Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU zu
den Antworten der Bundesregierung auf die dringlichen Fragen
in Drucksache 15/460
2. Erste Beratung des von den Abgeordneten Arnold Vaatz, Dirk
Fischer ({0}), Eduard Oswald, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes ({1})
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
3. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes - Graffiti-Bekämpfungsgesetz - ({3}) ({4})
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP:
Für eine Internationale Sicherheitsinitiative für Nordostasien
({6})
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({7})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
4. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
({8})
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss zu den Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/02 und 2 BvE 2/02 ({9})
Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({10})
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit
erforderlich - abgewichen werden.
Außerdem wurde vereinbart, den Tagesordnungspunkt 10 - Heimkehrerentschädigungsgesetz - und den
Tagesordnungspunkt 11 - Schutz der Intimsphäre - bereits heute nach Tagesordnungspunkt 7 aufzurufen.
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, haben wir
einen Geschäftsordnungsantrag zu behandeln. Die Fraktion der FDP hat fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung ihres Antrags auf Drucksache 15/458 mit dem Titel „Haushaltsentwurf 2003
überarbeitet vorlegen“ zu erweitern.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Kollege Jürgen
Koppelin, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Fraktion der Freien Demokraten verlangt in ihrem Antrag,
dass der Haushalt von Bundesfinanzminister Eichel zurückgezogen und überarbeitet wird.
({0})
Wir möchten diesen Antrag heute diskutieren. Die rotgrüne Koalition lehnt die Aufsetzung des Antrags auf die
Tagesordnung und damit die Diskussion heute ab. Das
nennt man Arroganz der Macht.
({1})
Wir bedauern sehr, dass wir nun mit einer Geschäftsordnungdebatte versuchen müssen, zu erreichen, dass dieser
Antrag auf die Tagesordnung gesetzt wird.
Heute soll der Haushaltsentwurf 2003 im Haushaltsausschuss des Bundestages abschließend beraten werden.
Jede Kollegin und jeder Kollege im Deutschen Bundestag
konnte in den letzten Wochen erkennen, dass der von Bundesfinanzminister Eichel vorgelegte Haushaltsentwurf
2003 nicht den Tatsachen entspricht, sondern geschönt
und unrealistisch ist.
({2})
Bundesfinanzminister Eichel ist zur Haushaltswahrheit verpflichtet; aber auch der Deutsche Bundestag - wir
alle - ist zur Haushaltswahrheit verpflichtet. Es ist daher
völlig unverständlich, dass ein Bundeshaushalt 2003 verabschiedet werden soll, von dem jeder im Bundestag
weiß, dass wichtige Daten und Zahlen nicht stimmen und
dass er höchstens noch ein Dokument einer verfehlten Arbeitsmarkt- und Konjunkturpolitik sowie besonders auch
einer verfehlten Steuerpolitik ist. Weder der im Haushaltsentwurf 2003 vorgesehene Ansatz für die Arbeitslosenhilfe noch das Vorhaben, ohne Zuschuss für die Bundesanstalt für Arbeit auszukommen, ist realistisch. Die
schwache Konjunktur hat keine Berücksichtigung im
Bundeshaushalt gefunden. Die im Bundeshaushalt 2003
angenommenen Steuereinnahmen sind allein Wunschdenken des Bundesfinanzministers.
({3})
Heute können Sie im „Handelsblatt“ lesen: Eichel brechen die Einnahmen weg, allein um 22 Prozent gegenüber
dem Vorjahr. Das sind doch Zahlen, an denen man nicht
vorbei kann.
Um den Haushalt überhaupt ausgleichen zu können,
greifen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, nun zu Methoden einer Bananenrepublik.
({4})
Da sollen plötzlich Milliarden aufgrund eines Steueramnestiegesetzes fließen. Ein Amnestiegesetz ist richtig;
aber ob die Höhe der geschätzten Steuereinnahmen richtig
ist, wissen Sie überhaupt nicht. Ich nenne Ihnen einmal ein
paar Zahlen aus dieser Woche, immer veröffentlicht vom
Finanzministerium. Dienstagmorgen: geschätzte Einnahmen durch die Steueramnestie: 1 Milliarde Euro. Bereits
Dienstagabend: Schätzung durch den Finanzminister:
2 Milliarden Euro. Mittwochmorgen vermelden die Medien: Bundesfinanzminister hofft auf 5 Milliarden Euro
Steuereinnahmen. - Das ist peinlich; das ist unseriös; das
hat mit vernünftiger Haushaltspolitik nichts zu tun.
({5})
Glauben Sie doch nicht, dass Sie Einnahmen in dieser
Höhe bekommen! Wenn Sie hier in Deutschland keine
vernünftige Steuerpolitik machen, wird niemand sein Kapital zurückholen. Deshalb werden Sie mit Einnahmen in
dieser Höhe nicht rechnen können.
Aufgrund der schlechten, hausgemachten Konjunkturentwicklung haben wir steigende Arbeitslosenzahlen:
4,6 Millionen; andere rechnen bereits mit 5 Millionen.
Der Bundesfinanzminister ignoriert diese Zahlen.
Bundesfinanzminister Eichel träumt weiter den Traum
vom Wirtschaftswachstum, ohne mit seinem Haushaltsentwurf der falschen Daten und Zahlen überhaupt Impulse dafür zu geben. Wenn dieser Haushalt, den der Bundestag in Kürze beschließen soll, nicht umgehend von
Bundesfinanzminister Eichel überarbeitet wird, werden
wir das gleiche Szenario wie im letzten Jahr erleben:
Maastricht-Kriterien nicht erfüllt - wie im letzten Jahr -,
ein Nachtragshaushalt ist nötig - wie im letzten Jahr -,
noch mehr Schulden - wie im letzten Jahr.
Auch im Jahr 2002 wurde von Rot-Grün ein Haushalt
beschlossen, der an der Realität vorbeiging. Die Zahlen
waren manipuliert. Da wurde getrickst und getäuscht und
die Öffentlichkeit belogen. Es war ja Bundestagswahl.
Und das alles, obwohl die Fakten und die Tatsachen jedem
Mitarbeiter im Bundesfinanzministerium bekannt und
klar waren. Die Aussagen des Staatssekretärs Overhaus
vom Bundesfinanzministerium vor dem Untersuchungsausschuss haben deutlich gemacht, dass Bundesfinanzminister Eichel den Bezug zur Realität längst verloren hat.
({6})
Deswegen wagen nicht einmal die höchsten Mitarbeiter
im Finanzministerium, diesem Bundesfinanzminister die
Zahlen überhaupt noch vorzulegen: weil er sie nicht wahrnehmen will.
Das zeigt auch der Bundeshaushalt 2003. Bundesfinanzminister Eichel hat dem Deutschen Bundestag einen Haushaltsentwurf zur Verfügung gestellt und zur Beratung vorgelegt, zu dem man nur sagen kann: Empfänger
verweigert Annahme. Eine andere Reaktion ist da überhaupt nicht möglich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundesfinanzminister Eichel hat nicht mehr die Kraft, einzugestehen, dass
sein Haushaltsentwurf 2003 bereits nicht einmal mehr das
Papier wert ist, auf dem er steht.
({7})
Das konnten wir auch gestern im Haushaltsausschuss erleben. Diejenigen, die zurufen, waren nämlich dabei. Sie
wissen, dass es so ist. Daher muss der Deutsche Bundestag die Kraft haben, diesen Haushaltsentwurf an den Bundesfinanzminister zurückzuüberweisen.
Der Bundeshaushalt ist das Schicksalsbuch der Nation.
({8})
Bundesfinanzminister Eichel macht aus diesem Schicksalsbuch das Märchenbuch der Nation. Sie können heute
unseren Wunsch nach einer Debatte ablehnen. Dafür haben Sie voraussichtlich die Mehrheit. Die Konsequenz
wird nur sein, dass Bundesfinanzminister Eichel mit dem
Haushaltsentwurf 2003 seinen letzten Haushaltsentwurf
diesem Deutschen Bundestag vorgelegt hat. Er wird dieses Jahr nicht mehr als Bundesfinanzminister überstehen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man hat bei Ihnen den
Eindruck, der rot-grünen Koalition und dem Bundeskanzler wäre das sogar recht.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegen Walter Schöler, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, du, Jürgen Koppelin, merkst gar nicht und die
FDP-Fraktion merkt ebenfalls nicht, dass ihr euch mit diesem Antrag hier nur lächerlich macht.
({0})
Ebendeshalb gehört dieser Antrag heute nicht auf die Tagesordnung. Wir sind nicht bereit, Haushaltsberatungen,
die im März stattfinden werden, auf heute vorzuziehen.
Wer wie die FDP einen solchen Antrag stellt und - das
füge ich hinzu - wer einen solchen Antrag heute unterstützt, der stellt nicht nur die schwierige und ernsthafte
Arbeit des Haushaltsausschusses und seiner Mitglieder
infrage, sondern auch sich selbst. Das geschieht mit diesem Antrag.
({1})
Sie lenken nicht nur von der eigenen Konzeptlosigkeit bei
den Beratungen der letzten Wochen ab, sondern wollen
auch noch aus bestimmten Gründen die Öffentlichkeit
täuschen.
Gerade heute ist diese Koppelin-Show völlig fehl am
Platz. Denn Fakt ist doch: Der Bundeshaushalt 2003 ist
wie jeder Haushalt zuvor nach dem bewährten Verfahrensablauf bearbeitet und beraten worden. Das heißt, er
ist nach den aktuellen Erkenntnissen der Regierung
Ende letzten Jahres erstellt worden. Er ist - im Übrigen
mit Zustimmung der FDP-Fraktion; von wegen „Annahme verweigert“ - im Dezember in erster Lesung hier
behandelt worden und danach dem Haushaltsausschuss
zur Beratung überwiesen worden. Damit ist er von der
Bundesregierung in die Hand des Parlaments übergegangen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten zehn Wochen hat der Haushaltsausschuss - das war sicherlich für
alle nicht unbedingt immer eitel Freude - diese Beratungen in zahlreichen Berichterstattergesprächen und Ausschusssitzungen sehr konzentriert durchgeführt. Gerade
heute stehen wir vor der abschließenden Befassung mit
diesem Entwurf, der so genannten Bereinigungssitzung,
die wir jetzt wegen Ihres Antrages um eine halbe Stunde
verschoben haben.
({2})
Wie alle kundigen Thebaner und zumindest einige Kollegen von der FDP genau wissen, werden bei der Bereinigungssitzung wie in jedem Jahr auch in diesem Jahr die
aktualisierten Einschätzungen - sie liegen allen vor und
sind noch gestern morgen in einer Berichterstatterrunde
diskutiert worden, im Übrigen im Beisein Ihres Kollegen
Rexrodt - in den Haushalt eingearbeitet, mit ihren Auswirkungen auf die Steuern, mit ihren Auswirkungen auf
den Arbeitsmarkt. Genau diese Aktualisierungen, die Sie
mit Ihrem Antrag ja fordern, werden heute durch den
Haushaltsausschuss vollzogen. In diesen Ausschuss
gehören sie auch.
Halten Sie uns also nicht länger mit der Posse auf, die
Sie heute Morgen veranstalten! Lassen Sie uns lieber unsere Arbeit tun!
({3})
- Herr Gerhardt, das gehört in den Haushaltsausschuss.
Sie werden erleben, wie Ihre drei Kollegen gleich wieder
brav in diesem Ausschuss sitzen und mit entscheiden werden.
({4})
Wir lehnen Ihren Antrag ab und sind nicht bereit, diesen Antrag auf die Tagesordnung der heutigen Sitzung zu
setzen.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Dietrich Austermann,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer gestern
Nachmittag den Bundesfinanzminister im Haushaltsausschuss erlebt hat, der hat den Eindruck gewinnen können,
der Mann hat kapituliert.
({0})
Er hat kapituliert vor der Situation, die sich heute für ihn
im Untersuchungsausschuss ergibt. Das ist der Tag und
die Stunde der Wahrheit. Er hat kapituliert vor der Verpflichtung, einen Haushalt vorzulegen, der mit der Realität in Einklang steht und nicht völlig von dem abgewandt
ist, was sich in Deutschland tut. Der Haushaltsentwurf,
den Sie vorgelegt haben, ist eine Addition von Zahlen
ohne jede Perspektive und ohne jeden Bezug zur Realität.
Ich will das an fünf kurzen Beispielen deutlich machen.
Erstens. Sie unterstellen nach wie vor 1 Prozent
Wachstum; im Entwurf waren es noch 1,5 Prozent, im
letzten Jahr waren es noch 2,5. Der Bundesfinanzminister
hat gestern - ich finde, dass darauf die Aufmerksamkeit
der Öffentlichkeit gelenkt werden sollte - im Haushaltsausschuss gesagt: Wenn das Wachstum die Marke von
1 Prozent nur geringfügig unterschreitet, werden wir die
Messlatte der Maastricht-Kriterien reißen. Da inzwischen
jeder weiß, dass dieses Wachstum von 1 Prozent kaum
noch zu erreichen ist,
({1})
es sei denn, man macht eine völlig andere Wirtschafts-,
Finanz-, Haushalts- und Sozialpolitik, kann auch jeder
erkennen, dass man sich von der Einhaltung der MaastrichtKriterien verabschiedet hat.
({2})
Deswegen sage ich: Der Mann hat kapituliert, weil Rezepte, um das Steuer herumzureißen, nicht erkennbar
sind. Diese hätte er zumindest vorschlagen sollen.
({3})
Sie, Herr Kollege Schöler, haben gesagt, Sie hätten in
den Beratungen - heute findet ja die Bereinigungssitzung
statt - das Ihrige getan, um die Entwicklung aufzufangen.
Nun sage ich einmal, was in den vier Wochen der Haushaltsberatungen bisher passiert ist: Sie haben die Ansätze
bis zum heutigen Stand genau um 229 Millionen verändert.
({4})
Das sind noch nicht einmal 0,1 Prozent Veränderung bezogen auf das Gesamtvolumen des Haushalts.
({5})
Bei den Steuereinnahmen unterstellen Sie trotz sich vermindernden Wachstums eine Zunahme. Das macht doch
deutlich, dass Sie überhaupt nicht erkennen, wie die Realität in Deutschland tatsächlich aussieht.
({6})
Das Gleiche trifft auf meinen zweiten Punkt, das
Thema Arbeitsmarkt, zu. Wir haben im letzten Jahr
5,6 Milliarden Euro Zuschuss an die Bundesanstalt für
Arbeit vorgesehen. Im Haushaltsgesetz haben Sie eine
Liquiditätsreserve für die Bundesanstalt - das heißt, der
Bund darf der Bundesanstalt helfen - in einer Größenordnung von 7 Milliarden Euro eingeplant - wobei dieser Ansatz deutlich gestiegen ist. Das heißt, Sie glauben selber
nicht, dass die Bundesanstalt ohne einen Zuschuss auskommt. Im Haushaltsplan unterstellen Sie aber, dass das
so sein wird. 7 Milliarden Euro zusätzlich wären in etwa
angebracht, weil man wegen Ihrer Politik leider davon
ausgehen muss, dass die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr
steigt. Wenn Sie bei geringerer Arbeitslosigkeit im letzten
Jahr schon 5,6 Milliarden Euro in die Hand nehmen mussten, dann müssen es in diesem Jahr noch mehr sein. Sie
sprechen aber von einem Nullzuschuss. Das hat mit der
Realität nichts zu tun.
({7})
Wenn man dann noch sieht, dass die Zuständigen, Herr
Gerster und Herr Clement, wie die Kesselflicker streiten,
({8})
ist nicht davon auszugehen, dass irgendetwas von dem,
was als Hartz-Konzept bezeichnet wird, geeignet ist, die
Arbeitslosigkeit wesentlich zu verringern.
Ich will Ihnen ein drittes Beispiel nennen: Arbeitslosenhilfe.
({9})
- Herr Tauss, Sie als Gewerkschafter haben doch eine gewisse Erfahrung. Es muss Sie doch bedrücken, wenn Sie
feststellen, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen immer
weiter steigt. Wenn die Zahl der Langzeitarbeitslosen immer weiter steigt, muss man bei der Arbeitslosenhilfe von
einem höheren Betrag ausgehen. Sie dagegen senken ihn
um 2,7 Milliarden. Auch deshalb muss man sagen, das
Ganze hat mit der Realität nichts zu tun.
Dann schauen wir uns das Thema Steuern an - mein
vierter Punkt -: Sie gehen davon aus, dass Sie Steuermehreinnahmen haben werden, trotz sich vermindernden
Wachstums und höherer Arbeitslosigkeit. Sie begründen
das, wie der Kollege Koppelin schon gesagt hat, mit diesem neuen so genannten Steuerehrlichkeitsgesetz. In einem halben Jahr wollen Sie 20 Milliarden Euro nach
Deutschland zurückholen und daraus 5 Milliarden Euro
für die öffentliche Hand abschöpfen. Was sollte eigentlich
die Menschen dazu veranlassen, 25 Prozent Steuern auf
einen bestimmten Betrag für die gesamte Zeit, in der sie
ihr Geld im Ausland hatten, zu zahlen?
Ich glaube, das spricht für sich selbst und zeigt, dass
das mit Realität nichts zu tun hat. Weil Sie selber nicht daran glauben, versehen Sie das Ganze mit Kontrollmitteilungen und möglicherweise dem Versuch, das Bankgeheimnis aufzubrechen.
({10})
So kann man das nicht betreiben.
Der Bundesfinanzminister hat einen Lieblingsspruch.
Er sagt immer, der Haushalt sei auf Kante genäht. Wir sagen, der Haushalt ist auf Sand gebaut. Weil er auf Sand gebaut ist, muss er weg. Das gilt in gleicher Weise für den
Bundesfinanzminister.
({11})
- Doch, ich habe es Ihnen genau vorgerechnet, Herr
Schöler.
Wer in schamloser Weise wie vor der Bundestagswahl
mit dem ersten Entwurf für diesen Haushalt und nach der
Bundestagswahl mit dem zweiten Entwurf die Öffentlichkeit und den Souverän belogen und betrogen hat, der hat
dieses Amt nicht länger verdient. Er muss die Konsequenzen ziehen und kann seinen Haushaltsentwurf gleich
mitnehmen.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/
Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der haushaltspolitische Sprecher der großen Oppositionsfraktion, der hier gerade lautstarke Worte gefunden
hat, der sich zwei Wochen vor Abschluss des Haushalts 2002 um 8 Milliarden Euro vertan hat, als er sagte,
dass dieser Haushalt noch einmal 8 Milliarden Euro draufsatteln müsse - was erwiesenermaßen falsch war und nur
Sprücheklopferei in diesem Hause bedeutete -, der hat
seine Seriosität doch schon vor zwei Monaten verspielt.
({0})
Zu dem Antrag der FDP - „Haushaltsentwurf 2003
überarbeitet vorlegen“ -, über den wir hier beraten, kann
ich nur sagen, sehr geehrter Kollege Koppelin: Wir sitzen
seit acht Wochen intensiv zusammen und beraten diesen
Haushalt.
({1})
Jetzt diesen Antrag vorzulegen ist eine Sonderinszenierung Ihrer Partei.
({2})
Sie zwingen uns mit gespieltem Ernst eine Debatte auf. Im
Grunde zeigt das nur, dass Sie zur Spaß- und Gagfraktion
Ihrer Partei gehören.
({3})
Das passt aber eigentlich nicht zu der schwierigen
Lage, in der wir uns befinden. In diesem Punkt haben wir
keine Differenz. Wir haben eine schwierige wirtschaftliche und finanzpolitische Lage.
({4})
Dazu passt nicht, dass man nach acht Wochen Beratungen
sagt, es sei alles so schwierig und man wolle noch einmal
von vorne anfangen. Das ist schlicht und ergreifend
lächerlich.
({5})
Was sich eigentlich zeigt - ich will durchaus auf die Sache eingehen, denn das Thema ist es wert, in der Sache zu
streiten -, ist, dass Sie vor diesen wirtschaftlichen und finanzpolitischen Schwierigkeiten kapitulieren oder angesichts dessen zumindest unentschlossen sind.
({6})
Ich kann das auch belegen, und zwar anhand Ihrer vier
Punkte; Sie haben sich ja Mühe gegeben, das aufzuschreiben. Sie schreiben, der Haushalt sei unter der Annahme eines Wirtschaftswachstums von 1,5 Prozent aufgestellt worden. Richtig! Wir haben in diesem Hause
öffentlich diskutiert, dass wir mittlerweile ein Wirtschaftswachstum von 1 Prozent erwarten. Daraus haben
wir Konsequenzen gezogen. Sie waren doch dabei! Wir
werden nach der alten Kalkulation Steuermindereinnahmen von 1 Milliarde Euro haben. Dazu gibt es mittlerweile den Haushaltsabschluss 2002, in dem man erkennen
kann, dass wir positive Basiseffekte aus den Steuereinnahmen haben. Das wird sich fortsetzen. Darüber hinaus
bekommen wir eine Zinsabgeltungsteuer, über die Sie
gerade sogar einen positiven Nebensatz verloren haben.
Das Thema wurde aufgegriffen, vielleicht nicht so, wie
Sie es wünschen; aber das Argument, dass das Thema
Steuereinnahme nicht aktualisiert sei, stimmt nicht.
Zweitens: Steuervergünstigungsabbaugesetz. Es ist
schlicht falsch, was in Ihrem Antrag steht. In dem Antrag
der Bundesregierung ist genau das gleiche Volumen wie
im Haushalt enthalten. Haben Sie Ihren Antrag zu früh geschrieben? Das Risiko besteht darin, dass im Bundesrat
viele unionsgeführte Länder vertreten sind. Deshalb haben wir ein Problem. Man muss sich den Realitäten anpassen, meine Damen und Herren, und überlegen, ob man
nicht in einem gewissen Maße die Einnahmebasis der
Länder und Kommunen stabilisieren muss und dafür
selber Verantwortung trägt.
({7})
Zum dritten und vierten Punkt. Das ist mein Hauptanliegen; in diesem Zusammenhang möchte ich auf den
Kollegen Austermann eingehen. Kernpunkt der Haushaltsberatungen und im Grunde auch der politischen Debatte der letzten Monate ist doch, dass wir Strukturreformen und Änderungen auf dem Arbeitsmarkt brauchen. Sie
scheinen zu kapitulieren, weil Sie davon sprechen, dass
die Arbeitslosenhilfezahlungen höher liegen werden und
dass die Bundesanstalt für Arbeit einen Zuschuss braucht.
Ich fordere Sie daher auf: Stellen Sie Anträge, die konsumptiven Ausgaben im Haushalt 2003 zu erhöhen! Wir
werden Ihnen dabei aber nicht folgen; denn wir sind bereit, Strukturreformen auf den Weg zu bringen und Einsparungen vorzunehmen. Sie müssten einmal selber erkennen, welche Hilflosigkeit Sie zeigen, indem Sie immer
nur Pessimismus ausstrahlen.
({8})
Ich komme abschließend zum Fazit. Eine solide Politik,
auch Finanzpolitik, muss sich auch unter schwierigen
wirtschaftlichen Bedingungen bewähren.
({9})
Sie muss Orientierung geben. Man darf aber nicht die
Hände in den Schoß legen und sagen, es werde alles viel
schlimmer. Ich fordere Sie auf, bei den Strukturmaßnahmen in einen Wettbewerb mit uns zu treten, aber nicht mit
Bitterkeit auf die Ergebnisse des Jahres 2002 zurückzublicken. Das hilft uns nicht weiter. Wir packen an. Unsere
Pläne sind nach vorne gerichtet. Eine ausführliche Debatte darüber führen wir bei den abschließenden Haushaltsberatungen im März.
({10})
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den
Aufsetzungsantrag der Fraktion der FDP? - Wer stimmt
Präsident Wolfgang Thierse
dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Aufset-
zungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
bei Stimmenthaltung der beiden fraktionslosen Abgeord-
neten abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Ethik
und Recht der modernen Medizin“
- Drucksache 15/464 -
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Neue Initiative für ein internationales Verbot
des Klonens menschlicher Embryonen starten
- Drucksache 15/463 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Reproduktives Klonen weltweit verbieten - das
Machbare schnell umsetzen
- Drucksache 15/314 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Gudrun Schaich-Walch.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben heute die Möglichkeit, in verbundener Debatte sowohl über die Einsetzung der EnqueteKommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ als
auch über den Antrag „Klonverbot“ zu beschließen. Der
letztgenannte Antrag basiert auf der Diskussion und den
Ergebnissen der Enquete-Kommission „Recht und Ethik
der modernen Medizin“ der letzten Legislaturperiode.
Ich möchte dies als ein positives Omen für die Arbeit
der kommenden Kommission bewerten.
({0})
Ich möchte mich aber auch bei den Kolleginnen und Kollegen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der
CDU/CSU sowie der eigenen Fraktion dafür bedanken,
dass es uns gelungen ist, diese von drei Fraktionen getragenen Anträge schnell und trotz des heiklen Themas in einem, wie ich finde, sehr pfleglichen Umgang miteinander
zu erarbeiten. Dafür ganz herzlichen Dank.
({1})
In meinem folgenden Beitrag werde ich mich auf die
Wiedereinsetzung der Enquete-Kommission konzentrieren. Alle diesen Antrag tragenden Fraktionen waren sich
in der Diskussion sehr bald einig, dass die Arbeit der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ fortgesetzt werden sollte. In diesem Wunsch
drücken sich meiner Meinung nach zwei Dinge aus.
Zum einen ist es gelungen, das verfassungsrechtlich
geschützte ganzheitliche Menschenbild und die Wahrung
der Menschenwürde gemäß Art. 1 des Grundgesetzes in
Bezug zur heutigen biomedizinischen Entwicklung zu
setzen. Es ist auch gelungen, zukunftsweisende Antworten zu entwickeln. Die fachlich herausragenden Stellungnahmen und Berichte der Kommission waren Basis der
Diskussion im Bundestag. Sie ermöglichten die fundierte
Auseinandersetzung im Spannungsfeld zwischen Ethik
und Forschung und führten letztlich zu Normensetzungen, die mit breiter Mehrheit getroffen werden konnten.
Zum anderen müssen wir aber auch feststellen: Es sind
Fragen offen geblieben und neue hinzugekommen.
Die Enquete-Kommission der letzten Legislaturperiode hat sich zugunsten der Qualität ihrer Arbeit Bescheidenheit auferlegt. Sie hat sich für einige Fragestellungen
entschieden, diese in die Tiefe gehend behandelt und berechtigt gehofft, in dieser Legislaturperiode weiterarbeiten zu können.
In Zeiten, in denen sich Forschung und moderne Technologie in geradezu explosionsartiger Geschwindigkeit
entwickeln, laufen wir Gefahr, von der Entwicklung überrollt zu werden, wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, die
Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu ergründen und
zu bewerten.
({2})
Das Parlament hat gerade bei diesen Fragestellungen eine
herausgehobene Führungsrolle. Es muss Anstoß zu einer
tief gehenden öffentlichen Diskussion geben. Dafür
braucht die Kommission fundierte Grundlagen.
Die im Deutschen Bundestag zu diesen grundlegenden
Fragestellungen jenseits von Fraktionsgrenzen vertretene
Meinungsvielfalt spiegelt die Situation in unserer Gesellschaft wider. Die einen stehen den sich aus der modernen
Forschung ergebenden Möglichkeiten fasziniert, die anderen vorsichtig bis ablehnend gegenüber. Beide Positionen und alle dazwischenliegenden Facetten sind in der
Regel wohl begründbar und damit respektabel. Deshalb
wäre es falsch, hierauf mit einer Kommission zu reagieren, die diese verschiedenen Haltungen oberflächlich zusammenbringt, indem sie möglichst vage formulierte Antworten anbietet, die zwar alle Positionen einschließen,
aber schlussendlich nichts mehr wirklich deutlich machen. Deshalb ist es für unsere Arbeit wichtig, nicht nur
den Willen zum Konsens, sondern auch zutage getretene
Konflikte deutlich zu machen.
Unser Mandat verpflichtet jeden Einzelnen von uns,
sich am Ende der Debatte seiner Verantwortung zu stellen, dort, wo es einer rechtlichen Regulierung bedarf, um
eine gemeinverträgliche Lösung zu ringen und schließlich
Entscheidungen zu treffen - und dies auch dann, wenn
diese von einer Tragweite sind, die an unseren Grundüberzeugungen und manchmal auch an unseren Möglichkeiten rühren.
Den bisher geschilderten Aufgaben und der Kultur, mit
der in der letzten Legislaturperiode gearbeitet wurde,
sollte sich eine neu zu bildende Kommission verpflichtet
fühlen. Als inhaltlicher Leitfaden werden die im Abschlussbericht der letzten Kommission dargestellten, offen
gebliebenen und neu hinzukommenden Fragen dienen.
Die neue Kommission wird sich mit einer Reihe von
Problemen beschäftigen. Zwei Punkte möchte ich herausgreifen: Wie können wir therapeutische Angebote für
Menschen entwickeln, die nicht in der Lage sind, ihre persönliche Einwilligung im Forschungsprozess zu geben?
Wir werden Antworten auf die Fragen derer finden müssen, die sich wünschen, dass mehr transplantiert wird, die
aber meiner Meinung nach in diesem Wunsch weit über
das Ziel hinausschießen, wenn sie glauben, es gebe in dieser Gesellschaft einen berechtigten Anspruch darauf, dass
lebenden Menschen Organe abgekauft werden könnten.
Wir werden uns damit auseinander setzen müssen, ob es
auch andere Möglichkeiten der Organgewinnung gibt.
Ich hoffe, wir werden für die Beantwortung auch dieser
Fragen zu einer guten Entscheidungsgrundlage kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns heute
dafür entscheiden, diese enormen Herausforderungen
nicht in unserem normalen Alltagsgeschäft abzuwickeln,
sondern im Rahmen einer Enquete-Kommission, dann tun
wir dies, weil wir die sich aus der biomedizinischen Forschung ergebenden Herausforderungen annehmen und
deren Auswirkungen in ihrer ganzen Tragweite gerecht
werden wollen.
Die einzusetzende Kommission ist deshalb gut beraten,
nicht nur ihre Zielsetzungen und den abzuhandelnden
Fragenkatalog zu definieren, sondern auch hinsichtlich
ihrer Grenzen Klarheit zu schaffen.
Jeder Parlamentarier ebenso wie jedes Mitglied der
Kommission hat persönliche Wertvorstellungen, Ideale
oder Grundüberzeugungen einzubringen, die die Diskussion bereichern, aber nicht dominieren sollen. Denn auch
wenn der Einzelne das Menschenwürdeprinzip aus seiner
christlichen Grundüberzeugung ableitet und verteidigt,
muss uns die Einsicht einen, dass das Institut der Menschenwürde ebenso aus anderen Grundüberzeugungen
abgeleitet werden kann.
({3})
Diese Einsicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, mag
sie uns heute noch manchmal banal erscheinen, sollten
wir nie aus dem Blick verlieren, auch und insbesondere
dann nicht, wenn die einen oder die anderen glauben, die
Wahrheit auf ihrer Seite zu haben. Letztlich wird auch
diese Kommission nichts daran ändern, dass es oftmals
die letzte Wahrheit nicht gibt und dass es oftmals auch, je
nachdem, auf welcher Seite man steht, für den Einzelnen
mehrere Wahrheiten geben kann. Sie wird aber neben Erkenntnisgewinn einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung unserer Streitkultur im Bundestag leisten können,
wenn die in der Diskussion zutage getretenen Konflikte in
wechselseitiger Achtung ausgetragen werden. Ich bin
überzeugt, dass wir, wenn bei uns allen die Bereitschaft besteht, abweichende Meinungen zu respektieren, uns mit
den anderen Argumenten sachlich auseinander zu setzen,
politisch überzeugende Lösungen finden werden, die den
Ansprüchen der Menschen gerecht werden und die letztendlich auf einer breiten Basis beruhen und eine Bindekraft in unserem Volk entwickeln können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie bitten,
dem vorliegenden Antrag zur Einsetzung einer EnqueteKommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“
zuzustimmen, die Arbeit dieser Kommission ebenso beherzt wie kritisch zu begleiten und sie für die von Ihnen
künftig zu fällenden Entscheidungen als ernst zu nehmende Hilfestellung in Anspruch zu nehmen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegin Maria Böhmer, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist angebracht, einen Moment innezuhalten,
denn wir legen heute zwei gemeinsame Anträge vor: einen Antrag zur Wiedereinsetzung der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ und einen
Antrag für ein internationales generelles Klonverbot. Die
Tatsache, dass wir uns zu einem solchen gemeinsamen
Vorgehen zusammengefunden haben, veranlasst mich,
herzlichen Dank zu sagen an alle Kolleginnen und Kollegen, die beteiligt waren und die es möglich gemacht haben, dass wir mit diesen Anträgen heute im Deutschen
Bundestag ein so klares Signal setzen können.
({0})
Dieses Signal bedeutet, dass wir in diesem Hohen Hause
eine breite und nachdrückliche Übereinstimmung für den
Schutz des menschlichen Lebens und für die unbedingte
Wahrung der Menschenwürde haben. Darum geht es
und das gilt es heute wieder zum Klingen zu bringen.
({1})
Wir zeigen auch, dass wir den Weg, den wir in der vergangenen Legislaturperiode und auch davor eingeschlagen haben, weiter gehen wollen. Der Deutsche Bundestag
war, ist und bleibt der Ort der Beratung, der Diskussion
und der Entscheidung in diesen wesentlichen Fragen des
menschlichen Lebens. Das kann nicht durch Kommissionen oder Gremien außerhalb ersetzt werden. Hier müssen
die Entscheidungen gefällt werden und dessen sind wir
uns als Abgeordnete sehr wohl bewusst.
({2})
Wir sind uns auch bewusst: Der Mensch muss seine
Grenzen sehen und er muss sie achten. Wir sind Geschöpfe und nicht Schöpfer. Wir stehen in der Verantwortung, die Schöpfung zu bewahren. Davon ausgehend haben wir vor 13 Jahren mit dem Embryonenschutzgesetz
eine klare Grenzziehung vorgenommen, die wir mit dem
Stammzellgesetz bekräftigt haben.
Wir sind von einer Grundposition ausgegangen, und
diese Grundposition ist auch heute für die Frage „Wie
verhalten wir uns beim internationalen umfassenden
Klonverbot?“ von entscheidender Bedeutung. Menschliches Leben ist von Anfang an, das heißt schon ab dem
frühen Stadium der Totipotenz, zu schützen. Menschliches Leben steht nicht in der Verfügung anderer. Menschlichem Leben kommt in jeder Phase, vom Beginn bis zum
Ende, die volle Menschenwürde zu. Das ist Ausdruck von
Art. 1 und Art. 2 des Grundgesetzes. Das ist die Richtschnur für unsere Entscheidung und für unser Handeln in
diesem Land.
({3})
Nicht nur national, sondern global werden wir mit
Schlüsselfragen der Menschheit konfrontiert wie nie zuvor. Eine dieser Schlüsselfragen lautet, wie wir als Menschen in Zukunft existieren wollen. Diese Frage betrifft
jeden Einzelnen, also das Individuum, sie betrifft aber
auch unsere gesamte Gattung. Sie ist nicht nur für unsere
Gesellschaft wichtig, sondern für die globale Gesellschaft
der Menschen. Es geht um die Klärung, wie wir mit dem
immer weiter anwachsenden biomedizinischen Wissen
umgehen sollen. Es geht darum, zu klären, in welchen Bereichen wir bereit sind, dieses Wissen auf unsere eigene
Gattung anzuwenden, und wo wir sagen, hier sind Grenzen zu beachten und zu respektieren. Diese Grenzen wollen wir nicht nur national, sondern auch international gewürdigt sehen.
({4})
Bei der Diskussion um ein internationales umfassendes Klonverbot - ich will mich darauf konzentrieren,
weil die Kollegin Schaich-Walch schon sehr ausführlich
zur Enquete-Kommission gesprochen hat - wird die
ganze Wucht und Brisanz dieser Frage deutlich. Die
Empörung war einmütig, als in der Weihnachtszeit die
Raelianersekte behauptete, es sei das erste Klonbaby geboren. Unabhängig davon, ob diese Behauptung wirklich
wahr ist - das bezweifle ich wie viele andere -, gilt es
trotzdem, ein deutliches Signal zu setzen. Wir müssen
festhalten: Das Klonen von Menschen ist in jeder Hinsicht
verantwortungslos und verwerflich.
({5})
Die Meinungen zu dem so genannten therapeutischen
Klonen sind dagegen gespalten. Das erleben wir heute
auch im Deutschen Bundestag. Es liegt ein Antrag der
FDP vor, der im Grunde genommen das Bemühen widerspiegelt, die Tür offen zu halten. Aber was Not tut, ist,
Klarheit in der Sache und in der Entscheidung zu schaffen. Darum muss es gehen. Wir zielen mit unserem gemeinsamen Antrag auf ein weltweites generelles Klonverbot. Wir folgen damit der Position, die wir im letzten
Juni im Deutschen Bundestag beschlossen haben und von
der wir wissen, dass sie zur Richtschnur für die Bundesregierung in den Verhandlungen bei den Vereinten Nationen werden muss.
Viele werden natürlich fragen, warum wir ein umfassendes Klonverbot erreichen wollen. Reicht es denn nicht,
nur das reproduktive Klonen zu ächten? Muss es denn
auch das so genannte therapeutische Klonen sein? Liegen
darin denn nicht Heilungschancen für Menschen? Könnte
das denn nicht vielen Menschen helfen, die heute nicht
wissen, ob die Medizin jemals einen Weg findet, um sie
von einer schweren Krankheit zu heilen?
Hier ist es wichtig, zu verdeutlichen, was das so genannte therapeutische Klonen überhaupt ist und was die
Forscher hierzu sagen. Das haben wir in unserem Antrag
sehr deutlich gefasst. Wir haben niedergelegt - das entspricht der Wissenschaft -, dass der Weg bis hin zum Entstehen des Embryos beim reproduktiven und beim so genannten therapeutischen Klonen identisch ist: Es wird
eine Eizelle entnommen; sie wird entkernt; in sie wird der
Kern zum Beispiel einer Hautzelle eingesetzt; dann findet
Teilung statt; das Ergebnis ist ein Embryo. Ein Embryo
ist aber doch ein Mensch und nichts anderes. Er ist kein
Zellhaufen und auch nicht - wie die FDP schreibt - ein
unvollständiger Mensch. Ich frage mich, was denn ein unvollständiger Mensch ist. Ab wann ist denn ein Mensch
vollständig? Ist er das ab dem dritten Tag, ab dem 14. Tag
oder erst ab Geburt? Ich glaube, eine solche Festsetzung
wäre Willkür. Deshalb müssen wir ganz klar und deutlich
sagen: Dort, wo ein menschlicher Embryo ist, ist menschliches Leben. Das haben wir als Gesetzgeber im Stammzellgesetz auch so definiert. Ich rate allen, dort § 3 Abs. 4
nachzulesen. Dort haben wir festgeschrieben - die FDP
hat übrigens zugestimmt -:
Im Sinne dieses Gesetzes ... ist Embryo bereits jede
menschliche totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen
der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen
zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln
vermag.
Das ist die Grundlage, von der wir ausgehen.
({6})
Ich finde es höchst bedenklich, wenn uns mit dem Begriff therapeutisches Klonen etwas suggeriert wird, von
dem uns die Wissenschaftler sagen, dass es nicht einlösbar
ist. Therapeutisches Klonen, das suggeriert in der Tat, Heilung könnte morgen greifbar sein. Professor Winnacker
hat aber in seiner Neujahrsansprache bei der Deutschen
Forschungsgemeinschaft klar erklärt: Therapeutisches
Klonen ist ein Irrweg. Er begründet das in dreierlei Hinsicht. Ich will hier nur einen Aspekt nennen. Er sagt: Aus
den Stammzellen, die dem Embryo entnommen werden,
können sich genauso gut auch Tumorzellen entwickeln.
Was bedeutet das? Wir haben es bei der Gentherapie
in der Klinik Necker in Paris gerade erlebt. Dort bestand
die Hoffnung, dass Kindern, die eine große Immun2134
schwäche haben, durch die Gentherapie geholfen werden
könnte. Das Ergebnis ist erschreckend: Viele dieser Kinder sind heute leukämiekrank. Ich halte es für nicht verantwortbar, zu Möglichkeiten zu greifen, die nicht überschaubar sind und die den Menschen statt Heilung neues
Leid bringen.
({7})
Wenn man mit Wissenschaftlern, die wahrlich nicht
aus der zweiten oder dritten Reihe kommen, spricht, stellt
sich ein Zweites heraus. Die Nobelpreisträgerin NüssleinVollhard sagt - ich möchte es mit meinen Worten wiedergeben -, dass es von den Methoden und vom Verfahren
her fast utopisch ist, zu einem therapeutischen Klonen zu
kommen, weil schon das Entwickeln einer Blastozyste nahezu unmöglich ist. Daraus Stammzellen zu gewinnen ist
mit erheblichen Schwierigkeiten behaftet. Sie spricht davon, dass wahrscheinlich selbst die verbissensten Forscher von dieser Methode Abstand nehmen und zu vielversprechenderen Methoden überwechseln werden.
({8})
- Herr Gerhardt, als Antwort auf Ihren Zwischenruf sage
ich: Wir dürfen keinen Weg beschreiten, der Utopien und
falsche Heilungserwartungen bedient.
({9})
Wir müssen Wege beschreiten, die ethisch verantwortbar
sind und zum medizinisch Machbaren führen, damit Menschen wirklich Hilfe zuteil wird und damit wir die Kräfte
dort konzentrieren können, wo es einen Sinn macht, wo
wir also nicht in die falsche Richtung laufen. Deshalb ist
unsere Position an dieser Stelle so klar.
({10})
Ich will noch einen weiteren Aspekt zur Sprache bringen. Ich frage Sie: Was würde es bedeuten, wenn das so
genannte therapeutische Klonen entgegen allen Erwartungen tatsächlich gelingen könnte, wir also Therapien erhalten könnten? Der Nobelpreisträger Jaenisch hat uns
auf einen Punkt aufmerksam gemacht: Wir bräuchten eine
Vielzahl von Eizellen. Um für 17 Millionen Diabetespatienten allein in den USA Therapien bereitstellen zu können, bräuchte man hochgerechnet 850 Millionen Eizellen.
Jetzt frage ich Sie: Wo wollen Sie 850 Millionen Eizellen
herbekommen? Jaenisch sprach hier von einer sich abzeichnenden neuen Form der Prostitution von Frauen.
Das würde besonders Frauen in der Dritten Welt betreffen, die in einer neuen Art und Weise ausgebeutet werden
würden.
Ich muss Sie fragen: Ist es von uns wirklich verantwortbar, einen solchen Weg auch nur zu erwägen? Wir
müssen sowohl das, was ethisch geboten ist, als auch das,
was von der Forschung her überlegenswert ist, sowie die
Tatsache, dass Frauen nicht als neue Rohstofflieferantinnen missbraucht werden dürfen, berücksichtigen. Das ist
ein zweiter Grund dafür, zu sagen: Diesen Weg wollen wir
nicht beschreiten. Deshalb sind wir für ein internationales
Klonverbot.
({11})
Ich bin sehr froh, dass wir diese Einigung im Deutschen Bundestag erzielen, auch wenn immer wieder angezweifelt wurde, dass der Weg richtig ist. Wir leiten hier
eine Strategieveränderung ein, sodass bei der UN nicht
auf zwei Stufen verhandelt wird. Wir wollen stattdessen,
dass auf einer Stufe verhandelt und beides zugleich erreicht wird. Weil es ansonsten schwer erreichbar wäre, haben wir uns sehr intensiv darüber verständigt. Ich habe die
Signale der Bundesregierung aufgenommen, dass sie bereit ist, diesen Weg mitzugehen.
Angesichts der neuen Entwicklungen im amerikanischen Senat und angesichts der Entwicklungen bei der
französischen Regierung - ganz in unserem Sinne ist man
dort im Bereich der Gesetzgebung für Bioethik und Gentechnologie vorangeschritten - schätze ich es so ein, dass
es eine gute Chance gibt, diesen Weg gemeinsam mit
Frankreich weiterzuentwickeln und auf UN-Ebene zu einer internationalen Konvention zu kommen, die es
möglich macht, beides zugleich zu ächten. Das muss alle
Kraftanstrengung wert sein. Ich hoffe, dass die Bundesregierung diese Kraft aufbringen und einsetzen wird.
({12})
Lassen Sie mich zum Schluss sagen - dies bedeutet die
Einbettung in die neue Enquete-Kommission -: Wir werden nicht nur mit einer Schlüsselfrage konfrontiert sein,
sondern wir haben eine Vielzahl von Fragen zu beantworten; denn die Entwicklung führt uns in immer neue Grenzbereiche. Ich will an einen Satz aus Faust II erinnern.
Mephisto ist im Laboratorium und fragt Wagner: Was gibt
es denn? - Wagner antwortet ihm: Es wird ein Mensch gemacht. Ein großer Vorsatz scheint im Anfang toll.
Wir werden in der Tat mehr können, als wir dürfen.
Aber es kommt jedes Mal unvermeidbar die Frage auf uns
zu, die Dieter Grimm aufgeworfen hat: Man muss immer
fragen, ob man das, was möglich ist, auch wollen soll. Wir
können diese Frage nur auf der Grundlage unser Verfassung und unseres Menschenbildes beantworten: Die
Würde des Menschen ist unantastbar.
Ich danke Ihnen.
({13})
Ich erteile dem Kollegen Reinhard Loske, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem sich der Deutsche Bundestag in der letzten Legislaturperiode ausgiebig mit der Frage der Stammzellenforschung befasst hat, stehen in dieser Legislaturperiode
nicht minder schwierige biopolitische Fragen an. Ich
nenne nur einige: die Frage der Biopatentierung, Fragen
der Fortpflanzungsmedizin, wie der Präimplantationsdiagnostik, die internationale Regulierung des Klonens und
andere Fragen der roten und der grünen Gentechnik.
Man kann wohl sagen: Es ist der gemeinsame Wille des
Hauses, die anstehenden Debatten auf der Grundlage
möglichst umfassender Informationen und im Geiste
wechselseitigen Respekts zu führen. Diese gute Tradition,
die wir in der letzten Legislaturperiode begonnen haben,
sollten wir fortsetzen. Wir sollten das auf der Basis der Arbeit der Enquete-Kommission tun, deren Einrichtung wir
heute beschließen. Sie hat in der letzten Legislaturperiode
sehr gute Arbeit geleistet. Ich bin davon überzeugt, dass
sie das auch in dieser Legislaturperiode tun wird.
Heute befassen wir uns mit der Frage einer internationalen Regelung des Klonens, des reproduktiven Klonens und des so genannten therapeutischen oder auch
Forschungsklonens. Beide Techniken sind in Deutschland durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Das
reproduktive Klonen - sollte es beim Menschen jemals
gelingen - zielt darauf ab, die Kopie eines existierenden
Menschen zu erzeugen, also ein genetisches Duplikat.
Eine weibliche Eizelle wird entkernt - das wurde gerade
von Frau Böhmer beschrieben -, die Erbinformationen
eines existierenden Menschen werden injiziert und der
so entstandene Embryo wird in den Mutterleib eingepflanzt.
Ein solches Verfahren - ich glaube, das kann ich im
Namen des ganzen Hauses sagen - ist moralisch vollkommen unverantwortbar. Es verletzt elementar die Menschenwürde und macht den Menschen vom Subjekt zum
Objekt, vom gezeugten zum produzierten Wesen. Dem
geklonten Menschen würde eine sehr schwere Bürde hinsichtlich seiner Identität und seiner Individualität aufgeladen. Der Schweizer Ethikrat hat dazu festgestellt: Wer
als Kopie erzeugt wird, dürfte es sehr schwer haben, zum
Original zu werden. Die französische Regierung will das
reproduktive Klonen als Verbrechen nicht nur gegen die
Menschlichkeit, sondern auch gegen die Menschheit ahnden und dafür drakonische Strafen verhängen. Dieser Weg
weist in die richtige Richtung. Wir sollten uns überlegen,
ob wir ihm folgen.
Das Forschungsklonen, das so genannte therapeutische Klonen, so es denn jemals gelingen sollte - diese
Einschränkung muss man immer wieder machen; Frau
Böhmer hat die Ursachen dafür beschrieben -, ist von der
Technik her mit dem reproduktiven Klonen identisch. Das
dürfen wir nicht vergessen. Auch hier wird das gleiche
Verfahren angewandt: Eine Eizelle wird entkernt, in sie
wird die DNA eines existierenden Menschen injiziert. Der
Unterschied besteht technisch gesehen darin, dass der so
geklonte Embryo nach einem bestimmten Stadium der
Zellteilung mit dem Ziel „verbraucht“ wird, embryonale
Stammzellen für die Forschung zu gewinnen. Für diese
Methode wird von den Befürwortern mit dem Argument
geworben, dass damit in Zukunft vielleicht einmal Gewebe und Organe gezüchtet werden, die dann vom Empfänger nicht abgestoßen würden.
Es ist sicherlich nachvollziehbar, dass die moralische
Beurteilung des Forschungsklonens den meisten Menschen wesentlich schwerer fällt als die des reproduktiven
Klonens, weil für diese Technologie auch mit den Argumenten des Heilsversprechens und der Forschungsfreiheit
geworben wird. Ich meine aber, dass die Einwände - ich
werde sie kurz vortragen - im Abwägungsprozess letztlich wesentlich schwerer wiegen.
Das erste Argument ist am schwerwiegendsten:
Menschliches Leben oder Vorformen desselben werden
für bestimmte Zwecke verfügbar gemacht. Es wird produziert und dann als medizinischer Rohstoff benutzt.
Hans-Jochen Vogel hat es folgendermaßen formuliert:
Der Embryo erhält Warencharakter.
Sicherlich wird nicht jeder schon dem Mehrzeller in
der Petrischale die Menschenwürde zusprechen wollen.
Wer das aber nicht will, muss glaubhaft begründen, an
welcher Stelle das menschliche Leben stattdessen beginnt: mit der Einnistung im Mutterleib, dem Abschluss
der Organentwicklung oder erst mit der Geburt. Jürgen
Habermas hat vor etwa einem Jahr dafür plädiert - dem
Grundgesetz folgend -, den Embryo in Antizipation wie
eine Person zu behandeln, die sich verhalten könnte. Er
warnte vor einer Denkweise, die alles außerhalb des eigenen Subjekts nur noch als Ding betrachtet. Dieser Sichtweise können sich sicherlich viele Menschen anschließen.
Ich jedenfalls kann das.
Als zweites wesentliches Argument aus einer gesellschaftspolitischen Perspektive sind vor allem die Ökonomisierungstendenzen in der Biomedizin anzuführen.
Wer wirklich ernsthaft in das so genannte therapeutische
Klonen einsteigen will, der benötigt dafür Hunderttausende - eben war sogar von Millionen die Rede - Eizellen. Das würde die Frau praktisch auf die Rolle einer
Rohstofflieferantin reduzieren. Ich meine, dass diese
Vorstellung nicht akzeptabel ist. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass der schwunghafte Handel mit der Ware Eizelle vor allem in den Entwicklungsländern stattfinden würde. Das wäre eine sehr fragwürdige
Praxis, die wir auf keinen Fall unterstützen sollten.
({0})
Es muss immer wieder gefragt werden, ob es nicht bessere Heilverfahren gibt, die ethisch und gesellschaftspolitisch weniger fragwürdig sind, etwa die Forschung an
adulten Stammzellen. Vonseiten der Politik sollten wir alles tun, damit diese Forschung angemessen unterstützt
wird.
Was die Wissenschaftsfreiheit betrifft, so ist die Forschungsfreiheit - das sage ich als jemand, der selber
lange in der Forschung tätig gewesen ist - zwar ein wichtiges Argument, das durchaus ernst zu nehmen ist. Es geht
aber nicht an, den gesamten Bereich der Biomedizin im
Wesentlichen der wissenschaftlichen Selbstkontrolle zu
überlassen, wie es beispielsweise der Genforscher Detlef
Ganten vorschlägt. Ich meine vielmehr, dass die Gesellschaft insgesamt und die Politik im Besonderen Verantwortung trägt, und zwar sowohl für das Schaffen von
Handlungsräumen als auch für das Ziehen von Grenzlinien. Aus dieser Verantwortung kann uns niemand entlas2136
sen. Wir müssen und wir wollen diese Verantwortung
wahrnehmen.
({1})
Das gilt nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene. Ich meine sogar, es gilt besonders auf
internationaler Ebene. Denn ebenso wie die Nichtverbreitung von Atomwaffen, die Menschenrechte oder der Klimaschutz bedarf auch die Ziehung von bioethischen
Grenzen der internationalen Regelung. Deshalb halte
ich es für ein großes Verdienst der deutschen wie auch der
französischen Regierung, dass sie das Verbot des Klonens
auf die internationale Tagesordnung gesetzt haben; denn
das Thema wurde dort vorher nicht berücksichtigt. Dafür
möchte ich der Bundesregierung meinen Dank aussprechen.
({2})
Richtig ist aber auch, dass im November 2002 die
Bemühungen auf internationaler Ebene zumindest vorläufig gescheitert sind. Es gab eine Konstellation, in der
auf der einen Seite unter Führung der USA die Staaten
standen, die sofort beide Formen des Klonens verbieten
wollten; auf der anderen Seite stand mit Großbritannien,
Israel, China und Singapur eine Gruppe von Staaten, die
das therapeutische Klonen zulassen wollten. Die deutschfranzösische Initiative vertrat eine Position in der Mitte
und hat zunächst für ein zweistufiges Verfahren plädiert,
nämlich erst das reproduktive Klonen zu ächten und dann
das therapeutische Klonen zu regeln. Dieser Weg führte
wie auch alle anderen Wege nicht zum Ziel. Jetzt stehen
wir vor einer neuen Situation und müssen in den vor uns
liegenden acht oder neun Monaten bis zur nächsten UNVollversammlung das Fenster der Möglichkeiten nutzen.
Kern des Antrages ist, dass der Deutsche Bundestag die
Bundesregierung und die französische Regierung darin
unterstützt, international für eine möglichst weit gehende
Ächtung des Klonens zu werben.
({3})
Ganz kurz zur Situation in anderen Ländern: In Frankreich hat der Senat beschlossen, dass beide Formen des
Klonens verboten werden sollen. Damit wäre die Rechtslage in Deutschland und Frankreich gleich, sodass wir
international sehr glaubwürdig agieren könnten. In den
Vereinigten Staaten gibt es bislang eine Glaubwürdigkeitslücke; das muss man ganz klar sagen. Die US-Regierung tritt international für eine sehr weit gehende Regelung, nämlich ein vollständiges Verbot beider Formen des
Klonens, ein, regelt aber auf nationaler Ebene praktisch
gar nichts. Bischof Fürst aus Rottenburg hat vor wenigen
Tagen, als er von einer USA-Reise zurückkam, gesagt,
Präsident Bush sei zwar gegen das Klonen, um seine religiös-konservativen Anhänger zu beruhigen, lasse aber unter dem Deckmantel dieser Rhetorik die Fruchtbarkeitsindustrie gewähren. Daher erwarten wir, dass die
US-Regierung ihre Glaubwürdigkeitslücke schließt; denn
nur so können wir international zu einer überzeugenden
Regelung kommen.
({4})
Wir unterstützen die Bundesregierung bei einem einstufigen Verfahren, um auf UN-Ebene zu einer möglichst
umfassenden Regelung zum Verbot des Klonens zu kommen. Das Hohe Haus gibt der Bundesregierung für diese
Verhandlungen breite Unterstützung.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat nun Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde
mich jetzt nicht zur Enquete-Kommission äußern - das
wird gleich mein Kollege Parr tun -, sondern mich auf das
Thema konzentrieren, das die Menschen in unserem
Lande umtreibt: das Klonen von Menschen. An den Anfang stelle ich, dass niemand in diesem Hause, am allerwenigsten die FDP, gegen ein Verbot des reproduktiven
Klonens ist.
({0})
Das Klonen von Menschen, wie es dubiose Wissenschaftler und Sekten vorhaben oder bereits durchgeführt haben,
muss weltweit geächtet und verboten werden. Diese Forderung, meine Damen und Herren, hat in diesem Hause
die FDP als erste Fraktion erhoben.
({1})
Aus diesem Grunde können Sie sicherlich nachempfinden, dass ich die Auffassung vertrete, dass ein Verbot
des Klonens schnell erreicht werden muss. Deutschland
und Frankreich hatten im Oktober vergangenen Jahres einen, wie wir meinen, sehr guten Antrag bei den Vereinten
Nationen eingebracht. Seine Grundaussage lautete, das
reproduktive Klonen sofort zu verbieten und andere Formen des Klonens, das therapeutische Klonen, später und
differenzierter anzugehen. Dieser Antrag - das haben wir
eben gehört - fand ebenso wie der Antrag der USA, Spaniens und Italiens, alle Formen des Klonens zu verbieten,
keine Mehrheit.
Jetzt haben sich einige Kollegen von SPD, Grünen und
CDU/CSU - aber eben nicht die Fraktionen; das ist eine
falsche Darstellung ({2})
eines anderen besonnen und einen Antrag eingebracht, der
die deutsch-französische Regierungsposition aufgibt und
die amerikanische Position übernimmt.
Da es für uns das entscheidende Kriterium ist, wie wir
möglichst schnell zu einem weltweiten Verbot des Klonens
von Menschen kommen, muss man sich die Erfolgschancen dieser Anträge ansehen. Ministerin Bulmahn
- ich mache mir jetzt natürlich Gedanken darüber, warum
sie heute ebenso wie Kollege Fischer, der bei dieser Angelegenheit federführend ist, nicht anwesend ist ({3})
hat noch im Januar erklärt, es gehe darum, „das zurzeit
Mögliche zu erreichen“; eine „rechtliche und ethische Bewertung ist noch nicht abgeschlossen“. Ich erinnere auch
an die erstaunliche Einschätzung des Staatssekretärs
Chrobog vom Auswärtigen Amt in der letzten Woche im
Ausschuss für Bildung und Forschung, dass Ihr Antrag international keine Chance auf Durchsetzbarkeit habe.
({4})
Der Staatssekretär erklärte, es gebe drei Gruppen: Die
Maximalisten seien die USA, Spanien, der Vatikan und,
sofern Ihr Antrag beschlossen wird, auch Deutschland.
Dann gebe es die Minimalisten, die nach Möglichkeit kein
Verbot wollen. Schließlich gebe es die Realisten; das
seien bis zum heutigen Tage Deutschland und Frankreich
mit der damaligen Initiative, die Sie jetzt verlassen und
die wir, die FDP, in unserem Antrag unterstützen.
Ähnlich hat sich übrigens auch der Vorsitzende des
Nationalen Ethikrates, Simitis, geäußert. Auch er hält
offensichtlich nichts davon, den Kernpunkt der Debatte,
das Klonen von Menschen, durch weitere Forderungen zu
überfrachten.
({5})
Es macht keinen Sinn, das therapeutische Klonen in den
Forderungskatalog einzubeziehen.
({6})
Das therapeutische Klonen soll helfen, Zellgewebe
zum Beispiel für Herz-, Leber- oder Muskelzellen zu gewinnen. Das Verfahren beginnt zwar ähnlich wie das des
reproduktiven Klonens,
({7})
aber es dient ausdrücklich nicht dazu, einen Menschen zu
reproduzieren, und das ist es doch, wovor die Menschen
Angst haben. Simitis fordert deshalb eine differenzierte
Bewertung und damit hat er vollkommen Recht.
In Deutschland gibt es zurzeit keinen einzigen seriösen
Wissenschaftler, der auf die Idee käme, ein Forschungsvorhaben zum reproduktiven Klonen zu beantragen.
({8})
Ich bin sehr froh, dass es hierüber in der Wissenschaftscommunity einen breiten Konsens gibt.
Beim therapeutischen Klonen allerdings sehen viele
Wissenschaftler zwar kurzfristig keinen Durchbruch hinsichtlich der Entwicklung neuer Therapien - hier bin ich
mit ihnen absolut einer Meinung -, aber sie wollen diese
Option langfristig nicht ausschließen. Denn es geht doch
darum, kranken Menschen zu helfen.
({9})
Wenn die Forschung an embryonalen Stammzellen eines Tages zum Erfolg und damit zu Therapiemöglichkeiten führen sollte - wir alle wissen nicht, was dann sein
wird -, dann wollen die meisten Länder dieser Welt frei
über deren Einsatz entscheiden können. Genau das will
auch die FDP.
({10})
Das verbieten Sie in Ihrem Antrag. Sie müssen sich deshalb zu Recht fragen lassen, warum Sie glauben, mit
höheren Forderungen schneller ans Ziel zu kommen. Das
ist ungefähr so, als packten Sie einem Läufer noch viele
Steine in seinen Rucksack, damit er schneller ans Ziel
kommt.
