Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/13/2003

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet! Zunächst möchte ich dem Kollegen Ernst Hinsken zur Vollendung seines 60. Geburtstages am 5. Februar und dem Kollegen Rainer Eppelmann, der am 12. Februar seinen 60. Geburtstag feierte, im Namen des Hauses nachträglich herzlich gratulieren. ({0}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zukunftsprogramm Bildung und Betreuung für Ganztagsschulen 2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU zu den Antworten der Bundesregierung auf die dringliche Frage in Drucksache 15/419 3. Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler zur aktuellen internationalen Lage 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Schäuble, Peter Hintze, Volker Kauder und der Fraktion der CDU/CSU: Europa und Amerika müssen zusammenstehen - Drucksache 15/421 5. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Gemeindefinanzen dauerhaft stärken - Drucksache 15/433 6. Überweisung im vereinfachten Verfahren Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Hans-Joachim Otto ({1}), Dr. Andreas Pinkwart, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Finanzplatz Frankfurt stärken - Drucksache 15/369 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Wimmer ({2}), Walter Riester, Karin Kortmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Katrin Dagmar GöhringEckardt, Krista Sager und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Hungerkatastrophe in Simbabwe weiter bekämpfen - Internationalen Druck auf die Regierung Simbabwes aufrechterhalten - Drucksache 15/428 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Ulrich Heinrich, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gemeinsame europäisch-afrikanische Initiative zur Lösung der Krise in Simbabwe starten - Drucksache 15/429 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 9. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des gesellschaftsrechtlichen Spruchverfahrens ({5}) - Drucksache 15/371 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Ferner sollen die Beratung des Jahreswirtschaftsberichts mit dem Jahresgutachten des Sachverständigenrates auf Freitag, 9 Uhr, verschoben werden und der Tagesordnungspunkt 10 - EU-Agrarreform - abgesetzt werden. Darüber hinaus mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 16. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Rechtsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Leo Dautzenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU zur Aufhebung des Vermögensteuergesetzes - Drucksache 15/196 überwiesen: Finanzausschuss ({6}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Präsident Wolfgang Thierse Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Zusatzpunkte 3 und 4 auf: ZP 3 Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler zur aktuellen internationalen Lage ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Schäuble, Peter Hintze, Volker Kauder und der Fraktion der CDU/CSU Europa und Amerika müssen zusammenstehen - Drucksache 15/421 Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Über den Antrag und den Entschließungsantrag werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundeskanzler Gerhard Schröder. ({7})

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland trägt Verantwortung, Verantwortung im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, Verantwortung für die Durchsetzung einer bedingungslosen Abrüstung des Irak, Verantwortung für den Frieden. Deutschland trägt diese Verantwortung gemeinsam mit den anderen Staaten der Vereinten Nationen und an dieser Verantwortung für den Frieden halten wir unbeirrt fest. ({0}) Deutschland steht zu seinen Bündnispflichten in der NATO. ({1}) Wenn ein Partner angegriffen wird, dann werden wir ihn verteidigen. ({2}) Das haben wir bewiesen - nicht erst, aber vor allem - als es um die Zustimmung zur Operation Enduring Freedom ging, und das haben wir bewiesen, als wir diese Operation verlängert haben. Das wird so bleiben. Mir kommt es darauf an, dass den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes, aber auch den Partnern in der Welt klar wird: 10 000 Frauen und Männer der Bundeswehr sind mittlerweile an internationalen Einsatzorten - auf dem Balkan, in Afghanistan - stationiert, um Menschen dort Freiheit und Sicherheit zu gewährleisten. Dafür gebühren diesen Soldatinnen und Soldaten unsere Hochachtung und - mehr noch - unser tief empfundener Dank. ({3}) Aber wir tun auch unsere Pflicht für den Frieden und für die friedliche Entwaffnung des Irak. Gemeinsam mit Frankreich, mit Russland und mit anderen unternimmt die Bundesregierung alle Anstrengungen, um den Konflikt im und um den Irak auf friedlichem Wege zu lösen. Das ist möglich und darum kämpfen wir! ({4}) Ich füge hinzu - dies sage ich klar und deutlich unseren Bürgerinnen und Bürgern, aber auch unseren amerikanischen Freunden -: Das verstehe ich unter meiner Verantwortung als Bundeskanzler. ({5}) Meine Damen und Herren, der Kampf gegen den internationalen Terrorismus, gegen das, was man aus guten Gründen die asymmetrische Bedrohung unserer Welt nennt, erfordert nach wie vor die höchste Aufmerksamkeit. Wir können und wir müssen diesen Kampf gewinnen: im Interesse der Sicherheit der Menschen und des Friedens in der Welt. Vor dem Hintergrund dieses Interesses wollen wir ihn gewinnen. Wir haben ihn aber keineswegs bereits gewonnen. Auch wenn die Auseinandersetzung gegenwärtig durch andere gewiss wichtige Themen überlagert wird, ist zu sagen: Diese Bedrohung besteht fort und sie muss in den Mittelpunkt der politischen Anstrengungen, die wir miteinander auf uns nehmen, gestellt werden. ({6}) Auch das gilt es zu erwähnen: Das ist der Grund dafür, dass unsere Special Forces, also unsere Spezialtruppen, übrigens Seite an Seite mit den Amerikanern, in Afghanistan gegen den internationalen Terrorismus kämpfen. ({7}) Am Montag dieser Woche haben die deutschen Soldaten zusammen mit den niederländischen in Kabul das offizielle Kommando über die ISAF-Schutztruppe der Vereinten Nationen übernommen. Auch das muss in die deutsche Öffentlichkeit: Bis zu 2 500 Soldaten werden dort ihre Arbeit leisten; und sie leisten sie gut. Ohne Deutschland würde in diesem so schwierigen Gebiet sehr viel weniger gehen. ({8}) Weil das so ist, will ich, dass wir das unserem Volk, aber auch unseren Partnern in der NATO und in den Vereinten Nationen selbstbewusst sagen. ({9}) Wenige NATO-Mitglieder leisten, was wir leisten. Das darf nicht vergessen werden! ({10}) Mit der Entsendung dieser Soldaten haben wir als Regierung, aber auch als Abgeordnete des Deutschen Bundestages gegenüber den Betroffenen und ihren Angehörigen eine große Verantwortung übernommen. Unsere Bevölkerung und die Menschen in aller Welt haben ein Recht darauf, zu wissen: Wir werden uns die Entscheidung über militärische Gewalt und die Entsendung von Truppen niemals leicht machen. Das war so und das muss so bleiben. ({11}) Wir werden niemals einen Zweifel daran lassen, dass wir solche Entscheidungen, die für jeden von uns zu den schwierigsten gehören, die man sich vorstellen kann, auf der Grundlage fester Prinzipien treffen. Diese Prinzipien sind universell; von ihnen lassen wir uns in unserem Handeln, aber auch in unseren Bündnissen leiten: Prinzipien der Freiheit, des Friedens und des Rechts. Es wird und es muss aber auch deutlich werden, dass wir diese Entscheidungen souverän, das heißt in unserer Verantwortung, zu treffen haben. ({12}) Die Bundesrepublik - auch das gilt es in aller Welt klar zu machen - hat in einem Maße internationale Verantwortung übernommen, wie es vor einigen Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre: Verantwortung auf dem Balkan, vor allen Dingen aber auch Verantwortung nach den verheerenden Terroranschlägen des 11. September 2001 in New York und Washington. Den deutschen Beitrag, um den Frieden zu erhalten, gegen diese asymmetrische Bedrohung zu kämpfen und die Regionen in der Welt, die besonders bedroht sind, zu stabilisieren, haben wir seit 1998 verzehnfacht: von 200 Millionen Euro im Jahr auf 2 Milliarden Euro im Jahr 2002. Niemand in Deutschland muss sich angesichts dieser enormen Leistungen verstecken und niemand muss sein Licht unter den Scheffel stellen. ({13}) Deutschland stellt heute nach den Vereinigten Staaten von Amerika das zweitgrößte Truppenkontingent in internationalen Einsätzen zur Sicherung und Wahrung des Friedens. Insgesamt haben seit 1998 mehr als 100 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten in solchen Einsätzen ihr Leben und allemal ihre Gesundheit riskiert. Wir haben immer gewusst, dass es zu dieser Politik der Solidarität keine Alternative geben konnte und vor allen Dingen keine geben durfte. Solidarität, wie wir sie geleistet haben und nach wie vor leisten, schafft aber auch das Recht, ja die Pflicht, zu differenzieren. ({14}) Dass angesichts der fortbestehenden Gefahr durch den internationalen Terrorismus, etwa der al-Qaida, alle Maßnahmen und Entscheidungen auch daraufhin überprüft werden müssen, ob sie dem Kampf gegen diesen Terrorismus nützen oder schaden, das sollte für uns alle selbstverständlich sein. Das gilt auch bezogen auf die aktuelle Irakkrise. Wer diese Krise mit militärischen Mitteln lösen will, muss eine Antwort auf die Frage haben, ob das die weltweite Allianz gegen den Terrorismus, der auch mehr als 50 überwiegend muslimische Nationen angehören, voranbringt oder ob es diese Allianz gefährden und vielleicht sogar sprengen könnte; denn das hätte verheerende Folgen für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus. ({15}) Noch etwas anderes muss bedacht werden, wenn man in dieser Situation verantwortungsvoll reden und entscheiden will. Ich will ein Beispiel nennen, das mich bewegt, weil ich Schwierigkeiten habe, ({16}) die unterschiedlichen Betrachtungsweisen zu erklären, nämlich Nordkorea. Kein Zweifel, in Nordkorea herrscht ein diktatorisches Regime. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Nordkorea über Anlagen zur Herstellung atomarer Sprengköpfe verfügt. Die Vereinigten Staaten sagen sogar, so jüngst ihr Sicherheitschef, dass es dort bereits atomare Sprengköpfe gibt. Es besteht kein Zweifel, dass Nordkorea über Trägersysteme verfügt, die diese Sprengköpfe in Ziele bringen können. Die Wahrscheinlichkeit, dass man dort in der Lage ist, atomare und biologische Waffen herzustellen, ist groß. Dieses Land hat die internationalen Inspektoren des Landes verwiesen und dieses Land erhält für eine friedliche Lösung der Krise das Angebot eines Dialogs, im Einklang mit dem internationalen Recht. ({17}) - Ich bin mit einem solchen Dialogangebot einverstanden. ({18}) Schauen wir uns jetzt den Irak an; denn da liegt mein Problem. Der Irak wird ohne Zweifel von einem Diktator beherrscht, den jeder von uns lieber heute als morgen loswürde, gar keine Frage. ({19}) Der Irak verfügt definitiv über keine atomaren Waffen und definitiv über keine weit reichenden Trägersysteme, die das, was er nicht hat, in Ziele bringen könnten. Es gibt Hinweise darauf, dass der Irak in der Lage sein könnte, andere Massenvernichtungsmittel herzustellen. Deshalb haben wir gesagt - darin liegt die innere Begründung -: Die Inspekteure, die dort arbeiten, müssen weiter arbeiten können. Wir müssen wissen, ob der Irak über Waffen verfügt und über welche. Wir müssen dafür sorgen, dass Waffen, wenn er über solche verfügt, im Einklang mit der Resolution 1441 vernichtet werden. Das ist die Aufgabe, die wir haben. ({20}) Wir haben immer klargemacht, dass die Politik der Bundesregierung eine Friedenspolitik ist. Das gilt für den Wiederaufbau in Afghanistan wie auch für unsere Bemühungen - darin dürfen wir nicht nachlassen - um dauerhaften Frieden und dauerhafte Sicherheit im Nahen Osten. Die vornehmste Aufgabe internationaler Politik ist, Kriege zu verhüten. Daran orientieren wir uns. ({21}) Keine Realpolitik und keine Sicherheitsdoktrin dürfen dazu führen, dass wir uns gleichsam schleichend daran gewöhnen, Krieg als normales Mittel der Politik ({22}) oder, wie es einmal gesagt worden ist, als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zu begreifen. Nein, wer militärische Gewalt anordnet, der kann das nur auf der Basis ganz bestimmter Prinzipien und Möglichkeiten tun, die in der Charta der Vereinten Nationen festgehalten sind. ({23}) Wir wissen: Auch als letztes Mittel der Konfliktlösung unterliegt die Anwendung militärischer Gewalt strengsten Beschränkungen. Ausnahmen bilden namentlich die Selbstverteidigung gegen einen unmittelbar bevorstehenden bewaffneten Angriff, wie es in der Charta heißt, oder die vom Sicherheitsrat mandatierte Abwehr einer unmittelbaren schweren Gefahr für den internationalen Frieden. In diesem Sinne hat sich das Völkerrecht in einem über Jahrhunderte währenden Prozess herausgebildet. Die Satzung der Vereinten Nationen beruht auf diesem Grundsatz des Gewaltverbots. Übrigens, treibende Kraft dabei waren immer wieder die Vereinigten Staaten von Amerika; denken wir an Namen wie Wilson oder Roosevelt. Kern dieses Prozesses ist das Prinzip, die Stärke des Rechtes an die Stelle des Rechts des Stärkeren zu setzen. ({24}) Ungeachtet aller aktuellen Meinungsverschiedenheiten ist dies das gemeinsame Wertefundament, das uns fest mit unseren amerikanischen Freunden verbindet. Die transatlantische Freundschaft war nie eine eng oder egoistisch verstandene Zweckgemeinschaft. Sie ist und sie bleibt eine Wertegemeinschaft. Diese Wertegemeinschaft kann auch bei gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten in ihrer Substanz nicht berührt werden. ({25}) Deutsche und Amerikaner verbindet längst nicht mehr nur die Dankbarkeit, die wir für die Befreiung von der Nazidiktatur und die Chance für den demokratischen Wiederaufbau empfinden. Nein, uns verbindet mehr. Uns verbindet eine kulturelle Zusammengehörigkeit, die weit in den Alltag unserer Völker hineinreicht. Und uns eint eine Freundschaft, die auf gegenseitigem Respekt und der Verfolgung gemeinsamer Ziele beruht und in der wir deshalb zu unterschiedlichen Meinungen kommen und dies ertragen können. ({26}) Wir streiten heute nicht um Details der Sicherheitspolitik, nicht um vordergründigen strategischen oder ökonomischen Nutzen. Wir streiten übrigens auch nicht über Sein oder Nichtsein der NATO. Es geht uns darum, ob Willensbildung multilateral bleibt. Bei dieser Frage geht es auch um die gegenwärtige, vor allem aber um die künftige Rolle Europas, und zwar des ganzen Europas. Dass dieser Kontinent, dieses unser Europa, ohne engste Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland seine Rolle nicht spielen kann, war immer eine gemeinsame Erkenntnis in diesem Hause. Mir scheint, dass die Union vor dem Hintergrund der aktuellen Probleme und Meinungen bereit ist, diese fundamentale Position aus taktischen Gründen aufzugeben. Würde das der Fall sein, dann wäre das schlimm für Europa und schlimm für Deutschlands Interessen in Europa. ({27}) Kein Zweifel, heute stellt sich die Frage der Verantwortung, von der ich gesprochen habe, vor allen Dingen in der Golfregion. Ebenso wenig kann ein Zweifel daran bestehen, dass verantwortlich dafür das Regime in Bagdad ist, über dessen Natur sich niemand - aber auch wirklich niemand - Illusionen macht. Wir haben also dafür zu sorgen, dass der Irak die Hindernisse ausräumt, die das Regime einer friedlichen Entwicklung und der Herrschaft des Rechts entgegenstellt. Wir unterstützen daher vorbehaltlos die Forderungen der internationalen Gemeinschaft nach einer bedingungslosen Abrüstung des Irak und nach seiner vollen und aktiven Kooperation mit den Waffeninspekteuren. ({28}) Der Weltsicherheitsrat hat in seiner Resolution 687 im April 1991 als Ziel und Rahmen eine ausgewogene und umfassende Rüstungskontrolle in der Region und die Einrichtung einer von Massenvernichtungswaffen freien Zone im Nahen und Mittleren Osten verbindlich festgeschrieben - wohlgemerkt, in der gesamten Region. Die dem irakischen Regime aufgegebene Abrüstung ist demnach nur ein erster Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel, das der Sicherheitsrat definiert hat. Durch seine wiederholten Verstöße gegen UN-Resolutionen steht der Irak bisher diesen Zielen im Wege. Das ist der Grund, warum der Weltsicherheitsrat in seiner Resolution 1441 vom 8. November 2002 einstimmig beschlossen hat, dass der Irak lückenlos Bericht zu erstatten und verbliebene Potenziale an Massenvernichtungswaffen vorbehaltlos und nachprüfbar abzurüsten hat. Diese Resolution trägt Deutschland mit. Wir haben aktiv an ihrer Umsetzung mitgewirkt. Wir haben Personal, Ausrüstung und Informationen - und zwar vollständige Informationen - für die Waffeninspekteure bereitgestellt. Wir unterstützen die Resolution 1441 und ihr Ziel als Mitglied und derzeitiger Vorsitzender des Weltsicherheitsrates. Genauso klar ist: Diese Resolution enthält keinen Automatismus zur Anwendung militärischer Gewalt - keinen Automatismus! ({29}) Wenn die Vorsitzende der CDU, wie sie das bei der Münchener Sicherheitskonferenz getan hat, das Gegenteil behauptet, dann irrt sie. Wenn sie dabei bleibt, dann führt sie die Menschen in die Irre. ({30}) Die letzte Mission der Inspekteure in Bagdad hat, nach allem, was wir bisher wissen, durchaus zu Fortschritten geführt. Die Inspekteure, die morgen dem Weltsicherheitsrat erneut Bericht erstatten werden, haben nie einen Zweifel am notwendigen Umfang ihrer Mission gelassen. Unsere Verantwortung ist es, diese Inspekteure zu befähigen, ihre Aufgabe erfolgreich zu Ende zu bringen. Wie wir in unserer gemeinsamen Erklärung mit Frankreich und Russland, die von China unterstützt wird und auf der Linie weiterer Mitglieder des Sicherheitsrats liegt, betont haben, muss es darum gehen, sämtliche Möglichkeiten für eine friedliche Lösung des Konfliktes auszuschöpfen. ({31}) Das bedeutet: Die Inspektionen müssen fortgesetzt und ausgeweitet werden. Meine Damen und Herren, wir wissen aus unserer eigenen Geschichte, dass tief greifende Veränderungen oft nur durch langfristige Prozesse erreicht werden können. Das glückliche Ende des Kalten Krieges ist eben auch ein Erfolgsbeweis für die Politik der Eindämmung und der Abschreckung. Ohne dass je eine militärische Option zu Gebote gestanden hätte, konnten am Ende die Ziele von Freiheit, Frieden und Rechtsstaatlichkeit erreicht werden. ({32}) Entscheidend war in diesem Prozess das beharrliche Eintreten für unsere Werte und Prinzipien im Rahmen des Bündnisses. Auch damals gab es mitunter Meinungsverschiedenheiten und vielen, die damals dabei waren, ist das auch sehr wohl bewusst. Aber genauso wie heute stand die prinzipielle Einigkeit im Ziel einer freiheitlichen, friedlichen Ordnung unseres Kontinents nie infrage. Auch heute bekennen wir uns ausdrücklich zu unseren Bündnisverpflichtungen und nehmen sie auch wahr. Das Bündnis hilft Partnern, die in Gefahr sind. Das bezieht sich ausdrücklich auch auf die Türkei, die sich auf unsere Solidarität bei einer Gefahrenabwehr jederzeit verlassen kann. ({33}) Ich möchte auch sagen: Den Forderungen innerhalb der NATO, die in dieser Hinsicht erhoben worden sind, haben wir tatsächlich längst entsprochen. So habe ich schon im Dezember öffentlich zugesagt - daran darf kein Zweifel bestehen; gelegentlich ist er aus anderer Richtung geäußert worden -, dass die deutschen AWACS-Besatzungsmitglieder für den Schutz des Bündnisgebietes, damit auch für den Schutz der Türkei, zur Verfügung stehen. Ich habe zugleich darauf hingewiesen, dass es keine direkte oder indirekte Beteiligung an einem Krieg geben wird, und dabei bleibt es. ({34}) Zusammen mit den Niederlanden stellen wir der Türkei das modernste Gerät zur Raketenabwehr zur Verfügung, das es in Europa zurzeit gibt, nämlich die PatriotSysteme. Übrigens: Wir haben diese Systeme auch nach Israel geliefert. Ich denke, wir sind uns jedenfalls insoweit einig, dass das eine notwendige und richtige Entscheidung gewesen ist. Hinzu kommt - auch das müssen wir unseren Partnern gelegentlich sagen -: Soldaten der Bundeswehr beschützen seit Ende Januar amerikanische Kasernen, Flugplätze und Einrichtungen. Etwa 1 000 deutsche Soldaten sind bereits für diese Aufgaben eingesetzt und es werden deutlich mehr werden. Auch aufgrund der Tatsache, dass wir diese Leistungen erbringen, halten wir mit unseren Freunden aus Frankreich und Belgien einen förmlichen Beschluss darüber vor den Erörterungen des Sicherheitsrates für nicht angemessen ({35}) und haben uns im Einklang mit unseren Partnern in Frankreich genau so verhalten. ({36}) Für uns steht die Solidarität mit der Türkei und die Solidarität in der Allianz außer Frage; doch wir halten - anders als die Opposition - die Aktionseinheit mit Frankreich gerade in der jetzigen Situation für unverzichtbar. Wir sagen daher deutlich: In der deutschen Politik kann es niemals darum gehen, diese Solidarität mit Frankreich aufzukündigen. ({37}) Wir alle wollen die Entwaffnung des Irak. Unterschiedlicher Meinung sind wir hinsichtlich der Wahl der Mittel zur Durchsetzung und der Zeitvorstellung zur Erreichung des Ziels. Meine Damen und Herren, der Bundesaußenminister hat im Weltsicherheitsrat darauf hingewiesen, dass während der Inspektionen von 1991 bis 1998 nachweislich mehr Massenvernichtungswaffen im Besitz des Irak abgerüstet worden sind als während des gesamten Golfkrieges. Es spricht also alles dafür, dass kontrollierte Abrüstung und wirksame Inspektionen ein durchaus taugliches Mittel zur Beseitigung der Gefahr, die von Massenvernichtungswaffen ausgeht, sind. ({38}) Wer angesichts dessen heute einer militärischen Option den Vorzug gibt, muss glaubhaft machen, dass es keine Alternative zum Krieg gibt. Die Bundesregierung - ich sage es bewusst noch einmal - ist gemeinsam mit Frankreich, Russland, China und zahlreichen anderen Staaten ausdrücklich nicht der Meinung, dass es keine friedliche Alternative gibt. Es gibt eine und wir kämpfen darum, sie zu realisieren. ({39}) Ebenso wie unsere europäischen Partner und die Vereinigten Staaten wollen wir dazu beitragen, auch im Nahen Osten eine dauerhafte und stabile Friedensordnung zu schaffen. Dazu gehört die Sicherheit Israels ebenso wie ein unabhängiger, lebensfähiger und demokratischer Staat der Palästinenser. ({40}) Eine militärische Auseinandersetzung im Irak würde nach unserer Einschätzung diesen Prozess nicht erleichtern, sondern deutlich verlängern und deutlich erschweren. Eine militärische Konfrontation und die Besetzung des Irak würden im Übrigen die Reform- und Dialogbereitschaft in islamischen Ländern vermutlich weiter blockieren und die Gefahr terroristischer Anschläge deutlich erhöhen. Wenn ich - und mit mir der Außenminister - so leidenschaftlich dafür kämpfe, dem Frieden eine Chance zu geben ({41}) - Sie werden das heute schon noch erleben; seien Sie da ganz sicher -, ({42}) dann geschieht das eben auch aus Sorge um die Folgen für die Region und aus Sorge um die Folgen für Israel. Eine neue Welle des Kamikazeterrors mit seinen entsetzlichen Opfern unter dem israelischen Volk und als Folge der Vergeltungsschläge auch unter dem palästinensischen Volk müssen gerade wir vermeiden helfen. ({43}) Einer der wesentlichen Gründe, warum es den Vereinigten Staaten und uns nach dem 11. September 2001 gelungen ist, eine breite Koalition gegen den Terror zu schmieden, war die Ablehnung der Idee, es könne sich um einen Kampf der Kulturen oder um einen Feldzug des Westens gegen den Islam handeln. ({44}) Wenn wir jetzt den Prozess der Abrüstung des Irak und der politischen Befriedung für gescheitert erklärten, würden wir, befürchte ich, Fanatikern, die diese Konfrontation der Kulturen herbeipredigen und mit ihren schändlichen Attentaten auch herbeibomben wollen, Zulauf und Bestätigung bescheren. Dagegen beharren wir auf der Integrität einer jeden Zivilisation gegen die Gewalt von Terroristen und auf der Überlegenheit einer Friedensordnung des Rechts. Gerade deshalb ist es unsere Pflicht und Schuldigkeit, jeden Stein wirklich zweimal umzudrehen, um eine friedliche Lösung zu erreichen. Das ist die Position der Bundesregierung und ihrer Partner. ({45}) Die Alternative heißt eben nicht: Krieg oder Nichtstun. Wer den Krieg ablehnt, ist nicht zum Appeasement verdammt. Unser unmittelbares Vorgehen orientiert sich im Wesentlichen an fünf Punkten: Erstens. Die Resolution 1441 enthält keinen Automatismus zur Anwendung militärischer Gewalt. Vordringliche Aufgabe ist es, sämtliche Mittel zur friedlichen Konfliktlösung auszuschöpfen und in ihrer Anwendung zu optimieren. Zweitens. Irak muss umfassend und aktiv mit dem Weltsicherheitsrat und den Waffeninspektoren kooperieren. Wir brauchen eindeutige Klarheit über Massenvernichtungsmittel des Irak und, so es sie gibt, über deren endgültige Abrüstung. Drittens. Die Entscheidungskompetenz über den Fortschritt der Inspektionen und über sämtliche Konsequenzen liegt beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Viertens. Entscheidendes Instrument für die Beseitigung verbotener irakischer Rüstungsprogramme ist und bleibt ein wirksames Inspektions- und Verifikationsregime. Es muss ausgebaut und den Erfordernissen entsprechend verstärkt werden. Fünftens. Unser Ziel ist es, dauerhafte Strukturen für die Eindämmung von vom Irak ausgehenden Gefahren sowie für Abrüstung und Stabilität in der gesamten Region zu schaffen. Der französische Außenminister hat am 5. Februar im Weltsicherheitsrat Vorschläge gemacht, die auf die Schaffung eines effektiveren Inspektionsregimes abzielen. Diese Vorschläge hat Frankreich inzwischen weiter konkretisiert. Im Kern geht es darum, die Zahl der Inspektoren zu verdoppeln oder zu verdreifachen, ihre Ausstattung mit technischem Material, Infrastruktur und speziell qualifiziertem Personal aufzustocken und zu diversifizieren sowie die Koordinations-, Aufklärungs- und Eingriffsmöglichkeiten der Inspektoren zu präzisieren und zu verstärken. Diese Vorschläge werden von der Bundesregierung ausdrücklich unterstützt. ({46}) Parallel dazu arbeiten wir gemeinsam mit Frankreich und anderen Partnern an Vorschlägen zur friedlichen, vollständigen und dauerhaften Abrüstung. Diese Vorschläge beinhalten unter anderem die dauerhafte Überwachung einschlägiger Anlagen und wirksame Kontrol1878 len des Exports, aber auch des Endverbleibs kritischer Güter unter Einbeziehung vor allem - aber durchaus nicht nur - der Anrainerstaaten. Inspektionen und Kontrollen sollten auch dazu führen, dass wir Erkenntnisse über den Handel mit verbotenen Kampfstoffen und Komponenten sowie Erkenntnisse über die entsprechenden Vertriebswege zum weltweiten Kampf gegen die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln wirksam nutzen können. Vor allem die Anrainerstaaten des Irak müssen stärker als bisher eingebunden werden. Die explosive Lage in der Region sowie die dort vorhandenen Waffenpotenziale erfordern eine umfassende Kooperation. Wir dürfen und wollen die Nachbarstaaten des Irak und seine Partner in der Arabischen Liga nicht aus ihrer Verantwortung für eine friedliche Lösung entlassen. ({47}) Ich hoffe, es ist sichtbar: Wir stellen uns unserer Verantwortung für den Erhalt des Friedens. Es kann nicht verkehrt sein, selbst für die allergeringste Friedenschance auch außergewöhnliche Anstrengungen auf sich zu nehmen. ({48}) Diese Einschätzung wird im Übrigen auch von der Mehrheit unserer europäischen Nachbarn sowie von der Mehrheit der Sicherheitsratsmitglieder geteilt. Auch aus diesem Grunde unterstützen wir den Vorschlag der griechischen EU-Präsidentschaft zur Einberufung eines Sondergipfels am kommenden Montag. Ich denke, dass wir es schaffen müssen - wie es Anfang Februar auch die 15 europäischen Außenminister geschafft haben -, zu einer gemeinsamen europäischen Position zurückzukommen. ({49}) Deutschland ist bereit, alle Mittel, die wir für ein nachhaltiges, verschärftes Inspektionsregime zur lückenlosen Abrüstungskontrolle mobilisieren können, zur Verfügung zu stellen. Welches die besten Mittel sind, werden wir in enger Absprache mit den Inspekteuren und mit unseren Partnern im Sicherheitsrat beraten. Dabei sind wir fest davon überzeugt: Es gibt noch Alternativen; es ist nicht zu spät, die Entwaffnung des irakischen Regimes friedlich zu erreichen. Nicht nur im Sicherheitsrat, nicht nur in der Europäischen Union, sondern auch im Bundestag, hier im Hohen Hause, werden wir uns weiter um eine breite Mehrheit für eine gemeinsame Position in dieser Hinsicht einsetzen. ({50}) Darüber hinaus, meine Damen und Herren, haben auch die Bürgerinnen und Bürger ebenso wie unsere Freunde und Verbündeten nach wie vor einen Anspruch darauf, von uns eine Antwort darauf zu erhalten, ob wir uns an einer Militäraktion beteiligen oder nicht. Diese Bundesregierung hat diese Frage mit Nein beantwortet und dabei bleibt es. ({51}) Vor allem aber wollen die Bürgerinnen und Bürger - sie müssen darauf vertrauen und sie können darauf vertrauen -, dass wir alle erdenklichen Anstrengungen unternehmen, um den Frieden auch in jener Region stabiler zu machen, um eine friedliche Lösung des Konfliktes zu erreichen. Ich will nicht akzeptieren, dass es nur darum geht, Krieg zu führen mit den Freunden oder dem Frieden eine Chance zu geben ohne sie. Wir können den Irak entwaffnen ohne Krieg. ({52}) Diese Chance zu nutzen verstehe ich als Inhalt meiner Verantwortung, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({53}) Gewiss - ich weiß darum -, es gibt auch in unserem Land eine Koalition der Willigen für einen Krieg. Nach den Erklärungen aus jüngster Zeit gehört die CDU/CSU dazu. ({54}) - Das haben Sie doch gesagt. - Denen, die die Chancen, die ich erläutert habe, nicht nutzen wollen, setzen wir mit der Mehrheit in unserem Volk den Mut zum Frieden entgegen. ({55}) Dieser Mut zum Frieden ist das Mandat von Rot-Grün, das uns am 22. September 2002 gewährt worden ist. Und exakt an dieses Mandat werden wir uns halten, meine Damen und Herren. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({56})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Angela Merkel, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute schauen Millionen Menschen in Deutschland auf uns und hören dieser Debatte zu. Sie machen sich Sorgen, ob wir, die Politiker - egal ob Regierung oder Opposition -, unser Land durch eine schwierige Zeit, insbesondere durch den Irakkonflikt und durch den Kampf gegen den Terrorismus mit Klugheit und Weisheit führen können. Die Menschen in diesem Lande wollen keinen Krieg. ({0}) Diejenigen, die in diesem Saale sitzen, wollen auch keinen Krieg. ({1}) Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, wie sehr Sie innerlich unter Druck stehen, hat man schon an der Lautstärke Ihrer Stimme gemerkt. ({2}) Dass Sie es aber nötig haben, die Opposition dieses Hauses als Kriegstreiber zu verleumden, ({3}) zeigt, in welcher Ecke Sie stehen. Aus dieser Ecke werden Sie nicht herauskommen können. ({4}) Wer als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland den Eindruck erweckt, irgendjemand würde sich die Entscheidung über Krieg und Frieden leicht machen und die letzte Chance aus der Hand geben, der, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, hat nicht erfasst, worum es geht. ({5}) Ich sage Ihnen: Sie sind seit Wochen auf einem Irrweg. Das Schlimmste ist - das sage ich mit großem Ernst; das ist meine feste Überzeugung -, dass insbesondere Ihr Verhalten auf dem Marktplatz von Goslar den Krieg im Irak leider nicht unwahrscheinlicher, sondern wahrscheinlicher gemacht hat; denn Sie haben den Druck auf Saddam Hussein verringert. ({6}) Im Gegensatz zu Ihnen war ich in München und weiß, was ich gesagt habe. Niemand hat behauptet, dass es aufgrund der Resolution 1441 einen Automatismus der Gewalt gibt. ({7}) Sie haben es auf dem Marktplatz von Goslar aber für notwendig erachtet, der Weltöffentlichkeit mitzuteilen, dass Sie unter gar keinen Umständen - Ihnen ist es also egal, was die Inspekteure herausfinden und worum sie bitten bereit sind, dafür zu sorgen, dass die Resolution 1441 mit letzter Konsequenz umgesetzt werden kann. ({8}) Das ist der Dissens und um den drücken Sie sich herum. ({9}) Nun versuchen Sie mit zum Teil abenteuerlichen, dilettantischen Mitteln, über größere deutsche Zeitungen aus dieser Ecke wieder herauszukommen. ({10}) Sie müssen sich einmal vorstellen, was in München abgelaufen ist. Dort standen ein Außenminister, der von nichts wusste, und ein Verteidigungsminister, der gesagt hat, dass wir durch die Regierungserklärung des Bundeskanzlers am heutigen Donnerstag über die Blauhelme informiert werden. Fehlanzeige, Herr Bundeskanzler! Davon habe ich nichts gehört. ({11}) Des Weiteren waren dort eine Verteidigungsministerin aus Frankreich, die erstaunt geguckt hat, ein portugiesischer Verteidigungsminister und ein amerikanischer Verteidigungsminister, mit denen natürlich auch niemand gesprochen hat, anwesend. Das ist das, was wir kritisieren. Herr Bundeskanzler, ich glaube, wir tun dies zu Recht. ({12}) Krieg zu vermeiden ist ein richtiger Wunsch. Die Politik ist ihm verpflichtet. Ich sage aber auch: Sie vermengen die Dinge. Sie selber stehen angeblich dazu, dass die NATO eine Wertegemeinschaft ist. ({13}) Sie selber wollen die Position der UNO stärken. Es ist doch ganz natürlich, dass es hin und wieder Meinungsverschiedenheiten gibt. Ich kann Ihnen im Übrigen sagen, dass ich mit den Amerikanern viele Verhandlungen über Klimaschutzabkommen geführt habe. ({14}) - Entschuldigung, wenn Sie vor lauter Selbstverliebtheit nicht mehr außer Landes kommen, wird man doch noch davon berichten dürfen, wie man mit den Amerikanern verhandelt hat. ({15}) Herr Bundeskanzler, wir streiten hier über die Frage: Wie kann ich in einer Gemeinschaft von Freunden, denen ich mich durch gemeinsame Werte verpflichtet fühle, einen möglichst großen Teil meiner eigenen Vorstellungen umsetzen? Das kann ich nicht dadurch, dass ich Dinge verkünde, ohne mich abzusprechen, und Teilbündnisse schließe, ohne andere zu informieren. ({16}) Damit schwäche ich die Europäische Union, die NATO, die UNO, den Sicherheitsrat und die Arbeit der Inspekteure. ({17}) Weil Sie sich so verhalten haben, wie Sie sich verhalten haben, haben Sie außenpolitischen Schaden angerichtet. Wenn ich von Schaden spreche, können Sie sicher sein, dass ich mir das gut überlegt habe. Ich erinnere an eine Gemeinsamkeit von Konrad Adenauer über Willy Brandt und Helmut Schmidt bis Helmut Kohl, die sich jenseits aller innenpolitischen Auseinandersetzungen immer einem Ziel verpflichtet gefühlt haben: Nie wieder Krieg! Das heißt in der Umsetzung: Nie wieder ein deutscher Sonderweg! ({18}) Herr Bundeskanzler, Sie versuchen den Eindruck zu erwecken, Sie seien mit Frankreich und anderen Ländern einer Meinung. ({19}) Der große Unterschied ist, dass sich der Präsident der Französischen Republik seinen diplomatischen Handlungsspielraum erhalten hat. Sie haben Ihren aufgegeben und damit Deutschland in eine gewichtslose Klasse hineingeführt, die nicht mehr das bewegen kann, was sie eigentlich bewegen müsste. ({20}) Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb gestern: ({21}) Deutschland ist in einer Sackgasse angekommen und hat, anders als Frankreich oder Russland, keine Hintertüren offen. Solange Schröder in Berlin regiert, ({22}) wird Washington ihn als Gegner sehen, in Paris und London gilt er als überambitionierter Amateur. ({23}) Herr Bundeskanzler, Sie können die „Süddeutsche Zeitung“ in Ihrer Parteitagsdiktion nicht als Helfershelfer der Opposition bezeichnen. Deshalb rate ich Ihnen: Nehmen Sie diese Worte ernst! Wenn es nicht um so viel ginge, dann wäre die Sache mit dem „überambitionierten Amateur“ sogar zum Lachen. Aber es geht hier nicht um eine ganz normale Auseinandersetzung, sondern um das Verhalten Deutschlands in der Zukunft und damit um weit mehr als nur um einen Konflikt. Ich sage Ihnen sehr persönlich: 1990, als wir in Frieden und Freiheit die deutsche Einheit in Übereinstimmung mit Frankreich, Russland, den Vereinigten Staaten und Großbritannien erhalten haben, als ein Kollege aus Ihren Reihen, Markus Meckel, genauso in die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen wie viele andere eingebunden war, haben wir uns nicht träumen lassen, dass Deutschland heute einen Beitrag dazu leistet, dass Bündnisse geschwächt werden und die transatlantische Partnerschaft gegen die deutsch-französische Freundschaft ausgespielt wird. ({24}) Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ich mache bei diesem Spiel nicht mit. ({25}) - Das ist allerdings sehr ernst. Ich war bisher gegenüber dem Bundeskanzler sehr freundlich. Dass es der Bundeskanzler wagt, zu behaupten, dass wir das Verhältnis zu Frankreich infrage stellen, um die transatlantische Partnerschaft zu pflegen, ist eine Ungeheuerlichkeit. Ich kann es Ihnen auch auf diese Art und Weise sagen. ({26}) Herr Bundeskanzler, seit dem Bundestagswahlkampf schüren Sie sehr subtil einen bestimmten Antiamerikanismus. ({27}) Sie haben im Wahlkampf festgestellt: Mit mir sind Abenteuer nicht zu machen. Was soll das bedeuten? Mit wem auf dieser Welt sind Abenteuer zu machen? ({28}) Der Senator McCain hat auf der Sicherheitskonferenz in München - die Sie vielleicht besser auch besucht hätten, Herr Bundeskanzler - sehr deutlich darauf hingewiesen, dass er es ernst nimmt, wie eine große Zahl von Menschen in Deutschland denkt. ({29}) - Auch in Europa. - Derselbe Senator hat uns eindringlich gebeten, unsererseits ernst zu nehmen, in welcher psychologischen Situation sich die Menschen in den Vereinigten Staaten von Amerika befinden. ({30}) Sie befinden sich nach dem 11. September in einer Phase, in der sie bedroht und angegriffen werden. Ich rate uns allen dringend, gemeinsam - ich betone: gemeinsam - im Bündnis nach Lösungen zu suchen, statt Sonderwege zu beschreiten. ({31}) Herr Bundeskanzler, wer entscheidet eigentlich über die Legitimität von Wünschen? Sie sind dem Wunsch der Amerikaner umgehend nachgekommen - ich unterstütze das -, deutsch-amerikanische Einrichtungen in Deutschland zu schützen. Warum kommen Sie dem Wunsch der türkischen Regierung, ihr Land bzw. Ihren Bündnispartner zu schützen, nicht nach, und zwar an dem Tage - ({32})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei aller verständlichen Erregung bei diesem uns sehr bewegenden Präsident Wolfgang Thierse Thema bitte ich Sie doch sehr darum, der Rednerin zuzuhören und die Zwischenrufe auf ein Minimum zu beschränken.

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die amerikanische Regierung hat die deutsche Regierung gebeten, ab Ende Januar amerikanische Einrichtungen in Deutschland zu schützen. Die türkische Regierung hat ihre NATO-Partner gebeten, umgehend Patriot-Raketen zum Schutz der Türkei zu senden. Warum kommen Sie diesem Wunsch nicht nach, ({0}) sondern meinen, selbst den Zeitpunkt bestimmen zu müssen, zu dem die Türkei ein Recht auf diese Unterstützung hat? Das ist die Frage, auf die Sie keine Antwort gegeben haben. ({1}) Ich zitiere: Gerade wir Deutschen, die wir durch die Hilfe und Solidarität unserer amerikanischen ... Freunde und Partner die Folgen zweier Weltkriege überwinden konnten, um zu Freiheit und Selbstbestimmung zu finden, haben nun auch eine Verpflichtung, unserer neuen Verantwortung umfassend gerecht zu werden. Das schließt - und das sage ich ganz unmissverständlich - auch die Beteiligung an militärischen Operationen zur Verteidigung von Freiheit und Menschenrechten, zur Herstellung von Stabilität und Sicherheit ausdrücklich ein. ({2}) Herr Bundeskanzler, das waren Ihre Worte nach dem 11. September. ({3}) Aber heute weigern Sie sich, die Legitimation der UNO anzuerkennen, ({4}) Resolutionen, die sie selbst verabschiedet hat, im Ernstfall auch wirklich durchsetzen zu können. In diesem Punkt widersprechen wir Ihnen energisch, Herr Bundeskanzler. ({5}) Die Geschichte des Irak - auch das vermisse ich ({6}) ist die Geschichte eines immerwährenden Verstoßes gegen die Resolutionen der Weltgemeinschaft. Sie haben heute nur über die Anteile gesprochen, die Ihnen in den Kram passen, Herr Bundeskanzler. Der Angriff des Irak auf Kuwait ist von der UN mit einer Resolution beantwortet worden, die zum Schluss mit militärischen Mitteln durchgesetzt wurde. Damals haben Sie Plakate mit der Aufschrift „Kein Krieg für Öl“ geklebt. So haben Sie damals die UN-Resolution missachtet. Deshalb stelle ich fest: Sie haben an dieser Stelle nichts dazugelernt. ({7}) Es ist doch nicht so, dass die Weltgemeinschaft aus heiterem Himmel dazu kommt, darüber nachzudenken, eventuell, im allerletzten Fall, militärische Mittel einzusetzen. Der ersten Resolution sind 16 weitere gefolgt. Es ist zum Teil gelungen, den Irak zu entwaffnen, aber nach der festen Überzeugung auch von Chefinspekteur Blix ist es auch heute noch so, dass sich der Irak weigert, einem umfassenden Abrüstungskonzept entgegenzukommen. ({8}) Herr Bundeskanzler, es gab 16 Resolutionen, der Chefinspekteur Butler hat gesagt, das mache weiter keinen Sinn, und es gab einen erneuten Anlauf. Ich unterstütze alles, was den Druck auf den Irak erhöht, und bin für alle Versuche, kriegerische oder militärische Aktionen zu vermeiden. Aber ich sage: Wir dürfen diese militärischen Aktionen als letztes Mittel nicht ausschließen, weil sich Saddam Hussein keinen Millimeter bewegen wird, wenn er weiß, dass er alles tun und lassen kann und wir die Konsequenzen letztendlich nicht ziehen. ({9}) Sie haben heute nur gesagt, worin keine Bedrohung durch den Irak besteht. Ich erinnere daran, dass der Irak seinerzeit Israel mit Scud-Raketen angegriffen hat. Was ist eigentlich mit unserer Verantwortung vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte gegenüber dem Staat Israel? Und warum haben Sie eigentlich 80 Millionen Dosen zur Pockenimpfung gekauft, wenn Sie glauben, dass es keinerlei Bedrohung gibt? ({10}) Was sagen Sie denn zu diesen Fragen? Sie müssen die Menschen doch vollständig informieren, Herr Bundeskanzler. Jeder hier in diesem Haus hat ein hohes Interesse daran, dass der Druck auf den Irak erhöht wird. Wir sagen, dass man deshalb die UN nicht schwächen darf - für uns geht es um die Auseinandersetzung in der UNO -, indem man schon vorher festlegt, wie man abstimmt. Das war Ihr großer Fehler. ({11}) Herr Bundeskanzler, wenn wir über die Sicherheit und über Partnerschaften sprechen, dann geht es auch darum, dass der Stil und die Art und Weise, wie in diesen Partnerschaften Konflikte ausgetragen werden, ({12}) in einem Geist bestehen, der die gegenseitigen Partner anerkennt. Sie von der SPD und von den Grünen suchen sich im Augenblick die Partner so aus - und vereinnahmen sie auch noch -, dass Sie andere Partnerschaften spalten. ({13}) Ich sage Ihnen: Mittel- und langfristig ist Deutschland genauso wie andere Länder auf Partnerschaften und auf einen starken Sicherheitsverbund angewiesen. Wir sind aus eigener Kraft nicht in der Lage, die Sicherheit unseres Landes und die Sicherheit Europas zu schützen. Deshalb ist es unablässig erforderlich, bei allem Eintreten für den Frieden alles daran zu setzen, die Zukunft dieser Partnerschaften durch ein hohes Maß an Verlässlichkeit der Bundesrepublik Deutschland zu stärken. ({14}) - Jetzt kommt Herr Volmer wieder und sagt: „Sie meinen Vasallentum.“ Ich kann nur sagen: Ich rate uns allen, mit diesem Wort verdammt vorsichtig zu sein. ({15}) Wer auf den Marktplatz von Goslar gehen muss, weil er nicht die Kraft hat, die Auseinandersetzung im Bündnis zu führen, ({16}) der versündigt sich an der Gemeinschaft, der wir uns verpflichtet fühlen. Deshalb sagen wir: Meinungsverschiedenheiten müssen im Bündnis ausgetragen werden. ({17}) Oberste Priorität hat das Ziel, zum Schluss im Bündnis eine gemeinsame Entscheidung gegen die Diktatoren dieser Welt zustande zu bringen. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen. ({18}) Deshalb sage ich ganz ausdrücklich: Wir werden alles unterstützen, was zwischen den Partnern möglich ist, um einen Krieg zu verhindern. Wir werden vor allen Dingen aber auch auf das hören, was die Inspekteure wünschen. Wenn Herr Blix zum Beispiel sagt, dass es nicht darum geht, die Zahl der Inspekteure beliebig zu vergrößern, dann ist ein solches Wort für mich mindestens so wichtig wie jede zehnte Titelgeschichte des „Spiegel“, Herr Bundeskanzler. ({19}) Deshalb ist und bleibt es eben falsch, dass Sie sich festgelegt haben zu Zeitpunkten, an denen es nichts zum Festlegen gab. Ich frage mich: Warum haben Sie das getan? ({20}) Warum haben Sie sich als einziger mir bekannter Staatsund Regierungschef bereits zu einem Zeitpunkt festgelegt, als der UNO noch nicht einmal der erste Bericht vorlag? ({21}) Warum sagen Sie, obwohl Sie doch auch der UN-Charta verpflichtet sind - die UN-Charta enthält ganz ausdrücklich die Möglichkeit, die eigenen Resolutionen auch mit militärischen Aktionen durchzusetzen -, Deutschland werde dabei nicht mitmachen? ({22}) Herr Bundeskanzler, ich sage - ich habe lange darüber nachgedacht -: Es hat rein innenpolitische Gründe. ({23}) Sie, Herr Bundeskanzler, haben nicht das, was ein souveräner Bundeskanzler haben müsste: die innere Freiheit, in Bezug auf die internationale Staatengemeinschaft auch frei und verantwortlich und in Partnerschaft zu entscheiden. ({24}) Sie haben hier und heute von den Abstimmungen über den Einsatz in Afghanistan gesprochen. Wir erinnern uns genau. Damals, unter der ganz vehementen und für alle noch fühlbaren Bedrohung des 11. September, haben Sie es nicht geschafft, eine Mehrheit in Ihren Reihen zusammen zu bekommen, ({25}) ohne diese Abstimmung gleichzeitig mit der Vertrauensfrage zu verbinden. Herr Bundeskanzler, ich sage es ganz ruhig und es ist ja auch vollkommen klar: Sie wissen, dass Sie bei Entscheidungen für einen Einsatz deutscher Soldaten - in welcher Form auch immer; schon bei der Zurverfügungstellung von Patriot-Raketen für die Türkei keine eigene Mehrheit in diesem Hause haben. ({26}) Sie wissen, dass Ihre Stellung als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland eine zweite Vertrauensfrage nicht durchhalten würde und dass deshalb Ihr eigener Machtanspruch beendet wäre. ({27}) Herr Bundeskanzler, wer es nicht einmal schafft, in den eigenen Reihen eine Zustimmung zur Änderung des Kündigungsschutzes hier im Lande zu bekommen, ({28}) der steht dann eben vor der Notwendigkeit, in der Außenpolitik Verlässlichkeit und Freundschaft mit Deutschland aufzukündigen. ({29}) Die Wahrheit ist - und das nimmt Ihnen die Souveränität -, dass Sie sich auf Ihre eigene Truppe nicht verlassen können. Deshalb werfe ich Ihnen einen Mangel an Autorität vor. Dieser Mangel an Autorität zeigt sich in außenpolitischer Unverlässlichkeit und diese außenpolitische Unverlässlichkeit werden wir bitter bezahlen müssen, weil sie die Autorität der Europäischen Union, der NATO und der UNO aufs Spiel setzt. Dabei werden wir nicht mitmachen, Herr Bundeskanzler. Herzlichen Dank. ({30})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Meine Damen und Herren, auf der Tribüne hat soeben Parlamentspräsident Halilow aus Usbekistan mit seiner Delegation Platz genommen. Wir begrüßen Sie sehr herzlich. ({0}) Wir wünschen Ihnen für Ihren Aufenthalt heute in unserem Hause und in den nächsten Tagen in Deutschland sowie für Ihr weiteres parlamentarisches Wirken alles Gute. Ich erteile nun das Wort Bundesminister Joseph Fischer. ({1})

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute auf der Grundlage der Regierungserklärung des Bundeskanzlers über eine der gefährlichsten Krisen der vergangenen Jahre. Sie, Frau Merkel - das hat Ihre Landung beim Kündigungsschutz klar gemacht -, haben dagegen eine ausschließlich innenpolitische Rede gehalten. ({0}) Bei allem Respekt: Hätte ich nicht nachgelesen, was Sie bislang gesagt haben und was beim Abendessen in München Herr Stoiber gesagt hat, wäre mir die Haltung der Unionsfraktion nicht bewusst. Ehrlich gesagt, sie ist mir nach Ihrer heutigen Rede nicht klarer geworden. Mich erstaunt schon, dass Sie nichts dazu gesagt haben, dass sowohl Sie als auch - beim Abendessen in München - Herr Stoiber erklärt haben, Sie seien, wenn es nicht anders gehe und eine militärische Aktion notwendig sei, für eine militärische Beteiligung Deutschlands. Das, Frau Merkel, hätten Sie heute vor dem Deutschen Bundestag sagen sollen. ({1}) Exakt darauf hat sich der Bundeskanzler bezogen. Ich kann Ihnen nur sagen: Hier ist der Unterschied völlig klar. Ihr Kollege Pflüger war ja in München von herzerfrischender Deutlichkeit. Denn dort hat er gesagt: Wenn wir gewonnen hätten - Konjunktiv! -, dann hätten wir den Brief der Acht unterschrieben. Nun sage ich Ihnen: Sie haben nicht gewonnen. Wenn Sie aber diese Position offen im Bundestagswahlkampf vertreten hätten, dann hätten Sie noch ganz anders verloren. Denn eines müssen Sie wissen: Für diese Position gibt es in Deutschland keine Mehrheit. ({2}) Kommen wir zurück zum eigentlichen Thema. Sie haben fast die ganze Zeit nur über Stilfragen geredet. Wir müssen aber über die Frage reden, wie wir die Krise lösen können, und zwar so, dass es nach Möglichkeit nicht zu einer weiteren Destabilisierung kommt. Das ist die entscheidende Frage. Wir müssen Alternativen zum Krieg finden und eine Politik machen, die diese Alternativen gemeinsam mit unseren internationalen Partnern durch- und umsetzen will. ({3}) Wir haben nichts gegen innenpolitische Kontroversen. Ich weiß, dass Sie und eine große Anzahl von Kollegen sich Sorgen machen. Schließlich rede auch ich im Ausschuss mit den Kollegen, und zwar nicht nur konfrontativ, sondern auch vertrauensvoll unter vier, sechs oder acht Augen. Die Sorge ist, dass wir langfristige Entscheidungen treffen, wenn es zum Krieg kommt. Ich möchte Ihre Gegenargumente gerne ernst nehmen - das ist nicht der entscheidende Punkt -, zumal sie auch „valable“ sind. Nur, lassen Sie uns nicht auf der Ebene diskutieren, die Sie vorgegeben haben. Lassen Sie uns vielmehr ringen um eine Reduktion der Risiken und um einen Weg zum Frieden. Darum geht es doch. ({4}) Für mich ist entscheidend: Wir sind dem Frieden verpflichtet, Frau Merkel. Dazu haben Sie leider nichts Konkretes gesagt. Sie haben sich lediglich abstrakt dazu bekannt. Aber wo ist das Angebot der Unionsfraktion, alles zu tun - ich werde Ihnen nachher unsere Alternativen im Einzelnen darstellen -, damit die nicht kriegerischen Mittel ausgeschöpft werden können? Wenn die Opposition ein entsprechendes Angebot machen würde, wäre ihre Position wesentlich glaubwürdiger. Ich weiß, dass viele von Ihnen und vor allen Dingen auch Ihre Wählerinnen und Wähler dies teilen; denn anders ist es nicht zu erklären, dass 71 Prozent der deutschen Bevölkerung einen Krieg ablehnen. Eine solch eindeutige ablehnende Haltung gibt es nicht nur in Deutschland, sondern auch in Großbritannien und in Frankreich, wo die Zahlen genauso hoch sind. Als wir gestern in Spanien waren, habe ich gelesen, dass 91 Prozent der dortigen Bevölkerung einen Krieg ablehnen. Es ist doch nicht wahr, dass die europäischen Bevölkerungen plötzlich antiamerikanisch geworden sind. Das sind keine antiamerikanischen Mehrheiten! ({5}) Man muss begreifen, dass vielen Menschen nicht klar ist, wie wir nach dem 11. September, wie wir nach der tief empfundenen Solidarität mit unseren angegriffenen amerikanischen Partnern zu einer friedlichen Entscheidung im Fall des Irak kommen können. Das ist durch Ihre Rede nicht klar geworden. Es ist auch den meisten Europäern nicht klar. Wenn es darauf keine Antwort gibt, werden Sie die Ablehnung nicht überwinden können. Bis heute habe ich darauf keine wirklich überzeugende Antwort gehört. ({6}) Schauen wir uns die Risiken an! Wir sind durch das Grundgesetz verpflichtet, alles zu tun, um Krieg zu vermeiden, auch wegen der schlimmen humanitären Folgen. Wir wissen doch: Wenn es zu einer bewaffneten Aktion im Irak kommt, müssen viele unschuldige Menschen sterben. Genau das muss uns doch verpflichten, alles zu tun, um Alternativen zu finden. ({7}) Das Zweite ist die regionale Stabilität. Dazu kann ich Ihnen versichern: Diese Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder wird alles tun und tut alles, um das Existenzrecht und die Sicherheit Israels und seiner Menschen zu schützen. Darüber gibt es mit uns überhaupt keine Diskussion. ({8}) Deswegen haben wir auch die Patriot-Raketen geliefert, und zwar nicht erst, nachdem der Ernstfall eingetreten ist. Für uns war und ist es eine Selbstverständlichkeit, dass wir solidarisch zu Israel stehen. ({9}) - Auf die Türkei komme ich noch zu sprechen. Die Frage der regionalen Stabilität ist eine sehr ernste. Dazu kann ich nur noch einmal sagen: In der Welt nach dem 11. September hätte ich mir - das war der erste Dissenspunkt - eine andere Prioritätensetzung gewünscht. Im Fall von Afghanistan gab es keine Alternative, weil Afghanistan die staatliche Basis des Terrors von al-Qaida war. Insofern war völlig klar, dass wir eine sehr schwierige Entscheidung zu treffen haben würden, und wir haben sie getroffen. Unsere Soldaten leisten dort eine unverzichtbare, eine riskante, aber für den Frieden zwingende Arbeit. Es gilt, ihnen dafür zu danken. ({10}) Ich will Ihnen in dem Zusammenhang einmal etwas sagen, Frau Merkel. Es gab den Hubschrauberabsturz, bei dem sieben unserer Soldaten das Leben verloren haben. Es war eine bewegende Trauerfeier. Dort waren wir mit den Angehörigen zusammen. Ich habe mit der Ehefrau von einem der tödlich verunglückten Soldaten gesprochen. Es fiel mir schwer, die richtigen Worte im privaten Gespräch zu finden, was Sie verstehen werden. Ich habe ihr unter dem Eindruck meines Besuchs dort 14 Tage vorher gesagt, dass die Präsenz unserer Soldaten im Rahmen der friedenserhaltenden Maßnahmen der Vereinten Nationen in Kabul unverzichtbar ist. Die Ehefrau hat mir unter Tränen gesagt: Herr Fischer, auch wenn es bitter für mich ist: Wir alle am Standort wissen dies. Aber bitte, bitte nicht in den Irak! - Ich kann Ihnen versichern: Das war eine eher konservativ denkende Frau. Wir müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass es eine tiefe Sorge der Menschen in diesem Land gibt. Eine Regierung kann sich davon nicht abkoppeln. Das ist allerdings nicht der alleinige und zwingende Grund. Aber, Frau Merkel, Sie müssen dann schon sehr überzeugende Gründe für einen Einsatz haben, das heißt, alle friedlichen Mittel müssen wirklich ausgereizt sein. Der Bundeskanzler hat Ihnen heute dargestellt, dass dies mitnichten der Fall ist. ({11}) In der Welt nach dem 11. September müssen wir uns mit der Frage des Terrors beschäftigen. Wenn es nach mir gegangen wäre, dann würden wir diese Frage an die Spitze der Prioritätenliste setzen und dort festhalten. Das ist der entscheidende, der erste Punkt. Die Lösung regionaler Krisen ist für mich der zweite Punkt. Wenn Sie sich die Genesis des Konflikts anschauen, dann werden Sie feststellen, dass die Ursache für den 11. September mit seiner ganzen menschenverachtenden Brutalität letztlich zusammengebrochene Strukturen in Afghanistan, ein vergessener Konflikt, verbunden mit dem Terror waren. Die Lösung regionaler Krisen hätte für mich also die zweite Priorität. ({12}) Damit komme ich zum Dritten, nämlich zur Verbindung mit Massenvernichtungswaffen. Das nehmen wir sehr, sehr ernst. Nur, wenn es so ist, dass Massenvernichtungswaffen heute ganz anders zugeordnet werden als noch zu Zeiten des Kalten Krieges, als es sozusagen eine Stabilität des Schreckens gegeben hat, dann brauchen wir doch - der Bundeskanzler hat es mit dem Beispiel Nordkorea klar gemacht - international ein wirksames und nicht nur in einem Einzelfall wirkendes Nichtverbreitungsregime und Kontrollregime. Exakt das ist die Herausforderung. In einer Welt wachsender Instabilität können wir doch nicht allen Ernstes Kriege zum Zweck der Abrüstung von Massenvernichtungswaffen zur Strategie erheben. ({13}) Exakt das ist der Punkt. Da nützt jegliche Warnung vor „Isolierung“ und „Sonderweg“ nichts. Herr Perle erzählt fünfmal die Woche, wir seien irrelevant. Ich frage mich: Warum erzählt er das so oft, wenn wir tatsächlich so irrelevant sind? ({14}) Es ist mindestens viermal zu viel. Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir nicht irrelevant sind. Schauen Sie sich die Leistungen, die wir im Bündnis erbringen, an! Schauen Sie sich an, welche Handlungsmöglichkeiten das Bündnis ohne Deutschland hat! Sie wissen ganz genau, dass wir essenzielle Beiträge zur regionalen Stabilisierung, zur Abrüstung, zur Rüstungskontrolle und zur Friedenserhaltung leisten und auch in Zukunft im Bündnis leisten werden, Frau Merkel. ({15}) Für uns ist ganz entscheidend, dass wir um den Frieden wirklich kämpfen und nicht kriegerische Alternativen so weit wie möglich ausreizen. Lesen Sie die deutsch-französisch-russische Erklärung! Der darin formulierten Position fühlen wir uns verpflichtet. Für diese Politik steht diese Bundesregierung und für diese Politik hat sie eine Mehrheit bekommen. Die Bundesregierung wird ihr Mandat erfüllen. Auch das kann ich Ihnen von dieser Stelle aus versichern. ({16}) Ich sage das, damit bei Ihnen keine falschen Hoffnungen aufkommen. Wenn wir mit einer Alternative zum Krieg Ernst machen wollen, dann müssen wir drei Elemente umsetzen - der Bundeskanzler hat sie vorhin dargestellt -: Erstens. Der Irak darf keine Massenvernichtungswaffen haben. Dazu muss er entsprechend den UN-Resolutionen 1284 und 1441 voll kooperieren. Das ist der entscheidende Punkt. ({17}) - Jetzt frage ich einmal umgekehrt: Haben wir heute tatsächlich einen weiter gehenden Material Breach - die Herren Pflüger und Schäuble haben diese Auffassung im Ausschuss schon vertreten - und sollen deswegen Serious Consequences, das heißt kriegerische Mittel, eingesetzt werden? Wenn Sie dieser Meinung sind, dann hat das deutsche Volk, die deutsche Öffentlichkeit ein Recht darauf, das heute von Ihnen zu erfahren. ({18}) Wir sind nicht dieser Meinung. Wir sind vielmehr der Meinung, dass Saddam Hussein seinen Verpflichtungen voll und ganz nachkommen muss, was er noch nicht getan hat, und dass der Druck aufrechterhalten werden muss. Das Instrument dazu darf jetzt aber nicht der Abbruch der Inspektionen sein, sondern - das ist das zweite Element; das erste Element ist die volle Kooperation Husseins - die Schärfung der Inspektionen. Das steht jetzt an. Die Arbeit von Blix, al-Baradei und ihren Teams bietet eine wirkliche Alternative zum Krieg. Unsere Risikoanalyse beruht auf der Beantwortung folgender Frage: Ist der Irak heute gefährlicher als noch vor einem Jahr oder gar in Zeiten des Golfkrieges? Wir wissen heute doch, dass wir es aufgrund der Inspektionen bereits mit einer erheblichen Risikominimierung zu tun haben. Können Sie der Bevölkerung erklären, warum wir bei fortschreitender Risikominimierung und einem kleiner werdenden Kooperationsdefizit des Irak die Inspektionen abbrechen und einen Krieg beginnen sollen? Können Sie das begründen? Ich kann es nicht begründen. ({19}) Das dritte Element steht im Zusammenhang mit der UN-Resolution 1284. Vor allen Dingen bei Biowaffen gibt es ein großes Problem. Wenn Sie sich die Details der Biowaffenproduktion einmal genau anschauen, dann werden Sie feststellen: niedrige Drücke, niedrige Temperaturen, kleine Technologie. Das heißt, wir bewegen uns nahezu ausschließlich im Bereich der Dual-Use-Güter, also im Bereich derjenigen Güter, die in hohem Maße zivil, in der Pharmazie, in der Medizin oder wo auch immer, genutzt werden. Eine Kontrolle, ob im Irak tatsächlich Biowaffen hergestellt werden, wird ohne ein langfristiges Verifikations- und Kontrollregime nicht möglich sein. ({20}) Ohne ein solches Regime nützt jegliche Ausfuhrkontrolle nichts. Ich habe mir das einmal im Detail angeschaut. Man müsste dort im Grunde genommen den ganzen Pharmazie-, den ganzen Chemie- und vor allen Dingen den ganzen medizinischen Sektor lahm legen, was für die Menschen in diesem Land fatale Konsequenzen hätte. Wer tatsächlich Alternativen zum Krieg will, der kommt um ein langfristiges Verifikations- und Kontrollregime nicht herum. ({21}) Frau Merkel, ich sage Ihnen ganz offen: Unsere Alternative zum Krieg ist, diese drei Elemente umzusetzen. Wir machen dahin gehend Druck, dass der Irak voll kooperiert. ({22}) - Ich kann Ihnen gern sagen, wie. Etwa bei meinem Besuch am Heiligen Stuhl in Rom habe ich mehr Bereitschaft gefunden - ({23}) - Sehen Sie: Ihre Reaktion spricht wirklich für sich. ({24}) Ich will Ihnen einmal sagen, welche große Befürchtung man am Heiligen Stuhl hatte. Die große Befürchtung ist, dass es zu einem Krieg der Zivilisationen und auf mittlere Sicht zu einer Islamisierung der arabisch-muslimischen Welt mit fatalen Konsequenzen unter dem Gesichtspunkt Terror kommt. ({25}) Deswegen hat der Heilige Stuhl einen Sonderbotschafter mit der klaren Botschaft nach Bagdad geschickt, dass es überhaupt keinen Spielraum mehr - das ist die Botschaft der Nachbarn, das ist auch unsere Botschaft - für etwas anderes als eine volle Kooperation mit Blix gibt. Sie dürfen sich die Frage stellen, warum Blix noch einmal eingeladen wurde und wie das im Zusammenhang mit einer Schärfung der Instrumente steht, wie sie unsere französischen Partner vorgeschlagen haben. Wenn wir hier noch die Mittel der langfristigen Kontrolle und der Verifikation hinzufügen, dann haben wir meines Erachtens in der Tat einen systematischen Ansatz, der eine Alternative zum Krieg darstellt und auch an anderen Orten als im Irak zum Einsatz kommen kann. ({26}) Bezogen auf die NATO gebe ich Ihnen hier Folgendes zu bedenken: Wissen Sie, was der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist? Wir haben von Anfang an - der Bundeskanzler hat es dargestellt - erklärt, was wir für den Schutz der Türkei im Rahmen des Bündnisses zu leisten bereit sind, nicht bezogen auf eine Aktion gegen den Irak, sondern strikt defensiv im Rahmen des Bündnisses. Wir leisten mehr als viele, die uns heute kritisieren. Auch das muss man hinzufügen. ({27}) Ich konnte ja in München Erfahrungen im Umgang mit dem Verteidigungsminister eines befreundeten Landes sammeln, in der Tat mehr als andere. Ich könnte Ihnen Geschichten von der weltlichen Seite von Rom erzählen. Da würden Sie sich wundern. Aber das will ich nicht tun. Aus meiner Sicht, Frau Merkel, ist der entscheidende Punkt: Wir müssen in der NATO zusammenbleiben. ({28}) - Ja, jetzt passen Sie gut auf. - Ich war gestern bei Präsident Chirac und habe ihm erzählt, wie viel die Union auf den Brief der Acht gibt. Das liegt hier ja heute in Form Ihres Antrags vor. Unser Ziel ist es, Frankreich, so weit es geht, in der NATO mitzunehmen und für Zusammenhalt zu sorgen. Daran habe ich die vergangenen Tage hart gearbeitet. ({29}) Mit Ihrem Antrag, den Sie hier vorgelegt haben und der den Brief der Acht unterstützt, betreiben Sie, wenn Sie das ernst meinen, nichts anderes als die Isolation Frankreichs. Das wissen Sie so gut wie ich. Genauso wird das auch dort gesehen. ({30}) Für uns ist von entscheidender Bedeutung: Wir werden im Rahmen des transatlantischen Bündnisses und der Europäischen Union unsere Politik, wirkliche Alternativen zum Krieg zu suchen und sie mit unseren Partnern auch umzusetzen, fortsetzen. Ein Bündnis freier Demokratien und freier Völker wird auf Dauer nicht ohne Schaden bleiben, wenn man auf übergroße Mehrheiten in der Bevölkerung keine Rücksicht nimmt. ({31}) Demokratien sind oft eigenwillig, in Demokratien muss man Überzeugungsarbeit leisten und für eine Sache wirklich überzeugend eintreten. Ich kann da nur unterstreichen, was der Bundeskanzler gesagt hat, nämlich dass wir uns vor dem Hintergrund unserer Geschichte die Entscheidung von Krieg und Frieden schwer und bisweilen sogar extrem schwer machen. Darin sehe ich keinen Nachteil, sondern eine Konsequenz, die sich aus unserer Geschichte ergibt. Trotzdem sind wir in der Lage, unsere Verantwortung wahrzunehmen. ({32}) Unsere Politik ist deswegen Friedenspolitik in einer instabilen Welt. Wir wollen unseren Beitrag zum Kampf gegen den Terrorismus weiter leisten, und da, wo es keine anderen Alternativen zum Zerbrechen dieser Strukturen gibt, auch unter dem Einsatz militärischer, polizeilicher und geheimdienstlicher Gewalt. Wir wollen regionale Konflikte lösen. Ich halte das für unverzichtbar. Das betrifft nicht nur den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, der gefährlichste besteht zwischen den beiden Nuklearmächten Pakistan und Indien um Kaschmir. Aber auch der Kaukasus bereitet uns große Sorgen. Das alles sind regionale Konflikte, die morgen unsere Sicherheit bedrohen können. Wir müssen verhindern, dass Gruppen, die heute noch nicht kooperieren, in Zukunft kooperieren, weil wir Fehlentscheidungen treffen. Wir müssen dem Terrorismus den Nährboden entziehen, indem wir mehr und mehr Menschen Perspektiven geben, indem wir Demokratie und Beteiligung an der Globalisierung nicht nur in Sonntagsreden beschwören, sondern Menschenrechte tatsächlich ernst nehmen. Das heißt also, wir müssen gerade in dieser uns direkt benachbarten Region einen langfristigen Ansatz verfolgen. Gleichzeitig müssen wir eine echte Abrüstung bei Massenvernichtungswaffen durchsetzen und verhindern, dass sich Gewaltherrscher in den Besitz von Massenvernichtungswaffen bringen. Dazu brauchen wir ein international wirksames Kontroll- und Abrüstungsregime, das auch Zähne zeigen und zubeißen kann. Frankreich hat dazu Vorschläge gemacht, die wir voll unterstützen, und auch wir machen Vorschläge, dies als konkrete Alternative zum Krieg im Irak umzusetzen. Das ist unsere Aufgabe im Sicherheitsrat. Wenn Sie Ihre Worte ernst meinen, dann müssen Sie uns unterstützen und dürfen uns nicht angreifen. Ich danke Ihnen. ({33})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Guido Westerwelle, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir alle haben nach dem 11. September 2001 schon manche wichtige Debatte in diesem Hause geführt, gerade zur Außenpolitik. Herr Bundeskanzler, Sie haben sich in dieser gesamten Zeit in Fragen der Außenpolitik im Grunde genommen immer mehr auf die Opposition als auf Ihre eigenen Fraktionen verlassen können. ({0}) Das Problem, das wir heute haben, ist ein Bundeskanzler, der der Opposition in diesem Hohen Hause vorwirft, sie sei - so wörtlich - „eine Allianz der Willigen zum Krieg“. Ein solcher Bundeskanzler hat den Tiefpunkt der Kultur in diesem Hause erreicht, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({1}) Genau das ist es, was Sie beide mit Ihren Reden heute hier beabsichtigt haben: Sie wollen in diesem Lande eine Arbeitsteilung beginnen, bei der Sie als Friedensfreunde und wir von der Opposition als Kriegstreiber fungieren. In Wahrheit ist es genau umgekehrt: ({2}) Sie machen den Krieg wahrscheinlicher und wir sind mehr für den Frieden, als Sie es mit dieser Politik jemals erreichen können. ({3}) Sie haben hier von der Stärke des Rechts gesprochen; es gehe darum, dass nicht das Recht des Stärkeren siege. Das ist völlig richtig. Nur, wenn wir das Recht des Stärkeren verhindern wollen, dann - das hätten Sie gemäß der Tradition unseres Völkerrechts hinzufügen müssen brauchen wir ein Gewaltmonopol der Vereinten Nationen; denn dann muss es jemanden geben, der das Recht durchsetzen kann. Ein Diktator lässt sich nicht mit guten Worten entwaffnen. Sie haben nicht nur eine Verantwortung für den Frieden in Deutschland, Sie haben auch eine Verantwortung für die Sicherheit in Deutschland. ({4}) Sie haben hier darauf hingewiesen, Herr Bundesaußenminister, dass die große Mehrheit der Bevölkerung in Europa im Grunde genommen Ihrer Politik zustimmt. Das ist bemerkenswert. Wir alle wissen, wie solche Meinungsumfragen zustande kommen. Wenn Sie bei einer Meinungsumfrage die Frage stellen: „Sind Sie für den Frieden?“, dann wird es dafür mit Sicherheit eine große Zustimmung in diesem Lande geben. Auch jeder in diesem Saal würde zustimmen. Aber wenn Sie weiterfragen: „Sind Sie der Meinung, dass Druck auf den Diktator ausgeübt werden muss, um ihn entwaffnen zu können?“, erhalten Sie ein sehr viel differenzierteres Bild. Politik ist eben nicht so einfach. Sie behaupten, Sie hätten die Mehrheit auf Ihrer Seite. Dabei haben Sie doch vor kurzem in Hessen und Niedersachsen für Ihre Politik - Friedenspolitik, wie Sie behaupten - plakatiert und die Menschen haben sich gegen Sie entschieden, weil Friedenspolitik differenzierter und nicht mit solch einfachen Worten betrieben werden kann. ({5}) Manch einer in meiner Generation und diejenigen, die älter sind, werden sich noch an eine Diskussion Anfang der 80er-Jahre erinnern. Wir haben noch sehr genau in Erinnerung, wie damals für den NATO-Doppelbeschluss gestritten wurde, zunächst von Bundeskanzler Helmut Schmidt, der anschließend von den Sozialdemokraten im Stich gelassen wurde, und von Herrn Genscher und in Fortsetzung nach dem Regierungswechsel 1982/83 unter der Bundeskanzlerschaft von Helmut Kohl. Gegen diesen NATO-Doppelbeschluss, gegen die damalige Regierung hat es eine große Zahl von Demonstrationen gegeben. Es gab Sitzblockaden und Sie waren fleißig bei denjenigen, die Transparente getragen und mit Sitzblockierern zusammengearbeitet haben. Einige von Ihnen sind damals weggetragen worden. Die Geschichte hat etwas anderes gezeigt. Sie hat gezeigt, dass die Standhaftigkeit der damaligen Regierung, im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses das durchzusetzen, was international richtig war, erstens den Frieden sicherer gemacht, zweitens die Vereinigung Deutschlands überhaupt erst ermöglicht und drittens den europäischen Prozess vorangebracht hat. ({6}) Sie haben damals Unrecht gehabt und in Wahrheit betreiben Sie diese falsche Politik von den Regierungsbänken weiter. Sie haben sich mit dem Hinweis auf Meinungsumfragen entlarvt, Herr Bundesaußenminister. Ihnen geht es nicht um die Außenpolitik, sondern darum, dass eine ins Schwanken geratene Regierung noch einmal einen Anker erwischt. Aber das geht schief. ({7}) Die Innenpolitik ist ein falsches Motiv für die Außenpolitik. Dementsprechend kann es nicht so weitergehen. Im Übrigen ist es spannend zu beobachten, mit welch unterschiedlichen Maßstäben Sie argumentieren. Zunächst einmal hat Ihr Bundeskanzler darauf hingewiesen, dass bei der Bewertung der Situation im Irak und bei der Bewertung von Nordkorea unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden. Das, was Sie sagen, ist in der Tat richtig. Genau darin liegt das Problem. Wenn nämlich die Völkergemeinschaft zulässt, dass Nordkorea in den Besitz von Massenvernichtungswaffen, in diesem Falle von Atomwaffen, kommt, und sie nicht mehr in der Lage ist, ein solches Regime zu entwaffnen, dann entsteht eine Bedrohung der Weltsicherheit und des Weltfriedens. Wir als Oppositionsabgeordnete wollen nicht, dass ein Diktator in unserer unmittelbaren Nachbarschaft jemals in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommt, die er auch hier in Mitteleuropa zum Einsatz bringen kann. Das ist die entscheidende Aufgabe wehrhafter Demokraten: Wer Hussein entwaffnen will, muss die Vereinten Nationen stärken. Er darf sie nicht durch einen nationalen Alleingang - weder einen amerikanischen noch einen deutschen - schwächen. ({8}) Mit welcher Festigkeit Sie, Herr Bundeskanzler, hier vorgetragen haben, der Irak verfüge über keine entsprechenden Trägersysteme, ist bemerkenswert. Hier gibt es eine Zahl von Abgeordneten, die Ende des letzten Jahres vom Bundesnachrichtendienst informiert worden sind. Sie haben bis heute nicht gestattet, dass diese Erkenntnisse veröffentlicht werden. Geben Sie dem Bundesnachrichtendienst doch endlich die Erlaubnis, auch der deutschen Öffentlichkeit seine Erkenntnisse zur Verfügung zu stellen! Ich bin sicher, das Meinungsbild wird dann anders sein. Weil Sie hiermit Politik machen, will ich es an dieser Stelle auch tun; denn ich kann nicht zulassen, dass die deutsche Öffentlichkeit hinter die Fichte geführt wird. Es ist eine konkrete Bedrohung, wenn ein irakischer Diktator in unserer unmittelbaren Nähe an Trägersystemen arbeitet, mit denen die Waffen auch uns in Mitteleuropa erreichen können. Jeder, der Verantwortung für unser Land trägt, darf das nicht zulassen; er muss die Vereinten Nationen stärken. Denn dieser Diktator lässt sich nur über Druck entwaffnen. Sie rühmen sich der Waffeninspekteure im Irak. Heute wäre kein einziger Inspekteur im Irak, wenn es nach Ihrer Politik gegangen wäre. ({9}) Das Allerschlimmste, was wir jetzt erleben, ist Ihre Behandlung unseres NATO-Mitgliedes Türkei. Sie haben hier eine babylonische Sprachverwirrung eingeführt. Allein die Lieferung von Patriot-Raketen ist eine Realsatire. ({10}) Weil Sie sie aus Rücksichtnahme auf Ihren grünen pazifistischen Koalitionspartner nicht liefern wollen, liefern Sie sie an die Niederlande, die sie dann liefern dürfen. Das ist in der Tat eine Windung in der Außenpolitik, die man erwähnen sollte. Das Allerschlimmste aber ist: Gibt es eigentlich in der Außen- und Sicherheitspolitik noch irgendeine Linie? Einerseits wollen Sie die Türkei in die Europäische Union hineinholen. Aber wenn das NATO-Mitglied Türkei um Schutz bittet, sind Sie nicht in der Lage, richtig zu entscheiden. Das ist ein Widerspruch in sich. ({11}) Ihre Außenpolitik ist nur noch Innenpolitik. Das hat man den Amerikanern früher zu Recht vorgeworfen. Wir erinnern uns daran, als auf Grenada eine Intervention der Amerikaner stattgefunden hat. Viele von denen, die heute auf den Oppositionsbänken sitzen, haben damals, in jüngeren Jahren, das Verhalten der Amerikaner kritisiert. Viele von uns haben den amerikanischen Verbündeten gesagt, dass das nicht der richtige Weg ist. Viele haben damals auch in Deutschland gesagt: Es kann nicht richtig sein, wenn Außenpolitik nur noch Instrument der Innenpolitik, Instrument von Wahlkämpfen wird. Das war richtig. Es war die deutsche Tradition, dass wir die Außenpolitik nicht zum Instrument der Innenpolitik, zum Instrument von Wahlkämpfen gemacht haben. Sie haben eine weitere Tradition gebrochen. Große sozialdemokratische Persönlichkeiten wie Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt sind in die deutsche Geschichte eingegangen, weil sie die Einbettung Deutschlands in die Völkergemeinschaft vorangebracht haben. Sie werden als Bundeskanzler der Sozialdemokratie in die Geschichte eingehen als jemand, der Deutschland aus der Völkergemeinschaft herausgeführt hat. ({12}) Es ist schäbig, Herr Bundeskanzler, dass Sie sich nicht ein wenig besser und geschichtsbewusster verhalten. Ihre Politik ist unhistorisch. Sie ignoriert die gesamte Linie der deutschen Außenpolitik der Kanzler, der Außenminister Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel. Ich frage mich nach der heutigen Rede, was eigentlich schlimmer ist: ein Bundeskanzler, der falsch redet, oder ein Bundesaußenminister, der es besser weiß und trotzdem falsch redet, weil er fürchtet, dass seine Grünen näher an der radikal-fundamentalistischen Position des Bundeskanzlers sind? ({13}) Das ist genau die Frage, über die wir zu entscheiden haben. Sie sind Getriebene, Sie handeln nicht mehr. Diese Bundesregierung hat Deutschland wirtschaftspolitisch ruiniert und ist jetzt dabei, dieses Land auch noch außenpolitisch zu isolieren. Das Beste für dieses Land wären zügige Neuwahlen. Dafür sollten Sie Ihren Platz frei machen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Gernot Erler, SPDFraktion. ({0})

