die Kleinunternehmen vor Ort für diese Strafgebühren aufkommen. Die
Post entpuppt sich als ganz dreister Riese.
({5})
Es sind Hans Eichel und Bundeskanzler Gerhard
Schröder gewesen, die 2001 die endgültige Privatisierung der Post verhinderten und sich für die Fortsetzung
des Staatsmonopols einsetzten. Ich wiederhole: Es ist die
rot-grüne Bundesregierung als Hauptaktionär, die die
Umsetzung der neuen Knebelverträge zulässt und Tausenden von mittelständischen Betrieben die Existenzgrundlage nimmt. Jedoch propagiert man gleichzeitig die
Neugründung von Unternehmen durch subventionierte
Ich-AGs. Fragwürdiger und widersprüchlicher kann eine
Wirtschaftspolitik wirklich nicht sein.
({6})
Alles Handeln unterliegt den Zielen, Global Player
Nummer eins bei den Postdienstleistungen und außerdem
Dividendenkönig zu werden. Es sieht ganz danach auch,
dass diese Strategie auf dem Rücken von Kleinunternehmern und Mitarbeitern umgesetzt werden soll. Vergessen
Sie nicht: Allein in den letzten zehn Jahren mussten
140 000 Postbedienstete entlassen werden. Das passiert,
wenn man Global Player Nummer eins werden will.
({7})
- Was haben Sie denn dagegen getan?
({8})
Wolfgang Börnsen ({9})
Deshalb sind unsere Forderungen: erstens Stopp aller Neuverträge, zweitens Anerkennung des Verbandes
der Postagenturbetreiber als eigentlichen Verhandlungspartner, drittens Vorlage eines zeitnahen Gutachtens über
die tatsächliche Lage der Agenturen, viertens eine weitere Sonderprüfung des Bundeskartellamtes zum Gebaren der Post, fünftens eine Garantie, dass es nicht im
kommenden Jahr eine neue Welle von Verträgen gibt.
({10})
Jetzt nimmt man den Agenturen die Luft zum Atmen.
Einige Postshops liegen schon jetzt im Minus.
Herr Kollege Börnsen, ich muss Sie jetzt einmal unterbrechen, weil der Kollege Kelber Ihnen gern eine
Zwischenfrage stellen möchte. Genehmigen Sie das?
Ich bin dazu nicht bereit, Herr Kelber.
({0})
Wissen Sie, weshalb? Die Reaktion Ihrer Kollegen ist
ganz typisch: Man lacht und freut sich bei diesem
Thema. Haben Sie in den letzten Wochen und Monaten
einmal die Agenturbetreiber besucht?
({1})
Wissen Sie, wie denen zumute ist?
({2})
Denen steht das Wasser bis zum Hals. 30 Prozent weniger Einkommen, weniger Dienstleistung für ihre Mitarbeiter - meinen Sie, darüber kann man noch lachen? Ich
schäme mich für die Leute, die sich darüber vergnügen.
({3})
Diese Friss-oder-stirb-Strategie kann man nicht dulden, gerade von Ihrer Seite nicht.
Die Dividende für die Aktionäre wurde auf 40 Cent
erhöht. Damit bekommt der Hauptanteilseigner, die Bundesregierung, satte 223 Millionen Euro in den Haushalt.
907 Millionen Euro musste die Post wegen unrechtmäßiger Quersubventionen an die Bundesregierung zurückzahlen. Damit erhielt Minister Eichel von der Post im
vergangenen Jahr 1,13 Milliarden Euro. Da kann man
schon mal ein Auge zudrücken, wenn die Post Stellen
streicht, Filialen auflöst und Agenturen und ihre mittelständischen Betreiber in den Ruin treibt - so ein bissiger
Pressekommentar. Wir stehen als Union an der Seite der
Opfer dieser neuen Poststrategie.
({4})
„Knebelverträge“ ist noch die zahmste Formulierung bei
diesen Attacken.
({5})
Ein Kurswechsel ist machbar; Sie haben ihn in der
Hand, Sie können ihn veranlassen bzw. dazu beitragen,
denn Sie stellen die Bundesregierung. Sie wissen, dass
die rot-grüne Regierung, der Hauptanteilseigner, Einfluss nehmen kann. Sie lassen nichts zu. Handeln Sie!
Dann haben die Postagenturen eine Zukunft.
({6})
Vergessen Sie nicht: Durch die Fortsetzung des
Monopols - im Jahr 2001 beschlossen, 2003 aufgegeben, erst für 2007 anvisiert - wurden fast 600 Unternehmen, die sich damals auf das Anbieten von Postdienstleistungen eingestellt haben, ins Aus gestellt.
20 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mussten entlassen werden, weil das Staatsmonopol gegen das Gesetz,
gegen das, was das Parlament im Grunde genommen gewollt hat, fortgesetzt wurde. Das sind auch Ihre Arbeitslosen und das ist absolut unvertretbar.