Offenbar sehen das auch viele Kolleginnen und Kollegen in der SPD-Fraktion und, wie ich höre, auch in der
Fraktion der Grünen so, denn uns liegen eine Reihe von
Erklärungen vor, die besagen, sie könnten nicht für den gemeinsamen Antrag von Rot-Grün und Union stimmen. Ich
würde mich freuen, liebe Kollegen, wenn Sie die Tradition
in der Debatte über das Stammzellgesetz beibehalten und
in diesem Falle unseren Antrag unterstützen würden.
({11})
Lassen Sie mich noch ein Argument vertiefen: Mich
hat etwas erstaunt, wie kritiklos einige der Antragsteller
aus der SPD und von den Grünen die Position der USA
hinsichtlich des internationalen Klonverbots übernehmen. Fakt ist, dass die USA auf nationaler Ebene keine
Regelungen betreffend das Verbot des Klonens haben,
sich aber international zum Vorreiter von Maximalforderungen machen. Diese Position ist aus meiner Sicht alles
andere als moralisch überzeugend.
({12})
Zumindest ist es seltsam, dass die Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, die den USA sonst immer sehr skeptisch gegenübertreten,
({13})
nun gerade beim Verbot des Klonens diese Position offensichtlich vorbehaltlos übernehmen.
({14})
- Wir auch, liebe Kollegen.
Wir fordern die Bundesregierung auf: Bleiben Sie bei
der Position, die einen schnelleren Abschluss einer weltweiten Konvention gegen das Klonen von Menschen ermöglicht.
({15})
Belasten Sie diese Verhandlungen nicht übermäßig. Halten Sie Kurs. Ich will es ganz direkt sagen: Es geht hier
um die Hilfe für Menschen, die an sehr schwer zu therapierenden Krankheiten leiden. Es geht nicht darum, die
deutsche Debattenkultur noch weiter zu erhöhen.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Christoph Matschie.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir
setzen heute in diesem Haus eine Debatte fort, die sich mit
den ethischen und rechtlichen Grenzziehungen im Zusammenhang mit den Möglichkeiten moderner Medizin
und Forschung beschäftigt. Es ist gut, dass sich dieses
Haus mit diesen Fragen immer wieder in einer breiten und
intensiven Debatte auseinander setzt, denn die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben gezeigt: Dieses Parlament muss die Entscheidungen im Hinblick auf diese Fragen fällen, niemand sonst.
({0})
Wir haben in den Debatten der vergangenen Jahre - ich
erinnere nur an die Auseinandersetzungen um die Forschung mit embryonalen Stammzellen - erlebt, dass
dieses Parlament über diese Fragen in großer Verantwortung und großem gegenseitigen Respekt für die unterschiedlichen Positionen diskutiert hat und zu überzeugenden Antworten gekommen ist. Wir alle haben in diesen
Diskussionen erlebt, dass die Fortschritte der modernen
Forschung und der modernen Medizin immer auf der einen Seite zu neuen Hoffnungen auf Heilungschancen geführt, auf der anderen Seite aber natürlich auch die Sorge,
dass der Mensch zur Verfügungsmasse werden könnte,
geweckt haben. In dieser Diskussion müssen wir uns mit
beidem, mit den Hoffnungen und Chancen auf Heilung
und mit der Sorge, dass Menschen zur Verfügungsmasse
gemacht werden könnten, auseinander setzen.
({1})
Ich bin überzeugt, dass die allermeisten Forscher und
Mediziner ihrer Arbeit in sehr großer Verantwortung nachgehen. Aber klar ist auch, dass die Meldungen der letzten
Wochen über Versuche, Menschen zu klonen, alle alarmieren müssen. Nicht allein die Tatsache, dass ein solcher
Versuch gelungen sein könnte, sondern schon die Tatsache, dass solche Versuche mit menschlichen Embryonen
durchgeführt werden, muss uns alle aufrütteln und dazu
bringen, möglichst schnell zu einem internationalen Verbot des Klonens von Menschen zu kommen.
({2})
Deshalb bin ich froh, dass uns heute ein Antrag vorliegt, der von einer breiten Mehrheit dieses Hauses unterstützt wird. Der Antrag baut auf dem auf, was in der letzten Legislaturperiode als Ziel für die internationalen
Verhandlungen formuliert worden ist, nämlich ein möglichst umfassendes internationales Klonverbot zu erreichen.
Wir wissen, dass die Auffassungen über diese Fragen
international nicht einheitlich sind und der Versuch, in einem ersten Verhandlungsgang zu einem solchen Verbot zu
kommen, gescheitert ist. Wir wissen, dass es eine relativ
breite Mehrheit für ein Verbot des reproduktiven Klonens
gibt und die Frage des therapeutischen Klonens sowohl in
diesem Haus als auch international unterschiedlich beurteilt wird. Deshalb wird der Erfolg einer neuen deutschfranzösischen Initiative nicht nur von einer möglichst
breiten Unterstützung in den beiden Parlamenten, sondern
auch von der Qualität und der Überzeugungskraft unserer
Argumente abhängen.
Die Bundesministerin für Bildung und Forschung,
Edelgard Bulmahn, hat daher zu einer internationalen
Konferenz vom 14. bis 16. Mai eingeladen. Diese internationale Konferenz soll sich mit dem gegenwärtigen
Stand der Forschung und ihre ethischen Bewertungen sowie den daraus zu ziehenden rechtlichen Konsequenzen
auseinander setzen.
({3})
Es wird eine Konferenz mit Teilnehmern aus Forschung,
Politik, Wirtschaft und Verbänden sein, weil wir glauben,
dass es nur unter der Voraussetzung eines weltweiten Prozesses der interdisziplinären Verständigung letztendlich
zu überzeugenden Grenzziehungen und einem gemeinsamen internationalen Vorgehen kommen kann.
Wir stehen in der Bundesrepublik Deutschland mit
dem Embryonenschutzgesetz, das ganz klar beide Formen des Klonens ausschließt, in dieser Frage rechtlich auf
einer sehr klaren Basis.
Wir diskutieren heute auch über die Einsetzung einer
neuen Enquete-Kommission, die sich mit Fragen von
Ethik und Recht in der modernen Medizin beschäftigt;
denn es gibt in anderen Bereichen offene Fragen, bei denen wir noch nicht zu einer solch klaren Entscheidung gekommen sind, wie uns das beim Embryonenschutzgesetz
oder beim Stammzellgesetz gelungen ist. Die neue Enquete-Kommission wird sich mit der Ziehung ethischer
Grenzen und der Schaffung rechtlicher Regelungen auseinander setzen müssen. Ich bin überzeugt, dass diese Enquete-Kommission eine gute Voraussetzung dafür ist,
dass dieses Parlament auch auf neue Fragen und Herausforderungen moderner Medizin und Forschung überzeugende Antworten finden wird.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Kollege Thomas Rachel, CDU/CSUFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die biomedizinische Forschung ist eine der
großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Mit ihr
verbinden sich große Hoffnungen, Menschen besser helfen zu können. Zugleich stellt sie uns vor die Frage, wo
die ethischen Grenzen menschlichen Forschens und Handelns liegen. Als Gesetzgeber haben wir die besondere
Verantwortung, diese Entwicklung zu begleiten.
Als Christ bin ich dem Schutz der Menschenwürde
verpflichtet, zu der für mich auch eine Ethik des Heilens
gehört. Der Wille zu heilen, entspricht dem humanitären
Auftrag, Alten, Schwachen und Kranken zu helfen. In der
letzten Legislaturperiode haben wir gesehen, dass große
Fortschritte in Medizin und Biotechnologie der ethischen
Begleitung bedürfen. Dieser Aufgabe wollen wir uns auch
mit der neuen Enquete-Kommission stellen. Dabei müssen sich naturwissenschaftliche Erkenntnisse und neue
medizinische Möglichkeiten an dem Bild vom Menschen
messen lassen, wie es in der Verfassung verankert ist und
der christlichen Anthropologie entspricht.
({0})
Wir brauchen Entwicklungsmöglichkeiten für die Biound Gentechnologie vor allem, weil diese Forschung es
uns ermöglichen kann, menschliches Leben zu bewahren
und Leiden zu lindern. Aber dieser Freiraum findet seine
Grenze am absoluten Wert des Menschen, an der Menschenwürde. Manche der sich abzeichnenden Möglichkeiten der Biomedizin haben eine völlig neue Qualität. So
scheint die Möglichkeit auf, den Menschen in seiner biologischen Ausstattung selber zu verändern. Manche wollen ihn sogar genetisch neu entwerfen. Dies wäre eine abschreckende Vision.
Für uns Christdemokraten ist in Übereinstimmung mit
den beiden großen Kirchen klar, dass mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle menschliches Leben entsteht. Diese Auffassung kann nur eine Konsequenz haben:
Wir müssen ein weltweites Klonverbot erreichen. Hier
ist die Bundesregierung gefordert, entschieden zu handeln. Mit dem heute eingebrachten interfraktionellen Antrag fordern wir ein Verbot des reproduktiven und des therapeutischen Klonens. Die Position der deutschen
Bundesregierung muss dabei kristallklar sein.
({1})
Deshalb irritiert das Interview der Forschungsministerin Bulmahn in der „Berliner Zeitung“ vom 10. Januar
2003. Wörtlich antwortet sie dort:
Im Bereich des therapeutischen Klonens sind verschiedene Verfahren denkbar, einige davon könnten
sich als ethisch unbedenklich erweisen. Damit hätte
ich dann keine Probleme.
Frau Bulmahn, wir wollen wissen, was Sie dabei für
ethisch unbedenklich halten.
({2})
Bereits im Mai 2001 hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft erklärt, dass „sowohl das reproduktive als
auch das therapeutische Klonen ... weder naturwissenschaftlich zu begründen noch ethisch zu verantworten
sind und daher nicht statthaft sein können“. Die Auffassung des DFG-Präsidenten Winnacker, dass therapeutisches Klonen „Sackgasse und Irrweg“ sei, teile ich. Therapeutisches und reproduktives Klonen führen zu einem
Embryo, der einmal verworfen und das andere Mal zur
Herstellung eines identischen Menschen genutzt wird.
Die beim therapeutischen Klonen entstehenden Zellen
können Tumorzellen sein und vorzeitig altern. Für dieses
Verfahren ist eine enorme Zahl von Eizellspenden erforderlich. Dies lehne ich aus moralischen Gründen ab.
({3})
Professor Winnacker hat als Alternative für therapeutische Zwecke so genannte Stammzellbanken in die Diskussion gebracht. Dies wäre eine Sammlung von Zelllinien
mit jeweils unterschiedlicher Gewebeverträglichkeit. Damit würde das Problem der immunologischen Abwehr für
viele Patienten entfallen. Die Enquete-Kommission könnte
die rechtlichen, die wissenschaftlichen und die ethischen
Chancen von Stammzellbanken kritisch überprüfen.
Die Errungenschaften der modernen Lebenswissenschaften haben Einzug in unser Leben gehalten. Mit der
Gendiagnostik kann man frühzeitig Krankheitsrisiken erkennen, sodass der Krankheit mit geeigneten Maßnahmen
entgegengewirkt werden kann.
({4})
Dies ist eines von vielen Beispielen, die zeigen: Ethisch
begleiteter Fortschritt dient der Menschenwürde.
Mit der vollständigen Entschlüsselung des menschlichen Genoms verbindet sich die Hoffnung, mit den Mitteln der Gentherapie schwere Krankheiten zu besiegen.
Aber auch in diesem Bereich liegen Chancen und Risiken
nah beieinander. Hoffnungsvolle Ansätze müssen immer
auch auf die unbeherrschbaren Nebenwirkungen untersucht werden. Wir haben in der Enquete-Kommission darauf zu achten, welche Aufgaben die Politik und welche
die Medizin hat.
Jedes Jahr sterben in Deutschland Menschen, weil ihr
dringender Wunsch nach einem Organ mangels Verfügbarkeit nicht erfüllt werden kann. Lange Wartelisten und
illegaler Organhandel sind bedrückend. Seit einigen Jahren forscht die Wissenschaft, ob auf diesem Gebiet durch
die Übertragung von Gewebe und Organen von Tieren
Abhilfe geschaffen werden kann; das Stichwort lautet
„Xenotransplantation“. Drei zentrale Fragen stellen
sich bei dieser Forschung: die Überwindung der Abstoßung; die Gewährleistung der physiologischen Funktionalität und die Beherrschung der Infektionsrisiken.
Ist dieser Weg aber ethisch verantwortbar? Problematisch ist nicht nur, dass noch ungeklärt ist, ob durch solche
Verpflanzungen bislang unbekannte Infektionen von Tieren auf den Menschen übertragen werden können. Welchen Stellenwert hat eigentlich das Tier, dessen besonderen Schutz durch das Grundgesetz wir im letzten Jahr im
Bundestag beschlossen haben? Andererseits dient das
Tier dem Menschen seit der Urzeit als Nahrungsquelle, ja,
im Wortsinne als Lebensmittel. Als Mittel zum Leben
wäre auch ein Xenotransplantat zu verstehen.
John F. Kennedy verdanken wir den wertvollen Gedanken: Eine medizinische Revolution hat die Lebenserwartung unserer Alten verlängert, ohne ihnen die Würde
und die Sicherheit zu geben, die sie in ihren letzten Jahren verdienen. Damit sind wir bei dem ernsten Thema
„Sterbebegleitung und Sterbehilfe“. Viele Menschen
fürchten sich vor einem schmerzhaften, einsamen und oft
würdelosen Sterben.
Unser christlich abendländisches Menschenbild verpflichtet, die Menschenwürde am Anfang, im Verlauf
und am Ende des Lebens sicherzustellen. Diesem Ziele
weiß sich auch die Palliativmedizin verpflichtet, deren
Möglichkeiten wir mit der Enquete-Kommission neben
dem Ausbau der Hospizarbeit stärken müssen. Etwa
3 000 Patienten in den Niederlanden bekommen jedes
Jahr aktive Sterbehilfe - auf ausdrückliches Verlangen der
Patienten. Zusätzlich werden bei etwa 1 000 Patienten
lebensverlängernde Maßnahmen ohne deren Einverständnis abgebrochen. Dies sind alarmierende Zahlen.
Sterbende Menschen haben nach Erkenntnis der Kirche vor allem vier Grundbedürfnisse, an denen sich Sterbebegleitung orientieren muss: im Sterben nicht allein gelassen zu werden; die letzten Dinge regeln zu können; die
Frage nach einer über den Tod hinausgehenden Hoffnung
stellen zu können; vor allem nicht unter Schmerzen leiden
zu müssen.
Deutschland liegt aber auf dem Gebiet der Palliativmedizin ziemlich weit hinten. Es hat im Bereich der
Schmerztherapie im Vergleich zu anderen europäischen
Ländern noch einiges aufzuholen. In Deutschland haben
wir für 1 Million Menschen ganze drei Palliativbetten.
Der Stärkung der Palliativmedizin sollte sich die neue Enquete-Kommission deshalb als einer wichtigen Aufgabe
stellen. Ethisch begleiteter Fortschritt dient der Menschenwürde.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile der Kollegin Christa Nickels, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die
ganze Geschichte der Medizin ist eine Geschichte des
Machbarkeitswahns“, erklärte Professor Kentenich, ein
hoch angesehener Fortpflanzungsmediziner, auf einer
Bioethikveranstaltung unserer Fraktion Anfang Februar.
({0})
Ja, richtig: Ohne das Sich-nicht-Abfinden-Können und
das Sich-nicht-Abfinden-Wollen mit den Leiden der
Menschheit, ohne die Revolte gegen den Fatalismus, ohne
das Streben nach Glück und Erkenntnis gäbe es viele der
technischen und medizinischen Errungenschaften nicht,
die den Menschen in den entwickelten Industriestaaten
ein gutes Leben bis ins hohe Alter ermöglichen.
({1})
Das ist aber nur die halbe Wahrheit; denn diese Himmelsstürmerei kann zum Absturz führen und sich sogar in
ihr Gegenteil, in Barbarei, verkehren. Fortschritt, der
nicht über sich selbst reflektiert und sich nicht selbst begrenzt, verkehrt sich in sein Gegenteil. Das hat nichts,
aber auch gar nichts mit religiösem Fundamentalismus zu
tun, sondern genau das ist der Grundgedanke der Dialektik der Aufklärung.
Die Erfolgsgeschichte sämtlicher demokratischer Zivilgesellschaften beruht darauf, dass sie gelernt haben, einem ungezügelten Machbarkeitswahn Zügel anzulegen
und Grenzen zu setzen. Die Entwicklung der universalen Menschenrechte hätte es nicht gegeben ohne die Einsicht darin, dass sich die Gesellschaft und der Staat selbst
Grenzen setzen müssen und dass der Einzelne Abwehrrechte gegen den Zugriff von Staat und Gesellschaft sowie gegen kollektive Begehrlichkeiten hat. Diese Einsicht
verdanken wir Art. 1 unseres Grundgesetzes:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Entscheidend ist dabei, dass diese Menschenwürde jedem menschlichen Leben zukommt. Sie muss weder verdient werden noch kann sie verloren werden.
Aber wann sind die Grenzen dessen erreicht, was wir
tun dürfen? Wo finden wir die Kriterien für die nötige
Grenzziehung? Die Grenze ist da erreicht, wo getötet
wird, um zu heilen, oder wo Töten sogar als Heilen ausgegeben wird. Bei der Präimplantationsdiagnostik wird
ein kranker Embryo nicht geheilt, sondern er wird selektiert und getötet. Beim therapeutischen Klonen werden
Embryonen hergestellt und anschließend getötet - in der
Hoffnung, damit Heilmittel für andere Menschen zu gewinnen. Menschliches Leben wird hierbei instrumentalisiert und für fremde Zwecke vernutzt. Damit ist die Menschenwürde in ihrem Kern angetastet.
({2})
In der Präambel unseres neuen Grundsatzprogramms
verpflichten wir Bündnisgrünen uns zur Parteinahme für
die Schwächsten. Das ist keine weltfremde Gefühlsduselei, sondern das gibt einen ganz konkreten Maßstab für unsere Politik vor. Machen wir uns doch nichts vor! Wir alle
sind nicht nur am frühesten Beginn unseres Lebens, sondern in gleicher Weise am Ende unseres Lebens, wenn es
ans Sterben geht, existenziell ausgeliefert. Auch im Laufe
unseres Lebens wird es keinem von uns erspart bleiben,
solche Phasen des Ausgeliefert-Seins durchstehen zu müssen. Daher ist es gut, wenn man in einer Gesellschaft leben
kann, die an den Schwächsten Maß nimmt. Davon werden
wir alle, jeder einzelne von uns, egal wie die Konstitution
ist, wie es einem geht, nur profitieren können. Es ist ein
Garant für ein gutes Leben für alle.
({3})
Morgen wird in Magdeburg das Europäische Jahr der
Menschen mit Behinderung eröffnet. Diese Gelegenheit
sollten wir nutzen, um uns erneut mit der Frage auseinander zu setzen, worum und um wen es denn eigentlich geht,
wenn wir davon sprechen, Leid vermeiden zu wollen.
Geht es dabei wirklich um das Wohl der Behinderten? Behinderte verwahren sich vehement dagegen, dass man sie
um anderer Interessen willen instrumentalisiert. Der emeritierte Mikrobiologe Professor Zähner, Parkinsonpatient,
sagt: Wenn die Parkinsonpatienten als konkrete Nutznießer der Stammzellforschung ins Gespräch gebracht
oder in den Medien sogar vorgeführt werden, sehe ich
darin einen erniedrigenden Missbrauch.
({4})
Professor Zähner wehrt sich dagegen, dass Patienten instrumentalisiert werden, um andere Interessen zu legitimieren oder Widerstände, die sich dagegen erheben, auszuhebeln.
Behinderte fordern ganz klar ein, dass die Gesellschaft - wir leben in einer reichen Gesellschaft - alle Ressourcen zur Verfügung stellt, damit sie die Lebensfreude
und die Lebensqualität, die jedem Leben Eigen sind, auch
umsetzen können. Darum frage ich: Worum und um wen
geht es eigentlich, wenn wir davon sprechen, Leid vermeiden zu wollen, wenn die Ethik des Heilens immer wieder als Nonplusultra beschworen wird? Es wird davon abgesehen, dass manches Leiden eben nicht mehr geheilt
werden kann, aber gelindert werden muss, dass die Menschen begleitet werden müssen, dass alles getan werden
muss, damit sie ein gutes Leben haben - auch im Leid und
ebenfalls dann, wenn sie in die Sterbephase eintreten. Hier
ist es meiner Meinung nach ganz wichtig zu erwähnen,
dass wir als Gesellschaft Sterben und nicht heilbares Leid
kollektiv verdrängen und uns damit nicht mehr auseinander setzen wollen. Es ist kein Wunder, dass das Sterben in
Krankenhäuser verlagert worden ist.
Täuschen wir uns nicht! Das ist keine rein ethisch-moralische Frage, sondern eine ganz handfeste Frage, die uns
noch oft, zum Beispiel an vielen einzelnen Punkten in der
Debatte um die Gesundheitsreform, einholen wird. Ohne
klare Grundsätze werden wir als Gesellschaft diese Debatte nicht unbeschadet überstehen.
({5})
Deshalb bin ich froh und stolz, dass wir als Parlament
es gleich zu Beginn einer neuen Legislaturperiode und
trotz der international schwierigen Lage schaffen, erneut
eine Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ einzusetzen. Diese Enquete-Kommission
wird zwei wesentliche Aufgaben haben:
Zum einen geht es darum, den Fundus an Wissen und
Unterscheidungskriterien weiterzugeben, den sich der
Deutsche Bundestag zu diesen grundlegenden Fragen in
den letzten 20 Jahren erarbeitet hat. Die Enquete-Kommission der 14. Wahlperiode hat sich dieser Unterscheidungskriterien auf dem modernsten Stand der Möglichkeiten der Technik noch einmal vergewissert und hat sie
im Wesentlichen bestätigt. Darum glaube ich, dass es in
dieser Legislaturperiode, in der wir einen riesengroßen
Wechsel der Mitglieder haben, auch darum geht, das zu
tradieren, was das Koordinatensystem unserer gewachsenen Auffassung von Menschenwürde ist; ob es Bestand
haben kann und soll oder ob sich dieses Koordinatensystem grundlegend verschieben soll. Diejenigen, die diese
langen Prozesse miterlebt und mitgestaltet haben, können
sich nicht einfach auf den Standpunkt zurückziehen, dass
es für das gewachsene Menschenwürdeverständnis gute
Gründe gibt. Den neuen Mitgliedern dieses Parlamentes
und der nächsten Generation der Parlamentarier werden
wir es nicht ersparen können, sich dieser komplizierten
und schwierigen Debatte in allen Einzelungen und Facetten zu stellen.
Zum anderen haben wir rechtliche Regelungen vor
uns. Das Fortpflanzungsmedizingesetz ist spätestens seit
1994 überfällig. Es geht hier um eine grundlegende, wesentliche Herausforderung für die Art unseres Zusammenlebens, für die Grundkoordinaten unseres Menschenwürdekonzeptes. Im Sinne des Wesentlichkeitsgebots können
wir diese Aufgabe weder der Regierung noch Kommissionen überlassen. Hier müssen wir schon als Parlamentarier selbst handeln.
Ich bin sehr froh, dass wir jetzt die Voraussetzungen
geschaffen haben, und hoffe, dass das ganze Parlament
engagiert daran teilnimmt. Dabei geht es nicht um die Debattenkultur im Sinne von „Kunst für die Kunst“. Es geht
hier um wichtige und grundlegende Fragen. Das Parlament wird hier ganz dringend gebraucht.
Danke schön.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Detlef Parr, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich
ist die Fortsetzung der Arbeit der Enquete-Kommission
„Recht und Ethik der modernen Medizin“ nur folgerichtig.
Auch in der 15. Legislaturperiode
- so bringt es der vorliegende Antrag treffend zum Ausdruck steht der Gesetzgeber vor der Herausforderung, auf
die ... rasante Entwicklung in der modernen Biomedizin vorausschauend reagieren zu müssen.
Das steht außer Zweifel.
Der Bundestag braucht also ein Gremium zur Vorbereitung und Begleitung von Gesetzesverfahren, von parlamentarischen Diskussionen in bioethischen Streitfragen. Er braucht dieses Gremium umso mehr, als mit dem
Nationalen Ethikrat durch den Kanzler eine Institution
geschaffen worden ist, die in keiner Weise demokratisch
legitimiert ist. Wir Abgeordneten dürfen es nicht zulassen,
dass dem Nationalen Ethikrat eine Alleinstellung zukommt. Wir sind es, die über die Enquete-Kommission
dazu beitragen müssen, dass es zu gesetzgeberischem und
adminstrativem Handeln in Bezug auf bioethische Zukunftsfragen kommt und der öffentliche Diskurs darüber
in Gang gesetzt wird. So weit sind wir uns einig.
({0})
Umso überraschter waren wir, als der Einsetzungsantrag, der heute vorliegt, ohne Beteilung der FDP formuliert worden war. Frau Flach und ich haben noch Änderungsvorschläge eingebracht, leider ohne Erfolg. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, das empfinden wir als
schlechten demokratischen Stil.
({1})
Schauen Sie den vorliegenden Text sehr genau durch!
Er lässt mehr als die Vermutung aufkommen, dass die
Kommission einer Verschiebepolitik Vorschub leisten
soll. Denn es heißt in dem Antrag: Themen, die in der letzten Legislaturperiode „nicht in befriedigender Weise“ untersucht werden konnten, sollen neu aufgerollt werden.
Meine Damen und Herren, was heißt denn „in befriedigender Weise“? Sollen wir Themen so lange diskutieren,
bis wir zu dem Ergebnis kommen, das sich die Mehrheit
hier wünscht? Das wollen wir nicht.
({2})
- Herr Wodarg, manche Bereiche der modernen Medizin
sind längst entscheidungsreif. Der Bundestag darf sich
nicht davor drücken, bald die notwendigen Beschlüsse zu
fassen.
({3})
- Doch, das tut er sehr wohl. - Es macht zum Beispiel wenig Sinn, wenn bereits abgehandelte Themen wie die
Präimplantationsdiagnostik wieder Gegenstand der Beratungen werden sollen, wie zu erahnen ist, Herr Wodarg.
({4})
- Ich bin gespannt. - Hierzu liegt der ausführliche Abschlussbericht der Enquete-Kommission der letzten Legislaturperiode vor; die Stellungnahme des Nationalen
Ethikrates haben wir vorliegen. Die Argumente des Für
und Wider sind sorgfältig erarbeitet worden. Die Vorbereitung einer Entscheidung ist damit abgeschlossen. Jetzt
muss jeder von uns den Mut haben, darüber abzustimmen.
Wir werden einen entsprechenden Antrag einbringen.
({5})
Es ist einfach falsch, wenn die Kommission Grenzen
medizinischen Handelns bei Forschung, Diagnostik und
Therapie definieren soll. Meine Damen und Herren, so
einseitig und einschränkend darf die Aufgabenstellung
doch wohl nicht sein.
({6})
Die FDP will offen und tabulos die Chancen und Risiken
zur Sprache bringen, die mit den neu auftauchenden Fragestellungen verbunden sind. Auf eine Enquete-Kommission mit Maulkorb können wir gerne verzichten.
({7})
Wenn sich auch viele Menschen durch neue biotechnologische Möglichkeiten in ihren moralischen oder religiösen Überzeugungen verletzt sehen: Ein wesentlicher
Freiheitsgehalt des demokratischen Verfassungsstaates
liegt doch darin - ich zitiere aus der Stellungnahme des
Nationalen Ethikrats zur PID -: Staatliches Recht
lässt im Übrigen jedem die Freiheit, seinen eigenen
und über den staatlich garantierten Standard weit
hinausreichenden sittlich-moralischen Überzeugungen gemäß … zu leben und seine Lebenspraxis entsprechend zu gestalten.
Gerade im Bereich der persönlichen Lebensgestaltung
bedürfen regulative staatliche Eingriffe besonderer
Rechtfertigung. Das gilt auch für die Freiheit der Wissenschaft.
({8})
Eine der wesentlichen Aufgaben der Enquete-Kommission muss nach unserer Auffassung die Erarbeitung von
Vorschlägen sein, die auf einem Ausgleich des individuellen Freiheitsanspruchs auf der einen und dem Schutz
allgemeiner Rechtsgüter durch den Staat auf der anderen
Seite basieren. Davon müssen wir Handlungsvorgaben
ableiten, die auch international den Anschluss an die Entwicklung der modernen Medizin möglich machen.
({9})
Diesem Abwägungsprozess wollen und müssen wir
uns stellen. Das wird auch und gerade die FDP tun; nicht
aber auf der Grundlage einer Aufgabenbeschreibung, die,
wie sie uns heute vorliegt, einen solchen Prozess nur eingeschränkt und unter Bedingungen zulässt. Puristische
Verhinderungsstrategien tragen wir nicht mit. Wir sind für
eine Enquete-Kommission als Stätte des offenen Dialogs
und eines ergebnisorientierten Prozesses, aber gegen diesen Antrag.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir als
PDS begrüßen die Initiative des Bundestages für ein internationales Verbot des Klonens menschlicher Embryonen. In dieser Frage gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens. In der Bundesrepublik ist das Klonen
bereits seit 1990 verboten. Wie Sie wissen, hat der Europäische Gerichtshof die Herstellung von Menschen, die
genetisch identisch mit anderen Menschen sind, 1998
verboten.
Jetzt ist die Frage, ob es wirklich gelingt, ein internationales Verbot durchzusetzen. Da bin ich eher skeptisch.
Der Antrag von SPD, CDU/CSU und Grünen verlangt,
das reproduktive und therapeutische Klonen zu verbieten.
Das ist zwar gut und richtig, aber es scheint mir, meine
Kolleginnen und Kollegen, international nicht durchsetzbar zu sein. Ich finde, gerade diese Frage der internationalen Durchsetzbarkeit hätte hier in dieser Debatte mehr
Raum verdient.
({0})
Ansonsten müssen Sie sich schon die Frage gefallen lassen, ob diese resolute Forderung nicht nur als Beruhigung
für einige gedacht ist.
Meine Damen und Herren, wir müssen zwischen reproduktivem und therapeutischem Klonen unterscheiden. Beim reproduktiven Klonen soll ein vollständiger
Organismus entstehen; das wird von allen in diesem
Hause abgelehnt. Beim therapeutischen Klonen geht es
um die Herstellung körpereigener Ersatzgewebe wie zum
Beispiel Herzmuskelzellen oder Nervengewebe. Diese
Entwicklung ist, wenn wir es realistisch betrachten, wohl
nicht aufzuhalten.
({1})
- Es mag sein, dass das andere anders beurteilen. Ich vertrete hier meine Meinung. - Ich denke auch, dass Forschungsministerin Bulmahn diesem Antrag nur mit
Bauchschmerzen zugestimmt hat, da sie die internationalen Forschungsrealitäten kennt.
Die inhaltliche Fortsetzung der Arbeit der EnqueteKommission in der letzten Wahlperiode durch eine neue
Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“
halten wir für sinnvoll und unterstützen wir. Die Bundesregierung hat einen Nationalen Ethikrat berufen. Es ist das
Recht und die Pflicht der Bundestagsabgeordneten, ihre
Möglichkeiten zu nutzen, um sich auf diesem sehr komplizierten Gebiet sachkundig zu machen und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen.
Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist die
Einführung der Präimplantationsdiagnostik, abgekürzt
PID. Der Ethikrat hat sich dafür, die Enquete-Kommission dagegen ausgesprochen. Ich habe - das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen - den Eindruck, dass hier in einem
großen Konsens das internationale Klonverbot propagiert
wird - in dem Bewusstsein, dass das sowieso nicht durchzusetzen ist -, um dann unterhalb dieser Frage dafür zu
sorgen, dass sich die Enquete-Kommission langsam in
Richtung Ethikrat bewegt.
({2})
Aber das werden wir dann im Ergebnis sehen. Ich will die
Ergebnisse nicht vorwegnehmen, ich möchte jedoch auf
diesen Fakt hinweisen.
Allerdings bin ich schon etwas über die ungewöhnliche
Einmütigkeit der Diskussionsredner - bis auf die FDP irritiert. Es wurde in getragenem Ton viel von der Würde
des Menschen gesprochen. Ich wünschte mir, dass wir in
diesem Hause häufiger über die Würde des Menschen
sprächen, beispielsweise auch wenn es um lebende, konkrete Menschen geht, zum Beispiel in Bezug auf die Situation in den Pflegeheimen, auf die Behandlung von psychisch Gehandikapten oder auf gesundheitsschädigende
Arbeitsbedingungen.
Das oberste Gebot der Menschenwürde, meine Damen
und Herren, ist allerdings, dass es keinen Krieg gibt. Darüber müssen wir uns hier so einig sein wie in der letzten
Woche: kein Krieg nirgends, kein Krieg gegen den Irak.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegen René Röspel, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den letzten Wochen werde ich sehr häufig gefragt:
Was ist denn eigentlich so schlimm am so genannten therapeutischen Klonen? Warum sollen wir das nicht zulassen?
Ja, was ist denn eigentlich so schlimm oder unethisch
daran, einer Frau eine hohe Hormondosis zu geben, damit
sie möglichst viele Eizellen produziert, ihr die Eizellen zu
entnehmen, den weiblichen Zellkern zu entfernen und zu
ersetzen, zum Beispiel durch einen Zellkern, der aus einer
meiner Hautzellen gewonnen werden könnte? Geschaffen
würde auf diesem Wege eine genetische Kopie, ein Klon,
eine neue „Eizelle“, mit meiner Erbinformation versehen.
Sie könnte sich unter geeigneten Bedingungen zu passendem Zellersatzgewebe entwickeln oder, nach Einpflanzung
in eine Gebärmutter, in einen kompletten Menschen mein Jahrzehnte nach mir geborener Zwillingsbruder!
Diese neue „Eizelle“ wäre ein Embryo. Ich gebe zu, ich
habe mich, auch zu Beginn der Arbeit der letzten EnqueteKommission, gefragt: Ist das eigentlich ein Embryo, der
auf diesem Weg geschaffen wird? Ist Embryo nicht das,
was auf normalem Weg, nämlich durch Verschmelzung
von Ei und Samenzelle, entsteht? Ich habe während der Arbeit der letzten Enquete-Kommission sehr schnell gelernt:
Es ist ein Embryo. Es hat alle Veranlagung, zu einem Lebewesen zu werden; es ist ein Lebewesen.
Oder anders ausgedrückt: So wie ich hier vor Ihnen
stehe, sehen Sie mir nicht an, ob ich auf dem Weg des
„therapeutischen“ Klonens oder auf dem üblichen, konventionellen Weg entstanden bin.
({0})
Um Sie zu beruhigen: Meine Eltern haben mir noch gestern das Letztgenannte bestätigt.
Auch wenn ich das Klonschaf Dolly heute hätte mitbringen können, hätten Sie nicht sehen können, ob es auf
dem Weg des „therapeutischen“ Klonens oder auf natürlichem Weg entstanden ist. In jedem Fall muss das Embryostadium durchlaufen werden und in jedem Fall, beim
so genannten therapeutischen und beim reproduktiven
Klonen, wird ein Embryo hergestellt.
In Deutschland würden wir mit dieser Methode nicht
nur eine juristische Grenze überschreiten. Aus meiner
Sicht würden wir auch die Grenze des ethisch Verantwortbaren überschreiten.
({1})
Ein Embryo zu Forschungszwecken oder auch nur in der
Hoffnung, ihn zur Heilung einsetzen zu können, ist für
mich nicht akzeptabel.
({2})
Aber ist diese Methode nicht wissenschaftlich interessant?, wird gefragt. Der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Professor Winnacker, hält das
„therapeutische“ Klonen für einen „Irrweg“. Ich bin
überzeugt, er hat Recht. Es gibt in der Zellbiologie die
These, dass Zellen nach etwa 50 Teilungen zugrunde gehen. Das ist der natürliche Prozess des Alterns und Sterbens, aufgehoben nur bei Krebszellen. Die Hautzelle aus
meinem Anfangsbeispiel war 38 Jahre lang meine Hautzelle. Sie hat sich 38 Jahre lang damit beschäftigt, Hautzelle zu sein, sich unzählige Male in andere Hautzellen zu
teilen. Die Chromosomen sind irreversibel verkürzt und
geschädigt. Nach einem Zellkerntransfer allerdings
müsste dieser Hautzellkern als Embryo funktionieren,
und zwar sehr rasch. Dass damit eine Vielzahl nicht überschaubarer Probleme, auch wissenschaftlicher Probleme,
entstehen, liegt auf der Hand. Das Klonschaf Dolly ist im
Alter von sechs Jahren gestorben. Schafe haben normalerweise eine Lebenserwartung von zehn bis zwölf Jahren. Das zeigt, dass diese Probleme sehr ernst genommen
- sie kann man auch nicht durch Beschluss eines FDPParteitages aus der Welt schaffen ({3})
und wissenschaftlich berücksichtigt werden müssen.
Bedeutet der Verzicht auf das „therapeutische“ Klonen
automatisch Verzicht auf Therapie? Ich sage: Nein. Der
einzige Vorteil der durch Klonen hergestellten Zellen gegenüber anderen embryonalen Stammzellen, zum Beispiel
die fehlende Abstoßungsreaktion - das ist das einzige Argument, das das Klonen rechtfertigen würde -, wird in naher Zukunft vielleicht durch gentechnische Manipulation
reduziert - dazu gibt es neuere Arbeiten, die allerdings
auch auf adulte Stammzellen zutreffen - oder aber, wie
Professor Winnacker es vorschlug und Frau Böhmer schon
erwähnte, durch die simple Schaffung von Stammzellbanken ausgeglichen. Wer an „therapeutisches“ Klonen
zur Heilung von Krankheiten glaubt, muss heute schon
darlegen, welche Frauen denn die Hunderttausenden von
Eizellen spenden sollen, die dafür unabweisbar benötigt
werden. Auch dazu wurde schon genug gesagt.
Das Wichtigste in Bezug auf Therapie und Heilungschancen ist: Alle bereits heute vorliegenden erfolgversprechenden Therapie- oder Heilungsversuche beim
Menschen sind mit adulten Stammzellen durchgeführt
worden,
({4})
im Bereich der Leukämie bereits vor 40 Jahren mit Knochenmarkzellen. Die adulten Stammzellen werden die
Zellen sein, denen die Zukunft gehört und die zur Heilung
beitragen werden. Der Umweg des therapeutischen Klonens würde mehr schaden als nutzen. Wer das reproduktive Klonen verhindern will, muss auch das „therapeutische“ verbieten; denn es ist ein und dieselbe Technologie.
Das Ergebnis ist nicht unterscheidbar. Nur die Intention
derer, die die Zellen aus der Petrischale nehmen und in die
Gebärmutter einpflanzen, ist eine andere.
({5})
Es ist gut, dass wir heute einen interfraktionellen Antrag für ein umfassendes internationales Verbot des
Klonens verabschieden. Es ist gut, dass diesem Antrag so
viele Abgeordnete der meisten Fraktionen zustimmen
werden. Dass das so ist, hat sicherlich auch damit zu tun,
dass die beratende Arbeit der Enquete-Kommission
„Recht und Ethik der modernen Medizin“ aus der letzten
Legislaturperiode viel an Aufklärung und Information geleistet hat. Sie hat ihre Aufgabe, das Parlament in schwierigen Fragen zu beraten und Entscheidungsgrundlagen für
die Abgeordneten bereitzustellen, gut erfüllt. Sie hat die
Basis bereitet für Debatten über „therapeutisches“ Klonen, Stammzellforschung und Präimplantationsdiagnostik auf hohem Niveau und in gegenseitigem Respekt.
Deshalb ist es gut, dass wir auch heute für die noch offenen und für die neuen Fragestellungen wieder eine
Enquete-Kommission mit breitem Konsens einsetzen
werden. Ihre Themen werden vielleicht nicht mehr so
spektakulär sein wie die der letzten Enquete-Kommission
wie beispielsweise mit der Stammzellforschung. Aber sie
werden auch nicht mehr so spekulativ sein.
Die Fragen bezogen auf die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen, die Frage, wer es sich künftig leisten kann, von moderner Medizin profitieren zu können, die
medizinischen Perspektiven der Nanobiotechnologie oder
die Selbstbestimmung des Menschen an seinem Lebensende werden für viel mehr Menschen Bedeutung haben,
als es embryonale Stammzellen jemals werden haben können. Die Themen werden wechseln; die Aufgabe der
Kommission wird bleiben: parlamentarisch und demokratisch legitimiert, schwierige Fragestellungen ethisch,
rechtlich und wissenschaftlich fundiert aufzuarbeiten und
dem Parlament und der Gesellschaft zur Verfügung zu
stellen.
Ich persönlich habe in der letzten Enquete-Kommission viel dazu gelernt, übrigens auch über mich selbst. Ich
freue mich, mit Ihnen zusammen wieder mitarbeiten zu
dürfen.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Hubert Hüppe, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue
mich darüber, dass wir heute beschließen werden, die
Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen
Medizin“ wieder einzusetzen. Ich freue mich vor allen
Dingen auch deswegen, weil man sich diesmal sehr
schnell zwischen den verschiedenen Fraktionen hat einigen können. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen dafür,
dass die Arbeit dort so weitergeführt wird, wie es in der
letzten Legislaturperiode der Fall gewesen ist: ohne
Rücksicht auf Fraktionsgrenzen. Das ist bei diesem
Thema, bei dem es um die Ethik geht, sehr wichtig.
Für die Dringlichkeit dieser Enquete-Kommission
spricht sicherlich, dass sie die erste ist, die in dieser Legislaturperiode eingesetzt wird. Das war nicht immer so.
Denn in der letzten Legislaturperiode hat es immerhin anderthalb Jahre gedauert, bis die Enquete-Kommission
eingesetzt werden konnte, und es bestand nicht überall Einigkeit im Hinblick auf die Notwendigkeit einer solchen
Enquete-Kommission. Aus diesem Grunde war in der
letzten Legislaturperiode der Zeitdruck so groß, dass viele
Themen nicht behandelt oder nur angerissen werden
konnten. Dennoch haben wir in der Gesellschaft viel Anerkennung für unsere Arbeit und unseren Abschlussbericht erhalten. Vielleicht haben sich auch deswegen sehr
viele gesellschaftliche Gruppen, zum Beispiel die Kirchen sowie Frauen- und Wohlfahrtsverbände, vor allen
Dingen aber auch Behindertenverbände, dafür stark gemacht, dass diese Enquete-Kommission wieder eingesetzt
wird.
In dem vorliegenden Einsetzungsantrag wird deutlich
gemacht, wie umfassend unser Themenspektrum sein
wird: neue Aspekte der Organtransplantation, Fragen der
Fortpflanzungstechniken, Forschung an nicht Einwilligungsfähigen und Biobanken; um nur einige Themen zu
nennen. Dabei bin ich allerdings sicher, dass im Laufe unserer Kommissionsarbeit neue Themen, die sich bereits
aus der Weiterentwicklung der Forschung ergeben, hinzukommen werden.
Allerdings sollten wir nicht nur hinterfragen, was neu
auf uns zukommt, sondern auch - das ist mir sehr wichtig -, ob es nicht schon in der Vergangenheit zu Fehlentwicklungen gekommen ist. Ich denke zum Beispiel an das
Thema Pränataldiagnostik. Wenn wir über die Forschung
und den medizinischen Fortschritt sprechen, dürfen wir
nicht nur die Risiken sehen, sondern in Hinsicht auf
kranke Menschen gerade auch die Chancen der Forschung.
({0})
Welche Grenze wir aber auf jeden Fall zu beachten haben, ist in unserem Antrag festgelegt: die Wahrung der
Menschenwürde. Hier kann und darf es keine Ausnahme
geben, und zwar unabhängig davon, ob in anderen Ländern andere Bestimmungen gelten. Dazu verpflichtet uns
unser Grundgesetz. Das sollten wir auch nicht verbergen,
wenn es zum Beispiel um internationale Abkommen geht.
Im Gegenteil: Für die unteilbare Menschenwürde, die keiner Abwägung zugänglich ist, dürfen und müssen wir
auch international eintreten.
({1})
Auf jedes einzelne Mitglied der Enquete-Kommission
wird damit eine enorme Arbeit zukommen. Wir werden
uns dieser Aufgabe stellen, weil wir wissen, dass wir die
Norm- und Regelsetzung an niemanden delegieren können. Die entsprechenden Entscheidungen muss und kann
letztlich nur ein Gremium treffen: das Parlament - und
nicht Ethikräte, wobei man sich fragen muss, warum in
Ethikräten häufig mehr Forscher als Ethiker sitzen. Ich
sage dies auch in Hinsicht auf den so genannten Nationalen Ethikrat. Da ich auch für die Belange behinderter
Menschen zuständig bin und wir in diesem Jahr unter dem
Motto „Nichts über uns ohne uns“ das Europäische Jahr
der Menschen mit Behinderungen haben, halte ich es immer noch für einen Skandal, dass nicht ein einziger Behinderter Mitglied im Nationalen Ethikrat ist; das darf
man an dieser Stelle vielleicht einmal erwähnen.
({2})
Wenn wir darüber sprechen, dass das Parlament Verantwortung übernehmen muss, dann gilt das auch für den
zweiten Antrag, den wir heute behandeln. Es geht dort darum, auf UN-Ebene eine neue Initiative zu starten mit dem
Ziel, jegliches Klonen von Embryonen - es geht nicht
um Zellen - international zu verbieten. Ich hoffe, dass wir
heute mit deutlicher Mehrheit beschließen, dass das Klonen menschlicher Embryonen - egal zu welchem Zweck mit der Menschenwürde unvereinbar ist.
Frau Flach, zur Ehrlichkeit der Diskussion darf ich an
dieser Stelle anfügen - Sie wissen das; denn Sie beschäftigen sich mit diesem Thema -: Hier geht es nicht um ein
ähnliches Verfahren der Herstellung. Embryonen werden
- egal zu welchem Zweck, ob zu Forschungszwecken, ob
zur Reproduktion; einen therapeutischen Zweck gibt es ja
gar nicht - immer auf die gleiche Art hergestellt. Entscheidend ist: Lässt man diesen Embryo leben oder tötet
man ihn?
({3})
Ich denke, es ist ein deutliches Zeichen, wenn jetzt
Deutschland, möglicherweise gemeinsam mit Frankreich,
diese Initiative, die andere Staaten schon gestartet haben,
mit unterstützt. Herr Loske, Sie sagten, in den Vereinigten
Staaten sei es wahrscheinlich gar nicht so, dass man es
verbieten wolle. Es gibt aber schon genügend Initiativen
im Parlament. Wenn wir uns jetzt auf die Seite der vielen
anderen Länder stellen würden, die das völlige Verbot des
Klonens menschlicher Embryonen wollen, würden wir
auch die Situation dort mit beeinflussen, schon gar, wenn
Frankreich mitmacht. Die Chancen stehen übrigens nicht
schlecht; denn in Frankreich gibt es inzwischen auch parlamentarische Initiativen, die das Klonen ganz strikt verbieten wollen. Dagegen ist unser Embryonenschutzgesetz
noch liberal.
Meine Damen und Herren, man muss sich auch vor Augen halten: Was würde eigentlich passieren, wenn man
tatsächlich nur das reproduktive Klonen verbieten
würde, also nur das Klonen mit dem Ziel, dieses Kind
auch auszutragen? Das würde bedeuten, dass man das
Klonen von Embryonen zwar zulässt, dass der Forscher
sich aber nur dann gesetzestreu verhält, wenn er auf jeden
Fall diesen Embryo vor seiner Geburt tötet. Ein Tötungsgebot ist meiner Meinung nach mit unserer Verfassung
überhaupt nicht in Gleichklang zu bringen. Auch das muss
man an dieser Stelle sagen.
Was würde denn passieren, meine Damen und Herren,
wenn es bei tatsächlich vorhandenen Klonembryonen
- das wäre ja die Folge - bald einen internationalen
Markt gibt? Wer will kontrollieren, wer auf dem internationalen Markt geklonte Forschungsembryonen in Auftrag gibt? Wer will kontrollieren, wer Embryonen dann
importiert, kauft oder verkauft? Wer will überwachen, ob
mit solchen Embryonen, wenn sie erst einmal vorhanden
sind, nicht auch Schwangerschaften herbeigeführt werden? Diese Kontrolle ist doch gar nicht möglich. Was
würde passieren, wenn eine Frau dann wirklich mit einem
solchen Embryo schwanger ist? Wollen Sie dann das Verbot des reproduktiven Klonens durchsetzen, indem Sie die
Frau zu einer Abtreibung zwingen? Das kann doch nicht
gewollt sein.
Meine Damen und Herren, meine Redezeit ist leider
vorbei. Ich möchte Sie noch einmal aufrufen: Lassen Sie
uns heute ein deutliches Zeichen setzen. Lassen Sie uns
schnell und rechtzeitig handeln. Stimmen Sie dem interfraktionellen Antrag zu
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Wodarg,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! „Was neu ist, wird alt, und was gestern
noch galt, stimmt schon heut’ oder morgen nicht mehr“,
singt Hannes Wader. Sehr geehrte Kolleginnen, sehr geehrte Kollegen, das stimmt natürlich in besonderem Maße
für den Bereich der molekularen Biologie. Das, was die
Enquete-Kommission noch vor einem Jahr über Stammzellen diskutiert hat, ist heute zum Teil schon technologisch auf dem Abstellgleis. Da gibt es neue Entwicklungen.
Seit einigen Jahren wird uns vor Augen geführt, wie
durch die Technik des Klonierens genetisch weitgehend
identische Kopien von Lebewesen hergestellt werden
können. Das jetzt vorzeitig gestorbene Schaf Dolly oder
das Bild von der Pipette voller Wunschgene, die in eine
entkernte Eizelle injiziert werden, sind, genau wie die
DNS-Spirale, moderne Ikonen der Biotechnologie, mit
denen Hoffnungen und Spekulationen verbunden werden,
die oft schon fast einen religiösen Charakter anzunehmen
scheinen.
Wie schnell sich die Erkenntnisse zum Beispiel in der
Stammzellforschung ändern, haben uns Forscherteams
aus Wisconsin und Köln erst kürzlich gezeigt. Während
wir unser Gesetz zum Import von Stammzellen noch unter der Prämisse verabschiedet haben, dass embryonale
Stammzellen zwar pluripotent, aber nicht totipotent sind,
zeigten sie, dass das nicht mehr stimmt. Sie stellen ganze
identische Mäuselinien oder Mäuseserien aus Stammzellkulturen her, die auch genetisch verändert werden können, die auf Blastozysten wachsen und dann sogar als
weibliche und männliche Mäuse miteinander wieder neue
Mäuse zeugen können, alle mit gleicher genetischer Ausstattung. Hier kann man sagen: Dolly ist tot, Klonen ist
out. Denn es gibt inzwischen neue Technologien. Das
meinte Herr Winnacker vermutlich, als er von Stammzellbanken sprach und in diesem Zusammenhang neue
Technologien in den Vordergrund stellte.
Was bleibt, was wir bei alledem nicht vergessen dürfen
und was Angehörigen, Pflegekräften und Ärzten in den
Wohnungen, in den Praxen, in den Heimen und in den Kliniken täglich vor Augen steht, sind Schweiß, Kot, Blut,
Schmerz und die Angst derer, die unsere Sorge und Hilfe
brauchen, jetzt und ganz konkret. Ihnen müssen wir helfend und aufrichtig gegenübertreten. Sie sind diejenigen,
die die Qualität unserer Medizin letztlich am besten beurteilen können. Ihnen dürfen wir keine falschen Illusionen
über die Vergänglichkeit menschlichen Lebens, über das
zum Leben gehörende Sterben machen, auch wenn uns
die eigene Angst vor diesem Schicksal nur allzu oft dazu
verleitet.
Visionen, Wagemut und Forschung sind trotzdem notwendig, auch wenn dies den heute Kranken und Sterbenden nur noch wenig nützt. Wir wollen in der neuen Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen
Medizin“ den praktischen Nutzen von Innovationen mehren, wir wollen dem Gesetzgeber Instrumente und Regeln
vorschlagen, um Wirkung und Nebenwirkung genauer zu
unterscheiden und wir wollen, dass Irrwege und Risiken
in der Forschung und Entwicklung minimiert werden und
die bedarfsgerechte Nutzung des medizinischen Fortschritts erleichtert wird.
Welche konkreten Aufgaben stehen uns ins Haus? Es
gilt, zum Beispiel folgende Frage zu beantworten. Dürfen
an nicht einwilligungsfähigen Menschen Forschungen
oder klinische Erprobungen durchgeführt werden, auch
wenn diese selbst davon keinen direkten Nutzen haben?
Wie gehen wir mit jenen um, die uns Ergebnisse von Studien präsentieren, die im Ausland unter bei uns verbotenen Bedingungen durchgeführt wurden? Welcher internationale Regelungsbedarf ist erforderlich, damit wir in
Deutschland, wenn wir die Lücken der Bioethik-Konvention geschlossen haben, gemeinsame Richtlinien und
Grenzen für die Forschung in Europa oder Forschungsfelder - wenn man es positiv ausdrückt - definieren können?
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es gibt ein weiteres
Thema, das drängt. Die Kinderärzte sagen uns, sie brauchten mehr Erfahrungen mit den Medikamenten, die bei
Kindern angewendet werden. In diesem Bereich müssen,
und zwar durch klinischen Studien, Erfahrungen gesammelt werden. Kinder können dem, was mit ihnen gemacht
werden soll, nicht zustimmen. Deswegen müssen wir Regeln entwickeln, mit denen Erfahrungen gesammelt werden können, damit wirksame Medikamente für Kinder
hergestellt werden können, die nicht über- oder unterdosiert sind, sondern die ihnen wirklich effizient helfen.
Wir haben weitere wichtige Themen in den Antrag aufgenommen. Eines dieser Themen, das noch etwas fremd
anmutet, ist die Nanobiotechnologie. Die Nanobiotechnologie verwischt in einer bisher unbekannten Weise die
Grenzen zwischen Physik und Biologie, zwischen Technik und Natur sowie zwischen Maschine und menschlichem Körper. So waren kürzlich beispielsweise Berichte
über ein US-amerikanisches Forschungsprojekt zu lesen,
in dem es darum geht, die Funktionsweise von Nervenzellen durch Nanochips zu simulieren. Diese Chips könnten, so die Überlegung, später ins Gehirn implantiert werden, um ausgefallene Hirnzellen, zum Beispiel bei einer
Alzheimererkrankung etwa in der Region des Gedächtnisses, zu ersetzen. Man könnte so, wenn man das weiterspinnt, sozusagen eine externe Festplatte entwickeln, die
an das Gehirn angedockt werden kann.
Ich denke, dieses Beispiel zeigt jedem deutlich, wie
viel versprechend die medizinischen Perspektiven dieser
neuen Technologie einerseits sind, wie andererseits aber
ganz neue ethische Fragen auftauchen, wenn wir in die
Lage kommen, mit Maschinen und Schaltkreisen auf der
Nanoebene in die Strukturen und Prozesse des menschlichen Lebens einzugreifen.
({0})
Die Nanotechnologie ist daher, wie ich denke, ein sehr
gutes Beispiel dafür, wie die neue Enquete-Kommission
ihre Verantwortung wahrnehmen könnte, nämlich ethisch
relevante Themen vorausschauend anstatt reaktiv zu
durchdenken.
({1})
Wir wollen dabei versuchen, dass wir die anstehenden
Themen nicht doppelt behandeln. Wir müssen uns mit
dem Nationalen Ethikrat und mit anderen Gremien, die
sich über Ethik und Recht in der Medizin Gedanken machen, abstimmen und können so Synergieeffekte erreichen. Das Thema Biobanken ist ein Thema, dessen sich
bereits der Nationale Ethikrat angenommen hat, das wir
aber auch in der Enquete-Kommission behandeln müssen; denn es gibt eine Richtlinie aus Brüssel, die versucht,
Maßstäbe für die Gewinnung, Lagerung, Behandlung und
Verteilung von Zellen, von menschlichen Geweben zu
entwickeln, die wir ins nationale Recht umsetzen müssen.
Hier gilt es ganz konkret etwas zu tun. Genauso müssen
wir in Deutschland die Umsetzung der Richtlinie zur
Good Clinical Practice in nationales Recht vorbereiten.
Hierbei geht es um Nichteinwilligungsfähige und um die
Bedingungen, unter denen klinische Versuche mit ihnen
durchgeführt werden dürfen.
Die neue Enquete-Kommission stellt auch im Namen
die Ethik vor das Recht und lädt die Öffentlichkeit in
Deutschland und auch unsere Nachbarn zur Diskussion
über diese Themen ein. Es gibt ethisch und rechtlich sehr
unterschiedliche Regelungen in Europa. Was darf die
Forschung mit Embryonen tun? Was ist am Lebensanfang
insgesamt erlaubt? Was darf man am Lebensende? Was
soll verboten bleiben? Hier gibt es einen Streit und einen
Wettbewerb in der Diskussion in Europa.
Man schaut mit großen Erwartungen auf Deutschland.
In Deutschland hat es in der vergangenen Legislaturperiode einen sehr fruchtbaren Streit über diese Themen gegeben. Wir haben gezeigt, dass es gut ist, wenn sich die
Bundesregierung einerseits und das Parlament andererseits für diese Debatte wappnen. Wir haben gesehen, dass
das Interesse der Öffentlichkeit gerade dann steigt, wenn
nicht nur ein einziges Spezialistengremium arbeitet, sondern wenn es auch zu Spannungen und unterschiedlichen
Meinungen kommt. Das ist nichts Schlechtes.
Ich muss meinem Kollegen Hüppe widersprechen. Ich
finde es gut, dass der Kanzler den Nationalen Ethikrat
hat und dass das Parlament die Ethik-Enquete-Kommission hat. Wir in Deutschland werden uns streiten. Das tun
wir fair und nach demokratischen Regeln. Dabei sollen
Kompromisse herauskommen, hinter denen wir alle stehen können und die für die Menschen in unserem Lande
gut sind.
Ich bedanke mich.
({2})
Ich erteile der Kollegin Barbara Lanzinger, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich bedanke mich bei den Abgeordneten
der Fraktionen - für meine Fraktion nenne ich stellvertretend Frau Dr. Böhmer -, die die beiden Anträge „Einsetzung der Enquete-Kommission ‚Ethik und Recht der
modernen Medizin‘“ und „Neue Initiative für ein internationales Verbot des Klonens menschlicher Embryonen
starten“ ganz entscheidend mit auf den Weg gebracht haben.
({0})
Wir befinden uns in einem ungeheuren Spannungsund Konfliktverhältnis: einerseits eine immens rasante
und immer schnellere Machbarkeits- und Selektionsmedizin und andererseits klare ethische Wertvorstellungen, die auf einem christlichen Menschenbild, dem Menschenbild der christlich-europäischen Wertetradition,
basieren. Die Forschung an embryonalen Stammzellen,
die Präimplantationsdiagnostik, die Pränataldiagnostik,
Abtreibungen, Spätabtreibungen, Euthanasie und Sterbehilfe berühren die elementaren Grundwerte unserer Gesellschaft. Sie berühren aber auch die Fragen nach dem
Inhalt und der Reichweite elementarer Verfassungsprinzipien wie die Menschenwürde, den Lebensschutz oder die
Wissenschaftsfreiheit.
({1})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in vielen Begegnungen, Begleitungen und Gesprächen mit schwerstkran2148
ken und sterbenden Menschen wird uns in der Hospizbewegung Tätigen immer wieder sehr bewusst und deutlich vor Augen geführt, was es heißt zu leben und wie
wichtig es ist, gerade am Lebensende über sein Leben, seinen Wert, seine unendlichen Zufälligkeiten, das Warum
und Wieso und darüber, was es bedeutet, noch oder trotzdem da zu sein, nachzudenken.
Ich sehe es als eine der zentralen politischen und gesamtgesellschaftlichen Aufgaben an, Werteorientierung
zu schaffen und zu leben: vom Beginn des Lebens an, für
die Art des Individuums und für das Lebensende. Nicht
nur als Landesvorsitzende des Bayerischen Hospiz-Verbandes ist es mir ungeheuer wichtig, im Namen der
schwerstkranken und sterbenden Menschen für ein menschenwürdiges Leben bis zuletzt einzutreten und dazu
klare Vorstellungen in die heute zu beschließende Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ einzubringen.
Gerade in einer Zeit von Kostendruck und Wirtschaftlichkeit besteht die Gefahr, dass die Menschlichkeit und
die Zeit im Umgang mit schwerstkranken, hilfsbedürftigen, alten, behinderten und sterbenden Menschen auf
der Strecke bleibt. Ich denke, wir alle gemeinsam tragen
die Sorge und das Bemühen, der Gefahr vorzubeugen, Gedanken an bezahlbar oder nicht bezahlbar, wert oder unwert gar nicht erst aufkommen zu lassen.
({2})
Ich meine schon, dass es in der heutigen Debatte erlaubt sein muss, laut zu formulieren, dass nicht alles, was
auch wissenschaftlich mach- und planbar ist, alles, was
erstrebenswert erscheint und ist, in der Konsequenz auf
Dauer richtig ist. Nicht alles Mögliche darf machbar sein.