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler hat eine sehr persönliche Regierungserklärung abgegeben. Er hat erklärt, warum er kämpft und wofür er kämpft. Da war ein Satz, der könnte das Motto für all diese schwierigen Wochen sein. Er lautet: Es kann nicht verkehrt sein, selbst für die allergeringste Friedenschance noch außergewöhnliche Anstrengungen auf sich zu nehmen. ({0}) Herr Bundeskanzler, für die SPD-Bundestagsfraktion erkläre ich: Wir sehen diese außergewöhnlichen Anstrengungen. Wir sind froh, dass sie jetzt Früchte tragen. Wir schauen aber nicht nur zu, sondern unterstützen diese außergewöhnlichen Anstrengungen von Ihnen, vom Bundesaußenminister, vom ganzen Bundeskabinett mit aller Kraft und mit tiefer Überzeugung. ({1}) Wir sind da nicht allein. Eine sehr große Mehrheit der Menschen in diesem Land unterstützt diesen Kampf und wünscht sich sehnlich, dass er Erfolg hat - eine sehr große Mehrheit, aber nicht alle. Zu den Unterstützern dieser Politik gehört nicht die Opposition im Bundestag mit CDU/CSU und FDP. Man hört zwar von ihnen, dass sie den Krieg auch nicht möchten, aber man hört überhaupt nicht - Frau Merkel hat dazu keinen einzigen Satz gesagt -, was sie dafür eigentlich tun. ({2}) Meine Damen und Herren von der Opposition, auch bei Ihnen gibt es außergewöhnliche Anstrengungen, in der Tat - aber in eine ganz andere Richtung. Sie strengen sich wirklich an, die Bemühungen des Bundeskanzlers und des Außenministers verächtlich zu machen, sie herabzusetzen. Besonders gerne tun Sie das, wenn ausländische Gäste dabei sind. ({3}) Sie diffamieren unsere Nein-Entscheidung zu diesem Krieg als bloßes innenpolitisches Taktieren. ({4}) Das war die Hauptbotschaft der Reden von Frau Merkel und auch von Herrn Westerwelle. Sie sprechen uns damit die Ernsthaftigkeit unserer Sorgen und den Überzeugungshintergrund unserer Entscheidung ab. Sie flüchten sich auf Seitenbühnen und toben sich dort in Ihrer Kritikwut an der Bundesregierung aus, ohne die tatsächliche politische Entwicklung überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Gestern gab es auf Ihren Antrag eine Aktuelle Stunde. Ich hätte mir gewünscht, dass ganz Deutschland diese Aktuelle Stunde verfolgt hätte. Sie haben sich eine geschlagene Stunde lang ausschließlich mit einer Presseveröffentlichung vom Wochenende beschäftigt. ({5}) Aber Sie sind nicht mit einem Satz darauf eingegangen - Sie hätten mit uns zusammen darüber nachdenken können -, ob die deutsch-französisch-russische Initiative nicht doch noch eine Chance bietet, den Irak ohne Krieg zu entwaffnen. ({6}) Wie soll man Ihnen glauben, dass Sie wirklich das Ziel verfolgen, diesen Krieg zu vermeiden? Das fällt schwer. Darüber wollen Sie nämlich nicht diskutieren, weil Sie dann mit Ihren wilden Angriffen auf die Bundesregierung eine Bauchlandung erleben würden und jeder merken würde, dass Ihre Behauptung von der deutschen Isolierung schlicht und einfach nicht stimmt. Dann würde auch Ihre These, das kategorische Nein der Bundesregierung zu einem Krieg mache Deutschland handlungsunfähig, widerlegt werden. Die letzten Tage haben exakt das Gegenteil bewiesen, aber Sie wollen das nicht wahrhaben. ({7}) Nein, wenn Sie es mit dem Willen, den Krieg zu verhindern, ernst meinen, dann müssen Sie jetzt aus Ihrer Ecke herauskommen und über den Schatten Ihrer Fundamentalopposition springen. Dann müssen Sie wenigstens in diesem einen Punkt die Politik des Bundeskanzlers und des Außenministers und damit auch die Ziele der deutschfranzösisch-russischen Initiative unterstützen. Wenn Sie das nicht können oder nicht wollen, sollten Sie wenigstens eines anerkennen: die ernsten Sorgen hinter unseren Entscheidungen. Kann es denn sein, dass das bisherige Regelwerk der Weltgemeinschaft nach den Anschlägen vom 11. September auf genau diese Regeln und Werte - als Antwort darauf hat das mächtigste Land der Erde im Alleingang und gegen die Regeln des bisher geltenden Völkerrechts eine neue strategische Doktrin beschlossen - aus den Angeln gehoben wird? Dürfen wir überhaupt zulassen, frage ich Sie, dass beim Kernstück des Völkerrechts, dem Gewalt- und Kriegsverbot, jetzt die Beweislast umgekehrt werden soll? Noch immer gilt, dass Krieg nur als letztes Mittel, wenn eine unmittelbare Bedrohung besteht und alle anderen Mittel zur Abwendung dieser Bedrohung angewandt wurden, aber versagt haben, zulässig ist. Die Initiative von Deutschland, Frankreich und Russland nimmt dieses Kernstück des Völkerrechts ernst. Der wichtigste Satz der gemeinsamen Erklärung lautet: „Es gibt noch eine Alternative zum Krieg.“ Nach dem geltenden Völkerrecht ist es aber nicht in unser Belieben gestellt, dieser Alternative eine Chance zu geben, sondern wir sind verpflichtet, das zu tun. ({8}) Wer die Arbeit der Waffeninspektoren jetzt abbrechen und durch eine militärische Intervention ersetzen will, hat die Beweislast. Er muss zeigen, dass eine unmittelbare und tatsächliche - nicht eine potenzielle - Gefahr für einen Nachbarstaat oder die ganze Welt anders nicht abwendbar ist. Wir weigern uns, diese Regeln der internationalen zivilisierten Gesellschaft außer Kraft setzen zu lassen. Wir tun das aus Sorge darum, in was für eine Welt uns das führen wird. Wir spüren - dabei bekommen wir gelegentlich eine Gänsehaut -, an welcher Weggabelung wir im Augenblick stehen. Lange Zeit gab es auf der Grundlage internationaler Verträge, an die sich auch die Hauptwaffenbesitzer zu halten haben, einen Konsens über Abrüstung als Prinzip für den Frieden in der internationalen Politik. Die Entscheidung über den Irakkrieg führt aus diesem Konsens heraus in eine neue, dichotomische Welt. Da soll zwischen Gut und Böse unterschieden werden. Die guten Länder dürfen alle Sorten von Waffen haben, die bösen aber nicht. Wenn diese an entsprechenden Programmen arbeiten, müssen sie notfalls durch Krieg entwaffnet werden. Alle Entscheidungen darüber trifft nicht die zuständige Weltorganisation, sondern - das notfalls auch ganz allein - die stärkste und einzige Weltmacht. Der Irakkrieg wäre in diesem Kontext ein Präzedenzfall; das ist unsere tiefste Überzeugung. Er würde das Tor in eine neue Weltordnung aufstoßen, die nicht auf Vertrag oder Konsens, sondern allein auf der Macht beruht, sie so durchzusetzen. ({9}) Wir haben kein Vertrauen in eine Weltordnung, in der als böse deklarierte Länder damit rechnen müssen, dass sie durch Krieg an verbotenen Waffenprogrammen gehindert werden, wirklich böse Länder aber - wie heute Nordkorea -, die schon über einsatzfähige Massenvernichtungswaffen verfügen, keine Bestrafung fürchten müssen. Wir sagen voraus: In einer solchen Welt wird es nicht nur eine Serie von Entwaffnungskriegen geben; darin wird auch Nichtverbreitung keine Chance mehr haben. Es wird logischerweise einen heimlichen Wettlauf um den Besitz dieser Waffen geben, damit man nicht mehr sanktioniert werden kann, damit das eigene Handeln sakrosankt wird. Das ist keine Weltordnung, in der wir leben wollen. ({10}) Nein, wir bestehen auf der Rückkehr zu dem politischen Ziel umfassender Abrüstung und Rüstungskontrolle aller Länder auf der Basis internationaler Verträge. Die Waffen selber sind die Gefahr, auch wenn sie in Händen der guten Länder sind. Man kann sie nicht garantiert gegen verbotenen Zugriff und Missbrauch schützen. Wo sind denn Anthrax-Briefe verschickt worden mit der Folge, dass Regierungsgebäude und Parlamentsgebäude für mehrere Wochen geschlossen werden mussten? Wo gelangte denn Plutonium auf den freien Markt? Das war nicht in irgendwelchen Schurkenstaaten, sondern in der zivilisierten Welt, mitten unter uns. Dies zeigt doch: Es geht um die Waffen selber. Es geht um ein Regime mit der Sicherheit der gemeinsamen Abrüstung. Ein Irakkrieg führt zu einer Bewegung davon weg hin zu einer neuen Weltordnung, in der auf diese Gefahren überhaupt keine Antwort gefunden werden kann. ({11}) Der Bundeskanzler hat unser Nein zu einer Abkehr von den bisherigen Regeln der Weltgemeinschaft noch einmal bekräftigt. Unser Nein ist kein Nein des Trotzes, des Taktierens oder gar der fahrlässigen Infragestellung der westlichen Wertegemeinschaft. Dieses Nein ist - im Gegenteil ein Nein zu einer Veränderung der Werte und Regeln dieser Gemeinschaft, die ohne jeden Verständigungsprozess durchgesetzt werden soll. Hier stehen wir auf der Seite von Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der uns geraten hat, diese Diskussion mit unserem amerikanischen Partner zu führen, aber in Form einer Freundschaft des offenen Wortes und nicht „in blinder Unterwerfung“. ({12}) Wir sind heute dem Kern unseres Mandates, das uns von den Wählern verliehen worden ist, in besonderer Weise sehr nah. Es geht um die Verantwortung über den Tag hinaus. Wir stehen an einer Weggabelung. Dies ist der Hintergrund unserer Entscheidung und unserer Position. Wir haben das Gefühl, die vielen Menschen, die vielen Wähler, die uns unterstützen, folgen nicht einer Stimmungslage, sondern teilen diese Grundüberzeugung. Dies macht uns stark und fest. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Erler, ich greife Ihre Worte von der Verantwortung über den Tag hinaus auf. Ich bin seit mehr als 25 Jahren Mitglied dieses Hauses. Aber was in den letzten Wochen an außenpolitischem Vertrauen und Porzellan zerschlagen worden ist, macht mich fassungslos. ({0}) Trotz der aktuellen Kriegsangst, die natürlich herrscht, wenn Truppen aufmarschieren und sich ein Diktator bis jetzt unbeugsam zeigt, müssen wir doch immer schauen, dass wir die Grundlagen unserer Sicherheitspolitik, die feste Nachkriegsarchitektur, auf die unser Land aufgebaut ist, auch für die Zukunft bewahren können. Vertrauen ist ein ungeheuer zerbrechliches Gut; das war auf der Sicherheitskonferenz in München deutlich zu spüren. Es ist sehr schnell zerstört und es dauert sehr lange, bis es wieder aufgebaut ist. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir tragen Verantwortung für unser Land, jetzt und weit über den Tag hinaus. In den 57 Jahren, die seit der totalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg vergangen sind, hat sich Deutschland dank der Politik kluger Staatsmänner zu einem gleichberechtigten, geschätzten Partner entwickelt. Wir gehören zur westlichen Wertegemeinschaft. Das ist für ein Volk, von dem der Holocaust ausgegangen ist, weil es dem Diktator nicht rechtzeitig das Handwerk gelegt hat, nicht selbstverständlich. Wir sind stolz darauf, dass wir über eine gefestigte Demokratie verfügen, dass wir geschätztes Mitglied eines Bündnisses sind, dass wir eine marktwirtschaftliche Ordnung haben, dass wir uns den Prinzipien der freien Welt verpflichtet fühlen und dass wir uns ein einmalig hohes Niveau an Wohlstand und sozialer Sicherheit erarbeitet haben. Maßgeblich dafür war das Vertrauen, das uns die anderen entgegengebracht haben. Dieses Vertrauen dürfen wir nicht verletzen. ({2}) Zu diesem Wiederaufstieg Deutschlands haben die auf gegenseitiges Vertrauen aufbauende transatlantische Partnerschaft, der Schutz durch die NATO in den Jahren des Kalten Krieges, die irreversible Einbindung in die Europäische Union und die Einbettung in eine liberale Weltwirtschaftsordnung in besonderem Maße beigetragen. Angesichts des Dilettantismus der letzten Wochen spüre ich, dass dies alles für die Zukunft beschädigt ist. Es stimmt schon eigenartig, Herr Bundeskanzler, was große deutsche Zeitungen schreiben; ich habe einige dabei. So ist zum Beispiel zu lesen, Wilhelm II. feiere wieder fröhliche Urstände. Die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt von „Gerhard II.“. Wenn man das liest, dann spürt man, dass etwas zerbricht und dass etwas entsteht, von dem wir in Deutschland geglaubt haben, dass wir es überwunden haben. ({3}) Das ist auch zu spüren, wenn man sich im Fernsehen die aktuellen Nachrichten ansieht. Die NATO befindet sich in der schwersten Krise ihrer Geschichte. Das von Ihnen mitgetragene Veto hinsichtlich der Planung für den Bündnisfall für die Türkei ist konzeptionslos. Es wird vieler diplomatischer Künste bedürfen, um all das zu reparieren, was an Porzellan zerschlagen worden ist. ({4}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere NATO-Partner wissen doch noch: Sie waren diejenigen, auf die die Deutschen angewiesen waren. Die NATO war die entscheidende Basis für die Sicherung des Friedens in den Jahren des Kalten Krieges. Davon haben wir profitiert. Deutschland war das potenzielle Aufmarschgebiet des Warschauer Paktes. Ohne die NATO hätten wir unsere Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit niemals erreicht. ({5}) Die NATO ist für uns nicht überflüssig geworden, seitdem uns an unserer östlichen Flanke keine Panzerarmeen mehr feindlich gegenüberstehen. Die NATO ist für uns notwendig, damit wir uns gegen die neuen terroristischen Bedrohungen, die es auf der Welt gibt und die zunehmen, verteidigen können; denn nur das gemeinsame Bündnis verfügt über die entsprechenden Mittel. ({6}) Es geht hinsichtlich der Außenpolitik ein Riss durch Europa. ({7}) - Das steht alles in dem Antrag. Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Göring-Eckardt! Hören Sie zu! Sie können nur lernen. ({8}) Der Aufruf der acht EU-Regierungschefs zur transatlantischen Solidarität - jetzt komme ich auf den Antrag zu sprechen - ist Ausdruck der abnehmenden Gemeinsamkeit der Europäer. Warum sind denn die Deutschen nicht gefragt worden, ob sie diesen Antrag mit unterschreiben? Vielleicht wären wir zu einem gemeinsamen Antrag gekommen, Herr Bundeskanzler. Es gab aber nie den Versuch, eine gemeinsame Position in Europa herzustellen. Wenn man sich von vorneherein von seinen Partnern distanziert und ihnen zu verstehen gibt, egal was sie beschließen, man mache nicht mit und, egal was die Weltgemeinschaft vorsieht, man gehe einen Sonderweg, dann muss man sich nicht wundern, wenn man am Ende alleine dasteht. ({9}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Fassungslosigkeit bei unseren amerikanischen Freunden gibt es nicht nur bei George Bush, bei Rumsfeld und den Republikanern. Vielmehr ist diese Sorge auch auf der anderen politischen Seite sehr verbreitet. Ich war nach der Sicherheitskonferenz abends in der Residenz Nachbar von Senator Lieberman. Er war bekanntlich der Vizepräsidentschaftskandidat der Demokraten. Als ich ihm gesagt habe, dass wir nur wegen etwas mehr als 6 000 Stimmen den ersten Platz bei der Bundestagswahl verfehlt hatten, entgegnete er, die Demokraten in den USA hätten den ersten Platz nicht wegen der Stimmenzahl, sondern wegen des Wahlsystems verfehlt, sonst wäre er heute Vizepräsident. Aber trotz dieser Wahlauseinandersetzung ist man sich heute einig, dass man gemeinsam den Terrorismus bekämpfen muss, dass man gemeinsam gegen Schurkenstaaten vorgehen muss, ({10}) dass man gemeinsam Saddam Hussein in die Schranken weisen muss. Es ist auch hier gesagt worden: Ohne amerikanische Soldaten dort wären heute keine Waffeninspekteure im Irak. ({11}) Was mir mindestens so viel Sorgen macht wie der möglicherweise bevorstehende Krieg, ist die Tatsache, dass wir heute eine Art Sprachlosigkeit in den deutsch-amerikanischen Beziehungen haben. Herr Bundeskanzler, wenn Sie zum Telefon greifen und den amerikanischen Präsidenten anrufen wollen, hebt auf der anderen Seite niemand den Telefonhörer ab. ({12}) Das ist etwas, was uns keine Schadenfreude bereitet, sondern es macht uns zutiefst besorgt. Ich darf einen Demokraten zitieren. Tom Lantos, ein hochrangiges Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Repräsentantenhauses, hat gesagt: Hätte es die heldenhaften Anstrengungen des amerikanischen Militärs nicht gegeben, wären Frankreich, Deutschland und Belgien heute sozialistische Sowjetrepubliken. Ich frage den Herrn Bundeskanzler: Sind Sie denn eigentlich von allen guten Geistern verlassen, wenn Sie eine Außenpolitik, zum Teil an Ihrem eigenen Außenministerium vorbei, machen, nach dem Motto: „Den Herren Bush und Blair werden wir es zeigen!“? Wer das als Deutscher glaubt machen zu können, der leidet unter Großmannssucht und vor Großmannssucht sollten wir uns hüten. ({13}) Heute wird die Achse Moskau-Berlin-Paris beschworen. Ganz davon abgesehen, dass das Wort „Achsenmächte“ in Deutschland und in Europa keinen guten Klang hat, muss man erst einmal abwarten, ob diese Achse am Schluss hält. Tatsache ist zum Beispiel, dass unser Partner Frankreich zwar immer bei internationalen Krisen zunächst einen eigenen Kurs verfolgt hat, aber am Ende doch auf der Seite der westlichen Gemeinschaft gestanden ist. Es ist auch Tatsache, dass sich der russische Präsident Putin alle Türen offen gelassen hat. ({14}) Die Frage ist doch: Worum geht es in diesen Tagen und Wochen? Der amerikanische Historiker Jeffrey Herf hat es wie folgt auf den Punkt gebracht: Als erster Diktator seit Hitler vereint Saddam Hussein in seiner Politik Elemente des europäischen Faschismus und Stalinismus, blutigen Terror gegen die eigene Bevölkerung, Aggressivität gegenüber anderen Staaten, Antizionismus und Antisemitismus, den eindeutigen Wunsch, die Kontrolle über bedeutende Teile der weltweiten Ölversorgung zu erlangen, sowie eine unbeirrbare Entschlossenheit, sich chemische, biologische und atomare Waffen zu beschaffen. Deswegen war doch die Antwort der Völkerfamilie klar und unmissverständlich: glaubwürdige Kooperation mit der UNO, ungehinderte Arbeit der Inspektoren, nachprüfbare Entwaffnung und definitiver Verzicht auf Massenvernichtungswaffen. Der Bericht von Chefinspektor Blix und die Analyse von US-Außenminister Powell lassen jedoch erhebliche und begründete Zweifel am Irak aufkommen und diesen Zweifeln muss man nachgehen. Die politische Führung des Irak hält sich nicht an die Abmachungen. Sie täuscht, vertuscht, sie trickst und taktiert. Wenn Saddam an dieser Strategie festhält, bleibt - das befürchte ich - als Ultima Ratio, als allerletztes Mittel, nichts anderes übrig als der Einsatz militärischer Gewalt. Ich befürchte, dass dieses Regime keine anderen Hoffnungen zulässt. Ich glaube, hier ist niemand, dem es nicht lieb wäre, wenn sich das auf andere Art und Weise erledigen würde. ({15}) Niemand - vor allem die westliche Völkerfamilie nicht will Krieg. Wir kennen die Lehren aus der Geschichte der Weltkriege. Wir wissen aber eines: Mit den Mitteln der Friedensbewegung werden wir den Diktator in Bagdad nicht zum Einlenken bewegen. Von der Bergpredigt lassen sich Christen und Nichtchristen, aber keineswegs Saddam Hussein und Diktatoren seines Schlages beeindrucken. ({16}) Wir wissen auch - lassen Sie mich das in diesen ernsten Zeiten sagen -: Der gesinnungsethische Pazifismus mag als Haltung des Einzelnen akzeptabel und durchaus ehrenwert sein, zur Sicherung des weltweiten Friedens und zur Eindämmung von Diktatoren taugt er allerdings nicht. Hier ist Verantwortungsethik gefragt. Wer Saddam Hussein gewähren lässt, wird früher oder später für die Folgen des Wegsehens aufkommen müssen. Um welche Folgen es sich dabei handelt, war in ZDF-Sendungen an den letzten Abenden oder bei „Boulevard Bio“ deutlich zu sehen. Wohin eine falsch verstandene AppeasementPolitik führt, konnte die Welt im vergangenen Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit dem rechten und linken Totalitarismus erleben. Ich habe Verständnis für die theologischen und humanitären Argumente unserer Volkskirchen. Ich freue mich auch, wenn Fischer den Papst besucht; ich habe überhaupt nichts dagegen. Ich bin Mitglied in meiner Kirche und zahle im Gegensatz zu vielen Leuten auf der Regierungsbank Kirchensteuer. ({17}) Zu allen Zeiten habe ich mich zu dieser Kirche bekannt. ({18}) Ich kann die ablehnende Mehrheit, die gegenwärtig Angst hat, irgendwo verstehen. Ich habe auch Verständnis für eine Minderheit in meiner Fraktion, die gegen einen möglichen Militärschlag gegen den Irak ist. Wir müssen aber auch die Folgen des Pazifismus im letzten Jahrhundert sehen. Hätte die Gemeinschaft der freien Völker Hitler damals rechtzeitig durch politische und - als Ultima Ratio militärische Mittel in die Schranken verwiesen, wäre Deutschland und der Welt sehr viel erspart geblieben. ({19}) Ich glaube, all das gilt es zu bedenken. Die pazifistische Haltung der rot-grünen Bundesregierung ist wenig glaubwürdig. Als es darum ging, den serbischen Diktator Milosevic in die Schranken zu verweisen, hat sich Bundeskanzler Schröder zu einer deutschen Beteiligung bereit erklärt; dies erfolgte im Übrigen bemerkenswerterweise ohne ein Mandat der UNO. Das möchte ich hier auch noch einmal feststellen. Ich halte es trotzdem für richtig. Heute sieht es so aus, als ob die Bundesregierung den irakischen Diktator für weniger brutal hält als den serbischen Diktator. Man weigert sich nämlich, selbst wenn die UNO dies so fordern sollte - damit ist zu rechnen -, das zumindest politisch zu unterstützen. Die Strategie des Bundeskanzlers im Irakkonflikt bestand und besteht bis jetzt in einem sehr schwer erklärbaren Chaos-Schlingerkurs. Ich möchte noch von einem weiteren Erlebnis auf der Sicherheitskonferenz erzählen. Ein ehemaliger amerikanischer Botschafter hat mir am Samstagmittag beim Hinausgehen gesagt - zu diesem Zeitpunkt waren die Pläne, massiv mit Blauhelmen dort hineinzugehen, durch den „Spiegel“ bekannt gemacht worden -, er habe gedacht, wir hätten in Deutschland keine Soldaten mehr. Er glaubte, unsere Kapazitäten seien bis an den Rand beansprucht. ({20}) Ich habe gesagt: Sie sehen das falsch, Herr Botschafter. Wir haben nur einen Mangel an grünen Helmen. Offensichtlich sind genügend blaue Helme vorhanden. ({21}) - Was wollen Sie? Man kann auf so etwas nur halb scherzhaft antworten. Die anderen amüsieren sich nämlich in hohem Maße über uns. Diese diplomatischen Bocksprünge sind für unser Land schlecht, weil sie das Vertrauen in die deutsche Politik unterminieren. Daran können noch nicht einmal wir als Opposition Vergnügen haben. ({22}) Was das auch für unsere Wirtschaft bedeutet, was es für Folgen haben wird, wenn wir uns von Amerika, der Lokomotive der Weltwirtschaft, weiter entfernen, wenn amerikanische Investitionen ausbleiben und unsere Produkte in den USA nicht mehr gekauft werden - worauf wir angewiesen sind -, all das müssen wir bedenken, wenn wir in diesen Tagen über das Verhältnis zu den USA reden. Die Außenpolitik und vor allen Dingen unsere Bündnisfähigkeit und Solidarität sind zu wertvoll, um in Wahlkämpfen missbraucht zu werden. Herr Bundeskanzler, Sie haben das im Bundestagswahlkampf getan. Schon damals war ich fassungslos, weil ich geglaubt habe, die Staatsräson würde dies einem verantwortlichen Bundeskanzler verbieten. Sie haben dieses Verhalten im niedersächsischen und hessischen Wahlkampf wiederholt. Das hat allerdings keine Auswirkungen mehr gehabt. Das zeigt, wie reif die Wähler in Deutschland in dieser Hinsicht geworden sind. ({23}) Ich meine, wir sollten bei all unseren Entscheidungen immer auch unsere Bündnisfähigkeit und Glaubwürdigkeit im Auge haben. Wir wissen: Wir können Diktatoren nicht besiegen, wenn wir in unserer Haltung schwanken und als freie Welt nicht entschlossen handeln. Hussein setzt auf die Zerstrittenheit des Westens und hofft bis zuletzt, dass er an der Macht bleiben kann. Er versteht die Sprache des Pazifismus nicht. Er versteht offensichtlich nur die Sprache der Waffen, weil das seine Sprache ist. Ich hoffe, dass eine bewaffnete Auseinandersetzung im letzten Moment abgewendet werden kann. Aber im Zweifelsfall muss ganz klar sein, dass wir an der Seite unserer Freunde aus der freien Welt, unserer Freunde im Sicherheitsrat und unserer amerikanischen Freunde stehen, was die politische Unterstützung anbelangt. Herr Bundeskanzler, ein letzter Punkt. Sie scheuen Abstimmungen im Bundestag für eine notwendige Unterstützung offensichtlich wie der Teufel das Weihwasser. Wenn Sie eine Zustimmung für den Einsatz von PatriotRaketen - meinetwegen auch mit deutschem Bedienungspersonal - brauchen, wenn Sie eine Unterstützung für den Einsatz deutscher Soldaten in den AWACS-Maschinen benötigen, sich aber auf Ihre Reihen im Bundestag nicht verlassen können, dann sage ich Ihnen: Auf uns ist Verlass, wenn es um die Sicherheit unseres Landes für die Zukunft geht. Herzlichen Dank. ({24})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister Peter Struck. ({0})

Dr. Peter Struck (Minister:in)

Politiker ID: 11002278

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden über die aktuelle internationale Lage. Ich möchte zunächst ein Wort zur Situation in Afghanistan sagen. Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren in vielen Krisen und Konflikten und nicht zuletzt im Kampf gegen den Terrorismus als ein sehr zuverlässiger Verbündeter erwiesen. Das zeigt sich vor allen Dingen auch in Afghanistan. Sie wissen, dass wir dort zu Beginn dieser Woche zusammen mit den Niederländern eine noch größere Verantwortung übernommen haben. Lassen Sie mich meine persönlichen Eindrücke von dieser Übernahmezeremonie schildern. Das Land ist absolut nicht sicher. Das haben auch die Anschläge gezeigt, die anlässlich meines Besuches und des Besuches des niederländischen Kollegen verübt worden sind. Diejenigen, die die Raketen abgeschossen haben, wollten uns signalisieren: Seid euch nicht zu sicher! Wir können auch anders, wenn wir wollen! - Es bestand nie eine persönliche Gefahr für mich oder meine Begleitung. Aber es ist ein politisches Signal gewesen, das wir nicht unterschätzen sollten. Die Fortschritte in Kabul sind jedoch unverkennbar. Afghanistan erholt sich von den Wunden, die das Talibanregime geschlagen hat. Ich war das erste Mal im Juli 2002 in Kabul. Damals konnte man die Schreckensstarre der Menschen wegen der Talibanterroristen noch mit den Händen greifen. Ein halbes Jahr später hat sich dieses Land zu einem Lächeln geöffnet, insbesondere wenn man mit Kindern spricht. Diese Entwicklung wäre ohne den Einsatz der Bundeswehr nicht vorstellbar. ({0}) Wir dürfen auf den Einsatz unserer Soldaten für den Frieden in diesem geschundenen Land stolz sein. Die Menschen wenden sich vor allen Dingen den Bundeswehrsoldaten geradezu mit Liebe zu. Sie wissen, dass sie uns bzw. den Bundeswehrsoldaten die Schritte zur Normalität verdanken. Auch die Taliban wissen das. Die Taliban wie auch die Hekmatyar-Rebellen und al-Qaida-Reste wollen den ISAF-Soldaten das Handwerk legen. Uns liegen entsprechende Informationen unserer Dienste und unserer Partnerdienste vor. Sie rächen sich mit Selbstmordanschlägen und Raketenangriffen. Unsere Soldaten sind in ihrem Auftrag der Weltgemeinschaft, ein demokratisches Afghanistan aufzubauen, höchst gefährdet. Ich unterstreiche, was der Bundeskanzler dazu ausgeführt hat. Auch angesichts der persönlichen Gefährdung für ihr Leben, der die Soldaten vor allem in Afghanistan ausgesetzt sind, verdienen sie unseren höchsten Respekt und unsere höchste Anerkennung für ihren Einsatz. Diese Auffassung teilt sicherlich der gesamte Deutsche Bundestag. ({1}) Ich spreche das deshalb an, weil ich Ihnen meine Auffassung zu den Äußerungen meines amerikanischen Kol1894 legen Donald Rumsfeld im amerikanischen Kongress verdeutlichen möchte. Ich habe das übrigens auch dem Kollegen Rumsfeld in einem Vieraugengespräch mitgeteilt. ({2}) Das deutsche Engagement im Kampf gegen den Terrorismus hat die USA spürbar entlastet. Daran kann wohl kein Zweifel bestehen. Angesichts der Tatsache, dass sich abgesehen von dem Kommando Spezialkräfte der deutschen Bundeswehr keine anderen Special Forces mehr im Kampf gegen den internationalen Terrorismus in Afghanistan aufhalten - alle anderen sind schon verschwunden -, meine ich, dass wir uns nichts vorwerfen zu lassen haben, schon gar nicht von den Vereinigten Staaten von Amerika. ({3}) Wir vergessen nie, dass wir durch die amerikanische politische und wirtschaftliche Unterstützung in einem stabilen demokratischen Land leben dürfen. Auch ich vergesse das nie. Das heißt aber nicht, dass ich es akzeptiere, dass Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Deutschland in einem Atemzug mit Kuba und Libyen nennt. Das ist inakzeptabel, unfair und mehr als ungehörig. ({4}) Das habe ich ihm auch persönlich gesagt. Ich will Ihnen auch erläutern, warum ich das für absolut unfair und unamerikanisch halte. Das Gebot der Fairness ist schließlich fast eine amerikanische Grundtugend. Wir haben die Überflugrechte und die Nutzung der US-Basen beschlossen. Wir haben beschlossen, dass Truppenverlegungen über deutsches Territorium möglich sind. Wir bewachen seit dem 24. Januar US-Einrichtungen. Gestern waren für diese Aufgabe 999 Soldaten an 18 Standorten in 17 Objekten im Einsatz. Maximal können 7 000 Soldaten abgestellt werden. Ich habe Rumsfeld darauf angesprochen, was wohl unsere Soldaten, die in der Winterkälte solche Einrichtungen schützen, darüber denken, wenn ihr Land mit Libyen und Kuba gleichgesetzt wird. Das geht nicht an und das kann man ihm nicht durchgehen lassen. ({5}) Er ist ein Mann, der eine klare Sprache spricht. Das bin ich aber auch und ich meine, das geht nicht. ({6}) - Melden Sie sich doch bitte lauter zu Zwischenfragen! Ich habe nichts dagegen, Herr Präsident.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schäuble, Sie haben das Recht zu einer Zwischenfrage. Bitte schön.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesverteidigungsminister, könnte in Ihren Ausführungen, dass die Bundeswehr und die Bundesrepublik Deutschland eine Menge leisten und dass im Übrigen von amerikanischer Seite nicht mehr Unterstützung seitens der Bundeswehr nachgefragt worden ist, nicht in Wahrheit die Beschreibung des Problems liegen, nämlich dass durch die unverantwortlichen Äußerungen des Bundeskanzlers die deutsch-amerikanischen Beziehungen so geschädigt worden sind, obwohl der Dissens in der Sache, was die Unterstützung selbst anbetrifft, nicht so groß ist?

Dr. Peter Struck (Minister:in)

Politiker ID: 11002278

Nein, das sehe ich völlig anders, Herr Kollege Schäuble. In den Debatten über eine mögliche Beteiligung Deutschlands oder anderer Länder am Irakkrieg, die im Sommer begannen, war völlig klar, dass sich die Bundesrepublik Deutschland - das hat der Bundeskanzler im Sommer wie auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt erklärt - nicht an militärischen Maßnahmen beteiligen wird und dass wir eine andere politische Zielrichtung verfolgen. Der Kanzler hat das ja dargelegt. Das haben die Amerikaner auch akzeptiert. Sie haben akzeptiert, dass wir nicht mit Bodentruppen oder sonst etwas im Irak sind. Aber sie haben natürlich auch andere Wünsche geäußert. Ich habe eben die Erfüllung einiger Wünsche dargestellt. Mein Punkt ist: Wenn ich zum Beispiel darauf hinweise, dass wir natürlich die Transporte von RheinlandPfalz nach Bremerhaven absichern werden, wenn sie notwendig werden, dass wir die Straße von Gibraltar und die Einfahrt in den Suezkanal im Zusammenhang mit der Operation „Active Endeavour“ im Kampf gegen den internationalen Terrorismus schützen, dass unsere Marine am Horn von Afrika ist, dass wir dem AWACS-Einsatz zustimmen werden - das alles wissen Sie doch -, dann kann ich nicht verstehen, dass ein amerikanischer Verteidigungsminister so tut, als sei das alles gar nichts und wir seien genauso wie Fidel Castro oder Muammar al-Gaddafi. Das kann ich nicht verstehen. Das muss man auch sagen. ({0}) Ich bin in dem Gespräch mit Donald Rumsfeld in dieser Frage natürlich letztlich nicht einig geworden. Er - das will ich der Fairness halber auch erwähnen - hat mir gesagt, ich möge dem Bundestag mitteilen, diese Bemerkung über Libyen, Kuba und Deutschland habe sich nur auf die Frage bezogen, die ihm ein Congressman gestellt hat, wer sich alles am Krieg nicht beteiligen wolle. Das ist schon eine eigenartige Begründung von Donald Rumsfeld. Nachdem das geklärt war, haben wir noch einen Punkt besprochen, den ich dem Deutschen Bundestag auch nicht vorenthalten möchte. Es gibt Meldungen - sie sind auf der Sicherheitskonferenz kolportiert worden -, amerikanische Einheiten, die für andere Zwecke schon abgezogen sind - ich sage jetzt nicht, für welche -, kämen nie wieder nach Deutschland und US-Standorte in Deutschland würden geschlossen und nach Polen verlagert werden. Ich habe ihn auf diese Meldungen angesprochen. Er hat mir klar erklärt - ich sage das hier auch dem Parlament -: Diese Meldungen sind falsch. Ich finde das sehr wichtig, denn es wird plötzlich eine Situation hervorgerufen, als würden wir von den Vereinigten Staaten von Amerika für unbotmäßiges Verhalten abgestraft werden. Das ist nicht so. Diese Klarstellung begrüße ich. Unterschiedliche Auffassungen gibt es in dieser einen Frage. Man muss auch klar sagen, welche Positionen man hat. Ich möchte etwas zu den Themen Patriot und AWACS sagen. Seit dem vergangenen Freitag liegt eine Anfrage meines niederländischen Kollegen, der mit mir zusammen in Afghanistan, in Kabul, war, zur Überlassung einer gewissen Zahl von Patriot-Lenkflugkörpern in leistungsgesteigerter Version vor. Die leistungsgesteigerte Version haben nur wir und nicht die Holländer. Es geht also um Missiles, nicht um Abschussbatterien. Wir haben dieser Bitte entsprochen. ({1}) Wir werden diese Patriot-Missiles zusammen mit den niederländischen Batterien ab morgen oder übermorgen auf dem Seeweg in die Türkei bringen. Dazu haben wir auch entsprechende Vereinbarungen geschlossen. ({2}) - Stellen Sie eine Zwischenfrage. Dann will ich das noch einmal beantworten. Sie sind ja sachkundig. Machen Sie das! ({3}) - Nein, Sie dürfen nicht einfach nur so einen Unsinn dazwischenrufen. Stellen Sie eine Zwischenfrage! Dann werde ich Ihnen das erklären. ({4})

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, Sie haben gerade in einer etwas geheimnisvollen Sprachregelung versucht, uns zu erklären, dass uns die Holländer gebeten haben, Material zur Verfügung zu stellen, damit die Niederländer es in die Türkei bringen können. Können Sie mir erklären, warum es nicht einen direkten Weg von Deutschland in die Türkei gibt, warum der vielmehr über die Niederlande organisiert werden muss?

Dr. Peter Struck (Minister:in)

Politiker ID: 11002278

Ich versuche das. Es gibt - da haben Sie nicht zugehört - keine Bitte der Türkei an Deutschland, Patriot-Raketen zu liefern. ({0}) Es gibt eine Bitte der Türkei an die Niederlande, PatriotBatterien und -Raketen zu liefern. ({1}) - Da müssen Sie nicht lachen, Herr Kollege. Wenn die Türkei die Niederlande bittet, Patriot-Raketen - ({2}) - Entschuldigung, natürlich haben die Holländer die. Ich muss Ihnen das erklären. Sie sind kein Verteidigungspolitiker. Sie können das nicht so wissen. ({3}) Es gibt Abschussrampen, die Holland, Deutschland und die USA haben. Daneben gibt es bestimmte Missiles, Bewaffnungen dafür. Die Bewaffnungen, die die Holländer auf ihren Batterien haben, werden von der Türkei als nicht so effizient angesehen wie die, die wir haben, die punktgenauer angreifende Raketen bekämpfen können. Es gibt also eine Anfrage der Türkei an die Niederlande. Die Niederlande hat gesagt: Wir liefern die Batterien. Wenn gewünscht wird - so war es -, dass zielgenauere Raketen mitgeliefert werden sollen, dann tun wir das. - Sie können sich gern wieder setzen, Herr Schauerte. Wir tun das auch deshalb, weil wir, wie Sie wissen, Patriot-Batterien einschließlich Raketen nach Israel liefern. Ich denke, das ist auch im Sinne des Deutschen Bundestages; wir haben darüber ja im Zusammenhang mit Israel diskutiert. Das war eine vernünftige und richtige Entscheidung. ({4}) Ich möchte Ihnen noch etwas vorhalten. Ich habe an der Münchener Sicherheitskonferenz teilgenommen. Der Bundeskanzler hat eben von der „coalition of the willing“ für den Krieg gesprochen, an der sich auch die Union beteiligen will. Da haben Sie empört reagiert. Herr Westerwelle hat die Union verteidigt und gesagt, sie sei keine Kriegspartei.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting?

Dr. Peter Struck (Minister:in)

Politiker ID: 11002278

Ja, bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Nolting.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, ich hatte Sie gestern im Verteidigungsausschuss schon darauf angesprochen, dass es die Idee gibt, Blauhelme im Irak einzusetzen. Der Kollege Dr. Hoyer hatte Sie auf der Sicherheitskonferenz in München danach gefragt und Sie haben darauf verwiesen, der Herr Bundeskanzler würde dazu heute Stellung nehmen. Sie haben mir gestern erklärt, auch Sie würden heute dazu Stellung nehmen. Können Sie uns sagen, wie dieser Ein1896 satz organisiert werden soll, welche Truppen von wem zur Verfügung stehen und in welcher Größenordnung Blauhelme eingesetzt werden sollen? ({0}) Das ist eine Frage, die die Öffentlichkeit beschäftigt. Ich denke, Sie sollten hier eine Information dazu geben. ({1})

Dr. Peter Struck (Minister:in)

Politiker ID: 11002278

Ich möchte zunächst noch einmal klarstellen, dass die Antwort auf die Frage des Kollegen Hoyer anlässlich meines Referats bei der Sicherheitskonferenz, ob ich zu dem Thema Blauhelme und deutsch-französischer Geheimplan etwas sagen wolle, war: Ich kann dazu nichts sagen. Die Antwort hieß nicht: Ich will dazu nichts sagen. Ich wollte zu dem Vorgang zu dem Zeitpunkt auch nichts sagen, was natürlich richtig war. Der Kanzler hat jetzt darüber gesprochen, welche Gespräche mit Frankreich laufen. Die Bemerkung, es sei ein Geheimplan, ist absoluter Unsinn; das haben wir auch klargestellt. Das betrifft auch die Frage der Blauhelme. Dazu will ich Ihnen noch eines sagen: Eine solche Situation ist im Augenblick nicht ersichtlich. Wir werden sehen, wie sich die Situation weiter entwickelt, was im Sicherheitsrat beraten wird, welche Erfolge die Initiative Deutschlands, Frankreichs und Russlands haben wird. Nehmen Sie gern Platz, Herr Nolting. Es dauert ein bisschen länger. Ich sage Ihnen nur: Jeder deutsche Politiker, der auf die Frage „Können Sie sich vorstellen, dass irgendwann im Irak auch Blauhelme zum Einsatz kommen?“ Nein sagt, hat nun wirklich sein Amt verfehlt. Natürlich kann das einmal passieren. Wir sehen das im Augenblick nicht, aber wir wollen es nicht theoretisch für alle Zeiten und ewig ausschließen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Minister, gestatten Sie eine Zusatzfrage des Kollegen Nolting?

Dr. Peter Struck (Minister:in)

Politiker ID: 11002278

Also gut, noch eine kurze Zusatzfrage.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, hat es denn in dieser wichtigen Frage eine Abstimmung zwischen dem Bundeskanzleramt, dem Bundeskanzler und Ihnen sowie den Fachleuten im Verteidigungsministerium gegeben? Man bringt so etwas ja nicht in die Öffentlichkeit, ohne dass es vorher entsprechende Planungen gibt. Ich gehe davon aus, dass Sie genau wie der Herr Bundesaußenminister auch darüber informiert waren. Oder war das nicht der Fall und konnten Sie deshalb nicht Stellung nehmen?

Dr. Peter Struck (Minister:in)

Politiker ID: 11002278

Diese Frage ist nach meinen Informationen gestern in der Aktuellen Stunde und in der Fragestunde erörtert worden. Staatsminister Schwanitz hat darauf geantwortet. Ich habe seiner Antwort überhaupt nichts hinzuzufügen. ({0}) - Herr Schwanitz hat Informationen gegeben. Warum soll ich das hier noch einmal bestätigen? ({1}) Jetzt noch einmal zur Position der Union: Wir diskutieren über eine unterschiedliche politische Bewertung einer Frage. Ich muss Ihnen das jedoch noch einmal vorhalten, denn Herr Kollege Glos hat leider nicht darüber gesprochen. Vielleicht kann das ja Herr Schäuble, der irgendwann hier auch noch reden wird, klarstellen. Es geht um die Frage: Was passiert, wenn im Irak tatsächlich militärische Maßnahmen erfolgen, von wem auch immer initiert? Die Position der Bundesregierung ist eindeutig. Wenn Sie das nicht als Pathos abtun - darum bitte ich -, dann möchte ich Ihnen auch einen persönlichen Eindruck schildern - Joschka Fischer hat schon darüber gesprochen -: Ich habe am ersten Weihnachtstag in Köln-Wahn zusammen mit den Angehörigen die sterblichen Überreste der sieben abgestürzten Soldaten empfangen. Das damit verbundene Zeremoniell und die anderthalb Stunden Vorgespräche, die ich mit den Angehörigen geführt habe und die mir Fragen wie „Habt ihr auch den richtigen Hubschrauber zur Verfügung gestellt?“ gestellt haben - Sie können sich sicherlich vorstellen, wie diese Gespräche aussahen -, haben jedenfalls mich zu einer ganz persönlichen Erkenntnis gebracht: Ich möchte als Verteidigungsminister niemals wieder - das wünsche ich auch keiner meiner Nachfolgerinnen bzw. keinem meiner Nachfolger - in die Lage kommen, tote deutsche Soldaten in der Heimat zu empfangen. Das kann man eigentlich niemandem zumuten. ({2}) Jeder sollte wissen, was in einer solchen Situation auf ihn zukommt. Jetzt zur Position der Union: Über sie muss Klarheit herrschen. Frau Merkel hat in München gesagt: Diktatoren verstehen - das ist sicherlich richtig - nur die Sprache der Bedrohung. ({3}) Wenn die friedliche Entwaffnung sich am Ende als Fehlschlag erweist, befürworten wir auch im Interesse der internationalen Sicherheit und der Autorität des UN-Sicherheitsrates ein militärisches Vorgehen. ({4}) Deutschland solle sich in diesem Fall nach seinem eigenen Vermögen beteiligen. Stoiber - ich saß bei seinem ersten Auftritt neben ihm; er hat mich überrascht; denn am Samstagmorgen hat er auf die Rede von Rumsfeld mit Bedenken reagiert - hat gesagt: Die Gefahren durch den Irak würden hier „so nicht in der Breite gesehen“. Er hat des Weiteren mehr Zeit für die Inspektionen gefordert. Abends beim Essen für die Teilnehmer der Sicherheitskonferenz - ich war wieder dabei - hat er Folgendes gesagt: Sollte es nicht gelingen, mit friedlichen Mitteln die Gefahren aus dem Irak zu bannen, muss Deutschland auch bei einer militärischen Auseinandersetzung an der Seite der USA stehen. Das bedeutet, das, was der Bundeskanzler vorhin gesagt hat - Stichwort „coalition of the willing“ -, ist richtig. Sie wollen in dem Fall, über den wir reden, militärisch an der Seite der USA stehen. Dazu sage ich Ihnen: Das ist falsch. Das muss man im Deutschen Bundestag deutlich herausarbeiten. ({5}) Die Position der Bundesregierung ist völlig eindeutig. Wir werden nach den Beratungen im UN-Sicherheitsrat am Freitag, spätestens am Samstag im NATO-Rat eine Entscheidung treffen, die den Interessen der Türkei absolut gerecht werden wird; denn wir haben niemals einen Zweifel daran gelassen - auch jetzt werde ich daran keinen lassen -, dass die Türkei ein Bündnispartner der NATO ist und den Schutz bekommt, den sie braucht, wenn unmittelbare Gefahren drohen. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, beiden wird in geeigneter Form mitgeteilt werden, dass es besser wäre, wenn sie hier wären. ({0}) Ich möchte nur ein paar Anmerkungen machen. Der Außenminister hat wortreich eine internationale Lageanalyse über die schwierigen Regionen dieser Welt ausgeführt. Das alles ist zwar richtig gewesen. Aber leider will sich die Welt nicht immer so entwickeln, wie es guten Deutschen richtig erscheint. Sie entwickelt sich oft anders und stellt uns vor andere Fragen als diejenigen, die von einem Planungsstab nach einer klugen Lageanalyse vorgetragen werden könnten. Die jetzige Lage, in der wir uns befinden, ist ganz einfach: Die internationale Öffentlichkeit hat versucht, Druck aufzubauen, damit das Regime von Saddam Hussein wieder Inspektoren ins Land lässt, um so im Irak Sachen auf die Spur zu kommen, die erkennbar noch vorhanden sein müssen und die andere Menschen bedrohen. Als sich die internationale Völkergemeinschaft darangemacht hat, hat der deutsche Bundeskanzler im Bundestagswahlkampf gesagt: Wir nicht. Wir sind am Ende nicht dabei. Keine deutschen Soldaten in den Irak. - Es hatte ihn im Übrigen auch niemand gebeten, deutsche Soldaten in den Irak zu entsenden. - Der erste große strategische Fehler deutscher Außen- und Sicherheitspolitik ist mit dieser Aussage gemacht worden. ({1}) Wer erklärt, wie dies der Herr Bundeskanzler und der Bundesaußenminister hier getan haben, dass er in strikter Bindung an das Völkerrecht vorgehen will, dass er das Gewaltmonopol bei den Vereinten Nationen halten will, dass er unilaterales Vorgehen nicht akzeptiert, der muss eine Außen- und Sicherheitspolitik betreiben, die die Autorität des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen stärkt und nicht schwächt. - Das ist der erste Punkt. ({2}) Damit hat die Bundesrepublik Deutschland einem Diktator angezeigt, er könne entkommen und seine Politik weiterführen, ohne mit dem Letzten rechnen zu müssen. Sie hat Frieden gesinnungsethisch definiert, aber nicht verantwortungsethisch. Ich verwahre mich dagegen, dass alle die, die Frieden und Sicherheitspolitik auch verantwortungsethisch definieren, wie dies die Fraktion der Freien Demokratischen Partei hier tut, so dargestellt werden wie vorhin auch die Union, als seien sie leichtfertig eher bereit, Krieg als Mittel einzusetzen. Mit Vaclav Havel lasse ich mich gern in eine Reihe stellen. ({3}) Das Zweite sage ich jetzt einmal bewusst an die Reihen der Grünen gerichtet. Völkerrecht setzt sich, wie auch Sie erfahren mussten, nicht von selbst durch. Sie haben es beim Kosovo erfahren - sogar ohne Entscheidung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Sie mussten in der damaligen Situation auch in Ihren Reihen dafür werben, sich militärisch zu engagieren, weil Sie den Menschen im Kosovo sonst nicht hätten helfen können. Die Bundesregierung hat der Sicherheitsratsresolution 1441 zugestimmt. Diese Sicherheitsratsresolution hat alle Komponenten zum Erreichen der Entwaffnung des Irak - alle. Frankreich hat sich die letzte Option nicht verschlossen, Russland nicht und China auch nicht. Deshalb sage ich Ihnen: Wir werden das in diesem Parlament noch einmal diskutieren. Ich kann nicht ausschließen, dass der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesaußenminister sowie die gesamte Regierung am Ende ganz allein dastehen. Ich sage Ihnen, dass Sie es nicht verantworten können, diese Linie heute dem Deutschen Bundestag vorzutragen, weil Sie im Grunde gegen Ihre eigene Position schon heute sagen, Sie wüssten genau, was die Inspektoren vortragen würden. Ihr Bundeskanzler hat in Goslar gesagt: Selbst wenn wir den Inspektoren noch vier Wochen mehr Zeit geben: Auch das Ergebnis, das sie in vier Wochen vortragen werden, inte1898 ressiert uns nicht; auch wenn der Mann seine Waffen nicht abräumt, werden wir ihn nicht mit militärischen Mitteln dazu zwingen. - Ich finde, dass eine Weltgemeinschaft, auch vertreten durch die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, die Wert darauf legt, dass sie aus der Geschichte gelernt hat, die ein Gewaltmonopol beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hält, diesem Gewaltmonopol auch Autorität und Durchsetzungsfähigkeit verschaffen muss; denn sonst trägt es nicht. ({4}) Ich will damit sagen, dass Deutschland eine außerordentlich große Möglichkeit strategischer Außen- und Sicherheitspolitik vergeben hat - aus Wahlkampfgründen in einem Moment, in dem dieses Land nach einer langen Nachkriegsgeschichte den Vorsitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat und eigentlich alles hätte tun müssen, um zusammenzuführen. Ein solcher nicht nur handwerklicher, sondern auch politisch-strategischer Fehler ist in der Geschichte der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland ohne Beispiel. ({5}) Zuletzt noch eine kurze Bemerkung zum Bundesverteidigungsminister. Herr Bundesverteidigungsminister, Sie haben ruhig vorgetragen, Sie engagieren sich, Sie haben hier wortreich dargestellt, wie der Verlauf der Verhandlungen über die Patriot-Raketen gewesen ist, aber Sie werden sich noch gewaltig anstrengen müssen. Sie können weder der ganzen Weltöffentlichkeit noch einem Bündnispartner erklären, selbst wenn Sie noch eine Stunde Redezeit bekämen, wieso die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, die im NATO-Bündnis übrigens stärker integriert ist als Frankreich, dem Bündnispartner Türkei Lieferungen verweigert ({6}) oder jedenfalls nicht politisch verständlich auf eine entsprechende Anfrage antwortet. Die Türkei ist unser Bündnispartner und definiert ihre Sicherheit selbst; wir können dies nicht für sie tun. ({7}) Die oberlehrerhafte Art in Deutschland, darzustellen, wie die Sicherheitsempfindungen der Türkei aussehen, steht im krassen Widerspruch dazu, die türkische Bevölkerung immer wieder dazu einzuladen, zu uns nach Europa zu kommen. Dieses Bündnis hat uns jahrzehntelang geschützt. Wir haben wie selbstverständlich erwartet, dass das Bündnis sofort reagiert, wenn sich die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland gefährdet fühlt. Warum um alles in der Welt sind Sie nicht in der Lage, einer anderen Bevölkerung die gleiche Sicherheit zu geben, die andere uns jahrzehntelang gegeben haben? Das versteht niemand mehr. Dass Sie dazu nicht in der Lage sind, ist der Grund dafür, dass andere an uns zweifeln, dass andere fragen: „Was denken die sich denn?“, und dass die Bundesregierung allmählich jeden internationalen Kredit verspielt, im Übrigen auch emotional.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Gerhardt, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das war es eigentlich schon. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Ludger Volmer vom Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden heute hauptsächlich darüber, wie die UNResolution 1441 umgesetzt werden kann. Wir reden darüber, wie Saddam Hussein dazu bewegt und genötigt werden kann, endgültig abzurüsten. An dem Ziel, ihn dazu zu bewegen, arbeiten wir alle gemeinsam. Diese Zielsetzung verbindet uns alle. Dennoch möchte ich einige Fragen aufwerfen. Ich möchte zum Beispiel die Frage aufwerfen, wie der Irak überhaupt ins Visier geraten ist. Damit verbunden ist die Frage: Warum ausgerechnet der Irak? Nach dem 11. September 2001 waren wir alle - einheitlich, ohne Zweifel, ohne Zögern - solidarisch mit den Vereinigten Staaten. Wir alle wussten - manchen Pazifisten fiel es schwer -, dass man auch militärische Mittel braucht, um den internationalen Terrorismus einzudämmen und niederzukämpfen. Es ging kein Weg daran vorbei, solche Mittel auch gegen das Taliban-beherrschte Afghanistan einzusetzen. Bis dahin gab es keinen Dissens. Aber dann begann die Diskussion über die Phase zwei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Dann wurden neue Ziele Gegenstand der Diskussion und eines dieser Ziele war plötzlich der Irak. Wir haben schon damals die Fragen gestellt: Warum der Irak? Wo ist eigentlich der Zusammenhang zwischen dem Irak und dem internationalen Terrorismus? Dieser Zusammenhang ist nie nachgewiesen worden. Ich wundere mich wirklich, dass diejenigen, die meinen, dass der Irak ein Ziel bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus sein muss, nicht auf das vor kurzem bekannt gewordene Tonband eingegangen sind, das angeblich einen Aufruf von Bin Laden enthält. Warum wird das in dieser Diskussion verschwiegen? Das geschieht doch wohl deshalb, weil dieses Tonband eher eines beweist: Es gab keine Unterstützung von al-Qaida für den Irak; vielmehr hatten der arabische Nationalismus, für den der Irak steht, und der islamische Fundamentalismus, für den Bin Laden steht, in der Vergangenheit nichts miteinander zu tun. Ich halte jede Sicherheitspolitik für verfehlt, die diese beiden - gleichermaßen problematischen - Stränge in Verbindung bringt und sie geradezu veranlasst, sich gegen uns zu verbünden. Eine solche Sicherheitspolitik ist nicht in unserem Interesse, sie ist nicht im europäischen Interesse und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie im amerikanischen Interesse ist. ({0}) Wir müssen doch alles daransetzen, dass die arabische Welt und der islamische Fundamentalismus auseinander gehalten werden. Deshalb frage ich mich, ob diese Sicherheitspolitik - sie begründet den geplanten Angriff auf den Irak mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus - eine sich selbst erfüllende Prophezeiung in Gang bringt: die Zusammenarbeit - es hat sie vorher nicht gegeben - von Bin Laden und Saddam Hussein. Eine solche verhängnisvolle Entwicklung müssen wir verhindern. ({1}) Es wird die für manche Pazifisten durchaus unbequeme Auffassung vertreten, dass man auch ein militärisches Bedrohungsszenario braucht, um einen Despoten wie Saddam Hussein in die Knie zu zwingen bzw. zu veranlassen, die ihm in internationalen Resolutionen aufgetragenen Verpflichtungen zu erfüllen. Man kann darüber streiten. ({2}) Aber der Aufbau einer Drohkulisse impliziert auf jeden Fall zweierlei: Erstens muss man selber bereit und willens sein, die Drohung auch umzusetzen. Wenn man sich dazu bekennt, kann man schlecht sagen: Wir selbst halten uns heraus und lassen andere kämpfen. Von daher muss man sich vorher Gedanken darüber machen, ob man den Weg einer Drohpolitik einschlägt. Wir waren von Anfang an skeptisch. Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang: Wenn die an Saddam Hussein gerichtete Drohung in dem Sinne effektiv sein soll, dass er wirklich abrüstet, dann muss ihm auch das Gefühl vermittelt werden, dass die Drohkulissen irgendwann wieder abgebaut werden. Wenn Saddam Hussein aber glauben kann, dass er auf jeden Fall angegriffen wird, stellt sich doch die Frage, wo für ihn der Anreiz zur Abrüstung liegt. Das ist vielmehr ein Anreiz zur Aufrüstung. ({3}) Ich denke, dies gehört zu den Unklarheiten einer solchen Drohpolitik. Der Inhalt der UN-Resolution 1441, auf die wir uns beziehen, ist klar: Sie hat die Abrüstung des Iraks zum Ziel. Es gibt aber viele kompetente Sprecher in und rund um die Administration in Washington, die andere Ziele verfolgen und auch nach außen hin propagieren. Sie propagieren nicht die Abrüstung des Iraks, sondern den Sturz des Diktators. Nun hat keiner von uns irgendwelche Sympathien für diesen Diktator; alle wären froh, wenn er weg wäre. Unter sicherheitspolitischen Aspekten braucht man aber klare politische Zielsetzungen, weil man sonst zu einer antagonistischen und widersprüchlichen eigenen Haltung kommt. Wenn Saddam Hussein den Glauben haben kann, dass es um seinen Kopf und nicht um die Abrüstung des Iraks geht, warum sollte er dann abrüsten? Wenn es um seinen Kopf geht, wird er die Waffen behalten und aufrüsten. Das ist eine der Unklarheiten, die sich bei einer Analyse dieser Drohkulisse ergibt. Meine Damen und Herren, einige der Kollegen haben argumentiert, wie richtig es damals war, mit dem NATODoppelbeschluss den damals noch gegnerischen Block durch Hochrüstung in die Knie zu zwingen. ({4}) Ich will gar nicht darüber diskutieren, ob diese konservative Sicht der Dinge nicht auch etwas für sich hat. ({5}) Aber dass es dann zur Abrüstung in beiden Blöcken kam, hing damit zusammen, dass die Drohpolitik, die mit atomarer Aufrüstung verbunden war, massiv an Rückhalt in der eigenen Bevölkerung verloren hatte. Der Ausdruck hiervon waren massenhafte Friedensdemonstrationen. ({6}) Diese wiederum waren in der Wahrnehmung der sowjetischen Seite mit ein Grund dafür, dass Gorbatschow zu dem Schluss kam, er könne abrüsten, ohne Gefahr zu laufen, gegenüber dem Westen in eine sicherheitspolitisch nachteilige Lage zu geraten. Auch Perzeption und Fehlperzeptionen sind Realitäten. Mit ähnlichen Fehlperzeptionen muss man bei Saddam Hussein und in der arabischen Welt rechnen. ({7}) Wir sind deshalb so froh, dass der Heilige Stuhl, der Papst, die katholischen Bischöfe und die EKD-Synode ein so klares Bekenntnis gegen den Krieg abgegeben haben. ({8}) Das sind keine kleinen Gruppen schwärmerischer Friedensfreunde, das sind die wesentlichen Instanzen der christlichen Welt. Sie haben ihre Verantwortung in zweierlei Hinsicht wahrgenommen. Ich frage mich, warum die Partei, die das große C in ihrem Namen führt und sich christlich nennt, nicht zumindest aufmerksam wird, wenn der Heilige Stuhl so dramatische Mahnungen formuliert. Es gibt zum einen das moralische und das ethische Argument, dass ein Angriff auf den Irak ein massenweises Sterben der Zivilbevölkerung nach sich ziehen wird. Schon deshalb verbietet sich aus ethischen Gründen ein Angriff auf den Irak. ({9}) Wir wissen, dass der Diktator, indem er seine Waffen in zivile Gebiete disloziert, mit dazu beiträgt, dieses Elend herbeizuführen. Aber da wir dieses wissen, können wir nicht mehr arglos so tun, als ginge es nur um militärische Ziele. Wir wissen heute, dass es Zehntausende von Toten und Millionen von Flüchtlingen geben wird. Das ist ethisch einfach nicht vertretbar. ({10}) Zum anderen hat der Heilige Stuhl deutlich gemacht, dass wir alles vermeiden müssen, was den Eindruck erweckt, es ginge hier um den fundamentalen Kampf der westlich-christlichen Welt gegen die arabischislamische Welt. Auch vor diesem Hintergrund - das ist die Rückmeldung aus allen arabischen Staaten - war es sinnvoll, notwendig und ein mutiger Akt, dessen Berechtigung sich jetzt wieder erweist, dass Frankreich und Deutschland von Anfang an gesagt haben: Wir beharren auf einer friedlichen Lösung; denn alles andere wäre in der Wahrnehmung - und sei es eine Fehlwahrnehmung, denn auch diese wäre Realität - der arabischen Welt so erschienen, als würde sich die gesamte westlich-christliche Welt gegen die arabisch-islamische Welt verbünden. Dann hätten wir den Kampf der Kulturen, den wir unbedingt vermeiden müssen. Auch auf diese Mahnung des Vatikans reagieren wir mit unserer Politik. ({11}) Wenn nun immer wieder die Blocklogik der 80erJahre zitiert wird, dann frage ich diejenigen, die so diskutieren, als ginge es hier um eine symmetrische Auseinandersetzung, um den Krieg zwischen Staaten, Blöcken oder Regionen: Wo ist denn heute der eine und wo der andere Block? Laufen Sie damit nicht in die Falle, indirekt den Kampf der Kulturen zu propagieren? Tun Sie dies nicht, wenn Sie sagen: Jeder, der nicht für uns ist, ist gegen uns; alle westlich-christlichen Staaten müssen zu einem bestimmten Fähnlein eilen? Besteht nicht genau dann die Gefahr, dass die anderen zu einem anderen Fähnlein eilen? ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege Volmer.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Deshalb frage ich mich: Wenn diese Blocklogik heute nicht mehr bedeutsam ist und nicht mehr wirkt, wenn wir heute völlig andere, asymmetrische Konfliktstrukturen haben, wenn es die erste Aufgabe ist, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen, der durch Asymmetrie gekennzeichnet ist, warum dann dieser Rückfall in einen symmetrischen Staatenkrieg? Das ist Atavismus, ein Rückfall in eine längst überwundene Historie. Wir brauchen eine neue Sicherheitspolitik und eine friedliche Lösung für den Irak. Deshalb unterstützen wir mit Nachdruck die Politik der Bundesregierung. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Schäuble von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das Merkwürdige an dieser Debatte ist der Widerspruch zwischen dem, was wir in den Ausschüssen des Bundestags diskutieren, was in Kreisen der sich beruflich mit diesem Thema beschäftigenden Diplomaten und Sicherheitspolitiker in der internationalen Gemeinschaft, in der EU, in der NATO, in der UNO, sowie der Diplomaten im Auswärtigen Dienst diskutiert wird, dem, was die Journalisten, die sich kontinuierlich mit Außenpolitik beschäftigen, schreiben und kommentieren, und der Stimmung in der Bevölkerung. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung - das hat er übrigens auch vorher in der SPD-Fraktion angekündigt - gesagt, er setze nicht darauf, was andere Staatsmänner denken und reden, sondern auf die Stimmung in der Bevölkerung. Damit ist die Sache in einer Demokratie noch nicht abgeschlossen. Aber der Bundeskanzler ist daraufhin in mehreren großen deutschen Tageszeitungen mit Wilhelm II. verglichen worden, ({0}) und zwar, weil auch dieser damals viel Zustimmung in der Bevölkerung hatte, bis weit in das Elend des Ersten Weltkriegs hinein. Es war nur leider die falsche Politik. ({1}) Verantwortliche politische Führung hat - gerade in einer Frage, in der die Menschen in besonderer Weise betroffen sind, die man deshalb ernst nehmen und für die man Verständnis aufbringen muss - die Aufgabe, den Menschen zu erklären, welcher Weg nach sorgfältiger Prüfung wahrscheinlich der sicherere in eine Zukunft von Frieden und Freiheit ist. ({2}) Nun möchte ich Ihnen sagen: Für die Bundesrepublik Deutschland ist es seit 50 Jahren ganz sicher der bessere Weg, wenn wir in die zwei folgenden Elemente deutscher Außenpolitik fest eingebunden sind: in die europäische Einigung und in die atlantische Partnerschaft. Das ist das Grundaxiom deutscher Außenpolitik. ({3}) Wer als Regierungschef - ob im Handeln oder nur im Reden - dagegen verstößt, gefährdet die Zukunftsinteressen unseres wiedervereinten Deutschlands. Durch die Ausführungen des Bundesverteidigungsministers - Herr Bundesverteidigungsminister, ich wünsche Ihnen gute Besserung; es war anstrengend für Sie; ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen gesundheitlich bald wieder gut geht, und bedanke mich für Ihre Antwort auf meine Zwischenfrage - ist deutlich geworden, dass niemand in den letzten Monaten von der Bundesrepublik Deutschland eine weitergehende militärische Beteiligung an etwa notwendig werdenden Maßnahmen zur Durchsetzung der Resolution des Weltsicherheitsrates gefordert hat, als die Bundesregierung im Wesentlichen zu geben bereit ist. Das ist der Punkt. Das betrifft zum Beispiel AWACS. Wir haben in unserem Entschließungsantrag, den wir anlässlich dieser Debatte vorgelegt haben, darauf hingewiesen. Ich empfehle ihn Ihrer Aufmerksamkeit. Darin steht, was Sie von der Fraktionsvorsitzenden gerne gehört hätten; sie hat es übrigens gesagt. In dem Abschnitt „Vor diesem Hintergrund fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf“ steht unter dem letzten Spiegelstrich: Für den Fall, dass eine Erzwingung der Resolution 1441 des Sicherheitsrats mit militärischen Mitteln unausweichlich werden sollte, gemeinsam mit unseren Partnern in der EU diese Maßnahmen im Rahmen unserer Möglichkeiten - dann erfolgt eine Aufzählung - wie mit AWACS-Flugzeugen, MEDEVAC-Kräften, ABC-Spürpanzern, Patriot-Abwehr-Systemen, der Gewährung von Überflugrechten, dem Schutz der amerikanischen Basen in Deutschland und mit Schiffen im Persischen Golf - zu unterstützen und dabei die verfassungsmäßigen Rechte des Bundestags zu wahren. Auf Letzteres komme ich gleich zu sprechen. ({4}) Mehr ist von uns nicht gefordert worden. Warum haben Sie also Anfang August diese Debatte begonnen, in der Sie Kriegsängste und antiamerikanische Ressentiments züchten und schüren? Völlig umsonst, ohne jede Not und ohne Verantwortung des Regierungschefs! ({5}) Allerdings sind wir unseren Partnern - das haben Ihnen wahrscheinlich Herr Rumsfeld, den auch ich in München erlebt habe, Herr Lieberman und auch andere gesagt - die politische Solidarität schuldig geblieben, ({6}) und dies auch in der heutigen Regierungserklärung und in der Rede des Außenministers. Herr Außenminister, auch auf Sie komme ich noch zu sprechen. Es ist schön, dass wir zumindest amtlich einen Außenminister haben. In der Sache merkt man nichts von Ihnen. Die außenpolitischen Interessen werden mit Füßen getreten. ({7}) Sie erwecken in jeder Rede den Eindruck, als sei die eigentliche Gefahr für den Frieden die amerikanische Regierung. Das empört unsere amerikanischen Verbündeten; da haben sie Recht. ({8}) Dass wir 50 Jahre lang in gesichertem Frieden leben konnten, verdanken wir mehr der amerikanischen Verlässlichkeit als den Reden der rot-grünen Friedensbewegung. Das muss einmal gesagt werden. ({9}) Was die richtige Politik ist, darüber kann man lange diskutieren. Darüber diskutiert man auch in Amerika. Herr Bundesaußenminister, ich habe Sie vor zwei Wochen im Auswärtigen Ausschuss gefragt: Gibt es nicht auch Überlegungen hinsichtlich eines langfristigen Überwachungsregimes, das in jedem Fall im Irak sicherstellen muss, dass dort, wenn die biologischen Waffen etc. beseitigt worden sind, nicht wieder neue erworben werden? In unserem Antrag steht der Grundgedanke: Jeder Versuch, nachhaltig und kontrolliert sicherzustellen, dass der Irak sein Streben nach Massenvernichtungswaffen dauerhaft aufgibt, verdient grundsätzlich Unterstützung. Mit der angeblichen deutsch-französischen Initiative, die vom Kanzler in ein Nachrichtenmagazin lanciert wurde, ist das Gegenteil erreicht worden, weil damit nicht die Bereitschaft des Irak zur Kooperation gefördert, sondern offenbar der unter Führung der Vereinigten Staaten von Amerika aufgebaute Druck auf den Irak gemindert werden sollte. Wenn man eine solche Lösung anstrebt, muss man sie mit den Amerikanern an der Spitze machen und nicht gegen die Amerikaner. Weil Sie jede Initiative gegen die Amerikaner anstatt gegen Saddam Hussein richten, schwächen Sie die Vereinten Nationen, schwächen Sie die NATO und zerstören Sie die europäische Einigung. ({10}) Um die Sache geht es dabei gar nicht; Sie brauchen uns wirklich nicht zu unterstellen, wir seien weniger für den Frieden als Sie und würden die Ängste der Menschen weniger ernst nehmen als Sie. Ich habe immer gesagt: Ich bin evangelischer Christ, aber wenn der Papst sagt, ({11}) dass die Anwendung militärischer Mittel immer nur das allerletzte Mittel sein dürfe, und wenn der Papst sagt, dass Krieg immer ein Versagen der Menschheit ist, dann hat er wohl Recht. Nur, leider kommt, weil wir Menschen eben Menschen sind, Versagen häufig vor. Deswegen müssen wir alles dafür tun, dass es nicht zum Krieg kommt. Ich bin den beiden Kirchen dankbar, dass sie zum Frieden mahnen. Wir müssen das ernst nehmen. ({12}) Ich habe dieser Tage jemanden getroffen, der gesagt hat: Am kommenden Samstag gibt es wieder eine große Friedensdemonstration. Der Herr Bundestagspräsident hat schon angekündigt, dass er dabei mitmarschieren wird. Ich hoffe, Sie beten für den Frieden, dass Saddam Hussein einlenkt - dann bin ich sehr dafür. Appellieren Sie an Saddam Hussein, einzulenken und sich dem Völkerrecht zu unterwerfen! Wenn er das tut, dann ist der Friede gesichert. ({13}) Dann hat dieser Gesprächspartner, dem ich begegnet bin, aber gesagt: Das wird eine Demonstration wie damals beim NATO-Doppelbeschluss. Da habe ich zu ihm gesagt: Sagen Sie einmal, haben Sie eigentlich heute nicht das Gefühl, dass alle Befürchtungen der vielen Hundert1902 tausenden, die damals gegen den Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses demonstriert haben, nicht eingetreten sind, sondern dass im Gegenteil - trotz aller Sorgen, die man auch damals ernst nehmen musste - diejenigen Recht gehabt haben, die gesagt haben, dass Festigkeit, Verlässlichkeit und Partnerschaft der bessere Weg sind, um den Frieden für die Zukunft zu sichern? Darauf hat mein Gesprächspartner gesagt: Da haben Sie Recht; das habe ich inzwischen eingesehen, wir hatten damals Unrecht. Darauf sagte ich: Dann seien Sie doch dieses Mal nicht so sicher, möglicherweise werden Sie wieder Unrecht haben! Sie können doch nicht bestreiten, dass der Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses die große atomare Bedrohung durch sowjetische Raketen, die auf unserem Land gelegen hat, beseitigt hat, und zwar nicht durch Ihre Reden, sondern durch unser Handeln. ({14}) Es wird immer wieder die Frage gestellt: Warum Irak, ist nicht Nordkorea gefährlicher? - Das mag sein. Wenn Nordkorea so gefährlich ist, Herr Bundesaußenminister, dann sollten Sie bald einmal im Sicherheitsrat die Initiative ergreifen, damit er sich damit beschäftigt. ({15}) Aber warum Irak? - Weil der Irak seit mehr als zehn Jahren durch Beschlüsse des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, die völkerrechtlich bindende Qualität haben - wir reden doch von der Durchsetzung des Völkerrechts -, verpflichtet ist - ich kann Ihnen die Resolution 1441 noch einmal vorlesen; es gibt seit 1991 ein ganzes Bündel von Resolutionen -, sicherzustellen - das kann nur der Irak -, dass er keine Massenvernichtungswaffen hat und auch nicht den Besitz von Massenvernichtungswaffen anstrebt. Dazu muss er die notwendigen Auskünfte liefern und dazu müssen die Waffen, die er hat, unter der Kontrolle der UNO-Inspektionen vernichtet werden. Das ist das Ziel der Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Die Bedrohung, die sich aus der Verknüpfung von internationalem Terrorismus und asymmetrischer Kriegsführung - und was es in der neuen Unordnung in dieser globalen Welt sonst noch alles an Bedrohungen gibt - mit Massenvernichtungswaffen und Trägertechnologien ergibt, ist durch den 11. September für die meisten Menschen - auch in unserem Lande - noch aktueller sichtbar geworden. Deswegen finde ich es richtig und nicht falsch, wenn die Weltgemeinschaft der Vereinten Nationen aus dem 11. September unter anderem die Konsequenz zieht, die Durchsetzung dessen, was das Völkerrecht, was die Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zur Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen im Irak seit zehn Jahren fordert, ernster zu nehmen, als es uns bisher gelungen ist. Seit zehn Jahren haben diplomatischer Druck, Bemühungen und Wirtschaftssanktionen Saddam Hussein nicht zum Einlenken bewegt. Es wären jetzt keine Inspektoren im Irak, wenn die Vereinigten Staaten von Amerika nicht militärischen Druck aufgebaut hätten. Auch das ist die Wahrheit. ({16}) Ich hoffe noch immer, dass es eine Chance gibt und man das allerletzte Mittel nicht anwenden muss. Ich bin aber ganz sicher, dass es diese Chance nur dann gibt, wenn die Europäer geschlossen und gemeinsam mit unseren atlantischen, unseren amerikanischen Verbündeten und möglichst gemeinsam in den Vereinten Nationen alle miteinander Druck auf Saddam Hussein ausüben. Er ist der Verantwortliche. An ihm liegt es, ob der Frieden gewahrt werden kann. ({17}) Wer darüber täuscht, schwächt die Chancen für eine friedliche Lösung. Sie machen durch Ihre Politik den Frieden nicht sicherer, sondern den Krieg wahrscheinlicher. Das ist der Kern der Vorwürfe, die wir gegen Ihre Politik erheben. ({18}) Sie haben schweren Schaden in das deutsch-amerikanische Verhältnis gebracht und die atlantische Partnerschaft als Grundlage unserer eigenen Sicherheit diskreditiert. Herr Struck, mit Verlaub, es tut einem weh, wenn ein Bundesverteidigungsminister so argumentieren muss, wie Sie es im Zusammenhang mit der Türkei und den Niederlanden gemacht haben: Die Türkei hat in den Niederlanden wegen der Patriot-Systeme angefragt, über die die Niederländer gar nicht verfügen. Bei uns hat sie nicht angefragt. ({19}) Deswegen stellen wir den Niederlanden auf die Bitte der Türkei die Patriot-Systeme zur Verfügung. Machen Sie sich nicht lächerlich! ({20}) Es gibt nur einen einzigen Grund: Sie haben der Türkei gesagt, fragt nicht uns, fragt die Niederlande. Die Situation wurde doch von Ihnen eingeleitet. Sie wollen im Bundestag nicht die notwendige Zustimmung dafür herbeiführen. Ich sage Ihnen: Sie haben sie, wir stimmen zu. Michael Glos hat doch schon erklärt, dass wir das tun werden. Es wird keinerlei Probleme geben. Lassen Sie diese Mätzchen, denn sie untergraben das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Bundesrepublik Deutschland. Was denken die Menschen in der Türkei, in den Niederlanden, in Amerika und sonst wo auf der Welt über uns als Partner? 50 Jahre lang haben wir gesagt, die Amerikaner werden verlässliche Partner sein, sie werden uns doch nicht im Stich lassen, wenn wir bedroht werden. Jetzt führen wir ein solches Affentheater auf. Das ist eine Schande für unser Land! Das sollten Sie korrigieren. ({21}) Ich will auf ein anderes schwieriges Thema eingehen. Es war die Aufgabe deutscher Außenpolitik in der Nachkriegszeit, die deutsch-französischen Beziehungen als ein Kernelement der europäischen Einigung dauerhaft und eng mit der atlantischen Partnerschaft zu verbinden. Auch bei der Diskussion über die Präambel des Élysée-Vertrags, dessen 40-jähriges Jubiläum wir vor ein paar Wochen feierlich begangen haben, ist ein Stück weit der Konflikt zwischen Atlantikern und Gaullisten sichtbar geworden. Es war immer unsere Politik, nicht zwischen Paris und Washington wählen zu müssen, sondern darauf zu achten, sie miteinander zu verbinden. Sie haben in den letzten Wochen ohne Sinn und Verstand genau diese Balance aufgegeben. ({22}) Das ist eine große Gefahr, es schwächt Europa. Frankreich ist klug und in der Diplomatie erfahren genug, um nicht in diese Falle zu treten.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Wir werden erst am Schluss darüber befinden, wie wir uns entscheiden werden. Herr Bundesaußenminister, ich hätte mir das als Koalitionspartner nicht gefallen lassen. Sie haben im Sicherheitsrat zum ersten Mal den Vorsitz wahrgenommen und es wurde angekündigt, dass der amerikanische Außenminister in einer langen Rede zusätzliche Beweise, Hinweise oder sonstige Belege vorlegt. Bevor Sie die Sitzung eröffnet hatten, erklärte der Regierungssprecher in Berlin, dass sich, was auch immer der amerikanische Außenminister vortragen und vorlegen werde, an der Haltung der Bundesregierung nichts ändern werde. Das ist ein solcher Affront gegen den Sicherheitsrat und gegen Sie, dass Sie das einfach nicht akzeptieren dürfen. ({0}) Auch die Tonart der Regierungserklärung ist ganz wichtig. Die Tonart und die Entschlossenheit des Kanzlers heute morgen waren fest gegen unsere Verbündeten gerichtet. ({1}) - Ich möchte Sie geradezu beschwören und an Sie appellieren: Erwecken Sie nicht länger den Eindruck, als würde Deutschland unter dieser Regierung wieder einen Sonderweg gehen. Der deutsche Weg, der Weg, den Sie einschlagen wollen, führt in die Irre. Er führt uns nicht zurück zu Wilhelm II., aber er führt uns in eine Zukunft, in der Sicherheit und Frieden weniger gesichert sind, als es bisher der Fall ist. ({2}) Wir müssen auf dem Weg verlässlicher Partnerschaft bleiben. Wir müssen europäische Einigung und atlantische Partnerschaft zusammenhalten. Je mehr eigene Beiträge wir übrigens auch zur atlantischen Partnerschaft leisten und je weniger Kritik wir üben und je weniger Ratschläge wir unseren amerikanischen Verbündeten erteilen, umso eher werden wir mit unseren Argumenten im transatlantischen Dialog Gehör finden können. Wer selber außer Rat und Nörgelei nichts zu bieten hat, ({3}) sondern nur solche Mätzchen macht, wie Patriots über die Niederlande in die Türkei zu schicken, ({4}) der muss sich nicht wundern, wenn er in Amerika nicht mehr als relevant angesehen werden wird. ({5}) Dies liegt nicht im deutschen Interesse und dies dient auch nicht der atlantischen Partnerschaft. Wir schwächen damit die Vereinten Nationen und machen den Frieden nicht sicherer. Herr Bundeskanzler, wo immer Sie im Augenblick sitzen mögen, aber der Vizekanzler vertritt Sie ({6}) - schön -, ich wollte Sie nur ansprechen, denn mein letztes Wort in dieser Rede sollte ein Appell, eine Bitte an Sie sein: Es geht um zu wichtige Entscheidungen für die Zukunft unseres Landes, als dass Sie der Versuchung nachgeben sollten, Stimmungen in der Bevölkerung einfach nur für kurzfristige Zwecke zu nutzen. Setzen Sie die Prioritäten im Sinne verantwortlicher Regierungspolitik ({7}) im Interesse der Zukunft unseres Landes und klären Sie die Menschen entsprechend auf und informieren Sie sie. Auch in der Demokratie besteht eine Führungsverantwortung. Es kann nicht sein, dass wir jeder Stimmung nachgeben. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schäuble, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie schüren am Ende nur die Ängste der Menschen, statt dass Sie den Menschen mehr Vertrauen und mehr Zuversicht dahin gehend vermitteln, dass wir mit einer Politik der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit auch in der Zukunft in der Lage sein werden, Frieden, Sicherheit und Freiheit für unser Land zu garantieren. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Gert Weisskirchen von der SPD-Fraktion.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Schäuble, hören Sie bitte kurz zu, damit ich aufnehmen kann, was Sie gesagt haben. Sie sind es, der hier gesagt hat, diese Bundesregierung verfolge einen Sonderweg. Das sagen Sie gerade in diesem Saal, in dem es Sozialdemokraten gegeben hat, die den Sonderweg verurteilt haben, den die Konservativen nach rechts zu den Deutschnationalen gegangen sind. Das war ein Teil Ihrer Partei und das ist Ihre Vergangenheit. Dorthin gehören Sie. ({0}) Das sagen Sie der Sozialdemokratie. ({1}) Herr Dr. Schäuble, Sie haben zu Beginn vom Antiamerikanismus gesprochen. Ich frage Sie: Wer war denn in der Weimarer Republik derjenige, ({2}) der nach Wilson die Verbindung zu den USA ({3}) - hören Sie genau zu - gehalten hat, der dafür gesorgt hat, dass in der Weimarer Republik wenigstens die Chance auf eine Demokratie aufrecht erhalten worden ist? Diese Verbindungslinie gehört zur Sozialdemokratie und nicht zur rechten Seite dieses Parlamentes! Das will ich Ihnen einmal ganz deutlich sagen. ({4}) Zur Außenpolitik. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern - vielleicht erinnern auch Sie sich, Herr Dr. Schäuble -, als es darum ging, den KSZE-Prozess zu erfinden, der mit dafür gesorgt hat, dass die Mauern in Europa eingestürzt sind. Wo war denn da die Union? ({5}) Wo war sie, als diese Alternative entwickelt wurde? Nein, so einfach können Sie es sich nicht machen, lieber Kollege Dr. Schäuble. Ich komme zu einem zweiten Punkt, der von Ihnen angesprochen wurde und der mich sehr verwundert hat. Sie haben der Bundesregierung in der Debatte Pazifismus vorgeworfen. Wer hat denn schon 1998, also noch in Bonn, versucht, den Weg zu ebnen - das war für uns ungeheuer schmerzhaft; wir haben es zum Teil miterlebt und mit erlitten -, dass der Einsatz des Militärs, eingebettet in einen politischen Prozess, zulässig und vielleicht sogar notwendig ist, um Diktatoren zu Fall zu bringen? - Es war diese Regierung, die dafür gesorgt hat, dass diese Chance genutzt wurde! ({6}) Pazifismus kann man uns nicht vorwerfen und Antiamerikanismus genauso wenig. Erinnern Sie sich daran, was vor zwei Tagen zum Beispiel Dustin Hoffman hier in Berlin gesagt hat. ({7}) Ist das etwa auch antiamerikanisch? ({8}) Ist es antiamerikanisch, wenn zum Beispiel der ehemalige Präsident Jimmy Carter in diesen Tagen genau die Alternative beschreibt, die die Bundesregierung gemeinsam mit Frankreich und anderen Ländern im Weltsicherheitsrat endlich zur Geltung zu bringen versucht? Ist das etwa antiamerikanisch? - Nein! ({9}) - Lieber Genosse! ({10}) - Pardon, entschuldigen Sie bitte diesen Fehler, lieber Herr Schmidt. ({11}) Sie haben vielleicht gelesen, woher der Ursprungsgedanke stammt, der nun auch von der Bundesregierung verfolgt wird. Die Idee stammt aus dem Carnegie Endowment for International Peace. Im August des Jahres 2002 wurde dies als eine denkbare Alternative vorgeschlagen, um die bisherigen Inspektorenregimes zu verändern und zu verbessern, damit Saddam Hussein die Chance auf Massenvernichtungswaffen verliert. Das ist die Alternative, die auch in den USA längst bekannt ist. In der „Washington Post“ war vor zwei Tagen von Jessica Mathews, der Präsidentin von Carnegie Endowment, zu lesen. Sie beschreibt dort Punkt für Punkt - es ist in vielen Teilen also identisch -, was im Weltsicherheitsrat von Paris und Berlin gemeinsam formuliert wird. Was ist denn daran antiamerikanisch, wenn wir eine Debatte, die es in den USA gibt, aufnehmen und zu einer wirklichen Alternative entwickeln? Ich kann keinen Antiamerikanismus erkennen. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen an einer wirklichen Weggabelung. Wir sollten wenigstens noch eine Sekunde darüber nachdenken, ob das, was morgen Hans Blix und Mohammed al-Baradei vor dem Weltsicherheitsrat berichten werden - nämlich dass sich durch die Inspekteure eine Chance abgezeichnet hat -, genutzt werden kann. Wir wissen natürlich nicht im Detail, was die Inspekteure morgen berichten werden. Soweit wir bisher gehört haben, sagen auch sie, dass der Irak begonnen hat, sich an die Forderungen, an die Vorschläge, an den Willen und an die Erfüllung dessen, was Resolution 1441 verlangt, anzunähern. Das ist noch lange nicht genug, das wissen wir doch auch. Deswegen kommt es darauf an, die Frage nach der Alternative zu stellen: Heißt die Alternative Krieg oder Fortsetzung einer robusten Inspektorenrolle? Gert Weisskirchen ({13}) Gert Weisskirchen ({14}) Die Alternative heißt für uns ganz eindeutig und klar: Alle Instrumente, die es innerhalb dieses Rahmens gibt, müssen voll ausgenutzt werden, damit die Alternative Krieg vermieden werden kann. Das ist der entscheidende Punkt, um den es jetzt geht. ({15}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Ihnen das, was Karol Wojtyla dazu gesagt hat, nicht reicht, nämlich dass der Krieg in der Tat eine Niederlage der Menschlichkeit und der Menschheit wäre - ich finde gut, Herr Dr. Schäuble, dass Sie das bestätigt haben -, nehmen Sie doch die Debatte, die gegenwärtig im amerikanischen Kongress läuft, wo in einem Hearing die Frage beantwortet werden soll: Was geschieht eigentlich danach, falls es zu einem Krieg käme? Man liest und hört von manchen Kollegen, wenn der Irak falle, werde ein Dominostein fallen, alle anderen Dominosteine in der Region würden dann auch fallen, dann werde es Demokratie und Harmonie in der Region geben, die Region werde befriedet sein. Das ist in der Tat auch gesagt worden; aber, entschuldigen Sie, das löst doch die Probleme nicht. Besteht nicht eher die Gefahr, dass, wenn es einen Krieg gegen den Irak gäbe, danach eine Fülle zusätzlicher Probleme auftreten könnte, viel gefährlichere als die, auf die wir jetzt durch Eindämmungspolitik eine andere Antwort zu finden versuchen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, Mister Christoph hat in der „Herald Tribune“ vor einigen Tagen die Frage gestellt, ob es denn einen besseren Weg gebe als den Krieg. Die Antwort hat er selber in der Überschrift gegeben: Ja, Containment, Eindämmung, ist die bessere Alternative, und darum geht es. Diese Alternative zur Geltung kommen zu lassen, darum müssen wir uns bemühen. Dafür setzen wir uns ein, und deswegen sagen wir: Das, was die Bundesregierung tut, ist genau das, was nicht nur die Menschen, die in Deutschland, ja in Europa leben, sondern auch die Fraktionen des Deutschen Bundestages, die die Regierung tragen, wünschen. Wir fordern es und wir setzen die gesamte politische Kraft, über die wir verfügen, ein, damit die Regierung Erfolg hat und der Krieg am Ende vermieden wird. Das ist die zentrale Botschaft, die heute hier im Deutschen Bundestag von uns ausgeht. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum reden wir eigentlich nicht Klartext? Denjenigen, die meinen, jetzt sei Krieg angesagt, geht es nicht um Menschenrechte. Es geht ihnen auch nicht um einen Diktator namens Hussein. Es geht um eine militärische Neuordnung der Welt, wieder einmal. Ich stimme allen zu, die sagen: Die Welt muss neu und besser geordnet werden. Ich stimme auch allen zu, die sagen: Menschenrechte sind ein unteilbares Gut. Und ich stimme allen zu, die sagen: Gerechtigkeit, allemal soziale, ist ein hoher, aber durch Diktatoren wie Saddam Hussein unterdrückter Wert. Aber all das steht nicht auf der Tagesordnung, auch nicht in der Debatte, die wir heute Vormittag hier führen. Der Streit geht darum, ob Deutschland den Vorhaben und den Vorgaben der US-Administration folgen soll oder nicht. Die CDU/CSU will dabei sein, an der Seite von Bush und Rumsfeld, notfalls gegen die UNO. Die PDS will das nicht. Soweit ich es beurteilen kann, will es RotGrün auch nicht. Aber viel wichtiger ist: Dreiviertel aller Deutschen wollen das nicht. Ich komme gleich direkt zur Irakfrage. Vorher will ich allerdings noch auf Vorwürfe eingehen, die offensichtlich aus der Propagandazentrale der CDU stammen. Es ist wirklich absurd, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie erneut die antiamerikanische Keule gegen alle schwingen, die einem Kriegskurs nicht folgen wollen. ({0}) Nach demselben Denkmuster wären Sie antifranzösisch. Frau Merkel, Ihr Stiefvater, Herr Adenauer, würde Sie enterben, wenn er das, was Sie heute hier aufführen, noch erleben müsste. ({1}) Genauso gefährlich ist der Versuch, Europa in ein altes und ein neues Europa, je nachdem, welcher Staat den Befehlswünschen der USA folgt oder nicht, einzuteilen. Ich finde, ein altes Europa mit einem neuen Denken ist besser als eine neue Welt mit einem alten Denken. Deutlicher gesagt: Krieg löst keine Probleme. Kriege potenzieren Probleme. Das gilt auch in Bezug auf den Irak. Deshalb sollte der Bundestag heute einen einzigen klaren Satz beschließen: Deutschland wird sich weder direkt noch indirekt an einem Krieg im Irak beteiligen. Mit einem klaren Ja zu diesem schlichten, aber sehr wichtigen Satz wären Sie übrigens auch wieder auf dem Boden des Grundgesetzes. Den verlassen Sie nämlich, wenn Sie über eine Kriegsbeteiligung jenseits des Völkerrechts reden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Sie haben sich vorhin sehr aufgeregt. Wer aber über Präventivkriege schwadroniert, wie Sie es tun, der bewegt sich jenseits des Völkerrechts und des Grundgesetzes. Deshalb ist der Vorwurf, Sie befänden sich auf Kriegspfaden, so unbegründet nicht. Sie selbst bieten doch die Argumente für solche Vorwürfe. ({2}) Wir reden hier übrigens nicht nur über einen möglichen Krieg gegen den Irak. Wir debattieren auch über die Zukunft der UNO. Die US-Führung hat unmissverständlich erklärt: Ist die UNO mit uns, dann ist das okay, ist die UNO nicht mit uns, dann ist das egal. Wer vor diesem Hintergrund wie Sie von der Opposition zur Rechten die bedingungslose Solidarität einfordert, der startet zugleich einen Angriff auf die Vereinten Nationen. Die PDS ist grundsätzlich gegen einen Krieg; das ist bekannt. Ich bin fest davon überzeugt, dass am nächsten Samstag Millionen Menschen - unter anderem auch in Berlin ab 12 Uhr - erneut ihr Nein zum Krieg demonstrieren werden. Ich fände es gut, wenn sich viele von uns dort wiederfinden würden, um gemeinsam mit den vielen Menschen, die sagen, dass Krieg kein Mittel ist, auf die Straße zu gehen, um das sehr deutlich zu unterstreichen. Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Christoph Zöpel von der SPD-Fraktion.