({7})
Die Postagenturen, denen das Wasser jetzt bis zum
Hals steht, die Frust erleben durch die derzeitige Behandlung, die im Grunde genommen eine Abkehr der
Politik erfahren, haben nur dann eine Zukunft, wenn Sie
bereit sind, unserem Antrag zuzustimmen und bei dem
mitzumachen, was unser Antrag bedeutet, nämlich eine
Umkehr in den Vertragsverhandlungen, wenn Sie mithelfen, die Post in die Lage zu versetzen, fair mit diesen
Partnern umzugehen, die bisher auch fair mit den Bürgern umgegangen sind.
({8})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Ulrich Kelber, SPD-Fraktion.
Lieber Kollege Börnsen, der Antrag Ihrer Fraktion
war so sachfremd und so populistisch, dass wir uns entschieden hatten, nicht zu reden. Auf die Unverschämtheiten jedoch, die Sie hier herausposaunt haben, bedarf
es drei kurzer Anworten:
Erstens zum Thema Aktienrecht: Sie sind in Ihrer
fünften Legislaturperiode. Bitte informieren Sie sich einmal über ein solch grundlegendes Recht, das der Bundesregierung sogar verbietet, sich als Hauptaktionär in
das Geschäft der Post AG einzumischen, wenn sie nicht
schadenersatzpflichtig werden will.
({0})
Zweitens. Schauen Sie sich einmal über Ihre linke
Schulter um, dann sehen Sie den sehr geschätzten Kollegen Bötsch dort sitzen, der die entscheidenden Rechtsgrundsätze, die auch zu den Rationalisierungen und
Liberalisierungen geführt haben, als Minister umgesetzt
hat. Aufgrund dieser Rechtsgrundsätze haben wir in diesem Jahr zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine Portosenkung erreicht. Sie sollten nicht anderen vorwerfen, was aus Ihrer eigenen Fraktion
gekommen ist.
Dritter und letzter Punkt. Sie können mir vielleicht
bestätigen, ob ich das als jemand, der damals dem Bundestag noch nicht angehört hat, im Protokoll richtig
nachgelesen habe: Am 4. November 1999 ist darüber
diskutiert worden, ob der Post vorgeschrieben wird,
mehrere tausend Postagenturen zu betreiben.
Der Kollege Funke hat die Post-Dienstleistungsverordnung deswegen abgelehnt; er hat gesagt: Es ist falsch, so
etwas vorzuschreiben. Das Protokoll vermerkte dazu
Beifall von FDP, CDU und CSU. Erklären Sie das einmal. Die meisten der Postagenturen, über die wir uns
heute unterhalten, gäbe es gar nicht, wenn Sie damals die
Mehrheit gehabt hätten.
({1})
Einen Moment, Herr Börnsen. Mir liegt der Wunsch
nach einer weiteren Kurzintervention des Kollegen
Rainer Funke vor. Anschließend gebe ich Ihnen die Gelegenheit, zu antworten. Herr Funke, bitte.
Zu der Frage des Aktienrechts, - damit da keine
Missverständnisse entstehen -: Natürlich muss sich der
Vorstand am Aktiengesetz orientieren. Hier ist es aber
so, dass wir einen regulierten Markt haben; die Post unterliegt der Aufsicht durch die Regulierungsbehörde. Insoweit hat der Bundeswirtschaftsminister, der ja die
Dienstaufsicht über diese Behörde hat, auch Einfluss auf
das Marktverhalten der Deutschen Post AG.
({0})
Entschuldigen Sie, das Wort hat der Kollege Funke.
Wenn Sie ihn ausreden lassen würden, würde das schneller vorübergehen.
Des Weiteren hat der Bund sowohl als Hauptaktionär
als auch im Wege der Aufsicht, vertreten durch Staatssekretär Overhaus, der die Post schon seit vielen Jahren
begleitet hat
({0})
- nicht nur zum Vorteil der Post; das muss ich auch sagen -, hinreichende Möglichkeiten - das gilt auch noch
für die Regierung Kohl; da war er auch schon im Aufsichtsrat -, auf die Post AG einzuwirken, damit die
Agenturverträge nicht so gestaltet werden, wie sie den
Agenturen von der Post AG aufgedrückt werden sollen.
Im Übrigen habe ich mit angeregt, dass sich das Bundeskartellamt einmal ansieht, wie diese Verträge zum
Nachteil der Postagenturen und der Postkunden ausgelegt werden.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Börnsen zur Erwiderung.
Ich habe jetzt, glaube ich, ein Dutzend Postagenturen
in ländlichen Regionen
({0})
und habe erfahren, dass immer nur in Einzelverhandlungen mit den Agenturbetreibern gesprochen wird. Der
eine muss 11 Prozent mehr bezahlen, der andere 28 Prozent, der nächste 35 Prozent, dem Vierten ist der Computer gestrichen worden, dem Fünften wird mitgeteilt, er
müsse jetzt seine Pakete selbst weiterfahren. Mit den
Agenturbetreibern, die im Grunde genommen hilflos
sind, wird in einer Art und Weise umgegangen, dass man
wirklich zornig wird. Darauf hat auch eine ganze Reihe
Ihrer Kollegen mit Wut und Ärger reagiert.