({3})
Ich meine auch, dass wir für heute und für die Zukunft
klar Stellung beziehen müssen, was Menschsein letztendlich für uns bedeutet, was wir selbst wert sind, was wir uns
wert sind, was der Mensch überhaupt und uns noch wert
ist. Was sind wir für Menschen in einer Gesellschaft, deren aktuelle Trends sind: perfekt, maßgeschneidert, frei
von Belastungen, be- und verurteilt nach Nützlichkeit
und Leistungsfähigkeit, nach die Gesellschaft und die
Allgemeinheit belastenden Erkrankungen?
Auch in der Politik müssen wir den Mut haben, unsere
Angst zu formulieren.
({4})
Nicht die Angst davor, welche Perspektiven, welche Vorund Nachteile die medizinische Forschung eröffnet, sondern die Angst davor, ob wir es uns zutrauen, politisch und
rechtlich all das abzusichern und in den Griff zu bekommen, was unwägbar ist und deshalb Angst macht. Ich
möchte klar und deutlich formulieren und dafür einstehen,
was wir am Ende für uns und die nachfolgenden Generationen wollen.
Ich halte es für enorm wichtig, wie Kant im Imperativ
zu sprechen: Achte die Menschheit in jedem Menschen!
Es darf kein „lebenswert“ oder „lebensunwert“ geben.
Der Wunsch nach einem Kind darf nicht das Kind nach
Wunsch und Maß sein. Wie soll sich ein Mensch angenommen fühlen, wenn er von Anfang an weiß, dass er für
bestimmte Wünsche instrumentalisiert wurde oder dass er
nicht existieren würde, wenn er die „Endauswahl“ nicht
überstanden hätte?
Ich habe in meiner Beratungstätigkeit viele Frauen und
Familien erlebt, die die Möglichkeiten der modernen Medizin oftmals verwünschten, nämlich dann, wenn die
Diagnose stand: Ihr ungeborenes Kind ist behindert. Die
Entscheidung, ein behindertes Kind zu wollen oder nicht,
müssen die Frauen letztendlich alleine treffen. Der psychosoziale Druck, die tiefen Emotionen und Gedanken
müssen größtenteils ebenso wie die daraus vielfach entstehenden Beziehungskonflikte alleine getragen werden.
Eine Pflichtberatung nicht nur bei der Pränataldiagnostik
wäre hier dringend anzudenken, wenn nicht sogar zu fordern.
({5})
Ich sehe es als wichtige Aufgabe der Enquete-Kommission an, sich unter dem Gebot der Achtung der unterschiedlichen Persönlichkeiten, der Meinungen, Fragen,
Argumente, Erfahrungen und Standpunkte die Zeit zum
Zuhören und zum Austausch zu nehmen. Wir haben mit
dem Embryonenschutzgesetz, mit einer fraktions- und
parteiübergreifenden Bereitschaft im Bundestag für ein
internationales Verbot des reproduktiven und therapeutischen Klonens menschlicher Embryonen einzutreten,
eine gute und wichtige Basis für unsere Entscheidungsfindungen.
Es ist dringend erforderlich, auf diesen Grundlagen in
einen breiten öffentlichen und gesellschaftlichen Dialog
zu den vielen noch offenen und neuen Fragestellungen
zum Beispiel zu Biobanken, Gentests, zur Gentechnik bei
Menschen und Pflanzen, zur Sterbebegleitung und Palliativmedizin, zu Tod und Sterben, einzutreten und, wenn
möglich, auch bei aller Unterschiedlichkeit einen Konsens und gemeinsame Antworten zu finden.
Ich möchte mit dem Gedicht einer behinderten Frau
schließen, die sich in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion zu Ethik und Biomedizin mit allen damit zusammenhängenden Themen als betroffen bezeichnet.
Lebenswert
„im“ Fernsehen, wieder Diskussion,
ob ich es wert wäre zu leben.
Eugenik, Vorgeburtliche Diagnostik, Euthanasie.
Und ich denke mir, mit 15 wäre ich gestorben ohne
den medizinischen Fortschritt.
Vor 60 Jahren wäre ich vergast worden aufgrund
des ideologischen Fortschritts.
In ein paar Jahren würde ich wegen beidem nicht
geboren werden.
Wie soll ich leben mit dieser Vergangenheit in
Zukunft?
Danke schön.
({6})
Ich erteile Frau Dr. Reimann, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte Sie bitten, den Antrag zur Einsetzung der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ zu unterstützen. Viele der neuen Erkenntnisse in
der modernen Medizin können einen erheblichen Einfluss
auch auf die Lebenswirklichkeit jedes Einzelnen entfalten. Damit ist auch die Politik gefordert. Wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier im Bundestag müssen
uns damit auseinander setzen, um das, was wir wollen,
können oder dürfen, gegebenenfalls neu zu justieren.
({0})
Häufig wird der Politik vorgeworfen, der dynamischen
Entwicklung hinterher zu hinken. Die Enquete-Kommission eröffnet die Chance, die Entwicklung auf Augenhöhe
zu verfolgen und zu begleiten. Deshalb kann der Bundestag als das gesetzgebende Organ unseres Landes nicht darauf verzichten, ein solches Expertengremium einzusetzen. Denn hier werden die Entscheidungen fallen. Das
haben auch schon viele meiner Vorrednerinnen und Vorredner betont. Die Enquete-Kommission soll rechtliche,
ethische, soziale und politische Aspekte der Entwicklung
bewerten und Handlungsvorschläge für uns, den Gesetzgeber, erarbeiten.
Das Feld, auf dem diese Diskussion innerhalb der Enquete-Kommission stattfinden wird, ist durch das Grundgesetz bereitet. In Amerika gibt es das so genannte Pursuit
of Happiness, das Recht eines jeden Menschen auf ein
glückliches und erfülltes Leben. In unserer Verfassung ist
ein solches Recht nicht direkt als staatliche Garantie verankert. Dennoch enthält unser Grundgesetz eine Reihe
von Regelungen, die allen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes die gleichen Chancen zur Führung eines
glücklichen Lebens garantieren sollen. Ich meine damit
die allgemeinen Menschenrechte und die Schutzrechte,
die die Bürgerinnen und Bürger vor gesellschaftlichen
Fehlentwicklungen bewahren sollen mit dem Ziel, dass
jeder und jede die gleichen Möglichkeiten erhält, seine
bzw. ihre Lebenschancen zu realisieren.
Für unsere Diskussion leitet sich daraus zum einen die
Pflicht ab, uns schützend vor den Menschen zu stellen,
wenn ihm die Gefahr droht, zu einem rein ökonomischen
oder materiellen Faktor reduziert zu werden. Lebenschancen dürfen überdies nicht von vermeintlichen Leitbildern biologischer Superiorität abhängig sein. Wir sind
auf der Basis unseres Grundgesetzes verpflichtet, die
Menschenwürde des Individuums gegen den optimierten
Menschen zu verteidigen.
({1})
Zum anderen beschränkt sich die grundgesetzliche Forderung von Chancengleichheit aber nicht auf die Abwehr
von Fehlentwicklungen. Wir sind darüber hinaus auch gehalten, aktiv an der Schaffung von gleichen Voraussetzungen und gleichen Chancen für alle mitzuwirken.
Was hat moderne Medizin nun mit Chancengleichheit
zu tun? Noch immer ringen wir mit einer Vielzahl von
Krankheiten, die die Betroffenen aus der Mitte des Lebens
reißen und für die es bislang kein anderes Rezept gibt, als
sie als Schicksal zu akzeptieren. Das Risiko unheilbarer
Krankheiten - ich will keine nennen, um keine auszugrenzen - ist nur in wenigen Fällen wirklich beeinflussbar. Es kann jeden und jede treffen, weil der blinde Zufall
das einzige Prinzip ist.
Meine Damen und Herren, es ist ein Menschheitstraum, die Macht solcher Schicksalsschläge zu mindern
oder gar gänzlich aus der Welt zu schaffen. Es gibt wohl
keine größere Ungerechtigkeit als die Unausweichlichkeit einer Erkrankung, die jeden ohne eigenes Verschulden treffen kann. Wir werden immer mit Krankheiten leben müssen. Aber dort, wo sich aus der
medizinischen Forschung Optionen zur Behandlung von
Krankheiten ergeben, sind wir verpflichtet, das Mögliche
zu tun, um den Erkrankten die gleichen Chancen zu eröffnen, die für die Gesunden selbstverständlich sind.
({2})
Heilungschancen sind Lebenschancen, die wir den Betroffenen nicht ohne weiteres verweigern dürfen. Dazu
verpflichtet uns auch der Gedanke der Chancengleichheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind die Koordinaten sichtbar, innerhalb deren wir die Diskussion in der
Enquete-Kommission zu führen haben. Wir begeben uns
in ein Spannungsfeld, in dem sich die Teilziele unserer
Verfassung nicht selten in Widerspruch zueinander befinden. Hier werden wir sicherlich schwierige Debatten zu
führen haben, denn einfache Antworten gibt es auf die
komplexen Fragen der Biopolitik nicht.
({3})
Eine intensive Auseinandersetzung, die von Akzeptanz
und Respekt aller Standpunkte getragen sein muss, ist notwendig, um in Bezug auf eine Fortentwicklung biomedizinischer Forschung unsere Koordinaten zu bestimmen
und diese Diskussion in die breite Öffentlichkeit zu tragen.
({4})
Dafür ist die Enquete-Kommission meiner Ansicht nach
das geeignete Instrument; deshalb bitte ich Sie, ihrer Einsetzung zuzustimmen.
Des Weiteren bitte ich Sie, dem interfraktionellen Antrag „Neue Initiative für ein internationales Verbot des
Klonens menschlicher Embryonen starten“ zuzustimmen.
Niemand will das Klonen von Menschen, ich auch nicht.
Deshalb habe ich von Anfang an an diesem interfraktionellen Antrag mitgearbeitet.
Das Entsetzen und das Unverständnis über die Ankündigung der Geburten angeblicher Klonkinder, die in der
letzten Woche wieder die Runde machte, ziehen sich
durch alle gesellschaftlichen Gruppen und alle Fraktionen in diesem Haus. Ich begrüße es deshalb, dass wir
diese gemeinsame Ablehnung durch einen gemeinsamen interfraktionellen Antrag betonen und die Bundesregierung unterstützen, sich auf der Grundlage unserer
nationalen Gesetzgebung bei den internationalen Verhandlungen für ein möglichst umfassendes Klonverbot
einzusetzen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Nächste Rednerin in der Aussprache ist die Kollegin
Katherina Reiche, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Entwicklung der biomedizinischen Forschung vollzieht sich
sehr rasant. Die Fortschritte in der Intensiv- und Transplantationsmedizin, in der Humangenetik und in der
Embryologie brachten die Medizin immer näher an die
Grenzen der Ethik und der Menschenrechte heran oder
überschritten sie gar. Gerade hatten wir das Klonschaf
Dolly verdaut, entschlüsselte Craig Venter das humane
Genom. Im letzten Jahr wollten verbrecherische Scharlatane gar ein Kind geklont haben.
Gleichwohl leisten Forschung und Technologie einen
bedeutenden Beitrag zur Bewältigung der gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen im 21. Jahrhundert. Sie bieten die Chance, zur Lösung
zahlreicher globaler Probleme im Zusammenhang mit
Gesundheit, Alter, Ernährung, Bevölkerungswachstum,
Welternährung, Umwelt und nachhaltiger Entwicklung
beizutragen. Die Reichweite des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes wirft jedoch dort, wo neue Optionen
des Eingriffs in Mensch und Natur geschaffen werden,
Fragen an die Verantwortung der Wissenschaft und der
Gesellschaft auf. Es geht um unsere Verantwortung für die
eine Umwelt ebenso wie für den Schutz der Würde des
Menschen und die Wahrung der Grundrechte und Grundfreiheiten, die im Grundgesetz und in der Konvention des
Europarates verankert sind.
Die Enquete-Kommission der vergangenen Legislaturperiode hat mit ihrer Arbeit zu einer breiten öffentlichen
Debatte über die Chancen und Risiken der Gentechnik
in der Gesellschaft beigetragen. Sie hat zudem verdeutlicht, dass solche wichtigen Entscheidungen in den Deutschen Bundestag und nicht in außerparlamentarische
Kommissionen, Räte oder Runden gehören. Die neue
Enquete-Kommission wird sich ebenfalls mit den Fragen
des Rechts und der Ethik der modernen Medizin befassen.
Von rund 30 000 Krankheitsbildern können wir ungefähr 10 000 mehr oder weniger gut behandeln. Die Genomforschung und die Molekularbiologie werden die
Medizin revolutionieren. Trotzdem wird es immer ein Leben mit Krankheiten geben. Technologieentwicklung und
-anwendung auch im Bereich der Medizin sind konkrete
menschliche Handlungen. Sie sind in unser historisches,
kulturelles und rechtliches Umfeld eingebettet, das wir
gestalten. Technik kommt also nicht von außen über uns;
sie ist deshalb nicht als solche gut oder schlecht.
Auch die Annahme, Wissenschaft und Technik seien
voneinander zu trennen, man solle sich mit dem reinen
Verstehen begnügen, das gewonnene Wissen jedoch nicht
anwenden, führt in die Irre.
({0})
Eine Gesellschaft, die das Wissen über komplexe Vorgänge unseres Lebens als Problem und nicht als Chance
für die Zukunft begreift, geht in eine Sackgasse.
({1})
Die Biotechnologie ist für die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts wohl das, was der Computer für die letzte Hälfte des 20. Jahrhunderts war. Die Folgen sind ungeheuer,
ihr potenzieller Nutzen ist riesig. Es gibt Zweifler, die sagen, Aspekte dieser wissenschaftlichen Forschung seien
grundsätzlich unerwünscht, und es gibt Apologeten der
Machbarkeit um jeden Preis. Ich sage Ihnen: Lassen wir
unsere Wissenschaft doch erst einmal Fakten herausfinden und urteilen wir danach. Unsere verantwortlich handelnden Wissenschaftler haben es verdient, dass wir ihnen
und ihrer Arbeit das nötige Vertrauen entgegenbringen.
({2})
Die Menschen wissen, dass ihr Leben immer umfassender von Wissenschaft und Technik abhängt. Sie wissen
aber auch: Die moderne Wissenschaft und die moderne
Technik haben sich in einem ungeheuren Ausmaß als dem
Leben dienlich, lebenserhaltend und lebenserleichternd
erwiesen.
Wissenschaftliche Erkenntnis und Ethik gehören zusammen. Sie bestimmen gemeinsam den Fortschritt der
Menschheit. Die wissenschaftliche Innovation ist der Motor und die Ethik der Fahrer. So haben die gentechnische
Revolution und neue Wege in der medizinischen Grundlagenforschung die Frage nach der Würde des Menschen
sowie nach dem Verhältnis zwischen elementaren Menschenrechten und der Freiheit von Wissenschaft und Forschung in den Mittelpunkt der öffentliche Debatte gerückt.
Viele wissenschaftliche und ethische Fragen der Biomedizin konnten in der Enquete-Kommission der vergangenen Wahlperiode nicht angesprochen werden, wie zum
Beispiel Gene Farming, Nanobiotechnologie, Pharmakogenomik, Nahrungsmittel, Nahrungsmittelsicherung. Aber
auch Fragen im Zusammenhang mit dem Ende des
menschlichen Lebens wurden nicht untersucht. Es geht
um den Umgang unserer Gesellschaft mit neuen Erkenntnissen und Möglichkeiten, aber auch um die Frage, wie
sie mit ihren grundlegenden Werten umgehen will. Diese
Entwicklungen haben erst begonnen, unser Leben zu beeinflussen, und stellen künftig in noch höherem Maße
eine Herausforderung an die Gesellschaft dar.
Dies alles geschieht in einem internationalen Rahmen. Wer internationale Vereinbarungen daran misst, ob
sie die eigenen sittlichen Überzeugungen hinlänglich zum
Ausdruck bringen, verwechselt Recht und Ethik. Wer völkerrechtliche Vereinbarungen über Mindestnormen als
Bedrohung nationaler Rechtsregeln betrachtet, verkennt
den Sinn dieses Rechts und traut zudem dem Rechtsbewusstsein im eigenen Land wenig zu.
({3})
Immer dort, wo unterschiedliche Traditionen in Recht
und Ethik berücksichtigt werden müssen, sind Vereinbarungen ganz besonders schwierig zu erreichen. Die
Durchsetzung eigener Maximalforderungen gelingt leider
selten, während Kompromisse der Normalfall sind.
({4})
Wir sind aufgefordert, verbindliche und unseren ethischen Überzeugungen entsprechende rechtliche Standards
zu entwickeln, die zugleich eine Weiterentwicklung, eine
praktische Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zugunsten von Mensch, Natur und Umwelt ermöglichen. Die Forscher wiederum sind aufgefordert, an der
Erarbeitung dieser Standards mitzuwirken. Es geht um
unsere gemeinsame Verantwortung gegenüber der Würde
des Menschen, gegenüber der natürlichen Umwelt und
ebenso gegenüber dem hohen Gut der unabdingbaren
Freiheit von Wissenschaft und Forschung. In Bezug auf
die ethischen Prinzipien und Werte, die für einzelne biomedizinische Felder relevant sind, muss ein angemessener Ausgleich angestrebt werden. Eine Verengung auf ein
einziges Prinzip ist wenig hilfreich. Es ist die Pflicht von
Staat und Wissenschaft, die Forschung für Prävention,
Diagnostik und Therapie zu unterstützen. Die moralische
Verpflichtung zu gesundheitsbezogener Forschung
muss stärker als in der Vergangenheit Eingang in den Diskurs finden. In diesem Sinne wünsche ich mir die Arbeit
der Enquete-Kommission.
({5})
Das Wort hat nun die Kollegin Kühn-Mengel, SPDFraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Es ist vornehmste und originäre Aufgabe einer
Enquete-Kommission, Raum zu geben für die ethischen,
rechtlichen, wissenschaftlichen, ökonomischen und Forschungsfragen, die mit dem Tempo fortschreitender Entwicklungen in Biologie und Medizin zusammenhängen
und die auch das im Grundgesetz verankerte Konzept der
Menschenwürde berühren. Diesen Diskussionen Raum zu
schaffen, daraus auch gesetzgeberische Initiativen zu entwickeln, das ist Aufgabe der Enquete-Kommission, die
jetzt fortgeführt werden soll, was wir alle begrüßen.
Zwischen Ablehnung und Akzeptanz, zwischen Furcht
vor dem Machbaren und Hoffnung auf therapeutische
Möglichkeiten entsteht das gesellschaftliche Konfliktpotenzial, über das hier diskutiert werden muss. Dem Wissenschaftler unterstellen wir eine wichtiges Forschungsziel, wenn er Stammzellen verwendet, um Therapien
gegen Diabetes zu entwickeln. Wenn aber Geschwisterkinder als lebende Organspender geplant werden, sehen
wir, wo die Grenzen der Möglichkeiten - sie bringen viele
ethische Fragen mit sich - entstehen.
({0})
Wir Abgeordnete sind in der Pflicht, dem Deutschen
Bundestag ein Instrument in die Hand zu geben, mit dem
dem Parlament die Ergebnisse einer breit geführten Diskussion zur Verfügung gestellt werden. Die letzte Kommission hat genau diesen Diskurs in - so meine ich - vorbildlicher Weise initiiert, sie hat das Spannungsfeld
zwischen Ethik und moderner Medizintechnologie aufgegriffen, widergespiegelt und eine vertiefende Diskussion
geleistet. Sie hat alle betroffenen Gruppen, Institutionen
und Verbände, viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen berücksichtigt und damit unter Beweis gestellt,
dass man diese schwierigen Fragen aufbereiten und in die
parlamentarische Diskussion einbringen kann.
Die Kommission war dabei sehr erfolgreich. Ich erinnere an wichtige Themen, die aufgegriffen wurden und in
gesetzgeberische Initiativen mündeten. Ich erinnere an
die Europäische Grundrechte-Charta - das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderung ist angesprochen worden -; die Enquete-Kommission hat dafür gesorgt, dass der Artikel gegen die Diskriminierung
verankert wurde. Er bezieht sich nicht nur auf die Diskriminierung wegen des Geschlechts oder der Zugehörigkeit
zu einer ethnischen Gruppe, sondern das Diskriminierungsverbot bezieht sich auch auf die genetische Ausstattung. Diese ganz wichtige Ergänzung wurde zu Beginn
der Arbeit der letzten Enquete-Kommission geleistet.
({1})
Wir haben zum Stammzellenimport, zur Biopatentrichtlinie, zur Präimplantationsdiagnostik, zur Stammzellenforschung und zu den genetischen Daten wichtige Diskussionen geführt. Dank der engagierten Debatte mit
Sachverständigen und Verbänden haben wir die Gesetzgebungsverfahren begleitet. Die Arbeit der Kommission
hat entscheidend dazu beigetragen, für einen zugespitzten
bioethischen Konflikt in kürzester Zeit eine weithin akzeptierte Kompromisslösung zu finden. Denken Sie an den
Bereich der Forschung mit embryonalen Stammzellen.
Bei all dem haben wir größten Wert darauf gelegt, dass
Transparenz und Beteiligung der Öffentlichkeit gewährleistet waren. Nur selten hat eine Kommission so viel Beachtung in der Bevölkerung und den gesellschaftlichen
Gruppen gefunden; das war gewollt und muss auch dieses
Mal Ziel sein. Ich möchte nur an die große Veranstaltung
in Bethel erinnern, bei der wir mit den Betroffenen und
ihren Familien und mit den Verbänden über unsere Arbeit
diskutiert haben.
Auch die Themen, die jetzt noch zu behandeln sind,
sind hoch brisant. Darauf haben wir auch im Abschlussbericht hingewiesen. Sie reichen von Gentests über Eingriffe in das menschliche Erbgut, reproduktives und
therapeutisches Klonen, Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen bis hin zur Übertragung tierischer Organe auf Menschen und den damit verbundenen
ethischen Fragen. Dazu gehört auch all das, was sich zu
Beginn und am Ende des Lebens abspielt, auch das ist
schon einige Male angesprochen worden. Bitte vergessen
Sie auch nicht die Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Gruppen, so sind beispielsweise die frauenpolitischen Aspekte bei vielen Diskussionen zu kurz gekommen.
({2})
Die Pluralität der Weltanschauungen in unserer Gesellschaft bringt Wertevielfalt, aber auch Werteunsicherheit
mit sich. Ich glaube, dass die Enquete-Kommission dazu
beitragen kann, eine geordnete und gleichzeitig breite
Diskussion zu führen und gute Grundlagen für gesetzliche
Regelungen zu schaffen. Insofern wünsche ich der neuen
Enquete-Kommission, die jetzt „Ethik und Recht“ statt
„Recht und Ethik“ heißt, für ihre Arbeit guten Erfolg.
({3})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Helmut Heiderich,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
einem Bereich herrscht international - ich denke, auch unter uns - nahezu Einmütigkeit: Das Klonen zur Erzeugung
menschlicher Duplikate wird fast unisono abgelehnt.
Selbst die Chinesen, denen häufig eher ein lockerer Umgang mit bioethischen Fragen nachgesagt wird, haben
letzte Woche öffentlich und entrüstet die Meldung zurückgewiesen, in China sei möglicherweise ein geklontes
Menschenkind geboren worden.
Anders ist die Situation bei dem, was man hierzulande
üblicherweise „therapeutisches Klonen“ nennt, ein, wie
ich meine, völlig irreführender Begriff.
({0})
Deswegen setze ich mich sehr dafür ein, dass diese Form
des Klonens anders, nämlich so genannt wird, wie sie
tatsächlich ist: „destruktives Klonen“. Wir sollten beginnen, diese Begriffe gegeneinander auszutauschen.
({1})
Ich habe oft den Eindruck, dass in der Debatte über diesen Punkt doch manches durcheinander geht. Deswegen
möchte ich mich ausschließlich mit dieser Frage auseinander setzen.
Warum haben wir uns nach unserem Besuch mit einer
kleinen Gruppe beim deutschen UN-Botschafter für ein
Verbot dieser Technologie so stark gemacht? Gibt es doch
noch immer die Argumentation, dieser sei ein Weg zur
Heilung chronischer oder degenerativer Krankheiten und
deswegen dürfe man diesen Weg nicht verbauen.
({2})
Welches sind die Versprechungen, die immer wieder
vorgetragen werden, Frau Flach? Ich möchte sie einmal
auflisten: Erstens. Man hofft, durch Übertragung eines erwachsenen Zellkerns in eine menschliche Eizelle Zellmaterial zu gewinnen, das keine Immunabwehr auslöst,
wenn es in den Körper des Patienten rückübertragen wird.
Dieser Effekt erscheint zwar theoretisch möglich, ist aber
bisher völlig unbewiesen.
({3})
Überhaupt beinhalten alle Argumente, die von den Befürwortern dieser Technologie angeführt werden, mehr Hoffnung als Heilung. Sie sind mehr Science-Fiction als
Science. Bei den Versuchen, die bisher unternommen
worden sind - es gibt ja einige Hinweise -, hat sich eher
gezeigt, dass es doch zu einer Immunreaktion kommt, offenbar weil die verbliebene mitochondriale DNA der Eizelle nicht ohne Auswirkung auf den Klon bleibt.
Zweitens. Die nächste Hoffnung, die verbreitet wird,
besteht darin, schwere genetische Erkrankungen durch
Klonen von Zellkernen sozusagen in der Petrischale abbilden, den Patienten also auf seinen Klon reduzieren zu
können. Am geklonten Zellmaterial sollen dann die mutierten Gene aufgespürt und soll die krankheitsverursachende Expression herausgefunden werden. An diesen
Invitro-Modellen menschlicher Krankheiten könne man
die molekularen Zellmechanismen unabhängig vom Patienten erforschen. Hätte man sozusagen die Modelle einzelner Patienten, könnte man daran auch weitergehende
pharmazeutische und chemische Behandlungsmethoden
testen, ohne den Kranken selbst belasten zu müssen. So
weit die Versprechungen.
Wie aber sind die Fakten? Mitte vergangenen Jahres
hat die Firma ACT in Wisconsin einen solchen Klonversuch unternommen. Von 19 Eizellen mit ausgetauschtem
Zellkern ließen sich 16 nicht zum Leben erwecken. Die
drei verbliebenen stellten im Sechszellstadium jede weitere Entwicklung ein. Andere Spitzenwissenschaftler haben uns berichtet, dass nach ihren Forschungen prinzipielle biologische Barrieren bestünden - man muss wohl
sagen: glücklicherweise -, die solche Klonvorgänge vielleicht dauerhaft verhinderten.
Nehmen wir aber einmal an, dass es wirklich gelänge,
solches Klonen möglich zu machen. Was würde das bedeuten? Man bräuchte - darauf ist schon vorhin hingewiesen worden - Tausende menschlicher Eizellen, um die
Behandlung eines einzigen Menschen zu ermöglichen.
Das heißt doch, in den Petrischalen der Labors müsste
tausendfach junges Leben heranwachsen, um dann zerstört und zu medizinischem Rohstoff für einen einzigen
Kranken verarbeitet zu werden. Das ist der Hintergrund
dessen, was man so euphemistisch als therapeutisches
Klonen bezeichnet.
({4})
Ist das wirklich die Hoffnung, für die wir dieses Forschungsfeld offen halten sollten?
Ich meine, es gibt längst andere und langfristig bessere
Wege. Vor kurzem hat zum Beispiel die Gruppe von
Francis Thomson in Wisconsin mit dem deutschen Kollegen Thomas Zwaka das Ein- und Ausschalten einzelner
Gene im menschlichen Zellkern möglich gemacht. Damit
könnte man zukünftig Krankheitsbilder in der Petrischale
simulieren, ohne Menschen klonen zu müssen. Anderen
Forschern ist es im Tierversuch gelungen, schon ausdifferenzierte Zellen über zwei Stufen zurückzuentwickeln.
Die damit verbundenen Erkenntnisse könnten der Forschung mit adulten Stammzellen ein völlig neues Potenzial geben.
Es gibt also nach meiner Auffassung - es ist mir ganz
wichtig, darauf hinzuweisen, weil immer wieder Gegenteiliges behauptet wird - auch keinen wissenschaftlichen
Grund, Klonen, gleich welcher Art, als Hoffnungsstrategie zu betrachten. Auch deswegen fordere ich dazu auf,
nicht länger von therapeutischem, sondern von destruktivem Klonen zu sprechen.
({5})
Ich meine, dass wir auch der Biowissenschaft insgesamt einen Dienst erweisen, wenn wir diese zweifelhafte
und unakzeptable Art und Weise wissenschaftlicher Forschung von vornherein ausschließen und damit die Biowissenschaften von dem Ruch befreien, ethisch und moralisch fragliche Technologien anzuwenden. Meiner
Meinung nach gibt es für uns eine moralische und ethische Verpflichtung, den Weg zur breiten Anwendung einer solchen menschenverachtenden Technologie rechtzeitig zu verbarrikadieren. Deswegen muss unser Antrag von
nun an auch international umgesetzt werden.
({6})
Dafür zu sorgen ist unser Auftrag und ist unsere moralische Pflicht. Dem müssen wir gemeinsam nachkommen.
Auch in den USA - das ist vorhin hier angesprochen
worden - gibt es längst vergleichbare Initiativen. Mir liegt
ein Antrag vor, der vor wenigen Wochen im amerikanischen Senat eingebracht worden ist. Auch in diesem Antrag wird dazu aufgefordert, alle Verfahren des Klonens
zu verbieten. Der ganze Antrag umfasst - den Amerikanern gelingt das manchmal sehr schön - nicht mehr als
eine Seite. Vielleicht können wir uns daran ein Beispiel
nehmen. Man spricht sich in diesem Antrag sehr deutlich,
sehr einfach und sehr klar gegen diese Form der Entwicklung, die ich destruktives Klonen nenne, aus.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Jörg
Tauss, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir, zusammenfassend einige Aspekte
anzusprechen. Ich begrüße es sehr, dass der gemeinsame
Antrag für ein internationales Verbot des Klonens zustande gekommen ist. Hierzu gab es bereits im letzten Jahr
eine klare rot-grüne Position. Es wäre meines Erachtens
nicht unbedingt notwendig gewesen, dem etwas folgen zu
lassen. Aber nachdem es über Weihnachten eine reichlich
unseriöse Pressekampagne einer, was das Klonen anbelangt, wesentlich unseriöseren Sekte gab, ist die politische
Diskussion über dieses Thema neu aufgeflammt. Das Ergebnis, das uns vorliegt, ist gut, auch wenn sein Zustandekommen auf einer, wie gesagt, weniger seriösen Grundlage beruht.
Allerdings führte und führt dieser Ausgangspunkt bei
einigen Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause - auch
bei solchen aus unserer Fraktion - durchaus zu Unwohlsein. Ich verstehe diese Empfindungen durchaus. Sie resultieren aus der Sorge, dass durch ein striktes Nein seriöse
Forschung zum Wohle der Menschen möglicherweise gefährdet wird.
({0})
Ich sage deutlich: Ich teile diese Sorge nicht. Auch die
Deutsche Forschungsgemeinschaft hat klar zum Ausdruck gebracht, dass das therapeutische Klonen aus wissenschaftlicher Sicht kein Thema ist. Frau Flach, wir
brauchen wirklich nicht wissenschaftlicher als die Wissenschaft selbst zu sein. Das ist nicht unsere Aufgabe.
({1})
An dieser Stelle können wir auf die Wissenschaft hören.
Aus diesem Grunde spricht auch nichts dagegen,
diese Position, die wir hier gemeinsam haben, in die internationalen Verhandlungen einzubringen. Ich kann
nur nochmals betonen: Dieser Bundesregierung gebührt
das Verdienst, in diesem Bereich als erste international
tätig geworden zu sein. Das ist ein Erfolg deutscher
Außenpolitik. Wir werden diesen Weg weiter beschreiten.
({2})
Alle diese Argumente sind seriös genug, um hier keine
Horrorszenarien frankensteinscher Art entwerfen zu müssen. Herr Hüppe, Sie haben immer wieder eine paar frankensteinsche Ansätze gehabt. Ich teile Ihre Kritik, dass in
der Ethikkommission mehr Forscher als Ethiker seien, in
keiner Weise. Wer dies so formuliert, impliziert damit,
dass Forschung als solche nicht ethisch sei und dass die
Forscher nicht ethisch arbeiteten. Dies müssen wir
zurückweisen.
({3})
Ich habe großen Respekt vor der Arbeit des Nationalen Ethikrats. Ich weiß überhaupt nicht, wie man dazu
kommen kann, dieses Gremium einer demokratisch gewählten Regierung als undemokratisch zu bezeichnen.
Ich danke Herrn Simitis und den Mitgliedern des Ethikrats ausdrücklich für die Arbeit, die sie in der Vergangenheit geleistet haben.
({4})
Auch wenn ich einer derjenigen bin, die gern Schärfe
in die Debatte bringen und in Diskussionen kein Kind von
Traurigkeit sind - ich räume dies durchaus ein; Sie setzen
sich damit ja gelegentlich auch fröhlich auseinander -,
muss ich doch eines sagen, Kollegin Nickels. Ich empfehle, bei Themen wie PID und Behinderte sprachlich etwas abzurüsten. Viel von dem, was Sie hier gesagt haben,
kann ich absolut nicht akzeptieren.
({5})
Sie haben davon gesprochen, dass als Nonplusultra die
Ethik des Heilens beschworen wird. Niemand hat hier
eine Ethik des Heilens beschworen. Die Ethik des Heilens
ist aber durchaus ein Wert.
Frau Böhmer, die Interpretation dessen, was in Art. 1 des
Grundgesetzes zum Thema Menschenwürde steht, würde
ich schon ganz gern weiterhin dem Bundesverfassungsgericht überlassen. Es kann hierbei nicht um Positionen von
Personen gehen, die ich persönlich sehr respektiere,
({6})
die aber - auch dies sollte klar gesagt werden - in vielen
Punkten mit der Rechtsprechung zu Art. 1 nicht im Einklang stehen.
({7})
Mit diesen Fragen und mit den Grenzen des medizinischen Fortschritts wird sich die Enquete-Kommission auseinander zu setzen haben. Sie wird sich viele neue spannende Themen auf die Tagesordnung setzen. Ich war am
Anfang sehr skeptisch, ob es Sinn macht, eine solche Enquete-Kommission wieder einzurichten, möglicherweise
auch zu Themen, die bereits in der letzten Legislaturperiode abgehandelt worden sind. Es sind wichtige neue Fragen, beispielsweise zum Sterben, aufgeworfen worden.
Ich hoffe, dass die Enquete-Kommission diese Fragen aufgreift. Ich hoffe auch sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen
- das geht an diejenigen, die Mitglied der Enquete-Kommission sein werden -, dass diese Enquete-Kommission in
der Lage sein wird, jenseits von Vorfestlegungen unvoreingenommen an ihre Aufgaben heranzugehen.
Ich freue mich auf spannende Diskussionen zur Forschungspolitik zwischen Ihnen und mit Ihnen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/ Die
Grünen auf Drucksache 15/464 mit dem Titel: „Einsetzung einer Enquete-Kommission ‚Ethik und Recht der
modernen Medizin‘“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
mit den Stimmen der SPD-Fraktion, der CDU/CSU-Fraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Damit
ist die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ eingesetzt.
Ich darf hinzufügen, dass die von den Fraktionen zu benennenden Mitglieder die guten Wünsche des ganzen
Hauses bei der Erledigung dieser ebenso wichtigen wie
schwierigen Aufgabe begleiten.
({0})
Wir stimmen nun ab über den Antrag der Fraktionen der
SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 15/463 mit dem Titel: „Neue Initiative für
ein internationales Verbot des Klonens menschlicher Em-
bryonen starten“. Dazu liegen mir drei Erklärungen zur
Abstimmung vor, die jeweils von mehreren Abgeordneten
unterschrieben sind.
Es gibt eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung
der Abgeordneten Rolf Stöckel, Kurt Bodewig, Siegmund
Ehrmann und anderer1) - ich muss die Namen nicht im Ein-
zelnen verlesen; das wird ja im Protokoll festgehalten -, mit
der diese Kollegen begründen, warum sie dem Antrag
nicht zustimmen können.
Es gibt eine weitere Erklärung zur Abstimmung der
Kollegen Petra Selg, Werner Schulz, Dr. Uschi Eid und
Jerzy Montag, die diesem Antrag zwar zustimmen wollen,
für ihr Abstimmungsverhalten aber eine persönliche Er-
klärung abgeben möchten.2)
Drittens schließlich gibt es eine Erklärung zur Abstim-
mung der Kollegen Dr. Martin Mayer, Georg
Fahrenschon, Peter Hintze und Ursula Heinen, die diesem
Antrag nicht zustimmen wollen.3)
Ich stelle nun den Antrag auf Drucksache 15/463 zur
Abstimmung. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der
Antrag ist mit den Stimmen der großen Mehrheit der Mitglieder der SPD-Fraktion, der CDU/CSU-Fraktion und
der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion bei einigen Enthaltungen aus der
CDU/CSU-Fraktion angenommen.
({1})
- Es gab einige Gegenstimmen bei der SPD-Fraktion.
({2})
1) Anlage 2
2) Anlage 3
3) Anlage 4
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
- Davon kann sicher keine Rede sein, Herr Kollege. Über
das Mehrheitsverhältnis gibt es ganz offenkundig keine
Meinungsverschiedenheit.
Damit ist dieser Antrag angenommen.
Wir kommen zum Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 15/314 mit dem Titel „Reproduktives Klonen
weltweit verbieten - das Machbare schnell umsetzen“.
Abweichend von der Tagesordnung soll über den Antrag
heute abgestimmt werden. Wer stimmt für diesen Antrag
der FDP-Fraktion? - Wer stimmt gegen den Antrag? -
Wer enthält sich der Stimme? - Dieser Antrag ist mit der
großen Mehrheit der Stimmen aus allen anderen Fraktio-
nen bei einigen Enthaltungen sowohl aus der SPD-Frak-
tion als auch aus der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 sowie den Zu-
satztagesordnungspunkt 2 auf:
4. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Straßenbaubericht 2002
- Drucksache 15/265 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zum Ausbau der Schienenwege 2002
- Drucksache 15/280 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Horst
Friedrich ({5}), Joachim Günther ({6}),
Daniel Bahr ({7}), weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs
eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 15/221 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 2 Erste Beratung des von den Abgeordneten Arnold
Vaatz, Dirk Fischer ({9}), Eduard Oswald,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 15/461 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Bundesminister Manfred Stolpe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ihnen liegen Berichte zum Straßenbau und zum Ausbau der Schienenwege im Jahr 2001 vor. Das sind zwei
Dokumente, die in die Hand zu nehmen sich lohnt. Sie alle
sind nämlich irgendwo davon betroffen und, wie ich
hoffe, damit auch weithin zufrieden.
Wir haben die gute Erfahrung gemacht, dass dieses
Parlament für dieses Jahr 8,5 Milliarden Euro für die Ausbaumaßnahmen bei Straße und Schiene bereitgestellt hat.
Wir haben dankbar erleben können, dass Planungsbehörden der Länder und des Bundes in enger, intensiver Zusammenarbeit dazu beigetragen haben, dass die zum Teil
schwierigen Projekte bewegt werden konnten. Wir haben
erlebt, dass Projektanten, Architekten, Ingenieure, leistungsstarke Unternehmen und nicht zuletzt Tausende von
Fachleuten dazu beigetragen haben, dass sich die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland ein Stück weit verbessern konnte.
({0})
Meine Damen und Herren, diese Maßnahmen halfen
dabei, Staus abzubauen; so wurden - das brauchen wir
dringend - Brücken über Rhein und Main gebaut. Die A 2
von Hannover bis Berlin ist fertig geworden. Vom Kamener Kreuz wurde die A 1 in Richtung Wuppertal weiter
ausgebaut. Nicht zuletzt ist auch der Bau der Bahnstrecke
von Köln in die Region Rhein-Main schon in jenem Jahr
erheblich vorangekommen. Ähnliches gilt für Strecken in
Bayern, so von Nürnberg über Ingolstadt nach München.
Dabei sind aber auch Verkehrsbauten, die benachteiligte
Regionen besser an das Wirtschaftsleben in Deutschland
insgesamt anbinden; hier ist speziell im Schienenbereich
eine Menge im Osten Deutschlands getan worden. Auch
der Bau der A20 ist in jenem Jahr, aber auch im letzten Jahr
erheblich vorangetrieben worden. Hier ist viel bewegt worden; sie wird insgesamt eine große Bedeutung gewinnen.
Lassen Sie mich bei einer solchen Gelegenheit auch sagen: Da wurden Verkehrsbauten errichtet, die Architekturund Ingenieurgeschichte schreiben und auf die wir stolz
sein können.
({1})
Ich kann nur raten, sich gewisse Brückenbauten einmal in
Ruhe anzusehen, zum Beispiel die, die in Thüringen errichtet wurden. Darauf können wir durchaus mit Freude
schauen.
Aber nicht nur das schnellere Vorankommen des Einzelnen im Verkehrsgetriebe, auf das wir stolz sind und
worüber wir uns freuen, ist die Aufgabe von mobilitätsverbessernden Maßnahmen und Verkehrsbauten. Nein,
Mobilität ist mehr: Mobilität ermöglicht modernes Le2156
ben. Mobilität ermöglicht Produktivitätssteigerung. Wir
müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass ungefähr die
Hälfte der gesamten Produktivitätsleistung in Deutschland abhängig von den Verkehrsleistungen des Systems
ist. Nicht zuletzt schafft Mobilität auch Arbeit. Mehr als
10 Prozent aller Arbeitsplätze in Deutschland sind unmittelbar mit dem Erbringen von Verkehrsleistungen verbunden; indirekt hängen davon weitaus mehr ab.
({2})
Ich möchte dafür werben, dass Verkehrsinfrastruktur
eine Vorrangaufgabe bleibt. Zu dem jetzigen Verkehrsvolumen, das auf dem derzeitigen Netz zu bewältigen ist,
kommt noch der zu erwartende Anstieg des Verkehrsaufkommens. Wir können auch bei behutsamen Schätzungen davon ausgehen, dass etwa 20 Prozent mehr Personenverkehr und rund 65 Prozent mehr Güterverkehr
bewältigt werden müssen. Die Erweiterung der Europäischen Union wird den Druck auf das Transitland
Deutschland, das es aufgrund seiner zentraleuropäischen
geographischen Lage ist, noch vergrößern. Hier sind wir
gefordert und hier müssen wir uns noch ganz erheblich
mehr Mühe geben, um diese große Aufgabe zu bewältigen. Wenn wir nicht versuchen, das stärker zu beeinflussen, wird der Zuwachs allein auf den Straßen stattfinden
und wir werden massive Belastungen von Autobahnen
und anderen Straßen erleben und wichtige Bereiche - das
sind in der Regel die Wachstumsbereiche - werden im
Verkehr ersticken, wenn wir nicht dagegen angehen.
({3})
Ich sehe es als allererste Aufgabe für Verkehrspolitik in
Deutschland an, ein integriertes, leistungsfähiges, ökologisch verantwortbares Verkehrssystem zu schaffen. Nach
meiner Überzeugung müssen wir dafür unsere Bemühungen um den kombinierten Verkehr vergrößern. Das
heißt, stärker die Leistungspotenziale von Straße, Schiene
sowie Binnen- und Hochseeschifffahrt zu verbinden. Wir
brauchen insbesondere in den Häfen Terminals, die die
Verbindungen zwischen Hochseeverkehr und Kurzstreckenverkehr sicherstellen. Wir brauchen aber auch
Strategien, um den kombinierten Verkehr zu fördern. Wir
müssen ihn gezielt unterstützen. Ich freue mich, dass wir
in der Zwischenzeit auch schon mehrere Trimodal Terminals haben, die die Verbindung von Wasserstraßen, Schienenwegen und Straßen ermöglichen. Auch da wird noch
mehr geschehen können.
Nicht zufrieden - das will ich Ihnen offen sagen - bin
ich mit der Situation der „rollenden Landstraße“. Da
könnte eigentlich noch mehr geschehen. Dem steht aber
offenbar die Marktsituation entgegen. Hier für ein Umschwenken zu sorgen ist eine Aufgabe, der wir uns stärker
stellen müssen; immer vor dem Hintergrund der Tatsache,
dass die Bahn auf dem Schienenweg noch mehr zur Bewältigung der riesigen Güterverkehrsströme, die auf uns
zukommen, beitragen kann.
({4})
Meine Damen und Herren, die Verkehrspolitik in
Deutschland muss weiterhin Schwerpunkte setzen. Ganz
vorne sehe ich die Notwendigkeit der Staubeseitigung.
Das betrifft Wachstumsregionen. Darauf werden wir uns
noch stärker zu konzentrieren haben.
Ich sehe zum Zweiten die Notwendigkeit, dass wir uns
auf den noch immer vorhandenen Nachholbedarf konzentrieren. Das betrifft zum einen Strecken im Osten, die
geschaffen werden müssen, die Autobahnen A 14 und
A 72, zum anderen aber auch die zwingend erforderliche
Schließung von Lücken etwa bei der A 1 oder auch bei der
A 31, wo wir in bestimmten Regionen unerträgliche Situationen haben.
Wir haben drittens im Berichtsjahr 2001 70 Ortsumgehungen fertigstellen können. Nach meiner Schätzung
und nach Auskunft der Experten brauchen wir in Deutschland noch rund 300 Ortsumgehungen, die wir vordringlich angehen sollten.
Wir müssen - das darf ich als vierten Schwerpunkt unserer Verkehrspolitik einbringen - die technischen Errungenschaften, die wir haben, die Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologie stärker
nutzen und stärker erschließen,
({5})
um über Telematik,
({6})
über Verkehrssteuerung eine bessere Verteilung des Verkehrsaufkommens zu erreichen.
In diese Überlegung, moderne Technologie für die Bewältigung des Verkehrsaufkommens zu erschließen,
gehört für mich auch die Notwendigkeit, die Bemühungen
um eine Magnetbahntechnik zu verstärken und vonseiten des Bundes zu unterstützen. Wir müssen auch Zukunftswege erschließen. Wir dürfen nicht nur in Zeiträumen von wenigen Jahren denken, sondern müssen gerade
in diesem Bereich weit über Legislaturperioden hinausdenken.
({7})
Auch der Umweltschutz muss bei unserer Verkehrspolitik ein strategisches Ziel sein. Wir müssen uns weiterhin um alternative Antriebe bemühen. Wir müssen aber
auch die Maßnahmen des Lärmschutzes verstärken, nicht
nur bei Neubauvorhaben, sondern auch beim Bestand, sowohl bei der Schiene als auch bei der Straße. Das sollte
ebenfalls ein Schwerpunkt unserer Bemühungen sein.
Lassen Sie mich als einen weiteren Punkt nennen, dass
die Fragen der Sicherheit im Verkehr weiterhin große Bedeutung haben müssen. Aufgrund der internationalen Katastrophen, die in diesem Bereich eingetreten sind, haben
wir unlängst die Bemühungen um die Tunnelsicherheit
verstärkt.
({8})
Nicht zuletzt werden wir auch alles tun müssen, um
Verfahrensbeschleunigungen zu erreichen.
({9})
Ich kann hier nur noch einmal von den guten Erfahrungen
berichten, die wir mit dem Bundesverkehrswegeplanungsbeschleunigungsrecht in Ostdeutschland gemacht
haben. Wir werden den Bericht zum Jahresende 2003 vorlegen. Ich freue mich auf die Diskussion, die wir dann alle
miteinander haben werden, auch vor dem Hintergrund
von Anträgen, die ich heute gelesen haben.
Meine Damen und Herren, alles in allem sind das gewaltige Aufgaben, die angegangen werden müssen. Wir
sehen zugleich, dass das, was wir für Verkehrsinfrastruktur an Geld zur Verfügung stellen - im Jahr 2003 werden
das 11,5 Milliarden Euro sein -, nicht ausreichen wird, um
die Aufgaben zu bewältigen. Wir brauchen zusätzliche Finanzierungswege. Wir brauchen die Maut. Bitte unterstützen Sie uns, damit wir die Maut rechtzeitig einführen
können. Wir brauchen Betreibermodelle, wie sie schon
angedacht sind, wie wir sie zum Beispiel beim Warnowtunnel oder auch beim Wesertunnel haben werden.
Wir sollten auch miteinander darüber nachdenken, welche weiteren Möglichkeiten privater Beteiligung an Verkehrsbauten erschlossen werden können. Denn wir stehen
in einem Wettlauf: Auf der einen Seite steht der Aufwuchs
des Verkehrsaufkommens, bei dem schon jetzt messbar ist,
was auf uns zukommen wird; auf der anderen Seite stehen
die Verbesserungen der Infrastruktur. Nach meiner Überzeugung müsste unser gemeinsames Ziel sein, diesen Wettlauf zu gewinnen, um nicht im Stau zu ersticken.
({10})
Wir haben für den künftigen Bundesverkehrswegeplan
bereits jetzt 1 800 Anmeldungen. Wir wollen einen Bundesverkehrswegeplan entwickeln, der bis 2015 gilt. Den
Entwurf dazu wollen wir im ersten Halbjahr erstellen. Ich
hoffe, dass er rechtzeitig fertig wird und dann diskutiert
werden kann. Dazu werden wir mit Ihnen und gerade mit
denen, die regionale Erfahrungen mitbringen, das Gespräch führen. Außerdem werden wir mit den Ländern in
sehr engem Kontakt stehen.
Wir werden allerdings - das zeigt schon die Zahl 1 800 um eine Prioritätensetzung nicht herumkommen. Das
bedeutet, dass wir die Kosten-Nutzen-Frage und die
Raumentwicklungsmöglichkeiten, die sich durch die Verkehrsbauten ergeben, prüfen müssen. Das bedeutet nicht
zuletzt, dass wir Fragen der Umweltverträglichkeit zu
berücksichtigen haben. Diese drei Kriterien wollen wir
mit Ihnen diskutieren. Ich hoffe sehr, dass wir vor dem
Sommer einvernehmlich einen Bundesverkehrswegeplan
aufstellen können.
Intensive Gespräche sind nötig. Ich bin bereit, sie zu
führen, und bitte Sie alle, dass wir diese große Aufgabe in
Bezug auf Mobilität und Zukunftsentwicklung gemeinsam bewältigen.
Schönen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Lippold,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister,
nach Ihrer Rede muss ich feststellen, dass sie eine Konsequenz der Politik der Bundesregierung ist: Sie sprechen
davon, dass Sie eigentlich etwas tun müssen und tun sollen. Aber Sie sagen nie konkret, wann Sie etwas tun wollen.
({0})
Wenn Sie schon einen Termin nennen, Herr Minister,
dann ist dies immer mit dem Hinweis verbunden, dass Sie
schon wieder etwas verschoben haben. Der Bundesverkehrswegeplan ist überfällig; er sollte schon längst vorliegen. Ein entsprechender Kabinettsbeschluss sollte in
diesem Monat erfolgen; das ist nicht geschehen. Jetzt setzen Sie wieder ein späteres Datum. Herr Bundesverkehrsminister, das macht deutlich: Es gibt viele schöne
Sprüche, aber bei der Umsetzung gibt es ein Manko nach
dem anderen.
Herr Minister, Ihre Darstellung war beschönigend. Sie
haben nicht deutlich gemacht, vor welchen Engpässen wir
stehen. Die Zahl der Staus hat zugenommen; die Zahl der
Verspätungen bei der Bahn nimmt ebenfalls zu. Insgesamt
ist festzuhalten - Sie können das jetzt als kleinlich abtun -, dass die Verspätungen bei der Bahn zu immer mehr
Verärgerung bei den Menschen führen, die morgens
20, 30 Minuten bis zu einer Stunde warten müssen. Diese
Menschen erhalten keine Antwort auf ihre Klagen und
können Ihren Äußerungen auch nicht entnehmen, wann es
zu Verbesserungen kommen wird. Das sind die Punkte, an
denen Sie konkret ansetzen müssen. „Sollen“ und „wollen“ reichen nicht aus, sondern Sie müssen ganz konkret
etwas tun.
Ich vermisse ebenfalls ein wesentlich konkreteres Vorgehen und Vordenken im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung.
({1})
Sie wissen, dass wir gewaltige zusätzliche Verkehrsströme zu erwarten haben. Herr Minister, um diese Verkehrsströme aufzufangen, müssen die Planungen jetzt
erfolgen und die Umsetzungsmaßnahmen eingeleitet werden. Bei der Schnelligkeit der Osterweiterung bestünde
ansonsten die Gefahr, mit diesen Maßnahmen völlig in
Verzug zu geraten. Eine Antwort darauf habe ich Ihrer
Rede nicht entnehmen können. Sie haben lediglich mit einem Satz auf die EU-Osterweiterung hingewiesen. Aber
es fehlen Angaben, wie wir die Probleme in diesem Zusammenhang bewältigen können, welche Projekte es gibt
und wie sie in den Verkehrswegeplan eingebunden werden. Deshalb müssen Sie Ihre Position in der Zukunft
deutlicher machen.
({2})
Sie haben von der LKW-Maut gesprochen. Herr
Minister, Sie haben in diesem Punkt völlig Recht. Wir
werden Sie darin unterstützen. Aber ich sage Ihnen auch
ganz offen: Wir werden Ihren Ansatz, wie er sich jetzt darstellt, nicht unterstützen. Sie selbst haben von mehr Mitteln gesprochen, die wir dringend brauchen, um Straße
und Schiene zu bauen. Wenn aber über die Maut in erster
Linie der Haushalt von Herrn Eichel finanziert wird, die
Einnahmen aber nicht für Maßnahmen zur Verbesserung
der Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung gestellt werden,
dann ist das, was Sie sagen, beschönigend und entspricht
nicht der Realität.
({3})
Wir fordern, dass die Mittel, die über die Maut eingenommen werden, nicht in den Haushalt eingestellt werden, sondern dass sie in vollem Umfang für Verkehrsprojekte zur Verfügung stehen. Dabei müssen wir auch den
Sachverhalt berücksichtigen, dass wir für das deutsche
Güterverkehrsgewerbe in Bezug auf die Harmonisierung
eine Verdoppelung der Mittel brauchen. Ich gehe davon
aus, dass auch Sie, Herr Minister, das Güterverkehrsgewerbe in der Bundesrepublik Deutschland halten und
nicht zum Abzug zwingen wollen. Wenn wir keine Harmonisierung durchführen, werden die Belastungen für das
mittelständische Güterverkehrsgewerbe in Deutschland
unerträglich.
Falls Sie entgegnen sollten: „Diese Belastungen entstehen in gleicher Weise für das Gewerbe in anderen Ländern“, dann antworte ich Ihnen darauf: Derjenige, dem
das Wasser bis zur Oberlippe steht, wird bei einer weiteren Erhöhung der Belastung absaufen und diejenigen,
denen das Wasser nur bis zur Brust steht, können weiter
konkurrieren. Das kann nicht sein. Ich meine deshalb,
dass die Einnahmen aus der Erhebung der Maut - es gibt
ja Hinweise, dass mit wesentlich höheren Einnahmen gerechnet wird; ich möchte Sie bitten, das gelegentlich klarzustellen - voll in die Verkehrsinfrastruktur, in erster Linie in den Bereich der Straße, zu investieren sind. Dabei
sollte es keine Quersubventionierung geben, wie sie sich
immer wieder abzeichnet.
({4})
Ich bin auf der einen Seite selbstverständlich der Meinung, den Umweltschutz in diesem Zusammenhang zu
integrieren. Herr Minister, auch hier werden Sie uns an
Ihrer Seite haben; das ist überhaupt keine Frage. Wir
brauchen aber auf der anderen Seite eine weitere Beschleunigung der Planungs- und Genehmigungsverfahren. Dies muss einhergehen mit der Sicherung der Finanzierung. Denn nur eine Verfahrensbeschleunigung
vorzusehen, wenn wir hinterher nicht auch Straßen
bauen, tut es nicht. Diese Beschleunigung ist dringend
erforderlich. Aus Gründen der EU-Osterweiterung sollten wir auch überlegen, wie wir eine solche Beschleunigung effizient auf den Gesamtbereich der Bundesrepublik erstrecken können. Es muss darüber nachgedacht
werden, wie wir dies ermöglichen, ohne dass wir uns im
gerichtlich-bürokratischen Gestrüpp der Bundesrepublik Deutschland verlieren. Die Rahmenbedingungen
müssen also geklärt und insgesamt muss hier etwas getan werden.
Herr Minister, lassen Sie mich kurz zusammenfassen:
Wir brauchen ein konkretes Gesamtverkehrskonzept; dies
erwarten wir von Ihnen. Wir erwarten von Ihnen die umgehende Vorlage des Bundesverkehrswegeplans und ein
Konzept zur EU-Osterweiterung - und dies nicht erst in
zwei Jahren, wenn die EU-Osterweiterung erfolgt ist, sondern zu einem früheren Zeitpunkt, sodass wir uns rechtzeitig darauf vorbereiten können.
Herr Minister, wir wollen auch - das habe ich bislang
nicht angesprochen -, dass Sie als Anteilseigner der Bahn
Ihre Verantwortung wahrnehmen.
({5})
Ich kann die Ankündigungen, dass der Verkehr von der
Straße auf die Schiene verlagert werden soll, nicht mehr
hören. Die Bahn zieht sich immer mehr aus der Fläche
zurück und schließt Annahmestellen für den Güterkraftverkehr, spricht aber weiterhin davon, dass alles beim Alten bleiben soll. Wenn sie sich schon zurückzieht, dann
sollten Sie zumindest daran mitarbeiten, dass die Wettbewerber die Strecken, aus denen sich die Bahn zurückzieht,
betreiben können und hier keine Blockade erfolgt.
({6})
Dies sollten Sie tun, damit wirklich Verkehr von der
Straße auf die Schiene verlagert werden kann. So wie es
jetzt angelegt ist, läuft es nicht.
Ihr Vorgänger, Minister Bodewig, war nicht in der
Lage, sich in dieser Frage gegen Herrn Mehdorn durchzusetzen. Diese Bewährungsprobe müssen Sie, Herr
Minister, noch bestehen. Ich hoffe, dass Sie dabei Erfolg
haben und Sie sich nicht so überrumpeln lassen wie Ihr
Vorgänger. Das würde nämlich nicht den Erhalt der Bahn
in der Fläche bedeuten und würde nicht zu der Verkehrsverlagerung führen, wie wir alle sie uns vorstellen. Also,
mehr Wettbewerb auf der Schiene! Ich erwarte, dass Sie
auch dazu ein klares Wort sagen.
Dass wir Straßenlücken schließen müssen und dafür
sorgen müssen, dass insbesondere auf den Autobahnen im
Ost-West-Bereich der Verkehr flüssig läuft, darin unterstützen wir Sie. Wir unterstützen Sie auch darin, dass der
Infrastrukturausbau in den neuen Bundesländern schnell
und zügig erfolgt. Er ist eine Voraussetzung dafür, die
schwierige Situation in den neuen Bundesländern besser
bewältigen zu können. Ich meine, das sollten wir durch
konkrete Taten untermauern.
Noch einmal: Die Mittel, die aus dem Bereich der
Straße im Rahmen der Maut aufgebracht werden, sollten
schlussendlich auch für diesen Bereich verwendet werden. Das deutsche Mautsystem muss kompatibel sein mit
dem, was auf EU-Ebene geplant wird. Wir brauchen im
Zuge der EU-Osterweiterung - ich sage es einmal so Verkehrsprojekte „Europäische Einigung“. Darauf sollten
wir uns gemeinschaftlich verständigen, damit es hier
schneller vorangeht als bei den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“, die es früher einmal gab bzw. jetzt noch
gibt. Das sind sinnvolle Instrumente, um die Situation in
unserem Lande besser zu bewältigen.
Dies sind Ihre Aufgaben. Ich wäre dankbar, wenn Sie
dazu gelegentlich etwas sagen würden. Wenn es um die
Umsetzung geht, finden Sie uns an Ihrer Seite. Aber Sie
sollten umsetzen und nicht nur ankündigen!
({7})
Dr. Klaus W. Lippold ({8})
Nun hat das Wort der Kollege Peter Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist gerade einmal ein Monat vergangen, seitdem wir den Straßenbaubericht 2001 in diesem Hause diskutiert haben. Insofern war ich als Neuling überrascht, als
ich den Straßenbaubericht 2002 bereits in dieser Woche
auf der Tagesordnung vorfand. Er wurde am 16. Dezember dem Deutschen Bundestag zugeleitet, also deutlich
früher als die bisherigen Straßenbauberichte. Da sich der
Berichtszeitraum, zum Teil jedenfalls, bis zum 31. Juli des
Vorjahres erstreckt, ist es wichtig, diesen Bericht zeitnah
zu betrachten und zu diskutieren. Daher möchte an dieser
Stelle den Zuständigen im Bundesverkehrsministerium
ausdrücklich für die schnelle Erstellung und Zuleitung
danken.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch im Berichtsjahr
2001 hat sich die Gesamtfahrleistung um 0,4 Prozent
leicht verringert. Damit wird ein Trend bestätigt, der sich
bereits im letzten Straßenbaubericht angedeutet hatte: Die
Verkehrsleistung auf Deutschlands Straßen sinkt bzw.
stagniert und widerlegt damit die bisherigen Prognosen
eines stetigen Verkehrswachstums.