Dr. Christoph Zöpel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002604, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Uns alle hier und auch alle, die in anderen Ländern des westlichen Bündnisses - also selbstverständlich auch in den USA - derzeit darum ringen, dass der Westen in der Welt weiter prägend sein kann, leiten beste Motive. Jenseits mancher parteipolitischer Kontroversen geht es darum. Ich glaube nur, wenn wir im Westen darüber reden, was der Westen ist, dann sollten wir als erstes feststellen, dass er kein regionaler Ausschnitt dieser Welt, sondern eine universelle Geisteshaltung ist. Im Westen herrscht vor allem die Überzeugung, dass das Lebensrecht und die Würde jedes Menschen, sei er Amerikaner, Deutscher, Iraker, Israeli oder Palästinenser, überall gilt. ({0}) Der Westen wird nur Erfolg haben, wenn er das vermitteln kann. Zum Westen gehört auch unsere Geistesgeschichte, zum Beispiel die französische Revolution, die Erklärung der Menschenrechte und der Gedanke des permanenten Friedens, der zuerst in Frankreich - bereits im Jahre 1713 durch Saint Pierre und später durch Kant formuliert wurde. Dazu gehört auch die Überzeugung, dass Demokratien miteinander reden. Wenn das die Werte sind, um die wir hier ringen, kommen wir weiter. Zu diesem Ringen gehört auch, zu erkennen, wo die Gefährdungen des Westens liegen. Es ist unstreitig, dass es die Gefährdung durch den Terrorismus gibt. Es gibt aber auch andere Gefährdungen. Sie liegen dann vor, wenn wir die Universalität des Westens nicht praktizieren. Die „Süddeutsche Zeitung“ ist heute mehrmals genannt worden. Sie hat weise und weniger weise Autoren. Ich zitiere einen sehr weisen Autor, Heiner Geißler: Heute steht der Westen vor dem psychologischen und politischen Problem, dass die Zahl der Menschen, die den westlichen Regierungen, vor allem der amerikanischen, mit Argwohn begegnen und ihnen von der Folter bis zum Angriffskrieg jedes Unrecht zutrauen, weltweit rapide zunimmt - auch in Europa und den USA. Das Misstrauen geht so weit, dass viele inzwischen davon überzeugt sind, dass die USA ihre Kriegsdrohung gegen den Irak auch dann wahrnehmen, wenn gar keine Massenvernichtungswaffen gefunden werden. Das ist so exzellent formuliert, dass ich Heiner Geißler zitieren wollte, weil ich jedem Satz zustimme. In dieser Situation ist es für den Westen eine Herausforderung, zu erreichen, dass wir die Basis dessen, was wir leben wollen, der Welt nicht doppelbödig, sondern eindeutig vermitteln. Dazu sollten wir alle einen Beitrag leisten. ({1}) Dazu gehört, dass ein Militärschlag - ich gehe weiter -, ein Krieg, der Zehntausende von Ziviltoten fordern könnte, wirklich nur die Ultima Ratio sein kann, wenn alles, aber auch alles versucht wurde, um ihn zu verhindern. Das ist die Position, die die Mehrheit dieses Hauses hoffentlich teilt. ({2}) Der Weg, das zu erreichen - auch da nehme ich Heiner Geißler auf -, hat für Europa zwei Elemente. Das eine Element ist, dass Europa weiß, was Krieg gegen die Zivilbevölkerung bedeutet. Kein Land hat ihn mehr als Deutschland verschuldet und Millionen Europäer haben ihn gemeinsam erfahren. Heiner Geißler nennt als zweites Element, das man auch schon bei Kant findet, die Vernunft, die Basis für Menschenrechte. Sie lässt sich nur durch den öffentlichen Dialog durchsetzen. Sie werden nun lächeln: Heiner Geißler empfiehlt dazu den Gebrauch der Medien. Alles, was im „Spiegel“ stand, war für mich ein Beitrag zur Vernunft. Ich will das sehr deutlich sagen. Alles, was ansonsten dazu angemerkt wird, bringt nichts. ({3}) In der Debatte, die wir hier führen, hat mich der Satz überrascht, die Fragen internationaler Politik und von Krieg und Frieden hätten niemals Wahlkämpfe berührt. Herr Kollege Westerwelle, Sie sind deutlich jünger als ich. Daher kann ich Ihnen nicht anrechnen, dass Sie die 50er-Jahre nicht kennen. Aber auch die Geschichtsbücher können Sie nicht gelesen haben. Die politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland war durch Debatten und Wahlkämpfe über Außenpolitik geprägt. ({4}) Stunden dieses Parlaments, die in Erinnerung geblieben sind, waren davon bestimmt. Sie beinhalteten auch immer die Möglichkeit - sie ist oft eingetreten -, dass derjenige, der Anklage erhoben hat, irrte, oder auch derjenige, der sich verteidigt hat. Ein Sozialdemokrat, den viele Konservative heute für sich in Anspruch nehmen möchten, Kurt Schumacher, hat zu Konrad Adenauer „Kanzler der Alliierten“ gerufen, weil er Angst hatte, deutsche Politik könne zu einseitig an die Amerikas geklammert sein. Er hat wahrscheinlich geirrt; denn entgegen den Annahmen der Sozialdemokraten ist es Adenauer gelungen, diplomatische Beziehungen zu Russland aufzunehmen und die Kriegsgefangenen zurückzubringen. ({5}) Aber die Debatte war notwendig. Es gab die Debatte über den Élysée-Vertrag. Sie war hauptsächlich von Ihnen von CDU und CSU initiiert. De Gaulle war über das verzweifelt, was die Hälfte von CDU/CSU über den Élysée-Vertrag gesagt hat. De Gaulle selber hat erklärt, dass die Präambel den Vertrag aufhebe. Es ist nicht unrichtig, an dieser Stelle darüber nachzudenken, ob Europa im Bündnis nicht teilweise andere Interessen als die Vereinigten Staaten hat. Das hat de Gaulle zusammen mit denjenigen in Deutschland, die für ihn waren, besser erkannt, als es anderen gelungen ist. ({6}) - Es geht mir um Debatten. Sie sind sehr wichtig. Entschieden wird nach der demokratischen Mehrheit. Wir haben eine Debatte darüber gehabt, ob der KSZEVertrag Europa weiterbringen würde. Eine der beiden Parteien, die hier eine Fraktionsgemeinschaft führen, hat ihn bis zuletzt für eine Gefährdung des Bündnisses gehalten. Wie man heute sieht, haben sie offensichtlich Unrecht gehabt. Diese Debatten gab es immer. ({7}) Um die Ratifizierung der Verträge, die die Regierung Brandt mit Osteuropa abgeschlossen hat, hat es nach Auflösung des Bundestages einen heftigen Wahlkampf gegeben. Herr Kollege Westerwelle, man muss also schon ziemlich daneben sein, um zu behaupten, es habe nie außenpolitische Wahlkampfdebatten gegeben. ({8}) In der aktuellen Debatte gibt es historische Vergleiche, die durchaus zutreffen können, und falsche Feuilletonisten dürfen schreiben, was sie wollen; Politiker hingegen sollten vorsichtiger sein. Es ist schon abwegig, wenn auch nur zitiert wird, dass eine Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts, die Agadir mit dem Panzer erreichen wollte und Fregatten in die Welt schickte, mit Gerhard Schröder zu vergleichen sei. Es ist ganz abwegig! Hier geht es um den Frieden. ({9}) Wer das deutsche Bemühen um Frieden, das in der Welt auffällt, mit einer deutschen Politik vergleicht, die Panzer und Fregatten in die Welt schickte, sollte ein wenig in sich gehen, um es vorsichtig zu formulieren. ({10}) Worum geht es in der sicherheitspolitischen Auseinandersetzung im Kern? Im Kern geht es um die Logik des Kalten Krieges. Der Kalte Krieg ist aus einer sicherheitspolitischen Logik entstanden: Wenn ein Gegner uns gegenüber das Schlimmste unternimmt, dann erfolgt ein Militärschlag. Diese Logik kann aber nur dann funktionieren, wenn auch die Option besteht, dass der Militärschlag vermeidbar ist. Es gab und gibt in der amerikanischen Debatte zu viele Stimmen - auch Geißler sieht das so -, die den Präventivschlag als einzige, unvermeidbare Möglichkeit formuliert haben. Deshalb war und ist es notwendig, dass die zwingende Alternative zum vernichtenden Schlag bzw. die Möglichkeit, ihm zu entgehen, auch gegenüber Saddam Hussein zum Ausdruck gebracht wird. Das tut diese Regierung und das tut Frankreich. Über den Satz, Deutschland isoliere sich in der Völkergemeinschaft, würde ich einmal nachdenken, Herr Kollege Westerwelle. ({11}) Wörtlich genommen bedeutet er, dass mehr als 1 Milliarde Chinesen, Russland, Frankreich und derzeit weitere Mitglieder des Sicherheitsrats nicht zur Weltgemeinschaft gehören. Diese Logik steht dahinter. ({12}) - Dass die Chinesen zur Weltgemeinschaft gehören, werden doch nicht einmal Sie bestreiten. ({13}) Jetzt zu Europa: Es ist nicht schön, dass es derzeit keine gemeinsame europäische Außenpolitik gibt. Aber bleiben wir doch bei den Fakten. Zehn Regierungschefs quer durch die politischen Lager haben nicht unterschrieben, als eine amerikanische Zeitung - die übrigens kein diplomatischer Akteur ist - dazu aufgefordert hat. Fünf Regierungschefs haben unterschrieben. Wir sind glücklich und zufrieden, dass wir der Mehrheit der zehn angehören statt der Minderheit der fünf, zu denen zu gehören Ihnen von CDU und CSU ein echtes Anliegen ist. So viel zur Europäischen Union. ({14}) Ich komme zu meiner letzten Bemerkung, die ich sehr ernst meine. Es geht um das europäische Sicherheitsinteresse. Die Vereinigten Staaten und Europa befinden sich in geohistorischer und geopolitischer Hinsicht in einer unterschiedlichen Situation. Wenn sich in den Ländern mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung der Eindruck durchsetzte, es ginge um einen Krieg des Westens gegen den Islam, dann sind die Antworten nicht mit den traditionellen militärischen, sondern mit polizeilichen Mitteln zu geben. Wir sind wesentlich gefährdeter als die Vereinigten Staaten. Zwischen den Vereinigten Staaten und dem Kern der islamischen Länder liegt der Atlantische Ozean. Zwischen uns und den islamischen Ländern hingegen liegt eine nicht kontrollierbare Grenze. ({15}) - Die gibt es in mehr Staaten als dem Irak. Auch wenn sie dort entfernt würden, wäre die Gefahr nicht gebannt. Un1908 sere Hauptgefährdung besteht darin, dass handlungsunfähige islamische Staaten nicht mehr in der Lage sind, bei der Kontrolle von Menschenströmen, von normaler Kriminalität, von Gewaltkriminalität und der Kontrolle von mit Migration verbundener terroristischer Aktionen mit uns zu kooperieren. Darin besteht die eigentliche Gefährdung, vor der die Menschen Angst haben. Meine Wertschätzung der Experten in München, die oft zitiert wurden, hat sehr gelitten. Kein einziger dieser Experten ist auf die wirkliche Gefährdung Europas durch eine auf den Missbrauch einer Religion gestützte, mit Gewalt und möglicherweise mit Terrorismus verbundene Migration eingegangen. Das aber ist die Sicherheitsanalyse, die wir brauchen. Die entsprechende Sicherheit werden wir nur bekommen, wenn die islamische Welt uns glaubt. Jeder tote Moslem ist genauso ein unersetzliches Opfer wie jeder tote Christ und jeder tote Agnostiker. Ich meine, das sollte die Basis der notwendigen Verständigung sein. Herzlichen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf der Druck- sache 15/434. Die Fraktion der CDU/CSU verlangt na- mentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer die Plätze eingenommen? Können Sie mir ein Zeichen ge- ben? - Gut. Dann eröffne ich die Abstimmung. Hat noch ein Mitglied des Hauses seine Stimme nicht abgegeben? - Sind jetzt alle Stimmen abgegeben? - Dann schließe ich den Wahlgang und bitte die Schriftführe- rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin- nen. Das Ergebnis der Auszählung wird Ihnen später be- kannt gegeben.1) Wir setzen die Abstimmungen fort: Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/421 mit dem Titel „Europa und Amerika müssen zu- sammenstehen“. Auch hier ist namentliche Abstimmung vorgesehen. Die Schriftführerinnen und Schriftführer sind noch an ihren Plätzen. Ich eröffne die Abstimmung. Wir befinden uns in der zweiten namentlichen Abstim- mung. Anschließend wird der nächste Tagesordnungs- punkt aufgerufen. Eine dritte namentliche Abstimmung erfolgt erst zu späterer Zeit. Haben jetzt alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimme abgegeben? - Das scheint der Fall zu sein. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Auch das Ergebnis der zweiten namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2) Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 3 sowie Zusatzpunkt 5 auf: 3. - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Peter Götz, Dr. Michael Meister, Friedrich Merz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/ CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuordnung der Gemeindefinanzen ({0}) - Drucksache 15/30 ({1}) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuordnung der Gemeindefinanzen ({2}) - Drucksache 15/109 ({3}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4}) - Drucksache 15/384 - Berichterstattung: Abgeordnete Bernd Scheelen Heinz Seiffert b) Berichte des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksachen 15/385, 15/386 - Berichterstattung: Abgeordnete Walter Schöler Antje Hermenau Dr. Günter Rexrodt Steffen Kampeter ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Gemeindefinanzen dauerhaft stärken - Drucksache 15/433 - Über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU sowie über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die der Aussprache nicht bei- wohnen wollen, den Plenarsaal zu verlassen, damit die Red- ner Gehör finden können. Diejenigen Kollegen, die der Aus- sprache folgen wollen, bitte ich, ihre Plätze einzunehmen. Ich gebe Ihnen noch das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der nament- lichen Abstimmung über den Entschließungsantrag zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bun- deskanzler zur aktuellen internationalen Lage bekannt. Antragsteller war die CDU/CSU-Fraktion. Abgegebene Stimmen 572. Mit Ja haben gestimmt 268, mit Nein ha- ben gestimmt 301 bei drei Enthaltungen. Der Entschlie- ßungsantrag ist damit abgelehnt. 1) Seite 1909 D 2) Seite 1914 D Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 572; davon ja: 269 nein: 300 enhalten: 3 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Altmaier Dietrich Austermann Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({6}) Veronika Bellmann Otto Bernhardt Dr. Rolf Bietmann Clemens Binninger Renate Blank Peter Bleser Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({7}) Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Helge Braun Monika Brüning Georg Brunnhuber Hartmut Büttner ({8}) Cajus Caesar Peter H. Carstensen ({9}) Gitta Connemann Leo Dautzenberg Hubert Deittert Albert Deß Vera Dominke Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Rainer Eppelmann Anke Eymer ({10}) Georg Fahrenschon Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({11}) Dirk Fischer ({12}) Axel E. Fischer ({13}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({14}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Roland Gewalt Eberhard Gienger Georg Girisch Dr. Reinhard Göhner Tanja Gönner Josef Göppel Dr. Wolfgang Götzer Kurt-Dieter Grill Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Manfred Grund Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg Olav Gutting Holger Haibach Gerda Hasselfeldt Helmut Heiderich Ursula Heinen Siegfried Helias Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Martin Hohmann Joachim Hörster Hubert Hüppe Susanne Jaffke Dr. Peter Jahr Bartholomäus Kalb Irmgard Karwatzki Volker Kauder Siegfried Kauder ({15}) Eckart von Klaeden Jürgen Klimke Julia Klöckner Kristina Köhler ({16}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Rudolf Kraus Michael Kretschmer Günther Krichbaum Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Werner Kuhn ({17}) Dr. Karl A. Lamers ({18}) Barbara Lanzinger Karl-Josef Laumann Vera Lengsfeld Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({19}) Patricia Lips Dr. Michael Luther Dorothee Mantel Erwin Marschewski ({20}) Stephan Mayer ({21}) Dr. Martin Mayer ({22}) Dr. Michael Meister Friedrich Merz Laurenz Meyer ({23}) Doris Meyer ({24}) Maria Michalk Klaus Minkel Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Hildegard Müller Stefan Müller ({25}) Bernward Müller ({26}) Bernd Neumann ({27}) Michaela Noll Claudia Nolte Günter Nooke Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Melanie Oßwald Eduard Oswald Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Ronald Pofalla Daniela Raab Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Christa Reichard ({28}) Katherina Reiche Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith Dr. Norbert Röttgen Volker Rühe Albert Rupprecht ({29}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({30}) Hartmut Schauerte Andreas Scheuer Norbert Schindler Georg Schirmbeck Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({31}) Andreas Schmidt ({32}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer Kurt Segner Marion Seib Heinz Seiffert Thomas Silberhorn Jens Spahn Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Andreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({33}) Michael Stübgen Antje Tillmann Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marco Wanderwitz Peter Weiß ({34}) Gerald Weiß ({35}) Ingo Wellenreuther Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({36}) Matthias Wissmann Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Elke Wülfing Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Rainer Brüderle Ernst Burgbacher Helga Daub Dr. Christian Eberl Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Horst Friedrich ({37}) Rainer Funke Hans-Michael Goldmann Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Christel Happach-Kasan ({38}) Klaus Haupt Ulrich Heinrich Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin Harald Leibrecht Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ina Lenke Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({39}) Eberhard Otto ({40}) Cornelia Pieper Dr. Andreas Pinkwart Dr. Günter Rexrodt Marita Sehn Dr. Rainer Stinner Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk Dr. Claudia Winterstein Nein SPD Dr. Lale Akgün Ingrid Arndt-Bauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr ({41}) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Eckhardt Barthel ({42}) Klaus Barthel ({43}) Sören Bartol Sabine Bätzing Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({44}) Kurt Bodewig Gerd Friedrich Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({45}) Hans-Günter Bruckmann Marco Bülow Ulla Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Büttner ({46}) Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Karl Diller Martin Dörmann Peter Dreßen Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Marga Elser Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({47}) Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Angelika Graf ({48}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großbaum Karl Hermann Haack ({49}) Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Michael Hartmann ({50}) Anke Hartnagel Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Gustav Herzog Petra Heß Monika Heubaum Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({51}) Walter Hoffmann ({52}) Iris Hoffmann ({53}) Frank Hofmann ({54}) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Renate Jäger Klaus Werner Jonas Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Ulrich Kelber Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Astrid Klug Dr. Heinz Köhler Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Anette Kramme Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christian Lange ({55}) Christine Lehder Waltraud Lehn Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({56}) Gabriele Lösekrug-Möller Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Christoph Matschie Markus Meckel Ulrike Mehl Petra-Evelyne Merkel Ulrike Merten Ursula Mogg Michael Müller ({57}) Christian Müller ({58}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Volker Neumann ({59}) Dietmar Nietan Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Karin Rehbock-Zureich Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Reinhold Robbe René Röspel Karin Roth ({60}) Michael Roth ({61}) Gerhard Rübenkönig Ortwin Runde Marlene Rupprecht ({62}) Thomas Sauer Anton Schaaf Axel Schäfer ({63}) Gudrun Schaich-Walch Rudolf Scharping Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Otto Schily Horst Schmidbauer ({64}) Ulla Schmidt ({65}) Silvia Schmidt ({66}) Dagmar Schmidt ({67}) Wilhelm Schmidt ({68}) Heinz Schmitt ({69}) Carsten Schneider Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Wilfried Schreck Ottmar Schreiner Gisela Schröter Brigitte Schulte ({70}) Reinhard Schultz ({71}) Swen Schulz ({72}) Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie SonntagWolgast Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Christoph Strässer Rita Streb-Hesse Joachim Stünker Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Ute Vogt ({73}) Dr. Marlies Volkmer Hans Georg Wagner Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Reinhard Weis ({74}) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber ({75}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Jürgen Wieczorek ({76}) Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Brigitte Wimmer ({77}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Waltraud Wolff ({78}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich eröffne jetzt die Aussprache zum Tagesordnungspunkt 3 sowie zum Zusatzpunkt 5. Es geht um die Gemeindefinanzreform. Als erster Redner hat das Wort der Kollege Bernd Scheelen von der SPD-Fraktion.

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In den acht Staatskanzleien der von CDU und CSU regierten Länder in München, Stuttgart, Wiesbaden, Saarbrücken, Hamburg, Magdeburg, Dresden und Erfurt und möglicherweise auch in einem Wohnzimmer in Hannover sitzen jetzt die Ministerpräsidenten und die Chefs der Staatskanzleien vor dem Fernseher und verfolgen die Debatte über diesen Punkt im Deutschen Bundestag. Die Frage ist: Warum tun Teufel, Koch, Stoiber und die anderen das? ({0}) - Ich glaube nicht, Herr Michelbach, dass die Ministerpräsidenten und die Chefs der Staatskanzleien Sie hören wollen. Herr Stoiber wird Sie gut kennen und wird sicherlich nicht Ihretwegen vor dem Fernseher hocken. ({1}) Es geht um Senkung der Gewerbesteuerumlage. Die Sorge, die die Ministerpräsidenten umtreibt, ist, dass wir Ihrem Antrag zustimmen könnten; denn das wäre der Super-GAU, und zwar sowohl für Sie als auch für die Ministerpräsidenten der von Ihnen regierten Länder. ({2}) Deswegen setzen die Ministerpräsidenten ihre ganze Hoffnung in die Koalition aus SPD und Grünen und wünschen sich, dass der von Ihnen eingebrachte Gesetzentwurf heute keine Mehrheit findet. Ich kann diejenigen, die vor dem Fernseher sitzen, beruhigen. Sie können die Fernseher wieder ausschalten und im Interesse ihrer Länder weiterarbeiten; denn wir werden Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen. ({3}) Sollten wir Ihnen signalisieren, dass wir diesem Gesetzentwurf zustimmen, würden Sie sehr wahrscheinlich sofort eine Sitzungsunterbrechung beantragen und diesen Gesetzentwurf zurückziehen; denn Sie haben ihn ja nur gestellt, weil Ablehnung gesichert ist. Was Sie der Öffentlichkeit nicht sagen, ist, dass dieser Gesetzentwurf nicht nur den Bund Geld kostet, sondern auch die Länder, und zwar zu gleichen Teilen. Was Sie wollen, ist die Zurückführung der Gewerbesteuerumlage in diesem Jahr in einer Größenordnung von 1,1 Milliarden Euro für die Länder und in der gleichen Größenordnung für den Bund, aufwachsend auf 1,3 Milliarden Euro in den nächsten Jahren. Das sind Größenordnungen, die sich die Länder - das wissen Sie ganz genau, meine Damen und Herren - überhaupt nicht leisten können. Das Maastricht-Kriterium ist im vorigen Jahr ja nicht nur infolge der Neuverschuldung des Bundes überschritten worden, sondern im Wesentlichen infolge der Neuverschuldung der Länder. Die haben den deutlich größeren Anteil daran. Sollten wir durch einen Beschluss, wie Sie ihn heute - angeblich - herbeiführen wollen, die Einnahmebasis der Länder noch verschmälern, dann würde das in diesem Jahr einen zusätzlichen Beitrag dazu leisten, an diesem 3-Prozent-Kriterium zu schrappen. ({4}) - Aber Sie, Herr Michelbach, wollen ja, dass das noch weiter überschritten wird; ({5}) sonst würden Sie einen solchen Gesetzentwurf nicht einbringen. Wie ernst Sie und die Länder, die mit ihrer Mehrheit im Bundesrat den Gesetzentwurf auch eingebracht haben, Uta Zapf Dr. Christoph Zöpel CDU/CSU Dr. Peter Gauweiler Henry Nitzsche BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({6}) Volker Beck ({7}) Cornelia Behm Birgitt Bender Alexander Bonde Dr. Thea Dückert Jutta Dümpe-Krüger Franziska Eichstädt-Bohlig Hans-Josef Fell Joseph Fischer ({8}) Katrin Dagmar Göring-Eckardt Anja Hajduk Winfried Hermann Antje Hermenau Peter Hettlich Ulrike Höfken Thilo Hoppe Michaele Hustedt Fritz Kuhn Markus Kurth Undine Kurth ({9}) Dr. Reinhard Loske Anna Lührmann Jerzy Montag Winfried Nachtwei Christa Nickels Friedrich Ostendorff Simone Probst Claudia Roth ({10}) Krista Sager Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({11}) Ursula Sowa Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Hans-Christian Ströbele Jürgen Trittin Marianne Tritz Dr. Antje Vogel-Sperl Dr. Ludger Volmer Josef Philip Winkler Margareta Wolf ({12}) Fraktionslos Dr. Gesine Lötzsch Enthalten CDU/CSU Manfred Carstens ({13}) FDP Sabine LeutheusserSchnarrenberger Dr. Max Stadler aber auch nur deswegen, weil sie sicher sein können, dass er hier und heute keine Mehrheit findet, es mit diesem Gesetzentwurf meinen, zeigt Folgendes: Die Länder haben in ihren Haushalten für das kommende Jahr eine solche Ausgabenposition nicht eingestellt. Daran sieht man, wie ernst Sie das meinen. Es ist sogar umgekehrt: Länder wie Hessen haben Einnahmepositionen infolge des Steuervergünstigungsabbaugesetzes, das Sie vehement bekämpfen, in ihren Haushalt eingestellt. Sie sagen ja überall, Sie machten das nicht mit. Aber um Ihre Haushalte wenigstens optisch einigermaßen in Schuss zu bringen, rechnen Sie die Einnahmen aus diesem Gesetz, das Sie ablehnen, schon mit ein. Das zeigt sehr deutlich, wie doppelzüngig und pharisäerhaft in dieser Frage von Ihnen argumentiert wird. Ihr Ziel ist, den Bürgern und der Öffentlichkeit mit diesem Gesetzentwurf zu suggerieren, dass an dem schlechten Zustand der Gemeindefinanzen der Bund schuld ist. Jedes Mal, wenn ein Schwimmbad geschlossen wird, wenn Straßen nicht repariert werden können, wenn es durch die Frostaufbrüche Schlaglöcher gibt, wollen Sie und Ihre Oberbürgermeister und Bürgermeister sich hinstellen und sagen: Das hat der Bund verursacht. ({14}) Dieses Manöver ist außergewöhnlich durchsichtig; denn Sie könnten ja, wenn Sie wollten, zeigen, dass Sie es wirklich ernst meinen. Sie könnten uns damit in Zugzwang bringen. Sie könnten nämlich in den Ländern, in denen Sie regieren - ich habe die Länder vorhin aufgezählt -, das, was die Gewerbsteuerumlage Ihnen vermeintlich zu viel in die Kassen bringt, in eigener Machtvollkommenheit an die Gemeinden zurückgeben. Das tun Sie aber nicht. ({15}) Beweis: Antrag der SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag, die Bayerische Staatsregierung möge doch, da sie das vor einem Jahr schon einmal gefordert hat, die Mittel, die Bayern von den Gemeinden bekommen hat, an diese zurückgeben. Den Antrag haben Sie abgelehnt. Auch das zeigt wieder, wie doppelzüngig, pharisäerhaft und verlogen Ihre Argumentation in dieser Frage ist. Was ist der Hintergrund dieses Gesetzentwurfs? Das ist nach Meinung der Opposition die Steuerreform 2000. Darin war vereinbart, dass Senkungen bei solchen Steuern, die den Bund und die Länder betreffen, zum Beispiel bei der Körperschaftsteuer, auch von den Gemeinden mitgetragen werden, die sonst an den Ausfällen zum Beispiel der Körperschaftsteuer nicht partizipieren. Deswegen wurde als Stellmechanismus die Gewerbesteuerumlage in Stufen angehoben. Wenn man Maßnahmen zur Gegenfinanzierung nicht gleich mit beschlossen hätte, wären die Mindereinnahmen bei der Körperschaftsteuer so groß gewesen, dass keine Ebene diese hätte tragen können. Bei den Ausfällen sind die Gemeinden also nicht beteiligt, aber bei den Maßnahmen zur Gegenfinanzierung. ({16}) Vor diesem Hintergrund hatte man sich geeinigt, die Gewerbesteuerumlage in Stufen anzuheben und sie ab dem Jahr 2006 wieder zu senken. Das ist übrigens mit Zustimmung der kommunalen Spitzenverbände und auch der Gemeinden erfolgt. Das Problem ist, dass die Konjunktur genau in dem Jahr, in dem die größte Steuerentlastung in der Geschichte dieser Republik stattgefunden hat, eingebrochen ist und dass dieser Konjunkturabschwung dazu geführt hat, dass alle staatlichen Ebenen weniger Steuereinnahmen haben. Die Gemeinden haben vor allem unter geringeren Gewerbesteuereinnahmen zu leiden. Jetzt wird deutlich, dass der Scherbenhaufen, den Sie uns 1998 hinterlassen haben - das gilt auch für die Steuerpolitik -, beseitigt werden muss, und zwar insbesondere in der Weise, dass man dafür sorgt, dass die Gewerbesteuer nicht mehr eine rein ertragsabhängige Steuer ist. In den 16 Jahren der Kohl-Regierung wurden alle ertragsunabhängigen Bestandteile aus dieser Steuer herausgenommen. ({17}) Mittlerweile ist offensichtlich, dass diese Steuer nur noch von wenigen Großen gezahlt wird. Sie haben auf diesem Gebiet eine sehr kurzsichtige Politik betrieben. Genauso kurzsichtig wie die Aushöhlung der Gewerbesteuer, die Sie zu verantworten haben, ist jetzt die Forderung, die Gewerbesteuerumlagenerhöhung zurückzunehmen. Wenn das Geld, um das es geht, wirklich da ankäme, wo es hingehört, dann könnte man darüber reden. Ihrem Antrag liegt aber eine ganz andere Systematik zugrunde. Ihr Antrag folgt dem Motto: Wer hat, dem wird gegeben, und wer nichts hat, der hat Pech gehabt. Diejenigen, die noch einigermaßen anständige Gewerbesteuereinnahmen haben, zahlen eine relativ hohe Gewerbesteuerumlage. Würden wir Ihrem Antrag folgen, dann würden wir genau denen einen hohen Anteil zurückgeben. Diejenigen, die aufgrund sinkender Gewerbesteuereinnahmen Schwierigkeiten haben, würden keinen Vorteil davon haben, dass wir die in Ihrem Antrag aufgestellten Forderungen umsetzten. Von daher macht es keinen Sinn, Ihrem Antrag zu folgen. ({18}) Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele. Die drei im Hinblick auf die Gewerbesteuerzahlung einnahmestärksten Städte in dieser Republik - Hamburg, München und Frankfurt am Main - haben Gewerbesteuereinnahmen in Höhe von etwa 3,4 Milliarden Euro. In diesen Städten wohnen 4 Prozent der Bevölkerung, der Anteil der Gewerbesteuereinnahmen dieser Städte an den Gewerbesteuereinnahmen in der gesamten Republik liegt aber bei 15 Prozent. Würde man die Gewerbesteuerumlage abschaffen, dann wäre der Effekt, dass genau dieser Zustand beibehalten würde. Eine solche Politik kann nicht sinnvoll sein. Wir werden diese Politik nicht mitmachen. ({19}) Die Situation der Gemeinden ist natürlich schwierig. Das wissen wir. Wir haben durch die Verabschiedung verschiedener Gesetze - ich will sie hier nicht im Einzelnen aufzählen - schon Gegenmaßnahmen ergriffen. Wir haben die Einnahmebasis der Gemeinden in der Größenordnung von 1 Milliarde Euro gesichert, und zwar gegen Ihren erbitterten Widerstand. Wir denken auch über weitere Sofortmaßnahmen nach, aber nicht in der Weise, wie Sie das tun. ({20}) Sofortmaßnahmen in diesem Jahr müssen, erstens, finanziell deutlich spürbar sein und sie müssen, zweitens, dort wirken, wo es nötig ist. Würden wir Ihrem Antrag folgen, wäre das in keiner Weise gewährleistet. ({21}) Sie wissen, dass wir eine Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen eingesetzt haben. Diese Kommission beschäftigt sich sowohl mit der Einnahmesituation als auch mit der Ausgabensituation. ({22}) - Das bekommen Sie von der Bayerischen Staatsregierung permanent eingeimpft. Herr Michelbach, Sie dürfen nicht alles glauben, was die Ihnen sagt. Da sind Sie auf dem falschen Dampfer. Diese Kommission wird in diesem Jahr einen Vorschlag vorlegen. Ich hoffe, dass Sie, die Vertreter der Opposition, Ihre Verantwortung - seit dem 2. Februar ist sie gewachsen - wahrnehmen und dass Sie konstruktiv an einer Gemeindefinanzreform, die den Gemeinden stetige und verlässliche Einnahmen sichert und die ihnen auch auf der Ausgabenseite behilflich ist, mitarbeiten. Außerdem leiden die Gemeinden heute unter Vorgängen, die im Zusammenhang mit den Zuweisungen durch die Länder stehen. Auch die geringer werdenden Einnahmen auf der Länderseite führen dazu, dass die Verbundmasse in den Ländern geringer wird. Ihr Ansatz ist auch in dieser Hinsicht sehr punktuell: Sie greifen nur einen einzigen Punkt heraus; die anderen beiden Punkte haben Sie nicht im Visier. Wir dagegen versuchen sämtliche Punkte zu berücksichtigen. Frau Roth, die Präsidentin des Deutschen Städtetages, hat gefordert, diese Reform möglichst sofort und nicht erst nächstes Jahr durchzuführen. Dazu kann ich nur sagen: Das ist nichts als Wahlkampf, wahrscheinlich im Hinblick auf Schleswig-Holstein. Der Deutsche Städtetag, deren Präsidentin Frau Roth ist, hat - wie ich finde, zu Recht - gefordert, dass die Kommission Modellrechnungen anstellt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, achten Sie bitte auf das Signal am Rednerpult.

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie gestatten, Frau Präsidentin, mache ich eine letzte Bemerkung.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eigentlich darf ich das nicht gestatten. Sie haben Ihre Redezeit schon um zwei Minuten überzogen.

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann will ich nur noch sagen: Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr! Arbeiten Sie konstruktiv mit und ziehen Sie Ihren Antrag zurück! Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag „Europa und Amerika müssen zusammenstehen“, Drucksache 15/421, bekannt. Abgegebene Stimmen 570. Mit Ja haben gestimmt 231, mit Nein haben gestimmt 302, Enthaltungen 37. Der Antrag ist damit abgelehnt. Wir fahren fort in der Debatte. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Götz. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 571; davon ja: 232 nein: 302 enhalten: 37 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Altmaier Dietrich Austermann Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({0}) Veronika Bellmann Otto Bernhardt Dr. Rolf Bietmann Clemens Binninger Renate Blank Peter Bleser Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({1}) Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Helge Braun Monika Brüning Georg Brunnhuber Hartmut Büttner ({2}) Cajus Caesar Peter H. Carstensen ({3}) Gitta Connemann Leo Dautzenberg Hubert Deittert Albert Deß Vera Dominke Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Rainer Eppelmann Anke Eymer ({4}) Georg Fahrenschon Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({5}) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Dirk Fischer ({6}) Axel E. Fischer ({7}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({8}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Roland Gewalt Eberhard Gienger Georg Girisch Dr. Reinhard Göhner Tanja Gönner Josef Göppel Dr. Wolfgang Götzer Kurt-Dieter Grill Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Manfred Grund Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg Olav Gutting Holger Haibach Gerda Hasselfeldt Helmut Heiderich Ursula Heinen Siegfried Helias Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Martin Hohmann Joachim Hörster Hubert Hüppe Susanne Jaffke Dr. Peter Jahr Bartholomäus Kalb Irmgard Karwatzki Volker Kauder Siegfried Kauder ({9}) Eckart von Klaeden Jürgen Klimke Julia Klöckner Kristina Köhler ({10}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Rudolf Kraus Michael Kretschmer Günther Krichbaum Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Werner Kuhn ({11}) Dr. Karl A. Lamers ({12}) Barbara Lanzinger Karl-Josef Laumann Vera Lengsfeld Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({13}) Patricia Lips Dr. Michael Luther Dorothee Mantel Erwin Marschewski ({14}) Stephan Mayer ({15}) Dr. Martin Mayer ({16}) Dr. Michael Meister Friedrich Merz Laurenz Meyer ({17}) Doris Meyer ({18}) Maria Michalk Klaus Minkel Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Hildegard Müller Stefan Müller ({19}) Bernward Müller ({20}) Bernd Neumann ({21}) Claudia Nolte Günter Nooke Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Melanie Oßwald Eduard Oswald Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Daniela Raab Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Christa Reichard ({22}) Katherina Reiche Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith Dr. Norbert Röttgen Volker Rühe Albert Rupprecht ({23}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({24}) Hartmut Schauerte Andreas Scheuer Norbert Schindler Georg Schirmbeck Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({25}) Andreas Schmidt ({26}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer Kurt Segner Marion Seib Heinz Seiffert Thomas Silberhorn Jens Spahn Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Andreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({27}) Michael Stübgen Antje Tillmann Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marco Wanderwitz Peter Weiß ({28}) Gerald Weiß ({29}) Ingo Wellenreuther Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({30}) Matthias Wissmann Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Elke Wülfing Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Hans-Michael Goldmann Klaus Haupt Ulrich Heinrich Eberhard Otto ({31}) Nein SPD Dr. Lale Akgün Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr ({32}) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Eckhardt Barthel ({33}) Klaus Barthel ({34}) Sören Bartol Sabine Bätzing Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({35}) Kurt Bodewig Gerd Friedrich Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({36}) Hans-Günter Bruckmann Marco Bülow Ulla Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Büttner ({37}) Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Karl Diller Martin Dörmann Peter Dreßen Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Marga Elser Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({38}) Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Angelika Graf ({39}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Karl Hermann Haack ({40}) Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Michael Hartmann ({41}) Anke Hartnagel Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Gustav Herzog Petra Heß Monika Heubaum Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({42}) Walter Hoffmann ({43}) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Iris Hoffmann ({44}) Frank Hofmann ({45}) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Renate Jäger Klaus Werner Jonas Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Ulrich Kelber Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Astrid Klug Dr. Heinz Köhler Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Anette Kramme Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christian Lange ({46}) Christine Lehder Waltraud Lehn Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({47}) Gabriele Lösekrug-Möller Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Christoph Matschie Markus Meckel Ulrike Mehl Ulrike Merten Ursula Mogg Michael Müller ({48}) Christian Müller ({49}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Volker Neumann ({50}) Dietmar Nietan Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Karin Rehbock-Zureich Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Reinhold Robbe René Röspel Karin Roth ({51}) Michael Roth ({52}) Gerhard Rübenkönig Ortwin Runde Marlene Rupprecht ({53}) Thomas Sauer Anton Schaaf Axel Schäfer ({54}) Gudrun Schaich-Walch Rudolf Scharping Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Otto Schily Horst Schmidbauer ({55}) Ulla Schmidt ({56}) Silvia Schmidt ({57}) Dagmar Schmidt ({58}) Wilhelm Schmidt ({59}) Heinz Schmitt ({60}) Carsten Schneider Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Wilfried Schreck Ottmar Schreiner Gisela Schröter Brigitte Schulte ({61}) Reinhard Schultz ({62}) Swen Schulz ({63}) Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie SonntagWolgast Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Christoph Strässer Rita Streb-Hesse Joachim Stünker Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Hans-Jürgen Uhl Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Ute Vogt ({64}) Dr. Marlies Volkmer Hans Georg Wagner Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Reinhard Weis ({65}) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber ({66}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Jürgen Wieczorek ({67}) Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Brigitte Wimmer ({68}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Waltraud Wolff ({69}) Uta Zapf Dr. Christoph Zöpel CDU/CSU Dr. Peter Gauweiler Henry Nitzsche BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({70}) Volker Beck ({71}) Cornelia Behm Birgitt Bender Matthias Berninger Alexander Bonde Dr. Thea Dückert Jutta Dümpe-Krüger Franziska Eichstädt-Bohlig Hans-Josef Fell Joseph Fischer ({72}) Katrin Dagmar Göring-Eckardt Anja Hajduk Winfried Hermann Antje Hermenau Peter Hettlich Ulrike Höfken Thilo Hoppe Michaele Hustedt Markus Kurth Undine Kurth ({73}) Dr. Reinhard Loske Anna Lührmann Jerzy Montag Winfried Nachtwei Christa Nickels Friedrich Ostendorff Simone Probst Claudia Roth ({74}) Krista Sager Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({75}) Ursula Sowa Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Hans-Christian Ströbele Jürgen Trittin Marianne Tritz Dr. Antje Vogel-Sperl Dr. Ludger Volmer Josef Philip Winkler Margareta Wolf ({76}) FDP Sabine LeutheusserSchnarrenberger Dr. Max Stadler Fraktionslos Dr. Gesine Lötzsch Enthalten CDU/CSU Manfred Carstens ({77}) FDP Rainer Brüderle Ernst Burgbacher Helga Daub Dr. Christian Eberl Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Horst Friedrich ({78}) Rainer Funke Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Christel Happach-Kasan ({79}) Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin Harald Leibrecht Ina Lenke Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({80}) Cornelia Pieper Dr. Günter Rexrodt Marita Sehn Dr. Rainer Stinner Jürgen Türk Dr. Claudia Winterstein

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Scheelen, um die Sorgen der Ministerpräsidenten der CDU- und CSU-geführten Länder brauchen Sie sich nicht zu kümmern, denn sie haben genau den gleichen Antrag über den Bundesrat eingebracht. ({0}) Die Ministerpräsidenten haben wie die Menschen in diesem Land ganz andere Sorgen, als Sie hier darzustellen versucht haben. In der Debatte heute Vormittag wurde sehr deutlich, dass der Bundeskanzler die Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands an die Wand gefahren hat und weltweit Vertrauen zerstört hat. ({1}) Innenpolitisch, sehr geehrter Herr Kollege Scheelen, sieht es trotz der weißen Salbe, die Sie auszustreichen versuchen, nicht besser aus. ({2}) Die Auswirkungen der verfehlten Arbeitsmarkt-, Finanzund Wirtschaftspolitik sind katastrophal: Rekorddefizite in den staatlichen Haushalten, die Zahl der Arbeitslosen wächst in beängstigender Geschwindigkeit auf 5 Millionen zu, über 38 000 Pleiten im vergangenen Jahr schlagen negativ in der Bilanz dieser Bundesregierung zu Buche. ({3}) Ein Licht am Horizont ist leider nicht erkennbar. ({4}) Was tun Sie? - Nichts. Sie wurschteln weiter hilflos, konzeptionslos und ohne Hand und Fuß vor sich hin. ({5}) Ihr gestern noch schnell gezimmerter Antrag zu der heutigen Debatte bestätigt dies nur. Versuchen Sie nicht, alle notwendigen Entscheidungen Kommissionen zu überlassen. Auf diese hören Sie am Ende ja doch nicht. Das heißt, Sie verstreichen auch hier weiße Salbe. Von vollmundigen Ankündigungen haben die Kommunen jetzt genug. Damit ist ihnen nicht geholfen. Sie wollen Entscheidungen der Verantwortlichen hier im Deutschen Bundestag. ({6}) Die Städte und Gemeinden stehen am Rande des Ruins. In vielen Kommunen gehen die Lichter aus. Für die meisten ist es bereits fünf nach zwölf. Sie haben es mit Ihrer verfehlten Politik in wenigen Jahren geschafft, die Finanzen der Kommunen zu ruinieren, und haben damit auch die Axt an die Grundstruktur der kommunalen Selbstverwaltung angelegt. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund ruft in diesen Tagen zu einer Kampagne auf: Rettet die Kommunen! ({7}) Warum wohl? Früher waren starke Städte und Gemeinden ein Element des Erfolgsmodells deutscher Politik. Dieses war auch ein Exportschlager, denn viele junge Demokratien in Mittel- und Osteuropa haben dieses Modell nachgeahmt. Wie sieht es heute aus? Die Schere zwischen kommunalen Einnahmen und kommunalen Ausgaben geht, wie die Darstellung des Deutschen Städtetages sehr deutlich macht, seit drei Jahren immer weiter auseinander. In diesem Jahr liegt das Gesamtdefizit der kommunalen Haushalte bei 10 Milliarden Euro. Nach Ablauf der Regierungszeit von Helmut Kohl war noch ein Überschuss von 2 Milliarden Euro in den kommunalen Kassen. Damals gab es aber auch noch eine kommunalfreundliche Politik in diesem Haus. ({8}) Was macht Rot-Grün? Sie nehmen durch Ihre Regierungstätigkeit den Kommunen einfach die Einnahmen weg. Ein typisches Beispiel sind die Versteigerungserlöse für die UMTS-Lizenzen, die Sie zulasten kommunaler Einnahmen einkassiert haben; genau das Gleiche gilt für die Einnahmen aus der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage, um die es heute geht. Das Schlimmste ist: Gleichzeitig wurden den Städten, Gemeinden und Landkreisen ständig neue Ausgaben und Aufgaben aufs Auge gedrückt. Diese Rechnung kann nicht aufgehen. ({9}) Meine Damen und Herren, es geht munter weiter mit den Beschlüssen zulasten kommunaler Haushalte. Der Bundeskanzler verspricht den Menschen immer mehr und bessere öffentliche Leistungen, lässt aber andere dafür bezahlen. Ich nenne das unanständig. ({10}) Ich nenne nur zwei aktuelle Beispiele aus diesen Tagen. Denken Sie nur an die 4 Milliarden Euro für Ganztagsschulen, die der Bund für vier Jahre anbietet, ({11}) oder an die Verpflichtung zur Betreuung von Kindern unter drei Jahren. Beide Beschlüsse stellen Trojanische Pferde für die Städte und Gemeinden dar. Denn wieder bekommen sie eine neue Aufgabe aufs Auge gedrückt, auf deren Finanzierung sie am Ende sitzen bleiben. Verstehen Sie mich richtig: Auch die Union will die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern. ({12}) Wir haben dazu umfassende Konzepte vorgelegt. Aber dieses gesellschaftspolitisch wichtige Ziel auf dem Rücken der kommunalen Haushalte durchzusetzen, das ist ein politisches Armutszeugnis. ({13}) Die finanzielle Lage der Städte und Gemeinden verschlechtert sich dadurch weiter. Diese Politik ist kurzsichtig, durchschaubar und führt nicht nur die Kommunen, sondern ganz Deutschland mittel- und langfristig in den Ruin. Die konkreten Folgen werden zunehmend sichtbar. Allein in Nordrhein-Westfalen unterliegen schon heute zwei Drittel aller Städte und Gemeinden Haushaltssicherungskonzepten. Alle kreisfreien Städte bis auf vier Großstädte sind dabei - Kommunalpolitik am Gängelband staatlicher Aufsicht. Wenn die Gemeinderäte vor Ort nicht mehr selbst über ihre örtlichen Angelegenheiten entscheiden können, ist dies das Ende der kommunalen Finanzautonomie. Das ist die logische Konsequenz. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und von der SPD, die Entwicklung macht deutlich: Sie bewegen sich mit Ihrem ständigen Griff in die kommunalen Kassen auch am Rande der Verfassungswidrigkeit. In Art. 28 unseres Grundgesetzes steht aus gutem Grund klipp und klar geschrieben: Den Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. ... Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfasst auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung ... Daran halten Sie sich in keiner Weise. Im Gegenteil: Die ständige Übertragung neuer Aufgaben und die Wegnahme kommunaler Steuereinnahmen zerstören die kommunale Selbstverwaltung und führen zu mehr Zentralismus. ({14}) Das wollen wir nicht. Wir wollen keinen Zentralismus und vom Sozialismus haben die Menschen in diesem Land ebenfalls genug. Herr Bundesminister Stolpe plant die Einrichtung eines Sonderfonds für finanzschwache Kommunen in Höhe von 1 Milliarde Euro. ({15}) Er weiß zwar noch nicht genau, woher er das Geld bekommt, ob von den Flutopfern oder aus den Goldreserven; aber immerhin hat er offensichtlich erkannt, wohin die kommunalfeindliche Politik dieser Bundesregierung geführt hat. ({16}) Besser wäre es, Herr Kollege Grund, eine Politik zu machen, die die Gemeinden nicht erst ruiniert, sondern sie eigenverantwortlich ihre Aufgaben wahrnehmen lässt. Das ist unser Verständnis von kommunaler Selbstverwaltung. ({17}) Die CDU/CSU will einen wirksamen Schutz der Kommunen vor weiteren Aufgaben- und Kostenverlagerungen. Wir wollen, dass in Deutschland wieder der Grundsatz gilt: Wer bestellt, bezahlt. Wir wollen auch, dass dieser Grundsatz in unserer Verfassung festgeschrieben wird. Wir brauchen erstens Sofortmaßnahmen zur schnelleren Verbesserung der kommunalen Einnahmen. Die Rücknahme der ungerechtfertigten Erhöhung der Gewerbesteuerumlage ist dafür eine Möglichkeit; damit könnten Sie ein Zeichen setzen. Das geht schnell und verschafft den Kommunen kurzfristig Luft zum Atmen. Zweitens. Mittelfristig brauchen wir eine umfassende Neuordnung der Gemeindefinanzen. Drittens müssen wir den Mut aufbringen, nicht mehr leistbare Aufgaben infrage zu stellen. Dies eröffnet zusammen mit Entbürokratisierung und dem Abbau von Vorschriften und Regulierungen eine Fülle neuer Gestaltungschancen für die Kommunen. Selbstverwaltung und Eigenverantwortung sind besser als Zentralismus und Staatsdirigismus. ({18}) Meine Damen und Herren, wir wollen starke Städte und Gemeinden. Sie sind die beste Grundlage für einen gut funktionierenden Staat. Wir wollen, dass Deutschland die rote Laterne in Europa endlich abgibt und wieder ein starkes Land wird. Die Kommunen können dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Geben Sie ihnen die Chance dazu! Herzlichen Dank. ({19})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat die Abgeordnete Kerstin Andreae.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich zum Thema Gewerbesteuerumlage komme, möchte ich Sie, Herr Götz, auf eine Sache hinweisen. Sie sagen, man müsse das Konnexitätsprinzip umsetzen. Nehmen Sie einmal das Beispiel der bedarfsorientierten Grundsicherung im Alter: Wir haben direkt für die Kommunen für die Gewährung der bedarfsorientierten Grundsicherung 410 Millionen Euro in den Haushalt eingestellt. ({0}) Das sind 100 Millionen Euro mehr als der ermittelte Bedarf. Weiterhin ist festgelegt worden, dass es nach zwei Jahren eine Überprüfung dahin gehend gibt, ob diese Finanzmittel ausreichen. So setzen wir das Konnexitätsprinzip um. ({1}) Wir setzen es nicht so um, wie es unter Kohl im Zusammenhang mit dem Kindergartengesetz geschehen ist. Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz wurde zwar festgesetzt; aber die Kommunen haben keine Mittel dafür bekommen, dies umzusetzen. ({2}) Sie sprechen von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dazu sage ich Ihnen: Dass wir im Koalitionsvertrag die Schaffung von Einrichtungen für die Betreuung von Kindern unter drei Jahren festgeschrieben und die Finanzierung zugesichert haben, ist eine wahre Politik für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dazu legen wir etwas vor; da lassen wir die Kommunen nicht allein. ({3}) Zum Thema Gemeindefinanzen: Mich freut es, dass es inzwischen oben auf der Agenda steht. In dem von uns vorgelegten Antrag mit der Überschrift „Gemeindefinanzen dauerhaft stärken“ steht - das stellen Sie fest, wenn Sie ihn bis zum Schluss durchlesen -, dass wir bis zum Jahresbeginn 2004 ein Konzept vorlegen werden. Dies schafft langfristig Abhilfe in Bezug auf die Misere bei den Gemeindefinanzen. Ich stimme ja mit Ihnen darin überein, dass es den Kommunen finanziell nicht gut geht und wir ihnen helfen müssen. Aber wir müssen ihnen vor allem mit einem langfristigen Konzept helfen. Das werden wir mit der Reform der Gemeindefinanzen tun. Dies ist ein Konzept, in dem die Verstetigung und die Stärkung der Gemeindefinanzen an erster Stelle steht, ein Konzept, das die Modernisierung der Gewerbesteuer auf den Weg bringen wird. Wir sind nicht wie die FDP der Auffassung, dass die Abschaffung der Gewerbesteuer der richtige Weg ist. Ich bin mir sehr sicher: Die Abschaffung der Gewerbesteuer verlagert die Steuern, die jetzt bei den Unternehmen anfallen, auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auf die Bürgerinnen und Bürger. Wir brauchen die Gewerbesteuer als ein Band zwischen Kommune bzw. Gemeinde und örtlicher Wirtschaft. Denn diese kommunale Steuer festigt das wichtige Band zwischen diesen beiden Ebenen. Wir werden die Gewerbesteuer also modernisieren. Aber Sie haben Recht: Wir brauchen eine kurzfristige Abhilfe. Wir haben ein Konzept, ein Gesetz vorgelegt, in dem es um eine kurzfristige Abhilfe geht. Das ist das Steuervergünstigungsabbaugesetz. ({4}) - Sie sagen, das seien Steuererhöhungen. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie an Ihren Herrn Müller verweisen, der gesagt hat, dass ab 2004 Steuererhöhungen durchaus wieder denkbar sind. Da wäre ich also an Ihrer Stelle ganz vorsichtig. Dieses Steuervergünstigungsabbaugesetz beinhaltet Maßnahmen, wodurch den Kommunen in 2003 Mittel an die Hand gegeben werden können. In 2004 sind das 2,1 Milliarden Euro und in 2005 3,2 Milliarden Euro. In diesem Gesetz stehen konkrete Maßnahmen: zum Beispiel die Abschaffung der gewerbesteuerlichen Organschaften. Zur Vorbereitung meiner Rede habe ich mir noch einmal die Debatte zur ersten Lesung unseres Gesetzentwurfes angesehen. Herr Schild und Herr Scheelen haben deutlich gesagt - dafür war ich sehr dankbar -: Natürlich wollen wir die Abschaffung der gewerbesteuerlichen Organschaften. Das ist das richtige Mittel. Das ist eine sofortige, kurzfristige Abhilfe für die Finanzmisere der Kommunen. Wir wollen eine Mindestbesteuerung mit einem Sockel. Wir haben gestern lange darüber diskutiert, ob es einen oder ob es keinen Sockel geben sollte. Wir wollen eine Eingrenzung der Verlustverrechnung. Das sind Maßnahmen, die den Kommunen kurzfristig Geld bringen. ({5}) Sie schlagen jetzt als Abhilfe die Absenkung der Gewerbesteuerumlage vor. Die Punkte, die gegen diese Maßnahme sprechen, sind schon genannt worden. Der eine ist, dass die Ausfälle in der Gewerbesteuer konjunkturbedingt sind. Eine Absenkung des Körperschaftsteuertarifs durch die Steuerreform hat das Steueraufkommen der Gemeinden unberührt gelassen. Worum es ging, war eine Beteiligung der Kommunen im Rahmen der Steuereinnahmenquote. Daran sind sie weniger beteiligt worden, als eigentlich erforderlich gewesen wäre. Herr Scheelen hat es vorhin gesagt: Eine 10-prozentige Absenkung der Gewerbesteuerumlage könnten die Länder, die zwei Drittel davon bekommen, vornehmen. Aber sie können es nicht finanzieren. Wir können nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Wir brauchen ein Gesamtkonzept. Dieses legen wir vor. Wir werden eine langfristige Stärkung und Sicherung der Gemeindefinanzen vornehmen. Dieses Instrument bringt aber - das ist für mich das entscheidende Argument - vor allem den finanzschwachen Kommunen nichts; es gibt ihnen nichts an die Hand. ({6}) Wenn Sie das Steuervergünstigungsabbaugesetz im Bundesrat ablehnen - Sie kündigen ja immer wieder an, dass Sie außer dem Körperschaftsteueranteil sowieso nichts durchgehen lassen -, dann schieben Sie Maßnahmen, die den Kommunen kurzfristig wirklich helfen können, auf die lange Bank. Sie schaffen eben keine kurzfristige Abhilfe für die Kommunen. ({7}) - Die Abschaffung der gewerbesteuerlichen Organschaft ist ein Element dafür. ({8}) Die großen Städteverbände - alle drei - haben mit ihren Verunsicherungen in der Anhörung, die wir gemeinsam erlebt haben, durchaus ein bisschen den Druck genommen und sind inzwischen alle der Meinung, dass wir die gewerbesteuerlichen Organschaften wieder abschaffen müssen. Sie wissen, dass wir Zerlegungsregelungen schaffen können und dass wir den ostdeutschen Kommunen dabei helfen können. Wir müssen dieses Instrument aber in die Hand nehmen. Es schafft kurzfristig Abhilfe für die Kommunen. ({9}) Sie sagen immer: Steuer nur bei Ertrag. Ich finde, da haben Sie Recht. Wir sagen: Bei Ertrag dann aber auch wirklich Steuer. Deswegen wollen wir eine Mindestbesteuerung mit Sockel. ({10}) Wir wollen eine Verlustverrechnung eingrenzen und wir wollen die Abschaffung der gewerbesteuerlichen Organschaften. ({11}) Ich bitte Sie wirklich herzlich: Verweigern Sie im Bundesrat nicht die Zustimmung zu diesen Maßnahmen! Sie helfen den Kommunen kurzfristig. Schieben Sie diese Maßnahmen nicht auf die lange Bank! Vielen Dank. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Andreas Pinkwart.

Andreas Pinkwart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bereits bei der Einbringung dieses Gesetzentwurfs war die Haushaltslage der Kommunen in Deutschland katastrophal. Sie hat sich seitdem noch verschärft. Wurde im letzten Quartal des vergangenen Jahres von der Bundesregierung noch die Hoffnung verbreitet, dass die Wirtschaft in diesem Jahr wieder Tritt fassen würde, musste auch sie ihre Prognosedaten nach unten korrigieren. Frau Kollegin Andreae, wenn Sie dieses Steuervergünstigungsabbaugesetz - Sie erlauben mir, es hier treffender als Nettoeinkommensenkungsgesetz bezeichnen zu dürfen - weiterhin auf den Weg bringen wollen, dann wird sich - das sage ich Ihnen voraus - die wirtschaftliche Situation in Deutschland noch dramatischer entwickeln und damit die Einnahmesituation nicht nur des Bundes, sondern auch der Länder und der Kommunen weiter verschlechtern. ({0}) Dabei haben wir bereits dramatische Zahlen bei Städten und Gemeinden. Der Finanzierungssaldo der Gemeinden befindet sich im freien Fall. Das Defizit der gemeindlichen Haushalte wird sich gegenüber 2001 mehr als verdoppeln und den negativen Nachkriegsrekord von 9,9 Milliarden Euro erreichen. Um den Investitionsbedarf der Kommunen zur Erhaltung der technischen, sozialen und kulturellen Infrastrukturen zu decken, müsste das kommunale Investitionsniveau um bis zu 50 Prozent über das heutige Niveau steigen. Stattdessen sinken aber die investiven Ausgaben unaufhaltsam - mit allen negativen Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung. Allein das Handwerk bezieht mehr als 13 Prozent der Aufträge von den Kommunen und ist daher Hauptleidtragender dieser Entwicklung. So hat sich die Investitionslücke allein in den letzten vier Jahren um rund 40 Milliarden Euro vergrößert. Die Folgen sind überall sichtbar und sind für unsere Bürgerinnen und Bürger spürbar. Die Schulgebäude und Sportanlagen werden nur notdürftig instand gehalten und sind teilweise in einem inakzeptablen Zustand. Reparaturen von Gehwegen und Straßen werden aufgeschoben, Personal in den Kindertageseinrichtungen weiter ausgedünnt. In Nordrhein-Westfalen mussten am Jahresende 2002 105 Kommunen ein Haushaltssicherungskonzept beschließen. Annähernd zwei Dutzend Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen befinden sich in einer so kritischen Finanzlage, dass sie nicht einmal mehr die Voraussetzungen für ein Haushaltssicherungskonzept erfüllen. Frau Kollegin Scheel, ich empfehle vor diesem Hintergrund, die geplante Anhörung im Finanzausschuss, in der wir uns mit dem internationalen Insolvenzrecht für Staaten beschäftigen wollen, zu verschieben und die Beratungen über die Gemeindefinanzreform im Finanzausschuss vorzuziehen, damit wir eine Insolvenzwelle in den deutschen Kommunen abwenden können. ({1}) Ich fordere hiermit für die FDP-Fraktion die Bundesregierung auf, die Kommissionsarbeit zum Gemeindefinanzreformgesetz dringend zu beschleunigen und dabei Sorge dafür zu tragen, dass sich nicht nur die Einnahmesituation verbessert, sondern dass die Städte und Gemeinden auch von der überbordenden Bürokratie und von unnötigen Standards und Normen befreit werden, dass sie aber auch befreit werden von zusätzlichen Lasten, die ihnen vom Gesetzgeber, aber jüngst eben auch von den Gewerkschaften auferlegt worden sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht nicht an, dass unsere Kommunen die Melkkühe der Gefälligkeitspolitiker in Bund und Land sowie der Gewerkschaften bleiben. ({2}) So rechnet der Innenminister des Landes NordrheinWestfalen - Sie wissen, er ist kein Vertreter der FDP - angesichts des Tarifabschlusses im öffentlichen Dienst und des In-Kraft-Tretens des Grundsicherungsgesetzes damit, dass sich die Haushaltsdefizite der nordrhein-westfälischen Kommunen von dem erschreckend hohen Niveau von 2,68 Milliarden Euro im vergangenen Jahr auf die Rekordmarke von 4 Milliarden Euro in diesem Jahr erhöhen werden. Nun hat Frau Hendricks für die Bundesregierung angekündigt, dass Ihr Gemeindefinanzreformmodell ein Nullsummenspiel auf der Einnahmeseite und bei der Leistungsverteilung werden soll. Ich darf Ihnen hierzu Herrn Behrens, den Innenminister Nordrhein-Westfalens - Mitglied in der SPD -, mit Blick auf den Bundesfinanzminister zitieren: Nach seinen Plänen - damit meint er Herrn Eichel kommt das Geld zu spät und es ist deutlich zu wenig. Diesem Zitat können wir uns sehr gern anschließen. ({3}) Ich darf Sie deshalb - die Kolleginnen und Kollegen der SPD in diesem Hohen Hause werden zustimmen doch bitten, vor dem Hintergrund dieser katastrophalen Lage unserer Kommunen in Deutschland und der Bewertung, die ich auch aus SPD-Ländern vortragen durfte, dieser Gesetzesvorlage zuzustimmen. Das Gegenargument, das Sie noch im vergangenen Jahr bei der ersten Lesung vorgebracht haben, nämlich die Länder würden dieser Gesetzesänderung nicht zustimmen, ist Ihnen aus der Hand geschlagen worden. Die Länder haben diesem Gesetzentwurf im Bundesrat zugestimmt. Sie sind bereit, anders als es von Herrn Scheelen vorgetragen worden ist, die Gewerbesteuerumlage abzusenken. Es steht also nichts mehr im Wege. Wenn Sie allerdings - das sage ich ganz deutlich gleich in der namentlichen Abstimmung diesem Entwurf nicht zustimmen, tragen Sie, die Kolleginnen und Kollegen der SPD- und der grünen Fraktion, die Verantwortung dafür, dass die Kommunen in eine weitere desolate Situation hineingeführt werden. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Schild.