Ich möchte Ihnen dazu meinen Standpunkt darlegen.
Sie haben die Möglichkeit - Rainer Funke hat das ganz
klar gesagt -, zu handeln. Warum sitzt denn eigentlich
Ihr Staatssekretär aus dem Bundesfinanzministerium im
Aufsichtsrat der Post?
({1})
Sie wissen doch ganz genau, welche Möglichkeiten es
gibt. Sie wissen auch, dass Sie dem Image der Post und
der Sache selbst schaden, wenn Sie weiter so verfahren.
Ich nehme Ihren Hinweis auf den Kollegen Wolfgang
Bötsch gerne auf. In seiner Zeit ist mit den Mitarbeitern
und Kunden noch fair umgegangen worden.
({2})
Als die Post in Brüssel in Bedrängnis kam, ist er von
Hauptstadt zu Hauptstadt gereist, um klar zu machen, wo
die Interessen der Post eigentlich liegen. Er hat mit Erfolg die Sache der Post vorangetrieben.
Die Post verfolgt im Moment die Strategie - genau das
ist das Problem -, Tausende von Postagenturen Zug um
Zug dichtzumachen, um in Zukunft mit einem ganz großen Betreiber - vielleicht heißt er sogar Quelle - flächendeckend das Geschäft zu machen. Dann ist in der Fläche
keine Postagentur mehr zu finden. Das ist leider das
Wolfgang Börnsen ({3})
eigentliche Ziel. Wir sollten gemeinsam dafür eintreten - Sie
sind letzten Endes selbst mit dabei gewesen -, dass wir ein
flächendeckendes Netz an Postagenturen haben.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/466 und 15/579 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 5 bis 7 auf:
ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt,
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Jörg Tauss, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck ({1}),
Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
GATS-Verhandlungen - Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern
- Drucksachen 15/224, 15/506 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Ulla Burchardt
Thomas Rachel
Ursula Sowa
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
GATS-Verhandlungen - Transparenz und Flexibilität sichern
- Drucksache 15/576 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann
({2}), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
GATS-Verhandlungen - Bildung als öffent-
liches Gut und kulturelle Vielfalt sichern
- Drucksache 15/580 -
Ich höre, dass zu diesem Tagesordnungspunkt alle
Reden zu Protokoll gegeben werden sollen.1) Ich verzichte auf das Verlesen der Namen der Redner. Sie können dem Protokoll entnommen werden.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/506 zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel „GATS-Verhandlungen - Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/224 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/576
mit dem Titel „GATS-Verhandlungen - Transparenz und
Flexibilität sichern“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 15/580 mit dem Titel „GATS-Verhandlungen - Bildung als öffentliches Gut und kulturelle
Vielfalt sichern“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung
der CDU/CSU und Zustimmung der FDP abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie den Zusatzpunkt 8 auf:
12 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Angelica Schwall-Düren, Michael Müller
({3}), Horst Kubatschka, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt, Rainder
Steenblock, Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Keine Zustimmung zur Erhöhung der EURATOM-Kreditlinie
- Drucksache 15/575 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
EURATOM-Vertrag nicht aufweichen - Keine
einseitigen Eingriffe in die Finanzierung
- Drucksache 15/578 -
Auch hier sollen mit Ihrem Einverständnis alle Reden
zu Protokoll genommen werden.2)
Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/575
mit dem Titel „Keine Zustimmung zur Erhöhung der
EURATOM-Kreditlinie“. Wer stimmt für diesen An-
trag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 15/578 mit dem Titel „EURATOM-Vertrag
1) Anlage 7 2) Anlage 8
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
nicht aufweichen - Keine einseitigen Eingriffe in die
Finanzierung“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung
von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur
Durchführung eines nicht förmlichen Disziplinarverfahrens zu erweitern und diese jetzt als Zusatzpunkt 10 aufzurufen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Dann rufe ich jetzt Zusatzpunkt 10 der Tagesordnung
auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines nicht förmlichen Disziplinarverfahrens
- Drucksache 15/607 Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
empfiehlt auf Drucksache 15/607, die Genehmigung zu
erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatzpunkt 9 auf:
11 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Reinhold Hemker, Dr. Sascha Raabe, Matthias
Weisheit, weiterer Abgeordneter und der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Für eine nachhaltige Agrarpolitik und einen
gerechten Interessenausgleich bei den laufenden WTO-Verhandlungen
- Drucksache 15/550 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H.
Carstensen ({6}), Albert Deß, Gerda
Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
WTO-Verhandlungen - Europäisches Landwirtschaftsmodell absichern
- Drucksache 15/534 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden; ich verzichte darauf, die Namen der Redner vorzulesen. Daher kommen wir gleich zu den Überweisungen. Interfraktionell ist die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/550 und 15/534 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. März 2003, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.