({1})
- Diese Zahlen können wir uns näher angucken. Dazu
kommen wir heute gar nicht.
({2})
Auch wenn manche in diesem Haus es nicht gern
hören: Die seit 1998 vorgenommenen Veränderungen der
verkehrspolitischen Rahmenbedingungen - dazu gehört
auch die Ökosteuer - zeigen Wirkung. Diese Zahlen belegen, dass die rot-grüne Koalition hinsichtlich der Ziele der
Verkehrsvermeidung und der Verkehrsverlagerung den
richtigen Weg eingeschlagen hat.
({3})
Zu einer vorausschauenden und umweltverträglichen
Verkehrspolitik gehören nicht nur Erneuerungen, Modernisierungen und Bestandserhaltung, sondern auch der
Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor den Schattenseiten des Verkehrs, zum Beispiel Abgasemissionen und
Lärm. Dafür wird sich die rot-grüne Koalition auch in Zukunft einsetzen.
Allein im Berichtsjahr 2001 wurden für Umwelt- und
Lärmschutzmaßnahmen 122 Millionen Euro aufgewendet.
Nicht zu vergessen sind die Aufwendungen für Landschafts- und Biotoppflege und für Naturschutzmaßnahmen im Rahmen von Straßenbaumaßnahmen in einer
Größenordnung von rund 200 Millionen Euro.
Der Bau von Ortsumgehungen - der Minister hat eben
gesagt, dass im letzten Berichtsjahr 70 Ortsumgehungen
für insgesamt 480 Millionen Euro gebaut wurden - dient
in vielen Fällen der Entlastung von Ortskernen und damit
natürlich auch der dort lebenden Bürgerinnen und Bürger.
Für die Beseitigung von Bahnübergängen und damit
für eine deutliche Verbesserung der Verkehrssicherheit
und des Verkehrsablaufs wurden insgesamt rund 90 Millionen Euro aufgewendet. Und last but not least: Im Radwegebau an Bundesstraßen konnten im Berichtsjahr weitere 360 Kilometer fertig gestellt werden.
Bevor ich zu den Anträgen zum Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz komme, möchte ich Ihre
Aufmerksamkeit noch kurz auf die Situation im Bereich
der Unterhaltsmaßnahmen für Fahrbahnbefestigungen
und Ingenieurbauwerke lenken. Insbesondere der Zustand
der Brückenbauwerke sollte uns allen Anlass zur Beunruhigung geben; denn für zwei Drittel der Brücken stehen
kurz- und mittelfristig Instandsetzungsmaßnahmen an.
Die Hochrechnungen haben sich gegenüber dem letzten
Straßenbaubericht nochmals deutlich verschlechtert. Nur
noch 30 Prozent unserer Brücken befinden sich in einem
guten bzw. sehr guten Zustand.
({4})
Auch der aktuelle Gebrauchswert der Bundesstraßen
macht deutlich, dass uns in Zukunft und über einen längeren Zeitraum erhebliche Aufwendungen ins Haus stehen werden. Dieser Tatsache werden wir auch im neuen
Bundesverkehrswegeplan Tribut zollen; denn schließlich
steht der Bestandserhalt an erster Stelle und die zur Verfügung stehenden Mittel sind nun einmal beschränkt. Wir
werden nur die Projekte in den Bundesverkehrswegeplan
aufnehmen können, die wir letztendlich auch solide finanzieren können. Das sind wir unseren Bürgerinnen und
Bürgern schuldig.
({5})
Mit dem aktuellen Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, welches zum 31. Dezember 2004 ausläuft,
sollten in den neuen Bundesländern durch strenge Fristsetzungen für Behörden, vereinfachte Enteignungsverfahren und Einschränkungen des Rechtsweges zügige
Planungsverfahren ermöglicht werden, um den Rückstand bei Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen aufzuholen.
Die FDP-Fraktion hat am 18. Dezember 2002 den Entwurf eines Gesetzes eingereicht, mit dem die Geltungsdauer bis zum 31. Dezember 2010 verlängert werden
soll. Darüber hinaus sollen die Vorschriften auch in den
alten Bundesländern erprobt werden. Die CDU/CSU
wollte dem nicht nachstehen und hat zum 18. Februar dieses Jahres einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sogar eine
Verlängerung bis zum Jahr 2019 vorsieht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das würde bedeuten,
dass noch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eine Ausnahmeregelung die Regel ist und damit insbesondere die
Bürgerrechte bei der Überprüfung von Planungsbeschlüssen in unangemessener Weise beeinträchtigt werden. Dem
können und werden wir so nicht zustimmen.
({6})
Bereits jetzt beschwert sich das Bundesverwaltungsgericht offen darüber, dass es als einzige Instanz mit der
Überprüfung von Planungsbeschlüssen beschäftigt wird
und dementsprechend überlastet ist.
Wenn ich mir die Fakten anschaue, dann frage ich
mich, welche Infrastrukturprojekte wir eigentlich noch
beschleunigen wollen. Der Stand bei der Realisierung der
Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ ist bereits so hoch,
dass aus meiner Sicht eine Planungsbeschleunigung nicht
mehr notwendig ist. Auch die wenigen großen Projekte,
die möglicherweise im neuen Bundesverkehrswegeplan
stehen werden, rechtfertigen eine derart lange Ausnahmeregelung nicht.
Bei den meisten neuen Projekten, die vermutlich in den
Bundesverkehrswegeplan aufgenommen werden, handelt
es sich um Ortsumfahrungen. Dabei können, weil eine
Verkehrsverlagerung stattfindet, Konflikte mit Bürgerinnen und Bürgern auftreten. Wenn Sie der Meinung sind,
dass solche kleineren Maßnahmen eine Fristverlängerung
im Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz rechtfertigen, dann müssen Sie mich davon erst überzeugen.
Ich sehe allerdings nicht, dass Ihnen das gelingen könnte.
({7})
- Herr Friedrich, Sie müssen noch erhebliche Überzeugungsarbeit leisten.
Wenn es um die strengen Fristsetzungen für Behörden geht, dann haben Sie mich auf Ihrer Seite. Aber dafür
brauchen wir dieses Gesetz nicht. Ich will ein positives
Beispiel aus der Vergangenheit nennen: Die Landesbauordnungen haben in den letzten zehn Jahren zu einer erheblichen Beschleunigung bei der Erteilung von Baugenehmigungen geführt. In meiner Heimatstadt Oschatz in
Sachsen werden Baugenehmigungen innerhalb von sechs
bis acht Wochen erteilt.
({8})
- Das gilt auch für andere Bereiche. Sie können gerne einmal zu uns kommen. Ich stelle Ihnen dann unseren Bürgermeister vor. Sie können sich das dann ansehen.
({9})
- Herr Friedrich, ich werde Sie gerne auf den neuesten
Sachstand bringen.
Meine Herren, die Vorstellung der Bürgermeister erfolgt aber bitte außerhalb dieser Debatte. Herr Hettlich,
achten Sie bitte auf die verbleibende Zeit.
Ich komme zum Schluss.
Die CDU/CSU-Fraktion hat die Vereinfachung von
Enteignungen thematisiert. In diesem Bereich sehe ich
keinen Handlungsbedarf mehr. Die meisten Eigentumsverhältnisse sind geklärt. Die geringe Zahl der Fälle, die
noch nicht geklärt sind, rechtfertigt keine Verlängerung
der Geltungsdauer bis zum Jahr 2019. Aus diesem Grund
können und werden wir Ihren Gesetzentwürfen nicht zustimmen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Horst Friedrich, FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
verehrter Herr Minister, Sie haben in zugegebenermaßen
sehr schönen Bildern den Straßenbaubericht und den
Schienenwegeausbaubericht erläutert. Aber immer dann,
wenn es spannend wurde, nämlich dann, wenn Sie hätten
konkret werden müssen, haben Sie geschwiegen.
({0})
In Ihrem Bericht haben Sie heute dargestellt - das war
der eigentliche Punkt -, dass Kombiverkehr die Lösung
des Problems beim Güterverkehr sei. Und tatsächlich, in
Ihrem Bericht ist zu lesen, dass im Kombiverkehr im
Jahr 2001 36,3 Millionen Tonnen Güter befördert worden
sind. Im Verhältnis zu der Gesamtgütermenge von 4 Milliarden Tonnen, die in Deutschland befördert wird, ist
diese Menge allerdings zu vernachlässigen. Das heißt
nicht, dass man den Kombiverkehr abschaffen sollte.
Aber setzen Sie endlich auf das richtige Pferd und reden
Sie nicht nur über Randerscheinungen, die das Problem
angeblich lösen können!
Sie drücken sich vor der Beantwortung der wirklich
entscheidenden Fragen, nämlich wie die von Ihnen prognostizierten 64 Prozent Zuwachs im Güterverkehr
tatsächlich bewältigt werden können, und das gerade vor
dem Hintergrund der EU-Osterweiterung. Sie und Ihre
Fraktionen haben unsere Anträge auf besondere Finanzierung und Planung hinsichtlich der Osterweiterung immer
abgelehnt. Ich frage mich, wie Sie bis Mai 2004, wenn die
EU-Osterweiterung ansteht, Antworten auf die Fragen bei
der Infrastruktur geben wollen.
({1})
In diesem Zusammenhang wäre es auch interessant, zu
erfahren, wie Sie sich beim Finanzminister durchsetzen
wollen, der vor dem Hintergrund der Beschlüsse von RotGrün die Belastungen für Autofahrer seit 1. April 1999 in
Deutschland gewaltig angehoben hat. Die Investitionsquote, also das, was in die Straße zurückfließt, ist dagegen
bestenfalls gleich geblieben. Wenn Sie die Investitionsquote um den Prozentsatz anheben würden, um den Sie
die Belastung für den Autofahrer gesteigert haben, hätten
wir ein paar Probleme weniger. Herr Minister, auch dazu
Horst Friedrich ({2})
sind Sie, zumindest bis jetzt, die Antwort schuldig geblieben.
({3})
Herr Kollege Hettlich, den wesentlichen Punkt im
Straßenbaubericht haben Sie nicht dargestellt, nämlich
dass die Fahrleistungen auf der Autobahn nicht abgenommen, sondern zugenommen haben. Die Regierung
hat festgestellt - das ist bemerkenswert -, dass durch die
überdurchschnittliche Auslastung der Fahrzeuge im Fernverkehr die Anteile der Verkehrsleistungen auf den Bundesfernstraßen deutlich über denen der Fahrleistungen
liegen. Das steht aber genau im Gegensatz zu dem Argument, warum Sie die Maut einführen wollen. Sie sagen
doch, dass die Maut dazu dient, die Leerfahrten auf Autobahnen zu reduzieren. Was denn nun? Entweder sind auf
den Autobahnen die Güterleistung und die Auslastung der
LKW überproportional gestiegen - das ist Ihre Aussage oder es stimmt Ihr Argument für die Einführung der Maut.
Irgendetwas ist hier nicht schlüssig.
({4})
Deswegen wäre es ganz interessant, Sie dazu zu hören.
({5})
Noch etwas wurde im Straßenbaubericht festgestellt:
Die Mittel, die für den Bereich der Straße zur Verfügung
gestellt wurden, wurden auch tatsächlich ausgegeben.
Das ist ein Unterschied zum Schienenwegeausbaubericht. Dort wurde sinnigerweise nicht der Vergleich zwischen den zur Verfügung gestellten Mitteln und den ausgegebenen Mitteln gezogen. Es wurde nur aufgeführt,
was ausgegeben worden ist.
({6})
Im Bereich der Schiene ist man seit 2000 - das setzt
sich also fort - offensichtlich nicht in der Lage, die für Investitionen zur Verfügung gestellten Mittel auch tatsächlich abzurufen. Vielleicht wäre es interessant, im nächsten
Ausbaubericht für Schienenwege einen reellen Soll-IstVergleich anzustellen. In ihm muss stehen, welche Investitionen tatsächlich getätigt wurden. Es geht nicht um die
Mittel, die als Sonderleistungen vorher schon weggenommen wurden, sodass die Bahn mit kleineren Zahlen arbeiten konnte. Es wäre schon interessant, zu erfahren, wie
das funktioniert.
Es ist auch hochinteressant, dass Sie sagen, dass die
Schiene gestärkt werden muss. Gleichzeitig höre ich nämlich, dass bezüglich der so bedeutsamen Schienenstrecke
München-Mühldorf-Freilassing erklärt wird, dass es im
Jahre 2001 keine Bauleistungen gegeben hat. Wenn die
Schienenwege wirklich zur Ertüchtigung der Transitstrecken dienen sollen, muss man auch einmal über diese
Schienenstrecke nachdenken. Sie befindet sich seit Jahrzehnten im Ausbau, aber für das Jahr 2001 wurde für diese
Strecke kein Euro angesetzt.
Herr Minister, viel interessanter sind allerdings Ihre
Haltung und Ihre Aussagen zu den vorliegenden Gesetzentwürfen zum Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Wenn ich alles richtig verstanden habe, haben
Sie in Ihrer Regierungserklärung an dieser Stelle erklärt, dass es durchaus angebracht wäre, die positiven
Erfahrungen mit dem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, die in den neuen Ländern gemacht worden sind, auf die alten Länder zu übertragen. Ich habe
Ihnen damals schon gesagt, dass Sie das gerne tun können. Einen entsprechenden Gesetzentwurf gab es bereits in der letzten Legislaturperiode. Sie haben das in
einem Interview in der „Berliner Zeitung“ am 1. Februar nochmals bekräftigt und das bis heute nicht
zurückgenommen.
Heute blieben Sie wiederum sehr nebulös; denn genau
ein solcher Antrag liegt Ihnen nun vor. Die FDP hat einen
Antrag vorgelegt, wonach die Geltungsdauer des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes bis zum
31. Dezember 2010 verlängert und gleichzeitig der Geltungsbereich auf die alten Bundesländer ausgedehnt werden soll.
({7})
Das ginge relativ einfach. In der Überschrift über das Gesamtgesetz müsste man nur die Wörter „in den neuen Ländern sowie im Land Berlin“ streichen und in § 1 die Geltungsdauer verlängern. Das ist alles, was Sie machen
müssen. Sie müssen es nur wollen.
({8})
Aber nach dem, was ich höre, glaube ich, dass Sie bei
Ihren eigenen Fraktionen auf Granit beißen werden.
({9})
Wie will man denn erklären, dass die EU-Osterweiterung ein Problem ist - das haben Sie selbst festgestellt und dass die Verkehrswege in Deutschland, insbesondere
in Ost-West-Richtung, erkennbar nicht ausreichend sind,
um die Verkehrsleistungen aller Verkehrsträger, also nicht
nur der Straße, sondern auch der Schiene, auszugleichen,
wenn man sich gleichzeitig weigert, bei den entscheidenden Punkten, nämlich dem Planungsrecht, das sich in den
neuen Ländern am Anfang einem harten Widerstand von
Rot-Grün ausgesetzt sah - das muss man auch einmal dokumentieren; Sie hätten das Planungsrecht der alten
Bundesrepublik gerne auf die neuen Länder übertragen -,
etwas zu tun?
Wie hätten wir die deutsche Einheit infrastrukturmäßig
bewältigen sollen, wenn man für große Verkehrsprojekte
eine Planungs- und Realisierungszeit von im Schnitt zwischen 25 und 33 Jahren benötigt hätte, wie es im Westen
vor der deutschen Einheit üblich gewesen ist? Nein, durch
das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, das
von uns mitinitiiert wurde, haben wir es geschafft, dass in
den zehn Jahren nicht nur Verkehrsmaßnahmen geplant,
sondern auch Schienen und Straßen gebaut werden konnten. Mittlerweile fahren sogar schon Züge und Autos darauf.
Das alles hätte es mit dem alten Planungsrecht in dieser Form nicht gegeben. Deswegen verstehe ich nicht,
warum Sie sich heute angesichts der Vorlage dieser Ge2162
setzentwürfe nicht etwas intensiver und deutlicher zu dem
Thema geäußert haben.
({10})
Zum Gesetzentwurf der Union kann ich nur sagen:
Liebe Freunde, ihr seid mal wieder auf dem halben Wege
stehen geblieben;
({11})
denn es ist zwar sehr probat, einfach nur die Geltungsdauer zu verlängern, es löst aber keine Probleme. Hier
gebe ich dem Kollegen Hettlich ausnahmsweise Recht.
({12})
- Man kann das Sonderrecht nicht für eine Seite bis 2019
verlängern. Damals lautete die Begründung, dass es die
Planungsinstitute, die Einrichtungen und vor allem die
Oberverwaltungsgerichte noch nicht gegeben hat. Es ist
zu einfach, das einfach fortzuschreiben. Wir wollen etwas
anderes. Wir wollen, dass in ganz Deutschland die Bedingungen gemäß dem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz gelten. Ein erster Test soll bis 2010 durchgeführt werden. Wenn die Ergebnisse positiv sind, was ich
erwarte, dann kann man es unbefristet übernehmen.
({13})
Herr Minister Stolpe, wenn Sie nicht dafür sorgen, dass
Rot-Grün wenigstens einen dieser Gesetzentwürfe zum
Planungsrecht tatsächlich übernimmt und verabschiedet,
({14})
dann sind Sie in Zukunft nicht mehr nur der Minister für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, sondern wahrscheinlich auch der zuständige Minister für das Zünden riesengroßer Luftballons ohne Inhalt, gewissermaßen der Cargolifter der Bundesregierung.
({15})
Sie haben angekündigt, zusätzlich 1 Milliarde Euro für
die neuen Ländern bereitzustellen. Dies wurde dann
schamhaft auf die alten Länder ausgeweitet, ohne bisher
konkret zu sagen, woher Sie das Geld nehmen wollen. Die
Goldschätze der Bundesbank sind offensichtlich verschlossen. Sie kündigen ein neues und modernes Planungsrecht
an - das ist zugegebenermaßen richtig -, aber haben offensichtlich nicht die Kraft, um dies tatsächlich umzusetzen.
Wir werden Sie an Ihren Aussagen messen, und zwar sowohl bei der Gesetzesberatung im Ausschuss als auch bei
der zweiten und dritten Lesung hier im Bundestag.
Danke sehr.
({16})
Ich erteile dem Kollegen Sören Bartol, SPD-Fraktion,
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der heute vorliegende Bericht bestätigt, was meine Kollegin Petra Weis
zum Straßenbaubericht 2001 gesagt hat: Der Bundesfernstraßenbau ist kein Stiefkind der Verkehrspolitik dieser Koalition. Die Behauptung von Herrn Lippold und der gesamten Opposition, die Bundesregierung würde den Straßenbau
vernachlässigen, wird durch Wiederholung nicht richtiger.
({0})
Im Gegenteil: Wurden im Jahr 2000 für die Bundesfernstraßen noch 5 Milliarden Euro verausgabt, so waren
es 2001 5,58 Milliarden Euro.
({1})
Damit erreichen wir eine Rekordhöhe. Nur 1992 lagen die
Mittel für den Straßenbau aufgrund von Sondermitteln für
den Aufbau Ost höher, sonst immer niedriger. 70 Verkehrsfreigaben bei Ortsumgehungen, insgesamt 150 Kilometer neue und erweiterte Bundesstraßen, 78 Kilometer
erweiterte Autobahnstrecken und zusätzlich 77 Kilometer
an Autobahn zeigen, dass die Bundesregierung 2001 viel
erreicht hat.
({2})
Wir tragen damit der Tatsache Rechnung, dass ein modernes, gut ausgebautes und leistungsfähiges Verkehrssystem Voraussetzung und Motor für Wachstum und Beschäftigung ist. Ohne Zweifel werden die Straßen und
insbesondere die Bundesfernstraßen auch in Zukunft eine
herausragende Rolle bei den Verkehrsleistungen spielen.
Auch für 2001 bestätigt der Verkehrsbericht: Die Bedeutung der Bundesfernstraßen bleibt mit 51 Prozent der Jahresfahrleistungen hoch. Die Bedeutung der Autobahnen
hat sogar weiter zugenommen. Die Autobahnen mussten
2001 56 Prozent der Autofahrten und 72 Prozent der
LKW-Fahrten bewältigen. Die seit längerem beobachtete
Konzentration des Straßenverkehrs auf den Autobahnen
setzt sich somit ungebrochen fort.
Die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition liegen falsch mit der Annahme, die gegenwärtigen Probleme
ließen sich nur durch weiteren Straßenbau lösen. Ihre wiederholte Forderung, die Einnahmen aus der LKW-Maut
in erster Linie für die Straße zu nutzen, zeigt deutlich ihre
einseitige, ideologisch begründete Orientierung.
({3})
Uns stellen sich angesichts des zu erwartenden weiteren Verkehrswachstums zwei große Herausforderungen:
Erstens. Wir müssen die Leistungsfähigkeit der Fernstraßen durch eine hohe Qualität ihres Ausbaus sicherstellen. Zweitens. Wir müssen den Weg weiter beschreiten, Verkehr auf Schiene und Wasserstraße zu verlagern
und die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern zu optimieren.
({4})
Horst Friedrich ({5})
Nicht nur die begrenzten finanziellen Ressourcen, sondern auch die begrenzte Verfügbarkeit von Flächen setzen
einem Ausbau des Straßennetzes Grenzen. In der EU werden 1,2 Prozent aller Flächen vom Verkehr benutzt, davon
90 Prozent von der Straße. Die Sicherstellung von Leistungsfähigkeit und Qualität der Fernstraßen verlangt in
zunehmendem Maße, in den Erhalt des bestehenden
Netzes zu investieren. Diese Notwendigkeit muss bereits
heute gesehen werden, selbst wenn erst im Straßenbaubericht 2003 die Ergebnisse der Untersuchungsperiode
2001/2002 zur Bewertung der Fahrbahnbefestigungen der
Bundesautobahnen vorliegen werden. Auf dieser Grundlage werden dann die sich ergebenden angemessenen Investitionsentscheidungen getroffen werden.
Gefragt sind bei begrenzten Ressourcen intelligente
Lösungen, die eine effiziente und sichere Nutzung des
Straßennetzes ermöglichen. Ein hervorragender Ansatz ist
das Programm zur Verkehrsbeeinflussung auf Bundesautobahnen, das im letzten Jahr gestartet wurde und die
Förderung von Telematiklösungen fortsetzt. Für die Jahre
2002 bis 2007 stehen dafür insgesamt 200 Millionen Euro
bereit. Damit sollen auf 350 Kilometern Streckenbeeinflussungsanlagen - zusätzlich zu den bestehenden auf
850 Kilometern Länge - installiert werden.
({6})
Bis zu 30 Prozent weniger Unfälle auf unfallträchtigen
Strecken sind ein beachtlicher Erfolg.
Von einer weiteren Idee zur Verbesserung des Verkehrsflusses, die der Bericht darstellt, kann man sich in
Hessen auf der A 5 zwischen dem Bad Homburger Kreuz
und der Abfahrt Friedberg in Richtung Norden überzeugen. Durch die Nutzung des Seitenstreifens ist der Verkehrsfluss auf diesem überlasteten und staugefährdeten
Abschnitt wieder besser geworden.
({7})
Die Verkehrsbeeinflussungsanlage auf der A 5, die bereits
seit 1989 in Betrieb ist, wurde damit um eine weitere
Komponente ergänzt.
Die Seitenstreifennutzung, die seit Anfang 2002 möglich ist, ist sicherlich nur eine temporäre, aber sehr intelligente Lösung für Zeiten mit Spitzenbelastungen. Klar
ist, dass die Nutzung des Seitenstreifens nicht auf Kosten
der Verkehrssicherheit gehen darf. Aber das Risiko von
Auffahrunfällen ist bei stockendem Verkehr und Stau besonders hoch, sodass die Vorteile der Kapazitätserhöhung
die Nachteile des entfallenden Seitenstreifens aufwiegen,
da sich dadurch dieses Risiko vermeiden lässt.
Es lässt sich auch ein anderes Risiko verringern, indem
die Sicherheit in Straßentunneln durch Ergänzung der betriebstechnischen Ausstattung erhöht wird. Hierfür sind in
den kommenden Jahren entsprechende Mittel vorgesehen. Diese eigenen Maßnahmen zusammen mit den
Bemühungen der Bundesregierung um eine Erhöhung der
Sicherheitsstandards in Tunneln im Bereich der Europäischen Union sind ein sinnvoller Ansatz zur Erhöhung der
Sicherheit der Verkehrsteilnehmer.
({8})
Der Bericht macht insgesamt den großen Stellenwert
deutlich, den die Verkehrssicherheit für die Bundesregierung einnimmt. Dies wird auch durch das neue Instrument
der Sicherheitsaudits bei der Straßenplanung unterstrichen,
die den Ländern aufgrund der Forschungen des Bundes
empfohlen werden und mit denen schon bei der Straßenplanung Sicherheitsbelange berücksichtigt werden.
Ganz oben auf der Tagesordnung der nächsten Monate
steht der neue Bundesverkehrswegeplan, Herr Lippold.
({9})
Der Bericht stellt den Stand der Überarbeitung des Plans
bis 2002 dar und macht damit noch einmal deutlich, dass
die Bundesregierung ein modernisiertes, wissenschaftlich
fundiertes Vorgehen gewählt hat, das Umwelt, Raumordnung und Städtebau und deren Wechselwirkungen und
Wechselbeziehungen stärker als bisher schon bei der Projektbewertung berücksichtigt und fachlich integriert.
Der Entwurf für den Bundesverkehrswegeplan wird
bald vorliegen und die Ausbaugesetze werden vom Parlament beschlossen.
({10})
Anders als der von der CDU verantwortete Plan von
1992 wird es kein ungedeckter Scheck sein, sondern eine
verlässliche Planungsgrundlage.
({11})
Wir werden sicherlich noch ausreichend Gelegenheit haben, das in den Ausschüssen und auch im Plenum zu diskutieren.
({12})
Wir haben dabei das Verkehrssystem als Ganzes im Blick.
Es ist falsch, nur auf einen Verkehrsträger zu setzen, wenn
wir das zu erwartende Mobilitätswachstum bewältigen
wollen.
Der Bericht bestätigt den Handlungsbedarf: Den
Löwenanteil der zurückgelegten Personenkilometer macht
nach wie vor mit fast 83 Prozent der motorisierte Individualverkehr aus. Schiene und öffentlicher Straßenverkehr erreichen bei leicht gesteigerten Personenkilometerzahlen nur einen Anteil von unter 9 Prozent.
Beim Güterverkehr hat sich die Zahl der Tonnenkilometer sogar zuungunsten von Schiene und Schifffahrt entwickelt. Ihr Leistungsanteil nahm um 2,2 bzw. 2,6 Prozent
ab. Die Zunahme der Güterverkehrsleistung wurde im
Wesentlichen von der Straße getragen, wobei entgegen
der vielfach geäußerten Vermutung die Steigerung durch
inländische Lastkraftwagen erfolgte.
({13})
Dem können wir nicht durch eine einseitige Orientierung auf die Straße begegnen, wie sie CDU/CSU und FDP
propagieren. Vielmehr brauchen wir eine integrierte Verkehrspolitik, die auf die unterschiedlichen Stärken der
einzelnen Verkehrsträger setzt.
({14})
Wir haben dies finanzpolitisch in Angriff genommen,
indem wir nicht nur die Investitionen in den Straßenbau
auf ein hohes Niveau angehoben haben, sondern auch
Schritt für Schritt die Investitionen für den Schienenverkehr erhöht haben,
({15})
sodass sie mit den Straßeninvestitionen mithalten können,
Herr Friedrich. Wir brauchen, wie es in dem Bericht verdeutlicht wird - vielleicht lesen Sie ihn einfach noch einmal -,
({16})
eine Verkehrsplanung, die alle Ansprüche an eine mobile
Zukunft integriert,
({17})
die neben ökonomischen auch ökologische Anforderungen akzeptiert, ebenso wie sie gesellschaftliche und soziale Notwendigkeiten und Bedürfnisse einbezieht. Auf
dieser Basis wird ein Verkehrssystem entstehen, das zukunftsfähig und nachhaltig zugleich ist und das zuvorderst dem dient, wozu es geschaffen ist: dem Menschen
das Leben zu erleichtern.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Herr Kollege Bartol, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere. Das
verbinde ich mit allen guten Wünschen für die weitere
parlamentarische Arbeit.
({0})
Nun hat die Kollegin Renate Blank, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege
Bartol, Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede! Im Hinblick
auf die Konkretisierung der Verkehrspolitik wollen wir
Ihnen Ihre Träume nicht nehmen. Ich bin gespannt, ob die
Bundesregierung und Sie, der Sie von allen Verkehrsträgern sprachen, bereit sind, auch den Transrapid in den
Bundesverkehrswegeplan aufzunehmen.
({0})
Meine Damen und Herren, vor vier Wochen haben wir
den Straßenbaubericht 2001 diskutiert, der die geringsten
Investitionen in die Infrastruktur aufwies, solange Sie
dafür zuständig sind. Jetzt reden wir über den Straßenbaubericht 2002. Wir tun dies wahrscheinlich deshalb so
schnell, um von den schlechten Zahlen des Berichts 2001
abzulenken.
Die Ausgaben für Investitionen - nicht die Gesamtausgaben - sind wichtig. Sie betrugen für die alten Bundesländer rund 2,7 Milliarden Euro und für die neuen Bundesländer 2 Milliarden Euro. In D-Mark gerechnet sind es
insgesamt rund 9 Milliarden DM.
Frau Kollegin Blank, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Scheffler?
({0})
Ja.
Doch, Sie hatte schon angefangen. - Vielen Dank,
liebe Kollegin Blank. Sie haben darauf abgehoben, ob
der Transrapid - ich gehe davon aus, dass Sie den Metrorapid und das bayerische Projekt vom Flughafen nach
München Hauptbahnhof meinen - in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen wird. Da Sie dem Hohen
Hause schon sehr lange angehören, müssten Sie wissen,
dass diese Projekte keine Bundesprojekte sind und dass
wir Nahverkehrsprojekte nicht in den Bundesverkehrswegeplan aufnehmen.
({0})
- Es ist ein Zuschuss des Bundes.
Kollege Scheffler, es ist schon etwas seltsam. Man
muss nur an die Verpflichtungsermächtigungen für Planungskosten in Nordrhein-Westfalen denken.
({0})
- Es sind Zuschüsse, aber es ist auch Bundesgeld. Im
Übrigen weise ich darauf hin, dass wir damals die Strecke
Hamburg-Berlin in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen haben.
({1})
Sie können das nachmachen, indem Sie den Metrorapid
und den bayerischen Transrapid in den Bundesverkehrswegeplan aufnehmen.
({2})
Herr Minister Stolpe, die vorhin genannten Zahlen machen deutlich, dass wir neben dem Aufbau Ost dringend
auch den Ausbau West brauchen. Diese Aussage haben
Sie vor dem Verkehrsausschuss getroffen. An dieser wirklich wichtigen Aussage werden wir Ihr Handeln in den
nächsten Wochen und Monaten messen. Erstmals - man
muss ja auch einmal die Bundesregierung loben - seit
Ihrer Übernahme der Regierungsverantwortung
({3})
- warten Sie es ab - wurde im Berichtszeitraum wieder
mehr Geld für Straßenbauinvestitionen zur Verfügung
gestellt. Dieses Geld kommt allerdings aus dem Zukunftsinvestitionsprogramm 2001 bis 2003. Dass Sie damit die
Straßenbaumittel nach einer Kürzung - ich rechne jetzt
noch in D-Mark - von rund 5 Milliarden DM um 2,7 Milliarden DM erhöhen konnten, war nicht Ihr Verdienst,
sondern ist auf unsere Vorarbeit zu den UMTS-Lizenzerlösen zurückzuführen. Meine Damen und Herren von
Rot-Grün, ich erinnere daran, dass damals die Ministerpräsidenten Schröder und Eichel der Liberalisierung des
Telekommunikationsmarktes nicht zugestimmt haben.
Die Einnahmen daraus nimmt man aber sehr gerne und
selbstverständlich entgegen.
({4})
Zurück zum Straßenbaubericht 2002: Interessant ist,
dass erstmals die Abbildung zum Gebrauchswert der
Fahrbahnen der Bundesstraßen nicht mehr im Bericht
enthalten ist; das betrifft Seite 9, wenn Sie es nachschlagen wollen. Es gibt nur eine Beschreibung der drei Gebrauchsfähigkeitsklassen, aber keine Grafik, aus der
leicht ersichtlich wäre, dass die Zahl der Straßen mit eingeschränkter Gebrauchsfähigkeit in allen Bundesländern
immer mehr zunimmt. Mit anderen Worten: Der Zustand
der Bundesfernstraßen wird immer schlechter.
({5})
Die Bundesregierung muss endlich einsehen, dass der
Erhaltung einer gebrauchsfähigen Verkehrsinfrastruktur
große Bedeutung zukommt.
({6})
Die in die Straßen investierten Vermögenswerte müssen
in ihrer Substanz und ihrem Nutzwert nachhaltig bewahrt
werden.
({7})
Es handelt sich immerhin um ein Bruttoanlagevermögen
von rund 176 Milliarden Euro, das von den Steuerzahlern
im Laufe der Jahre aufgebracht wurde.
Im Übrigen verschlechtert sich auch der Zustand der
Brückenbauwerke im Zuge von Bundesfernstraßen rapide; denn die Bereiche mit kritischem Bauwerkszustand,
also mit Zustandsnoten zwischen drei und vier, machen
bereits 15 Prozent des Gesamtbestandes an Brückenbauwerken aus.
({8})
Hier ist eine Instandsetzung bzw. Erneuerung zur Aufrechterhaltung der Verkehrssicherheit dringend erforderlich.
Wir haben im Jahr 1992 richtig gehandelt, als wir
den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ Vorrang
einräumten, denn sie dienen dem Zusammenwachsen
Deutschlands und der Mobilität unserer Bürgerinnen und
Bürger. Außerdem gehören Standortpolitik und Wirtschaftswachstum zusammen; sie benötigen jedoch eine
gut ausgebaute Verkehrsinfrastruktur.
({9})
Allerdings reduzierten Sie die Plafondierung für die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ von 1,2 Milliarden Euro
im Jahr 2001 auf 1,1 Milliarden Euro im Jahr 2002. Sie
sollten aber Ihr besonderes Augenmerk zum Beispiel auf
den Ausbau der A 9 in Thüringen, Sachsen und SachsenAnhalt lenken. Auf dieser wichtigen Nord-Süd-Verbindung gibt es zunehmend Staus, sehr zum Ärger der betroffenen Bürger, zumal ein Ausweichen auf die Bahn von
Berlin nach Nürnberg nicht möglich ist, da die Bahnfahrt
zu lange dauert.
Ich bin schon gespannt, Herr Minister Stolpe, wann
endlich die Finanzierungsvereinbarung zwischen Bund
und Bahn für die Verbindung Nürnberg-Erfurt-Berlin unterzeichnet wird.
({10})
Der Bahnchef Mehdorn hat seine Vorliebe für dieses Projekt entdeckt. Im Grunde genommen müsste man diese
Strecke doch unter Verwendung der nicht verbauten
Schieneninvestitionsmittel in Angriff nehmen können,
denn für die Schienenprojekte wurde im Berichtszeitraum
nur ein Betrag von 4,5 Milliarden DM für Investitionen
zur Verfügung gestellt.
({11})
- Kollege Schmidt, eigentlich müssten die Grünen bei
diesem Thema doch fürchterlich aufheulen.
({12})
Sie wollten doch immer die Investitionen in die Schiene
erhöhen. Im Berichtszeitraum gaben Sie jedoch nur die
Hälfte des Geldes, das für die Straße eingesetzt wurde,
aus.
({13})
- Aber natürlich! Lesen Sie es doch nach. Im Übrigen
konnten seit Beginn der Bahnreform 12 Milliarden DM
von der Bahn nicht verbaut werden. Das müssten Sie als
ehemaliges Aufsichtsratsmitglied doch auf jeden Fall besser wissen als wir.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige Anmerkungen zur Freigabe von Standstreifen für den
fließenden Verkehr machen. Bayern als Transitland Nummer eins in Deutschland wurde von Rot-Grün in den letzten Jahren im Hinblick auf Straßenbaumittel stiefmütterlich behandelt,
({14})
nach dem Motto des Kanzlers: Für die Bayern Steine statt
Brot.
Das können Sie nachlesen. Die A 3 als die am höchsten
belastete Straße mit täglich über 90 000 Fahrzeugen ist in
keinem Ihrer vielfältigen Programme enthalten. Für die
Autofahrer entstehen tagtäglich unerträgliche Staus. Deshalb hat die Bayerische Staatsregierung sich mit dem
Verkehrsministerium in Verbindung gesetzt und eine
zeitweise Inanspruchnahme von Standstreifen für den
fließenden Verkehr vorgeschlagen. Nach umfangreichen
Untersuchungen zur Verkehrssicherheit und zum Verkehrsablauf kann nun auf staugefährdeten Autobahnen in
Zeiten hoher Verkehrsbelastung der Standstreifen zum
Befahren freigegeben werden. Diese kurzfristige Lösung
ist aus unserer Sicht nur eine Übergangslösung; tatsächlich brauchen wir nämlich mehr Geld für den Straßenbau.
Der Ausbau der Bundesverkehrswege gerät weiter ins
Abseits, wenn der riesige Betrag, der durch die Einführung der LKW-Maut abgezockt wird, hauptsächlich
dem allgemeinen Haushalt zufließt. Das ist ein Skandal.
Schon wieder muss der Straßenverkehr herhalten, um die
Löcher im rot-grünen Haushalt zu stopfen, statt dass
Lücken im alten Fernstraßennetz geschlossen werden.
Von der Mineralölsteuer über die Ökosteuer bis zur KFZSteuer werden die Autofahrer jährlich mit weit über
60 Milliarden Euro belastet; trotz dieser Summe stehen
sie weiter im Stau, denn nur rund 4,7 Milliarden Euro werden in den Ausbau der Straßen investiert. Der Autofahrer
ist die Melkkuh der Nation.
({15})
Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, dass das Auto das
Verkehrsmittel Nummer eins in Deutschland bleibt. Wir
brauchen ein gut ausgebautes Straßennetz, damit die Mobilität für alle Bürgerinnen und Bürger gewährleistet ist.
Der Straßenbaubericht zeigt, dass Sie viel zu wenig Geld
sowohl für den Neubau als auch für den Unterhalt ausgeben. Durch diese erheblichen Engpässe im Bundesfernstraßennetz sind Staus, die volkswirtschaftliche Verluste
zur Folge haben, vorprogrammiert, von der Umweltbelastung ganz zu schweigen.
Meine Damen und Herren, es muss sich doch herumgesprochen haben, dass Verkehrsinvestitionen in Höhe
von 1 Milliarde Euro rund 20 000 Arbeitsplätze schaffen.
Sie sollten etwas für die Schaffung der dringend benötigten Arbeitsplätze tun.
Nun noch einige Anmerkungen zum Trauerspiel Bundesverkehrswegeplan. Vom ersten Verkehrsminister Ihrer Regierung - vielleicht erinnern Sie sich noch, dass
er Müntefering hieß - war im November 1998 für das
Jahr 1999 versprochen worden, man wolle einen völlig
neuen Bundesverkehrswegeplan vorlegen. Man hat dann
ganz schnell gemerkt, dass es nicht ganz so einfach ist, einen neuen Bundesverkehrswegeplan vorzulegen. Seitdem
schiebt man dieses Vorhaben ständig vor sich hin.
({16})
Im letzten Jahr wurde uns versprochen, im Februar
würde ein vom Bundeskabinett beschlossener Bundesverkehrswegeplan vorgestellt. Er liegt immer noch nicht vor
und heute hören wir, dass er auf jeden Fall in der zweiten
Jahreshälfte vorgelegt werden soll. Ich bin gespannt,
wann uns endlich ein vom Bundeskabinett beschlossener
Bundesverkehrswegeplan vorliegen wird. Das, was uns
im letzten Jahr präsentiert wurde, war nur ein Sammelsurium von Rohdaten. Es sollte nur darüber hinwegtäuschen,
dass ein Bundesverkehrswegeplan fehlt.
({17})
Frau Staatssekretärin Mertens sprach in der vergangenen Woche davon, dass Rot-Grün eine mutige Verkehrspolitik mache. Ich sage Ihnen: Sie haben den Mut, unser
Transportgewerbe zu ruinieren und die Infrastruktur kaputtzumachen; Sie sind aber nicht in der Lage, eine zukunftsweisende Verkehrspolitik zu gestalten.
({18})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
({0})
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Herr Minister Stolpe, Sie haben nun eine gute Chance, von allen verwirrenden Programmen, die sich als untaugliche Finanzierungsinstrumente erwiesen haben und nie mit den
Ländern abgestimmt waren, Abstand zu nehmen. Mit einem stimmigen Bundesverkehrswegeplan, in dem auch
das Thema EU-Osterweiterung berücksichtigt wird, können Sie wieder zur Klarheit und Wahrheit in der Verkehrspolitik zurückkehren und mehr Geld für den
Straßenbau zur Verfügung stellen; denn die Straße ist seit
Jahrtausenden die wichtigste Verbindung zwischen Menschen und Regionen.
({0})
Wenn Sie eine zukunftsweisende Verkehrspolitik machen, Herr Minister Stolpe, haben Sie uns an Ihrer Seite.
({1})
Bevor ich dem Kollegen Albert Schmidt für das Bündnis 90/Die Grünen das Wort gebe, nehme ich den Zwischenruf des Kollegen Oswald, er könne der Kollegin
Blank noch stundenlang zuhören, zum Anlass, darauf hinzuweisen, dass die Begeisterung über die gehaltenen Reden im Präsidium nicht geringer ist als in den jeweiligen
Fraktionen, dass wir dennoch gehalten sind, die Abwicklung der Tagesordnung in dem Zeitrahmen vorzunehmen,
den die Fraktionen untereinander vereinbart haben.
({0})
Nun hat der Kollege Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
„Wahrheit und Klarheit“ waren ein gutes Stichwort, Frau
Kollegin Blank. Wollen wir also zu den Fakten zurückkehren: Als wir 1998 die Regierungsverantwortung übernommen haben, hatten die Investitionen in die Schiene
in Deutschland einen historischen Tiefstand von nur noch
2,9 Milliarden Euro erreicht. Allein in diesem einen Jahr
- unter Waigels und Wissmanns Verantwortung - wurden
sie um 1 Milliarde DM, also um ungefähr eine halbe Milliarde Euro, gekürzt.
Das Ergebnis: Das Bestandsnetz war verrottet, man
fuhr auf Verschleiß, es hat geholpert und gerumpelt und
die Fahrpläne wurden nicht mehr eingehalten.
({0})
Das war Ihre Hinterlassenschaft im deutschen Schienennetz; das sind die Fakten.
({1})
Kommen wir zu den Fakten, jetzt ist Schluss mit der Märchenstunde. Wir haben bereits in den Bundeshaushalt 1999
- Sie können jede einzelne Zahl nachlesen; es sind Istzahlen, keine Sollzahlen - 3,6 Milliarden Euro, also 700 Millionen mehr, für den Schienenbau eingestellt. Die gleiche
Größenordnung gilt für das Haushaltsjahr 2000. Der Mittelabruf, Herr Kollege Friedrich, betrug 105 Prozent im Jahr
1999 und 102 Prozent im Jahr 2000; das heißt, es wurde sogar mehr abgerufen, als im Plan vorgesehen war.
Herr Kollege Schmidt, sind Sie geneigt, eine Zwischenfrage der Kollegin Blank zuzulassen?
Ich möchte diesen Gedankengang noch zu Ende
führen. Dann darf Frau Blank gerne eine Zwischenfrage
stellen. - Als im Jahr 2001, Frau Kollegin Blank, nach
dem Verkauf der UMTS-Funklizenzen das Zukunftsinvestitionsprogramm aufgelegt wurde, war es das Verdienst
dieser Koalition - darauf bin ich noch heute stolz; ich
danke von dieser Stelle aus Reinhard Klimmt, der hier
auch ein Wörtchen mitgeredet hat -,
({0})
nicht einmalig, sondern für drei Jahre jeweils 2 Milliarden DM - ich betone: drei mal zwei; das ist eine Steigerung der Mittel im Schienenbautitel um rund 50 Prozent zu mobilisieren. Dass die Bahn im Jahr 2001 Mühe hatte,
das viele Geld umzusetzen, ist richtig. Deshalb hat in diesem Jahr der Mittelabfluss nur 87 Prozent betragen. Aber
bereits 2002 lag der Mittelabfluss bei 97 Prozent. Wir haben bei den Schieneninvestitionen ein Rekordniveau erreicht, von dem Sie, als Sie regiert haben, nicht einmal
träumen konnten. Das sind die Fakten. Alles andere ist
Märchenstunde.
({1})
Bitte, Frau Blank, jetzt sind Sie dran.
Kollege Schmidt, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass im Jahre 1998 - dies war also noch während unserer Regierungsverantwortung - die Investitionen für
Ich auch.
- 5,4 Milliarden DM betragen haben Albert Schmidt ({0}) ({1}):
D-Mark!
- richtig, D-Mark -, während im Bericht „Schienenwegeausbau 2000“ nur 4,5 Milliarden DM für Neu- und Ausbaumaßnahmen ausgewiesen wurden? Das ist von der
Bundesregierung schriftlich vorgelegt worden. Nehmen
Sie das bitte zur Kenntnis. Es mag zwar sein, dass in anderen Bereichen der Bahn weitere Mittel ausgegeben
wurden. Aber ich habe nur von den Investitionen für Neuund Ausbaumaßnahmen gesprochen.
Es ist wunderbar, dass Sie mir Gelegenheit geben,
meine Redezeit zu verlängern. Ich antworte Ihnen - das
tue ich gerne - Folgendes: Es trifft zu, dass im Haushaltsjahr 1998 exakt 2,9 Milliarden Euro - das ist ein historischer Tiefststand - an Schienenbaumitteln geflossen sind.
Das waren 500 Millionen Euro weniger, als im Plan eigentlich vorgesehen waren; denn es hat eine Anweisung
gegeben, im laufenden Haushaltsjahr eine entsprechende
Kürzung vorzunehmen. Es trifft weiterhin zu, dass in dem
Berichtszeitraum - das ist das Haushaltsjahr 2001 -, den
Sie ansprechen und über den wir heute diskutieren, exakt
2,3 Milliarden Euro für Investitionen im Sinne der Bedarfsplanmaßnahmen verausgabt wurden. Zugleich sind
aber im selben Zeitraum - Frau Blank, wenn Sie schon
nachlesen, dann müssen Sie die entsprechende Seite im
Bericht auch zu Ende lesen - zusätzlich 1,5 Milliarden Euro
an Investivmitteln für die Erneuerung des Bestandsnetzes
geflossen. Das macht nach Adam Riese zusammen
4,3 Milliarden Euro, also circa 8,6 Milliarden DM. Das
sind 50 Prozent mehr als in Ihrem letzten Regierungsjahr.
Das sind die Fakten. Nehmen Sie sie zur Kenntnis!
({0})
Wir haben 2001 aber nicht nur die Schienenbaumittel
erhöht. Wir haben vielmehr auch zinslose Darlehen, die
nach alter Rechtspraxis der Bahn für Bestandsnetzinvestitionen gewährt wurden, in Baukostenzuschüsse umgewandelt. Jeder, der schon einmal Bauplanung gemacht
hat, weiß, was das bedeutet. Das heißt nämlich, dass Maßnahmen, die vorher unwirtschaftlich waren, plötzlich
wirtschaftlich waren und angepackt werden konnten. Wir
haben allein auf diese Weise eine ganze Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht, die auf Darlehensbasis
nach der alten Rechtspraxis niemals hätten verwirklicht
werden können. Auch das ist eine großartige Leistung, auf
die ich stolz bin.
({1})
Zuletzt möchte ich noch einen Blick in die Zukunft
werfen. Wir stehen vor schwierigen Aufgaben. Die Sanierung des Netzes ist noch nicht beendet. Wir müssen die
Modernisierung des Netzes buchstäblich Kilometer für
Kilometer vervollständigen. Das bedeutet, dass wir das
erreichte Investitionsniveau auf vier Säulen verstetigen
müssen:
Erstens. Das betrifft im Bundesschienenwegeausbaugesetz die Bedarfsplanmaßnahmen, die Bestands- und Erneuerungsmaßnahmen.
Zweitens. Wir müssen das Ganze mit Mitteln aus den
mautfinanzierten Projekten im Sinne des Anti-Stau-Programms ergänzen. Auch darüber sind wir uns, hoffe ich,
einig. Eigentlich wollen Sie ja die Mittel nur für die Straße
ausgeben.
Drittens. Wir müssen - das haben wir bereits getan dafür Sorge tragen, dass auch Investitionen aus dem Regionalisierungsgesetz ins Netz fließen. Wir haben mit
dem Regionalisierungsgesetz bis zum Jahr 2007 eine verlässliche, wachsende Finanzgrundlage für die Länder
geschaffen, wodurch allein jedes Jahr etwa 850 Millionen Euro zusätzlich zu den Ländermaßnahmen auch in
die Verbesserung der Infrastruktur fließen. Das muss man
zu den Kosten für die Schieneninvestitionen addieren.
({2})
Des Weiteren haben wir dafür gesorgt, dass das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz fortentwickelt wurde. Auch
dadurch kann die Infrastruktur des Bahnnetzes verbessert
werden.
Das heißt im Klartext: Wir müssen gemeinsam dafür
Sorge tragen, dass das Erreichte erhalten bleibt und fortentwickelt wird. Das ist eine Garantie dafür, dass die
Schiene gegenüber der Straße weiterhin gleichberechtigt
ist und dementsprechend behandelt wird.
Wir werden außerdem darauf dringen müssen, dass die
Bundesförderung in einem sinnvollen Umfang erweitert
wird. Ich möchte dazu zwei Punkte nennen:
Erstens: Gleisanschlussprogramm im Güterverkehr.
Ein solches Programm brauchen wir. Wir benötigen eine
Förderrichtlinie, um zusätzliche Potenziale für den Schienengüterverkehr - und zwar vom Werkstor an - zu erschließen.
Zweitens. Auch die Lärmschutzmaßnahmen am Fahrzeug müssen gefördert werden. Die Ersetzung der alten
Graugussbremsen durch Kunststoffbremsen schafft wesentlich mehr Lärmschutz als jeder Lärmwall, der für viel
Geld errichtet wird und nur dort eine Wirkung entfaltet,
wo er nun einmal steht. Ein modernisierter Güterwaggon
verursacht überall, wo er fährt, viel weniger Lärm als ein
Güterwaggon, der mit der alten Technologie ausgestattet
ist.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ein letzter Punkt. Im Hinblick auf den neuen Bundesverkehrswegeplan werden wir bei den Ausbau- und Neubauprojekten insbesondere die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten im Auge haben müssen.
({0})
Wir müssen die Verbindungen nach Osten im Sinne des
vordringlichen Bedarfes aufwerten.
Albert Schmidt ({1})
Verehrter Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Von Berlin, aber auch von Nürnberg aus muss es in
Richtung baltische Republiken und Tschechien eine qualitativ hochwertige Schienenverbindung geben. Ich hoffe,
es wird unser gemeinsames Ziel sein, diesbezüglich neue
Akzente und neue Schwerpunkte zu setzen. Ich freue
mich schon auf die entsprechenden Beratungen im Ausschuss.
Vielen Dank.
({0})
Verehrter Herr Kollege, wenn die Wachstumsrate im
Verkehrsetat so eindrucksvoll wäre wie die, die das Präsidium Ihrer Redezeit zugestanden hat, dann könnte diese
Debatte fast entfallen.
({0})
Nun hat der Kollege Eduard Lintner das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
wieder einmal eindrucksvolle Beispiele für den Kern dieser Verkehrspolitik gehört, nämlich allgemeine Bekundungen und Ankündigungen,
({0})
die in der Regel recht entschlossen und zukunftsweisend
formuliert werden. Herr Schmidt, Ihre Zahlenspielereien
bringen schon allein deshalb nichts,
({1})
weil Sie zwei Rahmenbedingungen nicht genannt haben:
Erstens. Dank unserer Vorarbeit erzielte diese Regierung nach der Versteigerung der UMTS-Lizenzen Erlöse
in Höhe von 50 Milliarden Euro, die sie großzügig hat
einsetzen können.
({2})
- Herr Kollege Schmidt, darauf werde ich noch zu sprechen kommen.
Zweitens. Die Bahn war bisher überhaupt in keinem
Jahr in der Lage, die zur Verfügung gestellten Mittel
tatsächlich vollständig abzurufen. Daher handelt es sich
bei vielen der von Ihnen genannten Zahlen sozusagen um
Luftnummern; diese Zahlen sind zum Beweis nicht tauglich.
In den „Investitionsprogrammen für den Ausbau der
Schienenwege“ von 1999 heißt es - ich möchte einmal
eine dieser markigen Aussagen zitieren -:
Das deutsche Verkehrsnetz trägt die Hauptlast des
Transitverkehrs in Europa und hat damit einen wesentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Integration
Europas zu leisten.
Dazu kann ich nur sagen: Bravo, das ist ganz richtig!
({3})
Als Ziel dieser Verkehrspolitik wird genannt:
... damit bundesweit die zur Verkehrsabwicklung
notwendigen Kapazitäten verfügbar sind.
Auch das ist richtig. Nur: Es ist nicht wahr. Worte und Taten klaffen auseinander. Die Tatsachen sprechen eine ganz
andere Sprache.
Um das zu belegen, möchte ich noch einige Zahlen anführen - weiter möchte ich Sie damit dann nicht belästigen -:
Der Umfang des Güterverkehrs auf der Schiene hat
in Ihrer Regierungszeit abgenommen und nicht zugenommen.
({4})
Dass nicht zwangsläufig globale Tendenzen dahinter
stecken, zeigt das Beispiel Österreich. Dort ist das Transportaufkommen auf der Schiene von 1995 bis 2001 um
sage und schreibe 22 Prozent gestiegen.
({5})
Offenbar gibt es Rezepte, bei deren Befolgung man das,
was Sie dauernd als Ziel propagieren, erreicht. In Österreich ist in der Tat manches anders als bei uns gemacht
worden. Sie selbst haben ein Beispiel erwähnt; allerdings
haben Sie nur die halbe Wahrheit gesagt. Die Deutsche
Bahn hat Gleisanschlüsse in großem Umfang stillgelegt
und jetzt verlangen Sie ein neues staatliches Programm
zur Wiederherstellung dieser Gleisanschlüsse. Widersprüchlicher kann Verkehrspolitik wirklich nicht gestaltet
werden.
({6})
Österreich hat es durch eine derartige Förderung von
Gleisanschlüssen immerhin geschafft, dass jetzt - die
Zahl ist recht eindrucksvoll - 7,3 Millionen Tonnen Güter
pro Jahr mehr auf der Schiene transportiert werden als
vorher.
({7})
Die deutsche Regierung hat bislang leider nur das Gegenteil zustande gebracht.
Es gibt eindrucksvolle Beispiele für diese Fehlentwicklung, die ja nach wie vor anhält. In der letzten Ausgabe der
„Deutschen Verkehrs-Zeitung“ ist einiges aufgelistet worden. Beispielsweise sollen auf den rechtsrheinischen
Hauptgleisen demnächst - so schreibt die Zeitung - fast
40 Prozent aller Weichen ersatzlos entfallen und außerhalb der Hauptgleise sollen noch weitere 25 000 Weichen
abgebaut werden. Die Folgen kann man leicht vorhersagen: Die Kapazität für die Aufnahme von Zügen wird
drastisch reduziert, weil der Bahnbetrieb natürlich noch
unflexibler und noch störanfälliger wird, als er ohnehin
schon ist.
Mit dieser Maßnahme wird vielleicht sogar noch Folgendes beabsichtigt: Damit wird natürlich auch der Zugang von Mitbewerbern zum Schienennetz ganz erheblich weiter erschwert oder gar unmöglich gemacht. Im
Ergebnis stehen bei dieser reduzierten Kapazität für Züge,
die nicht zur DB AG gehören, quasi keine Zeitfenster,
keine Slots, mehr zur Verfügung. Dass das die Folge dieser Maßnahme ist, hat übrigens auch einer, der es wissen
muss, bestätigt, nämlich der frühere Bundesbahndirektionspräsident Alfons Thoma.
Es gibt weitere krasse Beispiele. So soll die „Rheinische Bahn“ stillgelegt werden. Alle, die sich da ein bisschen auskennen, bestätigen, dass es sich dabei um die
letzte freie Bahnstrecke im Ruhrgebiet handelt, auf der
überhaupt noch Güterverkehr zusätzlich stattfinden kann.
Stilllegungen, wie sie da geplant sind, stehen in einem
diametralen Gegensatz zu einem Grundsatz der Schienengüterverkehrspolitik, der da lautet, dass Personen- und
Güterverkehr entflochten werden müssen, wenn der Güterverkehr auf der Schiene gesteigert werden soll. Auch
hier gilt wieder: Handeln und Taten stehen in einem krassen Gegensatz zueinander.
Man könnte noch viele Beispiele dafür nennen, etwa
dass Überholstrecken und Begegnungsmöglichkeiten
weiter abgebaut werden. Das Ergebnis ist immer dasselbe: weniger Kapazität auf der Schiene und damit
weiter erschwerter Zugang von Mitbewerbern. Das
Kartellrecht und die Regeln, die das Eisenbahn-Bundesamt durchsetzen und kontrollieren soll, werden
durch die Schaffung von Fakten praktisch ständig unterlaufen.
({8})
Es kommt noch hinzu, dass auch die Zahl der Güterverkehrsannahmestellen - die Kollegin Blank hat
das, glaube ich, schon erwähnt - reduziert worden ist.
Wohin wir auch schauen: Es wird alles Mögliche getan,
um die Verkehrskapazitäten einzuschränken, statt sie zu
erweitern, was angesichts der Entwicklungen, die hier
schon genannt worden sind, aber eigentlich notwendig
wäre.
Man darf es der Regierung nicht durchgehen lassen,
dass sie sich immer dann, wenn es um diese ganz konkreten Maßnahmen geht, sozusagen auf das Argument von
der unternehmerischen Selbstständigkeit der Bahn zurückzieht und sich damit herausreden möchte; denn die
Regierung ist für die Ausrichtung der Verkehrspolitik zuständig.
({9})
Das bedeutet natürlich auch, dass sie ganz speziell für
die Erreichung dieser verkehrspolitischen Ziele die Verantwortung trägt. Notfalls muss sie die Rahmenbedingungen für die Bahn so gestalten, dass die politischen Vorgaben der Verkehrspolitik von der Bahn auch erfüllt werden
können. Die Bahn hat sich unternehmerisch zu orientieren
- das ist ganz klar -,
({10})
aber es muss ihr ermöglicht werden, die Vorgaben der Verkehrspolitik im Rahmen der unternehmerischen Tätigkeit zu realisieren. Da liegt die ganz spezielle Verantwortung des Bundesverkehrsministers.
({11})
- Der Wettbewerb muss her. Auch das ist richtig, Herr
Kollege Friedrich.
Ich muss feststellen: Bis heute ist weit und breit nichts
zu sehen, was als ernsthafte Konzeption der deutschen
Verkehrspolitik zur Erreichung der selbst gesetzten Ziele
gedeutet werden könnte.
({12})
Dabei steht fest - vorhin ist diese Zahl schon einmal kurz
genannt worden -: Allein von 1997 bis 2015 werden die
Güterverkehrsmengen um 64 Prozent wachsen. Die
Schiene soll davon 24 Prozent übernehmen. Wenn das so
käme, würde das eine Verdoppelung der Verkehrsleistung
von 1997 bedeuten. Zurzeit liegen wir bei knapp 8 Prozent.
Wie wollen Sie Ihre hehren Ziele erreichen, wenn Sie
nicht wirklich für eine Trendwende in Ihrer Verkehrspolitik sorgen?
({13})
Diese Verkehrspolitik ist einfach zu sehr mit Ideologie behaftet. Man träumt immer von Schienenverkehrsanteilen,
die mit dieser Politik nicht zu erreichen sind.
({14})
Gleichzeitig tut man aber inkonsequenterweise zu wenig,
um das Straßennetz so herzurichten und so zu erhalten,
dass wenigstens dort der Verkehr einigermaßen reibungslos laufen kann.
({15})
Meine Damen und Herren, Sie stecken, was die
zukünftige Entwicklung angeht, den Kopf einfach in den
Sand. Dafür, dass wir das kritisieren und dass wir Sie auffordern, das endlich zu ändern, haben Sie sicher Verständnis. Vielleicht schafft es der vierte Verkehrsminister
in vier Jahren doch einmal, eine Trendwende in der Verkehrspolitik herbeizuführen. Wir werden das aufmerksam
prüfen. In Kürze werden wir schriftlich haben und nachlesen können, ob es gelungen ist, die nötigen Kurskorrekturen vorzunehmen, nämlich wenn der Bundesverkehrswegeplan, auf den wir jetzt schon jahrelang warten, noch
heuer vorgelegt wird.