Horst Schild (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002775, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir nehmen mit Genugtuung, Herr Kollege Pinkwart, zur Kenntnis, dass Sie den Antrag, den Sie offensichtlich Anfang der Woche in den Deutschen Bundestag einbringen wollten und der den Titel trug „Gemeindefinanzen reformieren, Gewerbesteuer abschaffen, Finanzkraft der Gemeinden stärken“, zurückgezogen haben. Das war in der Tat ein Dienst an den Gemeinden. Ich werte es als Einsicht; denn dieser Antrag, der ein Ladenhüter aus der letzten Wahlperiode ist, hätte nun den Gemeinden wirklich nicht geholfen. ({0}) Herr Kollege Götz, ich will etwas zu unserem Verhältnis zu den Kommunen in diesem Land sagen. Dieses wird nicht durch Zentralismus oder Staatsdirigismus geprägt; das sind Propagandablasen, die Sie hier vortragen. Wir haben alle Gesetze in der letzten Wahlperiode in enger Abstimmung mit den kommunalen Spitzenverbänden entworfen und dann im Deutschen Bundestag beschlossen. ({1}) - Das stimmt. Es stimmt auch - und das ist schlimm -, dass all diese Gesetze auf Ihren entschiedenen Widerstand gestoßen sind. All das, was wir hier zum Wohle der Gemeinden im Deutschen Bundestag beschlossen haben, ist von Ihnen nicht mitgetragen worden. Nun kommen Sie erneut mit dem, was Sie uns bereits seit über einem Jahr immer wieder präsentieren, nämlich mit dem Vorschlag, die Gewerbesteuerumlage zu senken. Wir begrüßen, dass sich der Bundestag mit dem Thema „Kommunalfinanzen“ befasst. Dazu haben wir auch allen Grund. ({2}) - Herr Michelbach, Sie stehen auf der Rednerliste. Sie haben nachher Gelegenheit, dem Hohen Haus zu verkünden, wie die Bayerische Staatsregierung mit ihren Gemeinden umspringt. ({3}) Dazu lässt sich sicherlich vieles sagen und auch der Kollege Pronold hat dazu vor kurzem schon einiges gesagt. Es verwundert aber doch, wenn sich einerseits der bayerische Staatsminister für die Finanzen rühmt, im Land Bayern für das Jahr 2003 eine sehr geringe Verschuldung vorgesehen zu haben, und auf der anderen Seite die Kommunen beispielsweise die Kosten für das Lehrpersonal übernehmen müssen und eine Stadt wie München doppelt so viel Schulden aufnehmen muss wie der gesamte Freistaat Bayern. Sie können dazu nachher gern ein paar Worte sagen. ({4}) Ich möchte noch etwas anderes mit aller Deutlichkeit sagen. Das Engagement, das Sie in den letzten Wochen und Monaten für die Kommunen entwickelt haben, haben wir in den vielen Jahren davor deutlich vermisst. ({5}) - Nein. Was Sie vorhin beschrieben haben, nämlich die starke Abhängigkeit der Gewerbesteuer von der Konjunktur, hat den Kommunen sicherlich schon immer, allerdings nicht in dieser Prägnanz, Probleme bereitet. Hier ist mehr als einmal gesagt worden, dass Sie es waren, die dazu beigetragen haben, diese Steuer zu einer Großbetriebssteuer zu machen. ({6}) Alle Elemente, die das etwas hätten mildern können, sind aus dem Gewerbesteuergesetz herausgenommen worden. Dies ist auch noch gar nicht so lange her. Wer hat denn vor nicht allzu langer Zeit, in der letzen Wahlperiode, im Deutschen Bundestag den Antrag auf Absenkung der Bemessungsgrundlage bei der Gewerbesteuer um 20 Prozentpunkte eingebracht? ({7}) Das waren doch nicht wir. Man muss schon ein stabiles Maß an Verdrängungsfähigkeit besitzen, wenn man dies alles heute nicht mehr zur Kenntnis nimmt und sich hier zum Retter der Gemeinden aufschwingt. ({8}) Die Senkung der Umlage der Gewerbesteuer ist kein Allheilmittel für die Kommunen. ({9}) - Kollege Seiffert, wir können uns über vieles unterhalten. Der Wahlkampf ist nun Gott sei Dank vorbei. ({10}) Wir werden im Rahmen der Kommission, die sich mit der Neuordnung der Gemeindefinanzen befasst - in dieser sind die von Ihnen regierten Länder genauso vertreten wie die von uns regierten Länder -, auch einen Konsens finden müssen, um auf dessen Grundlage das Problem möglichst schnell einer Lösung zuzuführen. Der Zeitpunkt ist bereits genannt worden. Wir wollen, dass es zum 1. Januar 2004 in Kraft tritt. Bislang ist uns aber nicht klar geworden, welche Vorschläge denn die Union für eine grundlegende Gemeindefinanzreform hat. Dies würde uns, aber auch die Kommunen, die Städte und Gemeinden, interessieren. Dazu hören wir aber nichts. ({11}) Ein einziger Vorschlag wird hier konstant immer wieder eingebracht. Aber auch diesen scheinen Sie nicht so ganz ernst zu meinen. Die jüngste Forderung, die Gewerbesteuersenkung in das Steuervergünstigungsabbaugesetz aufzunehmen, ist doch grotesk. Sie kündigen an, diesen Gesetzentwurf vollständig abzulehnen, bringen aber vor zwei Tagen einen Antrag in den Finanzausschuss ein, in den Entwurf des Steuervergünstigungsabbaugesetzes, den Sie ablehnen wollen, die Absenkung der Gewerbesteuerumlage aufzunehmen. Wie das funktionieren soll, müssen Sie einmal erklären. ({12}) Wollen Sie den Gemeinden nun helfen oder nicht? War die Mehrheit im Bundesrat für die Absenkung der Gewerbesteuerumlage im zweiten Anlauf ein Versehen oder haben Sie es nur mit der Angst zu tun bekommen, weil Ihre Großzügigkeit gegebenenfalls nicht seriös finanziert werden kann? Schließlich hätten Bund und Länder eine Senkung der Umlage zu verkraften. Nicht von ungefähr auch das ist schon angesprochen worden - hat die Bayerische Staatsregierung den bayerischen Kommunen die Möglichkeit der Senkung des Landesanteiles an der Umlage immer wieder verwehrt. Ich will Ihnen einmal sagen, was passiert, wenn wir Ihrem Vorschlag näher treten würden. Bestenfalls würden wir folgenden Effekt provozieren: Die Länderhaushalte haben bis auf ein oder zwei absolut keinen Spielraum. Sie werden die Mittel für die Kommunen schlichtweg an anderer Stelle streichen und die Kommunen hätten in der Summe nichts gewonnen. Wir lehnen Ihren Antrag aber nicht nur wegen der offenkundigen mangelnden Ernsthaftigkeit ab, mit der Sie die Anliegen der Kommunen verfolgen. Wir halten die Senkung der Umlage als Soforthilfe für die Gemeinden für nicht geeignet. Die Streuung der Einnahmen von Gemeinde zu Gemeinde werden durch eine solche Maßnahme nur noch verstärkt. Sehen Sie sich einmal die Finanzdaten im Gemeindefinanzbericht 2001 an: Frankfurt am Main minus 38 Prozent; Wiesbaden plus 5 Prozent; Bochum plus 17 Prozent; Darmstadt plus 56 Prozent; Göttingen plus 26 Prozent. Die Gemeinden in den neuen Ländern haben dagegen ein geringes Gewerbesteueraufkommen zu verzeichnen. Was wollen Sie also mit einer Neujustierung der Gewerbesteuerumlage erreichen? Die Gemeinden, die am meisten haben, werden am stärksten entlastet, München vielleicht 20-mal so stark wie Gelsenkirchen und vielleicht 50-mal so stark wie Halle an der Saale. Das sind die Zahlen auf Grundlage des Gemeindefinanzberichts. ({13}) Meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wir bestreiten doch nicht, dass das Gewerbesteueraufkommen in den letzten beiden Jahren drastisch eingebrochen ist. Von Ihnen wird aber immer wieder die Propaganda im Lande verbreitet, dieser Einbruch habe etwas mit unserer Steuerreform zu tun. In einem Schreiben eines großen Energieunternehmens an eine Stadt in meinem Wahlkreis heißt es: In diesem Zusammenhang erlauben wir uns eine Anmerkung. Die Entwicklung des Gewerbesteueraufkommens hat grundsätzlich nichts mit der Ausnutzung von Steuervergünstigungen zu tun. Sie ist vielmehr primär konjunkturbedingt. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. Wir müssen die Gewerbesteuer wieder zu einer verlässlichen und stetigen Steuerquelle für die Gemeinden machen. ({14}) - Nein, Herr Kollege Seiffert. Darüber werden wir uns noch einmal unterhalten müssen. So einfach wird es aber sicher nicht. ({15}) - Herr Michelbach, Sie sind doch gleich dran. Ihre Anträge - das möchte ich mit aller Deutlichkeit sagen - tragen nicht dazu bei, den Kommunen eine verlässliche und stetige Steuerquelle zu geben. Ich danke Ihnen. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Otto Bernhardt, dem wir alle zu seinem heutigen Geburtstag sehr herzlich gratulieren. ({0})

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die kommunalen Spitzenverbände meines schönen Heimatlandes Schleswig-Holstein ({0}) haben in diesen Tagen eine Entschließung vorgelegt. In diesen Gremien sitzen mindestens genauso viele Sozialdemokraten wie Christdemokraten. ({1}) In dieser Entschließung heißt es: Die finanzielle Situation unserer Kommunen war seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland noch nie so schlecht wie heute. ({2}) Das ist die Ausgangslage. In dieser Situation bringen Sie hier einen Antrag ein, in dem Sie schreiben, die Situation bei den Kommunen sei kritisch. Nein, die Lage ist katastrophal. Sie haben den Ernst offensichtlich noch nicht verstanden. ({3}) Im Bericht der Sachverständigen steht, dass der Bundesregierung der Blick für die Ökonomie insgesamt fehle. Nach den bisherigen Reden der Sozialdemokraten - es war sogar ein Volkswirt darunter - habe auch ich diesen Eindruck gewonnen. Ihnen fehlt der Blick für die Ökonomie insgesamt. ({4}) Sie können froh sein, dass wir Ihr Steuererhöhungsgesetz im Bundesrat ablehnen. ({5}) Wenn wir rein egoistisch parteipolitisch vorgehen würden, dann müssten wir diesem Gesetz zustimmen, weil es dann mit der deutschen Wirtschaft weiter bergab ginge. Wir helfen Ihnen, indem wir Ihr unsägliches Gesetz im Bundesrat mit unserer Mehrheit - Gott sei Dank - ablehnen. Wenn man die Lebensläufe der Abgeordneten im Handbuch des Deutschen Bundestages durchsieht, dann fällt auf, dass zwei Merkmale unter den Abgeordneten besonders häufig zu finden sind. Zum einen ist eine hohe Anzahl von Abgeordneten - bei Ihnen etwa 80 Prozent Mitglied in einer Gewerkschaft. Das merkt man - leider bei mancher Ihrer Entscheidungen. Ein zweites Kriterium, das auffällt, wenn man sich die Lebensläufe ansieht, ist - das gilt besonders für die beiden großen Fraktionen, aber teilweise auch für die anderen -, dass mehr als die Hälfte aller Mitglieder dieses Hauses kommunalpolitisch tätig waren oder sind. Das merkt man bei den Einlassungen von der linken Seite dieses Hauses leider nicht. ({6}) Sie sollten sich wieder einmal zu Hause bei Ihren Bürgermeistern und Stadtkämmerern informieren. ({7}) Ich habe das getan. Ich nenne Ihnen nur zwei Zahlen. Im letzten Jahr der Regierung Kohl - viele haben Sehnsucht nach dieser Zeit ({8}) betrugen die Nettogewerbesteuereinnahmen der Kommunen in Schleswig-Holstein 570 Millionen Euro, im letzten Jahr - das war Ihr viertes Regierungsjahr - nur noch 410 Millionen Euro. Das heißt, sie sind in vier Jahren um 30 Prozent zurückgegangen. Um es noch konkreter zu sagen - ich komme aus einer Mittelstadt in Schleswig-Holstein, aus Rendsburg, 30 000 Einwohner -: ({9}) Uns kostet das zurzeit jedes Jahr 750 000 Euro Gewerbesteuereinnahmen. Das sind die Realitäten vor Ort. Sie sollten sich wieder einmal bei Ihren Kommunen sehen lassen. ({10}) Nun haben Sie im Jahre 2000 gegen unsere Stimmen die Gewerbesteuerumlage von 20 auf 30 Prozent erhöht. Ich muss Sie immer wieder an Ihre Begründung erinnern. Sie haben damals zwei Gründe genannt. Als einen Grund haben Sie genannt, dass Ihre heiß geliebte Steuerreform letztlich zum Ankurbeln der Konjunktur führe. Deshalb sollten sich die Kommunen an den eingeplanten Ausfällen dieser Steuerreform beteiligen. So steht es im Gesetz. ({11}) - Natürlich stimmt das. Vielleicht haben Sie es nicht gelesen. Ich habe es vor der Debatte noch einmal gelesen. Ich sage nur: Was aus der Konjunktur geworden ist, das wissen wir. Sie haben eine zweite Argumentation gebracht. Sie haben damals gesagt: Wir werden die Branchenabschreibungstabellen verändern und dies führt dazu, dass die Kommunen mehr Einnahmen erzielen. Ich sage an dieser Stelle: Gott sei Dank haben Sie sie nicht verändert, denn dann wäre es in der Wirtschaft noch weiter bergab gegangen. Schon heute werden zum Teil Scheingewinne versteuert. Aber damit ist die Geschäftsgrundlage für die damals beschlossene Erhöhung ({12}) weggefallen. Schon von daher sind Sie moralisch verpflichtet, unserem Antrag zuzustimmen. ({13}) Meine Damen und Herren, ich möchte wegen der gesamten Ökonomie, die wir nie vergessen dürfen, noch einmal betonen: Der Kreislauf ist folgender - ich bitte alle Nichtökonomen, besonders auf der linken Seite, zuzuhören -: ({14}) Wenn die Kommunen nicht in der Lage sind, Investitionen in Auftrag zu geben, leiden vor Ort das Handwerk und die mittelständische Wirtschaft. Ich nenne Ihnen eine Zahl aus dem Jahr 2002. Sie stammt nicht von mir, sondern vom Verband der Vereine Creditreform. Es sind im Jahre 2002 38 000 Firmen Pleite gegangen und das hat 600 000 Arbeitsplätze gekostet. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. ({15}) - Unterm Strich ist viel mehr herauszubekommen, Herr Kollege. Das wissen Sie. Aber der Kreislauf der Wirtschaft geht noch weiter. Wenn immer mehr Leute arbeitslos werden, brechen unsere sozialen Systeme zusammen. Das ist ein weiterer Punkt, der zur Betrachtung der Gesamtökonomie gehört. Vor diesem Hintergrund kann ich nur sagen: Wenn Sie sich hierhin stellen und sagen, Sie hätten tolle Pläne für die Gemeindefinanzierung, hilft das den Kommunen heute nicht. Diese Pläne können frühestens ab 1. Januar 2004 in Kraft treten. Bis dahin wird es durch die schwierige Situation der Kommunen aber ein deutliches Stück weiter bergab gehen. Natürlich warten Sie auf Aussagen, wie wir uns eine Gemeindefinanzreform vorstellen. Es gibt noch keine abschließende Entscheidung, aber ich sage sehr deutlich: Ich bin nach wie vor dafür, die Gewerbesteuer abzuschaffen. ({16}) Aber das kann man nur im Rahmen einer Neuordnung der Finanzen insgesamt und nicht isoliert machen. Hier geht es schließlich um einen Brocken von 23 Milliarden Euro. ({17}) Dafür muss es auch einen Ersatz geben, auf den die Kommunen Einfluss haben. Das alles ist klar. Wenn Sie unserem Gesetzentwurf heute zustimmen, bedeutet das, dass die Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland noch in diesem Jahr rund 2,25 Milliarden Euro mehr erhalten. Das wollen die Stadtkämmerer hören. Ich glaube nicht, dass die Ministerpräsidenten am Fernseher sitzen. Nein, es sind die Bürgermeister und die Stadtkämmerer. ({18}) Meine Damen und Herren, das ist zwar noch nicht die Lösung des Problems, aber es ist ein ernst zu nehmender Betrag. Bezogen auf die Legislaturperiode geht es hier um 10 Milliarden Euro mehr für die Kommunen. Deshalb kann ich an die Kommunalpolitiker in der sozialdemokratischen Fraktion nur appellieren, sich dies noch einmal genau zu überlegen; denn eines wissen die Kämmerer auch: Wenn dies heute abgelehnt wird, gäbe es in diesem Jahr keinen zusätzlichen Cent für die Kommunen. Damit liefe der gesamtwirtschaftliche Kreislauf so weiter wie bisher. Die Kommunen könnten keine Investitionen tätigen. Der Verband der Vereine Creditreform sagt, dass in diesem Jahr 42 000 Firmen Pleite gehen. Wir wissen, was das für die Sozialversicherung bedeutet. Deshalb lautet mein dringender Appell: Lösen Sie sich von dem, was Ihnen die Haushaltsabteilung des Finanzministeriums auf den Tisch gelegt hat! Stellen Sie bei Ihrer Abwägung gesamtwirtschaftliche Überlegungen an! Jede Steuererhöhung, die Sie beschließen - dies gilt insbesondere auch für die Mindestbesteuerung von Kapitalgesellschaften -, führt uns letztlich weiter nach unten. ({19}) Ich appelliere an Ihren ökonomischen Sachverstand: Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit wir noch in diesem Jahr etwas für unsere Kommunen leisten! Sie haben es dringend nötig. Die Situation dort ist nicht kritisch, sie ist katastrophal. ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gerne ein paar Äußerungen des Geburtstagskindes - herzlichen Glückwunsch auch von mir - aufgreifen ({0}) und die Widersprüche deutlich machen, die es in Ihrer Argumentation - nicht nur in Ihrer persönlichen, sondern auch in der der Union - gibt. Auf der einen Seite wird gesagt - das ist ja auch richtig -, dass es vielen Kommunen finanziell sehr schlecht geht. ({1}) Das ist in Deutschland regional sehr unterschiedlich. Der Kollege hat darauf hingewiesen, dass es Kommunen mit einem Plus und Kommunen mit einem Minus von 20 bis 30 Prozent gibt. In meinem Landkreis Aschaffenburg hatten wir im sehr schwierigen letzten Jahr zum Beispiel ein Plus von über 40 Prozent. ({2}) In den Städten und Gemeinden in Bayern und auch in anderen Ländern sind die Schwankungsbreiten enorm groß. Das zeigt uns, dass durch das jetzige System, mit dem die Gewerbesteuer veranlagt wird, die Probleme der Kommunen nicht gelöst werden können. Es kann keine solide und berechenbare Grundlage für die kommunalen Haushalte sein. ({3}) Das ist der Grund, das heißt, das jetzige System ist für die heutige Wirtschaftssituation mit international operierenden Unternehmen nicht mehr geeignet, eine vernünftige Einnahmequelle für die Kommunen darzustellen. Das ist das Erste. Sie sagen, dass es unterschiedlich ist; ich gebe Ihnen ja Recht. Danach argumentieren Sie aber sofort, dass man für die Betriebe mehr tun muss. Bezogen auf die Branchentabellen wurde uns zugestanden - wir haben sie damals nicht umgesetzt -, dass es zu keiner Verschlechterung gekommen ist. Ich finde es aus wirtschaftspolitischen Gründen völlig richtig, dass wir damals auf die Verschärfungen verzichtet haben. Sie halten uns vor, wir hätten die Branchentabellen nicht umgesetzt und die Gewerbesteuerumlage erhöht, wodurch es zu einem größeren Problem gekommen sei. Deswegen, um also die Umlage wieder auf den alten Stand zu bringen, müssten wir Ihrem Gesetzentwurf zustimmen. Das geht so nicht auf. Kollegin Andreae hat völlig zu Recht gesagt: Genau dort, wo heute eine vernünftige Einnahmesituation gegeben ist, würde die Umlage, wenn man die Erhöhung zurücknähme, positiv greifen. Dort, wo wenig Geld in der Kasse ist, hätte man auch von der Umlageveränderung nicht so viel. Dieser Zusammenhang muss hier deutlich gemacht werden. Schauen wir uns einmal die Zahlen an. Wenn wir all die Maßnahmen - die alten Abmachungen mit den Kommunen, den Gesetzentwurf und die Branchentabellen - umsetzen würden, müssten die Kommunen im Jahre 2003 auf etwa 400 Millionen Euro verzichten. Die Anhebung der Gewerbesteuerumlage befindet sich rein quantitativ in einem anderen Kontext. Es handelt sich dabei um knapp 3 Milliarden Euro. Wenn ich mir die Anträge zur Senkung der Umlage anschaue, obwohl auch CDU/CSU-geführte Länder - von Schleswig-Holstein bis nach Bayern, wo ich herkomme - dagegen sind, dann frage ich mich schon, wie man das zusammenbringt. Wir wissen, dass etwa zwei Drittel der Umlage in die Länderhaushalte eingestellt werden. Wenn das nicht der Fall wäre, hätten wir quer durch alle Länder verfassungswidrige Haushalte. Wenn die Kommunen den Ländern wirklich so sehr am Herzen liegen und die Probleme dort tatsächlich so groß sind, dann sollten die Länder einmal ehrlich sagen, warum sie die Umlage in ihre Haushalte einstellen und die Mittel nicht an die Kommunen weitergeben. Diese Frage müssen die unionsgeführten Länder beantworten. Es besteht ein eklatanter Widerspruch zwischen dem, was Sie in Ihrem Gesetzentwurf formulieren, und dem, was in den unionsgeführten Ländern gemacht wird. ({4}) Wir werden uns bald sehr intensiv mit der Frage beschäftigen müssen - die Kommission arbeitet und es liegen bereits viele Zwischenberichte vor -, wie es mit den Kommunalfinanzen weitergeht. ({5}) Wir werden nur dann eine gute Entscheidung treffen können, wenn diese von den kommunalen Spitzenverbänden mitgetragen wird. Die kommunalen Spitzenverbände sind der Auffassung, dass man vernünftige Berechnungsgrundlagen braucht, um ein zukunftsfähiges Gesetz auf den Weg zu bringen. Deswegen halten wir mehr davon, uns gemeinsam mit den kommunalen Spitzenverbänden einer positiven Lösung zuzuwenden als durch Aktionismus Hilfe vorzutäuschen, die aber denen, für die sie gedacht ist, am Ende nichts bringt. Abschließend noch eine Bemerkung. Wir können uns selbstverständlich vorstellen, bereits in diesem Jahr die Höhe der Umlage zu prüfen und dies nicht erst im nächsten Jahr zu tun. ({6}) Die Zahlen müssen auf den Tisch kommen, sodass alle Beteiligten wissen, wie das Steueraufkommen in Deutschland verteilt ist. Danke schön. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gisela Piltz.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich nicht mehr weiterweiß, dann gründ‘ ich einen Arbeitskreis. Das habe ich in der Politik schon früh gelernt. ({0}) Nach diesem Motto gründet die Bundesregierung fleißig eine Kommission - wir haben sie jetzt anders genannt nach der nächsten: Hartz-Kommission, Rürup-Kommission und schließlich die Gemeindefinanzreformkommission. ({1}) Die zweite Weisheit der Arbeitskreispolitik lautet, dass Verweisungen in derartige Gremien nicht immer für eine hohe Priorität der Themen sprechen. ({2}) Die Bundesregierung macht schon bei den Kommissionen, deren Name vom Renommee des Vorsitzenden geprägt wird, kaum Anstalten, die dort gefundenen Lösungen eins zu eins umzusetzen. Das haben wir im Parlament kurz vor Weihnachten schmerzlich erleben müssen. ({3}) Aber immerhin: Sozialreform und Arbeitsmarkt sind der Bundesregierung wichtig genug, um sich in der Öffentlichkeit mit den Kommissionen zu schmücken: Hartz, Rürup. Das klingt nach Kompetenz, Schnelligkeit, umfassenden Aufträgen und neuen, innovativen Wegen. Dann aber gibt es noch diese Gemeindefinanzreformkommission. Sie hat keinen prominenten Namen, mit dem sie sich schmücken kann. Ob das auf den Sachverstand der Beteiligten schließen lässt, kann ich nicht beurteilen. Aber es spricht offensichtlich auch nicht gerade für die Besetzung dieser Kommission. Diese Kommission verschiebt eine Sitzung nach der anderen und hat nach fast einem Jahr noch immer kein Ergebnis vorzulegen. Sie braucht, wie jetzt mitgeteilt wurde, sogar noch fast ein halbes Jahr mehr Zeit. Dabei hat sie vorsichtshalber nicht einmal den Auftrag, über die Finanzierung und die Aufgaben der Kommunen umfassend nachzudenken. Die Bundesregierung zeigt aus unserer Sicht deutlich: Das Thema ist ihr einfach nicht wichtig genug. Das ist nach unserer Auffassung eine politische Bankrotterklärung gegenüber den Kommunen. ({4}) Wenn Sie bei der Hartz- und der Rürup-Kommission Druck machen, warum machen Sie das nicht auch in diesem Zusammenhang? Die Gemeindefinanzreform ist ein zentrales Thema für ein funktionierendes Gemeinwesen in diesem Staat. Die Kommunen bilden die Basis unserer Gesellschaft. Sie sind näher am Bürger als alle anderen Ebenen. Sie aber, meine Damen und Herren von der SPD und den Grünen, lassen auch heute wieder die Kommunen im Regen stehen. Sie könnten wenigstens kurzfristig helfen und den dringend benötigten Spielraum zur Verfügung stellen. ({5}) Denn inzwischen stehen die Kommunen gegenüber dem Bund und den Ländern erheblich schlechter da als Anfang 2000, als Sie die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage beschlossen haben. Daher fordern wir die Rücknahme dieser Erhöhung. ({6}) Dass jetzt noch quasi auf Kosten der Kommune Gewinne gemacht werden, halte ich persönlich für eine Frechheit. ({7}) Mit unserer Forderung stehen wir übrigens nicht alleine. Alle kommunalen Spitzenverbände sehen das genauso. Sie jedoch, meine Damen und Herren von der SPD und den Grünen, handeln offensichtlich gegen die Interessen der Kommunen. Aber wie Sie das Ihren Kommunalpolitikern vor Ort beibringen wollen, ist Gott sei Dank Ihr Problem, nicht unseres. ({8}) Was wir heute wollen, ist eine schnelle Hilfe für die Kommunen, die vor allen Dingen deshalb notwendig ist, weil die verfehlte Politik der Bundesregierung die Kommunen erst in diese schwierige Lage gebracht hat. Die Kommunen warten dringend auf eine umfassende Finanzreform. ({9}) Dabei müssen die Einnahmen verlässlich gestaltet werden. Das geht aus unserer Sicht - auch wenn heute das Gegenteil behauptet wurde - nach wie vor nur über die Abschaffung der wettbewerbsfeindlichen Gewerbesteuer. ({10}) Darüber hinaus müssen aber auch die Aufgaben und Ausgaben zwischen den staatlichen Ebenen neu geregelt werden. Ich habe allerdings den Eindruck, dass wir bei dieser Regierung lange darauf warten können. Meine Fraktion wird heute dem Antrag, die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage zurückzunehmen, zustimmen, aber eben nicht, um die Gewerbesteuer zu perpetuieren, sondern um dringend notwendige finanzielle Spielräume für die Kommunen zu schaffen. Denn im Gegensatz zu Ihnen nehmen wir die Sorgen der Kommunen ernst. Vielen Dank. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Ulrich Krüger.

Dr. Hans Ulrich Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003575, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die aktuelle Situation der kommunalen Haushalte ist in der Tat durch steigende Ausgaben im Jugend- und Sozialhilfebereich und durch Einbrüche bei den Steuereinnahmen bei gleichzeitiger Talfahrt der kommunalen Investitionen geprägt. Sparbemühungen der vergangenen Jahre haben - das ist auch einzugestehen - vielfach die vorhandenen Potenziale aufgezehrt und die Handlungsspielräume nahezu auf null verengt. ({0}) Angesichts dieser Situation ist unstreitig nach Lösungen zu suchen, welche das Steueraufkommen von Städten und Gemeinden in ihrer Gesamtheit auf einem Niveau verstetigen, das verantwortungsbewusstes kommunales Handeln auf Dauer gewährleistet. Die Bundesregierung hat daher, wie ich meine, richtig gehandelt, als sie im März des vergangenen Jahres eine Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen unter umfassender Beteiligung von Vertretern kommunaler Spitzenverbände, der Länder, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften eingesetzt hat. Dabei ist mein Vertrauen in Minister Beckstein aus Bayern offenbar größer als das Ihre, Frau Kollegin Piltz. Ich habe jedenfalls keine Zweifel, dass diese Kommission, in der der nordrhein-westfälische Innenminister Fritz Behrens die A-Länder und der Kollege Beckstein die B-Länder vertreten, qualitativ hochwertig mit entsprechendem Sachverstand besetzt ist. ({1}) Es geht in der Tat nicht an - darin sind wir uns schnell einig -, dass in einem Bundesland wie Nordrhein-Westfalen, das eben bereits erwähnt wurde, die Kommunen allein im Kalenderjahr 2001 ein Minus von 550 Millionen Euro Gewerbesteuer verkraften müssen und demgemäß die vom Kollegen Pinkwart erwähnten 105 von 396 Kommunen ein Haushaltssicherungskonzept schreiben müssen. Hier ist nach vernünftigen und auf Dauer tragfähigen Ansätzen zu suchen. Darin liegt eine wichtige Aufgabe für jeden, der es mit der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie ernst meint. Dabei ist allerdings eine umfassende Reform der kommunalen Finanzen notwendig, und zwar eine Reform an Haupt und Gliedern, die auch in die Zukunft weist, statt einer Notreparatur mit untauglichem Werkzeug. Zentraler Punkt aller Reformbemühungen ist und bleibt die modernisierte kommunale Gewerbesteuer. Ihr Hebesatzrecht stärkt die kommunale Finanzautonomie. Gleichzeitig belohnt sie die Kommune mit einer zusätzlichen Einnahme, welche sich ihrer gesamtwirtschaftlichen Verantwortung durch die Bereitstellung von Gewerbeund Industrieflächen stellt. Sämtliche Bestrebungen zur Abschaffung der Gewerbesteuer - meinetwegen zugunsten einer so genannten Bürgersteuer - sind demgegenüber wirtschaftspolitische Selbsttore. ({2}) Welche Kommune würde denn überhaupt noch das im Vergleich zu Bauland wesentlich preiswertere Gewerbeoder Industrieland ausweisen, wenn es ihr, gerade im Speckgürtel größerer Städte, auch möglich wäre, die gut verdienenden Angestellten und Freiberufler in attraktive Wohngebiete zu ziehen und sich über den Anteil an der Einkommensteuer bzw. über die allgemeinen Mittelzuweisungen zu finanzieren? ({3}) Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, im Zweifel darüber sein sollten, fragen Sie bitte die Wirtschaftsförderer Ihrer Region, welches Gewicht die Gewerbesteuerprognosen für viele Städte bei der Ansiedlung großer Unternehmen in der Vergangenheit gehabt haben. Ein Modell, das auf die Abschaffung der Gewerbesteuer zielt, wird daher den ureigenen Interessen von Gewerbe und Industrie zuwiderlaufen. Oder - um ein kleines Zahlenspiel zu wagen, Herr Kollege Pinkwart -: Dann hätten im Jahr 2001 in Nordrhein-Westfalen nicht 105, sondern wahrscheinlich 150 Kommunen ein HSK verfasst. Eine Lösung der kommunalen Einnahmeprobleme kann daher zum einen nur in einer modernisierten Gewerbesteuer liegen, welche insbesondere die Freiberufler und die Selbstständigen einbezieht, wobei diese bekanntermaßen die von ihnen gezahlte Gewerbesteuer in einem pauschalen Verfahren mit der Einkommensteuer verrechnen dürfen. Zum anderen bedarf es auch einer Verbesserung und Verstetigung der Einnahmen durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. Hier, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, liegt es nun allerdings auch an Ihnen und Ihren Kollegen im Bundesrat, dafür zu sorgen, dass die diesbezüglichen Kommunen, Bund und Land stärkenden Aspekte des Steuersubventionsabbaugesetzes möglichst schnell in die Tat umgesetzt werden, ({4}) wenn es Ihnen denn mit der Stärkung der kommunalen Selbstverwaltungshoheit ernst ist. Eines muss nämlich klar sein: Eine Gewerbesteuer als wesentliche kommunale Steuer, welche in den letzten Jahren in der Tat und bedauerlicherweise zu einer Steuer für wenige Großbetriebe mutiert ist, kann für keinen Rat der Stadt die notwendige verlässliche Bemessungsgrundlage darstellen, die der Bürger zu Recht verlangt. Wer es daher mit der Sanierung unserer kommunalen Finanzen ernst meint, der muss diese Dinge auf der Einnahmeseite der Kommune bedenken und insbesondere auch konstruktiv an der Verbesserung der Ausgabeseite mitwirken. ({5}) Das Stichwort, das ich Ihnen hier zurufe, ist beispielsweise die von der Hartz-Kommission empfohlene Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe für Erwerbsfähige. Ich hoffe, dass Sie Ihren eigenen Antrag, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, so verstehen, dass Sie in dieser Kommission unter diesen Aspekten mitwirken wollen, und insofern hoffe ich auf die Einhaltung Ihres diesbezüglich für mich konkludent abgegebenen Versprechens. Angesichts dieser fundamentalen Herausforderungen, welche im Übrigen einen Schlussstrich unter eine nahezu 30-jährige Diskussion ziehen würden, sind - ich muss sagen: leider - sowohl Ihr aktueller Gesetzentwurf wie auch die Vorstellungen der FDP untauglich. ({6}) Die Senkung der Gewerbesteuerumlage würde das vorgezeichnete Grundübel nicht beseitigen, sondern nur diejenigen Kommunen begünstigen - das ist schon erwähnt worden -, welche zurzeit noch über nennenswerte Gewerbesteuereinnahmen verfügen, jedoch diejenigen ins Abseits stellen, denen wegen fast gen null tendierender Einnahmen in Wirklichkeit am stärksten geholfen werden müsste. Damit würde der Unterschied zwischen einer aufkommensstärkeren und einer aufkommensschwachen Kommune und damit das Ungleichgewicht gestärkt, ohne dass das grundsätzliche Problem der Nichtberechenbarkeit kommunaler Steuern auf der Einnahmeseite angegangen worden wäre. Wenn Sie, verehrte Damen und Herren von der Opposition, daher etwas für die Kommunen tun wollen, kann ich Sie nur auffordern, in der Gemeindereformkommission konstruktiv und zum Wohl unserer Kommunen mitzuarbeiten, anstatt Anträge zu stellen, bei denen im Dunkeln verborgen bleibt, woher beispielsweise die von den Ländern allein in diesem Jahr zu tragenden 1,135 Milliarden Euro kommen sollen. Die Bayerische Staatsregierung - sie ist bereits mehrfach erwähnt worden - kann es offenbar nicht sein. Auch kann es offenbar nicht der Ministerpräsident des Landes Hessen sein, der die 140 Millionen Euro aus dem Steuersubventionsabbaugesetz bereits verplanen musste - obwohl er dieses Gesetz bekämpfen möchte -, um seinen Haushalt einigermaßen im Gleichgewicht zu halten. Wo also sollen die zusätzlichen Summen als Anteil der Länder herkommen? Wo sollen da ehrlicherweise Spielräume sein? Sagen Sie es uns, meine Damen und Herren! ({7}) Unterstützen Sie daher bitte mit uns allen diejenigen - wir nehmen das sehr ernst -, die das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen auch in Zukunft als ein starkes und unabhängiges Selbstverwaltungsrecht erleben möchten. Unterstützen Sie die Arbeit der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen. Legen Sie mit uns bitte Wert darauf, dass dort eine nachhaltige und umfassende Modernisierung der Gewerbesteuer geregelt wird. Sorgen Sie mit uns auch für eine effiziente Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und schaffen Sie damit ein verlässliches Korsett für die Kommunen, in dessen Rahmen dann meinetwegen zu irgendeinem Zeitpunkt auch eine Diskussion über die Gewerbesteuerumlage geführt werden kann! Das ist der richtige, der solide, der ehrliche Weg, der letzten Endes uns allen in Form gesicherter industrieller Standorte dienen und der in Form gesicherter kommunaler Investitionen verlässlich sein wird. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Michelbach. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben in Deutschland die finanzpolitische Geisterfahrt einer überforderten Bundesregierung. ({0}) Am Steuer sitzt ein Geisterfahrer namens Hans Eichel, der jedes Gebot der ökonomischen Vernunft missachtet und ein finanzpolitisches Stoppschild nach dem anderen überfährt. Eigentlich hätten es unsere Kommunen verdient, dass der Herr Bundesfinanzminister heute selbst an dieser für die Kommunen wichtigen Entscheidung teilnimmt ({1}) und damit auch dokumentiert, dass ihm die kommunalen Finanzen wichtig sind im Hinblick auf das Gesamtwohl. Seine Fahrt in die falsche Richtung macht sich an verschiedenen Orientierungsfehlern fest: an der wachstumsfeindlichen Erhöhung des Staatsanteils am Volkseinkommen durch immer mehr Steuern und Abgaben, an den unzureichenden Einsparungen auf der Ausgabenseite, an der hohen Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte, an dem Verstoß gegen den Wachstums- und Stabilitätspakt, an der Investitionsvernichtung durch die einseitigen Belastungen der Kommunalfinanzen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wer einen solchen chaotischen Zickzackkurs fährt, wer die Inlandsnachfrage immer weiter verhindert, wer alles immer nur - wie in Ihrem Antrag - auf die Weltwirtschaft schiebt, wer Wachstum vernichtet und gleichzeitig die Verschuldung erhöht, erleidet einen Totalschaden. Er vernichtet die Grundlagen für die Einnahmen der öffentlichen Haushalte, insbesondere der Kommunen, die sich am Ende der Fahnenstange befinden. ({2}) Die Bundesregierung erweist sich geradezu als unfähig, eine moderne und wachstumsorientierte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu entwickeln und letzten Endes auch durchzusetzen. Darunter leiden unsere Bürger, unsere Betriebe und insbesondere unsere Kommunen. Dabei sind wir bereit zu einer konstruktiven Zusammenarbeit zum Wohle der Kommunen und zum Wohle der Wirtschaft. Nicht bereit dagegen sind wir, Ihrer Steuererhöhungspolitik zuzustimmen. ({3}) Notwendig sind eine Förderung der Wachstumskräfte, eine Verbesserung der Investitionschancen bei Wirtschaft und Kommunen, eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte durch Ausgabenreduzierung, gezielte Beschäftigungsanreize am Arbeitsmarkt und eine Verbilligung des Faktors Arbeit durch Senkung der Lohnzusatzkosten auf unter 40 Prozent. Meine Damen und Herren, es muss endlich gehandelt werden. So kann es nicht weitergehen. Sonst ruinieren Sie endgültig unsere wirtschafts-, finanzund sozialpolitischen Fundamente in diesem Land. Deutschland hat 2002 - deshalb ist das, was Sie jetzt diskutieren, besonders verwerflich - die EU-Defizitgrenze von 3 Prozent mit einem unverantwortlichen gesamtstaatlichen Defizit von 3,8 Prozent weit überschritten. Auch im Jahr 2003 wird gegen die Vorgaben des Wachstums- und Stabilitätspakts bei der Defizitquote und auch bei der Gesamtverschuldung deutlich verstoßen werden. Alle anders lautenden Versprechungen des Bundesfinanzministers sind - wie vor den Wahlen - wieder die Unwahrheit und werden wider besseres Wissen gemacht. Die Überschreitung der Defizitobergrenze hat alleine er selbst zu verantworten. ({4}) Das Finanzierungsdefizit des Bundes einschließlich der Sozialversicherungen - hören Sie genau zu - beträgt, bezogen auf die vom Finanzplanungsrat festgelegte Bemessungsgröße von 45 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, rund 4,6 Prozentpunkte. Wie wollen Sie denn auf unter 3 Prozent kommen, wenn Sie selbst ein so schlechtes Beispiel geben? Die Kommunen sollen also nach Ihrem Dafürhalten sparen, während Sie im Bund einen großen Schluck aus der Pulle nehmen. Das ist Ihre Finanzpolitik. So darf es nicht weitergehen. ({5}) Die deutliche Überschreitung durch den Bund ist trotz der finanziellen Verschiebebahnhöfe zulasten der Länder und Kommunen die Hauptursache für das Finanzdesaster. Übrigens, akzeptieren Sie endlich, dass Bayerns Kommunen noch die geringste Verschuldung und die höchste Investitionsquote aufweisen. Wenn Sie die bayerischen Verhältnisse auf Ihre Finanzpolitik übertragen würden, dann ginge es uns allen besser. ({6}) Der Bundesfinanzminister hat es versäumt, in den konjunkturell guten Jahren die notwendigen Konsolidierungsmaßnahmen zu ergreifen und die Wachstumskräfte gezielt zu stärken. Ich kann die Regierungskoalition nur warnen, die angelaufenen Bemühungen in der SPD-Fraktion zur Aufweichung des Wachstums- und Stabilitätspaktes der EU weiter zu verfolgen. Nach dem Verlust Ihrer Glaubwürdigkeit in vielen politischen Bereichen sollten Sie zumindest die Stabilität unserer Währung sowie die finanziellen Fundamente unseres Landes nicht weiter gefährden. Ich bitte Sie: Lassen Sie die Finger vom Wachstums- und Stabilitätspakt! Die von Ihnen beabsichtigte Aufweichung ist eine riesige Gefahr für unser Land, für die Arbeitsplätze, für die Betriebe und für unsere Währung. ({7}) Damit zerstören Sie jegliches Vertrauen in die Zukunft. Wir brauchen eine nationale Kraftanstrengung insbesondere im Bereich der Wirtschafts-, der Finanz- und der Sozialpolitik. Nur so ist die zweifellos vorhandene finanzpolitische Krise zu meistern. Es darf kein zusätzliches Potenzial an Risiken für die öffentlichen Kassen mehr entstehen. Wir brauchen eine wachstumsfördernde Konzeption, klare Signale und zielgenaue Sofortmaßnahmen. Heute haben Sie die Chance, Sofortmaßnahmen zur Stärkung der Kommunen, des Wirtschaftskreislaufs und insbesondere der Investitionsbereitschaft auf den Weg zu bringen. Frau Scheel, nicht prüfen, sondern endlich etwas machen - das ist das Motto, nach dem jetzt gehandelt werden muss. ({8}) Das heißt konkret: Rücknahme der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage als Sofortmaßnahme für die Gesundung der Kommunalfinanzen, Verzicht auf das so genannte Steuervergünstigungsabbaugesetz als vertrauensbildende Maßnahme zur Konjunkturförderung, ein Steuerabbauprogramm als Entlastungssignal für mehr Wachstum, keine Erweiterung und Erhöhung der Gewerbesteuer, sondern eine innovative und wettbewerbsfähige Gemeindefinanzreform. Mit diesen wachstumsfördernden Maßnahmen ließe sich eine finanzpolitische Wende herbeiführen. Ich bitte Sie herzlich: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu, dessen Ziel die Rücknahme der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage ist. Geben Sie unseren Kommunen und unserer Wirtschaft mehr Freiraum für Investitionen sowie für mehr wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Dynamik in unserem Land. ({9}) Legen Sie endlich ein konkretes Konzept für eine Gemeindefinanzreform vor! Das, was Sie im Steuervergünstigungsabbaugesetz festgelegt haben, wird für viele Kommunen insbesondere in den neuen Bundesländern einem Kahlschlag im Bereich der gewerbesteuerlichen Organschaften gleichkommen. Bringen Sie einmal ein Gesamtkonzept auf den Weg. Geben Sie heute Gas für die Kommunalfinanzen und für die wirtschaftliche Verbesserung. Dann machen Sie schnell eine Gemeindefinanzreform aus einem Guss! Dazu werden wir unseren Beitrag leisten. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Barbara Hendricks.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst, Kollege Michelbach: Niemand betreibt die Aufweichung der Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. ({0}) Aber selbstverständlich ist Gegenstand des Stabilitätsund Wachstumspaktes, dass Dinge, die so etwas wie höhere Gewalt sind, ihre Berücksichtigung finden. ({1}) Sollte es zu einer kriegerischen Entwicklung kommen - die Bundesregierung tut alles dafür, das noch zu verhindern; wir haben heute Morgen darüber gesprochen -, werden sich die Europäische Union und auch die G 7 auf diese veränderte Situation ökonomisch einstellen müssen. ({2}) Nichts anderes ist im Gespräch und nichts anderes ist vernünftig. - So viel vorweggeschickt. ({3}) Zu dem Gesetzentwurf, der heute vorliegt, will ich nicht mehr sprechen. Von den Kolleginnen und Kollegen der Grünen und der SPD ist dazu, denke ich, alles gesagt worden, was gesagt werden musste. Ich will jetzt auf das eingehen, was auch hier unter der Hand behauptet worden ist: dass die Kommission gar nicht arbeite und wir gar nicht wüssten, was wir wollten. Die letzte Gemeindefinanzreform ist 1970, vor jetzt rund 33 Jahren, umgesetzt worden. In den 70er-Jahren und zu Beginn der 80er-Jahre - das sage ich nur für die historisch Interessierten - gab es noch keinen Druck für eine Gemeindefinanzreform. In den 80er-Jahren und speziell in den 90er-Jahren entwickelte sich ein solcher Druck. In dieser Zeit trugen Sie 16 Jahre lang die Regierungsverantwortung, von Ende 1982, wie wir uns erinnern, bis Ende 1998. Wir hatten schon bei Übernahme der Regierungsverantwortung in die Koalitionsvereinbarung geschrieben: Wir wollen eine kommunale Finanzreform auf den Weg bringen. - Wir wurden an der zügigen Umsetzung dessen durch Klagen von Südländern gegen den bundesstaatlichen Finanzausgleich gehindert. Wir mussten in der vergangenen Legislaturperiode zunächst das Urteil zum bundesstaatlichen Finanzausgleich, das dann ergangen ist, umsetzen und die Neuregelung des Solidarpakts II zugunsten der neuen Bundesländer auf den Weg bringen. Die Arbeiten an der Gemeindefinanzreform mussten also zurückstehen, weil wir die Urteile des Bundesverfassungsgerichts umsetzen mussten. ({4}) Übrigens haben diese Urteile den klagenden Ländern Hessen, Baden-Württemberg und Bayern alles andere als Recht gegeben; viel Arbeit hat uns das trotzdem gemacht. Wir haben auch den Solidarpakt II mit einer Laufzeit bis 2019 beschlossen, also sehr weitsichtig zugunsten der neuen Bundesländer gehandelt. Eine solch weitsichtige Politik haben Sie - darauf will ich nur einmal hinweisen niemals geleistet. ({5}) Jetzt also zur Gemeindefinanzreform. Im März des vergangenen Jahres hat das Bundeskabinett den Beschluss zur Einsetzung einer Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen gefasst. Die Länderministerrunden, also die Konferenz der Innenminister der Länder, die Konferenz der Finanzminister der Länder und die Konferenz der Arbeits- und Sozialminister der Länder, haben dann etwa zwei Monate gebraucht, um sich unter sich darüber zu verständigen, wer Mitglied der Kommission werden soll. Natürlich muss die Vertretung von A- und B-Ländern, also SPD- und CDU/CSU-regierten, von Flächenländern und Stadtstaaten, von Ost und West ausgewogen sein. Das alles muss natürlich stimmen. Also dauerte es nach der Beschlussfassung durch das Bundeskabinett etwa zwei Monate, bis die Kommission zum ersten Mal tagen konnte. Seither hat die Kommission in der Tat erst zweimal getagt. Jetzt gehen ganz kluge Leute von Ihnen übers Land und sagen: Die arbeiten ja gar nicht. Die tagen ja gar nicht. - In dieser Kommission sitzen, wie Sie wissen, Landesminister, Bundesminister, die Präsidenten von Wirtschaftsverbänden und die Vorsitzenden von Gewerkschaften. Sie wissen sehr wohl, dass dies nicht diejenigen sind, die die Facharbeit zu leisten haben; dies sind diejenigen, die am Schluss die politische Bewertung vornehmen, um dann - das ist einfach so - dem Gesetzgeber eine Empfehlung vorzulegen. Darum arbeiten unterhalb dieser Kommission zwei Arbeitsgruppen. Die eine kümmert sich um die Einnahmeseite, also namentlich um die Gewerbesteuer - die Grundsteuer kommt sicherlich auch noch ins Blickfeld -, und die andere kümmert sich um die Frage: Wie werden wir in Zukunft Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe miteinander verzahnen und welche finanzverfassungsrechtlichen Schlussfolgerungen müssen wir ziehen, wenn die Verantwortung für arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger zum Beispiel nicht mehr bei den Kommunen, sondern bei der Bundesanstalt für Arbeit liegt? Wenn das der Fall wäre, dann müssten finanzverfassungsrechtliche Schlussfolgerungen gezogen werden. Auch das gehört zum Konnexitätsprinzip. Wenn die Erfüllung einer Aufgabe verlagert wird, dann muss an dem entsprechenden Ort das nötige Geld zur Verfügung gestellt werden. Darüber sind wir uns im Prinzip einig. Das Konnexitätsprinzip muss für alle Ebenen des Bundes gelten, jedenfalls wenn man grundsätzliche Lastenverschiebungen vornimmt. Die beiden genannten Arbeitsgruppen arbeiten. Beide Arbeitsgruppen haben Arbeitskreise eingerichtet. Der eine heißt „Quantifizierung“. Dort wird - das deutet der Name schon an - mit mathematischen Modellen gerechnet, und zwar anhand von 200 Modellkommunen, die von den kommunalen Spitzenverbänden vorgeschlagen worden sind. In diesem Arbeitskreis werden also die verschiedenen Systeme durchgerechnet: Welche Änderungen ergeben sich hinsichtlich der Steuereinnahmen der Kommunen und welche Auswirkungen haben das Modell A, das Modell B oder das Modell C auf die Modellkommunen? So lassen sich die Wirkungen der denkbaren Modelle abschätzen. Deshalb: Wenn die FDP vorschlägt, die Gewerbesteuer einfach abzuschaffen - das hat die FDP schon immer vorgeschlagen -, dann macht sie es sich sehr leicht, wie üblich. Auch Mitglieder der CDU haben dies gefordert. Das ist aber nicht die Mehrheitsmeinung, jedenfalls nicht die einvernehmliche Meinung in der CDU. Die CDU weiß doch überhaupt nicht, was sie will. Als Herr Rüttgers aus Nordrhein-Westfalen gefordert hat, die Gewerbesteuer abzuschaffen, wurde er von den Bürgermeistern und Oberbürgermeistern, die der CDU angehören, so kräftig zurückgepfiffen, dass er in den Zügeln gestolpert ist. So ist die Lage. ({6}) - Ja, Sie wollen immer nur, dass wir schnell machen. Ich habe deshalb bewusst darauf hingewiesen, dass die letzte Gemeindefinanzreform vor 33 Jahren stattgefunden hat. Der andere Arbeitskreis trägt den Namen „Administrierbarkeit“. Dort werden die verschiedenen Modelle also im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit in der Verwaltung geprüft. Man geht der Frage nach, ob die einzelnen Modelle in den kommunalen Finanzverwaltungen überhaupt zu handhaben sind. Wenn man eine grundsätzliche Änderung vornimmt, dann muss man sein Vorgehen doch wohl so gründlich vorbereiten müssen. Wir haben nie etwas anderes ver1930 sprochen, als dass wir zum Ende der ersten Hälfte dieses Jahres, also Ende Juni 2003, dem Gesetzgeber eine Empfehlung vorlegen. Die Kommission wird also Vorschläge machen. Ich hoffe, diese Vorschläge werden - in dieser Kommission sitzen auf der Regierungsseite viele Kollegen aus den Ländern - einvernehmlich sein und der Gesetzgeber wird sich diese Vorschläge in groben Zügen zu Eigen machen können. Wenn die Vorbereitungen weiterhin so laufen wie bisher und sich niemand verweigert, dann muss das auch klappen. Wir werden unser Wahlversprechen einhalten: In der ersten Hälfte des Jahres wird die Kommission die Empfehlung erarbeiten und in der zweiten Hälfte des Jahres wird das Gesetzgebungsverfahren durchgeführt; das entsprechend geänderte Gesetz wird zum Januar 2004 in Kraft treten. ({7}) Meinetwegen können Sie ungläubig in den Seilen hängen und denken, wir seien nicht schnell genug. Ich sehe dabei insbesondere zwei junge Kollegen an, die offenbar über eine langjährige Erfahrung mit dem Gesetzgebungsverfahren in diesem Parlament verfügen. ({8}) Sie werden schon noch merken, dass man umfassende Verfahren sorgfältig vorbereiten muss. Wir sind nicht diejenigen, die zum Beispiel die Zahl der Modellkommunen festgelegt haben. Das waren die kommunalen Spitzenverbände, die Wert darauf gelegt haben. Im Übrigen: Die Verfahrensweisen in der gesamten Kommissionsarbeit wurden bisher einvernehmlich beschlossen. Die nächste Bundestagswahl ist erst in drei Jahren und neun Monaten. Ich bin guten Mutes, dass Sie, wenn Sie das begriffen haben, vernünftig werden. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernhard Kaster. ({0})

Bernhard Kaster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit der Gesetzesinitiative der CDU/CSUFraktion und des Bundesrates kann jetzt die Chance genutzt werden, einerseits unseren stark gebeutelten Städten und Gemeinden im Sinne einer Soforthilfe auf gesetzestechnisch einfachem, aber effektiven Wege wieder ein wenig Luft zu verschaffen und andererseits einen dringend notwendigen wirtschaftspolitischen Impuls für Investitionen vor Ort und für die am Boden liegende Baubranche auszulösen. Wer sich dem verweigert, hat die dramatische Lage der kommunalen Haushalte scheinbar immer noch nicht erkannt. Sprechen Sie mit den Bürgermeistern vor Ort. ({0}) Gerade in den letzten Tagen und Wochen beglückt die Regierungskoalition die deutsche Öffentlichkeit mit immer neuen Bekundungen wirtschaftspolitischen Umdenkens, neuen Thesenpapieren und der angeblichen Bereitschaft, sinnvolle Maßnahmen zur Belebung des Arbeitsmarktes auch zusammen mit der Union auf den Weg bringen zu wollen. Wir erwarten hier im Deutschen Bundestag konkrete Taten. ({1}) Mit der Zustimmung zu unserer Gesetzesinitiative hätten Sie heute die Chance, ein Zeichen dafür zu setzen, dass Sie mit den Veränderungen ernst machen und zumindest einen schnellen Beitrag zur Schadensbegrenzung leisten wollen. Die Bürger in unserem Land haben kein Verständnis mehr dafür, wenn Lösungen auf die lange Bank geschoben werden oder wenn wie hier auf die von Ihnen jetzt schon seit fünf Jahren angekündigte Gemeindefinanzreform verwiesen wird. Daran ändern auch die langen Berichte über Arbeitskreise, Kommissionen etc. nichts. Wir wollen hier im Bundestag konkrete Vorschläge sehen. ({2}) Die vorgeschlagene Absenkung der Gewerbesteuerumlage auf das Niveau, das vor der Gesetzesänderung im Jahr 2000 galt, würde der beabsichtigten Reform des Gemeindefinanzsystems überhaupt nicht im Wege stehen. Ganz im Gegenteil: Es wäre ein Zeichen, das angäbe, in welche Richtung die Gemeindefinanzreform entwickelt werden muss. Es muss endlich Schluss damit sein, dass die grundgesetzlich verankerte Mitverantwortung des Bundes für die Gemeindefinanzen so nach Gutsherrenart - das ist mir insbesondere noch einmal bei dem Redebeitrag von Frau Scheel aufgefallen - praktiziert wird, schlichtweg nach dem Motto: Die Letzten beißen die Hunde. Gemeinden und Städte dürfen nicht mehr länger Almosenempfänger der Bundes- oder Länderpolitik sein. ({3}) Meine Damen und Herren, die schlimmste strukturelle Finanzkrise seit Bestehen der Bundesrepublik - so die kommunalen Spitzenverbände - ist längst nicht mehr ein Thema ausschließlich für Bürgermeister, Gemeinderäte oder Kämmerer. Das Thema betrifft die Bürgerinnen und Bürger vor Ort tagtäglich direkt. Betroffen sind die Eltern, die zwischenzeitlich die Schulen ihrer Kinder in Eigenregie renovieren. Betroffen sind die vielen Kulturschaffenden im Ehrenamt oder im Hauptamt, die um die Offenhaltung von Theatern, Bürgerhäusern oder Hallen fürchten müssen. Betroffen sind viele Feuerwehrkameraden, die nur noch mit Mühe veraltete Fahrzeuge instand halten können. Betroffen sind viele soziale Einrichtungen oder Einrichtungen der freiwilligen Jugendarbeit, deren laufende Sach- und Personalkosten nicht mehr finanzierbar sind. Betroffen sind auch viele Beschäftigte, die um ihren Arbeitsplatz bei der Kommune oder einer kommunalen Einrichtung bangen müssen. Das hat im Übrigen auch etwas mit dem Tarifabschluss zu tun, der vor kurzem getroffen wurde. Betroffen sind aber vor allem auch viele Handwerksfirmen insbesondere der Bauwirtschaft, die ganz gravierend unter der stagnierenden Investitionstätigkeit unserer Gemeinden leidet. Im Vergleich zu 1992 sind die kommunalen Investitionen um ein ganzes Drittel eingebrochen. Der Investitionsstau sowohl im Hochbau wie auch im Tiefbau ist dramatisch. Der Investitionsbedarf aller Gemeinden, Städte, Landkreise und Zweckverbände beziffert sich für den Zeitraum von 2000 bis 2009 inzwischen auf 665 Milliarden Euro. Allein im Jahre 2003 wird die Investitionstätigkeit nochmals um 11,8 Prozent zurückgehen. Die heutige Gesetzesinitiative befreit daher unsere Kommunen selbstverständlich nicht von ihren großen Sorgen, die hier geschildert worden sind; sie wäre aber ein wichtiges Signal und könnte vor allem einen wichtigen Investitionsimpuls geben. ({4}) Was bedeuten 2,3 Milliarden Euro mehr in 2003 oder 2,6 Milliarden Euro mehr in 2004 konkret? Für viele große Städte bedeutet dies eine Verbesserung der finanziellen Lage in zweistelliger Millionenhöhe; das ist nachrechenbar. Ich will es aber einmal am Beispiel einer kleinen Stadt verdeutlichen: In der Saar-Mosel-Stadt Konz, in meinem Wahlkreis gelegen, circa 20 000 Einwohner, hätten diese Mehreinnahmen in 2003 und 2004 einen Effekt von jährlich etwa 140 000 bis 160 000 Euro. Für Kommunen in dieser Größenordnung ist das in der derzeitigen Situation eine sehr große Hilfe. ({5}) Mir sind viele Bürgermeister bekannt, die Klage darüber führen, dass manche dringend notwendige und sinnvolle Investition trotz möglicher Mitfinanzierung durch Land, Bund oder europäische Programme daran scheitert, dass die Kommunen nicht mehr in der Lage sind, ihren Eigenanteil von 10 oder 20 Prozent zu erbringen. Das belegt eindeutig, dass die wirtschaftliche Wirkung der Senkung der Gewerbesteuerumlage, der Investitionsimpuls um ein Mehrfaches über den Summen von 2,3 Milliarden oder 2,5 Milliarden Euro läge. Mit der Umlagensenkung würde aber noch eine weitere Wirkung einhergehen: Für sehr viele Städte und Gemeinden mit defizitärem Haushalt - das sind leider Tausende - wäre der 10-prozentige Differenzbetrag, ob 15 000 Euro in einer kleinen Gemeinde, 200 000 bis 500 000 Euro in einer Kleinstadt oder 4, 5 oder 15 Millionen Euro in einer großen Stadt, letztlich die Rettung zum Haushaltsausgleich. Meine Damen und Herren, dramatisch ist nicht nur die Finanzsituation, dramatisch ist letztlich die Aushöhlung der Selbstverwaltung in unserem Land. Welche Gestaltungsspielräume verbleiben unseren Gemeinde- und Stadträten noch? Die Bilanz, die wir heute ziehen müssen, ist eindeutig: Die Selbstverwaltung, die Interessen von Städten und Gemeinden sind bei Rot-Grün im Bund in den denkbar schlechtesten Händen. ({6}) Bei näherem Hinsehen - das betrifft leider auch die Argumentation bezüglich der Gemeindefinanzreform - ist der Hang von Sozialdemokraten zu Zentralismus, Steuerung und Betreuung von oben unverkennbar. Liegt der Grund nicht vielleicht auch darin, dass einer großen Mehrheit der Sozialdemokraten die Selbstverwaltung, die Entscheidungsfreiheit vor Ort letztlich suspekt ist? Diesen Eindruck habe ich bei manchen Debattenbeiträgen. Von der bisher immer wieder angekündigten Gemeindefinanzreform erwarten wir daher leider neues Ungemach. Zudem ist das Thema „Reformierung des Gemeindefinanzsystems“ beim Bundesfinanzminister am denkbar schlechtesten aufgehoben. ({7}) Meine Damen und Herren, die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage im Jahre 2000 war falsch. Die damaligen Begründungen, insbesondere im Hinblick auf die Gewerbesteuerentwicklung, haben sich in der Vergangenheit unbestritten als unrichtig erwiesen. Es mag auch in der Politik verzeihbar sein, wenn eine Fehlentscheidung getroffen wurde; aber es ist unverzeihbar, wenn ein offensichtlicher Fehler nicht korrigiert wird. ({8}) Deshalb: Beenden Sie die Abwärtsspirale unserer Gemeinden und Städte! Geben Sie sich einen Ruck und stimmen Sie der Absenkung der Gewerbesteuerumlage zu! Nicht nur die Bürgermeister, sondern auch die Bürger werden es Ihnen danken. Vielen Dank. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurf eines Gemeindefinanzreformgesetzes. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/384, den Gesetzentwurf abzulehnen. Die Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Ich eröffne die Abstimmung. ({0}) - Offensichtlich ist da irgendetwas unklar. Ich bitte Sie einen Moment um Geduld. Ich sage es noch einmal: Wer den Gesetzentwurf ablehnen will, muss mit Rot stimmen. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, muss mit Blau stimmen. Wer sich enthalten will, muss sich enthalten. Ich habe nicht danach gefragt, ob Sie der Beschlussempfehlung zustimmen oder sie ablehnen wollen, sondern ob Sie den eingebrachten Gesetzentwurf ablehnen oder ihm zustimmen wollen. Das heißt, wer den Gesetzentwurf ablehnen will, muss mit Nein stimmen. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, muss mit Ja stimmen. Dies ist die Vorlage, die ich hier habe, und auch nach Rücksprache das richtige Vorgehen. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Es gibt eine zweite namentliche Abstimmung, aber ich muss erst das Ergebnis der ersten Abstimmung abwarten. Ich kann jedoch die Zeit nutzen, um Ihnen zu erklären, warum wir genau so, wie ich es gesagt habe, richtig abgestimmt haben. Wenn es Anträge gibt, dann wird über die Beschlussempfehlung abgestimmt. Wenn es aber Gesetzesvorlagen gibt, dann wird über die Gesetzesvorlage abgestimmt. Das war das offensichtliche Missverständnis: Es ist kein Antrag, über den es eine Beschlussempfehlung gibt, sondern ein Gesetzentwurf. Die Sitzung ist bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbrochen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt. Abgegebene Stimmen 574. Mit Ja haben gestimmt 274, mit Nein haben gestimmt 300. Es gab keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist damit abgelehnt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 573; davon ja: 274 nein: 299 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Altmaier Dietrich Austermann Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({0}) Veronika Bellmann Otto Bernhardt Dr. Rolf Bietmann Clemens Binninger Renate Blank Peter Bleser Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({1}) Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Helge Braun Monika Brüning Georg Brunnhuber Hartmut Büttner ({2}) Cajus Caesar Manfred Carstens ({3}) Peter H. Carstensen ({4}) Gitta Connemann Leo Dautzenberg Hubert Deittert Albert Deß Vera Dominke Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Rainer Eppelmann Anke Eymer ({5}) Georg Fahrenschon Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({6}) Dirk Fischer ({7}) Axel E. Fischer ({8}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({9}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Hans-Joachim Fuchtel Dr. Peter Gauweiler Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Roland Gewalt Eberhard Gienger Georg Girisch Dr. Reinhard Göhner Tanja Gönner Josef Göppel Dr. Wolfgang Götzer Kurt-Dieter Grill Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Manfred Grund Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg Olav Gutting Holger Haibach Gerda Hasselfeldt Helmut Heiderich Ursula Heinen Siegfried Helias Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Martin Hohmann Joachim Hörster Hubert Hüppe Susanne Jaffke Dr. Peter Jahr Bartholomäus Kalb Irmgard Karwatzki Volker Kauder Siegfried Kauder ({10}) Eckart von Klaeden Jürgen Klimke Julia Klöckner Kristina Köhler ({11}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Rudolf Kraus Michael Kretschmer Günther Krichbaum Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Werner Kuhn ({12}) Dr. Karl A. Lamers ({13}) Barbara Lanzinger Karl-Josef Laumann Vera Lengsfeld Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({14}) Patricia Lips Dr. Michael Luther Dorothee Mantel Erwin Marschewski ({15}) Stephan Mayer ({16}) Cornelia Mayer ({17}) Dr. Martin Mayer ({18}) Dr. Michael Meister Friedrich Merz Laurenz Meyer ({19}) Doris Meyer ({20}) Maria Michalk Klaus Minkel Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Hildegard Müller Stefan Müller ({21}) Bernward Müller ({22}) Bernd Neumann ({23}) Henry Nitzsche Michaela Noll Claudia Nolte Günter Nooke Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Melanie Oßwald Eduard Oswald Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Daniela Raab Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Helmut Rauber Christa Reichard ({24}) Katherina Reiche Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith Dr. Norbert Röttgen Albert Rupprecht ({25}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({26}) Hartmut Schauerte Andreas Scheuer Norbert Schindler Georg Schirmbeck Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({27}) Andreas Schmidt ({28}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer Kurt Segner Marion Seib Heinz Seiffert Bernd Siebert Thomas Silberhorn Jens Spahn Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Andreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({29}) Michael Stübgen Antje Tillmann Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marco Wanderwitz Peter Weiß ({30}) Gerald Weiß ({31}) Ingo Wellenreuther Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({32}) Matthias Wissmann Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Elke Wülfing Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Rainer Brüderle Ernst Burgbacher Helga Daub Dr. Christian Eberl Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Horst Friedrich ({33}) Rainer Funke Hans-Michael Goldmann Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Christel Happach-Kasan ({34}) Klaus Haupt Ulrich Heinrich Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin Harald Leibrecht Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({35}) Eberhard Otto ({36}) Cornelia Pieper Dr. Andreas Pinkwart Dr. Günter Rexrodt Marita Sehn Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk Dr. Claudia Winterstein Nein SPD Dr. Lale Akgün Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr ({37}) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Eckhardt Barthel ({38}) Klaus Barthel ({39}) Sören Bartol Sabine Bätzing Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({40}) Kurt Bodewig Gerd Friedrich Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({41}) Hans-Günter Bruckmann Marco Bülow Ulla Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Büttner ({42}) Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Karl Diller Martin Dörmann Peter Dreßen Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Marga Elser Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({43}) Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Angelika Graf ({44}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Karl Hermann Haack ({45}) Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Michael Hartmann ({46}) Anke Hartnagel Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Gustav Herzog Petra Heß Monika Heubaum Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({47}) Walter Hoffmann ({48}) Iris Hoffmann ({49}) Frank Hofmann ({50}) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Renate Jäger Klaus Werner Jonas Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Ulrich Kelber Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Heinz Köhler Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Anette Kramme Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christian Lange ({51}) Christine Lehder Waltraud Lehn Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({52}) Gabriele Lösekrug-Möller Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Christoph Matschie Markus Meckel Ulrike Mehl Petra-Eveline Merkel Ulrike Merten Ursula Mogg Michael Müller ({53}) Christian Müller ({54}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Volker Neumann ({55}) Dietmar Nietan Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Karin Rehbock-Zureich Wir kommen nun zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gemeindefinanzreformgesetzes, Drucksache 15/109. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/384, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/433 mit dem Titel „Gemeindefinanzen dauerhaft stärken“. Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir setzen die Beratungen fort. Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Hans-Joachim Otto ({56}), Dr. Andreas Pinkwart, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Finanzplatz Frankfurt stärken - Drucksache 15/369 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss Es handelt sich um eine Überweisung im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 15/369 an den Finanzausschuss zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Reinhold Robbe René Röspel Karin Roth ({57}) Michael Roth ({58}) Gerhard Rübenkönig Ortwin Runde Marlene Rupprecht ({59}) Thomas Sauer Anton Schaaf Axel Schäfer ({60}) Gudrun Schaich-Walch Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Otto Schily Horst Schmidbauer ({61}) Ulla Schmidt ({62}) Silvia Schmidt ({63}) Dagmar Schmidt ({64}) Wilhelm Schmidt ({65}) Heinz Schmitt ({66}) Carsten Schneider Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Wilfried Schreck Ottmar Schreiner Gisela Schröter Brigitte Schulte ({67}) Reinhard Schultz ({68}) Swen Schulz ({69}) Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie SonntagWolgast Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Christoph Strässer Rita Streb-Hesse Joachim Stünker Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Hans-Jürgen Uhl Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Ute Vogt ({70}) Dr. Marlies Volkmer Hans Georg Wagner Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Reinhard Weis ({71}) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber ({72}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Jürgen Wieczorek ({73}) Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Brigitte Wimmer ({74}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Waltraud Wolff ({75}) Uta Zapf Dr. Christoph Zöpel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({76}) Volker Beck ({77}) Cornelia Behm Birgitt Bender Matthias Berninger Alexander Bonde Dr. Thea Dückert Jutta Dümpe-Krüger Franziska Eichstädt-Bohlig Hans-Josef Fell Joseph Fischer ({78}) Katrin Dagmar Göring-Eckardt Anja Hajduk Winfried Hermann Antje Hermenau Peter Hettlich Ulrike Höfken Thilo Hoppe Michaele Hustedt Fritz Kuhn Markus Kurth Undine Kurth ({79}) Dr. Reinhard Loske Anna Lührmann Jerzy Montag Winfried Nachtwei Christa Nickels Friedrich Ostendorff Simone Probst Claudia Roth ({80}) Krista Sager Irmingard Schewe-Gerigk Albert Schmidt ({81}) Werner Schulz ({82}) Ursula Sowa Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Hans-Christian Ströbele Jürgen Trittin Marianne Tritz Dr. Antje Vogel-Sperl Dr. Ludger Volmer Josef Philip Winkler Margareta Wolf ({83}) Fraktionslos Dr. Gesine Lötzsch Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14 c auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu de- nen keine Aussprache vorgesehen ist. a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({84}) Sammelübersicht 11 zu Petitionen - Drucksache 15/363 - Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 11 ist mit den Stimmen des ganzen Hau- ses angenommen worden. b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({85}) Sammelübersicht 12 zu Petitionen - Drucksache 15/364 - Wer stimmt dafür ? - Gibt es Gegenstimmen? Enthal- tungen? - Auch Sammelübersicht 12 ist damit einstimmig angenommen worden. c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({86}) Sammelübersicht 13 zu Petitionen - Drucksache 15/365 Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch Sammelübersicht 13 ist damit einstimmig angenommen worden. Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Zukunftsprogramm Bildung und Betreuung für Ganztagsschulen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst für die Bundesregierung Frau Ministerin Edelgard Bulmahn.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Das schlechte Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler bei der internationalen PISA-Vergleichsstudie hat die großen Mängel unseres Schulsystems offenbart. Im letzten Juli habe ich nach Veröffentlichung des PISA-Ländervergleichs an dieser Stelle deutlich gemacht, dass die Mängel so gravierend sind, dass sie eine nationale Antwort erfordern. Deshalb haben wir rasch gehandelt. Mit dem am Montag den Ländern vorgelegten Entwurf einer Verwaltungsvereinbarung haben wir eine der notwendigen Antworten gegeben. Unseren konsequenten Reformprozess werden wir weiterhin fortsetzen. ({0}) Ich habe meine Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern zu einer abschließenden Erörterung der Verwaltungsvereinbarung Anfang März eingeladen. Lassen Sie uns alle gemeinsam an einem Strang ziehen, damit die Vereinbarung schnell unterzeichnet und mit der Umsetzung zügig begonnen werden kann; denn viele Millionen Eltern und viele Lehrerinnen und Lehrer wollen dies. Sie wollen den Kindern und Jugendlichen endlich die Bildungschancen bieten, die diese brauchen. Solche Bildungschancen werden, auch in unserem Land, dringend benötigt. ({1}) Die Bundesregierung wird die Länder mit dem Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ in den kommenden Jahren mit rund 4 Milliarden Euro beim Aufbau von Ganztagsschulen unterstützen. Für dieses Jahr sind bereits 300 Millionen Euro im Haushalt eingestellt. In den kommenden Jahren werden es jeweils 1 Milliarde Euro sein. Im Jahr 2007 sind es 700 Millionen Euro. Meine sehr geehrten Herren und Damen von der Opposition, diese Gelder stehen bereit; denn die Bundesregierung weiß, wo sie ihre Prioritäten setzen muss. ({2}) Die Verantwortung für die Schulbildung haben die Länder nach dem Grundgesetz seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Neu ist, dass der Bund sie bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung mit 4 Milliarden Euro unterstützt. ({3}) Das Milliardenprogramm des Bundes kommt auch den Kommunen zugute. Dadurch können nämlich zusätzliche Aufträge an den Mittelstand vergeben werden, insbesondere an das Handwerk vor Ort. ({4}) Wir haben das Programm ganz bewusst unbürokratisch und transparent gestaltet. Mit der Verwaltungsvereinbarung gewährleisten wir, dass die Länder selber entscheiden können, welche Vorhaben sie fördern. Wir stellen die Verantwortung der Länder und der Schulträger also nicht infrage. Der Ausbau der Ganztagsschulen ist ein wichtiger Schritt, um das deutsche Bildungssystem in zehn Jahren wieder an die Weltspitze zu bringen. Ein wesentlicher Schritt hierzu sind neben der Entwicklung von Bildungsstandards - ich werde gemeinsam mit der Vorsitzenden der KMK noch in diesem Monat eine Expertise vorstellen die regelmäßige Bewertung der Leistungen von Schulen, die Einsetzung eines nationalen Bildungsrates, die Schaffung einer nationalen Bildungsberichterstattung, wie wir sie im Deutschen Bundestag beschlossen haben, sowie die gemeinsame Entwicklung besserer Unterrichtskonzepte und -methoden, wie wir es im Juli letzten Jahres in der Bund-Länder-Kommission vereinbart haben. Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass ein solches Konzept erheblich zur Qualitätsverbesserung der schulischen Bildung beiträgt. ({5}) Nur ein solches Konzept, das gemeinsam von Bund und Ländern, von Lehrerinnen und Lehrern, Schülern und Eltern getragen wird, wird eine grundlegende Veränderung und eine erhebliche Verbesserung unseres Bildungssystems zur Folge haben. Dazu ist es notwendig, dass sich jeder dieser Verantwortung stellt. Niemand darf sich ins Abseits stellen und sich zurückziehen. ({6}) Es muss - das muss ich deutlich sagen - zu einem Umdenken in der Bildungspolitik kommen. Sie darf nicht mehr von der Frage nach Zuständigkeiten geprägt sein. Lassen Sie mich auch ganz klar sagen, dass es ein Skandal ist, dass in Deutschland die soziale Herkunft über die Bildungschancen entscheidet; das gibt es in keinem anderen Land dieser Welt. 32 Staaten haben an der PISA-Vergleichsstudie teilgenommen, aber nur in Deutschland ist die soziale Herkunft der entscheidende Faktor für die Wahrnehmung der Chance auf Bildung, für den Bildungserfolg und damit für den Lebenserfolg. Das ist ein Skandal, dem ein Ende bereitet werden muss. ({7}) Wir wollen, dass jedes Kind mit seinen Begabungen und seinen Schwächen eine Chance erhält. Unser Ziel bleibt es, Chancengleichheit zu verwirklichen, und dafür sind gute Ganztagsschulen notwendig. Davon haben wir in Deutschland mehrere; man muss sie sich nur einmal anschauen. Gute Ganztagsschulen schaffen eine wichtige Voraussetzung für eine intensive, frühe, individuelle Förderung der Kinder und Jugendlichen. ({8}) Genau das ist die Achillesferse in unserem Schulsystem: Wir haben eine mangelhafte, unzureichende individuelle und frühe Förderung. Deshalb setzen wir genau an diesem Punkt an. Wir müssen schon in der Grundschule beginnen. Deshalb ist das Ganztagsschulprogramm kein Programm für die Sekundarstufe II. Wir müssen auch im Kindergarten ansetzen, bei einer besseren Zusammenarbeit zwischen Grundschule und Kindergarten. Denn die Defizite, die in jungen Jahren entstehen, sind meist später nur noch sehr schwer auszugleichen. Hier muss das Motto des finnischen Bildungssystems „Jedes Kind kann es schaffen, vorausgesetzt, wir sind gut genug, es entsprechend zu fördern“ Vorbild sein. Um eines ganz deutlich anzusprechen: Uns geht es mit der Ganztagsschule nicht um Suppenküchen, wie einige immer wieder - ich sage: dümmlicherweise - behaupten. ({9}) Es geht uns auch nicht um ein bisschen Hausaufgabenhilfe, sondern es geht uns darum, dass wir Ganztagsschulen schaffen, die die frühe, individuelle Förderung eines Kindes wirklich zu dem zentralen Punkt ihres pädagogischen Konzepts und ihrer Aufgabe in der Schule machen. Klar ist dabei, dass es nicht das pädagogische Konzept geben kann, das für alle Schulen gilt. Jede Schule muss ihr eigenes Konzept, ihr eigenes Profil entwickeln können, das sich an den Gegebenheiten vor Ort orientieren muss. Deshalb sind wir so dezidiert für eine größere Selbstständigkeit der Schulen. ({10}) Eine Ganztagsschule an einem sozialen Brennpunkt in einer Großstadt wird anders aussehen als eine Ganztagsschule auf dem Land. Wer das nicht begreift, hat seine Schulaufgaben nicht gemacht. Entscheidend für den Bund ist das Vorhaben, durch eine Pädagogik der Vielfalt - das ist das entscheidende Stichwort - die unterschiedlichen Stärken und Begabungen unserer Kinder frühzeitig zu erkennen und auch frühzeitig individuell optimal zu fördern. Das können wir erreichen. Das zeigen uns die besten Schulen in Deutschland, das zeigen uns die vielen Beispiele in anderen Ländern. Das können wir zum Beispiel erreichen durch die Verknüpfung des Unterrichts mit Zusatzangeboten, mit einem Wechsel von stärker freizeitorientierten und stärker unterrichtsorientierten Phasen über Vormittag und Nachmittag hinweg, durch die Lösung des starren 45-Minuten-Takts, die Raum gibt für freien Unterricht und für projektorientierten Unterricht, durch die Einbeziehung von Angeboten der Jugendhilfe, der Musikschulen, der Sportvereine, durch die Kooperation der Schulen vor Ort mit sozialen und kulturellen Einrichtungen, mit Betrieben, durch eine kontinuierliche, intensive Beteiligung von Eltern, Schülern und außerschulischen Partnern an der Schulentwicklung ({11}) und - auch das sollte nicht verschwiegen werden - durch eine deutlich bessere Qualifizierung und Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer, sowohl der zukünftigen als auch der bereits berufstätigen, die sich dabei auch stärker als Team und nicht als bloße Fachlehrer verstehen müssen. Mit dem Startsignal für das Ganztagsschulprogramm leiten wir eine konsequente Bildungsreform für Deutschland ein. Die Reaktionen vor Ort zeigen, dass diese Initiative der richtige Schritt ist. Wir haben schon zahlreiche Anfragen von Schulträgern vor Ort erhalten. Ich sage das auch deshalb ausdrücklich, weil dies mit dem Vorurteil aufräumt, unsere Schulleitungen, die Lehrerinnen und Lehrer würden das Angebot, das sie jetzt erhalten, nicht offensiv und kreativ aufgreifen. Sie tun es und wir müssen ihnen jetzt auch die Möglichkeit dazu geben. Eine kurze Anmerkung noch an die Opposition: Angesichts dieser großen Aufgabe, vor der wir stehen, brauchen wir eine neue Kultur der Zusammenarbeit, eine Kultur der Zusammenarbeit, wie wir sie im Forum Bildung hatten. Ich wünsche mir, dass auch die Opposition nicht vergisst, was wir vor knapp einem Jahr im Forum Bildung gemeinsam beschlossen haben - gemeinsam mit drei CDULandesministerinnen und -ministern, Annette Schavan, Hans Joachim Meyer und Hans Zehetmair -, dass nämlich Ganztagsschulen eine erhebliche und wichtige Voraussetzung dafür sind, dass Kinder besser und individuell gefördert werden. Ich denke, es gehört auch zur Bildung, dass man von der Arbeit und den Erkenntnissen anderer Kenntnis nimmt und sie berücksichtigt. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/ Die Grünen „Gemeindefinanzen dauerhaft stärken“ bekannt. Abgegebene Stimmen 574. Mit Ja haben gestimmt 298, mit Nein haben gestimmt 276, Enthaltungen keine. Der Antrag ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 573; davon ja: 297 nein: 276 Ja SPD Dr. Lale Akgün Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr ({0}) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Eckhardt Barthel ({1}) Klaus Barthel ({2}) Sören Bartol Sabine Bätzing Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({3}) Kurt Bodewig Gerd Friedrich Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({4}) Hans-Günter Bruckmann Marco Bülow Ulla Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Büttner ({5}) Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Karl Diller Martin Dörmann Peter Dreßen Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Marga Elser Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({6}) Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Angelika Graf ({7}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Karl Hermann Haack ({8}) Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Michael Hartmann ({9}) Anke Hartnagel Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Gustav Herzog Petra Heß Monika Heubaum Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({10}) Walter Hoffmann ({11}) Iris Hoffmann ({12}) Frank Hofmann ({13}) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Renate Jäger Klaus Werner Jonas Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Ulrich Kelber Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Heinz Köhler Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Anette Kramme Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christian Lange ({14}) Christine Lehder Waltraud Lehn Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({15}) Gabriele Lösekrug-Möller Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Christoph Matschie Markus Meckel Ulrike Mehl Petra-Evelyne Merkel Ulrike Merten Ursula Mogg Michael Müller ({16}) Christian Müller ({17}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Volker Neumann ({18}) Dietmar Nietan Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Karin Rehbock-Zureich Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Reinhold Robbe René Röspel Karin Roth ({19}) Michael Roth ({20}) Gerhard Rübenkönig Ortwin Runde Marlene Rupprecht ({21}) Thomas Sauer Anton Schaaf Axel Schäfer ({22}) Gudrun Schaich-Walch Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Otto Schily Horst Schmidbauer ({23}) Ulla Schmidt ({24}) Dagmar Schmidt ({25}) Wilhelm Schmidt ({26}) Heinz Schmitt ({27}) Carsten Schneider Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Wilfried Schreck Ottmar Schreiner Gisela Schröter Brigitte Schulte ({28}) Reinhard Schultz ({29}) Swen Schulz ({30}) Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie SonntagWolgast Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Christoph Strässer Rita Streb-Hesse Joachim Stünker Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Hans-Jürgen Uhl Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Ute Vogt ({31}) Dr. Marlies Volkmer Hans Georg Wagner Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Reinhard Weis ({32}) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber ({33}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Jürgen Wieczorek ({34}) Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Brigitte Wimmer ({35}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Waltraud Wolff ({36}) Uta Zapf Dr. Christoph Zöpel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({37}) Volker Beck ({38}) Cornelia Behm Birgitt Bender Matthias Berninger Alexander Bonde Dr. Thea Dückert Jutta Dümpe-Krüger Franziska Eichstädt-Bohlig Hans-Josef Fell Joseph Fischer ({39}) Katrin Dagmar Göring-Eckardt Anja Hajduk Winfried Hermann Antje Hermenau Peter Hettlich Ulrike Höfken Thilo Hoppe Michaele Hustedt Fritz Kuhn Markus Kurth Undine Kurth ({40}) Dr. Reinhard Loske Anna Lührmann Jerzy Montag Winfried Nachtwei Christa Nickels Friedrich Ostendorff Simone Probst Claudia Roth ({41}) Krista Sager Irmingard Schewe-Gerigk Werner Schulz ({42}) Ursula Sowa Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Hans-Christian Ströbele Jürgen Trittin Marianne Tritz Dr. Antje Vogel-Sperl Dr. Ludger Volmer Josef Philip Winkler Margareta Wolf ({43}) FDP Nein CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Altmaier Dietrich Austermann Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({44}) Veronika Bellmann Otto Bernhardt Dr. Rolf Bietmann Clemens Binninger Renate Blank Peter Bleser Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({45}) Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Helge Braun Monika Brüning Georg Brunnhuber Hartmut Büttner ({46}) Cajus Caesar Manfred Carstens ({47}) Peter H. Carstensen ({48}) Gitta Connemann Leo Dautzenberg Hubert Deittert Albert Deß Vera Dominke Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Rainer Eppelmann Anke Eymer ({49}) Georg Fahrenschon Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({50}) Dirk Fischer ({51}) Axel E. Fischer ({52}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({53}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Hans-Joachim Fuchtel Dr. Peter Gauweiler Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Roland Gewalt Eberhard Gienger Georg Girisch Dr. Reinhard Göhner Tanja Gönner Josef Göppel Dr. Wolfgang Götzer Kurt-Dieter Grill Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Manfred Grund Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg Olav Gutting Holger Haibach Gerda Hasselfeldt Helmut Heiderich Ursula Heinen Siegfried Helias Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Martin Hohmann Joachim Hörster Hubert Hüppe Susanne Jaffke Dr. Peter Jahr Bartholomäus Kalb Irmgard Karwatzki Volker Kauder Siegfried Kauder ({54}) Eckart von Klaeden Jürgen Klimke Julia Klöckner Kristina Köhler ({55}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Rudolf Kraus Michael Kretschmer Günther Krichbaum Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Werner Kuhn ({56}) Dr. Karl A. Lamers ({57}) Barbara Lanzinger Karl-Josef Laumann Vera Lengsfeld Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({58}) Patricia Lips Dr. Michael Luther Dorothee Mantel Erwin Marschewski ({59}) Stephan Mayer ({60}) Conny Mayer ({61}) Dr. Martin Mayer ({62}) Dr. Michael Meister Friedrich Merz Laurenz Meyer ({63}) Doris Meyer ({64}) Maria Michalk Klaus Minkel Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Hildegard Müller Stefan Müller ({65}) Bernward Müller ({66}) Bernd Neumann ({67}) Henry Nitzsche Michaela Noll Claudia Nolte Günter Nooke Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Nächster Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Uwe Schummer, CDU/CSU-Fraktion. ({68})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Damen! Werte Herren! 4 Milliarden Euro für 10 000 neue Ganztagsschulen - das war eine Antwort auf den grottenschlechten Vergleich, den wir mit der PISA-Studie vorgelegt bekommen haben. ({0}) Sie müssen Folgendes bedenken: Wenn ich morgens einen schlechten Film sehe, wird er nicht dadurch besser, dass ich ihn nachmittags noch einmal laufen lasse. Es geht nicht nur darum, die Zeit zu verlängern, sondern es geht auch darum, mehr Qualität in die Bildung hineinzubringen. Masse ist nicht gleich Klasse. ({1}) Deshalb müssen wir auch fragen, wofür die Gelder mobilisiert werden. Hierzu gibt es auch in der PISA-Studie sehr differenzierte Ergebnisse. Wenn beispielsweise ein Schüler in Bayern aufgrund der Stundentafel und nicht so vieler Unterrichtsausfälle wie in Nordrhein-Westfalen nach Beendigung der allgemeinen Schulausbildung insgesamt ein Jahr länger Unterricht hatte als ein Schüler in Nordrhein-Westfalen, dann ist dies ein Bildungsvorteil, der allein dadurch erreicht wird, dass dort eine Unterrichtsgarantie gegeben und auch eingehalten wird. ({2}) Der Schlüssel liegt natürlich in den Ländern und hier muss mehr Personal eingestellt werden. Frau Bulmahn, am 10. Februar sagten Sie in der „Berliner Zeitung“: Die neuen Ganztagsschulen sollen zum Ort für eine neue Pädagogik werden, der Raum und Zeit für eine intensive individuelle Förderung bietet. ({3}) Sie geben 4 Milliarden Euro und wollen aus gutem Grund - denken Sie an die Länderkompetenz - kein eigenes Konzept mitliefern. Am Ende erwarten Sie aber die wunderbare Offenbarung einer völlig neuen Pädagogik zwischen Raum und Zeit. Ich glaube, dass hier ein Programm vorgelegt wird, das dem Anspruch, den Sie öffentlich einfordern, überhaupt nicht gerecht werden kann. ({4}) Sie kennen sich ja in Niedersachsen hervorragend aus. Ich empfehle Ihnen: Schauen Sie sich den neuen Film in Melanie Oßwald Eduard Oswald Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Daniela Raab Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Christa Reichard ({5}) Katherina Reiche Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith Dr. Norbert Röttgen Volker Rühe Albert Rupprecht ({6}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({7}) Hartmut Schauerte Andreas Scheuer Norbert Schindler Georg Schirmbeck Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({8}) Andreas Schmidt ({9}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer Kurt Segner Marion Seib Heinz Seiffert Bernd Siebert Thomas Silberhorn Jens Spahn Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Andreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({10}) Michael Stübgen Antje Tillmann Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marco Wanderwitz Peter Weiß ({11}) Gerald Weiß ({12}) Ingo Wellenreuther Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({13}) Matthias Wissmann Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Elke Wülfing Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Rainer Brüderle Ernst Burgbacher Helga Daub Dr. Christian Eberl Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Horst Friedrich ({14}) Rainer Funke Hans-Michael Goldmann Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Christel Happach-Kasan ({15}) Klaus Haupt Ulrich Heinrich Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin Harald Leibrecht Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({16}) Eberhard Otto ({17}) Cornelia Pieper Dr. Andreas Pinkwart Dr. Günter Rexrodt Marita Sehn Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk Dr. Claudia Winterstein Fraktionslos Dr. Gesine Lötzsch Niedersachsen an. Er zeigt, wie Christian Wulff das aufarbeiten wird, was Frau Bulmahn in Hannover hinterlassen hat. ({18}) Wir lesen heute in der Verwaltungsvereinbarung von einem Haushaltsvorbehalt. Davon war im Wahlkampf überhaupt keine Rede. ({19}) Wenn Sie diesem Programm eine echte Priorität eingeräumt und eine fünfjährige Finanzierungsgarantie gegeben hätten, dann wäre das eingetreten, was Sie im Wahlkampf großspurig versprochen haben. Länder und Kommunen sollten sich zumindest auf Ihre Zusagen verlassen können. ({20}) Es ging Ihnen um Stimmungs- und Stimmengewinn, große Zahlen, ein bombastisches Nebelprogramm und eine beschränkte Haftung für das, was Sie am Ende zahlen werden. Die Rechnung kommt später. Ihre dazugehörige Devise lautet: linke Tasche, rechte Tasche. Zulasten der Kommunen und zugunsten des Bundes haben Sie noch zum 1. Januar 2003 die Gewerbesteuerumlage auf 30 Prozent erhöht. ({21}) - Das haben Sie getan. - Sie wissen, dass in NordrheinWestfalen 70 Prozent der Städte und Gemeinden schon heute nicht mehr in der Lage sind, einen ausgeglichenen Haushalt zu verabschieden. Nun fordern Sie in Ihrer Verwaltungsvereinbarung auch noch eine Kofinanzierung. ({22}) Länder und Kommunen haben ohnehin den Löwenanteil der Kosten für die Ganztagsschulen zu bezahlen. ({23}) - Ich weiß nicht, warum Sie immer dazwischenschreien. Wenn Sie sich die Argumente gelassen anhören, haben Sie die Möglichkeit, anschließend in Ihren Reden dagegenzuhalten. Offenkundig tut Ihnen die Wahrheit weh. Deshalb schreien Sie. ({24}) Der Löwenanteil der Kosten für die Ganztagsschulen liegt bei den Betriebs- und Personalkosten. Diese müssen von den Ländern und den Kommunen aufgebracht werden. Hier haben Sie eine automatische Bremse eingebaut. Sobald eine Kommune die Förderung beschließt, kommt die Kofinanzierung hinzu und damit das Aus. Der Antrag landet in der Schublade. Die maroden Finanzen der Kommunen sind kein mystisches Ereignis. Sie sind das Ergebnis auch Ihrer Politik. Darüber haben wir in den letzten zwei Stunden miteinander diskutiert. Allein Ihre Erhöhung der Gewerbesteuerumlage kostet die Kommunen jährlich 2 Milliarden Euro. Das Geld landet bei Eichel. Das sind innerhalb von fünf Jahren 10 Milliarden Euro. Im gleichen Zeitraum geben Sie zweckgebunden über Kofinanzierung 4 Milliarden Euro für die Förderung von Ganztagsschulen zurück. Nachts rauben Sie den Kommunen eine Kuh. Am nächsten Morgen bringen Sie unter großem Trommelwirbel ein Glas Milch. Dafür wollen Sie Beifall. ({25}) Für einen Zeitraum von fünf Jahren stellen Sie für ein Bauprogramm mit Innenausstattung 4 Milliarden Euro zur Verfügung. Dabei stehen die Räume in den Schulen nachmittags ohnehin zur Verfügung. Wichtiger wären die Förderung inhaltlicher Konzepte und die Neueinstellung von Lehrern gewesen. Voraussetzung dazu wäre ein fairer Lastenausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, dem Sie sich bis heute verweigern. ({26}) Ich möchte Ihnen folgenden Vorschlag machen. Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, wie das Geld bedarfsgerecht, mit Wahlfreiheit und im Interesse der jungen Menschen für eine Nachmittagsbetreuung in den Schulen eingesetzt werden kann. Lassen Sie uns gemeinsam auch die kleinen Einheiten fördern, vorneweg die Familien, die Nachbarschaften und die kleinen Netzwerke. ({27}) Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, wie wir neben dem heutigen Bau- und Ausstattungsprogramm eine wirkliche Offensive für eine kindgerechte Gesellschaft starten können.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie müssen auf Ihre Redezeit achten.

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir sind dazu bereit. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Schummer, dies war Ihre erste Rede in diesem Hause. Unsere herzliche Gratulation und Ihnen politisch und persönlich alles Gute. ({0}) Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Grietje Bettin, Bündnis 90/Die Grünen.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal ein Satz vorweg zur CDU/CSU. Ich bin sehr gespannt, ob die CDU/CSU-regierten Länder am Ende das Geld nehmen werden oder nicht. Wenn man Sie so reden hört, dann hat man die Erwartung, dass daraus auch Konsequenzen folgen müssten. Schauen wir mal. ({0}) Nun aber zu den Inhalten. Es gibt in den letzten Jahren zum Glück einen wachsenden Konsens über die Notwendigkeit eines qualifizierten flächendeckenden Ganztagsangebots an Schulen in Deutschland, und zwar nicht nur aus sozialpolitischen Gründen. Frau Ministerin Bulmahn hat dazu schon einiges gesagt. Schule nur am Vormittag - mit diesem Modell hat sich Deutschland international weitgehend isoliert. Kaum ein anderes Land setzt seine Schüler schon mittags vor die Tür. Die Folge: Das deutsche Schulsystem ist trotz aller Reformversuche der 70er-Jahre de facto immer noch ein ständisches Schulsystem. In Deutschland ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg so groß wie in keinem anderen Land. Wir sind laut PISAStudie Weltmeister der sozialen Ausgrenzung. Dies ist der traurige Befund der Studie. Begabung, Leistungsvermögen und Leistungsbereitschaft sind für den Schulerfolg - so die bittere Erkenntnis - leider nur zweitrangig. Ein Viertel aller 15-Jährigen in Deutschland können nicht richtig lesen oder schreiben. Davon entfällt ein wesentlicher Anteil auf Kinder von Migrantinnen und Migranten. Diesen Zusammenhang aufzulösen, das ist die dringendste bildungspolitische Herausforderung. ({1}) Es ist nicht hinzunehmen, dass am Beginn des 21. Jahrhunderts die Schullaufbahn eines Kindes nahezu genauso sehr vom Geldbeutel und von der sozialen Schicht der Eltern abhängt wie am Ende des 19. Jahrhunderts. ({2}) Länder, die in der PISA-Studie gut abgeschnitten haben, bieten meist gute etablierte Ganztagsangebote der Schulen. Besonders deshalb werden die Ganztagsangebote als eine Chance wahrgenommen, die unselige Verkettung von sozialer Herkunft und Schulerfolg zu durchbrechen und den deutschen Sonderweg der Halbtagsschule ein Stück weit aufzugeben. Das Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ der rot-grünen Bundesregierung leistet eine wirksame strukturelle Hilfe zum Aufbau und Ausbau von Ganztagsangeboten in den Ländern. Diese Hilfe umzusetzen liegt allerdings in der Pflicht und Verantwortung der Länder. Der Entwurf der Verwaltungsvereinbarung formuliert keinerlei qualitative Anforderungen. Das ist auch gut so. Die Gestaltungskompetenz liegt nun bei den Ländern. Vor allem aber müssen Schulen ihr pädagogisches Konzept autonom auf die Bedürfnisse und Notwendigkeiten vor Ort abstimmen können. Ein enges Korsett an Vorgaben wäre sehr kontraproduktiv. ({3}) - Nein. - Die Länder sind daher aufgefordert, die Richtlinie für die Vergabe der Mittel inhaltlich möglichst offen zu gestalten. Das Investitionsprogramm bietet die große Chance, pädagogische Vielfalt zu fördern. Erst pädagogische Vielfalt und eine Profilbildung der Schulen erlauben pädagogischen Wettbewerb unter verschiedenen Systemen. Die gestalterische Autonomie darf aber nicht missverstanden werden. Schule mit angehängter Nachmittagsverwahrung ist mit Bündnis 90/Die Grünen nicht zu machen. Darüber herrscht in diesem Hause sicherlich Einigkeit. ({4}) Die Vorlage eines plausiblen pädagogischen Konzepts, das die Vormittags- und Nachmittagsbetreuung sinnvoll aufeinander abstimmt, muss eine unabdingbare Voraussetzung sein, wenn man Mittel aus dem Programm erhalten will. Auch deshalb ist es selbstverständlich und unerlässlich, die Verwendung der Mittel einer effektiven, wissenschaftlich begleiteten Qualitätskontrolle zu unterziehen. Sowohl die Schulen als auch die Länder müssen sich letztendlich am Erfolg der von ihnen durchgeführten Maßnahmen messen lassen. Dafür scheint mir die Einrichtung einer unabhängigen länderübergreifenden und wissenschaftlich arbeitenden Zentralstelle für schulische Evaluation sinnvoll. Sie könnte allgemeine Eckpunkte zur Evaluation entwickeln und anwenden und die Schulen und die Bildungspolitik beratend begleiten. Insgesamt sind die Kriterien im Entwurf der Verwaltungsvereinbarung erfreulich weit gefasst. Nicht nur Baumaßnahmen wie die berühmte Suppenküche, sondern auch Sachmittel wie Computer und deren Pflege und Wartung können finanziert werden. Wir als Grüne fordern hierbei länderübergreifend, dass alle Schulen und Schularten in das Programm einbezogen werden. Grundschulen sollen ebenso auf die Mittel zugreifen können wie Schulen in freier Trägerschaft. Besondere Berücksichtigung müssen dabei Schulen in Ballungsräumen erfahren. Dort ist der Bedarf an ganztägigen Angeboten sowohl in bildungs- als auch in sozialpolitischer Hinsicht am größten. Das hat nicht nur PISA allzu deutlich gezeigt. Wer nun allerdings meint, Ganztagsschulen seien die Lösung all dieser Probleme, hat die Komplexität der Situation nicht verstanden. Die Folgestudie der UNICEF zu PISA hat deutlich gezeigt, dass das gegliederte Schulsystem mit seinem Anspruch, Kinder nach ihrer Leistungsfähigkeit zu sortieren, völlig gescheitert ist. Vielmehr ist die Heterogenität auch in Deutschland alltägliche schulische Wirklichkeit. Ich sehe, dass die Uhr schon blinkt. - Es ist mir wichtig festzuhalten, dass sich die Bundesregierung erfreulicherweise hat in die Pflicht nehmen lassen. Sie trägt aktiv zur Verbesserung der Situation in den deutschen Schulen bei. Die Länderhoheit in Sachen Kultur bleibt mit diesem Investitionsprogramm unangetastet. Die Länderpolitiker sind nun gefordert, diese Schritte entschlossen zu gehen. Wir werden den Prozess weiterhin aktiv begleiten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Christoph Hartmann, FDP-Fraktion.

Christoph Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003548, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Anstrengungen der Regierung bei der Einführung der Ganztagsschulen neuen Typs begrüßen wir durchaus. ({0}) Wir sagen Ihnen aber auch, warum die Umsetzung in der jetzigen Form nicht zustimmungsfähig ist. ({1}) Wir lehnen das von Rot-Grün vorgelegte Konzept aus folgenden Gründen ab: Wir Liberale wollen nämlich, dass Frauen und Männer mit ihren Familien generell mehr Freiheit bekommen, ihren eigenen Lebensentwurf mit Beruf und Familie besser vereinbaren zu können. ({2}) Deshalb brauchen wir die Ganztagsschule als Betreuungsangebot an Eltern und Kinder. Allerdings muss die Ganztagsschule ein freiwilliges Angebot bleiben. ({3}) Denn nicht für alle Kinder und Eltern ist die Ganztagsschule die geeignete Betreuungsform. Deshalb muss die Ganztagsschule im gleichberechtigten Wettbewerb mit anderen Bildungsträgern stehen. ({4}) Dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierung, sich allerdings hier hinstellen und sich feiern, ist - vorsichtig formuliert ({5}) mutig. ({6}) Dafür gibt es mehrere Gründe. Frau Ministerin, Sie haben zu einer guten Zusammenarbeit aller Fraktionen aufgerufen. Ich begrüße das. Aber ich muss Ihnen sagen: Fangen Sie als Erstes an, vor Ihrem eigenen Haus zu kehren. Denn die Informationspolitik der Bundesregierung ist katastrophal. ({7}) Ab Freitag lag die Verwaltungsvereinbarung den Medien vor. Ab Montag konnten wir dies in verschiedenen Zeitungen lesen. Wir selbst wollten am Montag diese Vereinbarung von Ihrem Haus bekommen. Ihr Haus sah sich nicht dazu in der Lage, sie herauszugeben. ({8}) Wir haben sie dann von den Medien zugespielt bekommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Art des Umgangs mit dem Parlament ist - vorsichtig formuliert - eine Zumutung durch Sie, sehr verehrte Frau Ministerin. ({9}) Neben der Informationspolitik sind einige inhaltliche Probleme der Verwaltungsvereinbarung zu nennen. Die größte Schwachstelle ist die Finanzierung. Dass Bundesländer keinen verfassungsgemäßen Haushalt vorlegen, ist heute an der Tagesordnung. Die Finanzlage der Kommunen ist prekär. Auf Länder und Kommunen kommen aber aufgrund der hier in Rede stehenden Verwaltungsvereinbarung immense Kosten zu. Das ist zum einen der zehnprozentige Eigenanteil an den Gesamtinvestitionen, das sind zum anderen aber auch die Folgekosten nach Auslaufen des Programms und es sind vor allem die notwendigen Personalkosten, die von den Ländern zu tragen sind. Wie sollen die gebeutelten Kommunen und Länder diese Zusatzbelastung tragen? ({10}) - Ich komme gleich dazu, Herr Kollege. Ihr Programm können sich nur die reichen Länder und Kommunen leisten. ({11}) Der zweite Punkt betrifft das pädagogische Konzept. ({12}) Sie sagen, es muss ein pädagogisches Konzept geben, von dem Sie die Zuschüsse abhängig machen. Sie sagen aber mit keinem Wort, wie dieses pädagogische Konzept aussehen soll. Genau deswegen ist das Wort „pädagogisches Konzept“ eine Worthülse und nur weiße Salbe für die Öffentlichkeit. ({13}) Die beschriebenen Probleme haben Sie sich selbst zuzuschreiben. Herr Kollege, es ist eben falsch, was der Staatssekretär gestern im Ausschuss behauptet hat, nämlich dass der Bund generell keine Möglichkeit habe, Personalstellen im Bildungswesen zu finanzieren. Das liegt nur daran, dass Sie sich des Art. 104 a Grundgesetz bedienen wollen, womit Sie sich selbst Handschellen angelegt haben. Sie könnten diese abstreifen, indem Sie diese 4 Milliarden in ein Programm für komplett finanzierte Modellvorhaben umwidmen, wie die FDP es Ihnen vorschlägt. So könnten Sie auch die Folge- und die Personalkosten bezahlen. ({14}) Christoph Hartmann ({15}) Sie könnten ein passgenaues pädagogisches Konzept entwickeln, das mit Kindern und Eltern abgestimmt ist. ({16}) Sämtliche Bundesländer, auch die ärmeren, könnten von Ihrem Programm profitieren. ({17}) Die Umsetzung wäre auch problemlos, wenn Sie eben nicht auf Art. 104 a Grundgesetz abstellen, sondern die von Ihnen im Koalitionsvertrag angekündigte Bundesstiftung Bildung mit den entsprechenden Geldern ausstatten, um so die Modellvorhaben zu finanzieren. ({18}) Frau Ministerin, ich fordere Sie auf: Retten Sie Ihr Programm, investieren Sie auch in Personal. Bildung findet in erster Linie durch Menschen statt und nicht nur durch Ausrüstung. So wären Ihre 4 Milliarden Euro wirklich sinnvoll investiert, nämlich in die Zukunft von Bildung und Betreuung in diesem Land. Vielen Dank. ({19})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Berg, SPDFraktion. ({0})

Ute Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hartmann, Sie fingen so hoffnungsvoll an, aber leider hatten Sie dann doch nicht die Kraft, Ihre Polemik im Interesse der Sache zurückzudrängen. ({0}) Politik hat für mich und für uns da ihre Berechtigung und ihre große Aufgabe, wo sie die Lebenssituation der Menschen aufgreift und dort den Hebel für positive Veränderungen ansetzt. ({1}) Gerade am Beispiel Bildungspolitik und speziell an den Ganztagsschulen kann man verdeutlichen, dass die Bundesregierung, dass wir genau so handeln. Ein kurzer Rückblick. Was war die Auslangslage? Wo setzt unser 4-Milliarden-Projekt für Ganztagsschulen an? Unser Bildungssystem stand auf dem Prüfstand und bekam im internationalen Vergleich schlechte Noten. Die PISA-Studie sorgte dafür, dass diese für uns als Nation so bedrückende Tatsache öffentlichkeitswirksam und breit diskutiert wurde. Darüber, dass das Thema Bildung nun in den Fokus des öffentlichen Interesses geraten ist, können wir Bildungspolitikerinnen und -politiker natürlich froh sein. Wichtig ist aber, dass wir nicht bei der Analyse des Problems stehen bleiben, sondern Maßnahmen ergreifen, die uns aus der Misere herausbringen. ({2}) Eine dieser Maßnahmen - nicht das Allheilmittel; das ist ganz wichtig -, eine Antwort auf die von PISA benannten Probleme der schulischen Bildung ist die Ganztagsschule. Gerade sie bietet den Raum und die Zeit, Schülerinnen und Schüler entsprechend ihren Begabungen, und zwar die Guten und die Starken ebenso wie die Schwachen, individuell zu fördern. ({3}) - Genau. - Als Ort des Lernens und Lebens bietet sie Institutionen und Vereinen in ihrem Umfeld an, dass sie sich einbinden können. Trotz knappster Kassen hat die Bundesregierung den Bundesländern für den Zeitraum von 2003 bis 2007 4 Milliarden Euro angeboten und damit einen gesellschaftspolitisch wichtigen und notwendigen Anstoß gegeben - nicht mehr, aber auch nicht weniger -, ({4}) der die Länder in die Lage versetzt, schnell und in großem Umfang das Ganztagsangebot auszubauen. Im Übrigen - das will ich hier auch einmal sagen - stehen sogar Arbeitgeberpräsident Hundt und der BadenWürttembergische Handwerkskammertag, eine Person und eine Institution, die ja nun wirklich nicht in dem Verdacht stehen, Sozialdemokraten blindlings hinterherzulaufen, hinter diesem Konzept und begrüßen es. ({5}) Wie reagiert nun die Opposition? Das Stimmengewirr könnte nicht diffuser sein. Annette Schavan aus BadenWürttemberg signalisierte ihre Zustimmung, nachdem ihr klar wurde, dass die Länder über die pädagogischen Konzepte selbst entscheiden dürfen. ({6}) - Hat sie das schon wieder revidiert? ({7}) Im Ausschuss für Bildung und Forschung gab es aufseiten der CDU gestern einen Eiertanz ohnegleichen und es wurden vom Bund gerade die pädagogischen Konzepte gefordert - von Ihnen wurde das ja auch noch einmal angesprochen -, die Frau Schavan dem Bund auf keinen Fall übertragen möchte, die sie für sich und die Länder reklamiert. ({8}) Katherina Reiche nörgelte vorgestern in der „Berliner Zeitung“ einmal wieder, dass der Bund ja lediglich Baumaßnahmen fördern wolle, aber nicht Lehrer und Inhalte der schulischen Ausbildung. Das sei nicht im Sinne der Sache. Blicken Sie eigentlich selbst noch durch bei diesem Stimmenwirrwarr in Ihren eigenen Reihen, meine Damen und Herren von der Opposition? ({9}) Hier wird Opposition eindeutig nur um der Opposition willen betrieben, letztlich - das ist das Traurige an der Sache - auf dem Rücken der Schülerinnen und Schüler, der Eltern und Lehrer. ({10}) Ich hoffe allerdings, dass die Verantwortungsbewussten unter Ihnen sich letztlich durchsetzen werden. Mein Appell an die Bedenkenträger: Legen Sie Ihre ideologischen Scheuklappen ab und lassen Sie uns im Interesse der Kinder und ihrer Eltern nach dem Motto „Bund und Land - Hand in Hand“ diesen Erfolg versprechenden Weg zu mehr Chancengerechtigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe von Kindern und Jugendlichen gemeinsam gehen! Sie haben nach den für uns so enttäuschenden Wahlergebnissen vom 2. Februar medienwirksam die gewachsene Bedeutung Ihrer Oppositionsrolle herausgestrichen. Sie haben eine konstruktive Mitarbeit versprochen. Nicht an Ihren Worten, an Ihren Taten werden wir Sie messen. ({11}) Geben Sie sich endlich einen Ruck und springen Sie auf den bereits anfahrenden Zug auf, auch wenn die Bundesregierung ihn ins Rollen gebracht hat! Kein Bürger und keine Bürgerin würde es verstehen, wenn Sie, nur weil Sie den Zugführer nicht selbst eingestellt haben, darauf verzichteten, ans Ziel zu gelangen. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Berg, ich gratuliere Ihnen recht herzlich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hause und wünsche auch Ihnen persönlich und politisch alles Gute. ({0}) Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Christoph Bergner, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Minister, wenn das von Ihnen vorgestellte Förderprogramm eine Antwort auf die PISA-Studie sein soll, dann muss ich sagen, dass sie sehr oberflächlich ist. Wenn man sich - Herr Tauss, das ist kein Nörgeln - die Förderkriterien vor Augen führt, die dieses Programm bestimmen, dann stellt man fest, dass es nur ein einziges Kriterium gibt: Die Schulzeit soll länger sein als die herkömmliche Unterrichtszeit. Sie werden es mir sicherlich nicht übel nehmen, dass meine Ansprüche an die Bildungspolitik über solche simplen Muster hinausgehen. ({0}) Frau Kollegin Bettin, Sie haben gesagt, dass Sie darauf gespannt seien, wer die Zuwendungen vom Bund nehmen werde. Das ist für mich nicht die entscheidende Frage. Denn wer wird schon Geld ablehnen, wenn er es bekommen kann? ({1}) Wir stehen aber als Haushalts- und Bildungspolitiker des Bundes in der Verantwortung und müssen deshalb fragen, ob die geplanten Investitionen in Höhe von 4 Milliarden Euro sinnvoll eingesetzt werden. Genau daran haben wir Zweifel angemeldet. Ich wäre ja gern bereit, konstruktiv über schulbezogene Betreuungsangebote zu diskutieren. ({2}) Aber zuvor müsste beispielsweise die Frage beantwortet sein, warum Ihr Programm nicht an die Vorgaben der Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe - hier hat der Bund eine ganz andere Gestaltungskompetenz - anknüpft. In den neuen Bundesländern haben wir mit den Schulhorten als schulbezogene Betreuungsangebote hinreichende Erfahrungen. Sie denken aber nur in den Kategorien der Ganztagsschule, obwohl in der OECD-Studie die Länder, die ein großes Angebot an Ganztagsschulen haben, sowohl im oberen als auch im unteren Bereich der Skala zu finden sind. Das ist der erste Punkt. ({3}) Zweiter Punkt. Wenn Sie an eine Ausdehnung der Schulzeit und damit auch der Schulpflicht denken, dann müssen Sie zumindest in Rede stellen, dass Sie damit in Konflikt mit den Rechten und der Verantwortung der Eltern kommen. ({4}) In dem Bundesland, aus dem ich komme, hat es bereits Verfassungsklagen gegen die Entscheidung zugunsten betreuter Halbtagsschulen gegeben. Aufgrund dieser Verfassungsklagen ist mir die Dimension des Problems bewusst. Ich denke, wem es um das Kindeswohl und die Erziehung der Kinder geht, der kann die Gesichtspunkte, die hinter solchen Verfassungsklagen stehen, nicht einfach in den Wind schreiben. Der dritte und wesentlichste Punkt, der mich an der Ernsthaftigkeit Ihres Vorhabens zweifeln lässt, ist die Frage: Warum wollen Sie eine Bildungsreform über ein Bauprogramm durchführen? ({5}) Sie haben, offenbar einer Auflage des Bundesfinanzministers folgend, die Mittel in einen investiven Titel eingestellt. Sie können die Zuweisungen an die Länder aber nur über Art. 104 a des Grundgesetzes ausreichen. Das bedeutet, dass Sie den Nachweis führen müssen, dass die Mittel „zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts oder zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet oder zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums erforderlich sind“. Weil wir das im Ausschuss problematisiert haben, hat uns nun die Bundesregierung bzw. das Bundesbildungsministerium ein Rechtsgutachten zur Verfügung gestellt, dessen Aussagen ich höchst problematisch finde. Es läuft nämlich auf die simple Aussage hinaus, dass Schulbaumaßnahmen Wirtschaftsförderung sind. ({6}) Übrigens steht ein merkwürdiger Bildungsbegriff dahinter, wenn man zwischen Wirtschaft und Bildung eine so enge Verbindung konstruiert; aber davon will ich einmal absehen. ({7}) Wenn Sie tatsächlich dieser Meinung sind, dann frage ich mich, warum in der Vergangenheit alle Versuche in den neuen Bundesländern, Schulbauprogramme für das allgemein bildende Schulwesen über EFRE-Mittel zu finanzieren, fehlgeschlagen sind und warum Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe zur regionalen Wirtschaftsförderung nicht in Schulbauprogramme geflossen sind. Sie betreiben hier eine Verfälschung des Haushaltsrechts, die mich an der Ernsthaftigkeit Ihres gesamten Programms zweifeln lässt. Das ist der Punkt, den ich in die Debatte werfen will. ({8}) Ich bin mit dem Kollegen Hartmann von der FDP einer Meinung: Wenn es Ihnen mit dem Anliegen ernst gewesen wäre, dann hätten Sie einen Zuwendungstitel eingerichtet, der den Ländern und vor Ort die Spielräume für einen sachgerechten Mitteleinsatz gegeben hätte. Darüber, ob das über Modellvorhaben oder ein Förderprogramm geschehen sollte, hätten wir noch reden können. So aber legen Sie ein Bauprogramm auf, das - das kann ich Ihnen vorhersagen - bei den Schulträgern als ein obrigkeitsstaatlicher Beglückungsversuch wahrgenommen werden wird. ({9}) Irgendwo wird man sich anpassen und die Programme so herrichten - ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Bergner, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich hätte gern noch auf den Zwischenruf des Kollegen Küster geantwortet.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Sie müssen trotzdem zum Schluss kommen. Sie haben Ihre Redezeit überzogen.

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Thema „PISA-Studie und die Herausforderungen der Bildungspolitik“ sollte uns mehr wert sein, finde ich, als ein Programm, das im Grunde nur auf die Außenwirkung des Begriffs „Ganztagsschule“ setzt. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schummer, auch wenn es Ihre erste Rede war, muss ich Ihnen sagen: Man muss ganz klar machen, worum es uns geht und worum es Ihnen anscheinend geht. Uns geht es in der Tat nicht um die Spitzenförderung oder Begabtenförderung, sondern uns geht es um die Breitenförderung, ({0}) um die Kinder von Migranten, um die sozial Schwächeren und auch um die Schlüsselkinder, die es in diesem Land gibt. ({1}) Es geht darum, ihnen Alternativen und schulische Gestaltungsmöglichkeiten zu bieten. Das ist das Zentrum dieses Programms und nichts anderes. ({2}) Wenn wir uns die PISA-Studie anschauen, dann stellen wir fest: Das ist die Antwort, die darauf gegeben werden muss. Was hat uns PISA denn gezeigt? Schauen Sie sich Bayern an! In Bayern gibt es zwar Begabte, aber Bayern hat auch die höchste Sitzenbleiberquote und eine hohe Schulabbrecherquote. ({3}) Auf die Ergebnisse von PISA müssen wir reagieren, weil das unsere Aufgabe ist. Herr Bergner, Sie haben von Bauprogrammen, Suppenküchen und Investitionen gesprochen. Ja, auch das gehört dazu. Das ist ein Teil der kommunalen Förderung. Erst letzte Woche hat das Familienministerium eine Studie vorgestellt, die gezeigt hat, dass jeder Euro, der in den Bereich der Kinderbetreuung investiert wird, vierfach wieder zurückkommt, und zwar vor allem durch die Erwerbstätigkeit der Eltern. ({4}) Viele Frauen setzen auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und wir wollen sie darin unterstützen. Ja, auch das ist unsere Programmatik. ({5}) Wenn Sie hier schon großartig die Verfassung zitieren, dann sollten Sie auch erwähnen, dass die Bildungspolitik eine der ureigensten Aufgaben der Länder ist, dass die Länder hier Personalhoheit haben, gerade bei den Lehrern, die in den meisten Bundesländern, wenn nicht in allen, verbeamtet sind. Es geht hierbei nicht darum, die Länder zu entmachten, wo ihre ureigenen Aufgaben betroffen sind, sondern es kann nur darum gehen, sie in ihren Aufgaben zu unterstützen. ({6}) Nur das können wir gewährleisten. Wir wollen ihnen nicht ihre Zuständigkeiten nehmen. ({7}) Herr Hartmann hat uns auf die Pädagogik angesprochen. Herr Hartmann, Sie haben es falsch verstanden. Es liegt kein Missverständnis vor; wir wollen die Pädagogik nicht vorschreiben, sondern wir wollen eine Vielfalt an pädagogischen Konzepten. Wenn sich Frau Hohlmeier, Ministerin in Bayern, dafür entscheidet, dass ihre Kinder in eine Ganztags-Waldorfschule gehen, dann soll sie das tun können. Wenn Eltern möchten, dass ihr Kind in eine kirchliche Schule, in ein Montessori-Gymnasium oder in eine staatliche Schule geht, dann soll auch das möglich sein. Erziehung ist und bleibt die eigentliche Aufgabe der Eltern; deshalb sollten wir eine Vielfalt an pädagogischen Formen zulassen und nicht von vornherein einschränken. Eine solche Einschränkung kann nicht das Ziel der Pädagogik der heutigen Zeit sein. ({8}) Zum Schluss möchte ich aus dem Manifest „Keine Zukunft ohne Kinder - Manifest pro Ganztagsschule und für ganztägige Bildung in Krippen und Kindergärten“ zitieren: Mehr Zeit in der Schule darf nicht bedeuten, dass Kinder und Schüler mehr „pauken“ und mehr Leistungsstress ertragen müssen. Mehr Zeit bedeutet sinnvollen Wechsel zwischen anstrengenden, anregenden und erholsamen Zeitphasen. Vor allem aber bietet mehr Zeit die Möglichkeit erweiterter persönlicher und menschlicher Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden - vielleicht die wichtigste Voraussetzung für die Erhöhung pädagogischer Effizienz und Leistung. Sie werden mir sicherlich Recht geben, wenn ich behaupte, dass das, was ich gerade zitiert habe, stimmt. Dieses Manifest haben Wassilios Fthenakis, ein anerkannter Professor der Frühpädagogik, Dieter Hundt - er ist uns allen bekannt -, Frau Rita Süssmuth und - siehe da! Katherina Reiche unterschrieben. ({9}) Ich finde, Sie sollten sich in diesen Dingen einmal direkt von Katherina Reiche beraten lassen und Sie sollten Ihre Informationen nicht nur aus ihren Interviews in der „Berliner Zeitung“ beziehen. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher: Zu diesen Interviews steht sie längst nicht mehr. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Heinz Schmitt, SPDFraktion.

Heinz Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002783, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es heute um die Ausweitung von Ganztagsschulangeboten geht, dann brauchen wir nicht mehr über graue Theorie zu diskutieren. In meinem Bundesland, Rheinland-Pfalz, gibt es seit Beginn dieses Schuljahres ein neues Programm zur Förderung von Ganztagsschulen und Ganztagsbetreuung. Dieses Programm ist sehr erfolgreich angelaufen. Rheinland-Pfalz ist mit 81 neuen Ganztagsschulen in dieses Schuljahr gestartet. ({0}) Von Rheinland-Pfalz lernen heißt bekanntlich siegen lernen. Voraussetzungen für ein Ganztagsschulangebot sind eine Mindestzahl an teilnehmenden Schülern und vor allen Dingen ein pädagogisches Konzept. ({1}) Die Schulen müssen, wenn ihre Bewerbung Erfolg haben soll, vier Säulen vorweisen: unterrichtsbezogene Ergänzungen, themenbezogene Projekte, Angebote für eine unterstützende Förderung und Angebote für eine Freizeitgestaltung unter pädagogischer Anleitung. Im Durchschnitt haben sich an den jeweiligen Schulen rund ein Drittel der Schülerinnen und Schüler für das neue Ganztagsangebot angemeldet. Für das zweite Programmjahr werden weitere 84 Schulen ein Ganztagsschulangebot machen. Beworben hatten sich 163 Schulen. Diese hohen Zahlen belegen die große Nachfrage von Eltern und Schülern nach einer Ergänzung des normalen Schulangebots durch ein Ganztagsangebot. Die Anmeldung erfolgt - auch das ist wichtig; es wird immer wieder verkannt - auf freiwilliger Basis. Es ist daher schlicht falsch, wenn die Union und ihre bildungspolitische Sprecherin, Frau Reiche, noch immer behaupten, wir planten eine Zwangsumwandlung in Ganztagsschulen oder wir verfolgten einen bürokratischen Ansatz ohne pädagogisches Konzept. ({2}) - Danke schön. Heinz Schmitt ({3}) Die Ganztagsschule wird von vielen Eltern für ihre Kinder gewünscht und sie trägt vor allen Dingen den gesellschaftlichen Veränderungen und den familiären Verhältnissen Rechnung. Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung zu dem Programm für Ganztagsschulen in meinem Bundesland ist eindeutig. Sie kommt im Wesentlichen zu folgenden Ergebnissen: Die Schulleiter berichten von einem großen Motivationsschub für das Kollegium. Die Lehrkräfte stehen in einem besseren pädagogischen Bezug zu den Schülern. Die Schüler selbst fühlen sich besser aufgehoben und gefördert. Die Eltern fühlen sich entlastet und sehen bessere Entwicklungschancen für ihre Kinder. ({4}) Natürlich wird auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch Ganztagsschulen gefördert. Diese Ergebnisse bestätigen mir die Schulleiter in meinem Wahlkreis. Ein Schulleiter spricht von einem „zündenden Erfolgsmodell“ für alle Beteiligten. Beispiel: Zu Beginn dieses Schuljahres hatte die Schule dieses Schulleiters 110 Ganztagsschüler; nach einem halben Jahr sind es 230 Schüler, die das neue Angebot wahrnehmen. Eine enorme Zunahme an Akzeptanz und Vertrauen also innerhalb nur eines halben Jahres. Auch das Engagement der Eltern für ihre Schule hat eine neue Qualität erreicht. Die Schüler wiederum nehmen die Betreuungsangebote ebenso dankbar auf: Schwächere Schüler steigern ihre Leistungen. Die besseren Schüler werden gleichzeitig durch zusätzliche Angebote gefördert, angeregt und zusätzlich motiviert. ({5}) Die Veränderungen gelten aber auch für soziale Belange: Schüler nehmen die Betreuer als Bezugspersonen an und fühlen sich mit ihren kleinen und größeren Anliegen und Problemen gut aufgehoben. Schließlich leiten vielfältige Projekte und Angebote zu einer sinnvollen Freizeitgestaltung an und stärken den Zusammenhalt und die soziale Kompetenz bei den Schülern und Lehrern. Alle Beteiligten waren also voll des Lobes für das neue Ganztagsmodell. Dass Rheinland-Pfalz erfolgreich und Vorreiter ist, hat sich mittlerweile auch schon in einigen CDU-regierten Ländern herumgesprochen. ({6}) Immer öfter kommen Pädagogen aus dem benachbarten Baden-Württemberg über den Rhein, ({7}) um sich vor Ort - Herr Fischer ist nicht da - über die neue Ganztagsschule zu informieren. ({8}) Ich hoffe, dass dieses rege Interesse auch die Landesregierung in Stuttgart und damit die Bänke der Opposition hier im Bundestag dauerhaft und nachhaltig erreicht. ({9}) Meine Damen und Herren, die Ganztagsschule hat für frischen Wind in Schulen und Klassenzimmern gesorgt. Genau das ist es, was wir nach PISA unbedingt benötigen. Wir müssen nämlich Motivation und Engagement, aber auch Freude am Lehren und Lernen in unsere Schulen zurückbringen. Die Bundesregierung unterstützt mit ihrem Programm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ solch wichtige Reformanstrengungen an unseren Schulen. Wir verbessern nachweislich die Situation an den Schulen, stellen die Weichen für mehr Chancengleichheit und für eine individuelle Förderung der Schüler. Wir passen also die Schulen an die gesellschaftlichen und familiären Realitäten an, öffnen die Schule nach außen und vernetzen sie mit der Berufs- und Lebenswelt. Daher ist der Kurs der Bundesregierung richtig. Dieser Kurs ist ohne Alternative. Wir haben den richtigen Weg zur Verbesserung unseres Bildungssystems eingeschlagen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Marion Seib, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Marion Seib (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003011, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Nach den vielen pädagogischen Bekenntnissen, die wir eben zur Kenntnis genommen haben, stelle ich eines fest: ({0}) Wir sind uns ja eigentlich alle einig. Die zukunftsfähige Ausbildung unserer Kinder ist zweifellos die größte und wichtigste Gemeinschaftsaufgabe von Bürgern, Staat und Gesellschaft in den nächsten Jahren. Selbst die Wege zur Erreichung dieses Ziels laufen über weite Strecken parallel. Ihre Vorgehensweise, Frau Bulmahn, bei der Vorstellung der Verwaltungsvereinbarung war jedoch reichlich überzogen. Deswegen kommt Misstrauen auf. Am Montag beruft die Bildungsministerin nämlich eine Pressekonferenz ein und faxt erst wenige Minuten vorher den Entwurf der Verwaltungsvereinbarung an die Länder. Derweil beantragen die Regierungsfraktionen zu demselben Thema schnell noch eine Aktuelle Stunde. Über Ihren Umgang mit dem Parlament kann man da nur noch den Mantel des Schweigens decken. ({1}) Durch diesen hastigen Aktionismus verschleiern Sie, dass den Ländern anstelle von Wohltaten doch wieder finanzielle Mühlsteine um den Hals gelegt werden. Sie bleiben auf halbem Weg stehen. Während der Bund seine Förderung ausschließlich auf Investitionen für Ausbau, Renovierung und Ausstattung der Schulen beschränkt, liegen die eigentlichen Probleme - die Vorredner haben es bereits hinreichend dargestellt ({2}) bei der Finanzierung der Personal- und Betriebskosten. Darauf weisen wir seit Monaten hin. Natürlich ist es begrüßenswert, wenn der Bund den Ländern und Kommunen 4 Milliarden Euro für den weiteren Ausbau von Ganztagsangeboten bereitstellt, ({3}) doch dank der misslungenen Steuer- und Wirtschaftspolitik der Bundesregierung stehen viele Länder und Kommunen vor dem Ruin. ({4}) Allein die Neuregelung der Umsatzsteuerverteilung würde genügend Geld in die leeren Kassen der Länder spülen, um eine Finanzierung der Ganztagsangebote dauerhaft sicherzustellen. ({5}) - Nein. ({6}) Eine isolierte Verwaltungsvereinbarung hebt die Bildungsdefizite nicht auf. Das gesamte Bildungssystem muss nachhaltig verbessert werden. ({7}) Anstatt leichtfertig die Schulkapazitäten aufzublähen, müssen wir für Lehrerförderung und Personalbildung sorgen. Lehrerausbildung und -weiterbildung kostet die Länder sehr viel Geld; sie müssen tief in die Tasche greifen. An dieser Stelle dürfen wir nicht nur den halben Weg sehen, sondern müssen das Endziel im Auge haben und versuchen, dieses Ziel zu erreichen. Wir haben in Bayern eine Lehrerplanstellengarantie. ({8}) Jeder ausscheidende Lehrer wird durch einen jungen Lehrer ersetzt. ({9}) Ich frage Sie, meine verehrten Kollegen: Was nützt Ihnen das schönste Ganztagsangebot, wenn am Nachmittag wegen Krankheit oder Lehrermangel weder Unterricht noch Betreuung stattfindet? Wir sollten vor allem darauf achten, dass Qualitätskriterien für alle Schulen erarbeitet und aufrechterhalten werden. ({10}) - Bei uns funktioniert das. Die Lehrer in Bayern haben ein Minimum an Fortbildungstagen zu absolvieren. Ab dem nächsten Schuljahr gibt es Evaluationsteams, die Hilfestellung zur Verbesserung der Unterrichtsqualität an Schulen geben sollen. Deswegen ist die PISA-Evaluierung in Bayern in dieser Hinsicht ganz hervorragend gelungen. ({11}) Lassen Sie mich die Gedanken auf den Punkt bringen: Erstens. Unser Bildungssystem muss nachhaltig und langfristig verändert werden. Zweitens. Hierzu ist die Formulierung von pädagogischen Anforderungen an zukünftige Lehrer genauso wichtig wie die nachhaltige Qualitätssicherung in den Schulen. Drittens. Dazu ist eine verbesserte und dauerhafte Finanzausstattung der Länder und Kommunen unbedingte Voraussetzung. Viertens. Der Bund unterstützt die Länder bei der Finanzierung der Bildungsaufgaben am besten, ({12}) indem er endlich einer aufgabengerechten Neuverteilung der Steuereinnahmen zwischen Bund und Ländern zustimmt ({13}) und eine Umsatzsteuerumverteilung vornimmt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Gebäude alleine reichen nicht. Wer Bildung will, braucht Lehrer. Besten Dank. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Wicklein, SPD-Fraktion. ({0})

Andrea Wicklein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003659, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Circa 40 Milliarden Euro - diese gewaltige Summe müssen wir im nächsten Jahr allein für Zinszahlungen ausgeben. Es handelt sich um den zweitgrößten Einzelposten im Bundeshaushalt. Das unterstreicht die Notwendigkeit, den Kurs der Haushaltskonsolidierung konsequent fortzusetzen. Wir werden das tun und 2006 einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. ({0}) Dies ist aber nur der eine Teil einer erfolgreichen Haushaltspolitik. Der andere beinhaltet, weiter in Zukunftsbereiche zu investieren. ({1}) Mit unserem Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ vollziehen wir eine intelligente, nachhaltige Konsolidierungspolitik. Die begrenzten finanziellen Mittel setzen wir zielgerichtet zum größtmöglichen Nutzen für die Gemeinschaft und für jeden Einzelnen ein. ({2}) Warum aber lenken wir diese Mittel ausgerechnet in den Ausbau von Ganztagsschulen? Das erschreckendste Ergebnis der PISA-Studie ist ohne Zweifel, dass es unserem Bildungssystem besonders schlecht gelingt, Benachteiligungen aufgrund der sozialen Herkunft auszugleichen. Auf der Behebung dieses Defizits muss unser Hauptaugenmerk liegen. ({3}) Gegenseitige Schuldzuweisungen oder lange Debatten über Zuständigkeitsfragen oder ein ewiges Schlechtreden unseres Konzepts sind deshalb völlig fehl am Platze. ({4}) Es geht um die Zukunft unseres Bildungssystems und damit um die Zukunft unseres Landes. Wir sollten diese Chance gemeinsam nutzen. ({5}) Ganztagsschule bedeutet für uns mehr denn je Betreuung, Erziehung und Bildung. ({6}) Dabei geht es uns nicht nur um eine zahlenmäßige Ausweitung des Platzangebotes. Es geht vor allem auch um eine verbesserte Qualität von Betreuung. ({7}) Nach der PISA-Studie haben die meisten der erfolgreichen Staaten Ganztagsschulsysteme. ({8}) Das sollten Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht ignorieren. ({9}) Betrachtet man die Versorgungsquote, also das Verhältnis von Platzzahlen zu Kinderzahlen, so zeigen sich immer noch sehr große Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Für Kinder im Hortalter lag sie 1998 in Westdeutschland bei 6 Prozent, in Ostdeutschland dagegen - fast zehnmal so hoch - bei circa 58 Prozent. Während in Westdeutschland nur circa 19 Prozent aller Kita-Plätze Ganztagsplätze mit Mittagessen waren, gehörten in Ostdeutschland fast alle Plätze zu dieser Kategorie. Dieses infrastrukturelle Erbe ist besonders bedeutsam vor dem Hintergrund, dass in Ostdeutschland eine ganztägige Betreuung auch 13 Jahre nach dem Fall der Mauer einen enorm positiven Stellenwert besitzt und im Übrigen einen wichtigen Standortfaktor darstellt. ({10}) Mit kreativen Konzepten können sich Ganztagsschulen zu einem Ort der Begegnung und zu einem Zentrum der Kommunikation entwickeln. Durch die Beteiligung von Vereinen und Verbänden oder durch sportliche, musikalische und künstlerische Elemente können sie Kindern und Jugendlichen aus allen sozialen Schichten neue Zukunftschancen eröffnen. Besonders in den strukturschwachen Regionen fällt der Ganztagsschule eine große Bedeutung zu. Die soziale und geistige Kompetenz unserer Kinder und Jugendlichen entwickelt sich auch in Abhängigkeit vom Elternhaus und dessen Umgebung. Hohe Arbeitslosigkeit verbunden mit Frustration und Tristesse befördern eher Intoleranz, Verschlossenheit und Minderwertigkeitsgefühle. Ein ganz auf die Verhältnisse vor Ort zugeschnittenes pädagogisches Konzept fördert die Bildung von Teamfähigkeit und Toleranz, das Selbstbewusstsein, das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Solidarität im Umgang miteinander. ({11}) Die vorliegende Verwaltungsvereinbarung trägt den besonderen Bedingungen in Ostdeutschland Rechnung. Denn nicht nur der Neubau, sondern auch zusätzliche Ganztagsangebote, Ausstattungsinvestitionen und die damit verbundenen Dienstleistungen können in Ganztagsschulen oder auch in Schulen mit angegliedertem Hort finanziert werden. Durch Bildung, Erziehung und Betreuung in Ganztagsschulen schaffen wir die Voraussetzung, dass die soziale Herkunft nicht länger über die Zukunft unserer Kinder entscheidet. ({12}) Wir investieren in die Zukunft unseres Bildungssystems und damit in die Zukunft unseres Landes. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Wicklein, auch Ihnen unsere herzlichen Glückwünsche für Ihre erste Rede hier in diesem Hohen Hause sowie persönlich und beruflich alles Gute! ({0}) Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Hannelore Roedel, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Hannelore Roedel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland hat zusammen mit südeuropäischen Ländern wie Italien und Spanien die niedrigste Geburtenrate Europas. Rund 30 Prozent der jetzigen jungen Generation werden aus verschiedenen Gründen - durchaus nicht immer geplant - kinderlos bleiben. Angesichts dieser demographischen Entwicklung muss alles, was Familien in unserem Land hilft und fördert, getan werden. ({0}) Dazu gehört ein flexibles und qualitativ gutes Angebot an Betreuungsmöglichkeiten bis hin zur Ganztagsbetreuung. Wenn Kind und Karriere kein Widerspruch mehr sein sollen, dann muss auch die voll arbeitende Mutter für ihr Kind Betreuung finden, auch in Form der Ganztagsschule. ({1}) Deswegen begrüßen wir das Ganztagsschulprogramm von Frau Bulmahn als richtigen Schritt auf dem Weg zu einer nachhaltig familienfreundlichen Gesellschaft, vor allem nachdem Sie, Frau Ministerin, nach einem Blick in das Grundgesetz doch noch realisiert haben, dass die Kultushoheit bei den Ländern liegt, ({2}) und dies bei der Durchführung Ihres Programms nun auch berücksichtigt haben. ({3}) Die Bindung der Förderung an pädagogische Konzepte mag zwar gut klingen; unsere Schulen sind aber weit fortschrittlicher, als Sie es vielleicht wissen. Ich kenne kaum eine Schule, die nicht schon über pädagogische Konzepte verfügt. Für uns ist wichtig, dass auch mit dem neuen Programm gewährleistet bleibt, dass die einzelnen Schulen auf die Bedürfnisse genau ihrer Kinder und ihrer Eltern eingehen können. ({4}) Doch zu kritisieren bleibt etwas anderes; denn Sie haben im wahrsten Sinne des Wortes zu kurz gedacht. Die Realität ist nämlich die, dass der Bund mit diesem Programm großzügig Steine und Beton für die Schulen finanziert, ({5}) dass aber die Kosten für das, was die Schulen mit Leben erfüllt, nämlich Personal, an den Ländern und Kommunen hängen bleibt. Was wird die Folge dieses Programms sein? Über kurz oder lang werden wir landauf, landab eine Menge neuer und kindgerechter moderner Schulen haben - mit allem Drum und Dran -, aber keine Lehrer. Schulen ohne Seelen? Wenn Sie uns das öffentlichkeitswirksam als rot-grünes Geschenk verkaufen, dann scheint mir das eher ein trojanisches Pferd zu sein - vor allem, wenn man bedenkt, dass die Länder, um überhaupt diesen Zuschuss zu bekommen, auch noch 10 Prozent Eigenmittel aufbringen müssen. Die Zeche zahlen Länder und Kommunen und die Regierung sonnt sich im Glanz ihrer nationalen Antwort auf PISA. Kommunen und Ländern steht aber das Wasser bis zum Hals. ({6}) Durch die falsche Wirtschafts- und Steuerpolitik von Ihnen sind ihnen die wesentlichen Finanzgrundlagen weggebrochen. Wenn natürlich die Länder jetzt nach den Mitteln aus Berlin greifen - wie auch ein Ertrinkender nach einem Strohhalm greift -, dann bleibt eines doch gewiss: Auf Dauer können Länder und Kommunen eine Bildungspolitik auf hohem Niveau nur dann durchführen, wenn ihnen eine solide finanzielle Grundlage garantiert ist. ({7}) Dafür zu sorgen ist nicht Aufgabe der Länder, sondern der Bundesregierung. Die rot-grünen Bildungsexperten sind auch auf dem Holzweg, wenn sie glauben, der PISA-Misere allein mit Ganztagsschulen entkommen zu können. ({8}) Die Ergebnisse von PISA im nationalen und internationalen Vergleich belegen ganz deutlich, dass die Gleichung „mehr Ganztagsschulen gleich mehr Bildung“ eben nicht aufgeht. ({9}) Entscheidender als die Frage Ganz- oder Halbtagsschule ist das, was in der Schule passiert. Allein die Rahmenbedingungen für Ganztagsbetreuung zu verbessern kann weder die Ergebnisse von PISA steigern noch den Familien Lust auf Kinder machen. ({10}) Eine familienfreundliche Politik schafft man nicht durch staatlichen Zwang; vielmehr müssen die Eltern selbst entscheiden können, ob und in welchem Umfang die Betreuung ihres Kindes innerhalb oder außerhalb der Familie erfolgen soll. Wir Politiker müssen mit einem ausreichenden Angebot an Betreuungsmodellen dafür sorgen, dass die Eltern Wahlfreiheit wirklich haben. ({11}) Was Familien heute am dringendsten brauchen, ist eine Politik, die wieder mehr Menschen und damit auch Mütter und Väter in Arbeit bringt, die den Menschen Mut zur Selbstständigkeit gibt, die die Leistungsbereitschaft fördert und die die finanziellen Grundlagen von Kommunen und Ländern stärkt. Das neue Investitionsprogramm ist deshalb ein wichtiger Schritt. Wenn es aber nur bei einer kurzfristigen Anschub- und Baufinanzierung bleibt, dann tun Sie den Familien nichts Gutes. Am Ende kommen dann vielleicht eben doch nur Sparschulen mit einer angeschlossenen Suppenküche heraus. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Es gibt eine Menge neuer Kolleginnen und Kollegen, die engagiert im Bildungsausschuss tätig sind. Auch Sie, liebe Kollegin Roedel, gehören dazu. Ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag und wünsche auch Ihnen persönlich und politisch alles Gute. ({0}) Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Caren Marks, SPD-Fraktion.

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Erziehung, Bildung und Betreuung sind untrennbare, sich ergänzende Voraussetzungen für: erstens ein besseres Bildungsniveau junger Menschen, zweitens die individuelle Förderung von Kindern und drittens eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. ({0}) Mit dem Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ lösen wir eines unserer zentralen Wahlversprechen ein. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein Kernelement sozialdemokratischer Politik. Der Ausbau von Ganztagsschulen trägt dazu bei, dass Frauen und Männer ihren Wunsch nach Kindern realisieren können, ohne dass sie auf die Teilhabe am Arbeitsund Wirtschaftsleben verzichten müssen. ({1}) Das Potenzial und das Know-how insbesondere vieler Frauen geht unserer Gesellschaft verloren, weil es an Ganztagsbetreuung mangelt. Während die Union uns einseitige Förderung außerhäuslicher Kinderbetreuung vorwirft, begrüßen Wirtschaft und Eltern unsere Familienpolitik ganz besonders. ({2}) Jahrelang haben CDU/CSU und FDP die Kinderbetreuung vernachlässigt und weder bundes- noch landespolitisch angemessen gefördert. Jetzt lautstark die Förderung der Kinderbetreuung unserer Bundesregierung anzugreifen und keine eigenen Konzepte zu entwickeln ({3}) zeigt auf allen Politikfeldern, dass Union und FDP zurzeit nur ein Geschäft verstehen: Deutschland schlechtzureden, ({4}) Problemlösungen auszuweichen und sich aus der Verantwortung zu stehlen, ({5}) unser Land kinder- und familienfreundlicher zu gestalten. Mit dem Ausbau von Ganztagsschulangeboten schaffen wir für Eltern die Möglichkeit einer partnerschaftlichen Verteilung von Familien- und Erwerbsarbeit. Für Alleinerziehende ist Betreuung die Grundvoraussetzung, um auf dem Arbeitsmarkt überhaupt eine Chance zu haben. Mit einem verbesserten schulischen Angebot stellen wir aber auch die Chancengleichheit und die individuelle Förderung der Kinder in den Mittelpunkt. Uns geht es nicht um die einfache Verlängerung der Schulzeit, sondern um kreative pädagogische Konzepte. Schule soll zu einem Ort werden, der für Schüler und Lehrer das Lehr- und Lernklima verbessert; ein Ort, mit dem sich Schüler und Lehrer gleichermaßen identifizieren können; ein Ort, der das familiäre Netz der Kinder nicht ersetzen soll und kann, aber sinnvoll ergänzt; ({6}) ein Ort, der Kinder stark macht, durchs Leben zu gehen, und Kindern soziale Kompetenzen und Verantwortung vermittelt. Das sind die Leitlinien unserer Politik. CDU/CSU hingegen haben bei auftauchenden Problemen - wie es sich zum Beispiel beim Graffiti-Bekämpfungsgesetz wieder einmal zeigt - den falschen Ansatzpunkt. Sie vernachlässigen den präventiven Ansatz und glauben, dem Phänomen des Graffiti-Sprühens in erster Linie mit den Mitteln des Strafrechts begegnen zu können. Bildung und Betreuung fördern und sicherstellen, das ist die große gemeinsame Herausforderung, aber auch die große Chance, die sich dem Bund, den Ländern und den Kommunen derzeit stellt. Eltern, Kinder und Wirtschaft werden kein Verständnis dafür aufbringen, wenn sich die Union mit Zuständigkeitsfragen aufhält und bei ihrem traditionellen Familienbild bleibt. ({7}) Eine ablehnende und blockierende Haltung der CDU/ CSU-geführten Landesregierungen und Kommunen werden wir thematisieren. Wir werden den Menschen dabei ganz deutlich machen, welche Chancen konservative Regierungen auf Kosten von Kindern und Eltern nicht nutzen. ({8}) Kinder sind unsere Zukunft. Die Qualität ihrer Erziehung, Bildung und Betreuung entscheidet darüber, wie leistungsfähig, wie innovativ, aber auch wie human, wie demokratisch und auch wie sozial integriert unsere Gesellschaft der Zukunft sein wird. Ich denke, auch das ist ein ganz besonderer Aspekt des Ausbaus von Ganztagsschulen. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Markus Grübel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Marks, als Baden-Württemberger fällt es mir etwas schwer, mir von Ihnen etwas über Bildungspolitik aus Niedersachsen erklären lassen zu müssen. ({0}) Hier trennen uns im Ergebnis Welten. Politik sollte aber immer damit anfangen, die Sachverhalte zur Kenntnis zu nehmen. ({1}) Nun zum Thema: Der Bund möchte den Ländern und Gemeinden 4 Milliarden Euro für Bildung und Betreuung zur Verfügung stellen. Das, Frau Ministerin Bulmahn, ist die gute Nachricht. Mit maximal 400 000 Euro pro Schule kann durchaus etwas gebaut werden. Diese Aktion ist also deutlich mehr als das, was der Kanzler zurzeit im Bereich Wirtschaft und Arbeitsmarkt auf den Weg bringt. Eine wesentliche Verbesserung wird damit aber nicht erreicht. Es ist eher ein Tropfen auf den heißen Stein. ({2}) Die Begeisterung im Land hält sich daher, abgesehen von der rot-grünen Regierungskoalition, durchaus in Grenzen. Das hat auch seine Gründe. ({3}) Der Bund investiert in Beton, Steine und Farbe. ({4}) - Jetzt lassen Sie mich einmal ausreden. Diskutieren können wir hinterher. - Der Entwurf der Verwaltungsvereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern versteht unter den Investitionen „insbesondere erforderliche Renovierungs-, Umbau-,Ausbau- und Neubaumaßnahmen“. Mit den Folgekosten stehen die Länder und Gemeinden dann alleine da. Die Kosten für zusätzliche Lehrer, für zusätzliche pädagogische Betreuungskräfte, für Zuschüsse zum Abmangel für Schülermensen, fürdieGebäudeunterhaltungetc.bleibenals dauernde Lasten bei den Kommunen und Ländern hängen. ({5}) Dies trifft die Kommunen in einer Zeit, in der nur noch wenige Städte und Gemeinden ihre Haushalte überhaupt ausgleichen können. ({6}) - Ich kann Ihnen dazu etwas sagen. Esslingen hatte im letzten Jahr einen Gewerbesteuereinbruch um mehr als die Hälfte. Das ist auch für eine Gemeinde, der es gut geht, weil es in Baden-Württemberg eine gute Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik gibt, eine schwierige Situation, Frau Kollegin. ({7}) - Auf einem niedrigen Niveau ist es natürlich schwerer, entsprechend tief einzubrechen. Dies trifft die Kommunen in einer Zeit, in der Betreuungseinrichtungen geschlossen und die Öffnungszeiten von Jugendhäusern und ähnlichen Einrichtungen aus Kostengründen reduziert werden müssen. Dies trifft die Kommunen in einer Zeit, in der Büchereien und Musikschulen geschlossen werden müssen. ({8}) Dies trifft sie in einer Zeit, in der Geld für Sprachkurse gestrichen werden muss. ({9}) - Herr Tauss, wir können gern einmal von Gemeinde zu Gemeinde gehen und uns die Haushaltssanierungskonzepte ansehen und schauen, was dort alles in den Bereichen, die für uns gemeinsam wichtig sind, gestrichen werden muss, weil die Einnahmen aus der Gewerbesteuer fehlen. Dies trifft die Kommunen in einer Zeit, in der Gebühren für Kinderbetreuungseinrichtungen teilweise drastisch erhöht werden müssen. Dies trifft eine Gesellschaft, in der die finanzielle Schere zwischen Menschen bzw. Familien mit Kindern und solchen ohne Kinder deutlich auseinander geht. ({10}) - Überkompensiert durch Inflation, Ökosteuer, Versicherungsteuer usw. All dies trifft die Familien viel mehr. ({11}) Dies trifft die Länder, die ihre Personalkosten - auch für Lehrer - kaum mehr bezahlen können. Die Löcher, die die Bundesregierung bei den Ganztagsschulen stopfen will, werden an vielen anderen Stellen aufgerissen: auch bei der Bildung, der Betreuung und in der Familienförderung. Wie sich in einer solchen Situation die Lage in den Schulen, bei der familienergänzenden Kinderbetreuung und für die Familien überhaupt verbessern soll, bleibt Ihr Geheimnis, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition. Wer für die Betreuung und Bildung in unserem Land etwas tun will, der setzt bei Sprach- und Leseförderung an, der verbessert die Betreuungsqualität auch im Vorschulbereich, der setzt die von der Kultusministerkonferenz vereinbarten Bildungsstandards um, ({12}) der fördert die Familien, der stärkt die Erziehungskompetenz der Eltern - das darf ich jetzt ausdrücklich auch für die Familienpolitiker der Union sagen -, ({13}) der sorgt aber in erster Linie dafür, dass die Länder und Gemeinden wieder eine angemessene Finanzausstattung bekommen und ihre ureigenen Aufgaben selbst erfüllen können. ({14}) Ich kann hier nahtlos an die Diskussion um die Gemeindefinanzen anschließen, die wir eben geführt haben. Die Verantwortlichen in den Ländern und Gemeinden werden dann ohne den goldenen Zügel mit angemessener Finanzausstattung sehr viel mehr für die Bildung, sehr viel mehr für die Betreuung und sehr viel mehr für die Familienförderung tun, als das geplante Investitionsprogramm je erreichen kann. An dieser Baustelle sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, endlich wieder arbeiten. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Grübel, ich spreche Ihnen ebenfalls herzliche Glückwünsche für Ihre erste Rede in diesem Hause aus und wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft. ({0}) Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion. ({1})

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass wir im Bundestag angesichts 4 Milliarden Euro an freiwilliger Leistung des Bundes im Bildungsbereich eine solche Debatte führen, ist schon bemerkenswert. Mir ist aufgefallen, dass die eine Gruppe von Abgeordneten in dieser Debatte aus der Begeisterung heraus plädieren, etwas für die Betroffenen, für die Kinder und die Familien zu schaffen, dass die andere Gruppe dies aber zerredet. Die Beiträge der Abgeordneten der CDU/CSU, die ich mir hier angehört habe - die Abgeordneten kommen aus Niedersachsen, aus Sachsen-Anhalt, zwei aus Bayern und einer aus Baden-Württemberg -, wiesen eine Vielfalt und Widersprüchlichkeit auf, die für sich sprechen. Angesichts dessen wundert es mich nicht, dass Sie ohne eine Linie, ohne ein Angebot und ohne eine politische Vision in die Bundestagswahlen gegangen sind. Auch deshalb haben Sie diese Bundestagswahl verloren. ({0}) Sie haben gedacht, Sie kämen daran vorbei, klare Positionen bekannt zu geben, die die Bedürfnisse im Bildungsbereich und die Sorgen von jungen Familien, von Frauen wie von Männern betreffen. Dafür haben Sie von den Wählerinnen und Wählern die Quittung bekommen. ({1}) Deshalb regieren wir. Das freut uns und ärgert Sie. Sie hatten gedacht, dass der Umfang der Initiative des Bundes zur Unterstützung der Länder, die Frau Ministerin Bulmahn seit über einem Jahr vorbereitet, von uns am Ende nicht eingehalten werden würde oder könnte. Sie hätten sich sicher nichts mehr gewünscht, als uns in einer Debatte vorwerfen zu können, wir seien mit dem Ziel von 4 Milliarden Euro gestartet, herausgekommen sei aber nur 1 Milliarde Euro an Unterstützung. Doch wie hoch ist der Umfang? - Er beträgt 4 Milliarden Euro. Das ärgert Sie zum Zweiten. ({2}) Uns freut dies. Es ist eine große Leistung der Regierung, eine große Leistung von Gerhard Schröder, Edelgard Bulmahn und Hans Eichel. Als Drittes wird Sie ärgern, wenn die Bildungsministerin und die 16 Ministerinnen und Minister aus den Ländern hoffentlich nicht mit Sekt, sondern ganz kinderfreundlich mit biologischem Apfelsaft anstoßen und sagen: Topp, diese Verwaltungsvereinbarung gilt! Darauf bauen wir jetzt auf. ({3}) All diese Punkte ärgern Sie; denn dann müssen Sie wieder zurückrudern und müssen die Kritik, die Sie mehr oder minder daran geäußert haben, zurücknehmen. Einige waren ja vorsichtiger und haben gesagt, es sei ein sinnvoller Beitrag. Dahinter steht offensichtlich die Staatsführung aus Bayern, dass man das, was man konstruktiv aufgreifen könnte, vorweg nicht in Grund und Boden reden sollte. ({4}) Andere haben gesagt, das könne doch nicht alles sein. Das ist auch unsere Meinung. Uns bieten sich deshalb Chancen: Sie haben die Chance, dreifache Frustration abzuarbeiten. Wir haben die Chance auf dreifachen Nutzen: zum Ersten den Nutzen für die ökonomische Lage; die Studien sind schon zitiert worden, die besagen, dass dies einen Beitrag für einen Wirtschaftsaufschwung in mittlerer Sicht bringen kann; zum Zweiten einen Nutzen für die Familien und für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Im Übrigen: Wenn die CDU/CSU dem folgen sollte, wird sie wieder bessere Wahlergebnisse bei diesen Menschen haben, weil Sie sie dann besser vertreten würden. ({5}) Ein dritter Nutzen liegt darin, dass es für die Kinder mehr Zeit und Gestaltungsfreiheit in der Schule gibt und für die Schulen mehr Möglichkeiten, mit Kindern Zeit zu gestalten. Das muss der entscheidende Ausgangspunkt sein. Sie beschwören immer die Sorgen der Kommunen. Diese kann man nachvollziehen. Deswegen machen wir eine andere Steuerpolitik als die, die Sie uns immer empfehlen. Sie empfehlen uns immer, die Steuern zu senken und die Verschuldung zu erhöhen. Es müssen aber doch vielmehr die Sorgen der Menschen im Mittelpunkt stehen, die nicht wissen, wo sie ihr Kind pädagogisch gut betreut finden, oder die Sorgen von Pädagogen, die sagen, sie hätten gerne mehr Zeit, um mit den Kindern arbeiten zu können. Wenn Sie diesen Bezugspunkt haben, nehmen Sie das Programm als viel hilfreicher, initiativreicher und positiver wahr. Sie werten das als reine Investition in Bauen und Beton ab. Wir könnten doch einmal zusammen darüber nachdenken, ob unsere Schulbauten, unsere Schulstrukturen tatsächlich, wenn wir uns in die Kinder hineindenken, den Ansprüchen der Pädagogik genügen oder nicht. Es wird sehr viele kleinere und größere Wünsche geben, dieses oder jenes so umzugestalten, auch baulich, dass es kindgerecht ist. Da ist unser Angebot - 90 Prozent vom Bund, 10 Prozent Kofinanzierung -, ({6}) sehr wohl eine Hilfe, die von denen, die aus der Praxis, nämlich aus den Ländern, kommen, aufgegriffen wird. Der FDP muss man eine Antwort gönnen. Ich bin gespannt, ob der Senator Lange, Ihr letzter Mohikaner aus dem Bildungsbereich in Hamburg, anregen wird, das 4-Milliarden-Bund-Länder-Programm als Versuchsprogramm zu finanzieren - 50 Prozent vom Bund und 50 Prozent von den Ländern -, um damit ein 8-Milliarden-Programm zu bekommen. ({7}) - Sie hatten angeregt, ein Modellprogramm zu machen. Ich sage Ihnen dazu nur: Die Zeit für Modellprogramme geht an der Wirklichkeit der Menschen vorbei. Die Menschen erwarten, dass das Vorhaben Schritt für Schritt Realität wird und nicht in Modellen stecken bleibt. ({8}) Fazit: Es mag sein, dass man in zehn oder 15 Jahren manches vergessen haben wird, was diese Bundesregierung von Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Edelgard Bulmahn eingeleitet hat. Man wird sich an den Schulen und in der deutschen Bildungsgeschichte aber ganz gewiss daran erinnern, dass mit dieser Bundesregierung die Umwandlung des nicht mehr zeitgemäßen Halbtagsschulsystems in Deutschland in ein besseres Angebot für Kinder, Eltern und Lehrer, in Ganztagsangebote begonnen worden ist. Dafür lohnt es zu kämpfen, und in 15 Jahren freuen Sie sich, freuen wir uns und freuen sich vor allem die Kinder. Danke. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Ladenöffnung an Samstagen - Drucksache 15/396 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt.