Meine Damen und Herren, in aller Kürze stichwortartig noch ein paar andere Dinge.
Herr Bundesverkehrsminister, ein ständiges Ärgernis
ist die Tatsache, dass die Bahn jedes Jahr eingestehen
muss, dass sie die Investitionsmittel, die ihr eigentlich
zur Verfügung stehen, nicht vollständig hat ausgeben
können.
({16})
Wenn es daran liegen sollte, dass die Bahn nicht in ausreichendem Umfange eigene Planungskapazitäten hat,
dann soll sie doch um Gottes willen auf private Planungskapazitäten zurückgreifen.
({17})
Wenn es daran liegen sollte, dass, wie Herr Mehdorn seit
neuestem sagt, die Auftragnehmer die Rechnungen nicht
rechtzeitig stellen, dann kann er das ja abstellen.
({18})
Aber ich habe schon den Eindruck, dass hier immer
Luftnummern angeboten werden. Da werden Beträge in
den Haushalt gestellt, mit denen man, wie hier, in der Diskussion glänzen will; in Wirklichkeit handelt es sich aber
um eine Art stille Haushaltsreserve, die dann im Laufe des
Jahres anderweitig verbraten wird.
({19})
Herr Kollege Lintner, kommen Sie bitte zum Schluss.
Es geht dabei bei weitem nicht nur um ein paar hundert
Millionen, sondern um über 1 Milliarde Euro.
({0})
Das zeigt die Tatsache, dass mit diesen Mitteln beispielsweise vorzeitig Tilgungen für die Strecke NürnbergIngolstadt geleistet oder die Kostenüberschreitungen
beim Lehrter Bahnhof usw. gedeckt werden.
({1})
Denn das sind andere Zwecke. Diese Gelder waren für etwas ganz anderes vorgesehen. Deshalb müssen Sie diese
Milliarde eigentlich zu den nicht verbrauchten Mitteln
hinzuzählen.
({2})
Dann sind Sie bei ganz erklecklichen Größenordnungen.
Ich hoffe, es gelingt Ihnen - wie gesagt, im vierten Anlauf, als vierter Bundesverkehrsminister -, die Dinge endlich zu ändern. Wir halten Ihnen jedenfalls die Daumen.
Das wäre für das Land und für die Bewältigung der Zukunftsaufgaben außerordentlich wichtig.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Karin Rehbock-Zureich
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Herr Lintner, Sie reden immer von Veränderungen in der
Verkehrspolitik und meinen damit die einseitige Festlegung aller Mittel zugunsten der Straße. Da muss ich Ihnen
doch einfach einmal sagen: Wer eine solche Verkehrspolitik betreibt, lebt verkehrspolitisch in der Steinzeit.
({0})
Wer hier den Kopf in den Sand steckt,
({1})
das sind nämlich Sie. Sie sprechen von 64 Prozent Wachstum im Bereich Güterverkehr. Wie bekommen wir das in
den Griff? Wenn Sie keine ideologische Verkehrspolitik
betreiben wollen, muss Ihnen doch völlig klar sein, dass
dies nicht ausschließlich auf der Straße abzuwickeln ist.
({2})
Wenn Sie hier die Haushaltszahlen von 1997 und 1998
hervorkehren, um darzustellen, was die CDU/CSU-Fraktion Großes im Bereich Schiene geleistet hat,
({3})
so will ich Ihnen noch einmal sagen, was auch der Kollege
Schmidt schon gesagt hat.
({4})
Vorgesehen waren bei der Bahnreform einmal mindestens 10 Milliarden DM, also 5 Milliarden Euro, als Finanzmittel. Aber nicht einmal 3 Milliarden Euro haben
Sie 1998 für die Schiene ausgegeben.
({5})
Damit war ein trauriger Tiefpunkt erreicht. Hinterher haben
Sie beklagt, dass der Schienenverkehr von der Substanz leben musste. Der Erfolg Ihrer Politik war nämlich ein maro2172
des Netz, da keine Investitionen in den Bestand getätigt
wurden. Das heißt, die Schiene gammelte vor sich hin.
Wir haben endlich damit Schluss gemacht und Neuund Ausbaumaßnahmen finanziert: Wir haben 4,3 Millionen Euro - Sie können das im vorliegenden Bericht
nachlesen - ins Bestandnetz und 6,8 Milliarden Euro in
den Nahverkehr und die Regionalisierung investiert. Das
hätten Sie während Ihrer 16-jährigen Regierungszeit erst
einmal erreichen müssen.
({6})
Obwohl die Mittel für die Schiene massiv angehoben
wurden, kam es in den ersten Jahren angesichts der zu geringen Planungskapazitäten für den Ausbau zu wirklichen
Problemen. Der komplette Mittelabfluss wurde im ersten
Jahr, nachdem die ZIP-Mittel geflossen sind, nicht erreicht.
({7})
2002 jedoch sind von den zur Verfügung stehenden
Mitteln nur 3,5 Prozent nicht abgerufen worden, also
150 Millionen Euro.
({8})
Es kann doch niemand sagen, dass der Mittelabfluss im
Schienenverkehr nicht funktioniert, wenn bis zu 97 Prozent der Mittel abgerufen und 4,1 Milliarden Euro verbaut
werden.
({9})
Selbstverständlich erwarten wir als Parlamentarier, dass
alle Mittel abfließen; das ist ganz klar. Hier hat die Bahn
natürlich auch die unternehmerische Verpflichtung, Bauprojekte fortzusetzen, Planungen zügig in Gang zu setzen
und Baumaßnahmen noch besser als bisher abzustimmen.
({10})
Der erheblich erweiterte Finanzrahmen macht deutlich, was dieses Parlament und diese Koalition erreicht
haben. Wir haben erreicht, dass einerseits der Verkehrsträger Schiene mit der Straße gleichgesetzt wurde, dass
andererseits aber auch die Kontrollfunktionen in Bezug
auf die Haushalte immer wahrgenommen wurden. Wir
werden das in Zukunft bei der Verabschiedung der Bedarfspläne genauso tun.
Wir haben auch die Rahmenbedingungen für den Verkehrsträger Schiene verbessert: Auf europäischer Ebene
bringt die Öffnung der Netze mehr Wettbewerb auf der
Schiene. Mit der Öffnung werden grenzüberschreitende,
lang laufende Verkehre möglich. Dies ist die Chance für
die Zukunft. Dies müssen wir voranbringen.
({11})
Wir haben - das ist ein ganz wichtiger Einstieg - die
LKW-Maut auf den Weg gebracht. Ab Sommer 2003
werden LKWs an ihren Wegekosten beteiligt. Die hierdurch eingenommenen Mittel fließen nicht ausschließlich
in den Verkehrsträger Straße, sondern nur zu 50 Prozent;
50 Prozent kommen der Schiene und den Wasserstraßen
zugute. Dies ist im Gegensatz zu Ihrer Steinzeitpolitik
wirklich ein integrierter Ansatz.
({12})
Als ganz wichtig sehen wir es auch an, hier nicht nur
für Wettbewerb zwischen den Verkehrsträgern, sondern
auch für Wettbewerb auf der Schiene zu sorgen. Unser
Ziel ist dabei ein flächendeckendes Schienennetz. Da
müssen alle Wettbewerber gleich behandelt werden; alle
müssen die gleichen Chancen haben.
Diese fairen Wettbewerbsbedingungen brauchen wir,
Herr Lintner, für die Verdoppelung des Güterverkehrs auf
der Schiene, die nötig ist, damit wir nicht alle im Stau stehen.
({13})
- Das glaubt die Bahn sehr wohl.
({14})
Ein Weg dahin ist die Sanierung des Netzes, die wir in
Gang gesetzt haben. Das ist die Voraussetzung für funktionierende Güterverkehre auf der Schiene. Außerdem
müssen wir dafür sorgen, dass mehr Unternehmen als bisher an die Schiene angebunden werden.
({15})
So ist es sehr wohl richtig und wichtig, dass wir Gleisanschlüsse fördern, die direkt an das Schienennetz angebunden sind.
({16})
Man kann der Meinung sein, das Gleisanschlussprojekt,
das Georg Leber gefordert und eingeführt hat und dessen
verrostete Gleise wir heute vor Augen haben, habe nicht
funktioniert, weil es nicht nach Bedarf eingerichtet worden sei.
({17})
Die Österreicher sind für uns ein wichtiges Vorbild, weil
sie es geschafft haben, mit Beteiligung der Unternehmen
mehr Güterverkehr auf die Schiene zu bringen.
Wenn Sie immer beklagen, dass wir nicht ausreichend
Güterverkehr auf die Schiene bekommen, dann fordere
ich Sie auf: Tragen Sie doch zur Entwicklung dieses Programms bei und stimmen Sie zu,
({18})
wenn wir dafür sorgen wollen, dass Finanzmittel auch für
die Förderung von neuen Gleisanschlüssen zur Verfügung
gestellt werden! Ich denke, es ist nicht sinnvoll, den Verkehrsträger Straße einseitig zu bevorzugen. Wir benötigen
alle Verkehrsträger. Kehren Sie zu einer Politik zurück,
die alle Verkehrsträger integriert sieht, zum Wohle von
uns allen und gegen den Stau!
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat jetzt der Kollege Gerhard Wächter von
der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst zu Ihnen, Frau Rehbock-Zureich. Wenn Sie sagen, dass Herr Lintner in der Steinzeit lebt, weil er auf die
Probleme des Straßenverkehrs hinweist, dann muss ich
Sie fragen: Wo leben Sie eigentlich? Jedenfalls leben Sie
nicht in der Realität, wo wir entsprechende Probleme tagtäglich feststellen.
({0})
Meine Damen und Herren, in fast allen Debattenbeiträgen wurde zu Recht betont, dass Mobilität und ein
hoch entwickeltes Verkehrssystem entscheidende Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum sowie für den
Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen sind. Das
war in der Vergangenheit so und das wird für die Zukunft
von noch größerer Bedeutung sein. Es ist ja schon auf die
EU-Osterweiterung hingewiesen worden, die wir in einigen Monaten zu erwarten haben.
Es gilt: Zukunftssicherung des Wirtschaftsstandortes
Deutschland heißt Zukunftssicherung und Optimierung
der Verkehrsinfrastruktur.
({1})
Für uns Verkehrspolitiker ist das gewiss unbestritten, aber
für andere durchaus keine Selbstverständlichkeit, wenn es
darauf ankommt, die immer knapper werdenden Haushaltsmittel zu verteilen und zu beurteilen, wo das Geld am
notwendigsten gebraucht wird und letztendlich hin soll.
Wenn man im Blick hat, dass wir wieder mit 2 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen zu rechnen haben,
wird man schnell feststellen, wie dieser Verteilungskampf
aussehen wird.
Schuld daran ist die Bundesregierung, die nicht in der
Lage ist, die Weichen so zu stellen, dass endlich ein Ruck
durch Deutschland geht, dass Unternehmer und Arbeitnehmer wieder Hoffnung schöpfen und Licht im Tunnel
sichtbar wird. Das ist die Wahrheit.
({2})
So sicher wie das Amen in der Kirche wird dies
zwangsläufig auch Folgen für die zukünftige Finanzierung der notwendigen Investitionen in den Ausbau und
Erhalt vor allem im Straßenbereich haben, der am nötigsten Geld braucht. Denn der Straßenverkehr ist und bleibt
der Motor unserer Wirtschaft. Wir wissen, dass in
Deutschland jeder siebte Arbeitsplatz vom Auto abhängt
und dass das Auto das Verkehrsmittel Nummer eins ist
und weiterhin bleiben wird. Da ich aus dem ländlichen
Raum komme, kann ich das besonders gut beurteilen.
({3})
Das Ergebnis der vierjährigen rot-grünen Politik ist
- trotz aller gegenteiligen Darstellungen -, dass das deutsche Autobahnnetz kaum noch europäisches Mittelmaß
erreicht.
({4})
Gemessen an der Ausstattung mit Autobahnen im Vergleich zum Fahrzeugbestand befindet sich Deutschland
im europäischen Vergleich nur noch auf Rang zehn. Hier
hat uns mittlerweile - das kann man nachlesen - sogar
Portugal überholt.
({5})
Das kann sich der Wirtschaftsstandort Deutschland nicht
leisten. Er kann sich auch - das müssen wir besonders beachten - die staubedingten Kosten in Höhe von 100 Milliarden Euro pro Jahr nicht leisten. Das ist eine unglaubliche Verschwendung.
({6})
Alle Prognosen zeigen eindeutig, dass Deutschland als
Land in der geographischen Mitte Europas in den nächsten Jahren und Jahrzehnten durch die Entwicklung des
Personen- und Güterverkehrs vor großen Herausforderungen steht. Bis 2015 müssen wir in Richtung Osten mit
einem Zuwachs beim grenzüberschreitenden Verkehr um
circa 200 Prozent rechnen. Schätzungen für die Zunahme
im Bereich des Personenverkehrs liegen zwischen 25 und
fast 70 Prozent. Deutschland ist auf diese Entwicklung
nicht vorbereitet, unter anderem auch deswegen, weil die
bis zum Regierungswechsel 1998 eingeleiteten Maßnahmen seit vier Jahren stagnieren.
({7})
Das wird sich bitter rächen.
Anfang September soll endlich die Maut für LKWs
kommen. Ich habe allerdings Zweifel, ob sie funktionieren wird; denn der Bundesverband Güterkraftverkehr hat
bekanntlich mit einem Boykott des Einbaus der Mauterfassungsgeräte gedroht. Man spricht vom so genannten
„Super-GAU Maut“. Grund dafür ist, dass die Bundesregierung nur 300 Millionen Euro für die Harmonisierung
zahlen will. Dieser Betrag reicht bei weitem nicht aus,
um die mautbedingten Wettbewerbsnachteile auch nur
annähernd auszugleichen.
({8})
Ich will noch einmal deutlich betonen, dass die
CDU/CSU-Fraktion diese Entscheidung der Bundes2174
regierung für völlig inakzeptabel hält; denn die Maut wird
die schon jetzt äußerst angespannte Situation der Branche
weiter verschärfen und noch mehr Betriebe in diesem mittelständischen Gewerbe in den Ruin treiben. Das bedeutet gleichzeitig, dass zigtausend Arbeitsplätze verloren
gehen und dass die Wahrscheinlichkeit von 5 Millionen
Arbeitslosen immer größer wird.
Die Bundesregierung hat vollmundig versprochen, die
Maut werde zur Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur
vor allem im Straßenbau genutzt. Tatsache ist aber, dass
der größte Teil - darauf ist schon hingewiesen worden zur Sanierung des Haushalts in die Kassen des Finanzministers fließt und nicht der direkten Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur zugute kommt. Es muss gelten: Wer die
Zeche zahlt, hat einen Anspruch darauf, dass dafür adäquate Gegenleistungen erbracht werden, und zwar 1 : 1.
Ansonsten handelt es sich um reine Abzockerei.
({9})
Was den Schienenverkehr betrifft, ist es eine reine
Wunschvorstellung - das ist schon gesagt worden -,
durch die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene
den Anteil des Schienenverkehrs zu verdoppeln. Ich will
in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass seit 1999
deutlich mehr als 100 regionale Schienenstrecken von
rund 1 300 Kilometer Länge, insbesondere in ländlichen
Räumen, stillgelegt und dass mittlerweile rund zwei Drittel der Containerbahnhöfe geschlossen worden sind.
({10})
Aber auch da, wo Stadt und Kreis bereit waren, sich an der
Finanzierung der Einrichtung eines Containerbahnhofs zu
beteiligen, hat die Bahn - wie zum Beispiel bei mir im
Kreis Paderborn - klar abgewinkt.
Da kommt wenig Hoffnung auf, ein solch ehrgeiziges
Ziel zu erreichen. Wir als Politiker und insbesondere die
Bundesregierung sind verpflichtet, die Bahn auf ihre Verantwortlichkeit hinzuweisen. Sie bekommt viel Geld aus
dem Haushalt. Dies muss sie dem Steuerzahler gegenüber
rechtfertigen.
({11})
Abschließend zu den beiden vorliegenden Gesetzentwürfen; einiges ist dazu schon vorgetragen worden. Wichtigstes Ziel war 1991, für den Aufbau einer ausreichenden
Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern
schnellere Zulassungs- und Verwaltungsverfahren zu
schaffen, als sie es in den alten Bundesländern gibt. Es
handelt sich also um Sonderrechte für die neuen Bundesländer. Wir können mit Genugtuung feststellen, dass sich
das bestehende Gesetz sehr positiv auf den Aufbau Ost
ausgewirkt hat.
({12})
Aber der Aufbauprozess ist noch lange nicht abgeschlossen und wird auch nicht bis zum Ende des Jahres 2004
erledigt sein. Deshalb ist eine erneute Verlängerung der
Geltungsdauer dieses Gesetzes notwendig. Aus unserer
Sicht sollte eine Verlängerung bis 2019 erfolgen, weil zu
diesem Zeitpunkt der Solidarpakt II auslaufen wird. Vor
allen Dingen geben wir damit den neuen Bundesländern
ein richtiges Signal, nämlich Planungssicherheit für einen
langen Zeitraum. Dieses Signal und diese Sicherheit brauchen die neuen Bundesländer.
({13})
Ich hoffe, dass wir im Interesse der Bürgerinnen und
Bürger in den neuen Bundesländern im weiteren Verlauf
der Beratungen zu einem Konsens kommen werden.
Ich danke Ihnen vielmals.
({14})
Herr Kollege Gerhard Wächter, ich beglückwünsche
Sie zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Siegfried Scheffler von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Wächter, auf zwei Drittel Ihrer Rede
könnte man eine ganze Menge entgegnen. Ich stimme
aber ausdrücklich dem zu, was Sie zuletzt im Hinblick auf
das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz angesprochen haben. Wir haben in den neuen Bundesländern aufgrund dieses Gesetzes viel erreicht. Dazu hat die
alte Bundesregierung beigetragen und dazu trägt seit 1998
natürlich auch die rot-grüne Bundesregierung bei.
Herr Kollege Friedrich bzw. Frau Kollegin Blank, Sie
haben Minister Stolpe vorgeworfen, er sei auf dieses Problem nicht sehr detailliert eingegangen.
({0})
Ich brauche den Minister nicht in Schutz zu nehmen, kann
ihn aber, da er früher Ministerpräsident war, als Kronzeugen heranziehen. Denn gerade Brandenburg - damals unter Ministerpräsident Stolpe - war Mitinitiator einer Bundesratsinitiative, die dazu führte, dass die Geltungsdauer
dieses Gesetzes 1995 und dann noch einmal 1999 verlängert wurde.
({1})
Insofern zeigt sich bei Minister Stolpe Kontinuität. Er hat
mehrfach darauf hingewirkt, dass gerade in den neuen
Bundesländern die positiven Aspekte dieses Gesetzes
zum Tragen kommen.
({2})
Herr Kollege Wächter, Sie haben ausdrücklich betont,
dass es dabei um ein Sondergebiet, um die neuen Bundesländer, geht. Zudem ist die Geltungsdauer dieses Gesetzes zeitlich beschränkt. Als Abgeordneter aus den
neuen Bundesländern möchte ich natürlich darauf hinweisen - darin stimme ich mit Ihnen vollkommen überein -,
dass wir mit dem geltenden Bundesverkehrswegeplan
noch nicht das erreicht haben, was wir uns vorgenommen
haben. Ich stimme mit Ihnen von der Opposition auch
überein, dass wir zukünftig mit Blick auf den neuen Verkehrswegeplan, aber auch - das sage ich so deutlich wie
Sie - mit Blick auf die EU-Osterweiterung zusätzliche
Verkehrswege - ob Schiene, Wasserstraße oder Straße benötigen.
Auch deshalb müssen wir uns überlegen, ob wir die
Geltungsdauer des jetzigen Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes verlängern. Ich meine, wir stimmen hier im Hause darin überein, dass wir eine solche
Verlängerung benötigen. Aber ob diese Verlängerung bis
2019, wie im CDU/CSU-Antrag gefordert, bzw. bis 2010,
wie die FDP es wünscht, gehen sollte, das sollten wir uns
genau überlegen.
Wir können uns als Politiker wünschen - wir wünschen
uns ja manchmal etwas nach dem Prinzip Wunsch und
Wolke -, dass dieses Gesetz eine lange Geltungsdauer hat,
aber wir sollten uns auch fragen, ob es immer rechtlich
Bestand haben kann. Wir sollten also nicht Gesetze vorformulieren, bei denen von Anfang an erhebliche rechtliche Bedenken bestehen. In diesem Fall haben die Justizminister der Länder ihre rechtlichen Bedenken seit
etlichen Jahren vorgetragen. Ich selbst hatte als Staatssekretär 1999 die Gelegenheit, im Vermittlungsausschuss
mit den Vertretern des Bundesrates über die Verlängerung der Geltungszeit des Gesetzes zu diskutieren, und wir
sind zu einem Kompromiss - Verlängerung bis 31. Dezember 2004 - gekommen. Aber auch aus Ihren Reihen sind
schon damals rechtliche Bedenken vorgetragen worden.
Wir sollten deshalb nicht darum kämpfen, ob die Geltungsdauer des Gesetzes nun bis 2009 oder bis 2010 verlängert werden soll.
({3})
In Vorbereitung auf die heutige Diskussion habe ich
mich auch mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
beschäftigt, in dem es allerdings - Sie wissen das - nicht
um das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz,
sondern um das Investitionsmaßnahmegesetz geht,
({4})
in dem aber in vier Kapiteln extra auf das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz abgehoben wird. Darin
wird detailliert dargelegt, dass es nur für ein begrenztes
Gebiet und für eine begrenzte Zeit gilt. - Herr Friedrich,
ich habe ja vom Urteil zum Investitionsmaßnahmegesetz
gesprochen und stimme Ihnen insofern ausdrücklich zu,
dass das etwas anderes ist.
({5})
Das Urteil liegt mir schriftlich vor. - Kollege Oswald, ich
bin der letzte Redner und ich möchte meinen Debattenbeitrag hier zu Ende bringen, auch weil ich mit Ihnen ja
darin übereinstimme, dass das Investitionsmaßnahmegesetz etwas anderes ist,
({6})
aber im Urteil wird auch auf das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz abgehoben. - Entschuldigung, ich
meine natürlich Horst Friedrich.
Wollen Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Nein, ich möchte meine Rede fortsetzen.
({0})
Ich habe mich in Vorbereitung auf diese Debatte beim
4. und beim 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in
Leipzig sehr detailliert sachkundig gemacht.
({1})
Wir stimmen ja in einigen Dingen überein, Kollege
Friedrich. Außerdem hatte ich heute ein längeres Gespräch mit dem Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts, Herrn Hien, geführt. Herr Präsident Hien war - das
sage ich jetzt vielleicht ein bisschen flapsig - schlichtweg
entsetzt über eine eventuelle Geltungsdauer bis 2019 und
- jetzt komme ich zum Antrag der FDP - über die Ausweitung auf die alten Bundesländer.
Weil es auch im öffentlichen Raum sehr viele rechtliche Bedenken gibt, möchte ich darum bitten, dass wir uns
an das halten, was wir selbst uns als Bundesgesetzgeber
auf die Fahne geschrieben haben. Der Deutsche Bundestag hat in seiner 63. Sitzung am 28. Oktober 1999 - das ist
vielleicht für die Kolleginnen und Kollegen von der FDP
sehr interessant - im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens
eine Beschlussempfehlung angenommen, aus der ich jetzt
zitiere:
Die Bundesregierung wird gebeten, dem Bundestag
ein Jahr vor dem Auslaufen des in seiner Gültigkeit
verlängerten Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes, das heißt bis zum 31. Dezember 2003, einen Erfahrungsbericht vorzulegen, der Aufschluss
über die nach diesem Gesetz geplanten Verkehrsprojekte und die beschleunigten Effekte nach diesem
Gesetz gibt.
Interessant ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
FDP, dass der Entschließungsantrag seinerzeit von Ihrer
Fraktion eingebracht wurde.
({2})
- Das ist ja auch vernünftig. Sie brauchen sich doch gar
nicht zu überholen.
({3})
In der DDR gab es früher das Schlagwort „Überholen
ohne einzuholen“. Nach dem Motto handeln Sie jetzt ein
bisschen.
(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Der Minister hat selber festgestellt, dass die Erfahrungen positiv sind! Da stimmen wir ihm ausdrücklich zu! - Dem stimmen wir doch allgemein zu. Trotzdem haben wir keine Eile. Wir sollten ganz gelassen den Bericht der Bundesregierung abwarten, der spätestens zum 31. Dezember vorliegen wird. Die Bundesregierung hat ja schon signalisiert, dass er eventuell früher vorliegt. Vor allen Dingen sind auch die Länder - auch da habe ich selbstverständlich nachgefragt - nicht in der Lage, vor dem im Bundesrat vereinbarten Termin 30. Juni 2003 der Bundesregierung zuzuarbeiten. Wir müssen doch den Ländern und der Bundesregierung die notwendige Zeit geben, Fakten zusammenzutragen und diesen Bericht dem Deutschen Bundestag zuzuleiten. Das ist die Grundlage, um über das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz in einem ganz normalen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren diskutieren und dann entscheiden zu können. Es muss - ich glaube, darüber sind wir uns alle einig eine Verlängerung geben. Über alle anderen Fragen, beispielsweise über Zeitraum, Ausdehnung und die rechtlichen Bedenken, sollten wir gemeinsam nach Vorliegen des Berichtes diskutieren. Wir müssen natürlich sehen, dass es, wenn man zukünftig die Zuständigkeit nur einer rechtlichen Instanz auf ganz Deutschland ausdehnen sollte, einen riesigen Verwaltungsaufwand und -stau und, wie ich glaube, auch juristische Probleme für das Bundesverwaltungsgericht geben wird. Deshalb nochmals, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie uns ganz gelassen die Berichte abwarten. Darüber werden wir dann Anfang des Jahres 2004 diskutieren. Vielen herzlichen Dank. ({4})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/265, 15/280, 15/221 und 15/461 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf: a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes
- Graffiti-Bekämpfungsgesetz - ({0})
- Drucksache 15/404 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP
Für eine Internationale Sicherheitsinitiative für
Nordostasien
- Drucksache 15/469 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 d sowie Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 12 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 15 zu Petitionen
- Drucksache 15/424 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 15 ist damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 12 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 16 zu Petitionen
- Drucksache 15/425 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 16 ist ebenfalls einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 12 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 17 zu Petitionen
- Drucksache 15/426 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 17 ist ebenfalls einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 12 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Sammelübersicht 18 zu Petitionen
- Drucksache 15/427 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 18 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktionen
von CDU/CSU und FDP angenommen.
Zusatzpunkt 4:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({7})
zu den Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/02 und 2 BvE 2/02
- Drucksache 15/479 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({8})
Der Rechtsausschuss empfiehlt, in den verfassungsge-
richtlichen Verfahren Stellung zu nehmen und den Präsi-
denten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu be-
stellen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({9}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({10}),
Dirk Fischer ({11}), Eduard Oswald, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Seesicherheit optimieren - nationaler und euro-
päischer Handlungsbedarf nach Tankerunter-
gang der Prestige
- Drucksachen 15/192, 15/370 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Faße
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12}) zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur „Maritimen
Sicherheit auf der Ostsee“
- Drucksachen 14/9487, 15/345 Nr. 69, 15/488 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Börnsen ({13})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Wolfgang Börnsen von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({14})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der folgenreiche Untergang des Ölgroßtankers „Prestige“
vor der Küste Spaniens hat auch die Bürger unseres Landes erkennen lassen: Wir leben in Sachen Seesicherheit
auf einem Pulverfass. Der Schiffsverkehr nimmt weltweit zu, Öl- und Chemikalientanker werden immer größer
und 40 Prozent der Welttankerflotte sind älter als 20 Jahre.
Meldungen über Seeunfälle reißen nicht mehr ab. Seit der
Havarie der „Prestige“ vor drei Monaten hat es fünf weitere Schiffsunglücke in europäischen Meeren gegeben.
Wir sind derzeit nur einen Herzschlag von neuen Seekatastrophen entfernt. Die Bedrohung für Mensch und Natur wächst täglich. Die Bundesregierung und die EUKommission reagieren auf diese Herausforderung mit
Ankündigungen und Absichtserklärungen. Das reicht
nicht aus.
({0})
Können, müssen und sollen - Stolpe muss endlich handeln und nicht nur wollen. Die Bürger wollen keine Beschreibung der Handlungsmöglichkeiten nach Ölkatastrophen auf See. Sie wollen den Vollzug von Maßnahmen.
Dazu gehören: Einhüllentanker gehören weltweit außer
Dienst gestellt,
({1})
in gefährlichen Seegebieten ist sofort eine Schiffsmeldeund Lotsenpflicht einzuführen, Radar- und Schiffsidentifizierungssysteme sind in Risikoregionen auf See sofort
und unverzüglich zu installieren und schrottreife Seelenverkäufer haben auf Weltmeeren nichts mehr verloren.
({2})
Wir benötigen endlich eine europäische Küstenwache.
Nationale Schutzmaßnahmen reichen nicht mehr aus. Wir
wollen keine Diskriminierung der Seeschifffahrt und
keine Einschränkung des Seehandels. Wir wollen aber,
dass den fliegenden Holländern auf See endlich das Handwerk gelegt wird.
Bereits vor dem verheerenden Ölunfall des Tankers
„Erika“ vor Frankreichs Küste im Jahre 1999 haben
Union und FDP auf die Schwachstellen der Seesicherheit
aufmerksam gemacht. Ich will zugestehen, dass es in
Randbereichen Verbesserungen für mehr Seeschutz gegeben hat. In der grundsätzlichen Gefahrenabwendung hat
sich seitdem aber fast gar nichts getan. So ist es bei der
Deadline für Einhüllentanker im Jahre 2015 geblieben.
Wir sagen: Das ist viel zu spät. Der Termin ist vorzuziehen.
({3})
Nach Angaben des Werftenverbandes könnte die Umrüstung der Welttankerflotte auf Doppelwandboote in
dreieinhalb Jahren erfolgen.
Bei vier Verkehrsministern, die Herr Schröder in fünf
Jahren hat anmustern lassen, kann es weder ein Konzept
noch eine Kontinuität für mehr Seesicherheit geben. Es
brauchte vier Jahre, um nach dem Unglück der „Pallas“
das Havariekommando in Cuxhaven einzuführen. Vier
verlorene Jahre lagen dazwischen. Bei diesem Kommando handelt es sich um ein Managementsystem bei
Seeunfällen. Unter anderem sollen ökologische Seeschäden eingedämmt werden. Schutzmaßnahmen sind nach
unserer Auffassung nur ein Teil der optimierten See2178
sicherheit. Die eigentliche Ausrichtung von Seesicherheit
muss es sein, Seeunfälle zu verhindern, also vorzubeugen.
({4})
Das ist zum Beispiel auch eine verdienstvolle Forderung der Schutzgemeinschaft Deutsche Nordseeküste. Es
geht bei uns wie in anderen Ländern auch um ein ganzheitliches Sicherheitssystem. Es geht um Safety and
Security und nicht nur um einen Teil davon.
Die Union verfolgt mit ihrem heutigen Antrag dieses
Ziel. Er wird von der Mehrheit des Hauses heute abgelehnt werden.
({5})
Nach dem parlamentarischen Verständnis von Rot-Grün
darf es einen Erfolg der Opposition nicht geben. Vor vier
Wochen haben wir einem ähnlichen Antrag von Rot-Grün
zugestimmt, weil man nach unserer Auffassung bei der
nationalen Sicherheit endlich die parteipolitischen Scheuklappen ablegen muss.
({6})
Ich komme zur Sache zurück. Über 25 000 Tonnen giftigen Schweröls sind durch den Untergang des Großtankers „Prestige“ ins Meer und an die Küste gelangt. 50 000
Tonnen befinden sich noch in den Tanks. Das Wrack liegt
in einer Tiefe von 3 600 Metern. Täglich strömen noch
große Mengen Öl aus. Die Ölpest ist nicht zu Ende. Die
Begrenzung der Katastrophe durch das Einschleppen der
„Prestige“ in einen Nothafen hat es nicht gegeben, weil es
eine verbindliche Nothafenregelung weder national,
noch europäisch, noch international gibt.
Seit den Unglücken der „Pallas“ und der „Erika“ ist
dieser Tatbestand bekannt, als sich dänische und französische Häfen weigerten, die Havaristen aufzunehmen. Vier
Jahre lang hat es durch die Bundesregierung Problembeschreibungen, aber keine wirklichen Problemlösungen
gegeben. Auch jetzt noch weigert sich Bundesminister
Stolpe, Nothäfen zu benennen, obwohl ihn die EU-Kommission dazu verpflichtet hat. In einer Antwort auf meine
Anfrage hat man mir gestern mitgeteilt, man sei dabei,
Daten zu sammeln. Eine Benennung der angekündigten
40 Nothafenliegeplätze gibt es nicht.
Dabei hätte ein Ölunfall vom Ausmaß der „Prestige“ im
ökologisch hochsensiblen Wattengebiet der Nordsee ebenso
verheerende Folgen wie im Fastbinnenmeer der Ostsee. Von
einer solchen Katastrophe sind wir derzeit nur einen Wimpernschlag entfernt. Täglich passieren Risikogroßtanker im
Alter der „Prestige“ von 26 Jahren in der Kadetrinne zwischen dem dänischen Falster und dem deutschen Darß diese
enge, gefährliche Zone. In dieser Gefahrenzone gibt es pro
Jahr 65 000 Schiffsbewegungen, davon sind 8 200 Tanker.
Es ist eine der am stärksten befahrenen und eine der gefährlichsten Schiffsrouten in Europa.
Es gibt weder eine Meldepflicht noch eine Lotsenannahmepflicht, weder eine ausreichende Radarüberwachung noch ein funktionierendes Schiffsidentifizierungssystem. Tag für Tag sind hier aber tickende Zeitbomben
unterwegs. Einhüllengroßtanker gehören dazu. Das
„Flensburger Tageblatt“ schrieb von „Öl-Geisterschiffen“. Nicht Sicherheitslücken registrierte Greenpeace in
einer kenntnisreichen Dokumentation in diesem Seegebiet, sondern ein dramatisches Sicherheitsloch.
Russland blockiert seit Jahren durch seine Verweigerung der Kooperation eine europäische Ostsee-Sicherheitslösung. Ich hätte mir gewünscht, dass Bundeskanzler
Schröder bei seinen häufigen Gesprächen mit Putin dieses
Fehlverhalten Russlands zur Sprache gebracht hätte; denn
nur internationale Abkommen helfen der Ostsee.
({7})
Der Öl- und Gastransport von russischen Häfen durch die
Ostsee wächst sprunghaft an. Die Sicherheit jedoch
wächst nicht mit. Im Gegenteil: Da unter anderem die Vereinigten Staaten ein Einlaufverbot für Einhüllentanker
praktizieren, steigt die Anzahl der Risikoschiffe im europäischen Raum. Überspitzt formuliert: Der Schrott weicht
nach Europa aus. Das ist der Tatbestand.
Auch die „Prestige“ hatte Schweröl aus Russland gebunkert. Doch statt knallhart und konsequent wie die
Amerikaner zu reagieren, beklagen EU-Kommission und
leider auch die Bundesregierung die Lage und entscheiden nur zögerlich. Man kann, man müsste, man sollte Fachmann dafür ist Bundesverkehrsminister Stolpe.
({8})
Als in diesen Tagen der russische Öltanker „Minerva
Nounou“ mit 100 000 Tonnen Rohöl im finnischen Meer
im Eis festsaß, hat es Moskau abgelehnt, einen Eisbrecher
zu entsenden. Dabei war die Lage überaus dramatisch.
Der in Griechenland registrierte Tanker war nur für Eisstärken bis 30 Zentimeter zugelassen. Er hätte bei einer
Eisdecke von 60 Zentimetern und einem Packeis von
2 Metern gar nicht auslaufen dürfen. Nur unter großem
Einsatz gelang es Finnland, die Fahrrinne freizumachen.
Damit ist in letzter Minute eine Ölkatastrophe in der Ostsee verhindert worden. Einhüllentanker gehören nicht in
die Ostsee!
({9})
Die Verweigerung Russlands kann von niemandem geduldet werden. Gemeinsame Seesicherheit ist das Gebot
für alle Ostseeanrainer. Dazu gehört auch ein verstärkter
Schutz bei Risikoschiffen vor terroristischen Angriffen
und Piraterie. Der Terroranschlag auf den französischen
Tanker „Limbourg“ im Jemen hätte auch in Kiel oder
Cuxhaven passieren können. Das Attentat auf den USZerstörer „Cole“, bei dem 17 US-Soldaten ums Leben gekommen sind, wäre auch in Warnemünde und Wilhelmshaven möglich gewesen.
An Nord- und Ostseeküste registrieren wir jährlich
mehr als 200 000 Schiffsbewegungen, im Nord-OstseeKanal fast 35 000. Weder das Havariekommando noch die
beiden Bundesküstenwachen, die Landesküstenwachen
und die Zentren der Wasserschutzpolizeien sind dafür
Wolfgang Börnsen ({10})
Wolfgang Börnsen ({11})
ausreichend ausgerüstet und mit genügend Kompetenzen
ausgestattet.
Die Union bleibt dabei: Wir benötigen mehr denn je
eine nationale Küstenwache bzw. ein Seesicherheitszentrum, das Bundesgrenzschutz und Bundesmarine mit
einschließt. Derzeit scheint die Bundesregierung aber
keine Kraft zu haben, durch einen Staatsvertrag oder eine
Grundgesetzänderung dafür zu sorgen.
Die zunehmende Bedrohung durch terroristische
Anschläge, um die Seetransportkette zu zerstören, verlangt aber auch eine Überprüfung der Trägerkompetenz.
Ist es eigentlich in Zukunft vertretbar, dass der Verkehrsminister dafür zuständig ist, oder wäre nicht eventuell der
Bundesinnenminister mit seinen 30 Sicherheitsboten besser dafür geeignet?
Auf jeden Fall gilt: Zur Sicherheit der Bürger, zum
Schutz der Meere, zur Aufrechterhaltung des Seehandels
und um unserer Verantwortung für eine intakte Umwelt
gerecht zu werden, benötigen wir eine Seesicherheit, die
Safety and Security umfasst.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Angelika Mertens.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Börnsen, man könnte fast glauben, den
Ostseeverkehr gäbe es erst seit 1998.
({0})
Sie reagieren mit einer Aufgeregtheit, Schärfe und Bitterkeit, die ich aus Ihrer Sicht fast verstehen kann. Ich habe
nämlich in den Debatten über die Schiffssicherheit aus
den vergangenen Jahren nachgelesen. Dabei ist mir eine
Debatte aus dem Jahre 1993 besonders aufgefallen, in der
Sie ähnliche Forderungen wie eben erhoben haben.
({1})
In Ihrer Fraktion sind Sie damit jedoch nicht durchgedrungen.
({2})
Sie können aber jetzt ganz entspannt zuhören, wenn ich
vortrage, welche Maßnahmen wir ergriffen haben.
Zu den Nothäfen möchte ich anmerken - ich habe die
Unterlagen gestern unterschrieben -, dass wir keine Nothäfen ausweisen. Das macht übrigens mit Ausnahme von
Norwegen niemand. Wir haben Ihnen in unserer Antwort
deutlich gemacht, dass wir Notliegeplätze vorhalten. Da
Sie von der Küste stammen, ist Ihnen sicherlich bekannt,
dass jede Reede und jeder Hafen als Notliegeplatz dienen
können.
Vielleicht können wir aber noch einmal sozusagen bilateral über dieses Thema sprechen, damit Sie uns nicht
vorwerfen, wir würden keine Nothäfen ausweisen. Es
muss immer eine Einzelfallentscheidung getroffen werden. Havarierte Schiffe mit bestimmten Problemen können nicht überall hingebracht werden. Insofern rate ich zu
mehr Gelassenheit.
Die Ostsee ist ein junges und flaches Gewässer, das
erst vor ungefähr 17 000 Jahren entstanden ist. Die Küsten
sind einmalig. Es gibt Fjorde und Schärenküsten, die Boddenküste in Mecklenburg-Vorpommern, die Förde in
Schleswig-Holstein, das Kliff und die Ausgleichsküsten,
an denen man so schön am Strand liegen kann. Auch die
Haff- und Nehrungsküste gehört dazu.
Es ist also eine einzigartige Küste, die wir in zweifacher Hinsicht schützen müssen. Wir müssen sie aus ökologischen wie auch aus ökonomischen Gründen schützen.
Denn Küstenregionen sind bei uns in der Bundesrepublik
traditionell strukturschwach. Deshalb kommt dem Tourismus eine besondere Bedeutung zu. Gerade auch deshalb
müssen wir bei der Sicherheit auf der Ostsee hohe Maßstäbe anlegen.
Der vorliegende Bericht gibt Auskunft über internationale, nationale wie auch regionale Maßnahmen. Er gibt
auch Auskunft über Maßnahmen, die sich derzeit in der
Umsetzungsphase befinden. Wir haben schon viel erreicht. So haben wir das Maßnahmenpaket Erika I bereits
vollständig umgesetzt und befinden uns derzeit in der
Umsetzung von Erika II. Wir betreiben die Umsetzung
mit Hochdruck und sind ebenfalls mit Hochdruck mit der
schnellen Umsetzung des im Dezember vergangenen Jahres vom Europäischen Rat beschlossenen Maßnahmenpakets zu mehr Sicherheit auf See befasst.
Wir ziehen also durchaus Konsequenzen aus den
schweren Schiffsunglücken, vor allen Dingen aus dem der
„Prestige“. Diese Maßnahmen werden sich auch nachhaltig auf die Ostsee auswirken.
Neben der bereits erwähnten Beschleunigung der beschlossenen Maßnahmen wurden und werden weitere
Schritte unternommen, zum Beispiel die Optimierung der
Schiffswegeführung in der Kadetrinne. Im Rahmen dieser Maßnahme wurde eine Verlängerung des Verkehrstrennungsgebietes vorgenommen, die auch von der IMO
angenommen wurde. Diese Regelung trat schon im Januar
letzten Jahres in Kraft. Es handelt sich um so etwas wie
einen virtuellen Mittelstreifen. Er hat sich bis jetzt wirklich bewährt; seitdem ist dort nichts mehr passiert.
Es bleibt aber immer ein Restrisiko. Dieses Restrisiko
noch weiter zu minimieren muss eine vordringliche Aufgabe sein. Wir streben deshalb eine Lotsannahmepflicht
für Tankschiffe in der Kadetrinne und auch auf anderen
kritischen Schifffahrtswegen an.
({3})
Daher begrüßen wir natürlich auch den Antrag, der gestern im Ausschuss gestellt wurde.
({4})
- Den gemeinsamen Antrag; genau, Herr Goldmann. - Im
Interesse aller Ostseeanrainer ist es, zum Beispiel so genannte unternormige Schiffe von der Ostsee fernzuhalten.
({5})
Ein großer Erfolg ist die weltweit verbindliche Einführung der Pflicht zur Ausrüstung mit einem automatischen Schiffsidentifizierungssystem. Tankschiffe werden ab 1. Juli dieses Jahres damit ausgerüstet sein müssen,
alle anderen spätestens bis Dezember 2004. Die landgestützten AIS-Stationen werden voraussichtlich bis Ende
2003 in Betrieb gehen; so lange wird Warnemünde diese
Aufgabe übernehmen.
Wir haben internationales Lob für die Einrichtung eines Havariekommandos bekommen. Frau Kollegin
Annette Faße wird darüber sicherlich noch Auskunft geben, zumal dieses Kommando in Cuxhaven angesiedelt
ist.
({6})
Es gab noch nie eine so gute Ausstattung wie jetzt; dies
gilt für Nord- und Ostsee.
({7})
In der Ostsee sind zwei moderne Notschlepper in RostockWarnemünde und Saßnitz stationiert. Ich habe mir neulich
die „Fairplay 26“ angesehen; sie ist ein sehr interessantes
Schiff. Ein Notschlepper ist in der Kieler Förde stationiert. Hinzu kommen die „Scharhörn“ und der Neubau eines notschleppfähigen Mehrzweckschiffes, das wir im
Jahre 2004 in Betrieb nehmen wollen.
Ich wünsche mir noch mehr Prävention, damit die Besatzungen der eben genannten Schiffe, der Schlepper auf
der Nordsee sowie der Schiffe der Deutschen Gesellschaft
zur Rettung Schiffbrüchiger nicht nur jederzeit eine
Handbreit Wasser unter dem Kiel, sondern möglichst auch
immer eine ruhige Wache haben.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Goldmann von
der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Erst einmal möchte ich der Deutschen Seereederei in Rostock, die heute einen parlamentarischen
Abend durchführt, zu ihrem 50-jährigen Jubiläum herzliche Glückwünsche aussprechen.
({0})
Dieser Anlass passt deshalb gut zu unserem heutigen
Thema, weil es um die Sicherheit der in diesem Bereich
tätigen Menschen und Unternehmen geht. Dazu gehört,
dass unsere Wasserwege, dass unser maritimer Sektor insgesamt Sicherheit ausstrahlt.
Mein Redebeitrag folgt dem Motto: Wir sind auf einem
guten Wege - ich betone das „wir“ -, aber wir müssen
noch besser werden. Ich bin froh darüber, dass die FDPFraktion ihre Oppositionsrolle bei der anstehenden Aufgabenstellung besonders engagiert wahrgenommen hat.
({1})
Wir haben viele Kleine Anfragen und Anträge gestellt und
Kongresse durchgeführt. Heute können wir gemeinsam
feststellen, dass SPD und Grüne wie auch CDU/CSU und
FDP den richtigen Weg eingeschlagen haben. Erste
Schritte haben bereits zu Verbesserungen geführt. Wir haben aber auch noch viel zu tun; Kollege Börnsen hat das
am Beispiel der Einhüllentanker deutlich gemacht. Ich bin
mit ihm einer Meinung, weise aber darauf hin, dass die
Umsetzung nicht ganz so einfach wie die Verkündung der
Botschaft ist.
Im Bereich der IMO, der Internationalen Maritimen
Organisation, sind wir Vorreiter geworden. Das ist eine
gute Entwicklung. Wir müssen um eine Lotsannahme in
der Kadetrinne kämpfen. Ich denke, darin sind wir uns
völlig einig. Wir haben aber zum Beispiel auch eine
höhere Eigentümerverantwortung bei der Entsorgung der
Schiffswracks erreicht. Bei den Notfallschleppern sind
wir ebenfalls auf einem richtigen Weg. Ich bin froh, dass
wir den Kampf um den Tiefgang erfolgreich abgeschlossen haben und dass die unsinnige Tiefgangsbeschränkung
von sechs Metern gefallen ist. Auch bin ich froh, dass wir
bei den Hafenstaatkontrollen eine gute Bilanz vorzuweisen haben und bei den Notliegeplätzen wohl ebenfalls auf
dem richtigen Wege sind. Es könnte in diesem Bereich allerdings noch ein bisschen konkreter, handfester und
praktischer werden.
Bei der Sicherheitsfrage stehen wir vor neuen Herausforderungen. Sie wissen, dass unsere Häfen Anstrengungen unternehmen müssen, um der Terrorismusgefahr
zu begegnen. Dadurch kommen Kosten auf die Hafenbetreiber und natürlich auch auf diejenigen zu, die diese Häfen anlaufen. Es berührt mich schon sehr, dass nun auch
in deutschen und europäischen Häfen Großcontainerkontrollen durchgeführt werden müssen. Auch angesichts
dessen sollten wir nicht auseinander driften, sondern Gemeinsamkeit in der Sache herstellen, um diesen Bereich
so sicher wie möglich zu gestalten: zum Wohle unseres
Landes, zum Wohle der Umwelt und auch zum Wohle der
Schifffahrt insgesamt.
({2})
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Havariekommando sagen. Wir finden es gut, dass es das Havariekommando gibt. Wir werden im Mai einen Kongress dazu
durchführen; ich werde Kollegen, die sich mit dem maritimen Bereich befassen, zur Teilnahme daran einladen. Wir
werden danach ein Fazit ziehen müssen, ob wir den Weg mit
dem Havariekommando weiter beschreiten oder ob wir
eventuell zu der von Ihnen, Herr Börnsen, angesprochenen
nationalen Küstenwache kommen. Diesbezüglich gibt es
sicherlich unterschiedliche Positionen. Mir geht es im
Grunde genommen darum, dass wir gemeinsam für ein
Durchgriffsrecht des Chefs des Havariekommandos sorgen, damit klar ist, dass eine von ihm gegebene Anweisung zum Einschreiten gilt und umzusetzen ist.
({3})
Alle vor Ort müssen dann wissen, dass der Mann befugt
ist, Anweisungen zu geben. Auch die rechtlichen und versicherungsrechtlichen Bedingungen sind so auszugestalten, dass sich dies so effektiv durchsetzen lässt, wie wir es
uns gemeinsam wünschen.
Im Zusammenhang mit dem Gesichtspunkt Sicherheit
dürfen wir den Bereich der Ausbildungsqualität derjenigen, die auf den Schiffen fahren, nicht aus den Augen verlieren. IMO-Übereinkommen sind gut, aber wir müssen
sicherlich noch einmal darüber nachdenken, ob das
STCW-Übereinkommen in seiner Ausrichtung so klug
angelegt ist, wie es notwendig ist.
Die CDU/CSU hat heute einen Antrag zum „Prestige“Unglück vorgelegt. Ich habe im Lexikon nachgesehen,
was Prestige bedeutet, wenn es keine Schiffsbezeichnung
ist. Positiv ausgedrückt bedeutet es Ansehen und Geltung,
negativ ausgedrückt bedeutet es Blendwerk. Ich wähle
den Mittelweg: In dem Antrag stehen viele schöne Dinge;
wir aber sollten das Machbare schnellstens realisieren.
Lassen Sie uns gemeinsam für die ökonomischen Weichenstellungen auf der Basis von mehr Sicherheit arbeiten. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass der maritime
Bereich für Deutschland einer der großen Zukunftsbereiche überhaupt ist. Dieser Bereich muss sicher sein; nur
dann kann er seine Qualität entfalten.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainder Steenblock von
Bündnis 90/Die Grünen.
(Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Das ist ein
Mann, der eine leidvolle Erfahrung hinter sich
hat!
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Börnsen, wir wissen, dass Sie ein begnadeter Freizeitkabarettist sind. Es macht wirklich immer wieder
Spaß, Ihnen an dieser Stelle zuzuhören.
({0})
Unser Problem besteht nicht darin, dass wir in den Zielen
nicht übereinstimmten. Aufgrund der vielen Debatten, die
wir darüber geführt haben, wissen Sie, dass wir in Bezug
auf die Erfordernisse der Schiffssicherheit deckungsgleiche Positionen haben. 80 bis 85 Prozent dessen, was die
CDU/CSU in ihrem Antrag hier vorgelegt hat, können wir
unterschreiben. Das Problem ist jedoch, dass Sie diese
Debatten immer noch dazu benutzen, populistisch zu
agieren.
Die Ausführungen in dem CDU/CSU-Antrag zu dem
Havariekommando in Cuxhaven sind in der Sache falsch.
Die Beschimpfungen in Richtung der schleswig-holsteinischen Landesregierung sind so falsch wie überflüssig.
Auch das, was Sie zum Standort der europäischen
Schiffssicherheitsagentur, der EMSA, sagen, geht an der
Sache vorbei. Wenn Sie all das rausgelassen hätten, hätten wir uns auch verständigen können, denn wir sind uns
ja einig:
Die Häfen in Europa werden in jedem Jahr von Schiffen mit einer Gesamtladung von 800 Millionen Tonnen Öl
angelaufen. Der gefährlichste und giftigste Teil dieser
Fracht, 15 Prozent von diesen 800 Millionen Tonnen, sind
Schweröle, also schwere Heizöle und schwere Rohöle.
Auf diesen Schiffen befindet sich im Grunde genommen
Sonderabfall und je giftiger die Fracht ist, desto älter und
unsicherer sind die Pötte, auf denen die Fracht befördert
wird. Das ist ein unerträglicher Zustand. Die Sicherheit
der Schiffe auf unseren Meeren ist mit dem Begriff
„Russisches Roulette“ zum Teil noch sehr harmlos umschrieben.
Wir müssen alle gemeinsam die Sicherheitsstandards
erhöhen. Das ist überhaupt keine Frage. Deshalb bin ich
froh, dass wir heute einen gemeinsamen Antrag vorliegen
haben. Ich weiß auch Ihre Initiative, Herr Börnsen, sehr
zu schätzen.
Ich möchte Ihnen zur Illustration einen kurzen Auszug
aus einem Bericht in der „Deutschen Schifffahrtszeitung“
über einen Prozess vorlesen. Darin wird ein Kapitän befragt, der sagt:
Ich hatte keine Ahnung, dass das Wrack dort lag. Ich
sah einige Leuchttonnen, verstand aber deren Bedeutung nicht und warum sie dort lagen. Ich versuchte,
den Kurs nach Steuerbord zu ändern. Die Sicht war
normal und ich konnte Brandung sehen. Plötzlich
wusste ich, dass es sich um ein Wrack handeln
musste.
Das war die Aussage des Kapitäns der „Vicky“ - der
Tanker war mit 70 000 Tonnen Kerosin beladen -, die vor
wenigen Wochen auf das Wrack der „Tricolor“ aufgelaufen ist. So hat der Kapitän die Situation wahrgenommen.
Das kann nicht wahr sein.
({1})
Deshalb muss die Frage danach, was auf den Schiffen
los ist - der Kollege Goldmann hat das bereits angesprochen -, ernsthaft aufgegriffen werden. Häufig sind die
Schiffe sicher, aber die Besatzung ist nicht in der Lage,
Gefahrensituationen zu erkennen. So war es im Ärmelkanal, aber auch in der Kadetrinne in der Ostsee, obwohl
dort jede halbe Stunde gewarnt wird. Kapitäne und Besatzungsmitglieder, die nicht in der Lage sind, gefährliche
Situationen richtig einzuschätzen, gehören nicht auf solche Schiffe.
({2})
Die Schiffsbesetzungsverordnung betrifft also eine
zentrale Frage. Die EU ist auf dem Weg, die Mindestanforderungen an Zeugnisse von Seeleuten aus Drittländern
anzuheben. Darüber hinaus brauchen wir aber auch Vereinbarungen, um die Sprachanforderungen an die Schiffsbesatzungen zu erhöhen. Es kann nicht sein, dass auf den
Schiffen keine Kommunikation zwischen den Beschäftigten möglich ist. Es kann nicht sein, dass zwischen den
Schiffen oder zwischen Schiff und Land keine Kommunikation möglich ist. Deshalb müssen wir gemeinsam mit
der EU an dieser Stelle nachbessern. Solche Ausbildungsdefizite dürfen auf den Hightech-Tankern nicht vorhanden sein. Während die Technologie auf den Schiffen
immer weiter entwickelt wurde, sind die Qualitätsanforderungen an das Personal immer weiter gesunken. Das
kann so nicht weitergehen.
({3})
An dieser Stelle sollten wir uns gemeinsam bemühen;
das Argument mit der Konkurrenz darf nicht mehr Platz
greifen. Hierbei spielt auch das Ausflaggen eine große
Rolle. Wir müssen möglichst viele Schiffe unter deutscher
Flagge behalten; dazu müssen wir aber die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Auge behalten und die
Standards bezüglich der Qualifikation innerhalb der EU
angleichen.
Darüber hinaus brauchen wir den Zugriff auf die Flaggenstaaten. Deshalb bin ich sehr dafür, ein externes Audit vorzuschreiben. Bemühungen dazu gibt es in der IMO
bereits. Diese sollten wir unterstützen. Ein externes Audit,
das die Flaggenstaaten bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben kontrolliert, wird dazu führen, dass die Konkurrenz, die heute mit Dumpingstandards auf ihren Schiffen
die Sicherheit unserer Küsten gefährdet, international
ausgeschlossen wird und die Flaggenstaaten tatsächlich
ihre Verantwortung übernehmen.
({4})
Lassen Sie mich noch einige Stichworte anfügen: Es
gibt die Ausweisung von PSSA-Gebieten mit der Möglichkeit, dort regulierend einzugreifen, bereits für die
deutsche Nordseeküste. Diese sollten wir auch in der Ostsee verstärkt ausweisen, um besondere Auflagen für die
Schifffahrt durchzusetzen.
Daneben müssen wir die Hafenstaatkontrollen - auch
das ist schon gesagt worden - deutlich ausweiten. Darüber
hinaus sollten wir die Häfen in den baltischen Ländern
- ich stimme mit dem überein, was zu Russland gesagt
worden ist - stärker unterstützen, damit sie in die Lage
versetzt werden - sie wollen die Hafenstaatkontrolle ausüben, aber sie müssen dabei von uns verwaltungsmäßig
unterstützt werden -, diese strengen Kontrollen selber
durchzuführen.
Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung:
Bei der Begeisterung für den Schutz unserer Meeresumwelt durch verstärkte Anforderungen bei der
Schiffssicherheit sollten wir nicht außer Acht lassen, dass
die größte Belastung für unsere Meeresumwelt aus der Atmosphäre und aus den Flüssen kommt. Aus ihnen kommen die Hauptschadstoffe, die immer noch jeden Tag
chronisch eingeleitet werden. Leider ist unsere Medienlandschaft nicht so, dass die chronischen Beeinflussungen, also das alltägliche Leiden unserer Meere, die ihnen
gebührende Aufmerksamkeit erhalten, sondern nur die
Skandale. Aber wir sollten das nicht außer Acht lassen,
wenn wir die Ursachen der Meeresverschmutzung ernsthaft bekämpfen wollen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Kuhn von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe sehr aufmerksam verfolgt, wie die
Frau Kollegin Staatssekretärin in ihrer Rede die Schiffssicherheit auf der Ostsee beschrieben hat. Das hat mich
schon beeindruckt; denn während Sie behauptet haben,
man habe alles im Griff - ich füge hinzu: auf einem sinkenden Schiff -, bin ich der Meinung, dass hier Gefahr im
Verzug ist. Auf der Ostsee gibt es ständig 30 Tanker. 60 Tanker werden kontinuierlich beladen; in den Häfen und auf
See. Einer davon ist unter Garantie - das haben die wilden
Gesellen von Greenpeace anhand ihrer statistischen Erhebungen nachgewiesen - ein so genannter Einhüllentanker
mit einem technischen Standard, wie ihn die „Prestige“
hatte. Ich sage Ihnen - Herr Steenblock hat das richtig
dargestellt -: Wir spielen russisches Roulette; denn es ist
nur eine Frage der Zeit, bis das nächste Tankerunglück mit
noch nie da gewesenen wirtschaftlichen und ökologischen Schäden auf der Ostsee geschehen wird. Deshalb
muss schnell gehandelt werden.
({0})
Ich habe die Situation im Ausschuss so beschrieben,
wie ich sie wahrgenommen habe, als die „Prestige“ vor
der galizischen Küste auseinander gebrochen ist und
35 000 Tonnen Schweröl die wunderbaren Strände und die
Fischgründe verseucht haben. Auch den Menschen an der
Ostsee, zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern und
in Schleswig-Holstein, stockte der Atem, als sie festgestellt haben, dass die „Prestige“, die in einem russischen
Erdölhafen betankt wurde, die Ostsee durch die Kadetrinne, einen der kompliziertesten Schifffahrtswege der
Werner Kuhn ({1})
Weltmeere, überquert hat. Wir haben großes Glück gehabt, dass dieses Schiff nicht vor unseren Küsten auseinander gebrochen ist und dass sich nicht 35 000 Tonnen
Schweröl zwischen Darßer Ort und Gedser ausgebreitet
haben. Wenn das geschehen wäre, dann hätten Sie zu Fuß
nach Dänemark laufen können. Man kann also nicht einfach behaupten, dass wir alles im Griff hätten, auch wenn
wir über entsprechende Schleppkapazitäten und Ölbekämpfungsschiffe verfügen. Hier muss sofort gehandelt
werden. Solche Tanker gehören auf die schwarze Liste und
müssen mit sofortiger Wirkung verboten werden.
({2})
In dem Bericht der Bundesregierung wird Bedauern
über das Desaster bei der Havarie der „Baltic Carrier“
geäußert, die sich im Jahr 2001 in der Kadetrinne ereignete. Darin steht weiter, dass man sofort etwas tun müsse.
Ich kann dazu nur sagen: Hier ist Deutschland noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Wenn der
Wind anders gestanden hätte, dann wären unsere Strände
verschmutzt gewesen. Vor den dänischen Stränden ergossen sich damals 2 700 Tonnen Schweröl und Masut ins
Meer. Das war die größte Ölkatastrophe, die die Dänen je
zu bewältigen hatten. Was lernen wir daraus? Die Bundesregierung hat bisher keine Aktivitäten gezeigt. Bis
jetzt wurde keine Taskforce eingerichtet und es gab auch
keine wirkungsvolle Konferenz mit allen Ostseeanrainerstaaten. Eine solche Konferenz müsste die Russische Föderation zwingen, nicht nur ihre Erdölhäfen auszubauen,
sondern auch keine Seelenverkäufer für den Transport
von Erdöl auf den Weltmeeren einzusetzen.
({3})
- Das ist der entscheidende Punkt, Herr Goldmann. Das
hat nur wenig mit dem Unglück der „Prestige“ zu tun.
({4})
Sie müssen sich einmal vorstellen, wie die Menschen
in Mecklenburg-Vorpommern - das ist eine sehr strukturschwache Region -, deren einziges Faustpfand für die
wirtschaftliche Entwicklung die Naturschönheiten der
Ostseeküste sind und die darauf ihre gesamten wirtschaftlichen Aktivitäten ausgerichtet haben, auf solche Katastrophen reagieren, während sie täglich die Nachricht in
den Medien lesen und hören, dass der Transport von
Schweröl mit Tankern auf der Ostsee zunimmt. Es muss
deshalb sofort die Lotsenpflicht in der Kadetrinne eingeführt werden. Ich sage Ihnen: Wellen und Wogen ruschen wie mien Weigenlied. Ich bin in Zingst, also in unmittelbarer Nähe der Ostsee, zur Welt gekommen. Von
dort aus ist die Kadetrinne nur einen Steinwurf entfernt.
Sie müssen verstehen, dass die Menschen an der Küste
Sorge um ihre Existenz haben. Deswegen müssen wir sofort eingreifen. Ich fordere nicht nur das Einsetzen einer
Taskforce, sondern auch ein flächendeckendes Überwachungssystem, das auf den Hauptschifffahrtslinien
Radare einsetzt. Wir sind uns völlig einig darüber, dass
man nachvollziehen können muss, wo sich diese Frachter
tatsächlich bewegen.
({5})
- Das ist eben noch nicht geregelt; sonst wäre die
„Acushnet“ im Kattegat nicht auf Grund gelaufen. Kein
Mensch wusste genau, welche Ladung sie hat, welche
Route sie eingeschlagen hatte, wie die Besatzung ausgebildet ist, ob eine Hafenstaatkontrolle stattgefunden hat
und ob es ein GPS-System gibt, ohne das man in Amerika
überhaupt nicht mehr arbeiten kann.
({6})
- Das ist keine unglaubwürdige Debatte.
Ich muss darauf hinweisen, dass ich überhaupt nicht
verstehen kann, dass Herr Methling als Umweltminister
von Mecklenburg-Vorpommern einer der Avantgardisten
auf dem Gebiet der Offshore-Windkraftanlagen ist. Ich
halte diese Anlagen zwar für technisch vertretbar; aber ich
kann überhaupt nicht verstehen, dass in unmittelbarer
Nähe der Kadetrinne eine solche Anlage gebaut werden
soll. Sie ist ein zusätzliches Sicherheitsrisiko, mit dem wir
uns in Mecklenburg-Vorpommern überhaupt nicht einverstanden erklären können.
Angesichts der Probleme, die bei der Kontrolle dieser
Tanker in den schwierigen Fahrwassern bestehen, ist
natürlich nicht nur eine ausreichende Schleppkapazität
notwendig; vielmehr brauchen wir für den Katastrophenfall auch mehrere funktionsfähige Ölauffangschiffe, unabhängig davon wie viel Öl ausläuft. Die „Strelasund“ ist
auf einer rheinland-pfälzischen Werft gebaut worden. Sie
liegt jetzt leider in Stralsund an der Kette und kann nicht
zum Einsatz kommen. Herr Minister, dort ist Gefahr im
Verzug. Sie müssen alles daransetzen, dass sämtliche
Garantieleistungen sofort erbracht werden. Wir können es
nicht hinnehmen, dass die mecklenburg-vorpommerische
Küste einem solchen Sicherheitsrisiko ausgesetzt wird.
Wir fordern das sofortige Verbot des Fahrens von
Einhüllentankern auf der Ostsee. Wir brauchen eine
United Coast Guard in der Europäischen Union. Sie
soll es schließlich in der Zukunft geben. Sie sagen, es handele sich dabei um eine unglaubwürdige Forderung. Wo
sind Ihre Aktivitäten, bitte schön? Wenn es eine United
Coast Guard gäbe, dann hätte die Bundesmarine am
Skagerrak eine richtige Aufgabe. Sie würde verhindern,
dass Einhüllentanker auf der Ostsee fahren.
Unsere Forderungen lauten: Verbot der Einhüllentanker, Lotsenpflicht für die Kadetrinne und sofortiger Vollzug aller notwendigen Maßnahmen, damit die deutsche
Ostseeküste geschützt wird.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette Faße von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
erinnere mich sehr gut an Debatten über dieses Thema, als
wir in der Opposition waren. Damals haben wir, Gila
Altmann und ich, für den Hochseeschlepper „Oceanic“
gekämpft. Damals wurde sehr in Zweifel gezogen, dass
wir ein solches Schiff überhaupt brauchen. Es hieß - daran erinnere ich mich sehr gut -: Unsere Konzepte für
die Nordsee sind super; es besteht kein Handlungsbedarf.
Heute ist Deutschland nicht nur in der EU, sondern
weltweit Vorreiter auf dem Gebiet der Schiffssicherheit.
Dass wir das erreicht haben, liegt an unserer konsequenten Politik in den letzten viereinhalb Jahren. Darauf sollten wir stolz sein.
({0})
Prävention vor Schadensbekämpfung ist selbstverständlich. Im Hinblick auf alle Anträge, die wir hier miteinander diskutiert und beraten haben, bestand in diesem
Punkt immer Konsens. Man sollte hier daher heute nicht
so tun, als würde man etwas Neues erfinden.
Ich möchte Herrn Börnsen und Herrn Kuhn daran erinnern, dass ein von der SPD eingebrachter Antrag, der
sehr viel umfassender war als der, der heute zur Abstimmung steht, mit den Stimmen von CDU/CSU beschlossen
worden ist. Das war bei allen Anträgen, die wir bisher beraten haben, das erste Mal, was ich auch hoch achte. Nur
sollte man sich auch daran erinnern, was man hier beschlossen hat. Unter anderem ist darin genau aufgelistet
worden, was die Bundesrepublik Deutschland bisher ganz
konsequent und ganz konkret getan hat. Angesichts dessen halte ich es schon für ein Stück Unverfrorenheit - das
sage ich noch einmal deutlich -, wenn sich einige heute
hier hinstellen und sagen, es sei nichts geschehen. Das ist
schlicht und einfach falsch.
({1})
Auf nationaler Ebene haben wir zum 1. Januar dieses
Jahres das Havariekommando eingerichtet. Da kann
man fragen, warum das nicht schneller gegangen ist. Auch
wir hätten das gern ein bisschen schneller gehabt, nur ist
es natürlich nicht einfach, so etwas zu konzipieren. Wir
haben gesagt: Wir wollen keine Grundgesetzänderung,
sondern wir wollen Vereinbarungen schließen. Jedes Bundesland hat seine eigenen Regeln für solche Vereinbarungen. Es sind umfangreiche Verhandlungen mit den Ländern geführt worden, mit dem letzten Land im Dezember
letzten Jahres.
Wir haben gemeinsam mit den Ländern besonders die
Brandschutzstrukturen in der Ostsee verändert. Wir
haben das Verkehrstrennungsgebiet für die Ems, die Jade,
die Weser, die Elbe und auch für die Kadetrinne eingerichtet. Es ist also nicht so, dass wir auf nationaler Ebene
nicht gehandelt haben. Ich möchte gar nicht auf alle anderen Punkte hinweisen, aber auch mit Polen haben wir
bilaterale Verträge geschlossen. Wir haben das erste Mal
ein Schlepperkonzept für Nord- und Ostsee aufgestellt;
das gab es vorher nicht. Die Ausschreibungen für die Aufträge für die nächsten Schiffe, die wir dann entweder chartern oder erwerben werden, laufen. Angesichts dessen zu
sagen, es sei nichts passiert, ist falsch.
Die „Neuwerk“ hat vor der Küste Spaniens sehr
schwere Arbeit geleistet. Ich sage an dieser Stelle noch
einmal ein herzliches Dankeschön an die Besatzung für
die außergewöhnliche Leistung. Ich begrüße es sehr, dass
Minister Stolpe demnächst auch nach Cuxhaven kommen wird, um den Menschen dort ein Dankeschön zu sagen.
({2})
Ich möchte noch speziell zu zwei Punkten Stellung
nehmen, die aus dem Acht-Punkte-Programm von Minister Stolpe, das er in die EU eingebracht hat, hervorzuheben sind. Ein Punkt betrifft die Notliegeplätze. Lassen
Sie uns diesen Begriff verwenden. „Nothäfen“ ist ein
falscher Begriff, weil es wirklich immer von der Situation
abhängen wird, wo man ein Schiff sicher parken oder
auch ver- oder entsorgen kann. Wir müssen auch auf dem
Gebiet der Forschung und Technologie vorankommen
und eine Technologie entwickeln, die es ermöglicht, ein
Schiff, das gesunken ist, unter Wasser zu entladen, auch
wenn die Ladung aus Öl besteht. Wir merken jetzt bei der
„Prestige“, dass es da große Probleme gibt, dass wir da
technologisch noch nicht so weit sind.
Die Forderungskataloge liegen auf EU-Ebene und
sehr wohl auch der IMO vor. In dem Zusammenhang
muss ich Herrn Kuhn noch etwas sagen. Man kann das
Rechtsverständnis, das Sie, Herr Kuhn, haben, fast schon
belächeln. Sie tun so, als ob Deutschland dazu mal eben
so Beschlüsse fassen könnte. Sie wissen aber, dass wir das
nicht können. Sie wissen, dass wir an EU-Recht und auch
an internationales Recht gebunden sind. Wenn Deutschland hier allein handeln könnte, sähe die Situation anders
aus. Ich gebe allerdings allen Recht, die sagen: Wir müssen konsequenter Druck machen - auf die EU, aber auch
auf die IMO.
Die Fragen im Zusammenhang mit dem Umgang mit
einem Wrack haben mich - das muss ich deutlich sagen erschüttert. Bisher kann der Schiffseigentümer nach einem Unfall außerhalb der Hoheitsgewässer das Eigentum
an dem zum Wrack gewordenen Schiff oder an gesunkenen Ladungsteilen schlicht und einfach aufgeben. Er sagt
lediglich: Das gehört mir jetzt nicht mehr. Damit kann er
sich zulasten des betroffenen Küstenstaates jeder Verantwortung für die Bergung entziehen.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Diese Lücke im internationalen Seerecht muss geschlossen werden.
({0})
Ich gehe davon aus, dass wir zu der großen Gemeinsamkeit, die bei dem Thema eigentlich bestand - eine
Ausnahme bildet die CDU/CSU in dieser öffentlichen Debatte -, beim Schutz der Küsten zurückfinden und unsere
Arbeit weltweit konsequent fortführen werden.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat jetzt der Umweltminister des Landes
Mecklenburg-Vorpommern, Dr. Wolfgang Methling.
({0})
Dr. Wolfgang Methling, Minister ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf mich zunächst sehr herzlich für die Möglichkeit bedanken, an Ihrer Debatte teilzunehmen und Erfahrungen und Positionen aus Mecklenburg-Vorpommern
hier einzubringen.
Ich kann wie bei der Diskussion zum Bundesnaturschutzgesetz feststellen: Ich fühle mich wie zu Hause. Die
Diskussionen laufen hier ganz genau wie zu Hause. Die
CDU-Opposition trägt laufend vor, welche Versäumnisse
der im Moment verantwortlichen Regierung zu beklagen
seien. Die rot-grüne Regierung in Berlin und die rot-rote
Regierung in Schwerin sind scheinbar dafür verantwortlich zu machen, dass die Schiffssicherheit seit 1998 so gefährdet ist. In Mecklenburg-Vorpommern kommt noch
hinzu, dass ein PDS-Politiker als Umweltminister Verantwortung trägt.
Herr Kollege Kuhn, wir kennen uns aus manchen Diskussionen. Was Sie vorgetragen haben, klingt wie Revolverheldentum. Das muss ich Ihnen wirklich sagen.
({2})
Sie wissen, dass es andere Verhältnisse gibt. Auf die
Windkraftargumentation will ich hier gar nicht eingehen.
({3})
- Wissen Sie, ich bin ganz erstaunt, dass man einen Autokäufer, der ein schlechtes Auto kauft, dafür verantwortlich
macht, dass das Auto schlecht ist. Nein, den Autobauer
muss man zur Verantwortung ziehen. Das tun wir und das
wissen Sie, Herr Kuhn.
({4})
Ich finde es wirklich absonderlich, dass wir laufend
solche Diskussionen führen. Fast alle Diskussionsredner
bringen die gleichen Argumente.
Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von Klaeden?
Dr. Wolfgang Methling, Minister ({0}):
Ja, gerne.
Herr von Klaeden, bitte.
Herr Minister, Sie haben gerade erklärt, dass der Verkäufer eines Fahrzeuges für den technischen Zustand verantwortlich sei. Sind Sie nicht mit mir der Ansicht, dass
der Käufer und Halter des Fahrzeuges für den technischen
Zustand eines Kfz verantwortlich ist?
Dr. Wolfgang Methling, Minister ({0}):
Es geht um ein neues Schiff.
({1})
Ich will nicht sagen, dass es in Mecklenburg-Vorpommern vielleicht besser gebaut worden wäre. Fest steht
aber, dass es um Mängel geht, die abgestellt werden müssen. Ihre Devise, die Sie auch an anderen Stellen wählen
- Sie rufen „Haltet den Dieb!“ und zeigen auf den
Falschen -, kann wohl nicht zielführend sein.
({2})
Es gibt mit Sicherheit Nachbesserungsbedarf. Ich
glaube, da sind wir uns alle einig. Die häufigen Havarien
und Fasthavarien - letztere machen mir noch mehr Sorgen - machen das immer wieder überdeutlich. Zur Fairness würde gehören, dass Sie, meine sehr geehrten Damen
und Herren von der CDU-Opposition, an Versäumnisse in
Ihrer eigenen Regierungszeit denken. Denn manche Probleme, die wir jetzt zu lösen haben, gehen auf Versäumnisse, die Sie zu verantworten haben, zurück.
({3})
Ich bin seit 1998 im Amt und weiß sehr wohl, welche
Versäumnisse existieren. Ich kenne auch die Gründe, die
dazu geführt haben.
({4})
Diese Gründe erwähnen Sie nur, wenn Sie selbst in der
Verantwortung sind, und nicht, wenn andere in der Verantwortung sind.
Warum Mecklenburg-Vorpommern besonders von
der Schiffssicherheit abhängig ist, ist wohl klar. Wir leben
vor allen Dingen vom Tourismus. Wir haben eine maritime
Wirtschaft, die davon abhängig ist. Wir haben eine wunderschöne Ostseeküste, eine sensible Natur. Deswegen ist
für Mecklenburg-Vorpommerns Regierung und für sein
Parlament die Schiffssicherheit in gleicher Weise prioritär.
Die vielen Gefährdungen der Ostsee sind schon beschrieben worden. Ich will aber noch einmal darauf hinweisen, was Herr Steenblock hier gesagt hat: Wir sollten
die täglichen, die chronischen Gefährdungen und Belastungen der Ostsee und der Meere überhaupt höher schätzen. Ich habe einmal am Horizont eine gelbe Wolke gesehen. Da habe ich gefragt: Was ist das? - Mir wurde
geantwortet: Das sind Dieselrückstände, die ständig über
dem Wasser liegen und eine Gefahr darstellen. - Die Gefahren gehen also viel weiter.
Hauptursachen der Seeunfälle, die in der Ostsee und
insbesondere in der Kadetrinne stattgefunden haben, sind
menschliches Versagen, Mängel in der Schiffsführung
und technische Mängel an den Fahrzeugen. Darauf müssen wir uns neben den anderen Dingen konzentrieren. Bisher haben wir Riesenglück gehabt. Aber wir können sicherlich nicht jeden Tag Wunder erwarten.
Deswegen haben wir aus Mecklenburg-Vorpommern
zahlreiche Vorschläge und Forderungen an Bund, EU,
baltische Länder und IMO eingebracht: Doppelhüllentanker, Lotsenpflicht, AIS, Radar, Meldepflicht, Hafenstaatkontrollen und Notliegeplatzkonzept. Ich könnte noch
vieles nennen, was wir eingebracht haben, Dies zeigt, wo
wir versuchen, selber unsere Schularbeiten zu machen.
Es ist ja erfreulich, dass wir aus Havarien richtige
Schlussfolgerungen ziehen. Aber eigentlich ist es makaber, dass viele Schlussfolgerungen erst dann gezogen werden, wenn es zu Havarien gekommen ist. Aber das ist auch
in anderen Bereichen der Gesellschaft so. Insofern muss
uns das nicht wundern. Die Namen sind ja Legende: beginnend bei „Pallas“ bis hin zu „Prestige“. Darüber hinaus
gibt es genügend andere warnende Beispiele.
Ich bedanke mich bei der Bundesregierung, obwohl ich
ihr in manchen Phasen sehr kritisch gegenübergestanden
habe, für ihr entschlossenes Handeln und zunehmend konsequentes Umsetzen der Empfehlungen der GrobeckerKommission und auch für ihre internationalen Aktivitäten. Ich hoffe, dass wir so schrittweise vorankommen,
auch wenn wir uns hin und wieder hart streiten: Als ich
zum Beispiel die Forderung nach einer Lotsenannahmepflicht gestellt habe, wurde mir gesagt, das sei nicht nötig
und nicht möglich. Heute sehen wir das anders; hoffentlich alle und auch in Zukunft.
Wir wissen auch, dass der Föderalismus manches nicht
einfach macht. Der Föderalismus stellt meiner Einschätzung nach einen großen Gewinn dar, hat aber in Bezug auf
das Havariekommando einige Probleme mit sich gebracht. Ich war am 3. Januar beim Havariekommando und
habe mich überzeugt, wie dieses arbeiten kann. Ich denke,
es ist auf gutem Wege, auch wenn noch einiges zu tun ist.
Die Umweltminister der Nord- und Küstenländer und
auch der Bundesumweltminister bringen sich dort aktiv
ein, obwohl wir diejenigen sind, die in erster Linie dafür
zuständig sind, den Dreck wegzuräumen, der im Grunde
genommen vorher schon woanders angefallen ist. Wir haben entsprechende Vorschläge bei der Umweltministerkonferenz der Nordländer in Nieklitz, MecklenburgVorpommern, eingebracht.
Ich will auch noch darauf hinweisen, dass manches
durch internationale, wirtschaftliche sowie rechtliche Interessenlagen erschwert wird. All dieses wissen Sie, aber
ignorieren es. Im Übrigen will ich darauf hinweisen: Auch
Deutschland und ebenso die EU bringen nicht nur Gutes
für diesen Prozess. Auch dort gibt es Versäumnisse. So
habe ich beispielsweise gehört, dass die Stadt Lübeck
viele Argumente genannt hat, warum ihr Hafen kein geeigneter Nothafen bzw. ein Hafen für Notliegeplätze sei;
das verweist doch auf ein Problem, das wir bei uns haben.
Wir müssen nämlich dafür sorgen, dass auch bei uns im
Land Notliegeplätze ausgewiesen werden. Das ist nicht so
einfach.
({5})
Ich glaube, die Bundesregierung geht richtig heran, indem
sie dieses so fixiert. Ich könnte da auch noch andere Beispiele nennen.
({6})
Ich warne vor einseitigen Feindbildern, übrigens auch
in diesem Raum; ich höre ja ab und zu mal Bemerkungen
von Ihnen. Ich denke, hier geht es um konkrete Inhalte,
die abzuarbeiten sind, nämlich von der Beseitigung der
Einhüllentanker bis hin zu Eisklassenschiffen in der Ostsee, die zwar vorgeschrieben sind, aber die man nicht mit
Kanonen in Gendarmenmanier durchsetzen kann. Man
darf hier nicht wie Klaus Störtebecker vorgehen. Das geht
nicht; das muss man auf einem anderen Wege tun.
Für Mecklenburg-Vorpommern haben sich für
2002/2003 - ich will nur darüber sprechen - eine Reihe
von Verbesserungen ergeben, die ich hier noch einmal
nennen möchte: die AIS-Ausrüstung der Revierzentrale in
Warnemünde, Bereitstellung von Schleppkapazitäten, das
hier schon angesprochene Ölbekämpfungsschiff - wir
hoffen, in wenigen Tagen sagen zu können, dass es funktioniert - und die Bereitstellung von Notliegeplätzen, die
übrigens bei uns durch ein Abkommen mit kommunalen
Hafenbetreibern vorbereitet wird. Ich hoffe, das wird woanders auch gelingen.
Ich hoffe, meine sehr geehrten Damen und Herren,
dass es Bund und Ländern gemeinsam gelingen wird,
schnell weitere Erfolge im eigenen Land zu erzielen, fortschrittliche Vereinbarungen mit internationalen Partnern
und Organisationen, übrigens auch von außerhalb der EU,
abzuschließen. Höhere Sicherheitsstandards und effiziente Kontrollen gehören dazu. Meines Erachtens kann
dazu auch sehr gut das Wirken von Parlamenten beitragen. Das haben wir bei der Ostseeparlamentarierkonferenz mitbekommen. Das wird aber wohl nur bei einem
parteiübergreifenden Konsens gelingen. Ich will auch
noch einmal ein Wort, das hier schon gefallen ist, aufnehmen: Dies bedeutet, parteipolitische Scheuklappen abzulegen. Manchen scheint dieses nicht zu gelingen: Anträge,
die bereits Erreichtes oder bereits veranlasste Maßnahmen einfordern, sind nicht dazu geeignet, den Zustand zu
verbessern, sondern sind eher als Schaulaufen auf der
Bühne zu betrachten. Es wäre eigentlich wichtiger, die
Pflicht zu erfüllen. Darum würde ich alle sehr herzlich bitten, in Zukunft dazu beizutragen, das Schaulaufen zu beenden und sich erst der Pflicht und dann der Kür mit hoffentlich besseren Ergebnissen zuzuwenden.
Minister Dr. Wolfgang Methling ({7})
Minister Dr. Wolfgang Methling ({8})
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 15/370 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit
dem Titel „Seesicherheit optimieren - nationaler und europäischer Handlungsbedarf nach Tankeruntergang der
‚Prestige‘“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/192 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 15/488. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Berichts der Bundesregierung auf Drucksache
14/9487 zur maritimen Sicherheit auf der Ostsee eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Dr. Christian Eberl, Daniel Bahr
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Ökologisch sinnvolle und effiziente Alternativen
zum Zwangspfand auf Getränkeverpackungen
- Drucksache 15/315 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Birgit Homburger von der FDP-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
debattieren heute über einen Antrag der FDP zum
Zwangspfand, der hochaktuell ist. Am Wochenende gab
es eine Vereinbarung zwischen dem Bundesumweltminister und einigen wenigen Landesumweltministern. Deswegen finde ich es gut, dass wir heute die Gelegenheit zu
einer parlamentarischen Aussprache in dieser Sache haben.
Denn man muss feststellen: Ohne ökologischen Sinn
werden im Augenblick Verbraucherinnen und Verbraucher durch das Zwangspfand zusätzlich belastet. Herr
Trittin, dass Sie zwischenzeitlich eingesehen haben, dass
die bisherige, von Ihnen in Kraft gesetzte Regelung zu
kompliziert ist, zeigt Ihr Entwurf. Aber wenn Sie konsequent wären, dann müssten Sie auf der einen Seite das
Zwangspfand sofort aussetzen und auf der anderen Seite
eine Novelle der Verpackungsverordnung vorlegen, die
den wissenschaftlichen Erkenntnissen in ökologischer
Hinsicht Rechnung trägt und die Chance einer Neuregelung ergreift, um die Quote durch ein Lizenzmodell zu ersetzen. Das wäre dann auch ökonomisch sinnvoll.
({0})
Ich stelle also fest: Die Erkenntnis ist da, es gibt aber
keine Konsequenz.
Wenn man sich die Eckpunkte anschaut, sieht man,
dass zwischen ökologisch vorteilhaften und ökologisch
nicht vorteilhaften Verpackungen unterschieden werden
soll. Es ist sinnvoll, das zu tun. Aber man hätte das längst
machen können und machen sollen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat sofort, nachdem die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorlagen, hier einen entsprechenden
Antrag gestellt. Dasselbe fordern wir in dem jetzt vorliegenden Antrag.
({1})
Zusätzlich zu der Unterscheidung zwischen ökologisch
sinnvoll und ökologisch nicht sinnvoll sehen Sie, Herr
Trittin, eine gesonderte Ausweisung des Mehrweganteils
vor, und zwar durch eine jährliche Bekanntmachung im
Bundesanzeiger. Ich frage Sie: Warum eigentlich? Die
Unterscheidung zwischen Einweg und Mehrweg ist
Schnee von gestern; sie ist überholt. Die Mehrwegquote
ist ökologisch nicht mehr relevant.
Deswegen fordern wir Sie auf: Machen Sie endlich einen sauberen Schnitt, verabschieden Sie sich von den alten Regelungen und unterscheiden Sie ausschließlich
zwischen ökologisch sinnvoll und ökologisch nicht sinnvoll.
({2})
- Wie ich an Ihrer Reaktion sehe, sehen Sie das nicht ein.
Mit dem, was Sie jetzt machen, vereinfachen Sie die
bisherige Regelung nicht etwa, sondern Sie verkomplizieren sie, indem Sie das eine Kriterium der Vergangenheit
- die Unterscheidung zwischen Einweg und Mehrweg durch zwei Kriterien - jetzt zusätzlich die Unterscheidung zwischen ökologisch sinnvoll und ökologisch nicht
sinnvoll - ersetzen und weitere Ausnahmeregelungen
schaffen wollen, die das ergänzen, und zwar in der Form,
dass nicht auf die Verpackungsart, sondern auf den Inhalt
abgestellt werden soll. Genau das haben Sie an der alten
Regelung kritisiert. Jetzt wollen Sie das fortführen. Was
Sie hier vorlegen, ist aus unserer Sicht inkonsequent.
Eine gesonderte Ausweisung der Mehrwegquote macht
es erforderlich, dass sie - zusätzlich zur Erfassung von
ökologisch sinnvollen und ökologisch nicht sinnvollen
Verpackungen - erfasst werden muss. Das bedeutet statis2188
tischen Aufwand. Die Bundesregierung hat erklärt, sie
wolle Bürokratie abbauen. Aber was Sie machen, ist genau das Gegenteil; denn nach Ihren Vorschlägen muss
eine weitere Quote erfasst werden. Dieser bürokratische
Aufwand ist ohne ökologischen Nutzen und wird von der
FDP abgelehnt.
({3})
Sie wissen, dass das Zwangspfand ökologisch und
ökonomisch unsinnig ist. Der Sachverständigenrat für
Umweltfragen der Bundesregierung hat in seinem Umweltgutachten davon gesprochen, dass das Zwangspfand
„von zweifelhafter ökologischer Effektivität und ökonomisch ineffizient ist“. Genau das ist der Punkt: Das
Zwangspfand setzt bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern an, die die Verpackungen zurücktragen sollen.
Der Handel wird Rücknahmeautomaten aufstellen. Insgesamt ist dies ein aufwendiges und sehr teures Verfahren.
Demgegenüber steht der Vorschlag im FDP-Antrag,
ein Modell handelbarer Abfülllizenzen für ökologisch
nicht vorteilhafte Getränkeverpackungen einzuführen.
Der Anknüpfungspunkt liegt bei den Herstellern. Investitionen in Rücknahmeautomaten sind demnach nicht erforderlich. Das wäre das deutlich bessere Modell; es wäre
günstiger und billiger. Man würde das ökologische Ziel
auf ökonomisch sinnvolle Weise erreichen.
({4})
Herr Trittin, Sie könnten sich auch das Problem mit der
Clearingstelle ersparen. Sie wissen doch ganz genau,
dass dieses Problem im Augenblick noch nicht gelöst ist.
Die FDP teilt die Kritik des Bundeskartellamts am Verfahren. Wir wollen kein neues Monopol, sondern Wettbewerb. Wir wollen den Unternehmen die Möglichkeit
eröffnen, in diesem Bereich tätig zu werden.
Wir bieten Ihnen ausdrücklich die Zusammenarbeit im
Rahmen des Verfahrens an, das jetzt kommen wird. Wir
haben einige Änderungsvorschläge, die aber zu einer
deutlichen Verbesserung beitragen würden. Ich hoffe im
Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher sehr,
dass wir insgesamt zu einer ökologisch und ökonomisch
vernünftigen Lösung kommen. Der Vorschlag der FDP
liegt auf dem Tisch. Wir hoffen auf Ihre Kooperation.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Gerd Friedrich
Bollmann von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Dauerbrenner Dosenpfand wird zum wiederholten Male im Deutschen Bundestag debattiert. Angesichts der Bedeutung des Pfandes für das Mehrwegsystem und für die Müllvermeidung ist es sicherlich ein
wichtiges Thema.
Als ich den Antrag der FDP gelesen habe, fragte ich
mich allerdings, worüber wir heute hier debattieren sollen.
({0})
Fünf Forderungen dieses Antrages sind überholt. Sie waren es zum größten Teil schon, als der Antrag gestellt
wurde. Die beiden einzigen Punkte, die nicht von uns umgesetzt wurden, sind realitätsfremd, umweltschädlich und
nicht durchführbar. Mit anderen Worten: Dieser Antrag ist
eine Farce.
({1})
Die FDP trauert offensichtlich den verlorenen Schlachten gegen das Dosenpfand vor den Gerichten nach.
({2})
Der Antrag liegt ganz auf der Linie früherer Oppositionsanträge: durch freiwillige Vereinbarungen das Pflichtpfand
zu verhindern und damit zugunsten von Großbrauereien,
Großhandel und Dosenherstellern eine umweltfreundliche
und umweltschonende Regelung zu hintertreiben.
({3})
Wir Sozialdemokraten dagegen stehen hinter dem
Pfand als Instrument zur Förderung und Stützung des
Mehrwegsystems. Allerdings halten wir einen geteilten
Markt für Einweggetränke mit und ohne Pfand nicht für
den besten Weg. Daher haben wir schon vor zwei Jahren
ein allgemeines Pfand für ökologisch nachteilige Einwegverpackungen vorgeschlagen.
({4})
Dem Mehrwegsystem wäre dadurch geholfen gewesen
und ökologisch vorteilhafte Verpackungen wie Getränkekarton und Schlauchbeutel wären vom Pfand ausgenommen worden.
Die Fehler der alten Pfandregelung, meine Damen und
Herren von der Opposition, wollten SPD und Bündnis 90/Die Grünen also bereits im Frühjahr 2001 korrigieren. Leider ist dieser Vorschlag einer Verpackungsverordnung aber im Bundesrat gescheitert.
Wir Sozialdemokraten begrüßen daher ausdrücklich
die Einigung zwischen dem BMU, den Ländern und der
Industrie,
({5})
durch die eine ökologisch und ökonomisch sinnvolle
Neuregelung des Dosenpfandes in unserem Sinne zum
1. Oktober dieses Jahres möglich ist. Diese Einigung auf
eine ökologische und verbraucherfreundliche Novelle
wäre aber ohne Umsetzung des Dosenpfandes zu Beginn
dieses Jahres nicht möglich gewesen. Das hat die FDP
vehement bekämpft. Durch diese Einigung ist der Antrag
der FDP erst recht überflüssig. Trotzdem möchte ich auf
einige besonders unsinnige Punkte und falsche Darstellungen
({6})
eingehen.
Es gab kein Chaos bei der Einführung des Dosenpfandes - das hätten Sie sich vielleicht gewünscht -, das
haben wir alle selber im Januar in den Geschäften feststellen können.
({7})
Die Umweltverbände bestätigen dies. Die jetzt noch vorhandenen Schwierigkeiten sind Folgen der Mängel des
Merkel-Pfandes
({8})
und des Boykotts von Teilen des Handels und der Hersteller. Hätte die Opposition im Jahre 2001 zugestimmt,
wäre eine neue Regelung des Dosenpfandes bereits jetzt
Gesetz.
({9})
Außerdem wäre eine verbraucherfreundliche Umsetzung möglich gewesen, hätten nicht einige Großbrauereien sowie Teile des Großhandels und der Dosenhersteller ihre Mitarbeit verweigert. Seit neun Monaten ist der
Einführungstermin bekannt. Aber anstatt entsprechende
Vorbereitungen durchzuführen, klagten Teile von Industrie und Handel.
({10})
Sie setzten auf einen Wahlsieg von CDU/CSU und FDP in
der Hoffnung, Edmund und Guido würden es schon richten und die Einführung des Pfandes verhindern.
({11})
Durch dieses Schmierentheater wurden das Pfandclearing
und ein einheitliches Rücknahmesystem verhindert. Die
Folgen der Verweigerung müssen jetzt die Verbraucher
austragen.
Sie, meine Damen und Herren von der FDP, sind durch
Ihr Nein zur Novelle zur Verpackungsverordnung und
durch Ihre Wahlkampfaussagen zum Dosenpfand mitverantwortlich für die derzeitigen Ungereimtheiten. Nun erdreisten Sie sich, die von Ihnen mitverschuldeten Probleme zum Anlass zu nehmen, eine Abschaffung der
Pfandregelung zu fordern. Im Übrigen wissen Sie, dass
durch die Vereinbarung des Bundesumweltministers mit
den Bundesländern verbraucherunfreundliche Mängel
spätestens bis zum 1. Oktober behoben sind.
({12})
Ein weiteres Argument der FDP gegen die Pfandpflicht
ist eine Meldung über Kurzarbeit bei einem großen Getränkehersteller.
({13})
Aber nicht erwähnt wird, dass die Kurzarbeit die Dosenabfüllung betrifft,
({14})
bundesweit aber im Mehrwegsystem zusätzliche Arbeitsstunden anfallen. Erwähnt wird nicht, dass der Getränkefachhandel und mittelständische Brauereien mehrere
100 Millionen Euro in den Ausbau des Mehrwegsystems
investiert haben, Investitionen, die durch die Pfandpflicht
geschützt werden.
({15})
Laut Roland Demleitner, dem Geschäftsführer des Bundesverbandes mittelständischer Privatbrauereien, werden
weitere Investitionen in den Mehrwegbereich folgen. Damit werden durch das Dosenpfand 250 000 Arbeitsplätze
im Bereich der Mehrwegwirtschaft gesichert.
Erwähnt wird nicht, dass sich über 800 Privatbrauereien
und rund 10 000 Getränkefachhändler im September letzten Jahres in einem offenen Brief für das Dosenpfand ausgesprochen haben. Brauereien, Getränkeabfüller, Brunnen
sowie Getränkegroßhandel und -einzelhandel befürworten das Pflichtpfand. Dies erklärte im Übrigen auch
Hartmut Koschyk von der CSU am 18. Mai 2001 in einer
Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages.
Meine Damen und Herren von der FDP, Sie betonen
doch sonst immer Ihre Rolle als Kämpfer für den Mittelstand. Jetzt bekämpfen Sie eine Regelung, die von der
mittelständischen Brauwirtschaft und dem Fachhandel
begrüßt wird. Die Erfüllung Ihrer Forderung würde zur
Existenzvernichtung mittelständischer Betriebe und zur
Vernichtung von Arbeitsplätzen führen.
({16})
Schauen Sie sich doch die Entwicklung an: Einzelne
Großbrauereien und Teile des Handels überschwemmten
den Markt mit billigem Dosenbier und -wasser. Ziel war
es, mithilfe der Dose kleine und mittlere Brauereien und
Brunnen zu verdrängen. Mit ihren Forderungen unterstützt die FDP Interessen, deren Ziel die Vernichtung mittelständischer Unternehmen ist.
({17})
Diese Politik ist mittelstandsfeindlich.
Kurz möchte ich noch einen Punkt des FDP-Antrages
streifen: Bürgerinnen und Bürger, die freiwillig die Landschaft von Müll säubern, sollen Geld aus einem Fonds
der Getränkewirtschaft erhalten. Wie soll das funktionieren? Stellen Bürger, die beim Sonntagsspaziergang Dosen sammeln, beim Fonds einen Antrag auf Geldzuweisung?
({18})
Oder werden Dosensammelvereine gegründet und finanziell unterstützt? Dieser Punkt des FDP-Antrages ist so
realitätsfremd, dass es nicht lohnt, näher darauf einzugehen.
({19})
Jeder erfahrene Kommunalpolitiker würde die Hände
über dem Kopf zusammenschlagen.
({20})
Aber dieser Punkt zeigt, wie die Liberalen zum Müllproblem stehen. Erst soll der Müll in die Landschaft, dann
sollen die Bürger ihn einsammeln und die verursachende
Industrie darf sich mit einem Trinkgeld freikaufen.
({21})
Sinnvolle Umweltpolitik sieht anders aus. Wir Sozialdemokraten treten dafür ein, Landschaftsvermüllung von
vornherein zu vermeiden.
({22})
Durch das Dosenpfand wird die Vermüllung wirksam
bekämpft
({23})
und wir wissen, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung unseres Landes unsere Auffassung teilt.
({24})
Meine Damen und Herren, vor allem aber zeigen dieser Antrag und frühere Aussagen die wahre Haltung der
FDP zur Umweltpolitik. Die FDP fordert im Umweltschutzbereich freiwillige Vereinbarungen,
({25})
EU- oder weltweite Abkommen, um damit notwendige
Umweltschutzmaßnahmen zu verzögern oder gar zu verhindern. Genau dieses ist ja auch das Ziel. Unterstützung
der Wirtschaft und ihrer Forderungen rangieren bei der
FDP und bei Teilen der Union immer noch vor dem
Schutz der Umwelt.
Gerade die Entwicklung bei der Verpackungsverordnung beweist, dass freiwillige Vereinbarungen oftmals
nicht zum Ziel führen. Das Töpfer-Pfand von 1991 umfasste eine freiwillige Vereinbarung zur Einhaltung der
Mehrwegquote - eine Vereinbarung, die von Teilen der
Getränkeindustrie nicht eingehalten wurde. Töpfer selbst
hatte weiter gehende Vorstellungen für die Verpackungsverordnung. Er wurde damals vor allem von der FDP gebremst, die massiv die Interessen des Handels vertrat.
Ein Pfand auf Einwegverpackungen für Getränke war
für den Fall vereinbart, dass der Mehrweganteil an den
Verpackungen unter eine Quote von 72 Prozent sinkt. Getränkehersteller und Handel hatten sich verpflichtet, den
Mehrweganteil stabil zu halten. Das ist aber nicht gelungen. Einige Discounter und große Getränkeabfüller haben
ihre aggressive Wachstumsstrategie unter anderem auf
Einwegverpackungen ausgerichtet, um zusätzliche Marktanteile zu gewinnen. Das Ergebnis: Seit rund fünf Jahren
wissen wir, dass die Mehrwegquote sinkt; inzwischen lag
sie nur noch bei rund 53 Prozent. Konkret zurückgegangen sind die Mehrweganteile bei Bier, Mineralwasser und
Limonaden. Freiwillige Vereinbarungen taugen ohne ihre
Einhaltung also nichts.
Zum Glück für Umwelt, Verbraucher und mittelständische Brauereien sind die Pläne der Opposition zur Abschaffung des Pfandes endgültig ad acta gelegt.
({26})
Denn nun gibt es die Vereinbarung des Umweltministers
mit den Ländern und der Industrie über eine Änderung der
Verpackungsverordnung. Nichtsdestotrotz wird nun versucht, das Wettbewerbsrecht auszuhebeln und Geschäfte
zulasten der Verbraucher zu machen. Klare kartellrechtliche Vorgaben an ein Pfandclearingsystem mussten erst
gestern von Ulf Böge in Erinnerung gebracht werden. Der
Kartellamtspräsident begründete Vorbehalte seiner
Behörde gegen das System vor allem mit dem Verfahren,
mit dem das Duale System Deutschland als Clearingstelle
ausgewählt wurde. Böge sagte, das Verfahren hätte eine
ordnungsgemäße Ausschreibung erfordert, um keinen
Wettbewerber zu diskriminieren. Allerdings könne die
Ausschreibung jederzeit nachgeholt werden und es liege
an Handel und Industrie, ein ordnungsgemäßes Vergabeverfahren durchzuführen. Gleichzeitig stellte Ulf Böge
dar, dass das Kartellamt nicht gegen das geplante Pfandsystem als solches ist.
Wir gehen davon aus, dass eine kartellrechtlich einwandfreie Lösung gefunden wird, damit die Novelle der
Verpackungsverordnung pünktlich zum 1. Oktober in Kraft
treten kann. Ich hoffe, meine Damen und Herren von der
Opposition, Sie akzeptieren nun endlich die umwelt- und
verbraucherfreundliche Regelung des Pflichtpfandes und
hören auf, Verbraucher und Wirtschaft zu verunsichern.
({27})
Die Neuregelung sieht eine Pfandpflicht bei allen
Einweggetränkeverpackungen vor, außer für ökologisch
vorteilhafte Einweggetränkeverpackungen, Wein, Sekt,
Spirituosen und diätetische Lebensmittel. Eine ähnliche
Regelung wollten Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die
Grünen schon vor einem Jahr durchsetzen.
Diese Novelle beseitigt die Fehler der alten Regelung.
Ich begrüße, dass die unionsgeführten Bundesländer nach
Angaben des bayerischen Umweltministers Schnappauf
ihre Bereitschaft zur Zustimmung signalisiert haben.
({28})
Ich hätte es noch mehr begrüßt, wenn die FDP angesichts
dieser Einigung ihren Antrag zurückgezogen und damit
ihre Unterstützung für eine umwelt- und verbraucherfreundliche Verordnung signalisiert hätte.
Wir Sozialdemokraten lehnen den Antrag der FDP ab
und stehen hinter dieser Novelle. Mit der Neuregelung
des Dosenpfandes werden das Mehrwegsystem gestützt,
mittelständische Betriebe geschützt und die Landschaftsvermüllung bekämpft. Mit der Einführung eines einheitlichen Pfandes auf Getränkeverpackungen setzen Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen ihre erfolgreiche
Umweltpolitik der letzten Jahre fort und folgen dem Gebot der Nachhaltigkeit.
({29})
Die gefundene Regelung ist aber nicht nur ein Erfolg
der rot-grünen Bundesregierung, die Neuregelung ist
auch ein Erfolg der parlamentarischen Demokratie über
Lobbyismus und Einzelinteressen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({30})
Herr Kollege Bollmann, Sie haben gerade Ihre erste
Rede im Deutschen Bundestag gehalten. Herzlichen
Glückwunsch!
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Birgit Homburger.
Herr Kollege Bollmann, als Reaktion auf Ihre Rede
möchte ich Ihnen Folgendes sagen. Zu dem, was Sie hier
vorgetragen haben, muss ich Sie fragen: Wissen Sie es
nicht besser?
({0})
Sie haben eine Art und Weise der Auseinandersetzung gewählt, die wir bisher nicht gewöhnt waren. Wir sind hier
Diskussionen wie auch Auseinandersetzungen über unterschiedliche Auffassungen gewöhnt. Sie dagegen haben
nichts anderes getan, als das, was im Antrag der FDP
steht, auf eine absolut polemische und unverschämte Art
zu verdrehen. Das muss ich Ihnen sehr deutlich sagen.
({1})
Ich möchte klarstellen: Die FDP möchte eine ökologisch und ökonomisch sinnvolle Regelung finden. Wir haben deswegen den Vorschlag gemacht, zum Schutz ökologisch sinnvoller Verpackungen ein Lizenzmodell
einzuführen. Wir sind also mitnichten, wie Sie gesagt haben, für irgendeine Art von freiwilliger Vereinbarung. Wir
haben einfach nur ein anderes Modell vorgeschlagen, von
dem wir überzeugt sind, dass es einfacher, unbürokratischer und für die Gesamtheit der Verbraucherinnen und
Verbraucher kostengünstiger ist. Das ist der Unterschied.
Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen.
({2})
Möchten Sie erwidern, Herr Kollege Bollmann? Bitte schön.
Frau Kollegin Homburger, wenn ich nach meiner ersten Rede eine solche Kurzintervention zu hören bekomme, dann ist das, wie ich denke, ein Zeichen dafür,
dass ich die Diskussion zumindest angeregt habe. Polemik ist dabei in der letzten Zeit gerade von Ihrer Seite zur
Genüge gekommen.
({0})
Was ich mit meiner Rede deutlich machen wollte, war
in erster Linie folgender Punkt: Sie haben maßgeblich
dazu beigetragen, dass die Ungereimtheiten, die es zurzeit
in einigen Geschäften gibt, überhaupt existieren. Das ist
Ihr „Verdienst“. Nun kritisieren Sie das, was Sie angerichtet haben, und versuchen, daraus Nutzen zu ziehen
und das Verfahren mit diesem Antrag doch noch zu stoppen. Das wird Ihnen aber nicht gelingen. Ich denke, der
bessere Weg des Dosenpfands wird sich durchsetzen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Wittlich von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Bollmann, mit Ihrer Rede haben Sie
deutlich gemacht, dass Sie von der Thematik nichts verstehen. Und davon verstehen Sie sehr viel.
({0})
- Das ist keine Beleidigung.
({1})
- Ich will versuchen, meine Rede etwas sachlicher zu halten.
Wenn ich die Debatte der vergangenen Tage und Wochen verfolge, dann fühle ich mich wie Moses, der die
Kinder Israels durch die Wüste führt und auf der Flucht
vor den Ägyptern am Ufer des Roten Meeres ankommt.
Er fleht zum Himmel und tatsächlich schaut Gott aus den
Wolken und sagt: Warum jammerst du, Moses? Höre also:
Ich habe eine gute Nachricht und eine schlechte. Ich
werde das Meer teilen, damit dein Volk trockenen Fußes
ins gelobte Land kann.
({2})
Großartig, sagt Moses, und wie lautet die schlechte Nachricht? Daraufhin sagt Gott: Ich brauche zuerst die Umweltverträglichkeitsprüfung eines unabhängigen Sachverständigen.
({3})
Genau hier liegt das Problem. Wir haben zu viel
unnötige Bürokratie. Deshalb sollten wir heute einmal
darüber reden, was uns davon befreien könnte. Ich nenne
die Deregulierung. CDU/CSU und auch die Industrie fordern bereits seit längerem eine umfassende Novelle der
Verpackungsverordnung; denn die 1991 unter dem damaligen Umweltminister Töpfer von CDU/CSU und FDP erlassene Verpackungsverordnung war sehr erfolgreich.
({4})
Sie hat dazu geführt, dass in Deutschland mehr Verpackungen gesammelt und verwertet werden als in irgendeinem anderen Land der Welt.
({5})
Das damals bestehende Problem des Müllnotstandes
ist heute weitgehend gelöst. Die geltende Verpackungsverordnung hat außerdem auf dem Gebiet des Mehrwegschutzes die richtigen Signale gesetzt.
({6})
Dies gilt gerade auch für die Getränkeverpackungen. Das
Beispiel Altglasrecycling zeigt, dass sich das Sammeln
von Getränkeverpackungen für viele Bürger zum Inbegriff gelebten Umweltschutzes entwickelt hat. Insofern
war es nötig, die alte Verpackungsverordnung umfassend
zu novellieren und den veränderten Bedingungen anzupassen.
({7})
Die von der Bundesregierung eingeführte Pfandregelung wird dem allerdings nicht gerecht. Ein findiger Journalist aus meinem Heimatwahlkreis hat vor einigen Tagen
den Praxistest gemacht. Er hat zwei PET-Flaschen aus einem Supermarkt vom Einkauf bis in den Ofen, in dem sie
eingeschmolzen wurden, begleitet. Beide Flaschen enthielten Zitronentee, die eine mit, die andere ohne Kohlensäure. Während beide Flaschen im Regal noch einträchtig nebeneinander standen, musste Kundin B
zusätzlich zum Kaufpreis 25 Cent Pfand bezahlen, weil
sie ihren Tee lieber mit Kohlensäure trinkt.
({8})
Nach dem Verzehr konnte Kundin A ihre Flasche bequem
in der gelben Tonne entsorgen, während Kundin B ihre bepfandete Flasche in den einige Kilometer entfernten Supermarkt zurückbringen und über das Rücknahmesystem
entsorgen lassen musste.
Herr Hermann, Sie werden mir vielleicht Recht geben,
dass dieses Anliegen berechtigt ist. Das Fazit dieses Zeitungsartikels war ernüchternd: Parallel fahrende Lastwagen und parallel sortierende Müllmänner und Verbraucher, die Zettelchen und Märkchen sammeln müssen,
führen zu mehr verbrauchtem Kraftstoff, zu mehr vertaner Zeit und zu unnötig ausgegebenem Geld, das in diesen Zeiten sinnvollerweise ganz woanders Verwendung
finden sollte. Herr Trittin, dieses Beispiel zeigt im Kleinen sehr anschaulich die Absurdität Ihrer Verordnung.
({9})
Wer immer auch von der Pfandregelung profitieren mag die Umwelt ist es sicher nicht.
Meine Damen und Herren, alles Jammern hilft nicht;
denn das Zwangspfand auf Einwegverpackungen ist inzwischen Realität. Wir haben das Schlechte, das wir nicht wollten, und müssen jetzt sehen, wie wir damit klarkommen.
({10})
Wir stehen vor der Situation, dass die Bürgerinnen und
Bürger sowie natürlich auch der Handel mit großen Problemen kämpfen. In meiner Heimat - das ist schon angesprochen worden - gibt es beispielsweise zwei größere
Dosenwerke, die akut gefährdet sind. Die Unternehmen
klagen über immense Umsatzverluste. Investitionen von
100 Millionen Euro werden gestrichen und allein in einem
der Werke sind über 800 Mitarbeiter in Kurzarbeit.
({11})
Herr Trittin, ich kann nur fragen: Haben Sie das wirklich so gewollt? Vonseiten des BMU - Herr Bollmann, das
haben Sie eben auch gesagt - wird immer wieder behauptet, dass der Handel und die Getränkewirtschaft ausreichend Zeit zur Vorbereitung gehabt hätten,
({12})
nämlich über neun Monate, und zwar von März 2002 bis
Januar 2003.
Ich sage Ihnen: So stimmt das doch überhaupt nicht.
({13})
Kurz vor dem Termin des In-Kraft-Tretens der Pfandpflicht
herrschte in Deutschland überhaupt noch keine Rechtssicherheit bezüglich des Umgangs mit Getränkeverpackungen. Die Entscheidung der höchsten Gerichte stand noch
aus.
({14})
Man muss den Unternehmen und Verbänden doch die
Möglichkeit einräumen, den Rechtsweg vollständig auszuschöpfen, bevor sie Investitionen in Milliardenhöhe
tätigen. Ein Pfandsystem für Einwegverpackungen lässt
sich nicht einfach mal eben so etablieren.
({15})
Es muss eine riesige Infrastruktur geschaffen werden, deren Einrichtung Milliarden kosten wird. Auch wesentliche
Fragen des Aufbaus und Betriebs eines solchen Systems
müssen noch geklärt werden.
Dies gilt beispielsweise für die Bereitstellung der notwendigen Infrastruktur, den Aufbau eines so genannten
zentralen Pfandclearings und die Einführung fälschungssicherer Kennzeichen bei den betroffenen Verpackungen.
({16})
Dem von uns geforderten Moratorium bis Oktober 2003
haben Sie leider nicht zugestimmt. Bis dahin hätten wenigstens die Dosen, die bereits produziert worden sind,
sinnvoll verwendet werden können.
({17})
- Arbeitsplätze und Unternehmen interessieren Sie nicht.
Allein in dem gerade genannten Werk liegen 200 Millionen Dosen auf Halde, die derzeit nicht verkauft werden
können.
({18})
Lediglich 0,8 Prozent des gesamten Abfalls, der in
Deutschland anfällt, besteht aus Einwegverpackungen.
Für diese geringe Abfallfraktion betreiben wir einen derart
überzogenen Verwaltungsaufwand. Alwin Münchmeyer
hat einmal gesagt: Das Vaterunser hat 56 Wörter. Die
Zehn Gebote haben 297 Wörter. Aber die Verordnung der
EU-Kommission über den Import von Karamellen und
Karamellprodukten zieht sich über 26 911 Wörter hin. Dies zeigt: Je unwichtiger die Dinge werden, desto komplizierter sind die Regeln.
({19})
Müssen wir demnächst eigentlich auch Zigarettenschachteln oder Kaugummipapierchen bepfanden, um der
Landschaftsvermüllung Herr zu werden?
({20})
Herr Trittin, wie handhaben Sie es mit Bechern, in die beispielsweise Buttermilch abgefüllt ist? Was denken Sie
sich denn dazu aus? Rund 800 Millionen Milchverpackungen, die über das Duale System bisher reibungslos entsorgt werden, sollen nach Auskunft des BMU jetzt
bepfandet werden. Wie das unter hygienischen Bedingungen funktionieren soll, steht in den Sternen. In der letzten
Konsequenz Ihrer Regel müssten Sie sogar die kleinen
Kaffeemilchdöschen, die Sie Ihren Besuchern auf die Untertasse legen, zurückbringen.
({21})
- Sie trinken also nur Tee ohne Milch. Insofern freue ich
mich, dass selbst der Umweltminister inzwischen erkannt
hat, dass seine Zwangspfandregelung nicht das Ei des
Kolumbus ist.
Auch die jüngsten Novellierungsvorschläge werden
den Anforderungen nicht gerecht. Wir von CDU und CSU
würden die Neuregelung grundsätzlich begrüßen, wenn
sie zu einem Weniger an Bürokratie und einem Mehr an
Flexibilität führte.
({22})
Die Neuregelung bietet uns die einmalige Chance, mit
den Forderungen nach einer Deregulierung des Umweltrechts ernst zu machen. CDU/CSU sehen aber auch in
den vor wenigen Tagen vereinbarten Kompromissvorschlägen noch viele offene Fragen. Die Ankündigung des
Bundesumweltministeriums und der Länder, künftig nur
noch an das Kriterium der ökologisch vorteilhaften Verpackung anzuknüpfen, halten wir für einen Schritt in die
richtige Richtung. Wenn überhaupt, müssen Einwegverpackungen nach Art der Verpackung und nicht nach dem
Inhalt bepfandet werden.
({23})
Es ist aber davor zu warnen, dieses Kriterium bürokratisch zu betrachten und an langwierige Entscheidungsprozesse zu binden.
Stellen Sie sich einmal folgenden Fall vor: Eine Verpackung, die derzeit noch nicht ökologisch vorteilhaft ist,
wird in einem Prozessverfahren zur ökologisch vorteilhaften Verpackung, was durch entsprechende Gutachten
und Ökobilanzen belegt wird. Muss dann jedes Mal die gesamte Verwaltungsmaschinerie in Gang gesetzt werden?
({24})
Müssen sich dann Umweltministerium, Bundestag und
Bundesrat wieder mit einer Novellierung der Verpackungsverordnung befassen, um den neuen Erkenntnissen Rechnung zu tragen? Schließlich handelt es sich bei
einer Ökobilanz - das haben Sie in der Regierungsbefragung selbst gesagt - um einen formalisierten Vorgang, der
internationalen Standards genügt.
Wir fordern daher, die Freistellung ökologisch vorteilhafter Verpackungen von der Pfandpflicht in einer so genannten Innovationsklausel festzuschreiben.
({25})
Sie soll die Voraussetzungen verbindlich festlegen, unter
denen eine Freistellung von der Pfandpflicht gewährt
sein soll. Das heißt ganz konkret: Wenn sich eine Verpackung als ökologisch vorteilhaft herausstellt, muss sie
umgehend, das heißt auf Antrag, von der Pfandpflicht ausgenommen werden.
({26})
Auch an anderer Stelle verträgt die geltende Verpackungsordnung Vereinfachungen. Es wäre wünschenswert, künftig ein einheitliches Pfand in Höhe von 25 Cent
zu erheben. Damit würde die Verpackungsrücknahme
vereinfacht und die finanziellen Mittel der Verbraucher
würden nicht unnötig gebunden.
Abschließend fordern wir, Getränkeverpackungen ab
drei Liter von der Verpackungspflicht auszunehmen. Las2194
sen Sie mich diese Forderung an einem Beispiel erläutern.
Sie, Herr Trittin, feiern mit Ihren Freunden eine Party und
kaufen für diesen Anlass ein Fünf-Liter-Partyfass Ihrer
Lieblingsmarke.
({27})
- Er sagt, er trinke nur noch Wein. - Bisher konnten Sie
dieses Fass bequem in der gelben Tonne entsorgen. Jetzt
müssen Sie feststellen, dass das Fass leider nicht in die üblichen Rücknahmeautomaten passt. Für Abfüller und
Handel wäre es mit einem immensen Aufwand verbunden, ein eigenes Rücknahme- und Pfandsystem zu schaffen. Auch eine Mehrfachbefüllung scheidet wegen der
unvermeidbaren Korrosion des Weißbleches aus. Wegen
des vergleichsweise geringen Marktanteils droht dem Partyfassvertrieb langfristig das Aus. Seien wir doch ehrlich,
meine Damen und Herren: Haben Sie es schon erlebt, dass
jemand sein Partyfass am nächsten Morgen vom Balkon
aus in die unberührte Natur wirft?
({28})
Diese Probleme haben Handel und Verbraucher bisher
noch zähneknirschend hingenommen. Nun aber hat das
Bundeskartellamt auch Bedenken gegen das vorgeschlagene einheitliche Rücknahmesystem angemeldet. Mit einem Schlag ist deshalb der Aufbau eines bundesweiten
Rücknahmesystems überraschend in Gefahr geraten.
({29})
Jetzt sind Sie gefordert, Herr Trittin. Sie müssen
schnellstens eine Lösung finden. Ich prophezeie Ihnen,
dass Ihnen sonst Handel und Industrie das einheitliche
Rücknahmesystem vor die Füße werfen werden.
({30})
Dann stünden wir vor einem riesigen Scherbenhaufen und
der Karren wäre endgültig gegen die Wand gefahren. Das
sind Fragen, über die wir reden müssen.
Wenn sich der Bundesumweltminister nicht unseren
immer wieder vorgetragenen Änderungsvorschlägen entzogen hätte, wäre jetzt manches leichter. Bis heute verschließen Sie sich einer vernünftigen Lösung und versuchen stattdessen, die angerichteten Schäden mit
geringfügigen kosmetischen Änderungen zu mildern.
Ich möchte abschließend darauf drängen -
Ja, Herr Kollege, ich bitte darum, dass Sie zum Schluss
kommen.
Ich komme sofort zum Ende, Frau Präsidentin. - Ich
möchte abschließend darauf drängen, den vorgelegten
Novellierungsentwurf nochmals zu überarbeiten. Ich
biete dafür für die CDU/CSU unsere konstruktive Mitarbeit an.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Vogel-Sperl,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Im vorliegenden Antrag der FDP wird erklärt,
die Pfandpflicht für Einweggetränkeverpackungen sei
„durch aktuelle Erkenntnisse aus Ökobilanzen obsolet geworden“. Tatsächlich ist jedoch der Vorschlag der FDP
obsolet.
({0})
Die zum 1. Januar 2003 eingeführte Pfandpflicht ist ein
großer Erfolg für die Umwelt und ein weiterer Schritt zu
einer funktionsfähigen Kreislaufwirtschaft.
({1})
Das prognostizierte Chaos ist ausgeblieben. Die ersten
Wochen dieses Jahres belegen eindeutig eine ökologische
Lenkungswirkung. Das Pfand führt dazu, dass der bisherige Wettbewerbsvorteil der Einwegverpackungen gegenüber den Mehrwegsystemen aufgehoben wird. Viele
Händler haben Einwegprodukte aus ihrem Sortiment ausgelistet und die Abfüller von Mehrwegprodukten verzeichnen deutliche Absatzsteigerungen.
Werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie irren, wenn Sie von einer kontraproduktiven Wirkung des
Dosenpfandes ausgehen. Dass die Pfandpflicht eine geeignete Maßnahme zur Stärkung von Mehrwegsystemen
ist, hat unter anderem das Umweltbundesamt bestätigt.
Sie bestätigen es sogar selbst, indem Sie sich um Arbeitsplätze bei der Einwegabfüllung sorgen. Interessanterweise haben Sie diese Sorge mit Blick auf die rund
250 000 Arbeitsplätze, die im Mehrwegbereich auf dem
Spiel stehen, bisher nicht geäußert.
({2})
In der gegenwärtigen Situation immer noch die Augen
vor der Realität zu verschließen ist sicher nicht zielführend. Die von Ihnen vorgebrachten Argumente werden
durch ständige Wiederholung auch nicht richtiger. Die
Forderung nach einem Aussetzen der eingeführten Pfandpflicht lehnen wir entschieden ab. Von einer Rechtsunsicherheit kann heute keine Rede mehr sein. Vor dem Hintergrund der inzwischen erreichten Einigung mit den
Bundesländern hat diese Forderung zudem jegliche Relevanz verloren.