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gemessen an der Furore, die der Ladenschluss in der Vergangenheit ausgelöst hat, ist die Teilnahme an der Debatte hier eher etwas gering. Aber vielleicht ist das Thema auch schon über die letzten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zu oft debattiert worden, als dass noch Neues dabei zu finden wäre. Die Konfliktlinien sind seit Jahr und Tag gleich. Die Auffassungen reichen von einer Befürwortung der völligen Abschaffung des Ladenschlussgesetzes bis hin zur Ablehnung jedweder Änderung des geltenden Rechts. Dabei bestimmen häufig nicht die Sachargumente, sondern leider auch viele sehr ideologische und politische Positionen die Diskussion. Mit dem jetzt vorgelegten Entwurf des Gesetzes zur Verlängerung der Ladenöffnung an Samstagen setzt die Bundesregierung auf eine Reform mit einer maßvollen Ausweitung der Ladenöffnungszeiten. Wir laufen nicht mit ideologischen Scheuklappen herum. Wir haben uns den Blick für das Notwendige bewahrt. Wenn ich das sage, rufe ich noch einmal das Ifo-Gutachten und die Bewertung des Ifo nach der letzten Liberalisierung Mitte der 90er-Jahre in Erinnerung. Für das Jahr 1999 gilt hier Folgendes: Eine Erweiterung der Ladenöffnung bis 20 Uhr an Werktagen, von Montag bis Freitag, und an Samstagen bis 16 Uhr, so heißt es, ist von den Verbrauchern angenommen worden. Das begrüßen wir ausdrücklich. Vor allem die wochenendnahen Tage von Donnerstag bis Samstag werden von gut 50 Prozent der Verbraucher zum Kauf in den verlängerten Öffnungszeiten genutzt. Wie sieht das Interesse der Verbraucher bezüglich einer weiteren Verlängerung der Öffnungszeiten aus? Im Ifo-Gutachten heißt es: 45 Prozent der Verbraucher plädieren für die Abschaffung der gesetzlichen Ladenschlusszeiten an den Wochentagen, also von Montag bis Samstag, während sich 36 Prozent dagegen aussprechen. Am Samstag wollen 46 Prozent eine auf wenige Stunden befristete Öffnung, während sich 44 Prozent der Verbraucher grundsätzlich negativ äußern. Der Einzelhandel selbst ist ebenfalls außerordentlich gespalten. Die Befürworter und Kritiker der Ladenschlussliberalisierung stehen sich, so hieß es 1999 - drei Jahre nach der Reform -, in großen Gruppen gegenüber. Während 32 Prozent der Einzelhändler für eine Ladenöffnung nach 18.30 Uhr eintreten, sind 26 Prozent für eine völlige Aufhebung der gesetzlichen Restriktionen und 40 Prozent für die Schließung der Geschäfte um 18.30 Uhr. Zu den Befürwortern der vollständigen Liberalisierung gehören naturgemäß meist die größeren Unternehmen und Geschäfte, während die kleinen und mittleren Geschäfte dagegen opponieren. Für ein generelles Verbot der Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen sprechen sich 57 Prozent der Geschäfte aus. 12 Prozent sind für eine zeitlich befristete Öffnung und 21 Prozent für eine völlige Aufhebung der Ladenschlussregelung an diesen Tagen. Das zeigt in der Bewertung der Interessen der größeren Unternehmen, der kleineren und mittleren Unternehmen, der Verbraucherinnen und Verbraucher, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Städte: Eine Verlängerung der Ladenöffnungszeiten am Samstag um vier Stunden, nämlich von 16 Uhr auf 20 Uhr, ist im Sinne eines Interessenausgleichs sinnvoll und vernünftig. Vor dem Hintergrund dieser Gesamtkulisse haben wir uns entschlossen, diesen und keinen anderen Weg zu gehen. ({0}) Ich glaube, in dem Regierungsentwurf ist damit auch eine zeitgemäße und bedarfsorientierte Öffnung vorgesehen. Die Einzelhandelsumsätze - das wissen Sie sehr wohl - bleiben seit Jahren unter den allgemeinen Wachstumsraten. Die Branche verliert pro Jahr 20 000 bis 30 000 Arbeitsplätze. Der Anteil der Ausgaben der Verbraucher zugunsten des Einzelhandels ist nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes in den letzten zehn Jahren von 32 Prozent auf 25 Prozent gesunken. Die Differenz, die ich hier beschrieben habe, fließt heute in andere Dienstleistungen, zum Beispiel in den Gesundheits- oder Bildungsbereich. Mit anderen Worten: Mit der Erweiterung wollen wir dem Einzelhandel die Chance geben, insbesondere an den verbraucherstarken Tagen - in diesem Fall geht es um den Samstag - den Abwärtstrend zu stoppen und umzukehren. Das wird gelingen, wenn er sich an den Bedürfnissen der Verbraucherinnen und Verbraucher orientiert. Seit der Änderung des Ladenschlussgesetzes im Jahre 1996 hat der Samstag im Käuferverhalten an Bedeutung gewonnen. ({1}) - Herr Schauerte könnte sich gerade in Bezug auf den Ladenschluss einmal in besonderer Weise für die kleinen und mittleren Betriebe einsetzen. ({2}) Diese schützen wir mit diesem Gesetz, indem wir ihnen mehr Spielraum geben; wir liefern sie den großen Unternehmen nicht aus. Das wäre eine gute Sache. Herr Schauerte, Sie passen ganz gut auf die Plätze der FDP. ({3}) Ein Bedarf an längeren Öffnungszeiten an Samstagen zeigen auch die Erfahrungen in Niedersachsen mit den verlängerten Ladenöffnungszeiten während der Weltausstellung EXPO 2000. Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben die längeren Öffnungszeiten am Samstag rege genutzt. Gleichwohl müssen wir auch hier wiederum zwischen den ländlichen Gebieten und den großen Städten unterscheiden. Das, was wir hier sehen, ist hochdifferenziert. Ich hoffe sehr darauf, dass die Debatte heute nicht wieder schwarzweiß wird. Sie muss dieser differenzierten Situation angemessen Rechnung tragen. Ich glaube, wir haben recht daran getan, die Unternehmen des Einzelhandels durch die Erweiterung des Öffnungsrahmens an Samstagen in die Lage zu versetzen, sich besser auf Verbraucherwünsche einzustellen und ihre Leistungen dem Bedarf und dem Kundenaufkommen anzupassen. Ich sage an dieser Stelle noch einmal: Niemand wird verpflichtet, sein Geschäft bis 20 Uhr offen zu halten. ({4}) Jeder soll nach Maßgabe und geschäftlichem Interesse seinen Laden offen halten oder ihn schließen, wenn er das für richtig hält. ({5}) Das ist eine Frage von Angebot und Nachfrage innerhalb eines vernünftigen Zeitraumes. ({6}) Ich will hinzufügen: Die Pflicht zur Schließung um 14 Uhr an Samstagen vor verkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen werden wir aufheben. Auch das ist vernünftig. Es war den Verbraucherinnen und Verbrauchern bereits in der Vergangenheit nicht zu vermitteln, dass zwar ein Sonntagsverkauf bei bestimmten Anlässen genehmigt wird, sie aber am vorhergehenden Samstag bereits um 14 Uhr vor verschlossenen Türen stehen müssen. Auch hier haben wir mit dem Gesetzentwurf vereinfacht und modernisiert. Zehn Regelungen werden aufgehoben. Wir werden unter anderem die Vorschriften für Warenautomaten und Friseurbetriebe aus dem Ladenschlussgesetz streichen. Eine Notwendigkeit für diese Regelungen ist nicht mehr erkennbar. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält - das will ich noch einmal sagen - eine maßvolle Anpassung der Ladenöffnungszeiten, die die veränderten Verbrauchergewohnheiten berücksichtigt, die Ergebnis umfänglicher Vorarbeiten, Anhörungen und wissenschaftlicher Untersuchungen ist und die vor diesem Hintergrund eine Balance zwischen den sehr unterschiedlichen Interessen darstellt. ({7}) Ich bin schon auf die aus Bayern angekündigten Initiativen gespannt. Ich erinnere mich zum Beispiel an die Auffassung der Religionsgemeinschaften zu dieser Debatte, die an uns herangetragen worden ist. ({8}) Sie befürchten, dass an den Wochenenden nicht mehr genügend Zeit für die Familie bleibt ({9}) und dass in erster Linie Frauen, die als Arbeitnehmerinnen im Einzelhandel tätig sind, die Betroffenen sind. Ich bitte Sie: Lassen Sie uns nicht das Kind mit dem Bade auskippen. ({10}) Lassen Sie uns die Bereiche regeln, die in Übereinstimmung mit dem Hauptverband des Deutschen Einzelhandels, dem HDE, realisiert werden können. Der Präsident des HDE hat ganz klar und deutlich gesagt: Jetzt muss endlich Schluss sein mit der Diskussion über weitere Vorschläge für eine Ladenschlussreform. Wir brauchen die Änderung des Ladenschlussgesetzes möglichst schnell, aber keineswegs noch mehr lange Debatten über Vorschläge, die sich dann auch noch gegenseitig blockieren. In diesem Sinne: Lassen Sie uns den vorliegenden Gesetzentwurf bitte sachlich beraten und zügig beschließen. Der Einzelhandel und die Verbraucherinnen und Verbraucher warten schon darauf. Schönen Dank. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Kues, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hermann Kues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, zu dem, was Sie vorgetragen und wie Sie begründet haben, was mit diesem Gesetzentwurf alles an Problemen gelöst wird, kann ich nur feststellen: Das ist nichts Ganzes und nichts Halbes, weil Sie keine Linie haben. ({0}) Uns sind zwei Dinge wichtig: Erstens. Wir wollen, dass der Sonntag konsequent geschützt wird. ({1}) Zweitens. Wir wollen, dass den Werktagen die bürokratischen Fesseln genommen werden. Das sind unsere Punkte. ({2}) - Für unsere Fraktion erkläre ich: Wir legen großen Wert darauf, dass der Sonntag eine Angelegenheit der Nation bleibt. Er ist ein Kulturgut und damit wichtig. Er soll nicht angegriffen werden. Wir wollen, dass am Sonntag Zeit für Familien, Verwandte und Freunde bleibt. Er ist auch für soziale und gesellschaftliche Kontakte wichtig. Er ist auch als Ruhepause wichtig. Er gehört zum Sieben-TageRhythmus: Man muss zur Besinnung kommen können, Sport treiben können, und wer möchte, muss auch für die Kirche Zeit haben. Das ist unser Anliegen beim Sonntag. ({3}) Die Zeit am Sonntag - das ist eine jahrhunderte-, jahrtausendealte Tradition - ist nicht unmittelbar von Nützlichkeitserwägungen bestimmt. Das ist unseres Erachtens der wichtige Punkt. Deswegen sagen wir: Der Sonntag soll bleiben, wie er ist; die Menschen sollen ihn für sich haben. Auf der anderen Seite sagen wir aber auch: Wir wollen keine bürokratischen Regelungen an den Werktagen, die Schritt für Schritt verändert werden. Vertrauen wir darauf, dass in den Regionen eine vernünftige Entwicklung in Gang kommt. ({4}) Man muss auf dem Land andere Regelungen finden können als in der Stadt. Einzelhändler, die sich auf gemeinsame Werbemaßnahmen verständigen, werden sich auch auf vernünftige Öffnungszeiten verständigen können. ({5}) Wir setzen auf die Vernunft der Leute. Wir setzen auf Subsidiarität. Die Menschen sollen selbst entscheiden können, wann es sich für sie lohnt und unter welchen Umständen es sich privat und familiär einrichten lässt, die Öffnungszeiten zu verändern. ({6}) Auch wir vertreten die Position - das sage ich ganz deutlich -, dass keiner seinen Laden öffnen muss. Die Frage ist, ob er ihn öffnen darf. Diese Freiheit wollen wir ihm an den Werktagen lassen. ({7}) Ich bin sicher, dass es vernünftige Regelungen geben wird. Es ist klug, wenn sich der nationale Gesetzgeber auf einen zentralen Punkt konzentriert, nämlich auf den Sonntagsschutz. Auf der anderen Seite sollten wir uns aber zu unbürokratischen Regelungen für die Werktage bekennen. Diejenigen, die einfallsreich sind, die etwas unternehmen wollen, die eine besondere Dienstleistung anbieten wollen, dürfen in Deutschland nicht gezwungen sein, erst eine Tankstelle pachten zu müssen, damit das machbar wird. ({8}) Das ist der falsche Weg. Wir wollen mehr Freiheit für die Menschen. Die Argumente wurden alle schon genannt. Ich glaube nicht, dass es zu einem Rund-um-die-Uhr-Einkauf kommt, weil der Kunde zwar König ist, aber auch Nachtruhe braucht. Das wird sich einpendeln. Wir stellen ja bereits fest, dass die jetzigen Öffnungszeiten keineswegs völlig ausgenutzt werden. Die Frage, was mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird, ob sie übermäßig belastet werden, lässt sich klären. Es gibt andere Regelungen, durch die dem Missbrauch ein Riegel vorgeschoben wird. Es gibt tarifliche Vereinbarungen. Die wöchentliche Arbeitszeit beläuft sich im Schnitt auf 37,5 Stunden. Es gibt das Arbeitszeitgesetz, das dort greift, wo keine tariflichen Regelungen getroffen wurden. Wir brauchen eine Lösung, die Spielraum lässt für Fantasie und die vor allem denjenigen Möglichkeiten schafft, die im Dienstleistungsbereich ein Angebot machen wollen, anstatt arbeitslos zu sein und ihr Geld vom Arbeitsamt zu beziehen. Das sollten wir unterstützen. ({9}) Wenn man sich im Übrigen mit dem Werdegang dieses Gesetzentwurfes beschäftigt, bekommt man eine Ahnung davon, wie Sie Politik machen. Sie leben mit Ihren politischen Initiativen von der Hand in den Mund. Sie wissen heute nicht, was Sie sich morgen vornehmen wollen, und tun so - Herr Staatssekretär, das klang auch in Ihrer Rede an -, als wenn man Politik durch Symbolik ersetzen könnte. Noch Anfang Dezember, also vor gut zwei Monaten, hat die Bundesregierung auf eine Anfrage des Kollegen Jüttner geantwortet, eine Änderung des Ladenschlussgesetzes sei nicht vorgesehen. Jetzt will sie plötzlich ein Zaubermittel entdeckt haben und dadurch den Eindruck erwecken, als würden mutige Entscheidungen gefällt. Das ist keine mutige Entscheidung, sondern eine bürokratische Entscheidung. Die hilft uns nicht weiter! ({10}) Denn wir befinden uns auf dem Arbeitsmarkt, bei der steuerlichen Belastung, bei den Abgaben und bezüglich der Sozialsysteme in einer wirtschaftlichen Strukturkrise ungeahnten Ausmaßes. Im Verhältnis dazu ist der Ladenschluss geradezu eine Bagatelle. Das ist Politik nach der Devise „Heute so, morgen vielleicht ganz anders!“ Ihr Motto scheint zu lauten: Als sie das Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten sie die Anstrengungen. Unser Ansatzpunkt - das will ich noch einmal klar sagen - ist eindeutig: Zur Sieben-Tage-Woche gehört ein freier Tag. Das ist Kultur und Tradition. Das muss der Gesetzgeber schützen. Wie sich das auf Dauer entwickeln wird - diese persönliche Bemerkung sei mir gestattet -, hängt nicht in erster Linie vom staatlichen Rahmen ab, sondern davon, ob wir als Bürgerinnen und Bürger den Sonntag praktizieren, ob wir ihn also durch unser Verhalten inhaltlich füllen. Wenn er zu einer leeren Hülle verkommt - das sage ich auch ganz deutlich -, dann ist er auf Dauer immer schwerer zu verteidigen. Ich bin dafür, lieber weniger zu regeln und das gescheit, als alles Mögliche regeln zu wollen, neue Bürokratie zu produzieren, im Endeffekt das eigentliche Ziel aber aus den Augen zu verlieren. Gestatten Sie mir noch eine letzte Bemerkung. ({11}) Wir haben im Wahlkampf viel über die Bedeutung der Familien geredet. Hinbekommen haben wir in der letzten Legislaturperiode wenig und in dieser eigentlich so gut wie gar nichts. Politik muss auch Zeit für Familien sichern. Ich glaube, die erfolgreichste familienpolitische Leistung der letzten Jahre und der künftigen Jahre wird es sein, dass wir den Sonntag verteidigen. Denn das, glaube ich, gibt Zeit für Familien, gibt Zeit für Kinder, gibt Zeit für Freunde; ({12}) das muss unser Ziel sein. Unnötige bürokratische Regelungen haben hier nichts zu suchen. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Herbert Ulrich, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Hubert Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003649, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden heute über den von der Regierungskoalition eingebrachten Antrag zur Erweiterung der Ladenöffnungszeiten am Samstag. Diese Debatte hat eine lange Vorlaufzeit, wie wir eben gehört haben. ({0}) Bei dieser Erweiterung geht es schlichtweg um eine logische Folgerung der Änderungen des Jahres 1996, weil sich seit 1996 herausgestellt hat, dass der Samstag von den Konsumentinnen und Konsumenten sehr viel deutlicher und sehr viel stärker angenommen wird als erwartet. Insofern ist es logisch und konsequent, insbesondere den Samstag bis 20 Uhr freizugeben. ({1}) Eine weitere Maßnahme in diesem Gesetzentwurf ist die Herausnahme der Friseurgeschäfte aus dem Ladenöffnungsgesetz, was ich für sehr sinnvoll halte. Es werden insgesamt zehn Verwaltungsvorschriften gestrichen. Die Sonntage bleiben von diesen ganzen Regelungen unberührt. Die Diskussion um die Erweiterung der Ladenöffnungszeiten zerfällt eigentlich in zwei Diskussionskomplexe. Zum einen geht es immer wieder um die Rechte der Beschäftigten, insbesondere bei den Gewerkschaften. Zum anderen geht es um mehr Verbraucherfreundlichkeit. Gerade bei der Verbraucherfreundlichkeit müssen auch wir als Politik zur Kenntnis nehmen, dass sich die Bedarfsstrukturen in den letzten Jahren und Jahrzehnten einfach völlig verändert haben. Was wir brauchen, ist gerade bei den Ladenöffnungszeiten mehr Familienfreundlichkeit. ({2}) Hierbei geht es um eine Entzerrung von Arbeitszeit und Einkaufszeit. Da läuft heute vieles nicht mehr zusammen, und das macht eine Flexibilisierung dieser Zeiten notwendig. Man muss wissen: Zwei Drittel aller Beschäftigten in Deutschland wollen eine Liberalisierung und 50 Prozent aller Verbraucher wollen sie ebenfalls. Die andere Seite ist natürlich die Diskussion um die Rechte der Beschäftigten. Aber hier muss man ganz klar und offen sagen: Es geht nicht um Mehrarbeit für die Menschen, die im Einzelhandel beschäftigt sind, es geht um eine andere Verteilung der Arbeit. Die Arbeit dort ist in Tarifverträgen geregelt und an diesen Tarifverträgen will schlichtweg niemand etwas ändern. Aber es kann nicht sein, dass von rund 90 Prozent der 36 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland eine hohe Flexibilität verlangt wird, was die Arbeitszeiten angeht - zwei bis drei Schichten sind da normal -, aber bei einer Gruppe, nämlich den Menschen, die im Einzelhandel beschäftigt sind, diese Diskussion hinten runterfällt. Da hat man ein Ungleichgewicht, das durch nichts zu begründen ist. Der Polizist muss in drei Schichten arbeiten, die Krankenschwester, der Schichtarbeiter in der Industrie sowieso, Feuerwehrleute und viele andere auch. Hier muss man einmal ein deutliches Wort an die Adresse der Gewerkschaften und eine deutliches Wort an die Adresse von Herrn Bsirske sagen, auch wenn er Grüner ist. Es kann nicht sein, dass die Gewerkschaften eine solche Diskussion durch einen wirklichen Strukturkonservatismus ewig behindern. Da muss auch von deren Seite eine gewisse Offenheit in die Debatte hinein. ({3}) Es kann nicht sein, dass ich als Gewerkschaft auf der einen Seite - zu Recht, sage ich - mehr Arbeitsplätze einfordere, auf der anderen Seite aber nicht bereit bin, meinen Teil dazu zu leisten. Ich finde es auch völlig verkehrt - um das an dieser Stelle noch einmal zu sagen -, dass sich der Herr Zwickel jetzt in einer solchen Diskussion, wie wir sie hier insgesamt haben, aus dem Bündnis für Arbeit verabschiedet. Es muss auch einmal anerkannt werden, dass die Lohnnebenkosten sowohl im Einzelhandel als auch in anderen Bereichen ein Problem darstellen, das gelöst werden muss. Das andere Extrem ist in den Anträgen von FDP und CDU/CSU die Freigabe der Ladenöffnungszeiten. Eine völlige Freigabe der Ladenöffnungszeiten würde natürlich eine Menge Probleme mit sich bringen. ({4}) - Ja, auch an Werktagen. Insbesondere die mittelständischen Betriebe und die Klein- und Kleinstbetriebe würden unter einer solchen Freigabe sehr stark leiden. ({5}) Sie befinden sich heute bereits in einer sehr großen Konkurrenzsituation durch Internethandel, Tankstellen und Bahnhöfe und vor allen Dingen durch die Discounter und die großen Einkaufszentren draußen auf der grünen Wiese. ({6}) Die Geschäfte in innenstädtischen Lagen haben eine Menge Wettbewerbsnachteile, insbesondere die Kleinund Kleinstbetriebe. Sie haben die Hochbaukosten, müssen Ablösegebühren für Stellplätze zahlen und ein höheres Mietkostenniveau finanzieren. Die Verkaufsflächen pro Mitarbeiter sind in Innenstädten deutlich kleiner als draußen auf der grünen Wiese. Die Personalkosten betragen im Innenstadtbereich 16,3 Prozent, auf der grünen Wiese 7,6 Prozent.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?

Hubert Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003649, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, das sehe ich nicht. Erstens sind Zwischenfragen parlamentarisch sehr hilfreich und zweitens wissen Sie, dass meine Fragen in aller Regel qualitativ sehr hochwertig sind. Herr Kollege Ulrich, Sie haben gerade zu Recht festgestellt, dass die kleinen Betriebe in Innenstadtlagen in aller Regel hohe Kosten haben, weil die Mieten dort hoch sind, weil sie Stellplätze zur Verfügung stellen müssen und Ähnliches. Würden Sie mir zustimmen, dass die von Ihnen angesprochenen Kosten unabhängig von der Ladenöffnungszeit immer gleich hoch sind ({0}) - die Miete bleibt gleich, egal, ob ich acht, zwölf oder 24 Stunden am Tag öffne -, dass ich bei Freigabe der Ladenöffnungszeiten aber - wenn ich es möchte, nicht weil ich es muss - die Möglichkeit hätte, über einen längeren Zeitraum auch mehr Umsatz zu machen? ({1})

Hubert Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003649, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Niebel, die Arbeitskosten sind aber insbesondere bei den kleinen Unternehmen sehr viel anders verteilt als bei den großen, die das sehr viel deutlicher und besser ausgleichen können. Insofern müssen Sie die Arbeitskosten von den Restkosten deutlich trennen. Darin liegt das Problem. ({0}) Ich möchte mit dem, was ich eben gesagt habe, eigentlich verdeutlichen, dass wir Konzepte brauchen, um dem klassischen Tante-Emma-Laden auch heute noch Überlebensmöglichkeiten zu geben. Wir brauchen Konzepte für eine Existenzerhaltung dieser so genannten Tante-EmmaLäden, auch wenn es von der Zahl her bereits heute deutlich weniger gibt als noch vor einigen Jahrzehnten. „Tante-Emma-Laden“ ist für mich heute einfach eine Umschreibung für Klein- und Kleinstbetriebe. Die perverseste Form von Einzelhandel, die wir im Moment in Deutschland haben, sind die so genannten Factory Outlet Center, die eine generelle Konkurrenz für unsere Innenstädte darstellen. Wenn man nach Amerika guckt, stellt man fest, dass sie auch dort zu ganz großen Problemen geführt haben. In den Vereinigten Staaten - auch das sollte nicht unerwähnt bleiben - gibt man heute bereits zig Millionen US-Dollar aus, um die Innenstädte wieder zu beleben. Dort versucht man eine Entwicklung zurückzudrehen, in der wir uns gerade befinden. Deshalb müssen wir von der Politik aus einfach ein Zeichen setzen, um das zu stoppen. Wir haben bereits in der letzten Runde zu den Ladenöffnungszeiten vom City-Privileg gesprochen, von dem ich persönlich sehr viel halte, von dem auch wir als Grüne sehr viel halten. Dabei geht es um eine deutliche Bevorteilung der Innenstadtlagen gegenüber der grünen Wiese. Ich denke, man sollte in diesem Haus parteiübergreifend ernsthaft darüber nachdenken, dass man die Entscheidung den Kommunen überlassen sollte. Die Kommunen sollten entscheiden, was eine Innenstadtlage und was eine grüne Wiese ist, und sie sollten durch eine zeitliche Differenzierung der Ladenöffnungszeiten den Geschäften in Innenstadtlagen einen größeren Spielraum und somit auch einen klaren Wettbewerbsvorteil geben. Dabei gibt es eine Menge Verbündete. Beispielsweise tritt der Deutsche Städte- und Gemeindetag für ein solches Innenstadt- oder City-Privileg ein. ({1}) Bestimmte Einzelhandelsverbände, der Zentralverband des Deutschen Handwerks und eine ganze Reihe von Bundesländern haben am 30. Januar dieses Jahres im Bundesrat eine Prüfbitte gestellt, um die räumliche und zeitliche Differenzierung der Ladenöffnungszeiten zu eruieren. Ich denke, auch der Deutsche Bundestag sollte diesen Gedanken aufgreifen und einmal ernsthaft darüber diskutieren. Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren bereits eine ganze Menge Maßnahmen ergriffen, um dem Einzelhandel und auch dem Mittelstand unter die Arme zu greifen. Eine ganz wichtige Maßnahme - auch das soll hier nicht unerwähnt bleiben - ist die Anrechnung der Gewerbesteuer auf die persönliche Einkommensteuer. Dadurch werden insbesondere die Personengesellschaften im Vergleich zu den Kapitalgesellschaften deutlich besser gestellt. Ein weiterer wichtiger und großer Schritt war der Aufbau eines Niedriglohnsektors. Ich denke, auch hier haben wir sehr viel erreicht. Der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels rechnet aufgrund dieser Maßnahme mit 100 000 neuen Jobs. Wir haben außerdem dem Mittelstand und insbesondere den kleinen Betrieben - auch das geht in die gleiche Richtung - durch die Verankerung einer Mittelstandskomponente in Basel II und durch den Verlustvortrag Vorteile verschaffen können, die sie in der Vergangenheit nie hatten. Wir, die rot-grüne Koalition und insbesondere das Bündnis 90/Die Grünen, nehmen die Probleme des Mittelstands also ernst. Wir tun etwas, was die heutige Opposition in ihren Regierungszeiten nie gemacht hat. ({2}) Könnte man sich noch für ein City-Privileg erwärmen, dann hätte man zusammen mit den eben genannten Maßnahmen ein echtes Gesamtkonzept zur Stärkung von Klein- und Kleinstbetrieben sowie der Geschäfte in Citylagen. Mittelstand wurde in der Vergangenheit insbesondere bei der FDP immer groß geschrieben. Wann immer es aber um die Umsetzung ging, kam bei Ihnen nur Kleingedrucktes heraus. Das finde ich schade. Meine Redezeit ist, wie ich gerade sehe, leider um. ({3}) Deshalb nur noch einen Satz: Ich appelliere an das Haus, über die von mir vorgetragenen Vorschläge ernsthaft nachzudenken. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gudrun Kopp, FDPFraktion.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Wir diskutieren heute Nachmittag darüber, ob die Ladenschlusszeiten an Samstagen um weitere vier Stunden verlängert werden sollen. Ich finde diese Debatte peinlich und auch unnötig, weil der Wirtschaftsstandort Deutschland - man muss sich nur die hohen Steuern und Abgaben sowie die hohe Arbeitslosenzahl anschauen - große Probleme hat. Trotzdem diskutieren wir über jede weitere Stunde, um die die Ladenöffnungszeiten verlängert werden sollen. Diese Debatte geht völlig an dem vorbei, was tatsächlich notwendig wäre. ({0}) Herr Kollege, Sie haben zwar das City-Privileg und auch viele andere Regelungen angesprochen. Aber das Beste wäre, wenn wir nicht nur daran dächten, Kosten, Steuern und Abgaben zu senken, sondern auch mit der Task Force für den Bürokratieabbau Ernst machten. ({1}) Nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung soll das Gesetz über den Ladenschluss zukünftig nicht mehr elf, sondern nur noch neun Seiten umfassen. Insofern sind einige Regelungen - man höre und staune - tatsächlich weggefallen. Aber es befinden sich noch immer genügend Klein- und Kleinstregelungen in diesem Gesetz. Ich möchte Ihnen nur eine einzige vorlesen, die den Geist, der durch dieses Gesetz weht, sehr deutlich macht. In § 3 des Gesetzes über den Ladenschluss, den Sie unverändert lassen, steht: „Die bei Ladenschluss anwesenden Kunden dürfen noch bedient werden.“ Das ist ja prima. Hoffentlich geht das nicht zu weit über 20 Uhr hinaus. Es ist einfach peinlich, dass wir uns in der jetzigen hochbrisanten Wirtschaftslage auch noch um solche Kleinigkeiten kümmern. Ihnen fehlt der große Wurf. ({2}) Wir haben Sie gebeten, zu unserem Vorschlag einer konsequenten, unbürokratischen Regelung Ja zu sagen, nämlich zu der Abschaffung von gesetzlichen Regelungen der Ladenschlusszeiten an Werktagen. Auch für uns bleibt der Sonntag verfassungsrechtlich geschützt. Etwaige Sonderregelungen fallen in die Kompetenz von Ländern und Kommunen. Der Bund soll damit nichts weiter zu tun haben. ({3}) Alle Bedenken, die gerade von Gewerkschaftsseite kommen, können wir mit dem Hinweis auf das Arbeitsschutzgesetz für nicht tarifgebundene Firmen, die Branchentarife für tarifgebundene Firmen, die Regelungen zur Festsetzung der Höchstarbeitszeiten und die Möglichkeiten des Ausgleichs entkräften. Von daher sollte es keine Probleme geben. Ich finde es aber bedenklich, wenn die Gewerkschaft Verdi mit Protesten und Demonstrationen droht ({4}) und ankündigt, dass sie als Ausgleich für die längeren Öffnungszeiten weitere Zuschläge fordern werde. Im Augenblick wird für samstags von 14 bis 16 Uhr ein Zuschlag von 20 Prozent gezahlt. Diese Regelung möchten die Gewerkschaften auf die Zeit bis 20 Uhr ausdehnen. Ich möchte nicht, dass es zu einer Änderung des Manteltarifs in dem Bereich kommt. ({5}) Mein Vorredner, Herr Ulrich, war ja mit erfrischend neuen Gedanken ausgestattet und hat gesagt: Das geht zu weit. Auch den Gewerkschaften muss dringend einmal gesagt werden, wo ihre Grenzen sind. ({6}) Wir können uns nicht das diktieren lassen, was vorgestern Geltung hatte. ({7}) Herr Staatssekretär Staffelt, Sie haben den HDE genannt. Ich möchte da eine kleine Korrektur anbringen. Der HDE hat gesagt: Der Gesetzentwurf der rot-grünen Regierung ist besser als nichts. Wir dürfen demnächst wenigstens samstags vier Stunden länger öffnen. Besser fänden wir natürlich die konsequente Lösung, das Ladenschlussgesetz für Werktage völlig fallen zu lassen. ({8}) - Sechsmal 24 Stunden. Vielen Dank. - Das heißt nicht - das sage ich noch einmal ausdrücklich -, dass 24 Stunden lang geöffnet werden muss, aber jeder soll die Chance dazu haben. Auch zum Besten der kleineren mittelständischen Unternehmen soll für jeden und jede die Chance bestehen, in der Zeit zu öffnen, von der er oder sie meint, branchenspezifisch am besten Umsätze machen zu können. ({9}) Es liegt doch im ureigenen Interesse der Marktteilnehmer, der Anbieter und derjenigen, die Dienstleistungen nachfragen, dass sie es selbst regeln können. An die Regierungsseite sage ich: Trauen Sie doch den Menschen mehr zu! ({10}) Wir brauchen Gott sei Dank nicht überall politische Eingriffe und gesetzgeberische Maßnahmen. Wir brauchen keinen Gesetzgeber, der den Schlüssel der Ladentür herumdreht und den Marktteilnehmern vorschreibt, wann sie was wie machen dürfen. Ich sage Ihnen noch einmal: Die Lage des Handels ist dramatisch. Für das Jahr 2003 - Sie wissen es - wird ein weiterer Umsatzrückgang von 1,5 Prozent prognostiziert. Auch die stark gestiegenen Kosten für Energie sowie die stark gestiegenen Steuern und Abgaben und der Konsumverzicht der Verbraucher setzen dem Handel enorm zu. ({11}) Das sind die Probleme! Wir können den Marktteilnehmern auf diesem Gebiet wenigstens zu etwas mehr Freiheit - weniger Bürokratie, weniger Vorschriften - verhelfen. Deshalb kann es eigentlich nur eine logische Konsequenz geben, nämlich die, dass das gesamte Haus den Gesetzentwurf der FDP-Bundestagsfraktion beschließt. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Grotthaus, SPD-Fraktion.

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, dass ich zuerst einmal zu dem Stellung beziehe, was der Kollege Kues gesagt hat. Ich erinnere daran, dass wir im Dezember den Gesetzentwurf der FDP und den Antrag der CDU/CSU beraten haben, in denen es darum ging, die Ladenöffnung praktisch rund um die Uhr freizugeben. Wir haben das damals abgelehnt, ({0}) und zwar mit dem Hinweis darauf, dass ein Regierungsentwurf vorgelegt wird und wir diesen Regierungsentwurf in jedem Fall unterstützen werden. ({1}) Die Regierung hat Wort gehalten. Wir werden auch Wort halten. Ich werde in meinen Ausführungen auch darlegen, weshalb wir glauben, dass dies richtig ist. Wir haben damals gesagt, dass es keinen Sinn hat, 24 Stunden geöffnet zu haben, weil dies nicht dem Bedarf der Verbraucher entspricht. ({2}) Wir haben dies auch in Gesprächen mit den Arbeitgeberverbänden festgestellt. Uns ist gesagt worden: Es ist tatsächlich so, dass es für die Zeit nach 20 Uhr keinen Bedarf mehr gibt. ({3}) - Herr Niebel, Ihre Zwischenfrage vorhin war schon qualifiziert und Ihre Zwischenrufe bewerte ich als noch qualifizierter. Von daher bitte ich Sie, Ihre Energie für andere Dinge zu verwenden, vielleicht für bessere Beiträge, die Sie ja noch leisten können. ({4}) Der Kollege Kues hat gesagt, wir hätten keine Linie, bei uns sei das nichts Halbes und nichts Ganzes. Herr Kollege Kues, wenn sich Ihre Linie nur darin äußert, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer rund um die Uhr zur Verfügung zu stehen haben, dann sage ich: Mit uns nicht! ({5}) Ich erinnere daran, dass das Ladenschlussgesetz auch ein Arbeitsschutzgesetz ist. Wenn Sie unter dem Abbau von Bürokratie letztlich den Abbau von Arbeitnehmerrechten verstehen - alles deutet darauf hin -, dann sagen wir noch einmal: Mit uns nicht! ({6}) - Mir wird Angst und Bange, wenn ich aus Ihrem Munde höre, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbstständig sein sollen. Ich lade Sie dazu ein, sich einmal anzuschauen, wie es in den Bereichen aussieht, für die Sie die Selbstständigkeit verlangen. ({7}) Dort gibt es Personen, die von Menschen, die Ihre Ideologie teilen, am langen Gängelband geführt werden. Ich wiederhole: Sie sind herzlich eingeladen, sich das einmal anzuschauen. Wir haben die Flexibilität betont. Diese Flexibilität wird für den Zeitraum zwischen 6 Uhr und 20 Uhr gelten, aber nicht für den Zeitraum zwischen 20 Uhr und 6 Uhr. Die Kollegin Kopp hat die Tarifhoheit beim Zustandekommen der Tarifverträge betont. Frau Kollegin Kopp, diese Tarifverträge werden durch die Verabschiedung dieses Gesetzes nicht beeinflusst. Die vorhandene Tarifhoheit wird strengstens beachtet werden. ({8}) Wir sehen aber immer wieder, dass Sie versuchen, sich in die Tarifhoheit einzumischen. Dazu sagen wir: Nicht mit uns! Es gibt einen Arbeitgeberverband und Gewerkschaften, die darüber verhandeln werden. Mir wäre es lieb gewesen, wenn Sie sich ähnlich geäußert und die Grenzen gewerkschaftlichen Handelns aufgezeigt hätten, als die Ärzte gedroht haben, an einem Tag in der Woche zu streiken, wodurch sie ihrem Auftrag, im Gesundheitswesen jederzeit zur Verfügung zu stehen, nicht nachkommen würden. ({9}) Dies haben Sie nicht getan. Deshalb sage ich Ihnen: Sie beweisen immer wieder, dass Sie auf einem Auge blind sind. Das wissen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Lande. Auch deswegen werden Sie in diesen Kreisen nicht ernst genommen. ({10}) Der Regierungsentwurf enthält die - aus unserer Sicht passgenaue - Regelung - ich habe schon gesagt, dass wir darüber mit den Arbeitgeberverbänden gesprochen haben -, die Ladenschlusszeiten am Samstag von 16 Uhr auf 20 Uhr zu erweitern. Die Läden werden künftig in der Zeit von 6 Uhr bis 20 Uhr offen sein dürfen; sie dürfen also maximal 14 Stunden geöffnet haben. Dank der verlängerten Ladenöffnungszeiten an den traditionell umsatzstarken Samstagen können sich Einzelhandelsunternehmen besser auf die Bedürfnisse der Verbraucher und auf das Kundenaufkommen einstellen. Durch eine stärkere Kundenorientierung erhalten sie die Chance, die Wachstums- und Beschäftigungspotenziale des Einzelhandels voll zu nutzen. Im Vordergrund steht dabei immer stärker der Dienstleistungs- und Erlebnisaspekt. Das Käuferverhalten hat an Bedeutung gewonnen und dem trägt die Regierung mit ihrem Gesetzentwurf Rechnung. Der Gesetzentwurf der Regierung berücksichtigt den im Ladenschlussgesetz enthaltenen Ausgleich zwischen den Interessen der Beschäftigten, der Geschäftsinhaber und der Verbraucher. Das Thema Ladenschluss - dies ist allen in diesem Hause bekannt - wird von weiten Teilen der Gesellschaft diskutiert. Die Lockerung des Ladenschlusses dürfte deshalb kein Tabu sein und sie ist in unserer Fraktion nie ein Tabu gewesen. ({11}) Die Opposition hat, wie erwähnt, weiter gehende Vorschläge, die insbesondere den Arbeitsschutz betreffen, aufheben wollen. Ich wiederhole: Wir werden das nicht mitmachen. ({12}) - Ihnen muss einmal der Sinn des Ladenschlussgesetzes klar werden. Mit dem Gesetzentwurf der Regierung bleibt es bei der Begrenzung der Öffnungszeit an den übrigen Werktagen bis 20 Uhr. Die Beschäftigten werden weiterhin vor ungünstigen Arbeitszeiten, insbesondere in den späten Abendstunden, geschützt. Aus dem gleichen Grund setzen wir uns auch - zumindest dies scheint in diesem Hause unstrittig zu sein - für den Erhalt der Sonn- und Feiertage als gesetzlich geschützte Ruhetage ein. Die Diskussionen und die Debatten über dieses Thema machen deutlich, dass es uns gelingen muss, eine Balance zwischen den Interessen der Unternehmen und den Interessen der Beschäftigten im Einzelhandel herzustellen. Wir wissen durchaus, dass wir mit diesem Gesetz nicht alle Probleme im Einzelhandel lösen. Wir wissen, dass die Problematik der Belebung der Innenstädte damit in keiner Weise behoben wird. Die Novelle des Ladenschlussgesetzes ist nur eine Facette, bei der mit positiven Impulsen zu rechnen sein wird. Wir werden nach der Änderung des Ladenschlussgesetzes weitere notwendige Initiativen ergreifen müssen. Wir werden uns damit zu beschäftigen haben, inwieweit das Bauordnungs- und Planungsrecht, das in die Hoheit der Länder fällt, dahin gehend geändert werden muss, um die Innenstädte stärker zu beleben. Wir werden uns mit der großflächigen Ansiedlung von Einkaufszentren auf der „grünen Wiese“ beschäftigen müssen. Wir werden darüber zu reden haben, inwieweit auch auf diesem Gebiet Eingriffe möglich sind.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kopp gestatten?

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Frau Kopp antworte ich immer gern.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist sehr nett; herzlichen Dank, Herr Kollege Grotthaus. - Sie haben eben ausgeführt, wenn ich es richtig verstanden habe, dass unser Gesetzentwurf arbeitsrechtliche Regelungen beschneiden wolle. Würden Sie mir bitte sagen, an welcher Stelle wir dieses beabsichtigen?

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Ladenschlussgesetz beinhaltet keine Fragen des Arbeitszeitgesetzes, sondern ist ein Arbeitsschutzgesetz, ({0}) das dem Schutz der Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dient. Von daher greifen Sie, wenn Sie es den Läden gestatten wollen, rund um die Uhr zu öffnen, ({1}) unmittelbar in schutzwürdige Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein. Nichts anderes beabsichtigen Sie. ({2}) Ich halte also fest: Einen allumfassenden Anspruch in Bezug auf die Revitalisierung der Innenstädte erhebt dieses Gesetz nicht. Es wäre auch der falsche Ansatz, alle Probleme des Einzelhandels und seiner Beschäftigten über dieses Gesetz regeln zu wollen. Wir ermöglichen es den Einzelhandel mit diesem Gesetz, die Handelsumsätze voll abzuschöpfen, indem wir die Öffnungszeiten gemäß den Verbraucherbedürfnissen regeln und anpassen. Hier hat, wie wir meinen, die Regierung solide gearbeitet und einen für alle Seiten tragfähigen Kompromiss vorgelegt. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal das grundlegende Ziel des Regierungsentwurfs: Die Bundesregierung reagiert mit dieser Gesetzesvorlage auf ein verändertes Verhalten der Verbraucher, in deren Interesse eine Ausweitung der Öffnungszeiten an Samstagen liegt. Die Festlegung auf um vier Stunden verlängerte Öffnungszeiten am Samstag zielt wiederum darauf ab, die Beschäftigten des Einzelhandels vor Tätigkeiten zu sozial ungünstigen Zeiten zu schützen. Wir haben dies getan, um dem tatsächlichen Verbraucherverhalten, wie ich es gerade beschrieben habe, Rechnung zu tragen. Dabei kommt unsere Gesetzesvorlage, die ja schon einen Kompromiss darstellt, wie wir meinen, gut weg. Uns wurde bei den Gesprächen mit den Verbänden signalisiert, dass diese Lösung tatsächlich kompromissfähig ist. Von daher sehen wir der Anhörung, die am 10. März stattfinden wird, mit Interesse entgegen und sind gespannt, ob dann die Verbände, die mit uns geredet haben, dies ebenfalls noch einmal in aller Öffentlichkeit bestätigen werden. Dies deckt sich im Übrigen auch - Herr Staatssekretär Staffelt hat es schon erwähnt - mit den Erfahrungen aus den Versuchen mit verlängerten Ladenöffnungszeiten anlässlich der EXPO. Ich bin mir sicher, dass diese Fakten dazu dienen werden, nach der Anhörung zu einem Kompromiss in diesem Haus zu kommen. Ich bin mir auch sicher, dass bei der zweiten und dritten Lesung die Gemeinsamkeiten doch ein bisschen stärker herausgestellt werden. Es kommt, so meine ich abschließend festhalten zu können, darauf an, den gesellschaftlichen Wandel zu gestalten und uns nicht von ihm überrollen zu lassen; das will doch keiner von uns. An dieser Stelle hat die Bundesregierung gehandelt, gestaltet und modernisiert. Daran mitzuwirken sind alle, Herr Kollege Ulrich, eingeladen. Deswegen habe ich mit Freude Ihre Bemerkung zum Gewerkschaftskollegen Bsirske, der ja Ihr Parteikollege ist, wahrgenommen. Sie können in den nächsten Wochen die Gelegenheit nutzen, den Kollegen Bsirske davon zu überzeugen,

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- dass er diesem Entwurf zustimmt. Auch darauf sind wir gespannt. Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bevor ich dem Kollegen Singhammer das Wort erteile, erhält der Kollege Niebel Gelegenheit zu einer Kurzintervention.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Grotthaus, entsprechend Ihrem Wunsch, meine Energie nicht in einen Zwischenruf zu stecken, sondern sie anderweitig zu verwenden, werde ich das in einer Kurzintervention tun. ({0}) Sie haben in Ihrer Rede festgestellt, es gebe keinen Bedarf für Einkäufe nach 20 Uhr. Nun möchte ich Ihnen nicht die Pflicht aufdrücken, sich einmal kundig zu machen und Informationen darüber einzuholen, weshalb an Tankstellen, in Bahnhöfen und auf Flughäfen eingekauft wird. ({1}) Aber Sie selbst sind wahrscheinlich auch schon öfter in der Situation gewesen, dass Sie nach 20 Uhr und vor 22 Uhr beim Edeka im Bahnhof Friedrichstraße eingekauft haben. Da stehen die Schlangen bis in die Bahnhofsvorhalle und die Leute werden nur kontingentiert hereingelassen. So hoch ist der Bedarf um diese Zeit. Ich habe zwar im „Kürschner“ gelesen, dass Sie Mitglied der IG BCE und der IG Metall sind, ich habe aber nicht finden können, dass Sie einmal Einzelhändler oder gar Lebensmitteleinzelhändler gewesen wären. Deswegen frage ich Sie, welches Recht Sie sich als Gesetzgeber eigentlich herausnehmen, wenn Sie jemandem sagen wollen, wann er arbeiten und wann er nicht arbeiten darf. Mit welchem Recht versuchen Sie, uns zu unterstellen, wir wollten den Arbeitsschutz abbauen, obwohl doch das Arbeitszeitgesetz in Kraft bleibt, Tarifverträge und arbeitsvertragliche Regelungen in Kraft bleiben, kein Mensch im Einzelhandel wird mehr arbeiten müssen, als das heute der Fall ist, und sich nur die Arbeitszeiten den Gegebenheiten einer modernen Gesellschaft anpassen? Als Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit sollten Sie wissen, dass viele Berufsgruppen in diesem Land nicht von Montag bis Freitag von 8 bis 17 Uhr arbeiten. Sie selbst gehören einer solchen Berufsgruppe im Moment an. Es gibt Freiberufler, die an jedem Wochenende in ihrem Büro, ihrer Kanzlei oder ihrer Praxis sind. Es gibt Krankenschwestern, die zu allen Tages- und Nachtzeiten arbeiten. Das gilt ebenso für Feuerwehrleute, Polizistinnen und Polizisten, Soldatinnen und Soldaten und eine Vielzahl weiterer Berufsgruppen. Einzig das antiquierte Ladenschlussgesetz wollen Sie aus ideologischen Gründen aufrechterhalten. Geben Sie den Menschen die Freiheit, selber zu entscheiden, wann sie ihre Geschäfte öffnen bzw. wann sie konsumieren! Was Sie uns hier verkaufen wollen, ist hinterwäldlerische, mittelalterliche Politik. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Grotthaus, möchten Sie antworten? Bitte schön.

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Niebel, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie meine Gewerkschaftszugehörigkeit angesprochen haben. Ich bin stolz darauf, schon fast 40 Jahre in der Gewerkschaft zu sein. Sie sollten einmal überlegen: Vielleicht hätten auch Sie, wenn Sie Mitglied einer Gewerkschaft wären, einen anderen Sozialisationsprozess erlebt und vielleicht hätten Sie dann für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Staat mehr Verständnis; denn das vermisse ich bei Ihnen sehr oft. Ich spreche Sie deswegen persönlich an, weil Sie mich auf meine Gewerkschaftszugehörigkeit angesprochen haben. Ich sage Ihnen noch einmal: Ich bin stolz darauf. Wenn man uns Sozialdemokraten als Gewerkschafter bezeichnet, dann empfinde ich das nicht als Schimpfwort, sondern als Lob, da wir uns für die Menschen in diesem Staat einsetzen, die Hilfe brauchen. ({0}) Zu dem, was Sie zu den Einkäufen an Tankstellen, Flughäfen und Bahnhöfen gesagt haben: Das erlebe auch ich, Herr Kollege Niebel, aber ich sehe ebenso, wie viele Menschen dort stehen. Sie können nicht Berlin mit der Stadt, aus der ich komme, oder mit anderen Mittelzentren vergleichen. ({1}) Ist es denn so wichtig, nach 20 Uhr einkaufen zu können? Ist es nicht sinnvoll, abzuwägen, ob die Arbeitnehmerinteressen, die Interessen des Einzelhandels und die Verbraucherinteressen in Übereinstimmung gebracht werden können? Ich sage Ihnen noch einmal: Wir haben uns mit dem HDE unterhalten. ({2}) - Dann werden wir ja eine sehr interessante öffentliche Anhörung haben. - Der HDE hat uns gesagt, der Bedarf sei nach 20 Uhr nicht mehr vorhanden. ({3}) Wir werden uns an diesen Bedarf anpassen. Von daher stellt sich für uns diese Frage nicht. Wir orientieren uns nicht an der einzelnen Tankstelle in einem bestimmten Gebiet, in dem es vielleicht nicht viele Einzelhändler gibt, sondern wir sorgen dafür, dass die Familie an Samstagen, wenn sie komplett ist, ihren Erlebniseinkauf tätigen kann. Von daher werden Sie uns von unserem Entschluss, dem Regierungsentwurf zuzustimmen, nicht abbringen können. Da nützen noch so viele Kurzinterventionen und Zwischenfragen nichts. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland kann sich halbe Sachen nicht mehr leisten. Vor wenigen Tagen, am Montag dieser Woche, haben Zehntausende Einzelhändler, Gastronomen und Handwerker einen verzweifelten Hilferuf an die Politik gerichtet und gegen die rot-grüne Bundesregierung demonstriert: Tausende in München, Tausende in Berlin, Tausende in Hamburg, Tausende in Düsseldorf. Insgesamt haben in den vergangenen zwei Wochen mehr als 200 000 Menschen in Deutschland auf Protestkundgebungen ihren Unmut zum Ausdruck gebracht. Wenn Einzelhändler und Handwerksmeister ihr Geschäft verlassen, Umsatzverluste in Kauf nehmen und sich bei Schnee und Kälte vielleicht zum ersten Mal an einer Demonstration beteiligen, dann muss die Situation in Deutschland schon dramatisch sein. In der Tat: Der Einzelhandel hat im vergangenen Jahr das schlechteste Ergebnis seit dem Kriegsende 1945 zu verkraften. Auch die Vorhersagen für das eben begonnene Jahr 2003 geben wenig Anlass zur Hoffnung: 9 000 Konkurse im vergangenen Jahr, 9 000 Konkurse in diesem Jahr. Solch düstere Prognosen erreichen uns. In wenigen Wochen - das fürchten wir alle - wird in Deutschland die Schallmauer von 5 Millionen Arbeitslosen überschritten. Die Botschaft nicht nur dieser Demonstranten, sondern aller Menschen in Deutschland an die politisch Verantwortlichen ist klar und eindeutig: Schluss mit unnötigen Vorschriften, die blockieren! Weg mit hemmender Bürokratie! Öffnet die Schranken für mehr Eigenverantwortung und Freiheit! Gebt dem Handel Entscheidungsfreiheit über Ladenöffnungszeiten! ({0}) Macht keine halben Sachen, sondern klare und einfache Lösungen! Der rot-grüne Gesetzentwurf, nur an Samstagen die Öffnungszeiten zu verlängern, genügt nicht. Sie von RotGrün sprechen immer wieder von Reformen und Reformtempo. Das Zustandekommen Ihres Gesetzesvorschlages ist dafür wieder ein schlechtes Beispiel: Die Bundesregierung hat für die Regelung, die Öffnungszeiten um nur vier Stunden pro Woche zu erweitern, ein halbes Jahr benötigt. Mit diesem Tempo werden Sie der Situation in Deutschland nicht gerecht. Unser Vorschlag, der der Union, ist klar und großzügig und beinhaltet keine zusätzliche Bürokratie: Erstens. Wer einkaufen will, soll das künftig rund um die Uhr tun können. Zweitens. Sonntage und Feiertage bleiben uns heilig. Die Vorteile liegen auf der Hand: Mit dieser Regelung haben alle Ladenunternehmer die gleichen Chancen wie bisher Tankstellen und Geschäfte in Bahnhöfen oder in Flughäfen. Jetzt werden Ladenbesitzer nicht mehr gegenüber dem zunehmenden Internethandel benachteiligt, der ohne Ladenöffnungsregeln rund um die Uhr anbieten kann. Familien mit Kindern können Kindererziehung, Büro- und Berufszeiten, Haushalt und Einkauf besser planen. Die Unternehmer haben die Chance, sich exakt die Tageszeiten herauszusuchen, die für sie am interessantesten und am besten sind. Ein Öffnungszwang, wie er immer wieder unterstellt wird, existiert nicht, sondern Öffnungsfreiheit. Rot-Grün bleibt dagegen beim alten Wahlspruch seiner Regierungszeit in den vergangenen viereinhalb Jahren: Wo immer eine Schwierigkeit auftaucht, sehen Sie zunächst die Probleme und nicht die Chancen. Wir sagen: Wir müssen die Chancen erkennen. Mut lohnt sich und Angst lähmt. ({1}) Richtig ist natürlich, dass dies für die einzelne Verkäuferin und den einzelnen Verkäufer zu Umstellungen führen wird. Aber das Arbeitszeitgesetz ändert sich entgegen dem, was Sie, Herr Grotthaus, soeben gesagt haben, dadurch nicht. Vielmehr wird in ihm für jeden die maximale tägliche Arbeitszeit festgeschrieben. Die Verteilung der Arbeitszeiten sowie Zuschläge für mehr Frühoder Spätarbeit können und werden die Tarifvertragsparteien regeln, wie sie das bisher auch getan haben. Ich meine, es ist in vielen Fällen besser, künftig nach 18 Uhr eine Stunde mehr zu arbeiten und dafür mehr Sicherheit in Bezug auf den Arbeitsplatz zu haben, als keinen Arbeitsplatz mehr zu haben. In vielen Bereichen ist es für die Beschäftigten besonders attraktiv - das zeigt sich derzeit in den Tarifverträgen -, während der späten Ladenöffnungsstunden beschäftigt zu sein. Die Rentabilität wird steigen. Längere Ladenöffnungszeiten führen zu verbesserten Betriebsergebnissen. Eine Untersuchung des Kölner Instituts für Handelsforschung zeigt, dass die Verlängerung der Ladenöffnungszeit um eine Stunde die Umsatzrendite statistisch um 0,14 Prozentpunkte erhöht. Das heißt also, mehr Gelegenheit kann auch mehr Umsatz bringen. Ihnen von Rot-Grün passt das nicht. Nachdem der Chef der SPD-Fraktion, Herr Müntefering, die Devise ausgegeben hat „Weniger privater Konsum, dafür mehr Geld für den Staat!“, macht Ihre Politik in Bezug auf die Ladenöffnungszeiten natürlich Sinn. ({2}) Wir halten diese Weichenstellung allerdings für grundsätzlich falsch. ({3}) - Sie haben sich in manchen Bereichen durchaus als frei denkender Kollege gezeigt, deshalb nehme ich den Zwischenruf gerne entgegen. Besonders mittelständischen Betrieben bieten sich neue Chancen, trotz aller Schwierigkeiten bei der Umstellung. Es steht nirgendwo geschrieben, dass nur große Konzerne und Verkaufsketten von einer Freigabe des Ladenschlusses profitieren. Die flexiblen Öffnungszeiten für kleine Betriebe eröffnen auch neue Chancen. Es ist nicht so, dass Tante Emma - falls sie überhaupt noch existiert - jetzt plötzlich 24 Stunden hinter der Ladentheke stehen müsste, um konkurrenzfähig zu bleiben. ({4}) Das ist nicht das Thema. Jeder hat künftig die Chance, die für ihn günstigsten Geschäftszeiten herauszusuchen. Noch etwas: Anwohner von Geschäften brauchen keine Angst vor Lärm rund um die Uhr zu haben; denn selbstverständlich gelten auch weiterhin die Lärmschutzvorschriften. Offene Läden während der Woche und Ruhe an Sonnund Feiertagen, das ist die richtige Balance zwischen Freiheit und Respekt vor den kulturellen und religiösen Grundfundamenten unseres Landes. Wenn Rot-Grün das Wort Reform in den Mund nimmt, dann bedeutet das meist Stillstand, Zögerlichkeit und halbe Sachen. Wir wollen den Aufbruch, damit es den Menschen in Deutschland wieder besser geht. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Manfred Zöllmer, SPDFraktion. ({0})

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Singhammer, ich muss leider feststellen: Sie haben argumentativ sehr schwach begonnen, dafür dann aber ganz stark nachgelassen. ({0}) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung wird das Ladenschlussgesetz modernisiert. Der Samstag wird den anderen Werktagen gleichgestellt und die Pflicht zur Schließung um 14 Uhr vor verkaufsoffenen Sonntagen wird aufgehoben. Der Sonntag bleibt geschützt. Diese Regelung ist bedarfsorientiert und zeitgemäß. Damit wird das Ladenschlussgesetz den Wünschen und Bedürfnissen der Verbraucherinnen und Verbraucher und des Einzelhandels angepasst. ({1}) Mit dieser Änderung werden aber auch die Belange der Beschäftigten berücksichtigt. Das unterscheidet unseren Gesetzentwurf von Ihren Vorschlägen. ({2}) Was will die Opposition? Sie wollen - das haben Sie in Ihren Beiträgen hier sehr deutlich gemacht - letztendlich das Ladenschlussgesetz abschaffen, die FDP komplett - ({3}) - Selbstverständlich, das wollte ich auch gerade sagen; Sie müssen gar nicht hektisch werden. Es geht darum, dass alle Geschäfte bis zu 24 Stunden am Tag - bis auf den Sonntag - öffnen können. Ich muss feststellen: Diese Vorschläge der Opposition sind leider Ausdruck Ihres politischen Realitätsverlustes. ({4}) Gesetze regeln nun einmal das Zusammenleben der Menschen und sie regeln genauso wirtschaftliche Zusammenhänge. Das Ladenschlussgesetz hat eindeutig und unbestreitbar eine Lenkungs- und auch eine Schutzfunktion. Diese besteht zu Recht, denn wir müssen, wenn wir über Öffnungszeiten reden, vier Aspekte berücksichtigen: Da gibt es das Bedürfnis der Verbraucherinnen und Verbraucher, möglichst bequem und ohne Zeitdruck einkaufen zu gehen. Da ist der Einzelhandel, der eine größere Flexibilität bei den Öffnungszeiten fordert, um seine Umsätze zu erhöhen. Da ist die Schutzfunktion des Ladenschlussgesetzes. Es gilt, die notwendigen Arbeitnehmerschutzrechte zu bewahren und zu erhalten - wir haben das hier eben gehört. Last but not least ist da der Aspekt des Erhalts der Urbanität unserer Städte, des Erhalts der zentralen Funktionen unserer Innenstädte. Bei einer Reform des Ladenschlussgesetzes müssen alle vier Aspekte berücksichtigt werden. Verbraucherinnen und Verbraucher kaufen ein, um ihren täglichen Bedarf zu decken. Das Stichwort Erlebniseinkauf zeigt aber, dass Einkaufen heutzutage auch andere Bedürfnisse befriedigt. Untersuchungen haben längst belegt, dass der Samstag eine entscheidende Bedeutung für das Kaufverhalten hat. An diesem Tag - für die meisten ein Tag ohne alltägliche Hektik und Verpflichtungen - braucht es eine deutliche Änderung der Öffnungszeiten, um einen Einkauf ohne Stress zu ermöglichen. Heutzutage sieht es häufig so aus, dass die Kundinnen und Kunden am Samstag um 16 Uhr fast mit Gewalt aus den Geschäften vertrieben werden müssen. Hier ist tatsächlich Regelungsbedarf vorhanden. Wir und dieser Gesetzentwurf nehmen die Bedürfnisse und Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher in unserer Gesellschaft ernst. Gott sei Dank wird endlich die unsinnige Regelung beseitigt, vor einem verkaufsoffenen Sonntag am Samstag die Geschäfte um 14 Uhr schließen zu müssen. Diese Regelung war niemandem verständlich. Sie war überflüssig wie ein Kropf. Sie, CDU/CSU und FDP, argumentieren im Zusammenhang mit Ihren Anträgen allen Ernstes: Weil andere schlechte Arbeitszeiten haben, können die Interessen der im Einzelhandel Beschäftigten keine Rolle spielen. Ich muss feststellen: Sie sind nicht in der Lage, ausgewogene, faire und für alle Seiten vertretbare Lösungen zu entwickeln. Wir dürfen unsere Augen nicht davor verschließen, dass im Einzelhandel überwiegend Frauen arbeiten. Wie soll denn eine Versorgung von Kindern gewährleistet sein, wenn die Mutter bis Mitternacht im Laden stehen muss? Ich verfolge die Debatten in diesem Haus seit einiger Zeit sehr aufmerksam, weil ich gern wissen möchte, was die Opposition eigentlich an konkreten Vorschlägen an1966 zubieten hat. Hier, im Falle des Ladenschlussgesetzes, haben wir einen der ganz wenigen Fälle, bei dem CDU/CSU und FDP klar sagen, was sie eigentlich politisch wollen. Sonst überbieten sie sich ja geradezu darin, rhetorische Nebelkerzen zu werfen, um ihre politischen Absichten im Unverbindlichen zu lassen. ({5}) Deshalb bin ich sehr dankbar, dass Sie in dieser Frage die Katze aus dem Sack gelassen und klar gesagt haben, was Sie eigentlich wollen. ({6}) Eine Prüfung Ihres Vorschlages zeigt eindeutig: Ihre Vorschläge sind arbeitnehmerfeindlich, ({7}) Ihre Vorschläge schaden letztendlich den Strukturen des Einzelhandels und der Urbanität in den Städten. ({8}) Ich kann nur feststellen: Sie, die Opposition, sind nicht fähig, unterschiedliche gesellschaftliche Bedürfnisse zu berücksichtigen. Deshalb sitzen Sie zu Recht auf den Oppositionsbänken. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Der Vorschlag der Bundesregierung zur Änderung des Ladenschlussgesetzes liegt auf dem Tisch. Zukünftig können Verbraucherinnen und Verbraucher an sechs Tagen 14 Stunden lang einkaufen. Dies liegt in ihrem Interesse. Dies gibt einen wichtigen positiven Impuls zur Stärkung des privaten Konsums. Dies unterstützt auch den Mittelstand in unserem Lande und achtet die berechtigten Interessen der im Einzelhandel beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deshalb wird die SPD-Fraktion diesen Vorschlag unterstützen. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Zöllmer, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere mit allen guten Wünschen für die weitere Arbeit. ({0}) Die unvermeidlichen Schwierigkeiten im Kampf mit den vorgegebenen Redezeiten machen einmal mehr deutlich, dass manchmal der Bedarf an Zeit größer ist als die zur Verfügung gestellte. ({1}) Nun erteile ich als letztem Redner in dieser Debatte dem Kollegen Hartmut Schauerte, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich würde zunächst einmal empfehlen, bei diesem Thema, das konkret den Ladenschluss und seine Regelungen betrifft, abzurüsten. In der Sache sind wir gar nicht so weit auseinander; wir werden einen Weg finden. Das ist auch mehr als überfällig. Wir selber haben vor einigen Jahren noch andere Positionen vertreten, aber wir haben inzwischen dazugelernt. ({0}) Unser Streit geht jetzt darüber, ob wir in dieser Sache genug gelernt haben. Wir haben den Verdacht, dass Sie etwas weniger gelernt haben als wir. ({1}) Dieser Verdacht ist auch irgendwie berechtigt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wie ich den Kollegen Schauerte kenne, hat er an dieser Freundlichkeit lange geübt. Man sollte ihn jetzt nicht unnötig provozieren, von dieser gefundenen Linie abzuweichen.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Ladenschlussgesetz war entgegen mancher Behauptung nie ein reines Arbeitnehmerschutzgesetz, sondern immer auch ein Unternehmer- und Mittelstandschutzgesetz. Es enthielt immer beide Elemente. Es ist in einer Zeit entstanden, in der wir wirtschaftspolitisch sehr viel anders gedacht haben als heute. ({0}) Ich möchte nicht weiter auf die Gesetzesbegründung eingehen und empfehle Ihnen auch gar nicht, sich die Entstehungsgeschichte anzusehen. Dann bekommen wir alle ganz braune Ohren. Also lassen wir das besser sein! Es entstand unter ganz anderen Voraussetzungen. Auch die deutschen Einzelhändler haben in den letzten Jahren gelernt, dass die strenge Ablehnung der Öffnung der Ladenschlusszeiten, die sie vor drei, vier oder fünf Jahren noch von uns gefordert haben, keinen Sinn machte. Hier gilt wieder, dass auf der Arbeitnehmerseite, die etwas stärker bei Ihnen zu Hause ist, dieser Lernprozess etwas langsamer vor sich geht, genau wie bei Ihnen auch. Das spiegelt sich wunderschön. Das ist ein Parallelverlauf. ({1}) Es lohnt sich aber nicht, mit Heftigkeit darüber zu reden. Was wollen wir? Wir wollen keine Öffnung für 24 Stunden. Wir arbeiten hier ja im Rahmen der Reformdiskussion in unserer Gesellschaft an einem symptomatischen Modell zum Warmlaufen. Regelungen, die wirklich notwendig sind, muss es natürlich geben. Soziale Marktwirtschaft ist nie regelungsfrei gewesen. Das soll sie auch nicht werden. Aber Regelungen, die vielleicht noch einen behaupteten, aber erkennbar keinen faktischen Nutzen mehr haben, müssen wir deutlich, das heißt gegen null, zurückfahren. Genau das ist hier der Fall. Ich möchte ein paar Widersprüche aufzeigen. Sie sagen zum Beispiel, wir müssten über das City-Privileg reden. Das heißt eigentlich, dass Sie meinen, wir müssten in den Innenstädten sehr wahrscheinlich andere, sprich längere Ladenöffnungszeiten haben als draußen auf der grünen Wiese, damit die Städte lebendiger werden. Also folgen Sie eigentlich unserer Idee, dass längere Ladenöffnungszeiten mindestens in der City Vorteile haben könnten. Dies wäre logisch. Was soll das sonst? Der Ansatz des Städtetages ist doch: Wir möchten längere Ladenöffnungszeiten. Sie sagen, darüber müsse man nachdenken. Also haben Sie doch kapiert, dass dieser Ansatz vielleicht sinnvoll ist. Nun frage ich zurück: Auch wenn es an einer Stelle nützlich ist, könnte man es an anderen Stellen dennoch nicht wollen, weil man regulierend eingreifen, also das Verhalten der Kunden durch konkrete Regelungen beeinflussen will. Dies ergäbe ein ganz neues Reglement des Handels. Ob wir dies durchhalten könnten, bezweifle ich. Sie haben bei Ihren Vorschlägen also nicht bis zum Ende gedacht. Ich kenne viele Unternehmer, die befürchten, dass sie ihr Geschäft schon deshalb länger aufmachen müssen, weil sie gar nicht mehr wissen, was der Nachbar macht. Dies ist eine berechtige Sorge des Mittelstandes. Die Entwicklung im Einzelhandel ist katastrophal. Darüber müssen wir nicht reden und ich muss Ihnen auch nicht die Zahlen nennen, die kennen Sie alle. Die Binnennachfrage ist total auf den Hund gekommen. Helfen da jetzt mehr Schutz, mehr Enge und mehr Restriktionen oder ergeben sich durch die Öffnung der Ladenschlusszeiten doch noch Chancen? ({2}) Lassen Sie uns darüber einfach nur intelligent und ohne Grabenkämpfe nachdenken! Wie wollen wir uns denn beim Kündigungsschutz, bei der Arbeitsmarktpolitik und bei der Gesundheitspolitik überhaupt bewegen, wenn wir uns bei diesem Thema jetzt schon wieder festfahren? Das ist meine Sorge. Diese Frage hat für mich symptomatischen Charakter. Hoffentlich bestimmt sie nicht die Melodie der gesamten Reformdiskussion, die in diesem Jahr vor uns liegen muss. Dies wäre schlimm für unser Land. Lassen wir diese Freiheit doch ein bisschen zu! ({3}) Jetzt komme ich zur Arbeitnehmersicht. Natürlich will niemand, dass eine Mutter bis 24 Uhr im Laden stehen muss, wenn sie ihr Kind in dieser Zeit fremd versorgen lassen muss. Diese Vorstellung ist geradezu idiotisch. ({4}) Aber wie viel Millionen Menschen gibt es, die sehr gern zu einer völlig anderen Zeit als bisher das machen möchten, was sie können, nämlich verkaufen, ({5}) weil dies viel besser in ihre Familien-, Lebens- oder Bildungsplanung passen würde? ({6}) - Warum eröffnen wir ihnen diese Chance nicht? Wir haben doch selbstbewusste Arbeitnehmer und selbstbewusste Arbeitnehmervertreter, Gewerkschaften. Vieles von dem, worüber wir gerade diskutieren, ist am Ende tarifverhandlungsfähig. Warum muss der Staat das regeln? ({7}) An einer Stelle gibt es vielleicht einen Bruch; das gebe ich gerne zu. Es geht um den Sonntag. Ich bin durch den Glauben bzw. - wenn man das so benennen will - ideologisch geprägt. Für mich ist das eine Glaubensfrage. ({8}) - Es gibt auch Leute, die das anders sehen. - Aus meiner Religiosität heraus trete ich dafür ein, dass der Sonntag von diesen Überlegungen soweit wie möglich ausgenommen wird. ({9}) Deswegen haben wir diese Einschränkung vorgenommen. Sie ist ein gewisser Systembruch. Das, was ich eben gesagt habe, müsste eigentlich auch für den Sonntag gelten. Aber bitte nehmen Sie mir ab: Mit einer Geschäftsöffnung am Sonntag habe ich ein Problem; das gebe ich offen zu. Das muss besonders geregelt werden. Dies wird zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht unterschiedlich beurteilt. Im Gegenteil: Ich behaupte, dass es von allen, die sonst miteinander streiten mögen, bei entsprechender Grundüberzeugung ähnlich gesehen wird. Deswegen sollte hier eine Ausnahme gemacht werden, an der wir unter allen Umständen festhalten sollten. Bitte entscheiden Sie sich hinsichtlich des Ladenschlusses schnell. Es ist schon so lange über das Thema diskutiert worden, es ist so ausgelutscht. ({10}) - Es ist interessant, dass Sie das erwähnen. Sie verzögern doch. ({11}) - Ich kann Ihnen auch sagen, warum Sie verzögern wollen: Sie sind von der Gewerkschaftsseite gebeten worden, die Tarifverhandlungen zu diesem Thema abzuwarten, damit das schön zusammenpasst. Eigentlich gehört eine solche Motivation nicht in ein Gesetzgebungsverfahren. Meine Bitte: Machen Sie schnell! Wir alle wissen, dass die 20-Uhr-Regelung kommt, zumindest eine Regelung, nach der länger geöffnet wird. Wir sind der Meinung, man sollte konsequenter sein. Mauern Sie sich bitte nicht so früh in Ihren gewerkschaftlichen Ängstlichkeiten ein. Ihnen wird in den kommenden Monaten noch viel mehr zugemutet werden müssen. Herzlichen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/396 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offenkundig nicht der Fall. Dann haben wir die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Hilfsmittelversorgung von Pflegebedürftigen ({0}) - Drucksache 15/308 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Dr. Ober, SPD-Fraktion.

Dr. Erika Ober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesrat problematisiert in dem von ihm eingebrachten Gesetzentwurf zur Sicherung der Hilfsmittelversorgung von Pflegebedürftigen die Abgrenzungsstreitigkeiten zwischen Kranken- und Pflegekassen. Es geht dabei um die Frage, wer für die Versorgung von Pflegebedürftigen mit Hilfsmitteln sowohl im ambulanten als auch stationären Bereich zuständig ist. Die Entscheidung über die Zuständigkeit dürfe nicht vom Einzelfall abhängen - so der Entwurf. Der Bundesratsentwurf hat weiter zum Ziel, Rechtssicherheit für alle Beteiligten zu schaffen. In ihm wird als Lösung eine Klarstellung der Hilfsmittelgewährung nach § 40 Pflege-Versicherungsgesetz vorgeschlagen. Für den ambulanten Bereich bestätigt der Bundesrat durch Ergänzung des § 40 SGB XI die Subsidiaritätsklausel. Diese Nachrangigkeitsklausel stellt aber schon jetzt ausdrücklich klar, dass die Pflegekassen nur dann herangezogen werden, wenn die Hilfsmittelversorgung durch die Krankenkasse nicht greift. Eine solche Ergänzung ist deshalb aus unserer Sicht nicht nötig. ({0}) Der bestehende Paragraph regelt bereits eindeutig die Leistungspflicht der Pflegeversicherung. Diese tritt nur ein, wenn eine Leistungspflicht der GKV, also der gesetzlichen Krankenversicherung, nicht vorliegt. Die Trennung der Auflistung von Hilfsmittelverzeichnis und Pflegehilfsmittelverzeichnis mit klarer Nachrangigkeit der Leistungspflicht der Pflegeversicherung ist im Gesetz bereits geregelt. ({1}) Manche Krankenkassen haben diese bestehende Subsidiaritätsklausel in der Praxis bei der Bewilligung nicht hinreichend beachtet. So ist es in der Vergangenheit zu bekannten Fehlbuchungen zulasten der Pflegeversicherung gekommen. Letztendlich könnte die Verschiebung von der Kranken- zur Pflegeversicherung zu Leistungskürzungen bei Pflegebedürftigen führen. Meistens wurden aber diese Fehlbuchungen korrigiert. Der Bundesrat weist in der Begründung seines Gesetzentwurfs ausdrücklich darauf hin, dass die meisten Krankenkassen die genannte Rechtsauffassung bezüglich der Nachrangigkeit der Pflegeversicherung teilen. ({2}) - Hören Sie bis zum Ende zu! Wir machen einen Vorschlag. ({3}) Einen anderen Weg hat die AOK Bayern beschritten. Sie strebt eine Methode der Einzelfallentscheidung an. Wenn aber ein Sachbearbeiter einer Kranken- und Pflegekasse in jedem Einzelfall entscheiden würde, stünden Tür und Tor offen, Kosten der Krankenversicherung auf die Pflegeversicherung zu verlagern. Auf diese Weise könnten die Kosten der gesetzlichen Krankenkassen gedrückt werden. Das kann so aber nicht sein und der Gesetzgeber sieht dies unter Berücksichtigung der bestehenden Rechtslage auch nicht vor. ({4}) Im stationären Bereich sieht der Bundesratsentwurf klarstellende Ergänzungen der §§ 75 Abs. 2 und 80 Abs. 2 vor. Die Zuständigkeit für die Grundausstattung der Pflegeheime mit Hilfsmitteln soll geklärt werden. Der Bundesrat bezieht sich hierbei auf ein Urteil des Bundessozialgerichtes aus dem Jahre 2000, in dem es die Ansicht vertrat, die Leistungspflicht der Krankenversicherung ende dort, wo die Vorhaltepflicht des Pflegeheimes einsetze. Hierzu ist aber zu sagen: Die Partner der Selbstverwaltung müssen auch jetzt die Grundausstattung der Heime mit Hilfsmitteln regeln. Sie haben eigentlich die Pflicht dazu. Zum stationären Bereich hat das Bundessozialgericht in seinen letzten Urteilen aus dem Jahre 2002 ausdrücklich bestätigt, dass die Ausstattung der Pflegeheime mit Hilfsmitteln zu regeln ist, konkret in § 80 a SGB XI in Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen. Deshalb ist eine solche Ergänzung nicht zwingend nötig. ({5}) Daneben soll die Bundesregierung in § 84 SGB XI durch eine Ergänzung ermächtigt werden, zu entscheiden, welche Hilfsmittel bei Bemessung der Pflegesätze zu berücksichtigen wären und damit als Anlagegüter gelten und unter die Investitionspflichten der Länder nach § 9 SGB XI fallen würden. Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, die genannten Ergänzungen des Bundesratsentwurfes sind aus fachlicher Sicht nicht zu beanstanden, aber bei sachgerechter Anwendung geltenden Rechtes nicht zwingend erforderlich. ({6}) Es sind lediglich Handlungsanweisungen. In der stationären Pflege gibt es keinen Individualanspruch auf Leistungspflicht. Hier ist die Selbstverwaltung gefragt. Wenn allerdings der Gesetzgeber weiter unterschiedlich interpretiert wird und die Selbstverwaltung die ihr zugestandene Flexibilität gegen das Gesetz nutzt, dann sollten die Abgrenzungsschwierigkeiten im Zuge einer gesetzgeberischen Maßnahme ausgeräumt werden. ({7}) Eine solche Maßnahme müsste dann aber auch über die im Bundesratsentwurf beschriebenen Detailfragen hinausgehen. Klärungsnotwendigkeit besteht nämlich auch bei medizinischer Behandlungspflege, geriatrischer Rehabilitation sowie bei der Pflegeüberleitung und auch dem Case-Management. Folgt man also der Auffassung, dass Krankenkassen trotz eindeutiger Rechtslage konkrete Handlungsanweisungen benötigen, also nicht nur bei der Hilfsmittelversorgung, so sollten sie Teil einer Lösung der gesamten leistungsrechtlichen Schnittstellenfrage zwischen Kranken- und Pflegeversicherung sein, damit eine Doppelbefassung der Gesetzgebungsorgane vermieden wird. Die Kostenträger müssen sich verbindlich und eindeutig an die gesetzlichen Vorgaben bei der Aufgaben- und Finanzierungsverteilung zwischen Pflege- und Krankenkasse halten. Die Kostenträger tragen die Verantwortung dafür, dass den Pflegebedürftigen die Leistungen vollständig zur Verfügung stehen. Bereits in der Koalitionsvereinbarung haben wir angekündigt, uns in der laufenden Legislaturperiode der Schnittstelle zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und Pflegeversicherung nochmals zu widmen. Leistungseinschränkungen oder Leistungskürzungen durch strategische Verschiebungen werden wir nicht mittragen. ({8}) Eine isolierte Herangehensweise, wie sie im Bundesratsentwurf mit kleinstem Lösungsansatz der Schnittstellenproblematik praktiziert wird, bringt im Hinblick auf eine Gesamtlösung keinen nachhaltigen Fortschritt. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Dr. Ober, ich darf Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulieren. Ich vermute, dass die große Begeisterung in Ihrer eigenen Fraktion nicht nur auf den Inhalt Ihrer Rede, sondern auch auf das ungewöhnliche Ereignis zurückzuführen ist, dass Sie Redezeit eingespart haben, die andere nutzen können. Das kommt im Deutschen Bundestag so selten vor, dass es einer ausdrücklichen Würdigung bedarf. ({0}) Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Matthias Sehling für die CDU/CSU-Fraktion.