({3})
Ist es nicht vielmehr so, dass seit gut zehn Jahren seitens des Handels versucht wird, die bereits unter Klaus
Töpfer erlassene Verpackungsverordnung konsequent zu
ignorieren, zu unterlaufen und zu boykottieren?
({4})
Tatsache ist, dass seit 1991 klar ist, was auf den Handel
zukommt, wenn die vorgeschriebene Mehrwegquote von
72 Prozent unterschritten wird. Dies ist bereits 1997 erstmals geschehen. In den nachfolgenden Jahren ist die
Quote kontinuierlich weiter gesunken.
Statt konstruktiv zusammenzuarbeiten, haben Großbrauereien und Handelsketten bis zuletzt auf einen Regierungswechsel spekuliert
({5})
und, nachdem diese Hoffnung nicht in Erfüllung gegangen ist, das Land mit unzähligen Gerichtsverfahren überzogen. So sollte die fällige Umsetzung der Verpackungsverordnung doch noch verhindert werden.
Spätestens mit der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in Leipzig vom Januar dieses Jahres sind auch diese
Versuche endgültig gescheitert.
({6})
Das Pfand sichert Arbeitsplätze im Mittelstand. In der
Vergangenheit haben vor allem Großbrauereien ihre Erzeugnisse in Einwegverpackungen zu Dumpingpreisen
auf den Markt geworfen. Gleichzeitig wurde die Gefährdung von Tausenden von Arbeitsplätzen in mittelständischen Betrieben in Kauf genommen, die bisher traditionell auf Mehrwegsysteme gesetzt haben. Das Pfand stärkt
die regionale Vermarktung von Getränken, da vor allem
regionale Anbieter in der Vergangenheit auf Mehrweg gesetzt und dafür auch umfangreiche Investitionen getätigt
haben.
({7})
Wenn zurzeit bei einigen Einwegabfüllern Probleme auftreten und teilweise Kurzarbeit angesetzt wurde, liegt dies
darin begründet, dass sich die Wirtschaft viel zu lange
geweigert hat, sich auf das frühzeitig angekündigte Pfand
einzustellen.
({8})
Das Pfand ist aber vor allem ein sinnvolles Instrument,
um ökologisch vorteilhafte Verpackungen zu fördern. Es
wird im Übrigen von der großen Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert und befürwortet. Das Pfand führt zu einer
sortenreinen Sammlung der Verpackungsabfälle und somit zu einer besseren Verwertung der Rohstoffe. Es trägt
dazu bei, Müll im Vorfeld zu vermeiden, anstatt ihn im
Nachhinein aufwendig sammeln und entsorgen zu müssen. Hier bedarf es übrigens auch keines Fonds für Landschaftsschutz.
({9})
Liebe Frau Kollegin Homburger, Sie beschweren sich
über die bisherigen Ungereimtheiten bei der Pfandpflicht.
Diese haben Sie aber doch erst mit der Novelle von 1998
eingeführt. Sie waren an der Regierung beteiligt.
({10})
- Ich würde gern fortfahren.
({11})
In dieser Novelle wurde die ökologisch unsinnige Unterscheidung nach Getränkearten eingeführt. Wir haben
indes schon immer eine Ausrichtung der Verpackungsverordnung nach ökologischen Kriterien gefordert und entsprechende gesetzliche Initiativen auf den Weg gebracht.
Eine Novellierung der Verpackungsverordnung nach ökologischen Gesichtspunkten ist im Jahr 2001 im Bundesrat aufgrund rein parteipolitischen Kalküls gescheitert.
({12})
Schon vor zwei Jahren hätten wir genau das erreichen
können, worüber jetzt Konsens zwischen der Bundesregierung und den Ländern erzielt wurde.
({13})
Draußen versteht dies kein Mensch mehr, zumal es hier
auch um Deregulierung geht.
Die Pfandpflicht soll künftig für alle Einweggetränkeverpackungen gelten mit Ausnahme von erstens ökologisch vorteilhaften Einweggetränkeverpackungen wie
Getränkekartons und Schlauchbeutel für Milch, zweitens
Wein, Spirituosen und allen Mixgetränken mit einem
überwiegenden Anteil davon und drittens bestimmten diätetischen Lebensmitteln. Ein Pfand in einer einheitlichen
Höhe, wie von Ihnen vorgeschlagen, lehnen wir indes ab.
({14})
Auch auf die Mehrwegquote als auslösendes Element
für die Pfandpflicht wird zukünftig verzichtet. In § 1 Verpackungsverordnung wird das Ziel aufgenommen, dass
der Anteil der in ökologisch vorteilhaften Getränkeverpackungen abgefüllten Getränke mindestens 80 Prozent
betragen soll. Um gleichzeitig Anreize zu schaffen, umweltverträgliche Verpackungen zu entwickeln, wird gewährleistet sein, dass Verpackungen, die sich zukünftig
als ökologisch vorteilhaft erweisen, von der Pfandpflicht
ausgenommen werden können. Allerdings sind wir der
Meinung, das dies ohne jeglichen Automatismus geschehen sollte. Die Entscheidung darüber sollte dem Parlament nicht vorenthalten werden.
Lassen Sie uns die unendliche Geschichte der Dose zu
Ende bringen und uns weiteren wichtigen Fragen der
Kreislaufwirtschaft zuwenden.
({15})
Lassen Sie uns gemeinsam konstruktiv die Novellierung
der Verpackungsverordnung auf den Weg bringen! Auch
Industrie und Handel müssen jetzt konsequent dazu beitragen, dass das bundesweit einheitliche Rücknahmesystem spätestens zum 1. Oktober bereitsteht und die bisherige Blockadepolitik nicht auf anderen Feldern wie dem
Kartellrecht fortgeführt wird. Das Bundeskartellamt hat
frühzeitig signalisiert, ein bundesweites Rücknahmesystem mit einer Clearingstelle für den Ausgleich der
Pfandzahlungen unter Einhaltung bestimmter Kriterien zu
genehmigen. Es liegt nun an der Wirtschaft, ein entsprechendes Konzept vorzulegen und nicht den schwarzen
Peter der Kartellbehörde unterzuschieben.
Vielen Dank.
({16})
Frau Kollegin Vogel-Sperl, ich gratuliere Ihnen recht
herzlich zu Ihrer ersten Rede hier in diesem Hohen Hause
und wünsche Ihnen politisch und persönlich alles Gute.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kristina Köhler,
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Einführung des Zwangspfands zum 1. Januar
war ein klassischer Fehlstart.
({0})
Chaotischer geht es wirklich nicht: eine Regelung, die
jeglicher Logik entbehrt, Händler, die darauf nicht vorbereitet waren, und verzweifelte Kunden, die in jedem Supermarkt und an jedem Kiosk mit einer neuen Regelung
für die Rückgabe ihrer Dosen konfrontiert wurden.
({1})
Statt zuerst mit allen Beteiligten nach einer praktikablen Lösung zu suchen und anschließend ein Zwangspfand einzuführen, hat Herr Minister Trittin lieber genau
umgekehrt gehandelt, nach dem Motto: Erst handeln; denken können wir ja später immer noch.
({2})
Der Antrag der FDP greift wichtige Argumente der
CDU/CSU auf. Wir kritisieren ebenfalls, dass sich das
Pfand derzeit nicht nach der Ökobilanz richtet, sondern an
eine Mehrwegquote gekoppelt ist. Das ist ökologisch
vollkommen sinnlos, denn der Umwelt ist es wirklich total egal, ob in einem Eistee Kohlensäure enthalten ist oder
nicht.
({3})
Wir kritisieren, dass mit dem Pfand nicht bis zu einer
Novellierung der Verpackungsverordnung gewartet
wurde. Dies hat enorme Probleme und Belastungen für
die Wirtschaft und für die Verbraucher mit sich gebracht. Wie die FDP sind auch wir der Auffassung, dass
das Problem der Landschaftsvermüllung anders zu lösen ist. Ich denke dabei beispielsweise an unser Frankfurter Modell, das wir jetzt auch in meinem Wahlkreis
Wiesbaden eingeführt haben: Völlig egal, ob eine Zigarettenschachtel oder eine Einwegflasche im Gebüsch
landet, zahlt derjenige, der das dahin wirft. Das ist der
richtige Weg.
({4})
In diesen Tagen wurde nun zwischen Bund und Ländern eine Einigung über die Eckpunkte einer Novelle erzielt. Darin wurde die wesentliche Forderung der CDU/
CSU berücksichtigt, nämlich dass das Pfand an eine negative Ökobilanz geknüpft ist. Daher begrüßen wir diese
Einigung grundsätzlich.
({5})
Ein Kompromiss ist also gefunden, Herr Trittin. Es liegt
nun an Ihnen, eine Novelle zu erarbeiten. Ich bitte Sie
aber, dabei einige Punkte zu beachten. Sosehr wir auch die
Ankündigung begrüßen, dass die Pfandpflicht künftig allein an die Ökobilanz geknüpft ist, bitten wir Sie dennoch,
Herr Trittin: Ersparen Sie uns eine bürokratisch aufgeblähte Regelung, die zur Beurteilung der Ökobilanz neuer
Verpackungen langwierige Entscheidungsprozesse hier
im Parlament nötig macht.
({6})
Herr Trittin, wir wollen doch in diesem Hohen Hause in
Zukunft nicht immer wieder über Bierdosen und Eistee
reden. Deutschland hat doch wirklich wichtigere Probleme.
({7})
Wir fordern daher, eine Innovationsklausel einzuführen, in der verbindliche Kriterien für die Freistellung
vom Dosenpfand festgelegt werden. Wenn eine neue Verpackung erfunden wird, von der wir vielleicht heute noch
gar nichts ahnen, und diese den Kriterien genügt, sich somit als ökologisch vorteilhaft erweist, muss diese Verpackung ohne großen bürokratischen Aufwand von der
Pfandpflicht befreit werden.
({8})
Wir wollen also eine Verpackungsverordnung, die sich
automatisch dem technischen Fortschritt anpaßt, damit
nicht nach jeder Innovation der Verpackungsindustrie
wieder alle politischen Entscheidungsgremien beschäftigt
werden. Es ist nicht Aufgabe dieses Hauses, über die
Ökobilanz des Capri-Sonne-Trinkpacks zu diskutieren.
({9})
Wenn es Ihnen mit der Entbürokratisierung ernst ist,
dann beginnen Sie dort, wo es möglich ist. Vermeiden Sie
von Anfang an zu viel Bürokratie und geben Sie unserer
Kristina Köhler ({10})
Forderung nach einer so gestalteten Innovationsklausel
nach.
({11})
In der Einigung wird des Weiteren festgelegt, dass der
Mindestanteil ökologisch vorteilhafter Verpackungen
80 Prozent betragen soll. Als Zielvorgabe, an der sich
Wirtschaft und Verbraucher orientieren können, ist das in
Ordnung. Wir lehnen aber ab, dass das Unterschreiten dieser Quote Sanktionen nach sich zieht, denn dann wären
wir wieder bei einer ökologisch unsinnigen Quotenregelung, von der wir gerade weg wollten.
({12})
Herr Minister Trittin, zeigen Sie mit der Novelle, dass
es die Bundesregierung mit der Entbürokratisierung ernst
meint. Berücksichtigen Sie unsere Forderung nach einer
Innovationsklausel und stellen Sie sicher, dass Evaluierung und Anpassung der Verpackungsverordnung
nicht immer wieder dieses Parlament beschäftigen, dann
können Sie auch mit der Unterstützung von CDU/CSU
rechnen.
Danke.
({13})
Frau Kollegin Köhler, Sie hielten heute Ihre erste
Rede. Herzlichen Glückwunsch. Ich wünsche auch Ihnen
politisch und persönlich alles Gute.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 15/315 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Weiß
({1}), Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert
Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Neue Initiative zur Wiederbelebung des kolumbianischen Friedensprozesses international unterstützen
- Drucksache 15/203 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hartwig Fischer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die politische und soziale Situation in Kolumbien
hat sich in den vergangenen Jahren stark verschlechtert.
Nach Analysen der Vereinten Nationen sind die Kokaanbauflächen in Kolumbien im Vergleich zu 1996 um
300 Prozent vergrößert worden. Die Schreckensmacht
der linken und rechten Guerilla, die sich hauptsächlich aus
dem Drogenhandel finanzieren, konnte nicht durchbrochen werden. Vielmehr haben die Gewalttaten massiv zugenommen, und zwar nicht nur auf dem Land, sondern gerade auch in den Städten. Entführungen, Erpressungen und
Morde - etwa 30 000 jährlich - verursachen immer häufiger Angst und Schrecken in Kolumbien.
Vor etwa einem Jahr sind die Friedensgespräche zwischen der kolumbianischen Regierung und der Rebellengruppe „Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens“, FARC,
abgebrochen worden und konnten bis heute nicht wieder
aufgenommen werden. Das Bombenattentat der FARC in
Bogota vor wenigen Tagen lässt erkennen, dass die Guerillas ihren Kampf nun vom Land wieder in die Städte verlegen. Dabei konnten die Guerillas während der letzten
Jahre ihre Position in den ländlichen Regionen unter Ausnutzung des konzilianten politischen Ansatzes des ehemaligen Präsidenten Pastrana ausbauen. Schätzungsweise
sind 50 Prozent der Fläche Kolumbiens nicht unter staatlicher Kontrolle, sondern unter der bewaffneter Gewaltgruppen. Um die Finanzierung dieser Gruppen durch den
Drogenhandel ebenso wie die Unterdrückung der Indigenen und der sonstigen Landbevölkerung zu beenden,
muss also vor allem das staatliche Gewaltmonopol in
ganz Kolumbien hergestellt werden.
Eingedenk der Tatsache, dass die Friedensinitiativen
des Vorgängers des heutigen Präsidenten Uribe von der
Guerilla nicht honoriert wurden, muss eine erfolgreiche
Politik für Kolumbien daran ansetzen, das Land innenpolitisch zu stabilisieren, notfalls auch unter Einsatz von Polizei und Militär.
({0})
Darin sollte Präsident Uribe von den internationalen Kooperationspartnern unterstützt werden. Dabei muss die
rechtsstaatliche Überprüfung der Notstandsmaßnahmen
Uribes gewährleistet sein. Derartige Maßnahmen sind
aber nur dauerhaft wirksam, wenn sie von entsprechenden
strukturellen und sozialen Maßnahmen flankiert werden,
gerade weil sich die Spannungen in Kolumbien in den
letzten Monaten verschärft haben.
Für CDU und CSU ist es im Gegensatz zur Meinung
des BMZ nicht damit getan, im Rahmen des übergeordneten Schwerpunktes „Krisenprävention und Friedensentwicklung“ nur punktuelle Beiträge zur Lösung des internen Konflikts zu leisten. Wir sehen in umfassenden
Reformen von Legislative, Parteien, Justiz und Verwaltung ein Kernstück einer dauerhaften Friedenspolitik für
Kolumbien. Wir begrüßen daher ausdrücklich die finanzielle Unterstützung des UN-Menschenrechtsbüros in
Bogota durch die Bundesrepublik Deutschland. Aber, Frau
Ministerin Wieczorek-Zeul, das ist wieder einmal nur eine
Politik der Symbolik. Sie haben Ihre Möglichkeiten, gerade im Rahmen der EU-Entwicklungszusammenarbeit
auf eine nicht nur bezüglich der Menschenrechte einheitlichere und vorurteilslose Politik gegenüber Kolumbien
hinzuwirken, bei weitem noch nicht ausgeschöpft.
({1})
Am US-amerikanischen „Plan Colombia“ kann man
durchaus berechtigte Kritik üben. Aber es ist doch nur
sinnvoll, mit den Vereinigten Staaten als wichtigstem
Kooperationspartner der kolumbianischen Regierung eng
zusammenzuarbeiten und sich abzustimmen.
Über den Antrag der CDU/CSU-Fraktion hinaus möchte
ich zwei konkrete Vorschläge machen: Erstens. Drogenanbau und Drogenhandel sind die Hauptfinanziers des
Unfriedens in Kolumbien. Deshalb muss die Förderung
von Alternativen zum Drogenanbau im Rahmen einer
integrierten ländlichen Entwicklung wieder in das Zentrum der deutschen und der europäischen Entwicklungszusammenarbeit rücken.
({2})
Bei den im zweiten Halbjahr 2003 anstehenden Regierungsverhandlungen sollte die Hilfe für Kolumbien nicht,
wie von der Bundesregierung geplant, gekürzt, sondern
aufgestockt werden. Wenn schon derzeit der Kaffeeanbau
angesichts des Preisverfalls keine Alternative darstellt,
dann könnte zumindest die Umwandlung in rentable Produktiv- und Schutzwälder eine große Chance eröffnen.
Alternative Anbauprodukte brauchen aber vor allem einen
Markt. Den könnten die Industrieländer durch einen Abbau der Zollbarrieren schaffen. Dass gerade Deutschland
das Gegenteil tut, zeigt die morgen anstehende Verabschiedung der neuen Steuergesetze. Kolumbien fürchtet
als zweitgrößter Blumenexporteur der Welt zu Recht um
seine Absatzchancen, wenn Rot-Grün die Mehrwertsteuer
auf Schnittblumen erhöht.
({3})
Zweitens. Grundvoraussetzung für einen Friedensprozess ist die Respektierung der demokratisch gewählten
Institutionen. Mehrere Mitglieder des kolumbianischen
Kongresses sind derzeit entführt und können ihr Abgeordnetenmandat nicht wahrnehmen. Ein Drittel aller Bürgermeister kann das Amt nicht ausüben oder sie müssen
von anderer Stelle ihre Tätigkeit ausüben als vom Rathaus
aus, in das sie gewählt wurden. Wir, der Deutsche Bundestag, sollten zusammen mit Parlamentariern anderer Länder eine gemeinsame Initiative starten, um den Druck auf
die Guerilla zur Freilassung unserer Kolleginnen und
Kollegen und zur Gewährleistung freier Mandatsausübung deutlich zu erhöhen.
({4})
Herr Fischer, auch Ihnen herzliche Glückwünsche zu
Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause. Ich wünsche
Ihnen persönlich und politisch alles Gute.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Tribüne verfolgen Gäste aus Kolumbien unsere Debatte. Dies sind der
Präsident des kolumbianischen Kongresses, Señor
Alfredo Ramos Botero, und die anderen Mitglieder seiner Delegation. Herzlich willkommen im Deutschen
Bundestag!
({1})
Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Karin
Kortmann, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte, liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Buenas tardes señores senadores del
Parlamento Colombiano!
({0})
Knapp 30 Jahre Bürgerkrieg in Kolumbien hinterlassen Spuren: Inzwischen sind etwa 2,5 Millionen Menschen aufgrund der bewaffneten Auseinandersetzungen
zwischen Militär, Guerilla und Paramilitärs sowie aufgrund der unzureichenden Drogenpolitik des kolumbianischen Staates auf der Flucht. Alle bewaffneten Gruppen
verletzen seit Jahrzehnten nachweislich die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht.
Diese Situation in Kolumbien beschreiben Sie in Ihrem
Antrag sehr korrekt, liebe Kollegen und Kolleginnen der
Union. Allerdings stimme ich Ihnen in Bezug auf die
Konsequenzen, die Sie aus Ihrer Analyse ziehen, und auf
Ihre Handlungsaufforderungen an die Bundesregierung in
keiner Weise zu. Sie konterkarieren und widersprechen
der in diesem Hause beschlossenen Kolumbienpolitik.
Wir haben uns vor anderthalb Jahren dafür eingesetzt,
dass es zu einer Rückgewinnung der staatlichen Autorität,
der Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie,
der Wahrung der Menschenrechte, der Versöhnung der bewaffneten Konfliktparteien und vor allem zu einer regionalen Stabilisierung kommt.
Unter der Überschrift „Neue Initiative zur Wiederbelebung des kolumbianischen Friedensprozesses international unterstützen“ fordern Sie gar die Unterstützung des
„Plan Colombia“. Diese Forderung zieht sich wie ein roter Faden durch Ihren Antrag. Das ist nicht nur ein Griff
in die Mottenkiste, sondern ein äußerst gefährliches Unterfangen, den Friedensprozess mit militärischen Mitteln
wiederzubeleben.
Ich erinnere: Der von der Regierung Pastrana im
Jahr 2000 ausgearbeitete nationale Entwicklungsplan
sollte die Basis für eine Befriedung des Landes schaffen;
das Hauptgewicht wurde aber auf die Bekämpfung des
Drogenanbaus und des Drogenhandels mit militärischen
Mitteln gelegt. Aus diesem Grund hat ein breites Bündnis
internationaler Menschenrechtsorganisationen, kirchlicher Hilfswerke, der EU, auch und gerade der deutschen
Bundesregierung und des Deutschen Bundestages den
„Plan Colombia“ abgelehnt. Wenn Sie sich schon Anträge
von Nichtregierungsorganisationen schreiben lassen,
dann verfolgen Sie bitte auch deren Intention, was den
„Plan Colombia“ angeht, und nehmen Sie keine Verdrehungen im Antragstext vor!
Hartwig Fischer ({1})
Hartwig Fischer ({2})
({3})
Großflächige Besprühungen von Drogenkulturen mit
Pestiziden aus der Luft zerstören nicht nur Kokafelder,
sondern jegliche landwirtschaftliche Produktion in den
betroffenen Gebieten. Außerdem bedrohen sie die Gesundheit der Bevölkerung. Daher setzt die Bundesregierung unter Federführung des BMZ im Rahmen der EU auf
eine entwicklungsorientierte, alternative Bekämpfung
des Drogenanbaus, zum Beispiel durch die Substitution
von Drogenpflanzungen durch andere, legale Anbaukulturen sowie durch Aufforstungsmaßnahmen im Rahmen
einer nachhaltigen Waldwirtschaft, die vom BMZ verantwortet wird.
In betroffenen Regionen, zum Beispiel Cauca, hat sich
gezeigt, dass durch die Besprühungsaktionen die Zahl der
Binnenvertreibungen ansteigt und das ökologische
Gleichgewicht massiv zerstört wurde. Ein solches Problem macht auch an den Landesgrenzen nicht Halt. Das
gilt gerade im Fall Kolumbien, dessen bewaffneter Konflikt auf die Nachbarländer übergreift.
Wir brauchen nicht nur eine kolumbianische, sondern
auch eine regionale Perspektive.
({4})
Diese muss Alternativen zu den militärisch-repressiven
Komponenten des „Plan Colombia“ und der daraus weiterentwickelten „Andean Regional Initiative“ der BushAdministration bieten; sonst ist eine Militarisierung der
gesamten Region zu befürchten.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit engagiert
sich sowohl im Rahmen der EU als auch im Rahmen ihrer bilateralen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit
für eine Verbesserung der Lage in Kolumbien. Neben
Umwelt- und Ressourcenschutz sind Friedensentwicklung
und Konfliktbewältigung die Schwerpunkte. Während der
Regierungsverhandlungen im April 2001, Herr Fischer,
hat die Bundesregierung gar eine Verdoppelung ihrer bilateralen Unterstützungsleistungen zugunsten des Friedensprozesses vorgenommen. Damit hat Heidemarie
Wieczorek-Zeul einen Demokratiebonus für die PastranaRegierung und den Friedensprozess gegeben.
({5})
Allerdings müssen wir feststellen, dass Pastrana mit
seinem „Plan Colombia“ gescheitert ist und dass die Politik, die Sie meine Damen und Herren von der Union,
jetzt auch noch unterstützen wollen, sicherlich nicht sehr
zukunftsfähig ist.
Die so genannte Politik der harten Hand seines
Nachfolgers, Präsident Uribe, die vor allem auf eine militärische Konfliktlösung setzt, muss von der internationalen Staatengemeinschaft äußerst kritisch beobachtet
werden.
({6})
- Selbstverständlich, Herr Ruck; schauen Sie hin! - Mit
der Erklärung des Ausnahmezustands kurz nach der
Amtsübernahme von Präsident Uribe wurden bestimmte
Grundrechte wie die Bewegungs-, die Versammlungsund die Pressefreiheit eingeschränkt und gleichzeitig dem
Militär polizeiliche Aufgaben übertragen.
Menschenrechtsverletzter können in Kolumbien nach
wie vor mit weitgehender Straflosigkeit rechnen. Das ist
ein Schlüsselproblem des bewaffneten Konflikts, da mangelnde Strafverfolgung ein Hauptanreiz für weitere
Gewalt ist. Das Büro des VN-Hochkommissariats für Menschenrechte in Bogotá hat Kolumbien nach wie vor mangelnde Strafverfolgung in hohem Maß, mangelndes Vorgehen gegen Angehörige des Staatsapparates und eine unklare
Trennung zwischen ziviler und militärischer Gerichtsbarkeit bescheinigt sowie Empfehlungen zur Bekämpfung der
mangelnden Strafverfolgung ausgesprochen. Die kolumbianische Regierung muss diese Maßnahmen endlich umsetzen, gerade im Hinblick darauf, dass eine stärkere Mittlerrolle der internationalen Staatengemeinschaft im
kolumbianischen Konflikt von Präsident Uribe ausdrücklich gewünscht ist.
Zu diesem Problem gehört auch, dass Kolumbien kürzlich dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zwar
beigetreten ist, allerdings mit einem siebenjährigen Vorbehalt für Verbrechen gemäß Art. 8. Das bedeutet, dass
erst in sieben Jahren Kriegsverbrecher für Vergehen, die
sie dann begehen, international zur Verantwortung gezogen werden können.
Selbstverständlich muss der kolumbianische Staat
sein Gewaltmonopol wieder herstellen, um die Wahrung
der Menschenrechte sowie der Rechtsstaatlichkeit überhaupt zu garantieren und auch eine Ausweitung eines
Konflikts auf die gesamte Andenregion zu verhindern.
Hierzu bedarf es aber unserer Begleitung und Unterstützung in den Bereichen Rechtsstaatsförderung, Verteidigung der Menschenrechte, Kampf gegen Ursachen der
Gewalt, Schutz der Biodiversität und Bekämpfung des
Drogenanbaus durch eine nachhaltige ländliche Entwicklung und nicht einer Unterstützung des „Plan Colombia“.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kolumbien braucht und verdient unsere Aufmerksamkeit.
Kolumbien ist ein geschundenes Land. Die Kolumbianer
sind ein geschundenes Volk. Sie verdienen unsere uneingeschränkte Unterstützung. Ich habe mich übrigens
besonders darüber gefreut, Herr Fischer, dass Sie die Solidarität mit unseren parlamentarischen Kollegen angemahnt haben.
({0})
Es ist ein unglaublicher Skandal, den wir, egal wo wir politisch stehen mögen, nicht einfach hinnehmen dürfen.
({1})
Ich habe bei der Vorbereitung auf diese Rede noch einmal die Debatte vom 5. Juli 2000 nachgelesen. Ich bin zu
dem Schluss gekommen, dass es zwei Möglichkeiten gibt:
dass ich entweder die Rede von damals zu Protokoll gebe
oder sie einfach noch einmal vorlese, ohne dass jemand
merken wird, dass sie vor drei Jahren schon einmal gehalten worden ist; denn die Probleme haben sich nicht
nachhaltig geändert. Es ist keine wesentliche Besserung
eingetreten. Bestimmte Dinge haben sich eher noch verschärft. Die Situation ist fast noch verzweifelter geworden. Wir müssen nur einige Namen ändern. Es ist ein
neuer Präsident im Amt, der mit großem Engagement versucht, an die Dinge heranzugehen, und dabei bisher erstaunlicherweise keinen Abbau seiner hohen Popularitätswerte in Kauf nehmen muss, obwohl er den Menschen
weiß Gott viel abverlangt.
Die Schwierigkeiten sind nach wie vor enorm groß.
Die Kollegin und der Kollege haben das sehr nachdrücklich vorgetragen. Ich verzichte darauf, das zu wiederholen.
Die Sicherheitslage bzw. die Unsicherheitslage - so sagen wir wohl besser - ist neben der Korruption sicherlich
der größte Hemmschuh für Auslandsinvestitionen, für
Tourismus, für eine wirtschaftliche Entwicklung und insbesondere für eine Verbesserung der sozialen Lage der
Menschen. In dieser Situation ist die Europäische Union
sehr viel mehr gefordert, als das in Brüssel offensichtlich
gesehen wird. Wir sind im Hinblick auf den europäischen
Ansatz für Kolumbien gegenüber der Debatte, die wir vor
drei Jahren geführt haben, noch nicht entscheidend weitergekommen. Wir sollten dort weiterhin Druck machen.
({2})
Dass es hier und da Fortschritte gegeben hat, ist nicht
zuletzt auch der Initiative vieler Nichtregierungsorganisationen und der Kirchen zu danken. Deren Engagement mit
vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die ein großes
persönliches Risiko eingehen, sollten wir an dieser Stelle
würdigen.
({3})
Ich halte es für zwingend erforderlich, dass wir in einer ganz beachtlichen Breite die Zusammenarbeit mit Kolumbien suchen. Ich fürchte - das ist der Punkt, bei dem
ich zwar unvoreingenommen, aber doch mit einer gewissen Grundskepsis an den „Plan Colombia“ und den jetzt
vorliegenden Antrag der Unionsfraktionen herangehe -,
die schärfere Fokussierung der militärischen Dimension
kann es nicht sein.
({4})
Ich bin durchaus nicht so naiv, davon auszugehen, dass
wir nur mit alternativen Anbauprojekten oder mit Sozialprojekten die Probleme in den Griff kriegen könnten. Die
repressive Dimension muss mit Sicherheit vorhanden sein
und geschärft werden, auch durch unsere Hilfe. Aber ich
finde es doch schon sehr bedenklich, wenn wir uns sehr
stark auf die militärische Dimension des Problems stützen. Problematisch sind Reaktionen weit über die Putumayo-Region hinaus.
Gleichzeitig sind in den letzten Jahren unsere Ansätze
für Polizeihilfe in den Etats sowohl des Außenministers
als auch des Innenministers immer weiter zurückgefahren
worden. Hier war in den letzten Jahren hervorragende Arbeit geleistet worden.
({5})
Ich will es bei diesen wenigen kritischen Anmerkungen, die in 180 Sekunden möglich sind, belassen. Ich sage
noch einmal: Die FDP-Fraktion geht unvoreingenommen
in die Diskussion in den Ausschüssen. Ich möchte aber
eine gewisse Skepsis, gerade was die sehr starke Fokussierung auf den „Plan Colombia“ angeht, nicht verhehlen.
Danke schön.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Hundert Jahre Einsamkeit“ - das ist der Titel des bekannten Buches von Gabriel García Márquez, des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers. Angesichts der
Tragödie, die sein Land zurzeit durchlebt, erhält dieser Titel eine ganz neue Bedeutung: 50 Jahre latenter Bürgerkrieg und kein Ende in Sicht.
Seit 1998 hat sich die Lage aufgrund der Wirtschaftskrise noch weiter zugespitzt: Jahr für Jahr Tausende von
Ermordeten, Tausende von Entführten und mehr als zwei
Millionen Flüchtlinge. Nächsten Sonntag ist es ein Jahr
her, dass die grüne Präsidentschaftskandidatin Ingrid
Betancourt von der FARC-Guerilla entführt wurde. Mit
ihr gemeinsam befinden sich 23 weitere Politiker in Geiselhaft der Guerilla.
Ich will dieses Szenario des Schreckens nicht noch
weiter ausbreiten. Es ist von den Rednerinnen und Rednern vor mir schon ausreichend dargestellt worden.
Es liegt jetzt ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion vor.
Richtig an dem Antrag ist die grundlegende Aussage, dass
sich etwas ändern muss, dass die internationale Gemeinschaft nicht länger wegsehen darf, dass Kolumbien Unterstützung braucht. Bitter notwendig - im wahrsten
Sinne des Wortes: Not wendend - sind neue Impulse für
einen Friedensprozess, einen Prozess, der international
begleitet und unterstützt werden muss.
Ich möchte keinen Zweifel daran aufkommen lassen,
dass insbesondere die FARC-Guerilla schwerste Verbrechen begangen hat und begeht. Das muss beim Namen genannt werden, auch von allen Fraktionen im Deutschen
Bundestag. Schlimmste Gewaltverbrechen gehen aber
auch auf das Konto der ultrarechten Paramilitärs. Darin
liegt ein Problem, weil zwischen den Paramilitärs und den
offiziellen Regierungstruppen immer wieder eine Komplizenschaft beobachtet werden kann.
Die Menschenrechtslage ist diffus. Menschenrechtsverletzungen werden den verschiedenen Guerillaverbänden, den Paramilitärs, der Drogenmafia, aber auch den so
genannten Sicherheitskräften der Regierung vorgeworfen.
Aus dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion spricht für
mich eine zu unkritische Haltung gegenüber der Regierung von Álvaro Uribe. Grundlegende Reformen im Bereich des kolumbianischen Militärs und der Polizei sind
unbedingt notwendig. Menschenrechtsstandards müssen
endlich eingehalten werden. Die Verbrechen der Paramilitärs müssen verfolgt werden. Darüber wurde meistens
stillschweigend hinweggegangen.
Im Mittelpunkt des CDU/CSU-Antrags steht der „Plan
Colombia“. Sie wissen, EU und Bundesregierung stehen
diesem „Plan Colombia“ mit großer Skepsis gegenüber.
Viele Nichtregierungsorganisationen und besonders auch
die kirchlichen Hilfswerke halten diesen Plan für ein ganz
untaugliches Mittel. Ich schließe mich dieser Einschätzung an. Der „Plan Colombia“ verschlimmert die Situation eher, als dass er einen Lösungsweg aufzeigen könnte.
Erinnern wir uns an seine Entstehung: Der ehemalige
Staatspräsident Pastrana ließ diesen Plan von seinen Unterhändlern in ganz enger Abstimmung mit dem US State
Department ausarbeiten. Monatelang lag dieser Plan nur
auf Englisch vor. In diesem Plan geht es vor allem um
Waffenlieferungen und Flugeinsätze mit Entlaubungsmitteln.
({0})
Soll eine tragfähige Grundlage für wirklichen Frieden
und nicht Friedhofsruhe entstehen, dann kann dies nicht
mit Mitteln des Vietnamkrieges geschehen.
Die EU hat sich darauf verständigt, zivile Programme
zu unterstützen, die auf die Bekämpfung der wirklichen
Ursachen der Gewalt abzielen. Die Menschen in Kolumbien brauchen eine Perspektive. Bauern, die sich in einer
wirtschaftlichen Notlage befinden und sich deshalb gezwungen sehen, Koka anzubauen, sollten mit staatlicher
und internationaler Hilfe die Möglichkeit bekommen, auf
den Anbau anderer Produkte umzusteigen. Es laufen bereits Projekte, mit denen versucht wird, besonders im Bereich der nachhaltigen Land- und Forstwirtschaft neue
Einkommensquellen zu erschließen. Eine Landreform ist
dringend notwendig. Insbesondere die kleinbäuerliche
Landwirtschaft braucht dringend Unterstützung. All das
ist segensreicher als Militäraktionen und das Besprühen
der Kokafelder aus der Luft mit Gift; denn das Gift zerstört nicht nur die Kokapflanzen, sondern auch die Böden
und macht Landwirtschaft für eine längere Zeit unmöglich.
Nötig sind neue Impulse für umfassende Friedensverhandlungen, die transparent und - das ist ganz wichtig unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft geführt werden
müssen. In Abstimmung mit den Vereinten Nationen und
der Organisation Amerikanischer Staaten sollte sich die
EU viel stärker in diesen Prozess einbringen. Auch der
UN-Hochkommissar für Menschenrechte muss in diesen
multilateralen Friedensprozess aktiv einbezogen werden.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sollte diesen
Prozess noch stärker als bisher mit der Förderung der
nachhaltigen Land- und Forstwirtschaft, mit Projekten
des zivilen Friedensdienstes und mit Hilfen bei der Reform des Justizwesens und der öffentlichen Verwaltung
flankieren. Ein Menschenrechtsmonitoring ist unerlässlich.
Es gibt viel zu tun in Kolumbien und für Kolumbien.
Die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft könnte
dazu führen, dass der Konflikt auf die Nachbarstaaten
übergreift. Wie gesagt: Es gibt viel zu tun. Der „Plan Colombia“ ist jedoch das falsche Mittel. Deshalb lehnen wir
den Antrag der CDU/CSU-Fraktion ab. Wir setzen auf zivile Mittel, auf Verhandlungen, auf die Beseitigung der
Ursachen des Konflikts und nicht auf Gewalt. Den Frieden mit Mitteln anzustreben, die ihm nicht zuwiderlaufen,
darauf kommt es an. Wir werden einen neuen Antrag einbringen, der in diese Richtung geht.
Danke schön.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus-Jürgen Hedrich,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich will nicht verhehlen, dass es mich besonders freut, dass mehr oder weniger durch einen Zufall
auch mein Freund Alfredo Ramos, Präsident des kolumbianischen Kongresses, heute an dieser Diskussion teilnehmen kann. Nehmt bitte auch unsere Sympathien für
die besondere Problematik in Kolumbien zur Kenntnis.
({0})
Wir haben in diesem Hause in den letzten Jahren des
Öfteren zum Ausdruck gebracht, dass wir es nicht zulassen dürfen, dass sich weltweit bzw. über die Welt zerstreut
Zonen der Ordnungslosigkeit bilden. Das gilt nicht nur für
Afghanistan, nicht nur für den Irak, nicht nur für Somalia,
sondern natürlich auch für Teile des geschundenen Landes - das sehen ja alle genauso - Kolumbien.
Der Ansatz der neuen Administration - übrigens nicht
nur der Regierung, sondern auch der Mehrheit des neu gewählten Kongresses - ist im Unterschied zu Pastrana, der
übrigens gerade von der politischen Klasse stark gewürdigt wird, nicht allein auf den Frieden an sich zu setzen;
denn die Menschen in Kolumbien haben den neuen Präsident gerade deswegen gewählt, weil er dem Punkt Sicherheit eine stärkere Bedeutung einzuräumen versprach,
als es in der Vergangenheit der Fall war. Ich kann dazu nur
sagen: Wenn es nicht gelingt, im Land ein größeres Maß
an Sicherheit herzustellen und schrittweise wieder mehr
Regionen unter die Kontrolle der gewählten und demokratisch legitimierten Regierung von Kolumbien zu bringen, dann wird sich auch mittel- und langfristig nicht viel
in diesem Lande ändern.
({1})
Natürlich hat die Frau Kollegin Kortmann Recht, wenn
sie darauf verweist, dass militärische Aspekte allein nicht
ausreichen. Aber, werter Kollege Hoppe, ich habe den
Eindruck - ich bitte, es mir nicht übel zu nehmen, wenn
ich das so deutlich formuliere -, Sie haben den „Plan Columbia“ nicht gelesen - abgesehen davon, dass er nicht
im Zentrum unseres Antrages steht, den Sie wahrscheinlich auch nicht richtig gelesen haben.
Es geht um Folgendes: Der „Plan Columbia“ hat auch
eine militärische Komponente, aber es überwiegen eindeutig die nicht militärischen Komponenten. Das sollten
wir ebenfalls einmal zur Kenntnis nehmen.
Die Bürger dieses Landes gehen davon aus, dass die
Regierung Sicherheit gewährleisten muss. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Ich habe vor Jahr und Tag - das ist vielleicht schon zehn Jahre her - mit einer Delegation von Angehörigen der indigenen Bevölkerung aus dem Cauca
gesprochen. Sie haben mir damals gesagt, dass ihr vorrangiges Interesse darin bestehe, dass sie mit dem gesamten Konflikt in Kolumbien nichts zu tun haben wollen
({2})
- einen Augenblick! -, sondern in Ruhe gelassen werden
wollen. Ich habe bereits damals gesagt: Meine Erfahrungen aus anderen Regionen der Welt zeigen mir, dass man
in einem Bürgerkrieg langfristig nicht neutral bleiben kann,
dass man irgendwann Partei ergreifen muss.
Die gleiche Delegation war jetzt auf Einladung von
Pax Christi Holland in Deutschland. Insbesondere der
Gouverneur, ein Indigina, hat mir gesagt, für sie sei es
klar: Sie unterstützten den Ansatz des neuen Präsidenten,
weil sie hofften, dass mittelfristig mehr Sicherheit für die
Bürger eintrete.
Wir sollten uns nicht täuschen, indem wir glauben, das
sei ein Konflikt, für den wir uns nur als Außen- und Entwicklungspolitiker interessieren. Nein, die Vorgänge in
Kolumbien berühren unmittelbar unsere eigene Sicherheit. Das müssen wir uns immer wieder vor Augen
führen.
Es ist ganz eindeutig, wie der letzte Anschlag zustande
gekommen ist. Die FARC wird von allen Terroristenexperten für nicht fähig gehalten, einen solchen Anschlag
alleine durchzuführen. So war es kein Wunder, dass vor
kurzem drei Angehörige der IRA in Bogotá verhaftet
wurden, die hinter diesem Anschlag steckten.
Wir wissen seit langem, dass es Kontakte zwischen der
IRAund der Guerilla und Kontakte zwischen der ETAund
der Guerilla gibt. Das macht deutlich: Es handelt sich
nicht nur um einen regionalen Konflikt, sondern um einen
Konflikt, der uns unmittelbar berührt. Darauf sollten wir
uns entsprechend einstellen.
Unterhalten Sie sich einmal mit den Repräsentanten
ausländischer Firmen, auch einer Reihe von deutschen
Firmen, in Bogotá. Diese werden Ihnen mitteilen, dass sie
in dem Konflikt in Kolumbien in der letzten Zeit in dieser
klassischen Form zum ersten Mal durch die Guerilla bedroht werden. Auch dadurch wird deutlich: Dieser Konflikt ist nicht einzig und allein ein nationaler.
Deshalb habe ich durchaus Verständnis dafür, wenn die
kolumbianische Regierung in bestimmten Fragen von
dem Konzept „Zero Tolerance“ ausgeht. Wer sich nicht
nach den demokratischen Spielregeln richten will, wer
- wie im Fall der Guerilla und der Regierung Pastrana nicht bereit ist, ausgestreckte Hände zu ergreifen, der darf
sich nicht wundern, wenn die Mehrzahl der Bürger irgendwann sagt: Jetzt reicht es, jetzt erwarten wir, dass die
staatliche Autorität so handelt, dass wir in Frieden und
Freiheit leben können.
Die FARC, die Guerilla - sie ist ja die Hauptkraft;
natürlich spielen auch die Paramilitares eine unangenehme Rolle, um keine andere Formulierung zu wählen ({3})
ist letzten Endes der eigentliche Störfaktor in diesem
Lande. Deshalb sind wir klug beraten, wenn wir in Kolumbien alle Gruppen unterstützen, die darauf ausgerichtet sind, freiheitliche, marktwirtschaftliche und demokratische Reformen durchzusetzen. Das liegt nicht nur im
Interesse des Volkes von Kolumbien, sondern auch in unserem eigenen Interesse.
Herzlichen Dank.
({4})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Anke
Hartnagel, SPD.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Señoras
y señores! Jede mögliche Unterstützung zur Verbesserung
der Situation der Bevölkerung in Kolumbien, die seit Jahrzehnten unter den Konflikten leidet, ist recht, aber nicht
jedes Mittel. Das sage ich hier eindeutig.
({0})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, in Ihrem
Antrag vermisse ich einige Punkte, zum Beispiel die Situation der Binnenflüchtlinge. Die Situation in Kolumbien kommt einer humanitären Katastrophe gleich. Inzwischen sind über 2,5 Millionen Menschen, darunter vor
allem Frauen und Kinder, im eigenen Land auf der Flucht;
das sind mehr als die Bevölkerung der Stadt Hamburg.
Die gewaltsamen Vertreibungen haben damit einen dramatischen Höhepunkt erreicht und es ist keine Besserung
der Situation in Sicht. Im Gegenteil: Die Zivilbevölkerung wird immer mehr in den gewaltsamen Konflikt zwischen Guerilla, Paramilitärs, Drogenmafia und Armee
hineingezogen. Diese vier Gruppen muss man einmal klar
benennen. - Sie können ruhig zuhören, Herr Kollege
Hedrich.
Waren im Jahr 2000 43 Prozent der Gemeinden von
interner Vertreibung betroffen, so hat sich diese Zahl allein in den letzten zwei Jahren auf 86 Prozent verdoppelt.
Das bedeutet: Das Problem hat sich von der lokalen Ebene
auf das gesamte Staatsgebiet ausgeweitet. Regierungsvertreter behaupten nun, die Flüchtlinge würden gut versorgt
und die Kinder könnten zur Schule gehen. Aber in der
Realität sieht das ganz anders aus. Oft werden die Menschen, insbesondere die indigenen Volksgruppen und die
ländliche Bevölkerung, weiter verfolgt. Von vernünftiger
Ernährung oder gar Schule kann überhaupt nicht die Rede
sein.
Die längst überfällige Landreform, von der auch Sie
schon gesprochen haben - von Pastrana bereits angekündigt und auch von Uribe versprochen -, die die Rechte der
Landbevölkerung verbessern kann, kommt nicht. Im Gegenteil: Immer mehr Menschen fliehen in die Stadt. Ihre
soziale Situation ist verheerend und verschlechtert sich
immer weiter. 67 Prozent der kolumbianischen Bevölkerung leben offiziell unter der Armutsgrenze. Mehr als
3 Millionen Kinder und Jugendliche haben keinen Zugang zu einer Ausbildung. Während die Regierung Uribe
immer wieder ihr soziales Engagement betont, wird doch
deutlich: Uribes Politik der harten Hand steht im Vordergrund.
Natürlich muss alles dafür getan werden, das staatliche
Gewaltmonopol wieder durchzusetzen, den Drogenhandel zu bekämpfen und die Friedensverhandlungen wieder
aufzunehmen, aber nicht mit jedem Mittel und nicht zu jeder Bedingung.
Besorgniserregend sind vor allem die Maßnahmen der
Regierung, um die Zivilbevölkerung einer fast vollständigen Kontrolle zu unterwerfen. Insbesondere spreche ich
den Ausbau eines zivilen Netzes von Informanten an, wie
zum Beispiel private Wach- und Sicherheitsdienste, von
denen eigentlich jeder weiß, wie schlecht bezahlt und
schlecht kontrolliert sie werden. Das halte ich für sehr bedenklich. Der Ausbau eines Informationsnetzes und die
privaten Sicherheits- und Wachdienste haben in einer Gesellschaft, die so viel Ressentiments angestaut hat und so
viel Armut kennt, fatale Folgen. Jeder und jede wird verdächtigt und jeder kann jeden denunzieren. Das ist eine
äußerst gefährliche Entwicklung, der unbedingt entgegengewirkt werden muss.
Zwei letzte wichtige Aspekte, die im Antrag der CDU/
CSU leider völlig außer Acht gelassen werden, sind noch
zu erwähnen: die Situation der Gewerkschaften und die
der Medien und Journalisten. Die paramilitärischen Gruppen selektieren bei ihren Auftragsmorden zunehmend.
Ihre Hauptopfer sind Gewerkschafter und Journalisten.
151 Gewerkschaftsführer wurden im Jahr 2002 ermordet,
75 Journalisten wurden bedroht, 12 entführt und vier ermordet. Aufgrund der kontinuierlichen Bedrohung und
des großen Verlustes an Führungskräften ist die Gewerkschaftsbewegung Kolumbiens in ihrem Kampf um die
Wahrung der Arbeitnehmerrechte und für eine verbesserte
soziale Situation stark beeinträchtigt. Mehr denn je sind
die Gewerkschaften deshalb auf internationale Solidarität
und Kooperation angewiesen.
({1})
Die Situation der Journalisten sieht nicht viel besser
aus. Sie müssen unter Druck und Angst arbeiten. Obwohl
Präsident Uribe die Pressefreiheit unter keinen Umständen einschränken will, haben einige Studien inzwischen
erschreckend festgestellt: Die Kriegssituation zwingt die
Presse vermehrt zum Schweigen, die Informationsqualität
und die Ausdrucksfreiheit verschlechtern sich in Kolumbien weiter.
({2})
Die Tageszeitung „El Espectador“ hat sich in eine Wochenzeitung umgewandelt. Damit bleibt nur noch eine
einzige Zeitung mit nationaler Verbreitung, nämlich „El
Tiempo“.
Noch zwei Bemerkungen: Der „Plan Colombia“ ist
richtig und gut. Aber er wird meines Erachtens - das ist
das Problem - nur einseitig umgesetzt, und zwar militärisch. Die anderen Maßnahmen, die angekündigt worden sind, sind bisher keineswegs in Angriff genommen
worden.
({3})
- Nein. - Es wäre wünschenswert - das möchte ich ausdrücklich sagen -, wenn sich das Parlament noch mehr
einmischen und den „Plan Colombia“ unterstützen würde.
Ein letzter Satz zu den USA: Die USA würden es begrüßen, wenn sie im Hinblick auf die IRA und andere Terrorgruppen in diesem Land, deren Mitglieder sie festgenommen haben, letztendlich dazu kommen könnten, die
Antiterrorgesetze in Kraft zu setzen. Das, so denke ich, ist
eine gefährliche Situation.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/203 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über eine einmalige Entschädigung an die Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet ({0})
- Drucksache 15/407 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hartmut Büttner, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Angesichts dessen, dass es bei der SPD einen Regiefehler gegeben hat - der Kollege Gerold Reichenbach, der als erster Redner vorgesehen war, ist noch nicht anwesend -,
beginne ich natürlich gerne als erster Redner zu diesem
Tagesordnungspunkt.
Die Entschädigung von Spätheimkehrern, welche auf
das Gebiet der früheren DDR entlassen worden sind, ist
wahrlich kein Ruhmesblatt für den Deutschen Bundestag,
und zwar für alle Fraktionen, einschließlich meiner eigenen.
({0})
Allerdings hat unser Parlament in den vergangenen zwölf
Jahren eine ganze Reihe von Unterstützungsleistungen
und Entschädigungen für die unterschiedlichsten Opfergruppen beschlossen. Es handelte sich sowohl um Opfer
des SED-Regimes als auch um Opfer des Zweiten Weltkrieges, die in der DDR keinerlei Unterstützung bekommen haben. So konnte das vereinte Deutschland bei
vielen Betroffenen zumindest nachträglich für etwas Gerechtigkeit sorgen.
({1})
Nur eine Gruppe von Menschen mit einem besonders
schweren Schicksal ist bisher völlig vernachlässigt worden: Es handelt sich um Menschen, die zwei oder mehr
Jahre in Kriegsgefangenschaft waren. Die letzten von ihnen sind im Jahre 1955 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Ich erinnere an die ergreifenden
Szenen, als sie endlich im Lager Friedland ankamen.
Die Kriegsgefangenen, die in das westliche Deutschland entlassen worden sind, erhielten Leistungen nach
dem so genannten Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz. Für jeden Monat des Festhaltens in fremdem Gewahrsam gab es für die nach 1947 Entlassenen zunächst
einmal eine monatliche Entschädigung von 30 DM. Wenn
sie nach 1949 entlassen wurden, erhielten sie pro Haftmonat 60 DM. Die Gesamtentschädigung war auf einen
Höchstbetrag von 12 000 DM gedeckelt. Kriegsgefangene mit dem gleichen Schicksal, die in die SBZ bzw. die
spätere DDR entlassen worden sind, erhielten außer
50 Ostmark keine weitere Entschädigungsleistung.
Die westdeutschen Bestimmungen sind nach der Wiedervereinigung nicht auf die Leidensgefährten in den
neuen Bundesländern übertragen worden.
({2})
Ein Hauptgrund für die Entschädigungsleistungen im
Westen sei der Aspekt der Eingliederung in die deutsche
Gesellschaft gewesen. Dieser Aspekt sei jedoch 45 Jahre
nach Kriegsende abgeschlossen gewesen. Nur Leistungen
der Heimkehrerstiftung zur Linderung einer aktuellen sozialen Notlage gibt es seit 1993 auch für Betroffene in den
neuen Ländern.
Heute wird vielfach gesagt, das Schicksal dieser Menschen sei ohnehin nicht mit Geld ungeschehen zu machen.
Das ist wohl richtig und wahr. Wer so argumentiert, übersieht aber, dass sich die Spätheimkehrer bereits in der
DDR als Menschen zweiter Klasse fühlen mussten. Sie
wurden häufig sogar als Kriegsverbrecher hingestellt. Ihnen wurde ein großes Maß an Schuld für die Schandtaten
des Nationalsozialismus aufgetragen.
Auch das vereinte Deutschland unternahm leider
nichts, um die nach Ostdeutschland entlassenen Spätheimkehrer ihren Westkollegen gleichzustellen.
({3})
Ich bekenne freimütig, liebe Frau Stokar, dass auch ich
die ganze Dimension des persönlichen Zurückgesetztseins dieser ehemaligen Kriegsgefangenen zunächst nicht
erkannt habe. Erst seit sich Zusammenschlüsse der
Kriegsgefangenen auch in meinem Wahlkreis gebildet haben, bin ich auf die tiefe Verbitterung dieser Menschen gestoßen. „Es war doch derselbe Krieg, in dem wir unseren
Kopf hinhalten mussten, wir hatten doch den Hunger, die
Zwangsarbeit, die Entbehrung genauso zu ertragen wie
unsere Leidenskollegen, die auf die deutsche Sonnenseite
entlassen worden sind“ war nur eine der vielen bitteren
Aussagen. Die Verbitterung wuchs noch, seit bekannt
wurde, dass die deutsche Gesellschaft 10 Milliarden DM
als Wiedergutmachung für ausländische Zwangs- und
Sklavenarbeiter zu zahlen bereit ist. Davon zahlt allein
7,5 Milliarden DM der deutsche Steuerzahler.
Es ist ziemlich zwecklos, den Betroffenen den juristischen Unterschied zwischen Kriegsgefangenen und
Zwangsarbeitern erläutern zu wollen. Das Gefühl mangelnder Gerechtigkeit treibt sie um und die mangelnde
Gerechtigkeit schreit nach einer schnellen und pragmatischen Lösung.
({4})
Deshalb hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bereits in
der letzten Legislaturperiode einen Vorschlag des interfraktionell besetzten parlamentarischen Beirats des
Heimkehrerverbandes aufgegriffen. Der Beirat hatte
eine Entschädigung so einfach wie möglich mit drei Jahresstufen bis zu 3 000 DM vorgeschlagen. Schnell und einfach musste diese Entschädigung kommen, denn die jüngsten Spätheimkehrer waren damals schon 75 Jahre alt.
Meine Damen und Herren, vorhin kam der Zwischenruf „Was haben Sie denn gemacht?“. Wenn kritisiert
wird, Union und FDP hätten in ihrer Regierungszeit eine
befriedigende Regelung für die Spätheimkehrer treffen
können, dann ziehe ich mir diese Jacke ganz bewusst an.
Jawohl, das ist richtig. Bei der Aufhebung des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes im Jahr 1992 gab es allerdings weder von meiner Fraktion noch von der FDP, aber
auch nicht von SPD, Grünen oder PDS einen entsprechenden Antrag. Wir alle gemeinsam haben also zu verantworten, dass wir diese Menschen im Stich gelassen haben. Erklärend, nicht entschuldigend will ich hinzufügen:
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Hartmut Büttner ({5})
Ich kenne außer den Spätheimkehrern allerdings auch
keine andere gesellschaftliche Gruppe in unserem Land,
die überhaupt keine Fürsprecher - in Neudeutsch auch
Lobby genannt - hat. Im Gegensatz zu anderen Verbänden - ich nenne hier beispielhaft nur die Verbände der
Heimatvertriebenen - hat es Anfang der 90er-Jahre auch
keine besonderen Bemühungen der westdeutschen Heimkehrerverbände gegeben. Zumindest habe ich davon
nichts gemerkt.
Eine Entschädigungszahlung wäre damals wahrlich
möglich gewesen. Allein für die Einmalleistung an die
Heimatvertriebenen in den neuen Bundesländern haben
wir aus dem Bundeshaushalt 5,2 Milliarden DM ausgegeben. Nimmt man die großen finanziellen Aufwendungen
für andere Opfergruppen, beispielsweise für die SED-Opfer, noch hinzu, dann hätten auch die 90 Millionen DM für
die Spätheimkehrer aufgebracht werden können.
Jetzt wende ich mich an Sie, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen und der SPD: Es war ein
moralisches und politisches Armutszeugnis, dass Sie vor
zwei Jahren die Chance niedergestimmt haben, wenigstens
etwas späte Gerechtigkeit in Deutschland zu schaffen.
({6})
Lediglich das Kapital der Heimkehrerstiftung stockten
Sie im Jahr 2001 mit 5 Millionen DM etwas auf.
Ich habe bereits erwähnt, dass diese Leistungen seit
1993 auch auf die Heimkehrer, die auf das Gebiet der
neuen Bundesländer entlassen wurden, ausgedehnt worden sind. Allerdings erhalten Mittel der Stiftung nur die
ehemaligen Kriegsgefangenen und auch ihre hinterbliebenen Ehegatten, die heute noch zum Kreis der sozial bedürftigen Personen gehören. Damit hat nur ein kleiner Teil
der Spätheimkehrer aus den neuen Bundesländern diese
Leistungen erhalten. Die übergroße Mehrheit erhielt überhaupt nichts.
Jetzt hat der Bundesrat erneut einen Gesetzentwurf
vorgelegt, der auf eine Initiative der Länder Thüringen
und Sachsen zurückzuführen ist und im Wesentlichen mit
dem Gesetzentwurf meiner Bundestagsfraktion aus demSeptember 2000 inhaltlich übereinstimmt. Berechtigte,
welche 1947 und 1948 entlassen worden sind, sollen
500 Euro, die Entlassungsjahrgänge 1949 und 1950
1 000 Euro und diejenigen, die nach 1951 entlassen worden sind, 1 500 Euro erhalten. Es könnten so Gesamtkosten von bis zu 50 Millionen Euro zusammenkommen.
Allerdings sind von den vor zwei Jahren noch lebenden
30 000 berechtigten ehemaligen Kriegsgefangenen und
den circa 20 000 Geltungskriegsgefangenen - das sind
verschleppte Zivilpersonen mit gleichem Schicksal - bereits viele verstorben. Die genaue Zahl der heute noch lebenden Berechtigten konnte uns die Bundesregierung
nicht nennen.
Zu den Verstorbenen zählen auch die Herren Walter
Melzer und Robert Fauk aus Staßfurt in Sachsen-Anhalt,
welche mir in meinen Bürgersprechstunden die ganze
Tragweite der Ungerechtigkeit vor Augen geführt haben.
Die noch lebenden Berechtigten - sie sind hochbetagt haben keine Zeit mehr darauf zu warten, bis die Situation
bei unseren Staatsfinanzen etwas positiver aussieht.
Es wäre eine Schande für diesen Deutschen Bundestag,
wenn wir diesen Antrag erneut ablehnten.
({7})
Ich appelliere vor allem an Sie, an die Abgeordneten der
Regierungskoalition: Wir sollten jetzt die allerletzte
Chance für die Heimkehrer ergreifen und ein deutliches
Zeichen für soziale Gerechtigkeit in Deutschland setzen.
Besonders wir Abgeordneten aus den neuen Ländern haben die Verpflichtung, uns auf die Seite der Menschen, die
keinerlei Lobby haben, zu stellen. Ich hoffe, dass wir das
in den Ausschüssen schaffen werden.
Danke schön.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Gerold Reichenbach,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor circa einem Jahr hat sich dieses Haus schon einmal
mit dem Gesetzentwurf für eine einmalige Entschädigung
der Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet befasst. Es handelt sich - das wurde schon genannt - um den Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion vom 26. September 2000,
der nach zweiter Lesung abgelehnt wurde.
Heute beraten wir eine Neuauflage dieses Gesetzentwurfes in Gestalt eines Antrags der Freistaaten Sachsen
und Thüringen, eingebracht als Gesetzentwurf des Bundesrates. Dieser Gesetzentwurf konnte in der ausgehenden Legislaturperiode aus Zeitgründen nicht mehr beraten
werden. Der Bundesrat beschloss deshalb am 20. Dezember 2002 die erneute Einbringung des Entwurfes in unveränderter Form, mit dem wir uns heute befassen.
Die beiden Gesetzentwürfe gleichen sich teilweise bis
aufs Wort. Sie haben lediglich andere Aufhänger und etwas veränderte Schwerpunkte.
({0})
Im Jahre 2000 wurde als Aufhänger die Entschädigung
von ehemaligen NS-Zwangsarbeitern gewählt. Die damalige Gesetzesinitiative der CDU/CSU sorgte für erhebliche Aufregung bei den Heimkehrerverbänden und letztlich für Enttäuschung und Frustration ob der unnötig
geweckten Erwartung. Jetzt wird eine neue Argumentation verfolgt, nämlich dass eine Benachteiligung der
Kriegsgefangenen und so genannten Geltungskriegsgefangenen - das sind Zivilpersonen, die aus militärischen Gründen in Gewahrsam genommen wurden -, die
in die ehemalige DDR entlassen wurden, bestehe.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich die
Initiative des Bundesrates genau wie der von der
CDU/CSU vor zwei Jahren eingebrachte Gesetzentwurf
gegen das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz wendet, ein
Gesetz, das der gesamtdeutsche Gesetzgeber vor rund
zehn Jahren in diesem Hause - übrigens einmütig - beschlossen hat. Bis zum Ende Ihrer Regierungszeit 1998
haben Sie dieses Gesetz offensichtlich als gerecht und
ausgewogen angesehen und keine Initiative ergriffen.