Matthias Sehling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003634, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Pflegeversicherung besteht jetzt insgesamt acht erfolgreiche Jahre. Ihre Einführung im Jahre 1995 hat sich bei allen Schwierigkeiten im Einzelfall als insgesamt richtige Entscheidung erwiesen. Sie war in der damaligen Koalition - unter Federführung von Bundessozialminister Norbert Blüm - zwar eine schwierige Geburt, aber eine mutige Entscheidung. Sie regelt das letzte große allgemeine Lebensrisiko, die Pflegebedürftigkeit, im Wege einer sozialen und einer privaten Pflichtversicherung. Sie dient der Sicherung der Bürger, der Belebung des Pflegedienstleistungsmarktes und der Entlastung der Sozialhilfeträger. Auch das soll erwähnt werden. Nicht nur angesichts der jetzt schärfer erkennbaren demographischen Entwicklung, sondern auch im Detail hat diese soziale Sicherung einen aktuellen Nachbesserungsbedarf. Der heute in erster Lesung zu beratende Bundesratsentwurf eines Hilfsmittelsicherungsgesetzes - als Abgeordneter aus Bayern bin ich stolz darauf, dass er auf eine bayerische Initiative aus dem Hause von Bayerns Sozialministerin Christa Stewens zurückgeht ({0}) befasst sich mit solchen Detailärgernissen aus der Praxis. In der Vergangenheit kam es zu teilweise grotesken und auch entwürdigenden Abgrenzungsschwierigkeiten - es ging dabei um die Verschreibungsmöglichkeit und Kostentragung von Hilfsmitteln - zwischen den im Wettbewerb stehenden gesetzlichen Krankenkassen einerseits und den betroffenen Pflegebedürftigen und Pflegeheimen andererseits. Darum geht es heute. Bis zum Bundessozialgericht wurden Prozesse geführt, wer welche Hilfsmittel zu leisten oder vorzuhalten hatte. Der Bundesrat will mit diesem Entwurf eines Hilfsmittelsicherungsgesetzes solche Streitfragen ausdrücklich und endgültig regeln. ({1}) Es geht darum, Klarheit und Rechtssicherheit bei der Verordnung und Finanzierung von Hilfsmitteln zu erreichen. Das wird den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen ebenso wie den verschreibenden Ärzten, den Krankenkassen, den Pflegekassen und den Pflegeheimträgern zu1970 gute kommen. Im Sinne von mehr Qualität in den Pflegeheimen soll den vertragschließenden Partnern auf Landesebene die Aufgabe erteilt werden, durch Rahmenverträge die nötige Grundausstattung von Pflegeheimen mit Hilfsmitteln verbindlich zu vereinbaren. In dem Gesetzentwurf werden zwei große Fallgruppen zu Streitfragen über Hilfsmittel geregelt. Erstens. Im Falle der ambulanten Pflege geht es um die Frage der Zuständigkeit zwischen der Krankenkasse und der Pflegekasse. Zweitens. Im Falle der stationären Pflege geht es um die Frage der Zuständigkeit zwischen der Krankenkasse und dem Pflegeheim. Der Bundesrat schlägt für den Bereich der ambulanten Pflege vor, dass solche Hilfsmittel von der Krankenversicherung zu leisten sind, die sowohl der Krankenbehandlung als auch zugleich der Erleichterung der Pflege dienen. Der unwürdige Streit etwa darüber, wer den Rollstuhl zu zahlen hat, der sowohl zu Spazierfahrten als auch zum Transport vom Bett ins Bad genutzt wird, muss ein Ende haben. Die Bundesregierung macht es sich in ihrer Gegenäußerung zum Bundesratsentwurf sehr einfach. Sie hält diese Neuregelung für überflüssig - wir haben gerade von der Vorrednerin gehört, dass das auch von der SPDFraktion geteilt wird -, weil im Gesetz eine Subsidiaritätsklausel enthalten sei, die die vorrangige Leistungspflicht der Krankenversicherung ohnehin anordne. Wenn dies so klar ist, frage ich: Warum haben etwa der AOK-Bundesverband und seine Mitgliedskassen damit angefangen, dies im Einzelfall und damit meist auf dem Rücken der Versicherten umständlich und lang andauernd zu prüfen? ({2}) Die Haltung der AOK hat im Übrigen zu unzulässigen Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Krankenkassen geführt. Es gibt nun Krankenkassen, die einen Rollstuhl pflichtgemäß bezahlen, und andere, die sich davor gedrückt und jahrelange Prozesse in Kauf genommen haben. Dieses unwürdige Geschacher muss der Gesetzgeber mit einer ausdrücklichen Entscheidung beenden. ({3}) Das Hilfsmittelsicherungsgesetz soll ein weiteres großes Problemfeld endgültig klären. Es geht um die Versorgung mit Hilfsmitteln in Pflegeheimen. Welche Hilfsmittel hat das Pflegeheim als Grundausstattung vorzuhalten? Welche Hilfsmittel kann und muss der Heimbewohner oder die Heimbewohnerin von seiner Krankenversicherung beantragen? Selbst in dem so genannten Zweiten Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Pflegeversicherung vom März 2001 wurde eingeräumt, dass es sich bei den in der Praxis auftretenden Abgrenzungsstreitigkeiten um Probleme bei der Aufgabenbeschreibung im Gesetz handelt. Ich füge hinzu: Das ist eine direkte Folge der ungeheuren Wettbewerbsverzerrung unter den gesetzlichen Kassen. Auch hier lassen die von der Bundesregierung ungelösten Aufgaben des Molochs Risikostrukturausgleich grüßen. Weder die Bundesgesundheitsministerin noch der Staatssekretär, der gestern im Gesundheitsausschuss offiziell die Eckpunkte vorgelegt hat, haben in irgendeiner Weise erkennen lassen, wie sie die Ungereimtheiten und Fehlentwicklungen beim kassenübergreifenden Finanzausgleich namens RSA, dem berühmt-berüchtigten Risikostrukturausgleich, lösen wollen. Wenn sich wie hier die Krankenkassen darum prügeln, möglichst wenige Leistungen von Versicherten in Pflegeheimen übernehmen zu müssen, ist auch das eine Folge der unerwünschten Scherenentwicklung der Kassen untereinander, nämlich der Entwicklung zu den Versorgerkassen einerseits und den Yuppiekassen mit den niedrigen Beiträgen andererseits. Die Grundidee der Regelungen des heute eingebrachten Hilfsmittelsicherungsgesetzes lautet: Sofern die Hilfsmittel zu einer genau definierten und teilweise auch pflegesatzfähigen Grundausstattung des Pflegeheims gehören, muss das Hilfsmittel vom Pflegeheim vorgehalten werden. Umgekehrt: Gehört das benötigte Hilfsmittel nicht zur Grundausstattung, ist die Krankenversicherung des Heimbewohners bzw. der Heimbewohnerin zuständig. So einfach wäre das. In ihrer spezifischen Gegenäußerung zieht sich die Bundesregierung weiterhin auf den Ohne-mich-Standpunkt zurück. Die vorgeschlagene Regelung gelte nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ohnehin, eine Gesetzesregelung sei also überflüssig. Nachdem wir Mitglieder dieses Hohen Hauses alle die Lebensweisheit „Vor Gericht und auf hoher See sind wir in Gottes Hand“ kennen, möchte ich doch den Vorzügen einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung das Wort reden. Viel Streit und viel Enttäuschung wäre den Betroffenen erspart geblieben, wenn der Gesetzgeber seine Hausaufgaben mit klaren gesetzlichen Entscheidungen schon früher gemacht hätte. Der Bundesrat sorgt im Hilfsmittelsicherungsgesetz im Übrigen auch für die effektive Durchsetzung der Beschaffung der Grundausstattung mit Hilfsmitteln durch die Pflegeheime. So sollen die schon jetzt auf Landesebene abzuschließenden Rahmenverträge zwischen den Pflegekassen und den Pflegeeinrichtungen künftig eigene verbindliche Inhalte über die Grundausstattung der Pflegeheime mit Hilfsmitteln enthalten. Ein weiteres Mal unverständlich ist - Sie ahnen es - die Ablehnung auch dieses Vorschlags durch die Bundesregierung unter Hinweis auf eine ohnehin existierende Rechtsprechung. In der Praxis wird aber in Kollektivverträge erfahrungsgemäß nur das hineingeschrieben und hat auch nur das vor Schiedsämtern und Gerichten der ersten Instanz Bestand, was ausdrücklich im Gesetz vorgesehen ist. Das ist halt so. Darum sollte man sich schon der Mühe unterziehen, den Inhalt des Rahmenvertrags ausdrücklich und verpflichtend in das SGB XI aufzunehmen. ({4}) In dem Gesetzentwurf des Bundesrates wird schließlich eine Verordnungsermächtigung der Bundesregierung vorgesehen. Danach kann mit Zustimmung des Bundesrates festgestellt werden, welche Hilfsmittel, die zur Grundausstattung eines Pflegeheims gehören, bei der Bemessung der Pflegesätze zu berücksichtigen sind. Damit wird die Kostenlast für die Beschaffung von Hilfsmitteln nicht alleine den Pflegeheimen aufgebürdet. Vielmehr trägt die Pflegeversicherung selbst einen Anteil zu deren Finanzierung bei. Wenn eine Hilfsmittelpflegesatzverordnung erlassen würde, würde durch die teilweise Anerkennung der Pflegesatzfähigkeit von Hilfsmitteln erneut für ein Stück mehr Qualität in den Pflegeheimen gesorgt werden. Besonders geistreich und allgemein weiterführend - deshalb möchte ich Ihnen das nicht vorenthalten - erscheint in diesem Zusammenhang die - natürlich erneut ablehnende Einlassung des Bundesgesundheitsministeriums. In einer Stellungnahme zu der Verordnungsermächtigung heißt es: „Eine unmittelbare Verbesserung der Rechtslage im Bereich der Hilfsmittelversorgung Pflegebedürftiger ist mit dieser Verordnungsermächtigung nicht verbunden.“ Deshalb lehne man sie ab. Dazu kann ich nur sagen: Sehr wahr. Jetzt müsste die Bundesregierung nur noch ihren Teil dazu beitragen und von der Verordnungsermächtigung alsbald Gebrauch machen. Nur dann - aber dann umso mehr - wäre sehr bald eine spürbare Verbesserung der Hilfsmittelversorgung in den Pflegeheimen auch tatsächlich festzustellen. Insgesamt stellt dieser Entwurf eines Hilfsmittelsicherungsgesetzes eine Sammlung äußerst hilfreicher, praktischer Verbesserungen des Pflege-Versicherungsgesetzes - SGB XI - dar, die die CDU/CSU-Fraktion begrüßt und unterstützt. ({5}) An dieser Stelle möchte ich Ihnen, verehrte Kollegen der Regierungsfraktionen, ein offenbar schon in Vergessenheit geratenes Dokument vom 16. Oktober letzten Jahres in Erinnerung rufen. Sie wissen schon, was ich meine: Ihre Koalitionsvereinbarung. Auf Seite 55 haben Sie sich unter der Überschrift „Mehr Qualität und mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen“ selbst geschworen: Wir stimmen die Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung und der Rehabilitation besser aufeinander ab. ({6}) Dazu möchte ich einmal mehr mit Goethes Faust sagen: „Die Kunde höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Sehling, ich darf auch Ihnen zu Ihrer ersten Rede herzlich gratulieren. Ich wünsche Ihnen für die weitere Arbeit alles Gute, insbesondere bei der präzisen Einhaltung der Redezeit, was das Präsidieren ungemein erleichtert. ({0}) Nun hat das Wort die Kollegin Petra Selg für Bündnis 90/ Die Grünen.

Petra Selg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003635, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrats sieht vor, die Versorgung Pflegebedürftiger mit Hilfsmitteln gesetzlich neu zu bestimmen. Es ist richtig, dass es in der Praxis momentan oft unklar ist, welche Hilfsmittel das Pflegeheim vorzuhalten hat und welche Hilfsmittel der Heimbewohner oder die Heimbewohnerin von der Krankenversicherung beanspruchen kann. Die Ursache dafür ist eine manchmal recht unklare Rechtslage. Zwar hat das Bundessozialgericht die bestehenden Gesetze in der Vergangenheit immer weiter konkretisiert. Trotzdem - das weiß ich - fehlt den betroffenen Akteuren im Gesundheitswesen ein klares Verständnis für die bestehenden Regelungen. Deshalb kommt es oft zu Zuständigkeitsstreitigkeiten. Das belastet das Heimpersonal, die Heimbewohner und vor allem unsere Sozialgerichte. Diesbezüglich teile ich die im Gesetzentwurf zum Ausdruck kommende Haltung: Wir müssen dringend Abhilfe schaffen. Der Bundesregierung ist das durchaus bewusst. Wir arbeiten bereits an der Lösung dieses Problems. Ich bin deshalb der Meinung, dass diese Gesetzesinitiative zum jetzigen Zeitpunkt das falsche Mittel ist, um dieses Problem zu lösen. Zwar bin ich der Meinung, dass die im Gesetzentwurf vorgeschlagenen Neuregelungen durchaus brauchbar und sinnvoll sind. Fachlich ist daran absolut nichts auszusetzen. Das Problem dabei ist nur, dass sie sich auf den heutigen Regelungsrahmen beziehen. Es ist also eine Beschreibung des Istzustandes. Wir haben das Problem erkannt und wollen darum den Regelungsrahmen im Zuge der anstehenden Gesundheitsreform verändern. ({0}) - Das dauert nicht zu lange. Warten Sie es ab! Wenn Sie mithelfen, geht es schneller. ({1}) Wir werden auch das Verhältnis zwischen der Kranken- und der Pflegeversicherung auf den Prüfstand stellen, um bestehende Abgrenzungsprobleme der Pflegeversicherung und der Krankenversicherung endlich aufzuheben und so die Verschiebebahnhöfe zu beseitigen. Unser Ansatz ist damit breiter und umfassender als der in diesem Gesetzentwurf, denn er betrifft natürlich und selbstverständlich auch die Frage der Hilfs- und Heilmittelversorgung in den Heimen. Ich kann Ihnen sagen: Wir machen unsere Hausaufgaben. Ich denke, wir sind sogar Meisterschüler. ({2}) Vor diesem Hintergrund macht es meiner Ansicht nach heute keinen Sinn, diese neue Regelung zu beschließen, da sie aufgrund der Gesundheitsreform bereits morgen wieder überholt sein könnte. Dies würde nicht nur die Ressourcen des Gesetzgebers über Gebühr beanspruchen - Sie sind ja immer so für Entbürokratisierung; da denke ich mir: warum jetzt noch so ein Gesetz? -, es würde auch bei den betroffenen Akteuren des Gesundheitswesens im Moment unnötigerweise Verwirrung hervorrufen. Deshalb schlage ich vor, diesen Gesetzentwurf im Ausschuss vor dem Hintergrund der anstehenden Reformen neu zu prüfen. Dabei wird sich herausstellen, dass die Vorhaben der Bundesregierung den genannten Problemen bereits in weiten Teilen Rechnung tragen. Ich verweise auch darauf, dass gestern nur Eckpunkte vorgestellt wurden. Damit es nicht so lange dauert, sind Sie herzlich aufgefordert, mitzumachen, wenn es darum geht, diese Probleme im Rahmen der Reformen endgültig zu beseitigen. Danke. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Angesichts der beispiellosen Disziplin bei der Einhaltung der Redezeiten könnte ich ins Schwärmen geraten. Ich werde mir das heutige Datum in sämtlichen Kalendern als leuchtendes Beispiel für nachfolgende Debatten vermerken. Nun hat als letzter Redner in dieser Debatte der Kollege Daniel Bahr das Wort, bei dem ich sozusagen schon der guten Ordnung halber darauf hinweisen muss, dass er kaum die Chance hat, die gerade drei Minuten, die ihm seine Fraktion zugestanden hat, noch einmal zu unterbieten.

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der mir zur Verfügung stehenden drei Minuten wird das in der Tat schwierig sein; ich will mich aber dennoch bemühen. Die FDP unterstützt den vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates. ({0}) Damit wird nämlich die Finanzierung von Hilfsmitteln im Sozialgesetzbuch konkretisiert. Für uns ist sehr entscheidend, dass der hilfsbedürftige Mensch neben seinen körperlichen Beeinträchtigungen nicht noch zusätzlich unter den Streitigkeiten der Kostenträger zu leiden hat. ({1}) Meine Damen und Herren von der Koalitionsfraktion, ich verstehe nicht, warum Sie sich dem verwehren. Ich habe viele gute Argumente gehört. Wir sind uns einig, dass hier Handlungsbedarf besteht. Ich habe den Eindruck, dass Sie dem Antrag aus dem Bundesrat nicht zustimmen wollen, weil er nicht aus Ihren Reihen kommt. Das wäre bei einem so wichtigen Thema schade. ({2}) Leider ist die Stellungnahme der Bundesregierung enttäuschend. Es verwundert mich schon, wenn die Bundesregierung in dieser Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bundesrates anmerkt - Sie haben das zitiert, Frau Dr. Ober -, dass das vorliegende Gesetz „zwar fachlich zutreffend, aber ... nicht zwingend erforderlich“ sei. Gleichzeitig betont die Bundesregierung, dass sie den Sachverhalt zusammen mit den anderen Schnittstellenfragen zwischen Kranken- und Pflegeversicherung lösen möchte - was ja nichts anderes heißt, als dass es auch nach Ansicht der Bundesregierung notwendig ist, diesen Sachverhalt zu regeln. ({3}) Auch die Behauptung der Bundesregierung, die Rechtslage sei eindeutig, kann nicht zutreffen, denn wie wir hören, werden andauernd entsprechende Gerichtsurteile gefällt. Deswegen ist diese Stellungnahme hier nicht nachvollziehbar. ({4}) Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, es bleibt einfach unverständlich, aus welchem Grund Sie Regelungen, die zu mehr Rechtssicherheit führen und die Kompetenzen der behandelnden Ärzte stärken, weiter auf die lange Bank schieben möchten. Wir stimmen Ihnen zwar zu, dass wir eine Lösung sämtlicher Schnittstellenfragen im SGB brauchen. Aber insbesondere der Umstand, dass die Bundesregierung auch in der Stellungnahme zu diesem Gesetz keinerlei Angaben darüber macht, wann sie denn ein solches Gesetz vorlegen wird, lässt befürchten, dass ein solches Gesetz noch lange auf sich warten lässt. Die Zeit haben wir nicht mehr. Der Handlungsbedarf ist bereits heute gegeben. Es ist leider eine Tatsache, dass einige Krankenkassen trotz einschlägiger Gerichtsurteile immer wieder Rechtsstreitigkeiten wegen der Kostenübernahme von Hilfsmitteln gesucht haben. Die verkündeten Urteile werden von den Krankenkassen regelmäßig als Einzelfallentscheidungen ohne generelle Bindewirkung interpretiert. Wir brauchen daher eine eindeutige Lösung, um Pflegebedürftigen und Pflegenden eine zeit- und kostenintensive Auseinandersetzung mit den Krankenkassen zu ersparen. Insbesondere weil eine erhebliche Zahl der Krankenkassen bisher auf einer Einzelfallprüfung besteht und es keine strikte Orientierung an Hilfsmittelverzeichnissen gibt, ist es sinnvoll, die Kostenerstattung bei besonders streitträchtigen Hilfsmitteln eindeutig gesetzlich zu regeln. ({5}) Das Hilfsmittelsicherungsgesetz stellt klar, dass Hilfsmittel, die der Krankenbehandlung dienen und vom Arzt für medizinisch erforderlich gehalten werden, von den Krankenkassen zu erstatten sind. Das Gesetz trägt somit zu mehr Rechtssicherheit bei und beendet das unwürdige Gezerre um die Finanzierungszuständigkeit. Herr Kollege Dreßen, ich wünsche mir, dass Sie im Rahmen der Anhörung noch überzeugt werden, ({6}) denn das ist der Sache dienlich und das wäre auch den vielen Pflegenden und Pflegebedürftigen dienlich. Herzlichen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/308 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist erkennbar nicht der Fall; dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen auf dem Gebiet der Unfallverhütung im Straßenverkehr und Übersicht über das Rettungswesen 2000 und 2001 - Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr 2000/2001 - Drucksachen 14/9730, 15/99 Nr. 1.1, 15/388 Berichterstattung: Abgeordneter Gero Storjohann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch; dann können wir so verfahren. Als erster Rednerin erteile ich für die Bundesregierung das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Angelika Mertens.

Angelika Mertens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002734

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die gesellschaftliche Einstellung zur Mobilität findet ihren Niederschlag in der Regel in Form von Leitbildern. Zwischen der autogerechten Stadt - das war das Leitbild der 50er-Jahre - und der nachhaltigen Mobilität, dem Leitbild der 90er-Jahre, gab es das Leitbild der 70er-Jahre, wo es hieß: Der Mensch hat Vorrang. Dieses Leitkonzept stand ganz unter dem Eindruck der inzwischen aufgekommenen Ökologiediskussion und der Sicherheit. Die Verringerung der Umweltbelastung und der Verkehrsunfallfolgen wurden zu einem wichtigen Aspekt der Verkehrspolitik. Es war die Zeit der Fußgängerzonen; Tempo 100 auf Bundesstraßen wurde eingeführt, ebenso wie die Beweisumkehr am Zebrastreifen. Ich erinnere auch an die Einführung des Sicherheitsgurtes und, was ganz wichtig ist, der 0,8-Promille-Grenze. ({0}) - Nein, 0,8. Wir sind in den 70er-Jahren, liebe Kollegin. In diese Zeit fiel auch das In-Kraft-Treten des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes, um Verlagerungseffekte von der Straße auf den ÖPNV auch finanziell zu unterstützen. Ziel der Verkehrspolitik war es, den Mobilitätsbedarf der Wirtschaft und die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Das war immer so und das wird auch immer so bleiben. Die heutigen Mobilitätsbedarfe und Mobilitätsbedürfnisse sind lediglich qualifizierter geworden als zum Beispiel zu Zeiten eines Goethe, der immerhin als Minister für Wegebau in Sachsen-Weimar tätig war. Mobilität ist mit der Zeit immer wichtiger geworden. Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für Handel und Gewerbe ist Mobilität existenziell. Im Freizeitbereich bedeutet Mobilität gesellschaftliche Teilhabe, neue Erkenntnisse und vor allen Dingen auch Spaß. Es ist also Aufgabe der Verkehrspolitik, diese Mobilität zu gewährleisten und sie so sicher, umweltfreundlich und sozial gerecht wie möglich zu gestalten. ({1}) Die Straße wird auch in Zukunft der Verkehrsträger Nummer eins bleiben. Wenn wir Rückblick halten, werden wir feststellen: Wir sind seit den 70er-Jahren des immerhin vorigen Jahrhunderts ein ganzes Stück vorangekommen in dem Ziel, die Straßen sicherer zu machen. Trotz der starken Verkehrszunahme sank die Zahl der Verunglückten in den letzten zehn Jahren um etwa 3 Prozent. Die Zahl der Unfälle mit schweren Unfallfolgen ist noch wesentlich stärker zurückgegangen. So verringerte sich die Zahl der getöteten Verkehrsteilnehmer von 11 300 im Jahre 1991 um 36 Prozent auf 6 997 und die Zahl der Schwerverletzten um 27 Prozent auf 95 040 im Jahre 2001. Das bevölkerungsbezogene Risiko, im Straßenverkehr getötet zu werden, liegt im Berichtszeitraum bei ungefähr neun getöteten Personen auf 100 000 Einwohner. In den Niederlanden, in Schweden und besonders auch in Großbritannien liegt das Risiko bei sechs bis sieben Getöteten pro 100 000 Einwohner; Belgien, Spanien, Frankreich und Österreich weisen dagegen etwa doppelt so hohe Risikowerte auf. Insofern liegen wir mit neun Getöteten bei 100 000 Einwohnern vergleichsweise - ich sage das sehr vorsichtig - gut. Aber es ist mehr drin. Eine Begründung für dieses Ziel ist ganz einfach: Jeder Getötete und Verletzte im Straßenverkehr ist einer zu viel. Dass man Leid und Schmerz nicht messen kann, weiß jeder, der einen Angehörigen oder einen Freund im Straßenverkehr verloren hat. Über das Ziel weniger Tote und weniger Verletzte im Straßenverkehr gibt es zwar einen großen gesellschaftlichen Konsens. Aber das Verhalten der jeweiligen Verkehrsteilnehmer ist nicht immer zielführend. Im Berichtszeitraum haben wir zwei Programme aufgelegt: 1999 das Programm „Besser sicher - Sicher besser“ und 2001 das „Programm für mehr Sicherheit im Straßenverkehr“. Beide Programme zeigen zielgerichtet Mittel und Wege auf, Menschenleben durch Unfallvermeidung zu schützen. Unfallfolgen zu mindern und den volkswirtschaftlichen Schaden zu minimieren muss ein weiteres Ziel sein. Der so entstehende volkswirtschaftliche Schaden wird pro Jahr auf 35 Milliarden Euro beziffert. Wir haben folgende Schwerpunkte gesetzt: das Verkehrsklima verbessern, schwächere Verkehrsteilnehmer schützen, Unfallrisiken junger Fahrer reduzieren, Gefahrenpotenziale schwerer Nutzfahrzeuge minimieren und die Verkehrssicherheit auf Landstraßen erhöhen. Zwei von drei im Straßenverkehr Getöteten sind Opfer von Unfällen auf Landstraßen. Deshalb muss ein Hauptaugenmerk auf die Bekämpfung der Ursachen von Unfällen auf Landstraßen gerichtet sein. Im Berichtszeitraum umgesetzt wurden: die Änderung der StVO, um die Anordnung von Tempo-30-Zonen zu er1974 leichtern, das Verbot von Radarwarngeräten, das Verbot von Telefonieren am Steuer ohne Freisprecheinrichtung - das sollten sich alle hinter die Ohren schreiben -, die Verkehrssicherheitskampagne „Gelassen läuft’s“ und die europaweite Einführung der einheitlichen Notrufziffer 112 für Rettungsdienste. Ganz besonders wichtig war, so glaube ich, die Einführung der 0,5-Promille-Grenze. ({2}) Woran wird gearbeitet? Wir wollen die allgemeine Verkehrserziehung weiter ausbauen. Das BMVBW und die zuständigen Kultusminister wollen gemeinsam Wege zur Verbesserung aufzeigen. Wir wollen des Weiteren die StVO zusammen mit den Bürgern vereinfachen, die sich schon rege daran beteiligen. Außerdem werden wir die Sicherheitsstandards für die Straßen erhöhen. Zurzeit wird ein standardisiertes Verfahren zur Beurteilung der Sicherheitsbelange in allen Phasen des Straßenentwurfs entwickelt, das durch die Straßenbauverwaltungen der Länder erprobt wird. Zur Analyse von Sicherheitsmängeln in regional begrenzten Straßennetzen werden Richtlinien erarbeitet und Erfahrungen mit Sicherheitsanalysen durch die örtlich zuständigen Behörden gesammelt. Ganz wichtig ist auch: Der zweijährlich erscheinende Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr wird zu einem ControllingInstrument weiterentwickelt, um die Veränderungen im Verkehrsverhalten und Unfallgeschehen zu erfassen und im jeweils aktuellen Bericht Empfehlungen für die künftige Verkehrssicherheitsarbeit auszuweisen. Ich möchte noch einmal auf das Problem mit den jungen Fahrern zurückkommen. Sie sind unsere Sorgenkinder; denn die Zahl der jungen Fahrer als Hauptverursacher von Unfällen mit Personenschäden ist in den letzten Jahren wieder angestiegen. Zurzeit gibt es eine Diskussion über den - ich stelle das verkürzt dar - „Führerschein mit 17“. Die Projektgruppe wird im Frühjahr einen Abschlussbericht vorlegen, über den wir ernsthaft und vorurteilsfrei diskutieren sollten. Wir sollten uns aber davor hüten, ein Allheilmittel daraus zu machen. Ich jedenfalls habe noch eine ganze Menge Fragen. Zum Schluss möchte ich dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat und der Deutschen Verkehrswacht für ihre Arbeit herzlich danken. Ich glaube, dass sie uns in unserem Bemühen, Unfälle zu vermeiden, sehr geholfen haben. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Gero Storjohann für die CDU/CSU-Fraktion.

Gero Storjohann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003643, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute den Unfallverhütungsbericht der Bundesregierung für die Jahre 2000 und 2001. Trotz einer starken Verkehrszunahme sank die Zahl der Verunglückten in den letzten zehn Jahren um rund 3 Prozent auf circa 500 000 Verunglückte pro Jahr. Die Zahl der Unfälle mit schweren Unfallfolgen sind erheblich zurückgegangen. 1991 gab es noch 11 300 im Straßenverkehr Getötete, 2001 waren es knapp 7 000. Dies ist ein Rückgang um 38 Prozent. Die Zahl der Schwerverletzten sank zwischen 1991 und 2001 um 27 Prozent. Trotz alledem stecken hinter diesen Zahlen noch viele ungelöste Probleme. Es geht hierbei um schreckliche Einzelschicksale. Gestatten Sie mir deswegen, dass ich beispielhaft einige Dinge anspreche, zunächst das Problem mit den Kleinlastern. Um 147 Prozent ist deren Unfallquote seit 1991 - gegen den allgemeinen Unfalltrend - gestiegen. Die Polizei in Schleswig-Holstein - daher komme ich musste bei Kontrollen jeden dritten Kleinlaster aus den Verkehr ziehen. Übermüdete Fahrer, hohes Tempo und ungesicherte Ladung waren die Gründe. Im „Spiegel“ war davon zu lesen, im ARD-Nachrichtenmagazin „Fakt“ wurde darüber berichtet, nur im Unfallverhütungsbericht der Bundesregierung steht über dieses Problem kein einziges Wort. ({0}) Wir müssen darauf hinwirken, dass von diesen Fahrzeugen zukünftig keine erhöhten Unfallzahlen ausgehen. Wir müssen politisch darauf drängen, dass gleichermaßen in die Verbesserung der Technik und die Schulung der Fahrzeugführer dieser Kleinlaster investiert wird. Die CDU/CSU-Fraktion bekennt sich - so wie es die Staatssekretärin eben auch getan hat - ausdrücklich zur Mobilität. Für uns ist das aber kein neues Bekenntnis; wir haben das schon seit Jahren gemacht. ({1}) Wir fordern die Bundesregierung natürlich auf, kurzfristig ihren Beitrag zur Verkehrssicherheit in diesem Bereich zu leisten. Wie sieht es mit jungen Fahrerinnen und Fahrern aus? Die 18- bis 25-Jährigen bleiben die zentrale Risikogruppe. 2001 verunglückten mehr als 110 000 junge Fahrzeugführer im Straßenverkehr; davon wurden 1 606 tödlich und 21 014 schwer verletzt. Das sind Besorgnis erregende Zahlen. Hier sehe ich auch erheblichen Handlungsbedarf. Der 41. Deutsche Verkehrsgerichtstag in Goslar hat kürzlich diskutiert und dazu folgenden Vorschlag unterbreitet: begleitetes Fahren ab 17 auf freiwilliger Basis. Ausgangspunkt für dieses Modell ist die unbestrittene Erkenntnis aus der Unfallforschung, dass das Unfallrisiko bei jungen Fahranfängern fünffach höher ist als bei „alten Hasen“. Neben dem jugendlichen Alter ist der Hauptunfallgrund mangelnde Erfahrung und mangelnde Fahrpraxis. Hier setzt das begleitete Fahren an. Es soll die Fahrausbildung unter Begleitung vertiefen, damit fahrpraktische Erfahrungen gesammelt werden können. Dadurch werden Fahranfänger befähigt, ab dem 18. Geburtstag eigenständig und ohne Begleitung, aber mit erheblich verringertem Unfallrisiko am Straßenverkehr teilzunehmen. ({2}) Wir sind aufgefordert, vertieft über diverse Lösungswege zur Senkung der Unfallzahlen bei jungen Menschen nachzudenken. Besonders die Vermeidung des Praxislochs zwischen Führerscheinprüfung und selbstständiger Teilnahme am Verkehr gilt es, zu überwinden. Im Ausland, zum Beispiel in Schweden, hat man mit dem begleiteten Fahren gute Erfahrungen gemacht. Auch Österreich hat dieses Modell bereits eingeführt. Wir sollten zudem die Möglichkeit einer freiwilligen zweiten Ausbildungsphase für Fahranfänger in Erwägung ziehen. Durch die zweite Ausbildungsphase sollen die Kenntnisse der Fahranfänger im Rahmen des bisherigen Fahrschulausbildungsumfangs, also ohne Zusatzkosten für den Fahranfänger, vertieft werden. ({3}) Das wäre ein Gewinn für mehr Sicherheit im Straßenverkehr. Als Belohnung für die Teilnahme an einer solchen freiwilligen zweiten Ausbildungsphase kann ich mir gut vorstellen, die Probezeit zu verkürzen. Auch der Führerschein auf Probe selbst muss optimiert werden. Hierzu erwarten wir Ansätze der Regierung. Frau Staatssekretärin, wir warten dabei auch auf Ihre Vorschläge. Werden Sie tätig! Das Ziel aller Bemühungen muss jedoch die Bereitschaft zur eigenverantwortlichen Mitwirkung der Verkehrsteilnehmer sein. Rücksichtnahme gegenüber schwächeren Verkehrsteilnehmern, Verantwortungsbewusstsein, Fairness und kooperatives Verhalten im Straßenverkehr müssen gestärkt werden. Dazu gehört jedoch auch, unsere Autofahrer nicht zu überfordern. Vor allem muss der Schilderwald gelichtet werden. Häufig führt insbesondere innerhalb geschlossener Ortschaften die stete Überprüfung einer sparsamen, aber sinnvollen Beschilderung zu einer besseren Übersichtlichkeit auf den Straßen. Das gilt auch für Autobahnen und Schnellstraßen. Dort brauchen wir nicht unbedingt fest installierte Straßenschilder; diese machen bei rasch wechselnden Verkehrslagen häufig keinen Sinn. Was wir brauchen, ist auch moderne Elektronik. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert daher einen verstärkten Ausbau von Verkehrsbeeinflussungsanlagen. ({4}) Diese steuern den Verkehrsablauf auf hoch frequentierten Straßen. Sie geben verkehrs- und witterungsabhängige Informationen sowie Warnungen und vermindern die Verkehrsunfälle und ihre Folgen. Ebenso sind umfangreiche technische Verbesserungen an Fahrzeugen zu fördern. Im zu diskutierenden Bericht ist die Rede von „mitschwenkenden Scheinwerfern“ und „Spurhalteassistenten“, von „Schlupfsensorik zur Feststellung des Reibwertes auf der Straße“ und von „Navigationssystemen mit Sprachinformation des Fahrers zur Reduzierung der Blickabwendezeiten“. Das ist zwar alles schön und gut; es steht aber nur auf dem Papier. Wir erwarten hier eine konkrete Umsetzung. Wie verhält es sich mit Fahren mit Licht bei eingeschränkten Lichtverhältnissen? Was ist mit Reifen ohne Profil und ausgeschlagenen Lenkstangen? Wie steht es um abgefahrene Bremsbeläge, poröse Schlauchverbindungen und defekte Beleuchtungsanlagen? Hierüber verliert der Bericht kein Wort. Dabei fahren auf unseren Straßen zunehmend Schrottautos - ein Risiko für uns alle. Politisch bedanken können wir uns hierfür bei Rot-Grün. ({5}) Wenn Sie die Fachpresse der letzten Tage und Wochen lesen, dann stellen Sie fest, dass die Bürger bei der Instandhaltung und Wartung ihrer Fahrzeuge sparen. Das geht zulasten der eigenen Verkehrssicherheit. Deswegen sage ich: Die Leute müssen mehr Geld in den Taschen haben, um der Verkehrssicherheit insgesamt zu dienen. Wir sehen: Politik wirkt in alle Lebensbereiche hinein; falsche Politik erhöht auch Risiken. Wir dürfen eines nicht vergessen: Im Mittelpunkt der Politik müssen der Mensch und seine Gesundheit stehen. Das gilt insbesondere für die Verkehrspolitik. Deshalb sind die Aufklärung und Information der Verkehrsteilnehmer zu intensivieren. Hierbei leisten die Deutsche Verkehrswacht und der Deutsche Verkehrssicherheitsrat wertvolle Arbeit. Beide müssen finanzielle Mittel in derselben Höhe wie bisher erhalten. In der von Rot-Grün geplanten Zusammenlegung der Haushaltsansätze sehen wir von der CDU/CSU-Fraktion eine Gefahr für die Eigenständigkeit der Deutschen Verkehrswacht; deshalb plädieren wir mit Nachdruck für die Einzelausweisung der Titel. Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme. Wenn Ihre Verkehrspolitik diese Grundregel aus der Straßenverkehrsordnung in der Umsetzung häufiger und schneller beachten würde, dann wären wir alle schon ein großes Stück weiter. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Storjohann, ich darf Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag herzlich gratulieren, verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere Arbeit. ({0}) Ich erteile nun der Kollegin Ursula Sowa, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Ursula Sowa (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für viele von Ihnen mag der vorliegende Bericht eine reine Routineangelegenheit sein; denn er wird alle zwei Jahre mit den jeweils neuesten Zahlen - teilweise haben wir sie heute schon gehört - hier im Plenum vorgestellt. Der vorliegende Bericht bezieht sich auf die letzten beiden Jahre. Ich muss sagen, dass für mich als neue Abgeordnete dieser Bericht teilweise spannender zu lesen war als mancher Bericht, der beispielsweise im „Spiegel“ steht. Das Spannende daran ist, dass jede und jeder von uns damit zu tun hat. Gerade wir Abgeordnete können ein Lied davon singen, was es heißt, mobil zu sein, denn wir müssen, ob wir es wollen oder nicht, oft auf das Auto oder andere Verkehrsmittel zurückgreifen. In den Wahlkreisen werden wir mit Wünschen nach Umgehungsstraßen und - je nachdem, welchem politischen Spektrum wir angehören - auch insgesamt mit dem Wunsch nach mehr Straßen konfrontiert. Alles in allem: Der Verkehr in Deutschland nimmt weiterhin zu. ({0}) Es ist nun reine Interpretationssache, wie wir mit den Zahlen des so genannten Unfallverhütungsberichtes umgehen. Es ist einerseits eine Abnahme, andererseits aber auch eine Zunahme an Unfällen zu verzeichnen. Abgenommen hat die Zahl der Unfalltoten; sie liegt bei etwa 7 000 Verkehrsopfern. Zum Vergleich: 1971 waren es noch 21 000. Zugenommen hat allerdings allgemein die Zahl der Unfälle. Diese Zahl ist doch ganz beachtlich, sie beträgt nämlich 2,37 Millionen. Davon sind 2 Millionen Unfälle nur mit Sachschaden und 375 000, wie es im Amtsdeutsch heißt, Unfälle mit Personenschaden. Diese Zahlen können wir hier bewerten. Ich gehe davon aus, dass wir uns einig sind, dass diese Zahlen gewaltig gesenkt werden müssen. ({1}) Bei der Antwort auf die Frage, wie wir das schaffen können, liegen wir, wie ich glaube, gar nicht so weit auseinander. Jede Regierung hat bisher Geld in Aufklärungskampagnen gesteckt. Ich bin mir sicher: Jede weitere Straßenbaumaßnahme geschieht unter dem Aspekt höchstmöglicher Sicherheit, genauso wie die Autoindustrie größtes Interesse hat, Autos so sicher wie möglich zu machen. Trotzdem sind wir mit diesem Unfallberg konfrontiert, der jährlich einen volkswirtschaftlichen Schaden von - diese Zahl wurde schon genannt - 35 Milliarden Euro verursacht. Was tun? Meine Vorrednerin und mein Vorredner haben Wege aufgezeigt, aber, wie ich feststellen muss, die Verkehrsströme in Deutschland als mehr oder weniger gegeben hingestellt. Es hieß, sie seien zu kanalisieren und - wortwörtlich - so sicher, umweltfreundlich und sozial gerecht wie möglich zu gestalten. Dagegen ist schwer etwas zu sagen. Ich tue es hiermit trotzdem. Meiner Meinung nach müssen wir stärker denn je die Lage unseres Landes berücksichtigen. Das meine ich im Wortsinne, nämlich geographisch. Deutschland liegt mitten in Europa und wird ab 2004 noch stärker als Transitland beansprucht werden. Deshalb ist die Zunahme des Autoverkehrs schon einmal vorprogrammiert und damit natürlich leider auch die Zunahme der Unfälle - wenn wir nicht gegensteuern. Die Zahlen aus Großbritannien, die vorhin genannt wurden, kann man meiner Meinung nach nicht heranziehen, da es ein großer Unterschied ist, ob man von einem Transitland und einer Insel spricht. Trotzdem werden wir, so meine ich, da wir diesen Unfallberg nicht einfach wegzaubern können, nicht darum herumkommen, die Verkehrspolitik mit wichtigen anderen Politikfeldern zu verknüpfen, um gemeinsam eine zukunftsfähige Verkehrspolitik zu machen. Insofern müssen wir uns ganz klar vor Augen führen: Mobilität muss eine dienende Funktion haben, da andere Bedürfnisse wichtiger für uns sind. Ich darf aus dem „Konzept Nachhaltigkeit“ der Enquete-Kommission, das zwar ein paar Jahre alt ist, aber an Aktualität überhaupt nichts verloren hat, sinngemäß zitieren: Wir sollten selbstbewusst unsere Lebenswelt und unsere Lebensbedürfnisse selber definieren. Wichtig ist der Raum, in dem wir wohnen, aufwachsen, lernen, arbeiten, uns erholen und entfalten. Genau diese Bedürfnisse müssen im Mittelpunkt stehen. Die heutige Stadt- und Raumplanung muss die gravierenden Veränderungen in den Bereichen Arbeit und Freizeit nachvollziehen und sich davon ausgehend immer wieder neu definieren. Sie kann aber gerne dabei einen alten Leitspruch heranziehen, denn die Stadt der kurzen Wege ist absolut in. ({2}) Wohnungen und Büroarbeitsplätze, soziale Infrastruktur wie auch Freizeiteinrichtungen können und sollen jetzt in kompakten Stadtstrukturen gemischt werden. So viel aus Sicht eines Mitglieds im Verkehrs- und Bauausschuss. Abschließend möchte ich auf die Kampagne „Gelassen läuft’s“ aufmerksam machen, die im Unfallverhütungsbericht erwähnt wurde und die ich sehr gut finde. Diese Kampagne soll in den Köpfen der Menschen ein neues Leitbild für das Verhalten im Verkehr verankern. Dem aggressiven Kampf auf der Straße werden gegenseitige Rücksichtnahme und Verantwortung, Souveränität und Gelassenheit entgegengesetzt. Diese Form der Kultur wünsche ich mir - nicht nur auf der Straße, sondern als neues Mitglied in diesem Hause auch hier. Danke schön. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich darf auch Ihnen, Frau Kollegin Sowa, herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulieren. ({0}) Ganz offensichtlich haben Sie das Motto „Gelassen läuft’s“ auch Ihrer Rede zugrunde gelegt. Vielleicht gelingt Ihnen das bei weiteren Auftritten im Hause in ähnlicher Weise. Nun erteile ich dem Kollegen Horst Friedrich das Wort.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um das Wort von der Routine aufzugreifen: Sicherlich ist es Routine, wieder ein neues Rekordergebnis vorzulegen, was die Zahl der Verkehrstoten angeht. Wir haben seit Einführung der Statistik wiederum den absolut niedrigsten Stand erreicht. Es sind noch immer zu viele, Horst Friedrich ({0}) aber trotz der Verkehrszunahme sind es weniger und das passt eigentlich in die Linie. Wenn man das so stehen ließe, könnte man sagen: Es ist alles wunderbar und man braucht im Endeffekt nichts zu ändern. Die Frage ist aber, liebe Kolleginnen und Kollegen: Worauf sind diese Zahlen zurückzuführen? Hat das mit den Regulierungen zu tun oder nicht eher mit der Erhöhung der passiven Sicherheit in den Fahrzeugen mit allen technischen Einrichtungen, mit einer deutlichen Verbesserung des Rettungswesens in Deutschland - die Eintreffzeit der Rettungsfahrzeuge liegt mittlerweile sowohl am Tag als auch in der Nacht deutlich unter zehn Minuten - sowie mit einer deutlichen Verbesserung des Ausbaus der Infrastruktur, der für das Unfallgeschehen ebenfalls signifikant ist? ({1}) Den letzten Punkt will ich allerdings etwas relativieren. In Kenntnis der Zahlen des Straßenbauberichtes 2001, den wir kürzlich hier diskutiert haben, ist festzustellen, dass nur noch ein Drittel aller Brücken und zwei Drittel der Fernverkehrswege in Deutschland uneingeschränkt zu nutzen sind. In einigen Bundesländern ist sogar nur noch ein Drittel der Fernverkehrswege uneingeschränkt zu nutzen. Am schlechtesten steht in diesem Fall wiederum Berlin da, wo nur noch 30 Prozent aller Fernverkehrswege uneingeschränkt nutzbar sind. Dass das signifikant für das Unfallgeschehen ist, beweisen die Zahlen aus Hessen, wo vor kurzem zwei Unfallschwerpunkte auf Autobahnen dadurch entschärft worden sind, dass man dort neue Straßenbeläge aufgebracht und die Autobahnen saniert hat. Unmittelbar danach sind die Unfallzahlen um 30 Prozent zurückgegangen. Das zeigt, dass es notwendig ist, beim Erhalt der Infrastruktur anzusetzen. ({2}) Bei dem, was Sie, Frau Staatssekretärin, vorgestellt haben, fehlt meines Erachtens die Vision. ({3}) Ich vermisse die Vision von null Verkehrstoten im Straßenverkehr und einen entsprechend breiten, globalen Ansatz bei den Maßnahmen. Sie haben einiges aufgezählt. Ich beginne mit dem Thema der Promillegrenze. Es ist in der Diskussion, dass sich die Senkung der Promillegrenze von 0,8 auf 0,5 signifikant auf das Unfallgeschehen ausgewirkt hat. Zu einem anderen Punkt in diesem Zusammenhang haben Sie allerdings nichts gesagt. Fakt ist, dass die Promillewerte derer, die sich jenseits der absoluten Fahruntüchtigkeit bewegen, zunehmen; sie liegen bei 1,6 und mehr. ({4}) Die Promillewerte erreichen astronomische Höhen. Außerdem sind die, die gegen die Promillegrenze verstoßen, immer jünger. Da bewegt sich aus unserer Sicht zu wenig. Das nächste Thema ist das von Ihnen angesprochene Verbot des Telefonierens mit Handy ohne Freisprechanlage. Das bewehren Sie mit Bußgeld und Sie drohen dem Fahrer Strafe an. Warum haben Sie es nicht einmal damit versucht, zu sagen: „Wer sich in sein Auto eine Freisprechanlage einbauen lässt, hat eine verminderte Versicherungsprämie zu zahlen“? ({5}) Das wäre eine viel effizientere Lösung, auch wenn Sie darüber lachen. Wenn ich dem Autofahrer signalisiere: „Wenn Sie sich eine Freisprechanlage einbauen lassen, dann müssen Sie eine entsprechend reduzierte Versicherungsprämie zahlen“, ist das viel effizienter als die jetzige Realität. Was haben Sie denn erreicht? Sie haben ein Verbot in die Welt gesetzt, an das sich kaum jemand hält. Sie versetzen die Polizei in die Situation, dass sie die Einhaltung dieses Verbotes nicht kontrollieren kann, und senken damit die Schwelle, dieses Verbot einzuhalten, sodass immer mehr sagen: Es macht ja nichts, wenn ich dagegen verstoße; es merkt ja sowieso keiner. Genau das erreichen Sie damit. Daran schließt sich die Frage an: Warum haben Sie noch nicht verboten, während des Fahrens das Navigationssystem zu bedienen? Auch das ist in dieser Hinsicht ein Thema. ({6}) - Herr Kollege Weis, Ihre dummen Zwischenbemerkungen können Sie sich schenken. Nun zur Diskussion über den Führerschein mit 17 Jahren. Ob das, was damit initiiert werden soll, das Problem löst, wage ich zu bezweifeln. Was soll ein Begleiter des Fahrers, der mindestens 30 Jahre alt sein und eine entsprechende Fahrerfahrung haben muss, tatsächlich machen? Wer führt denn das Fahrzeug? Wer trägt das Rechtsrisiko, wenn etwas passiert? Wie kann er eingreifen? Ganz zu schweigen davon, dass der Fahrer den Übergang von der Fahrschule zu dem, der nach der Fahrschule neben ihm sitzt, erst einmal verkraften muss. Ich glaube, das, was Sie dazu vorgelegt haben, ist noch nicht das Ende der Fahnenstange. ({7}) Hier würde ich sehr viel tiefer ansetzen, zum Beispiel daran, das Fahrlehrerausbildungsrecht zu verändern. Das ist nach wie vor ein Weiterbildungsberuf und kein Ausbildungsberuf. Noch immer ist das pädagogische Profil viel zu deutlich ausgeprägt. Wir sind der Meinung: Im Hinblick auf die Vision „null Verkehrstote“ hat die Bundesregierung noch einen weiten Weg vor sich. Diese Aufgabe muss sie erst einmal erfüllen. Danke sehr. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Heidi Wright, SPDFraktion.

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auto fängt mit „au“ an. Das ist ein weiser Spruch meiner Mutter an ihre Enkel. Diesem Eingangssatz folgt eine längere Ansprache an die Familie, dass das Autofahren teuer und gefährlich ist, dass man eigentlich gar nicht wegfahren müsse und zu Hause bleiben könne oder dass man auch mit dem Zug fahren könne. Keine Angst, ich halte hier keine Rede gegen das Auto und schon gar nicht gegen die Mobilität. Aber grundsätzlich und keineswegs altbacken ist festzustellen: Mobilität fängt nicht mit dem Auto an und ist nicht auf das Auto beschränkt. Das Gute liegt nicht immer fern. Den Fakten des Straßenverkehrs will ich mich aber keineswegs verschließen und diese auch hier nochmals bewusst machen. Wir haben eine enorme und steigende Verkehrsdichte. Allein die PKW-Dichte lag Anfang 2002 bei 540 PKW pro 1 000 Einwohner. Damit verfügt mehr als jeder Zweite über einen PKW. Das ist Rekord, der natürlich im Hinblick auf die Wachstumstheorie fragen lässt: Wie viel mehr denn noch? 540 PKW pro 1 000 Einwohner, also mehr als 43 Millionen PKW in Deutschland - das ist die eine Zahl. Die andere ist, dass diese PKW mehr als 522 Milliarden Kilometer pro Jahr zurücklegen. Das ist unglaublich viel. Nach all diesen Daten will ich zunächst einmal ein Lob an all die Verkehrsteilnehmer loswerden, die bedacht und rücksichtsvoll fahren und allermeistens seit Jahrzehnten unfallfrei am Verkehrsgeschehen teilnehmen. Ich will ein Lob an die Kolleginnen und Kollegen der Verkehrspolizei loswerden, die meistens regeln, damit nichts passiert, und immer hinzukommen, wenn Schlimmes passiert ist. Wenn Schlimmes passiert, sind die Kräfte der Rettungsdienste im Einsatz. Polizistinnen und Polizisten, Rettungssanitäter und Notärzte sind mit die Ersten, die in tragischen Situationen Betroffenen und Angehörigen zur Seite stehen. Dafür auch aus diesem Hause Anerkennung! ({0}) Der Bericht zum Unfallgeschehen, der uns heute vorliegt, kann positiv bewertet werden. Bei der Beobachtung des Verkehrsgeschehens zeigt sich bei allem Verbesserungsbedarf die erfreuliche Erkenntnis: Der Mensch ist lernfähig. Der Verkehr nimmt zu und das Unfallgeschehen nimmt ab. Seit 1975 lässt sich der Deutsche Bundestag den Unfallbericht in zweijährlichem Abstand vorlegen. Seit 1991 haben wir rückläufige Zahlen bei den getöteten und schwer verletzten Verkehrsteilnehmern. Dennoch, 6 977 tote Verkehrsteilnehmer im Jahre 2000 sind 6 977 zu viel. Auch das ist ein Preis der Mobilität. Mobilität, verehrte Kolleginnen und Kollegen, muss immer mit dem Anspruch der Verbesserung der Verkehrssicherheit einhergehen. Dieser Aufgabe stellt sich die Politik. Im Berichtszeitraum sind zwei Programme des Bundesministeriums für Verkehr aufgelegt worden, die wichtige Ziele verfolgen. Diese Ziele zu erreichen ist aber sicherlich eine fortwährende Aufgabe. Die Bundesregierung hat dafür im Berichtszeitraum wichtige Regelungen getroffen. Eine davon will ich noch einmal aufgreifen; es ist die 0,5-Promille-Regelung. Ich habe sie sehr begrüßt und in meinem Weinland Franken enorm dafür geworben. Ich bitte jeden, doch einmal zu überlegen - jeder Vernünftige hat das natürlich bereits vor dieser Regelung getan -, sein Auto auch vor Erreichen der 0,5 Promille stehen zu lassen. Hier muss das Signal an die Jugendlichen gehen: Es gibt nur eine Konsequenz, entweder Auto oder Alkohol, entweder Fete oder Fahren. Eine Beschäftigung mit den Unfallursachen und den Unfallverursachern zeigt eine deutliche Unterscheidung zwischen jungen und älteren Verkehrsteilnehmern sowie zwischen Männern und Frauen. Das Fazit könnte sein: Nur noch Frauen ab 25 ans Lenkrad! ({1}) Dass das natürlich nicht meine ernsthafte Forderung ist, will ich gleich zugeben. Ich will aber nochmals feststellen: Frauen sind die besseren Verkehrsteilnehmer. ({2}) Die Brisanz, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegt bei den jungen Verkehrsteilnehmern. Es ist festzuhalten: Junge Fahrer fahren gefährlich. Bei Unfällen mit jungen PKW-Fahrern waren diese in fast 63 Prozent der Fälle Hauptunfallverursacher. Das zeigt ganz klar den Handlungsbedarf auf. Ob dieser darin bestehen kann, dass wir die Fahrerlaubnisgrenze auf 17 Jahre absenken, verneint wohl jeder. Ob wir den jüngeren Verkehrsteilnehmern einen Begleiter zur Seite setzen, bringt aber auch mehr Stirnrunzeln als Kopfnicken. Zunächst die klare Message an die jungen Leute: Den Führerschein mit 17, gerade mal so, gibt es natürlich nicht. So einfach war das auch nie angedacht. Es gibt den Führerschein mit 17 in den USA. Es gibt begleitetes Fahren in Österreich und in Schweden. Es gibt bei uns eine Projektgruppe „Begleitetes Fahren“ der Bundesanstalt für Straßenwesen. Es wird ein Gutachten dieser Projektgruppe und dann eine Befassung in den politischen Gremien geben. Dann schauen wir einmal. Aber so viel vorab: Erfahrungen aus dem Ausland sind in weiten Teilen mit den Gegebenheiten in Deutschland nicht vergleichbar. Gibt es in Schweden vielleicht hier und dort die Gefahr der Kollision mit einem Elch, so wartet bei uns der Elch eigentlich an jeder Ecke. ({3}) Es ist Fakt: Wir sind das dichtest befahrene Land in Europa. Wir liegen nicht abgelegen peripher und befinden uns auch nicht im Highway-Land mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 70 Meilen pro Stunde. ({4}) Ich habe in den letzten Wochen ganz klar die Absage an die vereinfachte Formel des Führerscheins mit 17 gehört und zum Thema begleitetes Fahren Achselzucken wahrgenommen. Ich habe jetzt Herrn Storjohann gehört, der sich wohl als Begleiter outet. Ich habe gar niemanden erlebt, der gerne ein Begleiter wäre. Ich habe auch niemanden erlebt, der gerne amtlich begleitet fahren möchte. Ich halte die Sache für überflüssig wie einen Kropf. Sie ist, wenn sie wirklich mehr Verkehrssicherheit bringen soll, aufwendig und umständlich und wird dann von den Jugendlichen ganz bestimmt nicht angenommen werden. Jugendliche haben weder Zeit noch Geld, sich vor dem 18. Lebensjahr intensiv mit dem Führerschein oder mit dem begleiteten Fahren abzumühen. Jugendliche sind durch ÖPNV, Fahrrad und Billigflieger mobil. Es ist mir wichtig, den Jugendlichen klar zu machen: Die Freiheit beginnt nicht mit dem Führerschein und der Führerschein ohne Verantwortung ist eine Freiheit zulasten anderer. Ich komme zum Schluss zu unseren ungelösten politischen und gesellschaftlichen Aufgaben. Fakt ist: Wir müssen alles daransetzen, junge Verkehrsteilnehmer zu einem stärkeren Sicherheitsbewusstsein und zu einem verantwortlichen Umgang im Straßenverkehr zu bringen. Ich finde, die Verkehrssicherheitskampagne „Gelassen läuft’s“ ganz prima. Aber ob dieses Konzept die Jugendlichen erreicht, wage ich zu bezweifeln. Der Altersgruppe bis 25 müssen wir uns sicherlich anders nähern. Wir werden uns auf Koalitionsebene mit Vertretern der Fahrlehrerverbände treffen, vonseiten der SPD-Fraktion eine Verkehrssicherheitskonferenz im ersten Halbjahr durchführen und Herr Bundesminister Stolpe will nach Vorlage des Gutachtens Experten zu einer Anhörung auf politischer Ebene laden.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Letzter Satz. - Ich weiß von den Bemühungen der Verkehrssicherheitsinstitute, die hier heute schon gelobt wurden, dass sie über Jugendmedien wie die „Bravo“, Jugendrundfunk und -fernsehen das Thema Verkehrssicherheit ebenfalls aufgreifen werden. Der Unfallverhütungsbericht ({0}) ist ein guter Bericht und zeigt eine gute Verkehrssicherheitslage. Aber nichts ist so gut, als dass es nicht noch verbessert werden könnte. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Klaus Hofbauer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Wright, wenn Sie die Männer beim Autofahren nicht so zurückgesetzt hätten, hätte ich Ihnen etwas von meiner Redezeit abgetreten. Aber ich hoffe, dass wir das in Zukunft so machen können. Der vorgelegte Unfallverhütungsbericht zeigt deutlich, dass das Unfallgeschehen und die Unfallhäufigkeit untrennbar mit der Verkehrsinfrastruktur zusammenhängen. Logische Konsequenz daraus ist der umfassende Ausbau von Autobahnen, Bundesstraßen, Ortsumgehungen und Verkehrsanlagen. Nicht zuletzt die beständige Zunahme des Verkehrs zwingt uns dazu. Das steigende Verkehrsaufkommen darf nicht mit einem Anstieg der Unfallzahlen einhergehen. Deswegen ist für uns - auch aufgrund dieses Berichtes - die klare und deutliche Aussage: Der Ausbau und die Verbesserung von Verkehrswegen sind wichtige und bedeutende Voraussetzungen für mehr Sicherheit im Straßenverkehr. ({0}) Der Ausbau von Straßen ist auch ein eindeutiger und überzeugender Beitrag, um Unfälle zu verhüten. ({1}) Deswegen möchte ich einen Punkt ansprechen, der im Bericht sicherlich zu kurz gekommen ist bzw. relativ wenig beachtet wurde. Wir befinden uns mitten in der Diskussion über die EU-Osterweiterung. Wir stellen schon heute fest, dass in den letzten zehn Jahren nach Öffnung der Grenze der Verkehr bei uns in Deutschland rasant zugenommen hat. Es ist Tatsache, dass wir ab 2004 noch einmal eine deutliche Zunahme verzeichnen werden. Hinsichtlich des Straßengüterverkehrs zwischen der EU und den Beitrittsländern wird eine Zunahme um rund 200 Prozent prognostiziert. Das sind seriöse Angaben von verschiedenen Stellen, die Konsequenzen in der Verkehrssicherheit und insbesondere beim Bau von Straßen erfordern. ({2}) Die Einfuhr von Waren aus Polen hat sich von 1997 bis 2001 fast verdoppelt. Ich darf hier einfach einmal einen Grenzübergang in meinem Wahlkreis, in Furth im Wald, erwähnen. Gestern stand in der Zeitung: „Januar brach alle bisherigen Lkw-Rekorde“. Wir stehen erst am Anfang der Zunahme des LKW- und des Güterverkehrs. Das erfordert insbesondere im Bereich der Verkehrssicherheit grundlegend neue Gedanken. Wir haben bereits jetzt lange Schlangen. Wir haben übermüdete LKW-Fahrer. Dies sind erhebliche Gefahren, denen wir begegnen müssen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf einen Punkt aus der Praxis an den Grenzen ansprechen, der mir einige Sorge bereitet. Leider Gottes ist die Polizei nicht mehr in der Lage, umfassende Kontrollen durchzuführen. Das heißt, dass viele LKWs auf unseren Straßen unterwegs sind, die unseren Ansprüchen nicht entsprechen. Das bedeutet Gefahr für die Menschen; das bedeutet Gefahr für die Verkehrsteilnehmer. Am 1. April 2004 werden die Zollkontrollen über Nacht wegfallen. Natürlich ist der Zoll nicht für die Ver1980 kehrssicherheit zuständig. Aber was zum Beispiel die Beladung von Pkws oder von Lkws anbelangt, gibt der Zoll Hinweise an die Grenzpolizei. Diese Zusammenarbeit wird es in Zukunft nicht mehr geben. ({3}) Deswegen müssen wir neue Formen der Kontrolle finden. Denn wir dürfen nicht zulassen, dass sich Lkws, die unseren Erfordernissen nicht entsprechen, auf unseren Straßen tummeln. ({4}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, wir sind uns auch darin einig, dass die Eigenverantwortung in der Verkehrserziehung und in der gesamten Sicherheitsarbeit im Verkehr eine ganz entscheidende Rolle spielt. Deswegen möchte ich einen Gedanken aufgreifen, den unser Vorsitzender, Herr Oswald, ({5}) in den letzten Tagen in einer Zeitschrift dargestellt hat: Die Deutsche Verkehrswacht ist Garant und eine tragende Säule der Verkehrssicherheitsarbeit. ({6}) Ich möchte bei dieser Gelegenheit allen danken, die in diesem Bereich tätig sind. Für mich ist ganz entscheidend, dass hier unheimlich viele ehrenamtlich tätig sind. Wenn ich die Zahl richtig in Erinnerung habe, hat die Verkehrswacht 90 000 Mitglieder, die ausschließlich ehrenamtlich tätig sind. Ihnen gilt ein besonderer Dank. ({7}) Ich darf ein Beispiel aus meiner Heimatstadt erzählen. Wir sind ein kleines Städtchen mit ungefähr 17 000 Einwohnern und einer Schulzentrale mit 4 000 Schülerinnen und Schülern. Dort sind 100 Schüler in der Betreuung der Überwege und für die Verkehrssicherheit tätig. Wir stellen fest: Seitdem diese jungen Menschen tätig sind, ist kein Unfall mehr passiert. Dies ist doch ein deutliches Zeichen, was man mit dem Ehrenamt auch im Straßenverkehr erreichen kann. ({8}) Diese 100 jungen Leute - jeder von Ihnen könnte solche Beispiele aufzeigen - werden ausgebildet und werden ganz anders an zukünftige Verkehrssituationen herangehen. Ich möchte unsere Konsequenzen aus diesem Bericht ganz kurz in fünf Punkten zusammenfassen: Erstens. Der Ausbau der Infrastruktur trägt dazu bei, Unfälle zu vermeiden. Deshalb muss der Ausbau von Verkehrswegen oberste Priorität haben. ({9}) Zweitens. Die Verkehrspolitik muss verstärkt den neuen Herausforderungen der EU-Osterweiterung Rechnung tragen. Insbesondere der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in den Grenzregionen ist eine zentrale Forderung. ({10}) Drittens. Stärkere Verkehrskontrollen an den Grenzen sind notwendig, um vor allem die Sicherheit beim LkwVerkehr zu gewährleisten. ({11}) Viertens. Wir müssen moderne Technologien und elektronische Verkehrsleitung nutzen, um eine noch größere Verkehrssicherheit zu erreichen. Es sind Forschung und Entwicklung in unserer Wirtschaft zu fördern - von ihr gehen sehr große Impulse aus -, damit Deutschland eine Vorreiterrolle übernehmen kann. ({12}) Fünftens. Nicht zuletzt muss die Eigenverantwortlichkeit der Verkehrsteilnehmer gestärkt werden; dies müssen wir als Schwerpunkt ansehen. Dazu gehören die Anerkennung und Förderung von Tausenden von ehrenamtlichen Helfern, die im Verkehrsbereich tätig sind. ({13}) In diesem Bericht sind viele gute Ansätze enthalten. Wir dürfen beim Erreichten aber nicht stehen bleiben, sondern müssen im Interesse unserer Verkehrsteilnehmer weiter daran arbeiten. Herzlichen Dank. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zum Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr 2000/2001 der Bundesregierung, Drucksachen 14/9730 und 15/388. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Berichts der Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Möchte sich jemand enthalten? - Dann ist diese Beschlussempfehlung bei nicht kompletter Beteiligung der anwesenden Kolleginnen und Kollegen - diese Präzisierung erwartet man vom Präsidium - einstimmig angenommen. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Widmann-Mauz, Dr. Norbert Röttgen, Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Versorgungsausgleich umgehend regeln - Keine Schlechterstellung von Frauen bei der Alterssicherung - Drucksache 15/354 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 45 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich erteile das Wort der Kollegin Annette WidmannMauz, CDU/CSU-Fraktion.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! „Die Zeiten ändern sich und wir uns mit ihnen“, das stellte bereits der römische Dichter Ovid fest. Am Beginn des 21. Jahrhundert haben sich die Lebenswirklichkeiten in der deutschen Gesellschaft wie auch in ganz Europa tief greifend verändert. Die Menschen haben andere Lebenspläne und Wünsche als noch vor 50 Jahren. Dieser Wandel bereichert unsere Gesellschaft in gleichem Maße, wie er uns vor neue Herausforderungen und Probleme stellt. In Deutschland wird gegenwärtig jede dritte Ehe geschieden. In 55 Prozent der Fälle sind minderjährige Kinder betroffen. Angesichts dieser sich wandelnden Strukturen besteht insbesondere in der Familienpolitik immer wieder Handlungsbedarf. Auch beim Familienrecht muss diesem Wandel Rechnung getragen werden. ({0}) Es muss darum gehen, die veränderten Lebenswirklichkeiten und Bedürfnisse der Menschen unvoreingenommen wahrzunehmen und auf diese angemessen zu reagieren. Die Politik ist gefordert, die Menschen in ihrer individuellen Lebenswirklichkeit konstruktiv zu begleiten und mit geeigneten Gesetzen die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Leider nehmen Sie, meine Damen und Herren von RotGrün, diesen Auftrag an die Politik nicht allzu wichtig; ({1}) denn der von der Arbeitsgruppe Recht und der Gruppe der Frauen unserer Fraktion heute eingebrachte Antrag zeigt einen Sachverhalt auf, der geradezu symptomatisch zu sein scheint für die Rechts-, Frauen- und Familienpolitik dieser Bundesregierung. ({2}) Denn seit dem 1. Januar 2003 sehen sich Frauen und Männer, die sich scheiden lassen wollen, erheblichen Rechtsunsicherheiten gegenüber. ({3}) Nach dem Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 5. September des Jahres 2001 darf in Scheidungsverfahren die Barwertverordnung für den Versorgungsausgleich seit diesem Jahr nicht mehr in der bisherigen Form angewendet werden. Bei der Barwertverordnung werden, wie Sie wissen, die Rentenansprüche der Partner aus der Ehezeit addiert und in gleiche Hälften geteilt. ({4}) ({5}) Rot-Grün hat es versäumt, ja - das will ich schon sagen verschlampt, in der vom Bundesgerichtshof vorgegebenen Frist bis zum Jahr 2002 eine einwandfreie Nachfolgeregelung des Versorgungsausgleichs vorzulegen. ({6}) Insbesondere die damals noch zuständige Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin hat wohl ein Jahr lang überhaupt nichts in dieser Sache unternommen. Dies ist mehr als bedauerlich; denn der Versorgungsausgleich ist ein ausgesprochen sinnvolles Instrument im Scheidungsrecht. Mit ihm wird dem Gedanken Rechnung getragen, dass in der Ehezeit erworbene Versorgungsansprüche der Ehepartner das Ergebnis einer gemeinsamen Lebensleistung sind. Gerade aus frauenpolitischer und aus familienpolitischer Sicht ist dieser Ansatz elementar. Denn es ist richtig, dass insbesondere Frauen, aber auch Familienmänner, die während der Ehe zumindest zeitweise auf eine Erwerbstätigkeit verzichten und sich auf die Familienarbeit konzentrieren, bei einer Scheidung nicht ihren Anspruch auf eine eigene Alterssicherung verlieren. ({7}) Wird die Ehe geschieden, ist der Versorgungsausgleich ein wichtiger Baustein für die soziale Sicherung des wirtschaftlich schwächeren Ehegatten im Alter und bei Invalidität. Es entspricht unserem Sinn für Gerechtigkeit, dass insbesondere die in der Ehezeit erworbenen Anrechte in der gesetzlichen Rentenversicherung, Pensionsanrechte sowie Rentenleistungen aus betrieblicher Altersversorgung oder auch aus privaten Rentenversicherungsverträgen unter den Eheleuten ausgeglichen werden und damit zur eigenständigen Alterssicherung beitragen. Um diesen Ausgleich der Ansprüche bei einer Ehescheidung gerecht und auch zügig durchführen zu können, brauchen wir eine allgemeine Berechnungsgrundlage. Bis Ende des Jahres 2002 war mit der Barwertverordnung diese Grundlage gegeben. Jetzt befinden wir uns aufgrund der Versäumnisse dieser Bundesregierung auf sehr wackeligem rechtlichen Boden. Damit nicht genug. Im Oktober 2002 legten Sie, Frau Justizministerin, nach einjähriger Tatenlosigkeit Ihres Hauses und dem notwendig gewordenen Abgang Ihrer Vorgängerin einen Gesetzentwurf zur Neuregelung des Versorgungsausgleichs vor, den man schlichtweg als unbrauchbar bezeichnen muss. Die Kritik der Rechtsexpertinnen und Rechtsexperten wollte gar nicht mehr aufhören. Daraufhin haben Sie diesen unausgegorenen Gesetzentwurf auch wieder in der Versenkung verschwinden lassen - mehr als zu Recht, wie ich finde. Gerade aus frauenpolitischer Sicht war dieser Gesetzentwurf eine reine Katastrophe. Viele Frauen hätten mit der Umsetzung dieses Gesetzentwurfs unverantwortliche Einschnitte in ihre Alterssicherung hinzunehmen gehabt. Zum Beispiel hätten Frauen, die vor ihren geschiedenen Männern in Rente gegangen oder berufsunfähig geworden wären, aus unerfindlichen Gründen erst warten müssen, bis ihr ehemaliger Ehegatte ebenfalls in Rente geht. Erst dann hätten sie ihren Anspruch auf Versorgungsausgleich realisieren können. Sie wären so von den Lebensumständen des ehemaligen Partners abhängig gewesen und wären mit gravierenden Versorgungslücken in der eigenen Alterssicherung konfrontiert gewesen. Ebenso lebensfremd war Ihr Vorschlag, den Versorgungsausgleich schuldrechtlich auszugestalten. Was war denn hier Ihr Ziel, Frau Justizministerin? Wollten Sie ge1982 schiedene Eheleute ein Leben lang in Rechtsstreitigkeiten aneinander ketten? ({8}) Es ist Ihnen inzwischen wohl selbst klar geworden, dass Sie sich mit dieser Idee auf dem Holzweg befunden haben. Hätten Sie diesen Vorschlag umgesetzt, wären eigene Versorgungsanwartschaften für die betroffenen Frauen und Männer in Zukunft passé gewesen. Sie hätten häufig im hohen Alter mit eigenen Anträgen eine monatliche Geldrente von ihrem ehemaligen Ehemann oder ihrer ehemaligen Ehefrau einfordern müssen. Ob sie dann überhaupt etwas erhalten hätten, steht in den Sternen. Immer neue Rechtsstreitigkeiten wären vorprogrammiert gewesen, unter Umständen Jahrzehnte nach der Scheidung. Dies kann doch nun wirklich niemand wollen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie weit sich diese Bundesregierung von der Lebenswirklichkeit der Menschen in unserem Lande entfernt hat. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass die Anspruch stellenden Frauen und Männer dazu gebracht werden sollten, auf ihre Rechte zu verzichten, um nicht immer wieder vor Gericht erscheinen zu müssen. Wahrscheinlich wäre dies dann sogar auch passiert und die Betroffenen hätten sich in ihrer Verzweiflung die Ausgleichsrechte gegen viel zu geringe Beträge abkaufen lassen, um nicht ständig wieder in die sprichwörtliche Höhle des Löwen zurückkehren zu müssen. Das kann nicht in unserem Interesse sein. Wollen Sie, dass diese Frauen und Männer auf Sozialhilfe angewiesen sind, nur weil Sie nicht fähig sind, praktikable rechtliche Regelungen rechtzeitig auf den Weg zu bringen? Ich glaube, hier sind Sie dem Hohen Haus nachher eine Erklärung schuldig, Frau Justizministerin. Durch diesen Politikstil wird deutlich, was insbesondere Frauen von dieser Bundesregierung zu erwarten haben, nämlich weniger als nichts. Man kann sich bei dieser Regierung nicht einmal darauf verlassen, dass es zu keiner Verschlechterung des Status quo kommt. Ein neuer Gesetzentwurf, mit dem eine Neuregelung des Versorgungsausgleichs erreicht werden könnte, wurde bislang nicht vorgelegt. Es wird von Ihnen lediglich immer darauf verwiesen, dass alles nicht so schlimm sei und dass sich alles regeln werde. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, das ist ein Irrtum. Unter Ihrer Verantwortung regelt sich nichts von selbst oder wird besser, im Gegenteil. ({9}) In jedem betroffenen Scheidungsverfahren müssen jetzt Gutachter bestellt werden, um die Ansprüche einzeln aufzuzeigen. Diese stehen nicht an jeder Ecke. Ich denke, ich muss Ihnen nicht erzählen, was ein solches Gutachten kostet. Es wäre eigentlich nur fair, wenn die Betroffenen ihren nicht hinnehmbaren finanziellen und zeitlichen sowie nicht zu unterschätzenden nervlichen Mehraufwand dieser rot-grünen Bundesregierung einfach in Rechnung stellen könnten. ({10}) - Anhand Ihrer Zwischenrufe erkenne ich, dass Sie über diesen nicht hinnehmbaren Zustand, der durch Ihre eigenen Schlampereien herbeigeführt worden ist, geflissentlich hinweggehen. Es bleibt zu hoffen, dass Ihre Untätigkeit nicht etwa ideologisch begründet ist. ({11}) Sie sorgen wohl nur für Frauen und Männer, die eine lückenlose Erwerbsbiografie vorweisen können. Das ist nicht unserer Ansatz. Wir wollen die Wahlfreiheit in unserem Land gewährleistet wissen. Es gibt nun einmal auch in unserem Land eine Vielzahl von Frauen und inzwischen auch Männern, die sich für eine gewisse Zeit ausschließlich oder teilweise der Familie widmen wollen. ({12}) Dieser Lebensentwurf verdient unseren Respekt und unsere Anerkennung. Diesen Müttern und Vätern muss gerade auch dann, wenn es zum Scheitern der Ehe kommt, unsere Unterstützung zukommen. Diesen Menschen dürfen Sie diese Quittung nicht geben. Sie von Rot-Grün sind verpflichtet, dafür zu sorgen, dass es hier zu einer zügigen Regelung kommt, die sorgsam, umsichtig und verantwortungsbewusst ist. Tun Sie endlich Ihre Arbeit! Herzlichen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Zypries.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eines stimmt: Das Recht des Versorgungsausgleichs gehört zu den schwierigsten Materien überhaupt. ({0}) Sehr geehrte Frau Vorrednerin, ({1}) deshalb muss ich zunächst einmal eines klarstellen: Sie reden immer vom Versorgungsausgleich und führen in Ihrer Begründung die Barwertverordnung an. Das sind zwei ganz verschiedene Dinge. ({2}) Der Versorgungsausgleich ist das eine. Mit der Barwertverordnung, von der Sie hinten in Ihrem Antrag gesprochen haben - darauf nehmen Sie andauernd Bezug -, regelt man nur den Ausgleich ganz bestimmter Ansprüche, vor allem der zusätzlichen Betriebsrenten. Nur das wird durch die Barwertverordnung berechnet. ({3}) Ich erkläre das jetzt einmal von vorne: ({4}) Familienrichterinnen und -richter nutzen die Barwertverordnung für die Aufstellung einer Bilanz der angewachsenen Versorgungsansprüche, die neben den Ansprüchen gegenüber der BfA bestehen. Es ist nicht immer einfach, diese Bilanz aufzustellen; denn es gibt unterschiedliche Versorgungsrechte. Es gibt betriebliche Zusatzversorgungen, die auf eine feste Zahlung hinauslaufen, es gibt betriebliche Versorgungssysteme, die dynamisiert sind, es gibt die Riester-Rente, es gibt Lebensversicherungen und es gibt seit dem 1977 geschaffenen Recht des Versorgungsausgleichs einen bunten Strauß von verschiedenen Versorgungsmöglichkeiten. Der Unterschied dieser Rechte besteht in der Dynamisierung. Dazu benötigen wir die Barwertverordnung. Die Barwertverordnung dient dazu, diese unterschiedlichen Rechte gegenüberzustellen, zu berechnen und dadurch einen richtigen Ausgleich zu finden. Technisch wird das so gehandhabt, dass diese verschiedenen Anrechte nach dem Prinzip der gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbar gemacht werden. Das heißt, auf der Basis des Anspruchs gegenüber der BfA werden die anderen Ansprüche hinzugerechnet. Das bedeutet, die Rechte, die nicht wie die Anrechte aus der gesetzlichen Rentenversicherung in ihrem Wert steigen, werden in die Bilanz nicht mit dem monatlichen Nominalbetrag, sondern mit dem so genannten dynamisierten Betrag eingestellt. Daher kommt dieses Wort. Dieser Dynamisierung der Anrechte, die nicht volldynamisch sind und denen auch kein Deckungskapital zugrunde liegt, dient die Barwertverordnung. Dazu braucht man verschiedene Parameter. Der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung von 2001 gerügt, dass die zugrunde liegenden Annahmen über die Sterbewahrscheinlichkeit - sprich: über die Lebenserwartung der Menschen - und die Invalidisierungswahrscheinlichkeit veraltet sind. Das ist richtig; denn die Barwertverordnung ist inhaltlich seit 1984 nicht mehr geändert worden. Die Lebenserwartung ist seitdem aber gestiegen. Natürlich ist ein Versorgungsrecht mehr wert, wenn man von einer höheren Lebenserwartung ausgehen kann. Die Unterbewertung der von der Barwertverordnung betroffenen Anrechte führt also im Ergebnis dazu, dass die während der Ehe erworbenen Versorgungsanrechte nicht hälftig zwischen den Ehegatten verteilt werden. In dem Fall, den der Bundesgerichtshof zu entscheiden hatte, hätte die Frau mehr Geld bekommen müssen. Es klingt erst einmal ganz einfach: Wir passen die zwei Parameter, Sterbewahrscheinlichkeit und Invalidisierungswahrscheinlichkeit, einfach an. Das kann man sich zwar vorstellen, aber so einfach ist die Welt nun einmal nicht. Die Annahmen über die Lebenserwartung und die Wahrscheinlichkeit der verminderten Erwerbsfähigkeit sind eben nur ein Teil der veralteten Parameter der Barwertverordnung. Weitere wichtige Punkte sind der Rechnungszins, der in der Barwertverordnung im Moment mit 5,5 Prozent angegeben ist - man geht davon aus, dass das zu hoch ist -, die Rentendynamik, die unterschiedlichen Barwertfaktoren für Männer und Frauen, die sich unterschiedlich entwickelt haben, sowie minderoder superdynamische Wertentwicklungen, die wir damals, als diese Verordnung gemacht wurde, noch gar nicht kannten. Festhalten lässt sich aber: Die Umrechnung als solche bedeutet immer eine erhebliche Veränderung im Nominalwert der umzuwertenden Anrechte. Das kann in vielen Fällen nicht mehr gerecht sein. Wir haben es also mit einem Verlust an Gerechtigkeit zu tun. Das hat übrigens auch schon die Regierung Kohl erkannt. 1984 wollte sie die Barwertverordnung wegen ihrer Mängel zum Jahre 1987 auslaufen lassen. Sie sehen, man hat schon damals gewusst, dass sich das Leben selbst im 20. Jahrhundert ändert. Wir in der rot-grünen Regierungskoalition haben uns in der letzten Legislaturperiode entschieden - das fordern Sie, wenngleich Sie es anders beschrieben haben -, den Versorgungsausgleich in toto anzupacken. Wir wollen einen besseren Ausgleich bei nicht volldynamischen Anrechten. Unsere Überlegungen konzentrieren sich darauf, die Durchführung des Versorgungsausgleichs im Wege der Realteilung auszubauen. Das heißt, die Anrechte werden grundsätzlich in dem System, in dem sie erworben sind, geteilt. Man muss keine gegenseitige Berechnung mehr vornehmen. Da ein solches System der verfassungsrechtlichen und auch der versicherungsmathematischen Absicherung bedarf, müssen erst umfangreiche Vorarbeiten beendet werden. Die neue Entwicklung im System der Alterssicherung - Stichwort: Riester-Rente und andere Formen der privaten Altersvorsorge - haben unsere geplante Strukturreform nicht nur zeitlich verzögert, sondern auch inhaltlich sehr erschwert. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes ist nun mitten in diese Arbeiten geplatzt. Weder meine Amtsvorgängerin noch ich waren zunächst von der Idee begeistert, das Auslaufmodell Barwertverordnung einfach nur zu verlängern, weil, wie schon erwähnt, neben den vom BGH behandelten beiden Punkten noch zahlreiche andere problematisch sind. Deshalb hat das Haus zunächst vorgeschlagen, die betroffenen Anrechte im Wege des schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs zum Ausgleich zu bringen. Das hätte für den Übergang bis zur Strukturreform in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle eine Art Moratorium bedeutet. Sie haben Recht: Man hätte diesen Versorgungsausgleich abspalten und ihn später anpacken müssen, was im Grunde kein Problem ist. Im Übrigen wird auch heute schon über § 10 a EStG der Versorgungsausgleich wieder angepackt. Oft stellt man nämlich nach zehn bis 15 Jahren fest, dass die Wertberechnungen, die damals zugrunde gelegt wurden, nicht mehr stimmen. Unsere Lösung hätte sich also in den vergleichsweise wenigen Fällen ausgewirkt, in denen der Versorgungsausfall schon eingetreten wäre oder unmittelbar bevorstand. Dies hätte das zur Folge, was Sie explizit fordern: Die Frauen wären besser gestellt worden. Diesen schuldrechtlichen Versorgungsausgleich haben wir aber nur für die Übergangszeit geplant. In der grundsätzlichen Strukturreform - das habe ich eben schon angesprochen - wollen wir ihn natürlich nicht. Der von uns vorgelegte Entwurf war nicht unbrauchbar. Er hat nur einen sehr viel übergreifenderen Ansatz verfolgt und war deshalb in der Kürze der Zeit einigen nicht vermittelbar. Die Kritik hat aber gezeigt, dass die Strukturreform notwendig ist. Deswegen haben wir das Thema noch einmal diskutiert. Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass wir den Versorgungsausgleich dringend ändern müssen. Diese Reform ist überfällig. Das Recht ist völlig zersplittert. Kein Mensch kennt sich aus. Man benötigt wissenschaftliche Gutachten, um überhaupt zu einem Ergebnis zu kommen. Das ist kein befriedigender Zustand. Da müssen wir ran! Deswegen habe ich entschieden, den Gesetzentwurf zum Übergangsrecht in der vorgelegten Fassung nicht weiter zu verfolgen, sondern eine Erhöhung der beiden Parameter Lebenserwartung und Invalidisierungswahrscheinlichkeit, die der Bundesgerichtshof gerügt hat, vorzunehmen. Ich hoffe, dass wir damit in diesen Bereich Ruhe hineinbringen und hinsichtlich der grundsätzlichen Überarbeitung des Versorgungsausgleichs beschleunigt zu Lösungen kommen, mit denen nicht nur die Praxis leben kann, sondern die vor allen Dingen die Anforderungen erfüllen, von denen wir meinen, dass sie berechtigt sind. Das bedeutet, dass selbstverständlich sämtliche Lebensentwürfe von Frauen gerecht berücksichtigt werden. Das ist nämlich eine alte Forderung der Sozialdemokraten, die keineswegs der Auffassung sind, dass nur diejenigen, die gearbeitet haben, im Alter eine Versorgung erhalten sollen, sondern dass auch diejenigen, die auf andere Art und Weise dafür gesorgt haben, dass die Familie zusammengehalten wird und in der Form leben kann, in der sie leben möchte, bei der Scheidung einer Ehe eine angemessene Versorgung erhalten. ({5}) - Vielen Dank! So ist es. ({6}) In diesem Sinne werden wir den Entwurf einer Barwertverordnung vorlegen. Ich gehe davon aus - ich habe mit einem Teil der Ländervertreter bereits darüber gesprochen -, dass sie kurzfristig, wahrscheinlich spätestens im Mai, wird in Kraft treten können. ({7}) - Dieses Jahr natürlich. Die Arbeiten am Versorgungsausgleich werden wir so zügig vorantreiben, dass wir auch das in dieser Legislaturperiode zu einem Abschluss bringen können. Ich hoffe, der Unterschied zwischen Versorgungsausgleich und Barwertverordnung wurde deutlich. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. - Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sibylle Laurischk.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete! Mit der Aufgabe, die Barwertverordnung neu regeln zu müssen, hat die frühere Justizministerin, Frau Däubler-Gmelin, ein schwieriges Erbe hinterlassen. Ausschlagen kann es die neue Ministerin nicht; aber es fällt offenbar schwer, das Erbe anzutreten. Das Nichtstun bringt jetzt auch noch alles durcheinander. Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 5. September 2001 die Barwertverordnung zu Recht als mit den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen und rechtspolitischen Rahmenbedingungen nicht mehr vereinbar erachtet. Er hat den Gesetzgeber deshalb aufgefordert, bis zum Ende des vergangenen Jahres eine Neuregelung vorzulegen. Nach der BGH-Entscheidung ging das Justizministerium zunächst einmal auf Tauchstation. Erst nach dem Amtsantritt der neuen Justizministerin wurde - kurz vor Fristablauf - ein Entwurf vorgelegt, der von der juristischen Fachwelt sofort und nahezu einhellig abgelehnt wurde. Der Entwurf wurde dann wieder zurückgezogen. Die Folge: Scheidungswillige müssen den Versorgungsausgleich zwar nicht im rechtsfreien Raum lösen, weil der BGH weitsichtig genug war, in seiner Entscheidung zu erklären, dass zur Wahrung der Rechtseinheit und im Interesse der Rechtssicherheit in der Übergangszeit, bis zum In-Kraft-Treten einer Neuregelung der Barwertermittlung - jedenfalls im Regelfall -, die Barwertverordnung weiterhin zugrunde zu legen ist. Sie wird also auch angewandt. Man kann ein Scheidungsverfahren bis zur Neuregelung der Barwertverordnung auch ruhen lassen. Man kann das Scheidungsverfahren abtrennen und hinsichtlich des Versorgungsausgleiches abwarten. ({0}) - Ja, mit dem Versorgungsausgleich. ({1}) Der ist nämlich Gegenstand auch für die Regelung, die dann mit der Barwertverordnung zu treffen ist. Deshalb fordert die FDP das Bundesjustizministerium auf, unverzüglich den Entwurf einer Neuregelung einer Barwertverordnung vorzulegen. Aus Sicht meiner Fraktion ist es damit aber nicht getan. Wir sollten das rot-grüne Versagen bei der Umsetzung höchstrichterlicher Vorgaben ({2}) zum Anlass nehmen, das gesamte System des familienrechtlichen Versorgungsausgleichs auf den Prüfstand zu stellen. ({3}) Wir leben in einer Zeit, in der sich die Biografie von Frauen grundsätzlich geändert hat - auch gegenüber den 70er-Jahren, als der Versorgungsausgleich mit der Scheidungsrechtsreform eingeführt wurde. ({4}) Die Grunddaten der bisherigen Barwertverordnung sind aber bis zu 60 Jahre alt. Die veränderte Lebenssituation von Frauen und auch von Männern muss deshalb dringend ihren Niederschlag in der Gesetzgebung finden. Der Versorgungsausgleich sollte ursprünglich den Lebensunterhalt von geschiedenen Frauen im Alter sicherstellen. Dies waren damals zum überwiegenden Teil Frauen, die entweder nur ein paar Jahre oder nie erwerbstätig gewesen waren. Mittlerweile ist es für Frauen selbstverständlich, berufstätig zu sein. Nur wenige haben noch eine reine Hausfrauenbiografie. Das Versorgungsausgleichsverfahren ist unglaublich langwierig und zieht oft ein ansonsten unkompliziertes Scheidensverfahren unnötig in die Länge. Oft braucht die Klärung der Versorgungsausgleichsansprüche sechs bis acht Monate, zunehmend noch länger. Nicht die Gerichte sind schuld daran, sondern eine mühsam arbeitende Rentenversicherungsbürokratie, die bei der Klärung von Rentenansprüchen mit Auslandsbezug oft völlig zum Erliegen kommt. Hier kann ein Scheidungsverfahren mangels Klärung der Versorgungsausgleichsansprüche gut und gern auch zwei Jahre und länger dauern. Ein unkomplizierter Verzicht auf den Versorgungsausgleich, der sich bei geringen Ausgleichsansprüchen anbietet, ist ohne vorherige Klärung der Ansprüche und richterliche Genehmigung oder ohne Gang zum Notar - aus meiner Sicht eine überholte Bevormundung von scheidungswilligen Frauen und Männern - nicht möglich. ({5}) Ich nenne auch noch einen anderen Grund für meine Forderung, den Versorgungsausgleich insgesamt neu zu regeln: ({6}) Die versicherungsmathematischen Grundlagen des Versorgungsausgleichs sind kaum noch nachvollziehbar und für Laien unverständlich. ({7}) Da bleibt ganz schnell das Prinzip der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit auf der Strecke. Deshalb fordere ich für meine Fraktion nachdrücklich, das Versorgungsausgleichsrecht neu zu konzipieren und zu entbürokratisieren. ({8}) Sehr geehrte Frau Ministerin, die FDP-Bundestagsfraktion ist gespannt, welche Vorschläge Sie der Öffentlichkeit vorlegen werden. Ihr Vortrag heute gibt Anlass zur Hoffnung. Lassen Sie das Erbe Ihrer Vorgängerin nicht länger in der Schublade! Räumen Sie auf! ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard ScheweGerigk.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Verlaub, Frau Widmann-Mauz, der Titel Ihres Antrags: „Versorgungsausgleich umgehend regeln - Keine Schlechterstellung für Frauen bei der Alterssicherung“ vermittelt den Eindruck, als beabsichtige die Bundesregierung eine Neuregelung des Versorgungsausgleichs zulasten der Frauen. Sie wissen ganz genau: Das ist nicht der Fall. Fakt ist: Die bestehende Regelung, die es immerhin seit 1977 gibt, geht oft zulasten der Frauen. Das werden wir schleunigst ändern. Die Ministerin hat es gerade angesprochen. Wo liegt das Problem? - Die Barwertverordnung, die als Umrechnungstabelle benutzt wird, um dynamische Rentenansprüche, also die der gesetzlichen Rentenversicherung, gegenüber nicht dynamischen wie Betriebsrenten oder Leistungen aus berufsständischen Versorgungswerken wie bei Architektenkammern oder Ähnlichem vergleichbar zu machen, führte in ihrer Anwendung häufig zu Verzerrungen und zum Teil zu erheblichen Leistungskürzungen bei den geschiedenen Anspruchsberechtigten. Das waren in der Hauptsache eher Frauen. Durch diesen Transfer gingen im Einzelfall bis zu 70 Prozent des Nominalwerts verloren. Genau das hat der Bundesgerichtshof beanstandet und die Anwendung der Barwertverordnung ab 1. Januar 2003 untersagt. Natürlich hätte schon jetzt eine Regelung in Kraft sein können. Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ CSU, Schadenfreude auf Ihrer Seite ist überhaupt nicht angebracht. Das Problem ist lange bekannt. Schon 1984 wollte die damalige Bundesregierung das Verfahren ändern; sie hat es bis 1998 nicht getan. Wir werden das jetzt machen, aber das braucht natürlich Zeit. Die Ministerin hat gerade darauf hingewiesen, wie kompliziert das System ist. Nach der Barwertverordnung werden in die Berechnung natürlich biologische Daten wie die durchschnittlichen Angaben für das Lebensalter, Sterbetafeln usw. einbezogen. Da die Anwendung einer veralteten Umrechnungstabelle zu ungerechten Verzerrungen geführt hat, müssen wir die Tabelle jetzt endlich anpassen. Die Ministerin hat ausgeführt, dass derzeit ein rentenmathematisches Modell erstellt wird. Mit den Ergebnissen rechnen wir sehr bald. Wenn die Bundesländer zustimmen - das sage ich an die Adresse der CDU/CSU -, kann die neue Verordnung in der Tat noch vor der Sommerpause veröffentlicht werden. Der Versorgungsausgleich ist ein sehr komplexes und schwieriges Rechtsgebiet. Das zeigt sich auch darin, dass seit In-Kraft-Treten immer wieder Korrekturen aufgrund verfassungsgerichtlicher Vorgaben notwendig wurden. Der Versorgungsausgleich muss über die sehr unterschiedlichen Systeme der Rentenversicherung und Altersvorsorge hinweg für einen gerechten Ausgleich zwischen den geschiedenen Ehegatten sorgen. Zudem muss der Versorgungsausgleich aber auch gewährleisten, dass bereits zum Zeitpunkt der Scheidung die Ansprüche gerecht und transparent zwischen den ehemaligen Ehegatten geregelt werden können. Die besondere Schwierigkeit besteht darin - das liegt auf der Hand -, dass zum Zeitpunkt der Scheidung das Renteneintrittsalter häufig noch in weiter Ferne liegt und daher verlässliche Aussagen über die in Jahrzehnten zu gewährenden Vorsorgeleistungen nur schwer möglich sind. Der Druck für eine generelle Reform des Versorgungsausgleichs ist erkennbar vorhanden. Das Ministerium arbeitet - so haben wir gerade gehört - seit längerem an einer Strukturreform. Es hat ein versicherungsmathematisches Gutachten in Auftrag gegeben, dessen Ergebnisse wir sicherlich noch vor der Sommerpause erwarten können. Meine Fraktion sieht die Lösung des Problems nicht nur in der Anpassung der Barwertverordnung, die jetzt übergangsweise notwendig ist, sondern in einer generellen Reform des Versorgungsausgleichs. Ziel muss es sein, gemeinsam mit den Versorgungsträgern praktikable und gerechte Regelungen für geschiedene Ehegatten zu finden, die eine eigenständige Altersvorsorge auch derjenigen Frauen und Männer absichern - da sind wir sehr nahe bei Ihnen, Frau Widmann-Mauz -, die sich in der Ehe für einen gewissen Zeitraum ausschließlich der Familienarbeit widmen oder einer niedriger entlohnten Teilzeitarbeit nachgehen. In diesem Punkt stimme ich ganz mit Ihnen überein. Ziel der Strukturreform muss es aber auch sein, dass die Ehegatten bereits zum Zeitpunkt der Scheidung über ihre Ansprüche informiert werden, damit spätere Streitigkeiten, oft nach Jahrzehnten, vermieden werden können und die ehemaligen Ehegatten nicht in ihrer Planung für die Altersvorsorge behindert werden. Der Zugang zu den Versorgungsleistungen muss auch unabhängig möglich werden - da gebe ich Ihnen Recht; das haben Sie vorhin vorgetragen -; denn es ist schon ein Problem, wenn eine geschiedene Ehefrau auf Leistungen warten muss, bis der ehemalige Ehegatte Rente bezieht. Wir möchten, dass der Versorgungsanspruch nicht erst fällig wird, wenn auch der ehemalige Ehepartner das Rentenalter erreicht hat. Für uns sind Regelungen durch Realteilung der Versorgungsleistungen denkbar, nach denen die erworbenen Rentenansprüche grundsätzlich gegenüber dem Versorgungsträger ausgeglichen würden. Wenn wir einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen - ich denke, das wird Mitte des Jahres sicherlich möglich sein -, würden wir Sie sehr gern beim Wort nehmen. Wir hoffen, dass wir einen solchen Entwurf dann gemeinsam verabschieden können. Das ist sicherlich auch im Interesse derjenigen, die das Geld tatsächlich brauchen. Leider sind das in der Hauptsache immer noch die Frauen. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ute Granold.