({1})
Erst als Sie in der Opposition gelandet waren, sahen Sie
plötzlich Handlungsbedarf. Demjenigen, der andere Hintergründe zu sehen meint, bleibt dies unbenommen.
Wir erinnern uns: Das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz löste im Zuge der Wiedervereinigung zum 1. Januar
1993 das alte Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz ab.
Ohnehin - auch darauf muss hingewiesen werden - konnten seit dem 1. Januar 1968 nur noch Sowjetzonenflüchtlinge oder Aussiedler eine Entschädigung erhalten; denn bei
ihnen wurde unterstellt - das war die alte Systematik in der
Gesetzgebung der Bundesrepublik -, dass noch eine Eingliederungssituation vorlag. Damit war eindeutig festgestellt, dass die Kriegsgefangenenentschädigung immer den
Charakter einer Eingliederungshilfe hatte. Ehemalige
Heimkehrer oder Geltungskriegsgefangene in den neuen
Ländern waren - auch das war damals Ihre eigene Begründung - nach dieser Maßgabe nicht mit einzubeziehen.
({2})
Darüber bestand auch in der CDU/CSU ein allgemeiner
Konsens.
Ich möchte dies anhand der Begründung des Gesetzentwurfs über das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz belegen - ich darf zitieren -:
Einer uneingeschränkten Übertragung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes steht entgegen,
dass auch dort inzwischen mehr als 45 Jahre vergangen sind. Die Betroffenen sind eingegliedert.
({3})
Das waren Ihre eigenen Worte. Dies hat die Union 1992
in der Begründung geschrieben.
Diese rechtliche Ausgangssituation hat sich nicht geändert. Es gibt jedoch eine soziale Dimension. Dieser wurde
mit dem Heimkehrerstiftungsgesetz, welches insbesondere mit Blick auf die ehemaligen Kriegsgefangenen in
den neuen Ländern erlassen wurde, Rechnung getragen.
({4})
Um soziale Härten abzufedern, können nach dem Heimkehrerstiftungsgesetz Unterstützungsleistungen zur Linderung von Notlagen oder Leistungen zum Ausgleich von
Nachteilen in der gesetzlichen Rentenversicherung gewährt werden.
Dass das Heimkehrerstiftungsgesetz seine Funktion erfüllt hat und nach wie vor erfüllt, zeigt ein Blick auf die
Verteilung der Unterstützungsleistungen. Von den vom
1. Januar 1970 bis zum 31. Dezember 2002 gewährten
Unterstützungs- und Rentenzusatzleistungen sind nahezu
15 Prozent an Antragsteller in den neuen Ländern geflossen, obwohl diese erst seit 1993 antragsberechtigt sind.
Anders ausgedrückt: An die Antragsteller in den neuen
Ländern wird jetzt ungefähr dreimal mehr ausgezahlt als
an die Antragsteller in den alten Bundesländern. Dort besteht natürlich auch ein Nachholbedarf. Rentenzusatzleistungen und Unterstützungsleistungen für ehemalige
Heimkehrer wurden mehr als 23 000 Personen in den
neuen Bundesländern in einer Höhe von rund 31 Millionen Euro gewährt. Die aktuellen Antragszahlen sind
übrigens weiter steigend.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf noch etwas
hinweisen: Unterstützungsleistungen der Heimkehrerstiftung können bei Fortbestehen der Voraussetzungen wiederholt gewährt werden. Bei Nachweis einer Notlage ist
eine einmalige Unterstützung von maximal 4 090 Euro
möglich. Zum Vergleich: In Ihrem Gesetzentwurf ist eine
Entschädigung in Höhe von 500 bis 1 500 Euro vorgesehen. Ich kann also beim besten Willen keine fortbestehende Benachteiligung der Heimkehrer in die neuen Bundesländer erkennen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bergner?
Aber gerne.
Herr Kollege, weil ich den Betroffenen über die Debatte berichten möchte, frage ich Sie selbst auf die Gefahr
hin, dass ich Sie zu Wiederholungen von Aussagen
zwinge: Kann ich Ihre Aussagen so verstehen, dass Sie die
Zielgruppe, die mit dieser Gesetzgebung erreicht werden
soll, weder moralisch noch rechtlich für berechtigt halten,
eine entsprechende Zusatzleistung zu empfangen?
({0})
Die Frage ist erstens polemisch und trifft zweitens
nicht den Kern der Sache. Ich werde in meiner Rede noch
darauf eingehen, weil ich mir dachte, dass so etwas
kommt.
({0})
Das Rechtliche haben Sie selbst geregelt. Ich gehe doch
davon aus, dass Sie dem Gesetz damals zugestimmt haben. Insofern müssten Sie Ihre Frage beantworten.
({1})
Ich bin zwar neu in diesem Bundestag, aber es gibt einen
Unterschied zwischen Ihnen und mir: Ich würde meine
Position nicht ändern, wenn ich in die Opposition wechseln müsste.
Die CDU/CSU konnte von 1992 bis 2000 - das wurde
eben deutlich - auch keine Benachteiligung erkennen. Mit
Genehmigung der Frau Präsidentin darf ich Ihren Fraktionskollegen, Herrn Erwin Marschewski, aus dem Plenarprotokoll von 1992 - es geht um die zweite und dritte
Lesung des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes - zitieren.
- Dies gehört im Übrigen noch zu meiner Antwort auf Ihre
Zwischenfrage. - Er sagte:
Darüber hinaus begrüße ich die Ausdehnung der
„Heimkehrerstiftung“ und der „Stiftung für ehemalige politische Häftlinge“ auf die neuen Bundesländer. Denn das hat zur Folge, dass denjenigen flexibel
und entsprechend ihrer Bedürftigkeit geholfen werden kann, die in Kriegsgefangenschaft waren, die
verschleppt waren, die in den Gefängnissen der ehemaligen DDR leiden mussten und die aufgrund der
Rechtslage keine gesetzlichen Leistungen erhalten
können.
Hierfür, meine Damen und Herren, wird eine ausreichende finanzielle Ausstattung der beiden Stiftungen
zu gewährleisten sein. Auch dafür wollen wir uns
einsetzen; auch dafür wollen wir kämpfen. Denn das
ist gerecht, meine Freunde.
Die ausreichende finanzielle Ausstattung, um die Herr
Marschewski kämpfen wollte, haben wir herbeigeführt.
Es wurde bereits angesprochen: Im Jahre 2000 wurden als
Stiftungskapital 5 Millionen DM und jetzt erneut 1 Million Euro zur Verfügung gestellt. Auch im aktuellen Haushalt sind 1 Million Euro für die Stiftung eingestellt. Damit
bleiben wir auf einem bewährten Weg. Die Heimkehrerstiftung begrüßt diese Entscheidung der Regierungskoalition ausdrücklich.
Ich stelle fest: Erstens. Das Heimkehrerstiftungsgesetz
ist ein wirksames Instrument, soziale Härten auszugleichen und bedürftigen Antragstellern zu helfen. Zweitens.
Heute, fast 60 Jahre nach dem Krieg, ist eine Entschädigung im Sinne einer Eingliederungshilfe nicht mehr nachvollziehbar.
Eine Wiederbelebung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes, wenn auch in veränderter Form, würde als
Präzedenzfall wirken, und zwar mit unübersehbaren
rechtlichen und finanziellen Folgen. Es würde eine Diskussion über weitere ausgelaufene Rechtsnormen insbesondere im Kriegsfolgen- und Lastenausgleichsrecht entfachen. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite dieses Gesetzentwurfes über die einmalige Entschädigung von Heimkehrern in den neuen
Ländern ist in meinen Augen noch bedenklicher. Erneut
werden bei den meist hochbetagten betroffenen Menschen Hoffnungen geweckt. Zudem wird der Eindruck
vermittelt, die ehemaligen Heimkehrer in den neuen Länder wären noch heute gegenüber den Menschen in den alten Ländern mit gleichem Schicksal benachteiligt.
({2})
Das halte ich für unredlich.
Viel Leid und schwere Lebenswege sind die unvermeidbaren Folgen eines jeden Krieges gewesen. Dies
kann durch nichts entschädigt werden. Es gibt Millionen
unterschiedlichster Biografien: von Opfern, aber auch
von Tätern, von Mitläufern wie von unschuldig in den
Strudel eines verbrecherischen Krieges Hineingerissenen.
Erlittenes Leid und Unrecht lassen sich aber nicht wieder
gutmachen. Gerade in diesem Zusammenhang gilt auch:
Gerechtigkeit lässt sich nicht durch Aufrechnung herstellen.
Den tiefen Respekt vor dem Schicksal aller Betroffenen, den Heimkehrern und Verschleppten, hat der Deutsche Bundestag zum Ausdruck gebracht. Im Namen meiner Fraktion möchte ich diese Würdigung ausdrücklich
bekräftigen. Ich möchte nachdrücklich würdigen, dass
die damaligen Heimkehrer in die sowjetische Besatzungszone bzw. in die ehemalige DDR ein wesentlich
schwereres Schicksal als ihre Kameraden hatten, die in
die alte Bundesrepublik zurückkehrten. Ihnen wurde
nicht in dem Maße bei der Wiedereingliederung in ein
Leben nach dem Krieg geholfen. Diese Tatsache gilt es
zu würdigen. Unredlich ist es aber, so zu tun, als ließe
sich durch ein Gesetz das Rad der Geschichte zurückdrehen.
Was wir tun können, ist, soziale Härten, die durch das
Kriegsschicksal entstanden sind, auszugleichen. Das tun
wir. Dafür steht die Heimkehrerstiftung, die von uns finanziell aufgestockt wurde. Das ist der richtige Weg. Auf
diesem Weg bleiben wir.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Haupt, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt den vor uns liegenden Gesetzentwurf des Bundesrates uneingeschränkt;
denn er beseitigt eine auch noch nach mehr als zwölf Jahren nach der Wiedervereinigung bestehende Gerechtigkeitslücke.
({0})
Worum geht es? Es gab mehr als 11 Millionen deutsche
Kriegsgefangene, die über die ganze Welt verstreut waren. Ich erinnere hier nur an die sowjetischen Gulags; sie
waren aber ebenso in anderen Ländern interniert. Nach ihrer Haftentlassung sind diese Kriegsgefangenen entweder
in die Westzonen bzw. in die Bundesrepublik Deutschland
oder in die SBZ bzw. in die DDR zurückgekehrt. Letztere
haben nichts erhalten. Erstere sind entschädigt worden.
({1})
Die Kriegsgefangenen, die das Glück hatten, in den
Westen entlassen zu werden, haben nach dem dort beschlossenen Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz eine
Abfindung erhalten - darauf wurde verwiesen -, nicht nur
als Eingliederungshilfe, sondern auch als Anerkennung
für den Schaden, den sie erlitten haben, und für ihr schweres Schicksal. In der DDR wurde diese Tatsache - wie so
vieles andere auch - im wahrsten Sinne des Wortes totgeschwiegen. Diese Ungerechtigkeit darf man heute, fast
60 Jahre nach Kriegsende und über zwölf Jahre nach der
deutschen Wiedervereinigung, so nicht mehr stehen lassen.
({2})
Bei den Opfern handelt es sich übrigens nicht nur um
Männer. Auch viele Frauen mussten Zwangsarbeit leisten.
Diesen damals jungen und missbrauchten Frauen und
Männern kann man nicht pauschal die Schuld Nazideutschlands aufladen, auch wenn dies manche aus ideologischen Gründen heute immer noch tun. Auch sie waren
Opfer und keine Täter. Das haben viele von uns bewusst
oder unbewusst verdrängt.
Ich halte es daher für notwendig und richtig, dass sich
der Deutsche Bundestag jetzt, nachdem die Frage der Entschädigung ausländischer Zwangsarbeiter gelöst werden
konnte, endlich auch der deutschen Zwangsarbeiter erinnert. Die Feststellung, dass es auch deutsche Zwangsarbeiter gegeben hat, ist aus Sicht der FDP-Fraktion legitim
und notwendig.
Aber es bringt uns nicht weiter, die Geschichte zu verdrängen; wir müssen uns ihr stellen, und zwar nach Möglichkeit gemeinsam. Zur Aufarbeitung unserer Geschichte
gehört, dass wir nach mehr als 50 Jahren nicht nur den
ausländischen Zwangsarbeitern Gerechtigkeit widerfahren lassen, sondern auch den deutschen, die bislang nur
deshalb leer ausgingen, weil sie in den Osten entlassen
worden sind.
Es ist ein sehr formales Argument, Kollege
Reichenbach, wenn die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf darauf verweist, dass über
diesen Sachverhalt schon einmal befunden worden ist.
Mit dem Heimkehrerstiftungsgesetz von 1993 war man
der Ansicht, mit der Kriegsfolgenentschädigung zu einem
Abschluss gekommen zu sein. Das ist zwar richtig, aber
es ist nur die halbe Wahrheit; denn die Umsetzung des Gesetzes in der Praxis gestaltet sich schwierig.
Ich meine, es ist zu formal, sich darauf zu berufen.
Wenn ein Problem in der Vergangenheit falsch behandelt
worden ist, ist dies doch keine Berechtigung dafür, in der
gleichen Weise fortzufahren. Vielmehr muss endlich eine
Lösung erreicht werden.
({3})
Das, was bisher getan wurde, reicht nach Auffassung
der FDP nicht aus. Das Parlament muss endlich die notwendigen Mittel bereitstellen, um den Betroffenen noch
zu Lebzeiten Gerechtigkeit durch ein wenig Entschädigung für das Erlittene widerfahren zu lassen. Darauf hat
mein Kollege sehr emotional und eindrucksvoll hingewiesen. Gestatten Sie mir als Sachsen eine kurze Bemerkung: Damit könnte der Deutsche Bundestag dazu
beitragen, die innere Einheit, die wir alle wollen und
- so hoffe ich - gemeinsam anstreben, weiter zu vollenden.
Danke.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar von
Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich damit beginnen: Wir Grüne bekennen uns zu der
Verantwortung gegenüber den Opfern von Krieg und
Gewalt. Ich möchte aber auch betonen: Ich meine, dass es
für die Opfer - unabhängig davon, um welche Opfer es
sich handelt - besonders wichtig ist, dass sie über ihre Opferrolle reden können und als Opfer des furchtbaren Zweiten Weltkrieges angenommen werden.
Ich hatte gehofft, dass wir in dieser 15. Wahlperiode etwas weiter sein würden als in den Debatten der 14. Wahlperiode. Ich habe das Protokoll über die Debatte in der
14. Wahlperiode zu demselben Thema gelesen. Mir liegt
auch die Rede meines Kollegen Cem Özdemir vor. Ich
hätte es mir jetzt auch leicht machen und dieselbe Rede
halten können, so wie Sie es gemacht haben.
Ich würde gern darüber reden, ob wir in der Diskussion um die Anerkennung von Opfern des Zweiten Weltkriegs - dabei handelt es sich um eine sehr aktuelle Diskussion - nicht den Schritt weiter gehen sollten, der zum
Beispiel in dem Buch „Der Brand“ aufgezeigt worden
ist, nämlich noch einmal von vorne mit der Diskussion
zu beginnen: Wer waren die deutschen Opfer dieses
Krieges?
Ich kann mit meiner Familie beginnen, und zwar mit
meiner Mutter, die die Bombennacht in Dresden mitgemacht hat, oder mit meiner Großmutter, die als Trägerin
des Mutterverdienstkreuzes mit neun Kindern viele
Jahre auf ihren Mann gewartet hat. Ich selber bin 1953
geboren, in dem Jahr, als Stalin - ich sage dies bewusst - endlich starb und als Adenauer große Anstrengungen unternommen hat - das ist eines seiner größten
Verdienste gewesen -, die vielen Tausende von verschwiegenen, unterschlagenen Kriegsgefangenen zurückzuholen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass es den Opfern nicht gerecht wird, wenn wir uns hier die einschlägigen Gesetze um die Ohren hauen. Deshalb will ich mich
an dieser Debatte nicht beteiligen. Zimmermann und
Kanther waren diejenigen, die sich gegen jede finanzielle
Entschädigung für die erlittenen Kriegsfolgeschicksale
ausgesprochen haben. Das waren ja nicht wir, sondern
ihre Innenminister.
({0})
Statt einer Entschädigung gab es damals lediglich eine
Eingliederungshilfe.
Ich gebe zu, dass ich nicht weiß, was der richtige Wege
ist, was im Hinblick auf diejenigen gerecht ist, die in die
damalige DDR heimgekehrt sind.
({1})
In diesen Zeiten des Kalten Krieges durften sie noch nicht
einmal darüber reden. Es gab damals die „guten“ Heimkehrer in die BRD, die als Opfer von Stalin würdig in die
Gesellschaft aufgenommen worden sind, und diejenigen,
die ihr Schicksal verschweigen mussten und deren
Schicksal tabuisiert wurde. Mein Problem ist, dass ich
jetzt, fast 40 Jahre danach, nicht mehr die Entscheidung
treffen kann, wie man diesen Biographien gerecht werden
kann,
({2})
die ein Teil der Folgen des Zweiten Weltkriegs sind und
etwas mit den zwei unterschiedlichen Staaten zu tun haben. Ich kann dieses DDR-Unrecht heute nicht wieder
gutmachen.
Meine Damen und Herren, ich halte den von Rot-Grün
beschrittenen Weg, hier mit einem Heimkehrerstiftungsgesetz zu arbeiten, für den richtigen Weg. Da meine Redezeit abläuft, sage ich zum Schluss: Ich glaube, dass es für
die Opfer viel wichtiger wäre -
Gestatten Sie trotzdem eine Zwischenfrage des Kollegen Vaatz?
Ich erlaube eine Zwischenfrage.
Frau Kollegen Stokar, in den vorhergehenden Reden ist
mehrfach erwähnt worden, dass die Vertreter der früheren
Regierungskoalition die Tatsache, dass das Problem ungelöst blieb, als ein Versäumnis ihrerseits einräumen. Sind
Sie der Meinung, dass die ausbleibende Korrektur dieses
Versäumnisses die Benachteiligten tragen müssen?
Nein, das bin ich nicht. Werter Herr Kollege, ich bin allerdings nicht davon überzeugt, dass es sich hier um ein
Versäumnis handelt. Ich nehme Ihnen ab, dass Sie bei den
Verhandlungen um den Einigungsvertrag an die Lösung
dieses Problems nicht gedacht haben. Es gibt aber bis in
die 60er-Jahre zurückreichende Äußerungen von CDUInnenministern, die immer wieder darauf hingewiesen haben - diese Überlegung habe auch ich hier eben angestellt -, dass es einfach keine gerechte Entschädigung
dieser fürchterlichen Kriegsfolgen gebe. Das ist nicht
meine Position; das war schon vor der Wiedervereinigung
die Position der Minister Zimmermann und Kanther, die
auch die Grundlage der von Ihrer Mehrheit verabschiedeten Gesetze darstellte. Insofern glaube ich nicht daran,
dass es ein Versäumnis war. Vielmehr war es eine durchdachte politische Entscheidung. Die Gründe für diese
durchdachte politische Entscheidung gelten heute noch.
Ich mache mir Gedanken darüber, wie wir diesen Opfern
in Würde gerecht werden können. Damit ist Ihre Frage,
wie ich hoffe, beantwortet.
Ich möchte noch auf die Frage zu sprechen kommen,
wie wir, abgesehen von der finanziellen Entschädigung
- ich halte den Weg, den wir diesbezüglich eingeschlagen
haben, für richtig -, die Rolle der Opfer als Zeitzeugen politisch weiterhin unterstützen können. Wie können wir ihnen Raum geben, in der Öffentlichkeit in stärkerem Maße
zu berichten?
Damit komme ich zu meinem Schlusssatz: Mein
Wunsch ist es, dass wir in Deutschland nie wieder einen
Heimkehrerverband gründen müssen; deswegen halte ich
es für so wichtig, dass wir denjenigen, die Krieg als bittere Erfahrung erlebt haben und darüber berichten können, Möglichkeiten einräumen, dies in den Schulen gegenüber der jungen Generation zu tun. Denn ich glaube,
dass solche Berichte von Zeitzeugen der beste Weg sind,
um Friedenspolitik in der Gesellschaft zu verankern.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat der Sächsische Staatsminister des Innern,
Horst Rasch.
Horst Rasch, Staatsminister ({0}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Am 5. April 2001 wurde der Gesetzentwurf der
CDU/CSU-Fraktion zur einmaligen Entschädigung der
ostdeutschen Kriegsheimkehrer in der Sitzung des Bundestages abgelehnt. Nunmehr steht ein Gesetzentwurf zur
einmaligen Entschädigung der ostdeutschen Kriegsheimkehrer erneut auf der Tagesordnung. Wir wollen mit diesem
Gesetzentwurf unseren politischen Willen bekräftigen, eine
Entschädigung für die benachteiligte Personengruppe der
ostdeutschen Heimkehrer zu leisten.
Heimkehrer, die nach ihrer Gefangenschaft in die ehemalige sowjetische Besatzungszone bzw. in die DDR
zurückgekehrt sind, sollen eine einmalige Entschädigung
für Reparationsleistungen, die sie gewissermaßen durch
Zwangsarbeit erbracht haben, erhalten.
({1})
Es ist tatsächlich so, wie auch Kollege Haupt deutlich
machte: Sie haben dort für uns Schuld abgearbeitet. Es ist
im Interesse der Gerechtigkeit und Menschlichkeit geboten, diesen Sachverhalt anzuerkennen.
Mit dem Gesetzentwurf soll die Ungleichbehandlung
zwischen den Kriegs- und den Geltungskriegsgefangenen, die aus dem Gewahrsam in die ehemalige DDR entlassen worden sind, im Vergleich zu denen, die in die alte
Bundesrepublik entlassen worden sind, dem Grunde nach
aufgehoben werden. Auf die erheblichen finanziellen Unterschiede, die dabei eine Rolle gespielt haben und die wir
auch nicht mehr egalisieren können, hat Herr Kollege
Büttner in seinem Beitrag hingewiesen.
Für die Kriegsgefangenen und Zivilinternierten, die
nach der Beendigung ihrer Gefangenschaft in die sowjetische Besatzungszone bzw. die DDR zurückgekehrt sind,
kommt neben der fehlenden finanziellen Entschädigung
noch hinzu, dass zu DDR-Zeiten das erlittene Schicksal
der Gefangenschaft während des Zweiten Weltkrieges
und auch danach von den Machthabern des SED-Regimes
ignoriert und geleugnet wurde. So wie man die alte Bundesrepublik als das Staatswesen ansah, das in der alleinigen Verantwortung für deutsche Kriegsschuld stand - so
sahen es die DDR-Machthaber -, war man geneigt, diejenigen mit sich und ihrem Schicksal allein zu lassen, die,
in die alte DDR zurückgekehrt, auch für die Ostdeutschen
dieses Stück Kriegsschuld mit abgetragen hatten.
Der Zeitzeuge weiß auch um die Zufälligkeiten, nach
denen Männer wie Frauen in Gefangenschaft gerieten und
an verschiedenen Orten festgehalten wurden, an denen sie
unter extremen Bedingungen arbeiten mussten. Es war
auch weitgehend Zufall, wann man den Weg zurück nach
Hause antreten konnte.
Seit 1993 können nun die ostdeutschen Heimkehrer
Leistungen nach dem Heimkehrerstiftungsgesetz erhalten; das ist richtig. Eine Pflicht zur Zahlung besteht nicht.
Es ist eine Kannbestimmung. Es geht nach der individuellen Bedürftigkeit der Einzelpersonen. Die Regelungen
des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes sind für
die Betroffenen in den neuen Ländern dagegen auch weiterhin nicht zur Anwendung gekommen. Der Zustand der
Ungleichbehandlung zwischen den Heimkehrern hat bis
heute im vereinigten Deutschland keine Änderung erfahren. Das ist es, was die Betroffenen als tiefe Kränkung
empfinden,
({2})
eine tiefe Kränkung, die sie nicht lautstark in der Öffentlichkeit vortragen, die aber in Gesprächen deutlich wird.
Mit unserer Gesetzesinitiative wollen wir endlich, fast
13 Jahre nach der Vereinigung Deutschlands, durch eine
einmalige Entschädigungsleistung das erlittene Schicksal
der ostdeutschen Heimkehrer würdigen. Neben der materiellen Entschädigung, die das Leid der Betroffenen wahrlich
nicht aufwiegen kann, ist es für sie wie für uns wichtig, dass
wir auch ein politisches Zeichen der Mitmenschlichkeit setzen. Wir beabsichtigen damit, ein Zeichen der Anerkennung für den Schaden, den sie erlitten haben - oftmals ein
Gesundheitsschaden -, ein Zeichen der Anerkennung für
erlittenes Schicksal zu setzen.
Die Bundesregierung teilt in ihrer Stellungnahme mit,
dass der Gesetzentwurf die Umkehrung einer Entscheidung anstrebe, die der gesamtdeutsche Gesetzgeber 1992
im Kriegsfolgenbereinigungsgesetz getroffen habe. Es ist
richtig, dass die Funktion der Leistung nach dem Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz darin bestand, den in
die Bundesrepublik Deutschland heimgekehrten Kriegsgefangenen, Aussiedlern oder Sowjetzonenflüchtlingen
eine finanzielle Grundlage für ihre Eingliederung in die
aufnehmende Gesellschaft zu verschaffen. Es trifft auch
zu, dass die ostdeutschen Heimkehrer in die Gesellschaft
eingegliedert sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist aber
nicht Sinn und Zweck dieses Gesetzentwurfs. Sinn und
Zweck des Gesetzentwurfs ist es, mit einer einmaligen
Entschädigungsleistung das erlittene Schicksal der vielen
ostdeutschen Kriegsheimkehrer und Zivilinternierten
während ihrer Gefangenschaft im Zweiten Weltkrieg - für
viele auch lange Zeit danach - in angemessener Form zu
würdigen. Es soll eine einmalige Zahlung sein, gestaffelt
nach der Dauer des Gewahrsams, und damit gerade keine
wiederkehrende Rentenleistung bzw. Eingliederungsleistung und auch keine Unterstützungsleistung entsprechend
der individuellen Bedürftigkeit - darum geht es nicht.
Es ist für den Freistaat Sachsen und den Freistaat
Thüringen als Vertreter der neuen Bundesländer ein besonderes Anliegen, den ostdeutschen Heimkehrern die ihnen gebührende symbolische Anerkennung zuteil werden
zu lassen.
({3})
Für ein Zeichen der Anerkennung des erlittenen Schicksals der ostdeutschen Heimkehrer mag es spät sein, bis
jetzt ist es aber noch nicht zu spät.
Frau Stokar hat von den Erfahrungen ihrer Eltern gesprochen. Wir, die Jahrgänge, die wir mitten im Leben stehen, können es nur noch aus dem Munde unserer Eltern
erfahren haben, was sie tatsächlich erlitten haben. Wir
meinen schon, dass es notwendig ist, einen letzten Akt der
Gerechtigkeit unserer Elterngeneration gegenüber in dieser Weise auszusprechen und anzuerkennen, welches Leid
sie haben ertragen müssen, welches Schicksal sie haben
annehmen müssen - ob verschuldet oder unverschuldet.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/407 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg van
Essen, Rainer Funke, Otto Fricke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten
Schutz der Intimsphäre
- Drucksache 15/361 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP
Staatsminister Horst Rasch ({1})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jörg van Essen, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben diese Thematik bereits vor ziemlich genau einem Jahr debattiert. Leider ist es nicht zu einem Gesetzesbeschluss gekommen, sodass die FDP-Bundestagsfraktion ihre Initiative erneut in den Deutschen Bundestag
eingebracht hat. Dass diese Initiative notwendig ist, haben
wir auch im letzten Jahr wieder erfahren können. Wir haben Berichte gelesen, wonach zum Beispiel Arbeitgeber
Kameras in den Damentoiletten installiert haben, um damit ihre Mitarbeiterinnen aufzunehmen. Es war auch zu
lesen, dass zum Teil in Solarien entsprechende Einrichtungen installiert worden sind, um Personen, die sich dort
bräunen, aufzunehmen. Das alles ist unbefugt erfolgt und
ist völlig inakzeptabel.
({0})
Es ist nicht nachzuvollziehen, dass die Gespräche, die
beispielsweise an den gerade von mir beschriebenen Örtlichkeiten unbefugt aufgenommen worden wären, eine
Strafe zur Folge gehabt hätten, während die Aufnahmen
bisher straflos erfolgen können. Die Rechtsprechung hat
in der Vergangenheit Wege zur Beseitigung dieses Missverhältnisses aufgezeigt. Ich denke etwa an die unbefugte
Veröffentlichung von Fotos Prominenter. Das Hanseatische Oberlandesgericht hat im Fall einer Prinzessin aus
einem Mittelmeeranrainerstaat eine entsprechende Entscheidung getroffen und in der Begründung gesagt, die
zugesprochene Entschädigung sei deshalb so hoch ausgefallen, weil man damit eine Sanktion verbinden wolle.
Aber Strafen auszusprechen ist nicht die Aufgabe des Zivilrechts, sondern des Strafrechts. Deshalb schlagen wir
als FDP-Fraktion vor, eine entsprechende Vorschrift in
das Strafgesetzbuch aufzunehmen.
Wir wollen - für diesen Begriff haben wir uns entschieden - die Intimsphäre schützen. Dieser Begriff ist in
der Rechtssprache bekannt und wird beispielsweise vom
Bundesverfassungsgericht immer wieder im Sinne eines
unantastbaren Kernbereichs der privaten Lebensgestaltung verwendet. Ich denke, dass genau dieser Kernbereich geschützt werden muss.
({1})
Wir wollen wie im Übrigen schon vor einem Jahr - der
Kollege Manzewski hat das in der damaligen Debatte kritisiert - auch den Versuch, diesen Kernbereich zu verletzen, unter Strafe stellen. Die Begründung ist ganz einfach:
Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, der immer
wieder auf diese Regelungslücke hingewiesen und uns
gebeten hat, im Bundestag für die Schließung dieser
Lücke zu sorgen, hat genau dies angeregt. Ich halte die
Anregungen des Bundesdatenschutzbeauftragten immer
für überlegenswert. Deshalb sind wir auch diesmal seiner
Anregung gefolgt.
Ich weiß aus der letzten Debatte, dass in diesem Hause
große Offenheit dafür besteht, die hier angesprochene
letzte Regelungslücke im Bereich des Schutzes der Privat- und der Intimsphäre zu schließen. Ich finde, dass wir
jetzt, nachdem wieder ein Jahr ins Land gegangen ist, die
Verpflichtung haben, das schnell umzusetzen. Meine
Hoffnung, dass wir das schaffen werden, ist durchaus berechtigt; denn die Bundesregierung hat vor einem Jahr angekündigt, hier initiativ zu werden. Wie ich aus dem
Hause höre, wird die Formulierung ähnlich der der FDP
sein. Ich denke, dass unsere Bürger einen Anspruch auf
Schließung dieser Regelungslücke haben. Das wird insbesondere dann deutlich, wenn man sich die Fälle vor Augen führt, die ich vorhin genannt habe.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Alfred
Hartenbach. - Herr Hartenbach, Sie haben das Wort.
({0})
Frau Präsidentin, ich bitte um Nachsicht. Ich hielt es
für angebracht, mit den Kollegen von der FDP-Fraktion,
die genauso verloren dasitzen wie die meiner Fraktion, ein
paar freundliche Worte zu wechseln.
({0})
- Ich habe gesagt: genauso verloren dasitzen wie die meiner Fraktion.
Verehrtes Präsidium! Verehrte Kolleginnen! Verehrte
Kollegen! Die FDP-Fraktion hat erneut einen Entwurf eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Intimsphäre in
den Bundestag eingebracht. Die Bundesregierung stimmt
- wie auch schon in der letzten Legislaturperiode - dem
Anliegen des Gesetzentwurfs in den Grundzügen zu. Es
ist richtig, dass in den strafrechtlichen Vorschriften zum
Schutz des persönlichen Lebens- und Geheimnisbereichs
eine Strafbarkeitslücke besteht, die durch einen neuen
§ 201 a des Strafgesetzbuches geschlossen werden könnte.
Es geht darum, den Schutz der Intimsphäre, also des
höchstpersönlichen Lebensbereichs, vor unbefugten Bildaufnahmen und Beobachtungen zu verbessern. Zu Recht
wird in diesem Gesetzentwurf eine Parallele zu § 201 des
Strafgesetzbuches gezogen, der die Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes unter Strafe stellt. Das Recht am
eigenen Bild sollte strafrechtlich nicht schlechter als das
Recht am eigenen Wort behandelt werden.
Dieser Gesetzentwurf entspricht einer Forderung, die der
Bundesbeauftragte für den Datenschutz in seinem 18. Tätigkeitsbericht erhoben hat. Schon vor Veröffentlichung dieses Berichts und unabhängig davon hat das Bundesministerium der Justiz einen Entwurf erarbeitet, der sich mit
dem von der FDP vorgelegten Entwurf in wesentlichen
Punkten deckt. Nur ein Schelm würde jetzt sagen: Das ist
wie in der letzten Legislaturperiode beim Rechtsanwaltsvergütungsgesetz. Aber es ist ja nicht schlimm, wenn man
gleiche Gedanken hat.
({1})
Zweifel habe ich allerdings, Herr van Essen, an der im
vorliegenden, von der FDP eingebrachten Gesetzentwurf
enthaltenen Strafbarkeit des Versuchs und an dem Qualifikationstatbestand für Amtsträger. Ich meine - ich möchte
Dirk Manzewski nicht vorgreifen; er wird sicherlich ein
paar gute Beispiele präsentieren -, dass die Strafbarkeit da
etwas zu weit gehen könnte. Handelt es sich um einen strafbefreienden Rücktritt vom Versuch, wenn ich etwa mit meinem elektronischen Fotoapparat zwei Sumpfrallen - das
sind Wasservögel; Federvieh - fotografieren möchte, das
aber nicht tue, weil sich im Hintergrund zufällig eine Person befindet?
Ich denke auch an die wirklich armen Polizeibeamten
({2})
- Herr van Essen, jetzt bin ich wieder sehr ernst -, die
noch nicht den mit § 100 StPO ff. verbundenen Auftrag
haben. Möglicherweise haben sie noch nicht einmal den
Auftrag, jemanden zu beobachten. Wir wissen, dass es im
Hinblick auf den Beginn von Ermittlungen und auf Observierungen Grauzonen gibt; deswegen glaube ich, dass
man sich die Regelung mit den Amtsträgern noch einmal
sehr genau überlegen sollte.
Das Bundesministerium der Justiz vertritt die Auffassung, dass wir trotz dieser Übereinstimmungen sehr sorgfältig vorgehen müssen. Die bisher bekannt gewordenen
Reaktionen - es gab sie schon in der letzten Legislaturperiode - zeigen durchaus, dass nicht alle mit diesem Vorschlag einverstanden sind. Wir sollten dieses Vorhaben
sehr exakt und sehr sorgfältig - möglicherweise auch im
Rahmen einer Anhörung im Ausschuss und durch behutsame weitere Gespräche - prüfen. Das sind wir dem
Schutz der Intimsphäre schuldig.
Frau Präsidentin, Sie sehen, dass ich mich trotz meiner
kleinen Vorrede an die Zeit gehalten habe.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man darf etwas überrascht sein, dass wir heute über einen
- von der FDP dankenswerterweise vorgelegten - Gesetzentwurf diskutieren.
Kommen wir einmal auf den parlamentarischen Vorlauf zu sprechen. Am 13. März 2001 - nicht 2002! - hat
der Bundesbeauftragte für den Datenschutz eine Lücke in
einem Grundrecht festgestellt. Jeder hat das Recht auf die
freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Dieses Recht hat
der Staat zu garantieren. Zur freien Entfaltung seiner Persönlichkeit gehört auch, dass der Staat die Privatsphäre
des Bürgers garantiert. Durch diesen Bericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz war diese Lücke also
bekannt. Der Kollege van Essen hat aufgrund dieses
Sachverhalts eine Frage an die Bundesregierung gerichtet. Die Antwort darauf gab Professor Dr. Pick, der damalige Parlamentarische Staatssekretär, prompt - ich zitiere -:
Im Bundesministerium der Justiz wird derzeit eine
Vorschrift vorbereitet, wonach unbefugte Bildaufnahmen und die unbefugte Beobachtung mit einem
technischen Gerät ... mit Strafe bedroht werden sollen.
Seither lässt man den Bürger, der Anspruch darauf hat,
dass seine Privatsphäre umfassend geschützt wird, im Regen stehen.
({0})
- Herr Stünker, ist Rot-Grün an der Regierung
({1})
oder sind wir es?
({2})
- Herr Stünker, passen Sie bitte auf. Ich erkläre Ihnen
auch, wie es geht. Hören Sie doch bitte wenigstens zu,
({3})
wenn ich versuche, Ihnen das beizubringen.
({4})
- Sie dürfen doch noch etwas dazu sagen, Frau Kollegin.
({5})
Man hätte eigentlich erwarten dürfen, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt. Das ist nicht
geschehen. Es ist ein Versäumnis,
({6})
dass die FDP-Fraktion mit ihrem Gesetzentwurf beheben
will. Dafür muss man ihr dankbar sein.
Nun zum Gesetzentwurf selbst. Herr Kollege van
Essen, ich schätze die Art, in der Sie vorgetragen haben.
Aber erlauben Sie mir, zu versuchen, Lücken offen zu legen, über die wir reden müssen.
Siegfried Kauder ({7})
Sie wollen mit Ihrem Gesetzentwurf einen Schutz der
Intimsphäre erreichen. Den Begriff der Intimsphäre kennt
das Verfassungsrecht, aber nicht das Strafrecht. Wir tun
uns viel leichter, wenn wir nicht neue Begriffe kreieren,
sondern auf althergebrachte aus dem Strafrecht zurückgreifen. Einen solchen Begriff gibt es in Form der so genannten Privatsphäre. Zum Begriff der Privatsphäre gibt
es auch genügend Rechtsprechung, auf die wir dann
zurückgreifen können. Deswegen die Bitte, zu überlegen,
ob wir den Begriff Intimsphäre nicht gegen den Begriff
Privatsphäre austauschen sollten.
({8})
Eine Lücke bleibt in diesem Gesetzentwurf, die wir
dringend schließen müssen. Bestraft werden soll nur, wer
unbefugt etwas auf Bildträger aufnimmt und die Aufnahme dann verwendet. Es gibt aber auch die folgende Situation: Lebenspartner fotografieren sich gegenseitig;
diese Fotos sind dem Intimbereich zuzurechnen. Dann
geht die Beziehung auseinander. Es ist also ein befugt
aufgenommenes Foto, aber nach der Trennung der privaten Beziehung möchte keiner der beiden, dass der andere
sein Foto ins Internet stellt.
Das sind die Fälle, die wir immer wieder haben. Deswegen bitte ich, zu überlegen, in Art. 1 in dem neuen § 201 a
in Abs. 1 eine Nr. 3 anzufügen, nach der auch befugt hergestellte Aufnahmen nicht verbreitet werden dürfen,
wenn die Zustimmung nicht gegeben wird.
({9})
Dann bitte ich zu bedenken, dass in Abs. 2 ein Versuchstatbestand aufgeführt ist. Danach soll ebenso bestraft werden, wer mit einem Bildaufnahmegerät einen
Dritten beobachtet. Das ist die Vorbereitungshandlung zur
Aufnahme. Sie wollen dann auch noch den Versuch bestraft wissen. Das heißt, Sie kommen rechtlich zu dem Ergebnis, dass der Versuch des Versuchs bestraft wird. Das
kennen wir in der Rechtspraxis nur in Ausnahmefällen.
Ich bitte also, auch darüber nachzudenken, den Abs. 2 völlig aus dem Gesetzentwurf herauszunehmen.
Noch komplizierter wird es in Abs. 3. Die FDP glaubt,
da eine Bagatellklausel einführen zu müssen und dies mit
einem Rechtfertigungsgrund verbinden zu können. Die
Tat soll nur strafbar sein, wenn sie geeignet ist, berechtigte Interessen der verletzten Person zu beeinträchtigen.
Bitte aufpassen! Damit hat wieder einmal das Opfer die
Beweislast. Der Richter wird fragen: Wo sehen Sie sich
denn in Ihrer privaten Sphäre beeinträchtigt? - Das darf
nicht sein. Derjenige, der in der Privatsphäre fotografiert
und damit ein Grundrecht eines Bürgers verletzt, muss belegen, warum es aus übergeordneten Interessen notwendig war.
Wir müssen das Strafgesetzbuch nicht mit immer neuen
Begriffen und komplizierten Regelungen aufblasen, wenn
es einfacher geht - und es geht einfacher. Was Sie von der
FDP berechtigterweise wollen, ist schon in anderem Zusammenhang im Gesetz dokumentiert. Bei den Straftatbeständen der Beleidigung gibt es in § 193 StGB einen
Rechtfertigungsgrund. Ein solcher Grund liegt vor, wenn
der Täter in Wahrnehmung berechtigter Interessen handelt. Wir brauchen § 193 StGB nur in Abs. 3 Ihres Gesetzentwurfs zu übernehmen und haben dann das, was Sie
wollen, und zwar auch juristisch bereits abgesichert, weil
es genügend Rechtsprechung zur Abwägung zwischen
Art. 2 und Art. 5 Grundgesetz gibt.
Herr Staatssekretär, an einer Stelle in der Diskussion
haben Sie zu kurz gegriffen. Sie sagten, wir sollten uns
überlegen, ob das höhere Strafmaß für Amtsträger gerechtfertigt sei. - Genau das brauchen wir. Es soll Fälle
gegeben haben - damit trete ich den Polizeibehörden
nicht zu nahe -, dass auf Polizeidienststellen Frauen, die
verhört wurden, nackt aufgenommen wurden und dass
diese Fotos verkauft wurden. Das dürfen wir nicht zulassen. Das wollen wir nicht zulassen. Gerade Amtsträger
haben eine besondere Verpflichtung. Deswegen ist dieses
erhöhte Strafmaß gerechtfertigt.
({10})
Herr Kollege van Essen, einem Problem müssen wir
uns schon stellen. Es gibt bereits eine ähnlich gelagerte
Vorschrift, die Sie in Ihrer Begründung auch zitiert haben,
nämlich § 33 Kunsturhebergesetz. Sie haben das ein
bisschen mit links abgearbeitet und gesagt, es sei eine alte,
überkommene Vorschrift. Das Moderne im Recht ist aber
nicht immer das Bessere. Wir können nicht so verfahren,
dass wir in einem neu zu schaffenden Straftatbestand eine
Höchststrafe von zwei Jahren vorsehen und parallel dazu
eine Vorschrift im Kunsturhebergesetz belassen, die den
fast gleichen Straftatbestand mit einem Jahr Freiheitsstrafe belegt. Da klafft eine Lücke, die wir schließen müssen.
Jetzt können wir natürlich sagen: Das richten nachher
die Gerichte; die schalten das im Wege der Gesetzeskonkurrenz aus. - Das dürfen wir als Gesetzgeber aber nicht
zulassen. Es ist unsere Verpflichtung, den Richtern Vorgaben zu machen. Also müssen wir dieses Spannungsverhältnis zwischen dem von Ihnen gewünschten § 201 a
Strafgesetzbuch und dem bestehenden § 33 Kunsturhebergesetz klären. Ich bin der Meinung, auch das lässt sich
relativ einfach lösen. Denn die Vorschriften des Kunsturhebergesetzes beinhalten nichts anderes als Rechtfertigungsgründe. Diese Rechtfertigungsgründe können wir,
wenn wir Abs. 3 Ihres Gesetzentwurfs abspecken und in
etwa inhaltsgleich zu § 193 StGB ausgestalten, dort noch
einfügen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Wenn man sachlich argumentiert, lassen sich Lösungen erarbeiten. Ich
freue mich, dass ich da Zustimmung auch von Ihrer Seite
bekomme. Nur eines ärgert mich - das muss man den
Menschen, die draußen zuhören, wenn wir hier diskutieren, auch sagen -: Wir haben schlicht und ergreifend seit
dem Jahr 2001 Arbeitszeit, die der Bürger bezahlt - er bezahlt ja auch die Parlamente -, verplempert. Ich bin mir
fast sicher: Wenn der Kollege van Essen nicht gewesen
wäre, wäre niemand auf der Regierungsbank auf die Idee
gekommen, eine bestehende Gesetzeslücke mit einem Gesetz, das den Konsens in diesem Haus findet, zu schließen.
Das darf nicht sein; das dürfen wir nicht zulassen.
Ich kann Ihnen versichern: Das ist nicht der einzige Gesetzentwurf, der in den Schubladen der Ministerien dieser
Regierung versackt. Dagegen müssen wir vorgehen. Der
Bürger hat einen Anspruch auf eine zeitnahe Lösung, insbesondere dann, wenn seine Grundrechte berührt werden.
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn wir auch dazu einen
Konsens finden würden.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard ScheweGerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege van Essen hat gerade darauf hingewiesen:
Vor einem Jahr hatten wir eine ähnliche Debatte. Schon
damals wurde über den Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz gesprochen. Sinngemäß steht darin: Wer sich bewusst der Öffentlichkeit
entzieht, muss oder soll sich darauf verlassen können,
dass von ihm ohne Einwilligung keine Aufnahmen gemacht werden und auch keine Aufnahmen in der Öffentlichkeit verbreitet werden.
Mit dieser Formulierung wird ein Aspekt des Rechts
auf informationelle Selbstbestimmung beschrieben. Sie
alle wissen, dass wir Grüne dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung große Bedeutung beimessen. Wir
haben uns immer für den Datenschutz und auch für die
Achtung der Privatsphäre eingesetzt. Für uns handelt es
sich hier sozusagen um ein Heimspiel. Deshalb versteht
es sich für uns von selbst, dass wir den Bericht des Bundesbeauftragten ernst nehmen. Dementsprechend lautet
die gute Nachricht, Herr Kollege van Essen: Wir haben
Sympathie für das Anliegen, das Ihrem Antrag zugrunde
liegt.
Leider muss ich unmittelbar auch eine schlechte Nachricht anschließen: Unsere Sympathie für Ihr Bemühen um
den Schutz der Privatsphäre hält sich leider in Grenzen.
Zu frisch ist bei uns noch die Erinnerung an die Zeiten, in
denen Sie als Regierungspartei das Grundrecht auf Unverletzbarkeit der Wohnung mit dem großen Lauschangriff mit Füßen getreten haben.
({0})
Die Folge war: Die Justizministerin hat ihr Amt aufgegeben. Seitdem hat ja auch nicht etwa ein Gesinnungswandel bei den Liberalen stattgefunden. Deutschland
ist bereits jetzt Weltmeister im Abhören. Diesen Titel
haben wir - leider, muss ich sagen - der FDP zu verdanken.
({1})
Das hindert jedoch auch die rheinland-pfälzische Landesregierung nicht daran, in ihrem aktuellen Entwurf zum
neuen Polizeigesetz mit tatkräftiger Unterstützung der
FDP
({2})
die Ausweitung der polizeilichen Befugnisse bei der Telekommunikationsüberwachung und beim Lauschangriff
zu betreiben.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir uns nichts
vor: Vor diesem Hintergrund ist die Ungeduld, mit der die
FDP diesen Antrag im Namen des Schutzes der Privatsphäre erneut eingebracht hat, wenig überzeugend.
Das Strafrecht muss immer Ultima Ratio der Rechtsordnung sein. Wenn wir in die Begründung zu dem Gesetzentwurf schauen, stellen wir fest, dass sie wenig aufschlussreich ist. Wir sind in diesem Fall nicht davon
überzeugt, dass die bestehenden rechtlichen Mittel nicht
ausreichen. Es gibt für die Betroffenen schon jetzt eine
Reihe von rechtlichen Mitteln, mit denen sie sich zur
Wehr setzen können; der Kollege Kauder hatte vorhin an
einige erinnert. Es stehen zivilrechtliche Beseitigungsund Unterlassungsansprüche sowie Schadensersatz- und
Schmerzensgeldansprüche zur Verfügung. Zudem gibt es
die Strafvorschrift in § 33 des Kunsturhebergesetzes, die,
wie Herr Kauder ja vorhin erwähnte, das Veröffentlichen
von Abbildungen ohne Einwilligung des Abgebildeten
unter Strafe stellt.
({4})
Schließlich scheint mir die von Ihnen vorgeschlagene
Strafvorschrift an vielen Stellen nicht ganz ausgegoren.
Die bereits erwähnte Vorschrift im Kunsturhebergesetz
stellt die schwerwiegendste Verletzung des Persönlichkeitsrechts unter Strafe.
({5})
Nun wollen Sie nicht nur das Veröffentlichen bestrafen,
sondern auch das Herstellen einer Bildaufnahme, und
nicht nur das: Sie wollen auch noch den Versuch der Herstellung unter Strafe stellen.
({6})
Der Herr Staatssekretär hat gerade anhand des Beispiels
mit den Sumpfrallen - die habe ich erst jetzt kennen gelernt, aber es ist ja gut, dass man jeden Tag dazulernt deutlich gemacht, wie schwer es ist, so etwas überhaupt
zu machen.
({7})
- Jetzt habe ich das Wort, Herr Kollege. - Damit sich nicht
jeder, der mit einer Kamera im Park oder in einem Wohngebiet spazieren geht, dem Verdacht einer strafbaren
Handlung aussetzt, wollen Sie den Anwendungsbereich
des Tatbestandes wieder eingrenzen. Dafür wollen Sie eiSiegfried Kauder ({8})
nen neuen unbestimmten Rechtsbegriff einführen, der,
wie Sie selbst sagen, bisher nicht in der Gesetzgebung
auftaucht. Die Begründung dafür liefern Sie auch gleich
mit, indem Sie sagen, die abstrakte Umschreibung der Intimsphäre sei nicht möglich. Ich halte es nicht für sinnvoll
- da stimme ich ausdrücklich dem Herrn Kollegen Kauder
zu -, hier einen neuen Begriff, nämlich den der Intimsphäre, einzuführen.
Wir wollen keinen Straftatbestand, der eine Vielzahl
von Alltagssituationen erfasst, deren Strafwürdigkeit
fraglich ist, und der in der Praxis auch nicht handhabbar
ist. Stattdessen wollen wir genau prüfen, ob ein zusätzlicher § 201 a Strafgesetzbuch nötig ist. Dies werden wir
mit Bedacht tun. Den geeigneten Rahmen dazu stellt die
Überarbeitung des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs dar, die die Koalition noch in dieser Legislaturperiode vornehmen wird. Dabei wird das sicher ein wichtiger Punkt sein. Ich freue mich schon sehr auf die
Ausschussberatungen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Manzewski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren hier über einen Gesetzentwurf, der ein Thema
berührt, mit dem wir uns schon kurz am Ende der letzten
Legislaturperiode beschäftigt haben, der Kollege van
Essen hat darauf hingewiesen. Das Grundanliegen, Herr
Kollege, wird dabei von uns geteilt, weil sich in der Vergangenheit - da haben Sie völlig Recht - immer wieder
gezeigt hat, dass hier wohl eine Lücke im Strafgesetzbuch
existiert. Zwar ist im Bereich des Persönlichkeitsrechts
im Strafgesetzbuch einiges geregelt, zum Beispiel die Verletzung des Briefgeheimnisses, das unbefugte Ausspähen
von Daten und einiges Weitere; aber es existiert eben
nichts Vergleichbares, das die Menschen wirksam vor dem
unbefugten Aufnehmen von Bildern und deren Veröffentlichung schützt. Allein das Zivilrecht gibt den Betroffenen
bislang die Möglichkeit, sich gegen solches Verhalten zu
wehren. Aber in diesen Fällen geht es - das ist von den
Kollegen schon angedeutet worden - allein um Beseitigung, Unterlassen, Schadenersatz oder Schmerzensgeld.
Sie haben völlig Recht: Nicht zuletzt der bekannte Fall
der noch bekannteren Prinzessin - die immerhin ein hohes Schmerzensgeld bekommen hat, weil unbefugt Fotos
von ihrer Privatsphäre aufgenommen worden sind - hat
die Tendenz der Gerichte gezeigt, dass ein Eingriff in die
Privatsphäre in dieser Form nicht akzeptabel ist.
Sie haben auch Recht, wenn Sie sagen, dass die Verunsicherung in der Bevölkerung nicht zuletzt dadurch verstärkt worden ist, dass in den Medien in der Vergangenheit immer wieder von Fällen berichtet worden ist, in
denen gegen das Persönlichkeitsrecht in geradezu schamloser Weise verstoßen wurde. Insbesondere heimliche
Duschaufnahmen oder Aufnahmen aus anderen persönlichen Bereichen, die dann vor allem im Internet übertragen wurden und bei denen die Betroffenen weder von der
Aufnahme noch von deren Verbreitung etwas ahnten, machen die Problematik deutlich.
Aber nicht nur diese medienwirksamen Fälle geben
meiner Auffassung nach Anlass, tätig zu werden. Gerade
die Entwicklungen in der Videotechnik und im Internet,
die es möglich machen, Bilder unbemerkt aufzunehmen
und weltweit zu verbreiten, zwingen uns, den Schutz der
Bürger zu verstärken. Dazu gehören auch die extrem kleinen Kameras, sehr weit reichende Teleobjektive und andere Geräte, die dem Eingriff in die Privatsphäre Tür und
Tor geöffnet haben. Das Medium Internet, das die Möglichkeit der kurzfristigen und weltweiten Verbreitung
eröffnet, hat ein Übriges getan. Sie alle haben völlig
Recht, wenn Sie sagen, dass unsere Bürger einen Anspruch darauf haben, hiervor geschützt zu werden.
Es ist schon öfter angesprochen worden: Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz hat in seinem letzten
Tätigkeitsbericht festgestellt, dass es in diesem Zusammenhang immer öfter zu Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte kommt. Ich teile seine Einschätzung, genau
wie ich Ihre Grundeinschätzung teile, dass es hier einer
gesetzlichen Regelung bedarf. Die unterschiedliche Behandlung von heimlichen Tonbandaufnahmen und heimlichen Bildaufnahmen ist nicht nachzuvollziehen.
Aber - dazu muss ich noch einiges sagen, Herr Kollege
van Essen - das sieht auch die Bundesregierung so. Bereits auf Ihre Anfrage - das ist angesprochen worden - ist
mitgeteilt worden, dass das BMJ an einer entsprechenden
Vorschrift arbeitet, wonach unbefugte Bildaufnahmen
und das unbefugte Beobachten mit einem technischen
Gerät mit Strafe bedroht werden sollen.
({0})
- Darauf komme ich jetzt.
Daran hat sich natürlich nichts geändert. Sie und der
Kollege Kauder haben Kritik geübt. Aber bei der Argumentation ist einiges verschwiegen worden. Das BMJ hat
gesagt: Wir schaffen eine entsprechende Regelung, aber
wir halten es nur für sinnvoll, wenn dies in einem großen
Kontext geschieht, weil sich in der Vergangenheit herausgestellt hat, dass in dem einen oder anderen Bereich des
Besonderen Teils des Strafrechts Änderungen notwendig
sind und es eigentlich nicht sinnvoll ist, hier ein bestimmtes Einzelproblem herauszunehmen, schon allein
deswegen, weil - das muss man berücksichtigen - Straftatbestände häufig ineinander übergehen.
({1})
Das Herauslösen oder Vorziehen einzelner Vorschriften
könnte im Nachhinein zu viel größeren Problemen führen,
als wenn man etwas wartet.
({2})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kauder?
Ja, natürlich.
Herr Kollege, nehmen Sie es mir bitte nicht übel. Sie
sind wie ich Jurist. Können Sie sich vorstellen, dass es einem Mädchen, das nackt im Internet publiziert wird, völlig egal ist, ob diese Rechtsvorschrift im Kontext mit anderen erlassen wird oder nicht? Für dieses Mädchen ist
wichtig, dass es Schutz bekommt. Die Regierung kennt
die Probleme seit dem Jahr 2001. Wie lange muss es noch
dauern?
Herr Kollege, Gesetzgebung ist wichtig und wir müssen auch reagieren. Aber das bedeutet nicht, dass wir in
puren Aktionismus verfallen dürfen.
({0})
Es ist zwar mittlerweile ein Jahr seit der Vorlage des Berichtes vergangen, Herr Kollege; aber das Problem ist
doch schon länger bekannt. Deshalb müssen sich auch andere fragen lassen, warum sie nicht die Notwendigkeit gesehen haben, etwas zu unternehmen.
({1})
Für mich ist es wichtiger, etwas vernünftig auf den Weg
zu bringen, als das voreilig zu tun. Ich hoffe, dass wir das
auch in diesem Zusammenhang tun werden. Ich meine,
dass voreiliges Handeln eher zu Nachteilen für die Betroffenen führt und sie im Grunde genommen nicht weiterbringt.
Ich möchte noch die Tatsache ansprechen - das geht ja
nicht von meiner Zeit ab -, dass Sie immer nur auf den
Bundesbeauftragten verweisen. Es ist ja gut, dass der
Bundesbeauftragte diesen Bericht veröffentlicht hat; man
muss ihn auch ernst nehmen. Aber die Meinung des Bundesbeauftragten, Herr Kollege Kauder, ist ja nun nicht das
Allheilmittel; er ist auch nicht der Allwissende. Das heißt,
wir sollten uns als freie Abgeordnete offen lassen, inwieweit wir dies bewerten und in welchem Zusammenhang
wir die von ihm gemachten Vorschläge sinnvoll umsetzen
wollen. Nur allein auf den Bericht des Bundesbeauftragten zu verweisen, halte ich offen gestanden für nicht ganz
richtig.
({2})
- Lassen Sie mich weiter reden. Ich will das zum Ende
bringen.
Gleichwohl, Kollege van Essen, haben Sie diesen Einzelpunkt schon herausgegriffen. Ich meine, es ist völlig in
Ordnung, dass wir darüber diskutieren, weil es uns möglicherweise den späteren Ablauf etwas erleichtern kann.
Aber wir werden - ich werde in den verbliebenen anderthalb Minuten meiner Redezeit noch auf ein paar Einzelheiten eingehen - uns dann tatsächlich darüber unterhalten müssen, ob alles, was in Ihrem Gesetzentwurf steht,
richtig ist.
Abgesehen von seiner Kritik an die Bundesregierung
hat Herrn Kauder natürlich zu Recht zwei oder drei inhaltlich richtige Punkte genannt. Die Polemik hätte ich
mir an seiner Stelle allerdings gespart. Auch ich meine,
dass wir uns noch einmal ganz in Ruhe darüber unterhalten müssen, ob es wirklich Sinn macht, einen Qualifikationstatbestand für Amtsträger zu schaffen. Trotz des
Beispieles von Herrn Kauder ist es mir noch nicht ganz
einsichtig, weil ich glaube, dass man den neu zu schaffenden § 201 a StGB nicht zwingend mit § 201 StGB vergleichen kann, weil diesem eine andere Intention zugrunde liegt. Wie gesagt, darüber müssen wir reden.
Möglicherweise wird uns die Diskussion in diesem Zusammenhang dann auch dahin führen, dass meine Zweifel
ausgeräumt werden. Solche habe ich natürlich weiterhin,
Herr Kollege, solange Ihrer Auffassung nach bereits der
Versuch des Delikts unter Strafe gestellt werden soll. Meine
Zweifel habe ich aber insbesondere deshalb, weil ich in der
späteren Praxis erhebliche Probleme sehe, diese Tat zu beweisen. Wer wird denn schon nachweisen können, dass
zum Beispiel die Beobachtung mit dem Fernglas nicht der
Natur, sondern dem Liebespaar in dieser dienen sollte?
Wir sind aufgefordert, nur Gesetze zu schaffen, die der
Justiz helfen und die Justiz nicht belasten. Ich bitte einfach darum, dass wir uns darüber noch einmal intensiv unterhalten. Wir dürfen uns auch nichts vormachen: Lösungen hängen nicht allein von neuen Gesetzen und
Regelungen ab. Zu Recht verweist der Bundesdatenschutzbeauftragte darauf - ich nehme noch einmal Bezug
auf ihn -, dass vielmehr das Verständnis für die Notwendigkeit des Respekts vor dem Persönlichkeitsrecht aller
Menschen in Verbindung mit entsprechenden technischen
und organisatorischen Maßnahmen in den Köpfen aller
wachsen muss, die mit personenbezogenen Daten umgehen wollen und müssen. Das sollten wir bei den anstehenden Beratungen nicht unberücksichtigt lassen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 15/361 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir sind damit zu ungewohnt früher Stunde am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf morgen, Freitag, den 21. Februar 2003, ausnahmsweise erst um 9.15 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.