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin, die Formulierung unseres Antrages ist schon richtig gewählt. Die Barwertverordnung ist Teil des Versorgungsausgleichs und mit einer nicht mehr geltenden Barwertverordnung lässt sich kein Versorgungsausgleich regeln. Das ist der Punkt, um den es heute geht. ({0}) Es ist dringender Handlungsbedarf gegeben. (Joachim Stünker [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! In Deutschland wird nahezu jede dritte Ehe geschieden und mit jeder Scheidung ist grundsätzlich auch der Versorgungsausgleich durchzuführen. Dieser regelt die Frage, wie und in welchem Umfang von Ehegatten erworbene Anwartschaften auf Altersversorgung geteilt werden. Im September 2001 hatte der Bundesgerichtshof die so genannte Barwertverordnung außer Kraft gesetzt, weil sie auf veralteten demographischen Grundlagen beruhte. Mithilfe der Barwertverordnung konnten die Familiengerichte Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung mit denen in betrieblichen und freiberuflichen Altersversorgungssystemen vergleichbar machen und so zwischen den Eheleuten teilen. Ebenfalls im September 2001 gab das höchste deutsche Zivilgericht dem Bundesgesetzgeber auf, die Barwertverordnung bis spätestens zum 31. Dezember 2002 den heutigen Verhältnissen anzupassen. Doch über ein Jahr lang ist absolut nichts geschehen. Dann, Mitte Oktober 2002, übersandte das Bundesjustizministerium den Fachverbänden, den Bundesländern und auch dem BGH selbst einen Gesetzentwurf zur Stellungnahme mit einer Frist von einem Monat. Statt sich hierbei wegen der inzwischen eingetretenen Eilbedürftigkeit auf das Wesentlichste und Notwendigste, nämlich die Novellierung der veralteten biometrischen Daten, zu beschränken, sollte - offenbar mit allzu heißer Nadel gestrickt - ein neues und sehr kompliziertes Verfahren zum Ausgleich der Versorgungsanwartschaften als Übergangslösung eingeführt werden. Dieses Vorhaben der Bundesregierung wurde, wie es in letzter Zeit bei Regierungsplänen ja schon an der Tagesordnung ist, von Experten auf das Schärfste kritisiert und zurückgewiesen. Nicht nur, dass die durch die BGH-Entscheidung entstandene Regelungslücke nicht geschlossen wurde. Es kommt hinzu, dass der Versorgungsberechtigte - in sehr vielen Fällen handelt es sich um Frauen - nicht mehr einen Anspruch auf die Hälfte der Anwartschaften des anderen Ehegatten, so wie es das Gesetz vorsieht, sondern einen völlig ungesicherten schuldrechtlichen Ausgleichsanspruch gegenüber dem Besserversorgten hätte. Das ist eine eindeutige Schlechterstellung im Vergleich zur bisherigen Rechtslage. Im Gegensatz zu anderen Fällen - wir erinnern uns, dass vor nicht allzu langer Zeit gegen den erbitterten Widerstand der Praxis die Novelle der Zivilprozessordnung durchgeboxt wurde - hat sich die Regierung hier einsichtig gezeigt und den Gesetzentwurf nach der verheerenden Kritik zurückgezogen. - Das ist wirklich das einzig Positive, was man zu diesem ganzen Vorgang anmerken kann. Aber auch das hat wieder viel zu lange gedauert. Obwohl bereits im November letzten Jahres klar war, dass das Gesetzesvorhaben keine Chance haben kann, hat sich bis zur Stunde kaum etwas bewegt. Ein weiteres Mal wurden vergangene Woche die Landesjustizverwaltungen, die bereits Ende vergangenen Jahres wegen der Untätigkeit der Bundesregierung Sturm gelaufen waren, aufgefordert, zu einem neuen Vorstoß der Regierung Stellung zu nehmen. ({1}) Dieses Mal beschränkte man die Neuregelung zunächst auf die vom BGH geforderte Berücksichtigung aktueller biometrischer Daten. Das war eigentlich überflüssig; denn es gibt jetzt keine Alternativen mehr. Es brennt vor Ort! Bereits seit sechs Wochen sind die deutschen Gerichte nahezu handlungsunfähig. ({2}) Etwa 70 000 Verfahren sind betroffen. Unsere Familienrichter, ohnehin hoffnungslos überlastet - Frau Kollegin, hören Sie mir einfach zu; ich werde das auch tun, wenn Sie gleich reden werden -, können derzeit entweder nur durch die Einholung teurer versicherungsmathematischer Sachverständigengutachten, die den individuellen Barwert ermitteln, entscheiden, das Versorgungsausgleichsverfahren vom Scheidungsverfahren abtrennen oder das Scheidungsverfahren insgesamt aussetzen. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin seit mehr als 20 Jahren als Scheidungsanwältin tätig und habe jetzt meinen Mandanten das Unglaubliche zu erklären: Lahmlegen der deutschen Gerichte wegen Tatenlosigkeit der Bundesregierung, weil sie seit anderthalb Jahren nicht in der Lage ist, zunächst einmal nur eine einfache Tabelle hinsichtlich Sterbe- und Individualisierungswahrscheinlichkeiten zu aktualisieren. An dieser Stelle sollte man nicht vergessen, dass es die Regierung selbst war, die bereits in einem Schreiben vom 30. November 2000, also knapp ein Jahr vor der hier in Rede stehenden Entscheidung des BGH, Handlungsbedarf festgestellt hat. Ich zitiere: Das Recht des Versorgungsausgleichs in Bezug auf nicht volldynamische Anrechte bedarf vor dem Hintergrund der in der Rechtsprechung und Literatur erhobenen gewichtigen Einwände aus der Sicht der Bundesregierung der Überarbeitung, um Mängeln des geltenden Rechts abzuhelfen. Angesichts der zum Teil auch gegen die Grundstrukturen des geltenden Rechts erhobenen Einwände erstrecken sich diese Überlegungen auch auf alternative Gestaltungsmöglichkeiten im Sinne einer grundsätzlichen Weiterentwicklung des Versorgungsausgleichsrechts. Dieses Zitat ist übrigens Bestandteil der Entscheidung des BGH vom September 2001. Das Ganze ist sage und schreibe zweieinhalb Jahre her. Das ist in der Tat ein Skandal. ({3}) Dabei sollte es sich eigentlich ganz von selbst verstehen, dass ein vom höchsten deutschen Zivilgericht erteilter Gesetzgebungsauftrag, der im Übrigen klar definiert ist, innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens von immerhin eineinviertel Jahren erledigt wird - dies umso mehr, als die Menschen in unserem Land von dieser Untätigkeit der Regierung unmittelbar und hautnah betroffen sind. Wir dürfen nun gespannt sein, ob die Bundesregierung wenigstens insofern lernfähig ist, als es künftig besser und schneller geht. Gelegenheit hierzu gibt es aktuell wieder. Unser höchstes deutsches Gericht hat dieser Tage eine Entscheidung zur gemeinschaftlichen elterlichen Sorge nicht verheirateter Eltern von nicht ehelichen Kindern gefällt und dabei den Gesetzgeber ein weiteres Mal aufgefordert, tätig zu werden und bis Ende dieses Jahres eine Übergangsregelung zu schaffen. Warten wir es ab! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert mit dem heute vorliegenden Antrag die Bundesregierung eigentlich zu einer Selbstverständlichkeit auf, nämlich ihrer Pflicht als Verordnungsgeber endlich nachzukommen und den Menschen und Gerichten verlässliche und gerechte Rechtsgrundlagen an die Hand zu geben sowie die seit langem bekannte und auch dringend gebotene Strukturreform des Versorgungsausgleichs auf den Weg zu bringen. ({4}) Die Heubeck AG, das Beratungsinstitut für Altersvorsorge, ist, wie ich gehört habe, beauftragt, die Aktualisierung vorzunehmen. Das ist wenigstens etwas. Wir alle, insbesondere die an Prozessen Beteiligten, hoffen sehr, dass in kürzester Zeit die Aktualisierung der Barwertverordnung vorliegt, sodass wir im Versorgungsausgleich eine Entscheidung treffen und die überlasteten Familienrichter ein bisschen entlasten können. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin Granold, soweit ich sehe, war das Ihre erste Rede. Dazu möchte ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses gratulieren, auch wenn es manchmal nicht so ganz einfach war. ({0}) Außerdem haben Sie die Redezeit nicht ganz ausgeschöpft. ({1}) Das ist sehr lobenswert, weil wir noch eine lange Tagesordnung haben. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Lambrecht.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Granold, bei der ersten Rede ist man immer so ein bisschen unter einer Glocke; da gesteht man vieles zu. Trotzdem muss es auch bei einer ersten Rede erlaubt sein, von dieser Stelle aus schlicht falsche Behauptungen richtig zu stellen. Die Gelegenheit dazu möchte ich jetzt auch nutzen, weil das gerade im Interesse der Betroffenen, die Sie als Anwältin und Anwaltskollegin hier angesprochen haben, so nicht stehen bleiben kann. Sie haben behauptet, Versorgungsausgleiche könnten wegen des Auslaufens bzw. wegen der mangelnden Möglichkeit der Anwendung der Barwertverordnung nicht mehr vorgenommen werden. Das ist natürlich falsch; weiterhin werden Versorgungsausgleiche geregelt. ({0}) - Doch, genau das hat sie gesagt. Das können wir gern im Protokoll nachlesen. Sie müssen vielleicht besser zuhören. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass Sie es einfach nicht verstehen. Der Versorgungsausgleich kann selbstverständlich dann geregelt werden, wenn es um gesetzliche Rentenversicherungsansprüche und wenn es um Beamtenversorgungen geht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist natürlich das Gros der Versorgungsausgleiche. ({1}) Darum geht es und deswegen war die Behauptung falsch. Es ist mir wichtig, das ausdrücklich zu sagen. Um was geht es ansonsten? Es geht ansonsten um Versorgungsausgleiche, die andere Anwartschaften betreffen. Auch in solchen Fällen wären selbstverständlich eine Scheidung und eine Abtrennung des Versorgungsausgleichs - der muss abgetrennt werden - möglich. ({2}) Jetzt muss man sich fragen: Wie viele Fälle sind es dann noch, bei denen es wirklich so brennt, wie Sie es dargestellt haben? ({3}) So brennen, dass ein Abtrennen des Versorgungsausgleichs nicht hinnehmbar ist, kann es wirklich nur dann, wenn entweder schon eine Rente oder eine sonstige Versorgung gezahlt wird oder wenn man ganz, ganz kurz davor steht. Nur über diese wirklich wenigen Ausnahmefälle, die keine gesetzliche Rentenversicherung und keine Beamtenversorgung betreffen, bei denen die Rente direkt bevorsteht oder schon Rente gezahlt wird, sprechen wir. ({4}) Deswegen ist die Überschrift, die Sie für Ihren Antrag gewählt haben, falsch. Sie erweckt den Eindruck, als ob der Versorgungsausgleich insgesamt jetzt umgehend zu regeln wäre. Es geht aber nur darum, eine neue Barwertverordnung bzw. eine Strukturreform zu schaffen, die dann auch diese wenigen Fälle betrifft. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, mir von der CDU/CSU eingebrachte Anträge genau anzuschauen. Ich prüfe: Was steht drauf und was ist drin? Der erste Teil des Titels Ihres Antrages lautet: „Versorgungsausgleich umgehend regeln“. Ich habe klargestellt, dass es keineswegs darum geht; vielmehr geht es - zu Recht - darum, für einige wenige Fälle jetzt eine Regelung zu treffen. Der zweite Teil des Titels Ihres Antrags lautet: „Keine Schlechterstellung von Frauen bei der Alterssicherung“. Dafür werden Sie insbesondere auf der linken Seite dieses Hauses volle Zustimmung finden; denn wir sind es, die beim besten Willen nicht dafür sorgen wollen, dass Frauen bei der Alterssicherung schlechter gestellt werden. Uns geht es aber nicht nur darum, die Alterssicherung für den Fall zu verbessern, dass es zu einer Scheidung kommt, sondern es geht uns auch darum, dafür zu sorgen, dass Frauen aufgrund selbst erworbener Alterssicherungsansprüche besser gestellt werden. Da haben wir eine ganze Menge auf den Weg gebracht. Davon könnten Sie sich eine Scheibe abschneiden. ({5}) Es geht um eine bessere Anrechnung von Kindererziehungszeiten und es geht um eine Regelung, die statt des Erziehungsurlaubs eine Elternzeit vorsieht. Durch diese Regelung können Frauen jetzt beides, Kinder und Beruf, unter einen Hut bekommen. So können sie eine eigene Alterssicherung erwerben. Das ist bahnbrechend. ({6}) Wenn es Ihnen darum geht, eine Schlechterstellung der Frauen bei der Alterssicherung zu verhindern, dann frage ich mich wirklich - als Sie davon gesprochen haben, dass Sie ermöglichen wollen, dass mehr Menschen veränderte Lebenssituationen wahrnehmen können -, warum Sie ideologische Scheuklappen tragen und Ihre Zustimmung bisher versagt haben. ({7}) Aber Sie haben dazugelernt und deswegen werden Sie bestimmt unsere Initiative mittragen, die Rahmenbedingungen dahin gehend zu verändern, dass Kinderbetreuungsangebote geschaffen und vorhandene ausgeweitet werden, damit mehr Frauen eine eigene Alterssicherung erwerben können. Wie gesagt, ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, Ihre Anträge sehr genau zu lesen. In Ihrem Antrag verweisen Sie auf den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 5. September 2001. In diesem Beschluss hat der Bundesgerichtshof die Bundesregierung als Verordnungsgeber dringend aufgefordert, den Berechnungsmodus zu verändern. Die Ministerin ist darauf ausführlich eingegangen. Ich will den Kollegen eine weitere Nachhilfestunde ersparen. Zumindest die eine Seite des Hauses hat das nämlich verstanden. In Ihrem Antrag behaupten Sie - ich lese Ihre Anträge so genau, weil man in ihnen immer wieder etwas Infames finden kann -: Nach fast zweijähriger Tatenlosigkeit legte das Bundesministerium der Justiz im Oktober 2002 einen Gesetzentwurf zur Neuregelung des Versorgungsausgleichs vor. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs ist vom 5. September 2001 und dennoch sprechen Sie mit Hinweis auf den Oktober 2002 von „fast zweijähriger Tatenlosigkeit“. Sie müssen einmal anfangen, rechnen zu lernen! ({8}) Sie verwechseln dort etwas. Zwischen dem 5. September 2001 und Oktober 2002 liegen 13 Monate und keine zwei Jahre. Zwei Jahre sind nämlich 24 Monate. Ich will Ihnen einmal eines sagen: Offensichtlich ist keiner von Ihnen mit Versorgungsausgleichen betraut. ({9}) Falls doch, kann ich nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Wenn Sie so den Versorgungsausgleich Ihrer Mandanten berechnen, dann werden diese wenig Spaß an den Ergebnissen haben. ({10}) Ich kann Sie nur aufrufen: Beenden Sie Ihre Schadenfreude darüber, dass es für ganz wenige Fälle zu einer Verzögerung von sechs Wochen oder von einigen Monaten gekommen ist! Gehen Sie endlich dazu über, in einer so wichtigen Frage sachlich zusammenzuarbeiten, die Scheuklappen abzulegen und veränderte Lebenssituationen wahrzunehmen. ({11}) Sie sind herzlich dazu eingeladen, im Rechtsausschuss eine weitere Lehrstunde zu nehmen. Vielen Dank. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/354 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef Parr, Dr. Dieter Thomae, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für ein Gesamtkonzept zur Verbesserung der Früherkennung und Behandlung von Demenz - Drucksache 15/228 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Detlef Parr.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, dass wir den nächsten Tagesordnungspunkt mit etwas weniger Echauffement, als es die Vorrednerin am Ende des vorherigen Tagesordnungspunktes an den Tag gelegt hat, angehen können. Vor einigen Wochen war im ersten deutschen Fernsehen der Spielfilm „Mein Vater“ zu sehen. Götz George spielt da einen Vater, der an Alzheimer erkrankt und in erschütternder Weise allmählich das Gedächtnis verliert. Als dieser Film lief, saßen nur wenige in der ersten Reihe. Deutschland suchte nicht den Superstar. Die Zuschauer konnten sich bei diesem Film nicht mit der Sonnenseite des Lebens beschäftigen; also schauten sie weg, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Gerade deshalb hat die FDP diesen Antrag formuliert; gerade deshalb ist es wichtig, dass sich der Bundestag nicht abwendet, sondern dieses Thema heute, wenn auch zu später Stunde, debattiert. Gefühle von Scham, Angst und Ausweglosigkeit treten in unserem Land bei weit über 1 Million Menschen und ihren Angehörigen auf, wenn die Diagnose Demenz oder gar Alzheimer gestellt wird. Eine 70-jährige Frau im mittleren Stadium der Erkrankung beschreibt ihre Beschämung und Verzweiflung mit den Worten - ich zitiere -: Ich merke, dass es immer mehr bergab geht. Mir ist das furchtbar unangenehm, dass da oben etwas nicht in Ordnung ist. Das ist dann genauso, wie wenn früher über jemanden gesagt wurde: Die ist nicht mehr ganz normal. Man hat aber keine Schuld daran. Ich nehme das sehr schwer. Das wahre Ausmaß solcher Beeinträchtigungen wird meistens erst sehr spät bemerkt mit enorm belastenden Folgen für unser Pflegesystem, mehr aber noch für die Familien und Freunde der Betroffenen. Ich kann Ihnen da aus meiner eigenen Familie sehr genau berichten. Wir wissen, dass vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung die Zahl dieser Erkrankungen erheblich zunehmen wird. In der Altersgruppe der 65- bis 70-Jährigen erkranken etwa 3 Prozent der Bevölkerung, im Alter von 80 Jahren etwa jeder Fünfte, im Alter von 90 Jahren bereits jeder Dritte. Deshalb ist es, wie ich denke, unsere Pflicht, für ein Gesamtkonzept zur Verbesserung der Früherkennung und Behandlung von Demenz zu sorgen. In einem Ratgeber für die häusliche Betreuung demenzerkrankter älterer Menschen wird die Bedeutung einer frühzeitigen Diagnose nachdrücklich herausgestellt. Ich möchte daraus zitieren. Durch die Diagnose werden viele „merkwürdige“ Verhaltensweisen des Erkrankten verständlich. Versagen und Fehlverhalten erhalten „Krankheitswert“. Ein krankengerechter Umgang wird dadurch erleichtert. Angehörige können sich frühzeitig mit dem zu erwartenden Verlauf der Krankheit auseinander setzen, wichtige Informationen einholen und langfristig planen. Der Erkrankte und seine Angehörigen sind mit den Problemen nicht mehr allein. Professionelle Helfer und andere betroffene Angehörige stehen als Gesprächspartner zur Verfügung. Behandlungs- und Betreuungsangebote für den Erkrankten und entlastende Hilfen für die pflegenden Angehörigen können rechtzeitig genutzt werden. Meine Damen und Herren, diese Broschüre, „Wenn das Gedächtnis nachlässt“ überschrieben, ist vom Bundesministerium für Gesundheit unter damals noch grüner Führung herausgegeben worden. Das gibt mir die Hoffnung, dass dieser Antrag fraktionsübergreifend befürwortet wird. Gemeinsam sollten wir dafür Sorge tragen, Leid zu verringern und gleichzeitig das Pflegesystem zu entlasten. Früh erkannte krankhafte Veränderungen des Gehirns können nicht medikamentös und auch medikamentös so behandelt werden, dass Krankheitsverlauf und Leistungsverluste deutlich hinausgezögert werden. Neuere gesundheitsökonomische Untersuchungen zum Nutzen der medikamentösen Behandlung der Alzheimer-Krankheit und der Demenzerkrankungen weisen nach, dass der therapeutische Effekt unter anderem darin besteht, dass der Zeitpunkt der Pflegeheimeinweisung verzögert oder diese vielleicht sogar ganz verhindert werden kann und die Gesamtkosten für den Kranken, insbesondere was die Aufwendungen der Pflegeversicherung anbetrifft, verringert werden. Das muss in der Öffentlichkeit bekannter werden. Wir brauchen eine gesellschaftlich breit angelegte Informations-, Qualifizierungs- und Präventionskampagne. Wir müssen den Menschen in unserem Land die Möglichkeit geben, rechtzeitig etwas für ihre Gesunderhaltung zu tun, mithilfe einer frühzeitigen Behandlung möglichst lange ein eigenständiges Leben zu führen und die eigene Lebensqualität zu verbessern. Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich Sie daran erinnern, dass wir diese Thematik mit im Ergebnis leider viel zu geringen Auswirkungen im Bereich des Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetzes diskutiert haben. Wir haben dem Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg zugestimmt und es mit breiter Mehrheit in diesem Haus verabschiedet. Ich wünsche mir, dass die Forderungen, die wir in unserem Antrag erhoben haben, ebenso breite Unterstützung finden. Wir sind bereit, über Formulierungen und entsprechende Ergänzungen zu diskutieren und im Rahmen der Ausschussarbeit zu einer Positionierung des Bundestages in klarer und eindeutiger Form zu kommen. Ich wünsche mir eine vorbehaltlos geführte und dem Thema dieser Problematik angemessene Debatte. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hilde Mattheis. Es ist, soweit ich weiß, auch ihre erste Rede. Ich sage das jetzt immer vorher, dann gehen die Kollegen etwas vorsichtiger mit den Rednern um.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die FDPFraktion legt heute einen Antrag vor, der die Überschrift „Für ein Gesamtkonzept zur Verbesserung der Früherkennung und Behandlung von Demenz“ erhalten hat. Elf knappe und allgemeine Forderungen sollen - das ist der Anspruch - ein Gesamtkonzept umreißen. Unter anderem werden die Verbesserung der Früherkennung und Erforschung sowie die Sicherstellung einer größtmöglichen Selbstbestimmung der betroffenen Personen gefordert. Es wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Aus-, Fortund Weiterbildung von Hausärzten und Fachärzten in diesem Bereich zu verbessern. Dass hier die Notwendigkeit der Weiterentwicklung und Verbesserung besteht, wird niemand bestreiten, der sich mit der Thematik Demenz auseinander gesetzt hat. Es wird auch niemand bestreiten, dass die Verbesserung der Versorgungssituation älterer, kranker Menschen eine wichtige Zukunftsaufgabe und Herausforderung ist. Allerdings ist der Anspruch der Antragsteller, mit diesen elf Forderungen eine Gesamtkonzeption für ein komplexes Thema zu bieten und auf eine zentrale Zukunftsaufgabe eine umfassende, der Situation angemessene Antwort zu geben, deutlich überzogen. Was ist also der Hintergrund, vor dem wir angemessene Antworten brauchen, um bisherige Maßnahmen weiterentwickeln und das, was unter Rot-Grün bereits begonnen wurde, weiterverfolgen zu können? ({0}) Die Lebenserwartung der Menschen steigt und damit die Zahl der Älteren und Hochbetagten. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist, dass häufiger Alterskrankheiten auftreten. Sie haben das richtig dargestellt. Heute sind circa 1 Million Menschen von Demenz betroffen. Bis zum Jahr 2020 werden es in Deutschland voraussichtlich 1,4 Millionen Menschen sein. Die Deutsche AlzheimerGesellschaft vermutet eine hohe Dunkelziffer. Demenzerkrankungen sind derzeit nicht heilbar. Fachleute sind sich einig, dass medikamentöse und nicht medikamentöse Behandlungsansätze ineinander greifen müssen, um die Belastungen für die Betroffenen und die Angehörigen erträglich zu machen und den Krankheitsverlauf zu verzögern. Durch bessere Frühdiagnose und frühzeitige Therapiemaßnahmen könnte der Beginn einer Demenz in 15 bis 20 Prozent der Fälle hinausgezögert werden. ({1}) - Ja. Ich habe gerade gesagt: mit Medikamenten und durch andere Therapieformen. Diese Fakten machen die gesundheits- und gesellschaftspolitische Herausforderung deutlich. Die Bundesregierung unter CDU/CSU und FDP - Sie merken, das war die alte - hat 1997 die Notwendigkeit, einen ganzheitlichen Ansatz anzuerkennen, aus Kostengründen abgelehnt. ({2}) Offensichtlich hat man jetzt vergessen, die Kosten zu beziffern. ({3}) Das nun in einigen Ihrer Forderungen erkennbare Umdenken in der Sache ist erfreulich. Allerdings sind elf knappe Forderungen - das habe ich schon ausgeführt bestenfalls Stichworte für einzelne Problembereiche, in denen die rot-grüne Bundesregierung in den vergangenen Jahren bereits wichtige Weichenstellungen vorgenommen hat, durch die sie Verbesserungen für Demenzkranke und deren Angehörige erzielen konnte. Mit der Novellierung des Heimgesetzes wurde die Rechtsstellung der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner verbessert. Der Heimbeirat wurde für Dritte geöffnet. Die Heimaufsicht wurde gestärkt, ihre Eingriffsinstrumente wurden verbessert. Die Zusammenarbeit von Heimaufsicht, Medizinischem Dienst der Krankenversicherung und Trägern der Sozialhilfe wurde optimiert. Mit unserem Pflege-Qualitätssicherungsgesetz wurde die Pflegequalität weiterentwickelt und die Verbraucherrechte wurden gestärkt. Mit dem von uns auf den Weg gebrachten Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz wurde für Pflegebedürftige mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf in häuslicher Pflege der Anspruch auf einen zusätzlichen Betreuungsbedarf in Höhe von bis zu 460 Euro je Kalenderjahr festgeschrieben. Für die Entwicklung neuer Versorgungskonzepte und -strukturen wurden insgesamt 10 Millionen Euro je Kalenderjahr bereitgestellt. Hier sind allerdings die Länder und die Kommunen aufgefordert, sich noch stärker zu engagieren und für die Kofinanzierung zu sorgen. ({4}) Auch das bestehende Beratungsangebot für Pflegebedürftige und ihre pflegenden Angehörigen wurde verbessert. Ich nenne einzelne Forschungsprojekte zum Bereich Demenz, die zum Beispiel vom BMBF unterstützt bzw. finanziert wurden. Besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle das Kompetenznetz Demenz. In diesem haben sich 13 universitäre, vor allem psychiatrische Zentren zusammengeschlossen. Beteiligt sind auch Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte, Industrieunternehmen und Patientenorganisationen wie zum Beispiel die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft. Das Kompetenznetz soll einheitliche, fortschrittliche Richtlinien für die Diagnostik und die Therapie demenzieller Erkrankungen in Deutschland entwickeln. In einem aktuellen Ressortforschungsprojekt des BMGS wird eine „Gerontopsychiatrische Handreichung für Hausärzte und Allgemeinmediziner“ erarbeitet, durch die vor allem die Früherkennung und Frühbehandlung von Demenzen gefördert wird. Es wurden verschiedene Untersuchungen zu unterschiedlichen Fragestellungen in Auftrag gegeben. Im Rahmen des Modellprogramms „Altenhilfestrukturen der Zukunft“ werden insgesamt 20 Modellprojekte gefördert. Diese Maßnahmen werden durch eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit unterstützt, um vor allen Dingen Verständnis für die Situation demenzkranker Menschen zu wecken und Anleitungen zum Umgang mit zu ihnen geben. Sie sollen aber auch Maßnahmen zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit oder zur Verhinderung einer Verschlimmerung aufzeigen. Leider laufen diese Modellvorhaben nur zögerlich an. Das ist unverständlich; denn der Anreiz lautet: Für weniger Geld mehr Qualität. Ein gelungenes Wohnprojekt ist zum Beispiel in Erfurt zu besichtigen. All dies, was ich hier nur ansatzweise darstellen konnte, müsste die Antragsteller dahin gehend überzeugt haben, dass ihre Forderungen - bis auf eine, auf die ich noch zu sprechen komme - nicht weit entfernt von unseren Vorstellungen sind. Ohne die bestehenden Defizite zum Beispiel im Bereich der gezielten Prävention, der frühzeitigen Diagnostik und der ganzheitlichen, umfassenden Therapie - das will ich nicht außer Rede stellen kleinreden zu wollen, kann festgestellt werden: Die Richtung stimmt. Jetzt komme ich auf die letzte Forderung im vorliegenden Antrag zu sprechen. Diese lautet: Finanzierung der ärztlichen Leistungen außerhalb der gedeckelten Gesamtvergütung und Herausnahme der für Vorsorge und Therapie von Demenzerkrankungen benötigten Arzneimittel aus den Richtgrößenvereinbarungen. ({5}) Das heißt, Sie wollen, dass alle vertragsärztlichen Leistungen und die damit verbundenen Kosten sowie benötigte Arzneimittel außerhalb der jetzt geltenden Vereinbarungen abgerechnet werden können. ({6}) Sie wollen in diesem Falle die Möglichkeiten der Abrechnung von ärztlichen Leistungen und Arzneimitteln aus der Vereinbarung über Richtgrößen herausnehmen. Ihnen ist natürlich klar, dass die Kosten in unkalkulierbare Höhen steigen würden. ({7}) Schlimmer jedoch finde ich, dass Sie damit bei Erkrankten und deren Angehörigen die Angst schüren, sie hätten keinen ausreichenden Anspruch auf das richtige Medikament. ({8}) Sie wissen genau, dass im Rahmen des neuen Steuerungsinstruments der Arzneimittelvereinbarung ausdrücklich Zielvereinbarungen zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen und der GKV vorgesehen sind. Niemand hindert zum Beispiel die Kassenärztliche Vereinigung daran, Arzneimittel einzusetzen, die einen Fortschritt für die Versorgung von Demenzkranken bedeuten würden. ({9}) Wer also behauptet, Demenzkranke seien im GKV-System unterversorgt, der verunsichert die Menschen. Wir unterstützen Ihren Antrag nicht. Ich fürchte - und das ist meine letzte Bemerkung -, dass alle richtigen Forderungen in Ihrem Antrag nur dazu herhalten mussten, diese letzte zu umrahmen. Wenn dies nicht so ist, würde mich das freuen; denn dann würden Sie ernsthaft die wichtigen von uns eingeleiteten Reformschritte unterstützen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Von mir aus im Namen des Hauses herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede. ({0}) Auch die nächste Rede ist, wie ich gerade gehört habe, die erste hier im Parlament. Ich gebe jetzt das Wort der Abgeordneten Verena Butalikakis.

Verena Butalikakis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003513, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich will noch einmal betonen, wie wichtig die Thematik des vorliegenden FDP-Antrages ist - da scheinen wir uns hier im Hause auch einig zu sein. Ich kann nur bestätigen, Frau Kollegin, was Sie gesagt haben, dass nämlich die Demenz sicherlich eine der großen Herausforderungen an unsere Gesellschaft darstellt, und zwar sowohl in gesundheitlicher als auch in sozialer und auch in finanzieller Hinsicht - diesen Aspekt haben Sie in Ihrer Rede leider etwas falsch behandelt. Umso entscheidender ist eigentlich, dass diese Thematik bisher sehr fahrlässig behandelt wurde. Meine Vorrednerin hat gerade noch einmal belegt, dass mit der Aufzählung von angelaufenen Modellvorhaben eben nicht das zu erreichen ist, was der Antrag der FDP eigentlich bezweckt, nämlich die Vorlage einer Gesamtkonzeption. ({0}) Bei der Recherche zu dieser Rede habe ich natürlich zurückgeblickt. Als im April des vergangenen Jahres der Vierte Bericht der Bundesregierung zur Lage der älteren Generation mit dem Schwerpunktthema „Risiken, Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger - unter besonderer Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen“ erschien, wurde vonseiten der Bundesregierung eine belanglose Stellungnahme abgegeben und vonseiten der Regierungsfraktionen, die vielleicht einmal zuhören sollten, ein noch belangloserer Antrag eingebracht. Die Diskussion im Plenum war ergebnislos. Dabei dokumentiert dieser Altenbericht sehr eindrucksvoll die gravierenden Mängel bei der Erkennung und Versorgung der Demenzkrankheiten und vor allem auch die Mängel im System und in den Systemen. Er stellt eine große Anzahl konkreter Forderungen auf. Passiert ist allerdings gar nichts, das hatte ich eingangs schon gesagt. Zu Recht beklagen deshalb Fachärzte und Hausärzte, Selbsthilfegruppen, Pflegekräfte und Experten genauso wie übrigens auch Teilnehmer der Expertenkommission, die den Vierten Altenbericht erstellt haben, dass die Bundesregierung den Blick auf die Gegenwart und vor allem in die Zukunft scheut. Dabei gibt es viel zu tun. Der Kollege Parr hat schon darauf hingewiesen: Es gilt, die von einer Demenzerkrankung betroffenen Menschen sowie die pflegenden Angehörigen und die Fachkräfte mit den Problemen, die diese Krankheit mit sich bringt, nicht alleine zu lassen. Es gilt, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit diese Krankheit eingedämmt und die Belastungen reduziert werden. Bei zügiger und richtiger Hilfe für die Menschen ergibt sich ein in den heutigen Zeiten wichtiger zweiter Effekt. Wir kommen nämlich zu Einsparungen im Gesamtsystem der sozialen Sicherung, und zwar sowohl heute wie auch morgen - und das auch unabhängig von allen anderen Reformen; ich werde das nachher noch erläutern. Ich glaube, es wäre ein wichtiger Beitrag für die so genannte Generationengerechtigkeit, wenn wir es heute schaffen würden, die Strukturen zu legen, die auch morgen eine besondere finanzielle Belastung der jungen Generation ausschließen. ({1}) Manchmal hat man ja den Eindruck, dass so ein paar Zahlen nicht oft genug gesagt werden können, weil dahinter wirklich menschliche Schicksale stecken. Deshalb gehe ich noch einmal auf das ein, was gerade der Vierte Altenbericht ausführlich darlegt, aber auch viele andere wissenschaftliche Untersuchungen, nämlich: Wie sieht die Lage der Demenzkranken derzeit aus? Nach konservativen, also ganz vorsichtigen Schätzungen leiden derzeit über 900 000 Menschen in Deutschland an einer mittelschweren oder schweren Demenz, etwa zwei Drittel davon an einer Alzheimer-Krankheit. Andere Berechnungen, die auch leichtere Demenzformen berücksichtigen, sprechen dann - das ist Ihre Zahl - von 1,2 bis sogar 1,6 Millionen Demenzkranken. Ganz wichtig ist, dass bei den über 85-Jährigen die Prävalenz bei 50 Prozent liegt. Zwei Drittel der Demenzkranken werden in Privathaushalten versorgt; wir reden hier über - wie gesagt nach den vorsichtigen Schätzungen - 600 000 Menschen. Das entspricht zwar überwiegend den Wünschen der Betroffenen, aber es bedeutet natürlich für die Angehörigen große psychische, physische und finanzielle Belastungen. Noch ein ganz wichtiger Punkt: Zwei Fünftel der Demenzkranken - also bei meinen vorsichtigen Schätzungen ungefähr 180 000 Menschen - in Deutschland erhalten keine oder zu geringe Leistungen aus der Pflegeversicherung. Das liegt sicherlich einerseits an der Unkenntnis der Antragsteller, zeigt aber andererseits ganz deutlich, dass wir bei der Unterstützung viel mehr tun müssen und dass die Informationspolitik deutlich besser werden muss. ({2}) - Informationspolitik ist ja nun nicht so kostenreich, Herr Kollege. Kommen wir noch kurz zur ärztlichen und medizinischen Versorgung. Da gibt es offensichtlich sehr unterschiedliche Einschätzungen, wie meine beiden Vorredner gezeigt haben. Es ist sicherlich richtig und wissenschaftlich belegt, dass derzeit nur circa 50 Prozent der Demenzerkrankungen in einem frühen Stadium entdeckt werden. Das heißt, über die Hälfte der Betroffenen werden erst diagnostiziert, wenn die Symptome ganz offensichtlich vorhanden sind. Das ist natürlich umso bedauerlicher, wenn wir an die Entwicklung der jetzt vorliegenden modernen Medikamente denken. Bei der Medikation und bei der Früherkennung kommt den Hausärzten eine Schlüsselrolle zu. Hier müssen wir für Fortbildung sorgen; auch darauf haben Sie hingewiesen. Ganz deutlich kann man aus dem aktuellen Arzneimittelverordnungsreport erkennen, - man braucht sich nur die Anzahl der Betroffenen und die Anzahl der verordneten Medikamente anzusehen -, dass tatsächlich eine generelle Unterversorgung mit Medikamenten besteht, aber vor allem mit Antidementiva. Es ist schon so, dass gesagt wird: Wir haben ein Budget und müssen sparen. Es wird auf Kosten der Patienten gespart. ({3}) Das wird natürlich umso unverständlicher, wenn mittlerweile Forschungsergebnisse belegen, dass eine richtige Medikation das Fortschreiten der Erkrankung zeitlich weit hinauszögern kann und damit natürlich Kosten im weiteren Bereich deutlich eingespart werden können, weil die Unterbringung im Heimbereich sehr viel später erfolgt und der daraus resultierende große Kostenblock erst später anfällt. Den Blick in die Zukunft haben schon andere geworfen; auch ich will es tun: In den nächsten 50 Jahren steigt die Zahl der Hochbetagten um das Doppelte. Im Jahre 2050 werden wir - bei all den bekannten Entwicklungen in der Gesellschaft - 2 bis 2,8 Millionen Demenzkranke in Deutschland haben. Die Frage wird sein: Wer kümmert sich dann um die Erkrankten? Denn das, was heute die Familien leisten, wird dann sicherlich in einem geringeren Maße möglich sein. Natürlich steigen die Kosten der Pflege. Auch hier eine Zahl: Wenn man von dem normalen demographischen Faktor ausgeht, dann kommt es bis zum Jahr 2050 zu einer Steigerung um 64 Prozent. Deshalb dürfen wir auch die ökonomische Dimension der Demenz nicht länger unterschätzen. Die von mir aufgezählten Daten und Fakten - ich habe jetzt einen Kurzdurchlauf gemacht - zeigen eines ganz deutlich: Jetzt muss gehandelt werden. Deswegen unterstützen wir den Antrag der FDP. Denn wir wollen jetzt eine Gesamtkonzeption für den Umgang mit dem Thema Demenz. Konkretes ist von der Bundesregierung und auch von der Regierungskoalition nicht zu erwarten. Ich habe vorhin schon auf den Antrag hingewiesen. Er wimmelte von wunderbaren Konjunktiven: sollte, könnte, müsste. Es gab aber keine konkrete Forderung und vor allen keine zügige Umsetzung. Die Bundesministerin reagiert in ihrer Stellungnahme auf die 77 konkreten Empfehlungen der Expertenkommission, indem sie weitere Expertisen, ein Gutachten zu aktuellen Zahlen und die weitere Erprobung bereits als erfolgreich gepriesene Modelle ankündigt. ({4}) Sie kündigte ein Altenhilfestrukturgesetz an. Das kann aber natürlich erst dann entstehen, wenn die Ergebnisse aller Untersuchungen vorliegen, also zumindest nicht in dieser Legislaturperiode; sonst hätte sie es in dem Bericht geschrieben. Man sieht: Hier wird in großen zeitlichen Dimensionen gedacht. Das bestätigt sie, als sie sehr deutlich darauf hinweist, dass sich die Bundesregierung in ihrer Initiative zu einem längerfristig geplanten Aktionsprogramm Demenz bestätigt fühlt. „Längerfristig geplant“? Alle Ergebnisse und Untersuchungen, die Vorschläge und Forderungen liegen auf dem Tisch. Jetzt muss die Konzeption erstellt werden. Denn sonst ist es zu spät. Aber das ist der Reformkurs von RotGrün: ein bisschen schieben, bloß nichts leisten. Der Kollege Zöller hat mich gerade noch einmal auf das Pflegeleistungsänderungsgesetz hingewiesen. Das war der richtige Schritt. Da gibt es gar keinen Zweifel. Aber wie man mit 460 Euro pro Jahr, also 1,26 Euro pro Tag, viel zusätzliche Betreuungsleistungen ermöglichen will, muss uns noch einmal vorgerechnet werden. ({5}) Dasselbe gilt für einen weiteren Teil des viel gepriesenen Pflegeleistungsänderungsgesetzes. Da werden immer 20 Millionen Euro in den Raum gestellt, die zusätzlich zur Verfügung stünden. Ein Blick in den entsprechenden Titel in Kapitel 15 02 des Haushaltsplanes zeigt ganz deutlich, dass im Bundeshaushalt 2003 für Pflegeprojekte und -einrichtungen 10,13 Millionen Euro weniger zur Verfügung stehen. Wir reden also nicht von 20 Millionen Euro, sondern definitiv von einem Betrag, der unter 10 Millionen Euro liegt. Ich will mir jetzt die Zusammenfassung sparen, weil meine Zeit drastisch abläuft. Wir werden noch sehr viele Einzelheiten in die Ausschussberatung einbringen - ich habe das schon mit dem Kollegen Parr besprochen -, sowohl was die wissenschaftliche Fachbegrifflichkeit als auch was die Zusammenfassung für ein konkretes Konzept betrifft. Ich stimme Ihnen zu, dass man sich Gedanken über ein intelligentes Finanzierungssystem machen muss. Ich und meine Fraktion wollen es unbedingt auch systemübergreifend sehen. Ich hatte gehofft - insofern teile ich die Einschätzung des Kollegen Parr -, dass wir es schaffen würden, bei dieser wichtigen Thematik tatsächlich zu einem Konsens zu kommen. Aber ich sehe, dass Rot-Grün tatsächlich in keinem Bereich die Kraft zu vernünftigem Handeln hat, noch dazu wenn Eile geboten ist. Ich bedanke mich. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, herzlichen Glückwunsch im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede. ({0}) Jetzt gebe ich das Wort der Abgeordneten Petra Selg.

Petra Selg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003635, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist wirklich schade, dass es nicht einmal bei diesem Thema gelingt, parteipolitischen Hickhack außen vor zu lassen. Rot-Grün hat das versucht. Aber nein, die Kollegin der CDU/CSU muss auch bei diesem Thema draufhauen. Das finde ich peinlich. ({0}) Im vorliegenden Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, die Früherkennung und Behandlung von Demenz zu verbessern. Angeregt wird unter anderem, ein flächendeckendes und qualitätsgesichertes Früherkennungsprogramm aufzubauen sowie auf Evidenz basierende Leitlinien für die Demenzfrüherkennung und -behandlung festzulegen. Eines vorneweg: Es freut mich unwahrscheinlich, dass endlich auch bei der FDP das soziale Gewissen aufblitzt. Das habe ich bei ihr in der letzten Zeit leider vermissen müssen. Ich hoffe sehr, dass das kein Strohfeuer bleibt. Das ändert allerdings nichts daran, dass Ihre Verbesserungswünsche uns und der Bundesregierung schon lange bekannt sind. Wir kümmern uns in vielen Bereichen um die Umsetzung dieser Wünsche. Von dem, was in dem FDP-Antrag formuliert ist, steht vieles - ich sage ehrlicherweise: nicht alles - bereits im Vierten Altenbericht der Bundesregierung, der im letzten Jahr erschienen ist. ({1}) - Ich weiß, dass das umgesetzt werden muss. Ich komme gleich dazu. Lassen Sie mich einfach ausreden. - Aber vieles, was Sie in Ihrem Antrag formulieren, wie die Finanzierung Ihrer Wünsche - Frau Mattheis hat das aufgeführt -, erscheint mir sehr fragwürdig. Darüber müssen wir noch reden. Außerdem arbeitet das Ministerium schon jetzt daran, Frühbehandlung und Früherkennung von Demenzen zu fördern. In einem aktuellen Forschungsprojekt des Ministeriums wird eine „Gerontopsychiatrische Handreichung für Hausärzte und Allgemeinmediziner“ erarbeitet. Diese soll die Ärzte im Umgang mit Dementen unterstützen und vorhandenes Wissen - das ist bisher das größte Problem - besser vermitteln. Weiterhin fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung das „Kompetenznetz Demenzen“, in dem sich 13 universitäre, vor allem psychiatrische Zentren zusammengeschlossen haben. Beteiligt sind auch Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte und insbesondere Allgemeinmediziner. Darüber hinaus sind, was ich sehr gut finde, Patientenorganisationen wie zum Beispiel die Deutsche Alzheimer Gesellschaft in dieses Kompetenznetz eingeschlossen. Dieses Netzwerk erarbeitet zurzeit Leitlinien für Diagnostik und Therapie demenzieller Erkrankungen. Ziel soll sein, die Versorgungsqualität bei Demenz deutlich zu verbessern. Diese zwei Beispiele zeigen, dass wir den Handlungsbedarf bei demenziellen Erkrankungen sehr wohl erkannt haben und, liebe Frau Kollegin von der CDU/CSU, bereits heute handeln. Das kann und soll natürlich nicht heißen, dass wir bei dem Erreichten stehen bleiben. Im Gegenteil: Wir werden diese Anstrengungen noch weiter vorantreiben; denn wir wissen, dass Demenz eine der größten Herausforderungen der Zukunft für unser Gesundheitswesen ist. In diesem Zusammenhang ist es aber auch sehr wichtig, zu erwähnen, dass sich unsere Gesellschaft insgesamt stärker mit dem Thema Demenz und ihren Folgen auseinander setzen muss. Noch heute bestehen hinsichtlich dieser Krankheit Tabus, die verschwinden müssen. Das ist einer der Gründe, weshalb ich und meine Fraktion in dieser Legislaturperiode die Einsetzung einer Enquete-Kommission fordern, die sich mit den heutigen, vor allem aber mit den zukünftigen Lebensbedingungen von psychisch kranken, von behinderten, vor allen Dingen aber von immer älter werdenden Menschen in unserer Gesellschaft auseinander setzen soll. In der gegenwärtigen Diskussion um die Reform unserer Sozialsysteme drohen diese Gruppen - da sie keine großen Lobbyverbände hinter sich haben - in unserer Gesellschaft durch den Rost zu fallen. Vor diesem Hintergrund ist es für uns wichtig, diese Enquete-Kommission zu installieren, die sich die Verbesserung der Lebensbedingungen dieser Menschen zum Ziel setzen und zukunftsfähige Konzepte für die Einbindung der Betroffenen in unsere Gesellschaft entwickeln soll. Ich denke, wir müssen endlich offen und auf breiter gesellschaftlicher Basis darüber reden, wie wir mit der zunehmenden Alterung unserer Bevölkerung gesamtgesellschaftlich umgehen müssen. Eine solche EnqueteKommission könnte das leisten. Sie könnte vor allem auf den Ergebnissen der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ aufbauen. Wir hätten endlich eine Plattform, um unbequeme und bisher wenig diskutierte Themen wie Alzheimer und Demenz in die Öffentlichkeit zu tragen. Deshalb lehnt unsere Fraktion diesen Antrag auch nicht von vorneherein ab. Ich hoffe, dass wir im Ausschuss über dieses Thema angemessen und ohne parteipolitisches Hickhack diskutieren können. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/228 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatzpunkte 7 und 8 auf: 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Gegen Terror, Völkermord und Hungerkatastrophe in Simbabwe, um Destabilisierung des südlichen Afrikas zu vermeiden - Drucksache 15/353 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Wimmer ({1}), Walter Riester, Karin Kortmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Katrin Dagmar Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hungerkatastrophe in Simbabwe weiter bekämpfen - Internationalen Druck auf die Regierung Simbabwes aufrechterhalten - Drucksache 15/428 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Ulrich Heinrich, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gemeinsame europäisch-afrikanische Initiative zur Lösung der Krise in Simbabwe starten - Drucksache 15/429 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Herr Staatsminister Bury.

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Simbabwe galt bis vor wenigen Jahren als einer der Hoffnungsträger Afrikas. Als erstes Land des südlichen Afrika befreite es sich von einem nachkolonialen rassistischen System. Deutschland stand im simbabwischen Befreiungskampf auf der Seite der unterdrückten schwarzen Bevölkerung und hat sich auch danach in erheblichem Umfang für die junge simbabwische Demokratie engagiert. Heute ist Simbabwe ein zerrissenes und wirtschaftlich zerrüttetes Land, das seine Bevölkerung nicht mehr ernähren kann. Wir wollen im Interesse der dort lebenden Menschen erreichen, das Simbabwe zu seinen demokratischen Wurzeln zurückkehrt. Unser Ansatzpunkt hierfür ist eine harte und konsequente Haltung gegenüber der simbabwischen Regierung. Denn die Negativbilanz ist kein Zufall und auch keine unvermeidbare Folge der Kolonialzeit. Die schwerwiegende innenpolitische Krise wurde durch die Regierung bewusst herbeigeführt. Das sich immer mehr als Diktatur darstellende De-facto-Einparteienregime unter Robert Mugabe betreibt unter Inkaufnahme verheerender sozialer, wirtschaftlicher und humanitärer Entwicklungen eine verantwortungslose Politik, die ausschließlich dem eigenen Machterhalt dient. Deutschland hat sich deswegen maßgeblich und sehr früh für die Einführung von Sanktionen gegen die simbabwische Nomenklatura eingesetzt. Hierzu zählen eine Visumssperre und das Einfrieren von Konten ebenso wie ein Waffenembargo. Wir wollen, dass diese Sanktionen bestehen bleiben, und setzen uns vehement für eine Verlängerung des Sanktionsregimes der EU gegenüber Simbabwe ein. ({0}) Ich hoffe, dass morgen in Brüssel die entsprechende Einigung erzielt wird. Dies wäre ein wichtiger Erfolg einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Liebe Kolleginnen und Kollegen, an der Durchführung des wichtigen EU-Afrika-Gipfels haben wir hohes Interesse. Der für Anfang April in Lissabon geplante Gipfel kann aber nur dann stattfinden, wenn sichergestellt ist, dass Mugabe nicht daran teilnimmt. ({1}) Wir sehen auch keinen Anlass, unsere suspendierte bilaterale staatliche Entwicklungszusammenarbeit mit Simbabwe wieder aufzunehmen. Ausnahmen soll es weiterhin nur für humanitäre Hilfsmaßnahmen und für die Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen bei der Konfliktprävention und bei der Stärkung der Zivilgesellschaft geben. Denn beides kommt der Not leidenden Bevölkerung unmittelbar zugute. Eine nachhaltige Verbesserung der Situation in Simbabwe kann nur erreicht werden, wenn es gelingt, auch die afrikanischen Staaten zur Aufgabe ihrer Beschränkung auf „stille Diplomatie“ und ihres Kurses der fast bedingungslosen Solidarität mit Simbabwe zu bewegen. Hierfür setzen wir uns im Dialog mit diesen nachdrücklich ein. Durch Beharrlichkeit und vor dem Hintergrund der auch für die Nachbarstaaten zunehmend untragbar werdenden Situation in Simbabwe versuchen wir diese Länder von der Notwendigkeit effizienterer politischer Maßnahmen zu überzeugen. Ich lehne es jedoch ab, meine Damen und Herren, dieses Ziel durch einen Entzug der Unterstützung für Südafrika oder die Staaten der neuen gesamtafrikanischen Reforminitiative NEPAD erreichen zu wollen. ({2}) Das südafrikanische Modell eines friedlichen politischen Wandels hat als Vorbild für die Region und den ganzen Kontinent weiterhin Gültigkeit und verdient unsere Unterstützung. ({3}) Mit Südafrika verbindet uns auch eine umfassende und strategische Partnerschaft, die nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden sollte. Und generell gilt, dass die afrikanischen Reformstaaten nicht Urheber der Krise in Simbabwe sind. Ihre politischen Einflussmöglichkeiten bleiben zudem begrenzt. ({4}) Die Bundesregierung bemüht sich, auch außerhalb Afrikas den internationalen Druck auf Simbabwe zu erhöhen. So unterstützen wir die Entscheidung des Internationalen Währungsfonds, ein Verfahren zum Entzug des Stimmrechts und aller damit verbundenen Rechte für Simbabwe einzuleiten. ({5}) Im Rahmen der Vereinten Nationen haben wir Afrika zu einem Schwerpunktthema unserer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat gemacht. In engem Kontakt mit den dort vertretenen europäischen Staaten prüfen wir zurzeit, ob Simbabwe als Thema auf die Tagesordnung gesetzt werden kann. Damit würde - nach den Beschlüssen der EU der internationale Druck auf Simbabwe nochmals deutlich erhöht werden. Es gilt nun, die Widerstände Chinas und der afrikanischen Staaten gegen eine Befassung des Sicherheitsrats mit dem Thema Simbabwe zu überwinden. ({6}) Insgesamt bin ich zuversichtlich, dass die konsequente Haltung großer Teile der Weltgemeinschaft gegenüber Simbabwe mittel- bis langfristig zu Erfolgen führen wird. Auch im Falle Südafrikas war eine Sanktionspolitik nach längerer Zeit erfolgreich. Im Interesse der Menschen in Simbabwe und im Interesse von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Einhaltung der Menschenrechte wird die Bundesregierung den Druck auf das Regime in Simbabwe aufrechterhalten. Ich bedanke mich für die Unterstützung, die insbesondere im Antrag der Koalitionsfraktionen, aber auch insgesamt in der heutigen Debatte zum Ausdruck kommt. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Ruck.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Schatten des Irakkonflikts diskutieren wir heute Abend über ein anderes Regime, das seine eigene Bevölkerung quält und eine immer größere Bedrohung für die ganze Region darstellt, nämlich über das Mugabe-Regime in Simbabwe. Simbabwe ist das Land, in dem Milch und Honig fließen - so beschrieb mir vor zehn Jahren eine Frau ihre Heimat. In der Tat: Damals war Simbabwe noch ein gesegnetes Land, eine afrikanische Musterdemokratie, die Schweiz des südlichen Afrikas. Inzwischen ist es auf dem Weg ins Armenhaus, zur Folterkammer und zu einem abschreckenden politischen und wirtschaftlichen Desaster. Robert Mugabe hat Simbabwe mit Diktatur, Willkür, Korruption und seiner als „Landreform“ titulierten Massenenteignung von Farmen in den wirtschaftlichen und humanitären Niedergang gestürzt. Bis zu 1 Million Menschen, vor allem schwarze Farmarbeiter und ihre Familien, befinden sich auf der Flucht vor Mugabes Kriegsveteranen, die inzwischen weite Teile des Landes beherrschen. Knapp 4 000 der insgesamt 4 500 kommerziellen Farmen wurden unter schlimmen Begleiterscheinungen zwangsgeräumt. Immer stärker ist auch das öffentliche Leben durch staatlich organisierten Terror und Gewalt gekennzeichnet. Demokratie und Menschenrechte zählen nicht mehr, oppositionelle Politiker, kritische Journalisten und Richter werden mit dem Tode bedroht; die letzten Wahlen wurden manipuliert. Auch wirtschaftlich liegt die früher hinter Südafrika stärkste Volkswirtschaft im südlichen Afrika am Boden. Die Arbeitslosenquote im formellen Sektor liegt bei über 70 Prozent, die Inflationsrate lag im letzten Jahr bei 200 Prozent und die Prognosen für dieses Jahr liegen bei 500 Prozent. Ausländische Beteiligungen sind stark rückläufig, frühere Devisenbringer wie Bergbau und Tourismus sind völlig eingebrochen. Auch der ehemals hoch rentable Agrarbereich erzielt aufgrund der chaotischen Landreform nur noch einen Bruchteil der früheren Deviseneinkünfte. In der Landwirtschaft wurde der größte Teil der ohnehin geringen Ernte entweder gestohlen, mutwillig von den Kriegsveteranen zerstört oder er ist aufgrund von Misswirtschaft verdorben. Simbabwe, das noch bis vor kurzem Lebensmittelexporteur war, benötigt nun monatlich etwa 150 000 Tonnen Nahrungsmittel für die Ernährung der Bevölkerung. Regierung und Hilfsorganisationen können nur etwa ein Drittel davon bereitstellen. Deswegen rechnen Experten damit, dass zwischen sieben und neun Millionen Menschen akut vom Hungertod bedroht sind. Besonders beunruhigend ist, dass Robert Mugabe die Nahrungsmittelknappheit skrupellos zum Machterhalt ausnützt. Vielerorts werden Nahrungsmittel nur noch an Mitglieder seiner regierenden ZANU-PF-Partei ausgegeben. Distrikte, die bei den letzten Wahlen mehrheitlich für die Opposition gestimmt haben, werden durch Mugabes Privatarmee regelrecht ausgehungert. Dies ist eine Vorstufe zu einem gezielten Völkermord an Oppositionsanhängern und ethnischen Minderheiten. Ich zitiere die öffentliche Äußerung des ehemaligen Parlamentssprechers Didymus Mutasa: Uns würde es mit nur 6 Millionen Menschen besser gehen. Ich meine unsere eigenen Leute, die den Freiheitskampf unterstützen. Die anderen zusätzlichen Menschen wollen wir gar nicht. „Die „anderen zusätzlichen Menschen“ sind immerhin mindestens 7 Millionen. Die Welt - auch Europa - hat schon Anfang der 90erJahre einen afrikanischen Völkermord zugelassen, obwohl die Vorboten eindeutig waren. Ich spreche von Ruanda. In der Folge haben sich weder die Europäer im Allgemeinen noch wir Deutschen im Besonderen mit Ruhm bekleckert, als es darum ging, mit unserer Afrikapolitik zu mehr Frieden und Stabilität beizutragen. StichStaatsminister Hans Martin Bury worte sind dabei: Große Seen, Westafrika und Sudan. Dies gilt im Grunde genommen auch für Simbabwe. ({0}) Es ist richtig, Herr Bury, dass die offizielle Entwicklungszusammenarbeit mit Simbabwe eingefroren und dafür die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen intensiviert worden ist. Richtig war auch das Einfrieren der privaten Vermögenswerte Mugabes im Ausland, das EUWaffenembargo und das EU-Einreiseverbot. Die Sanktionen laufen am 18. Februar dieses Jahres aus. Natürlich ist es dringend geboten, sie zu verlängern. Alles andere wäre in der Tat ein schwerer Schlag gegen die Glaubwürdigkeit der europäischen Außenpolitik. Mit besonderer Aufmerksamkeit blicken wir nach Frankreich. Für mich ist es ein trauriger Rückschlag, dass Präsident Chirac weiter auf der Einladung für Mugabe zum Frankreich-Afrika-Gipfel beharrt, bei dem es zynischerweise um Menschenrechte und Good Governance geht. ({1}) Das ist ein Signal in die falsche Richtung und kein gutes Zeichen für die jüngst wieder beschworene deutsch-französische Zusammenarbeit in der Außenpolitik. ({2}) Wir brauchen eine weiterhin harte Haltung gegenüber Mugabe und seinem Regime im Besonderen und gegenüber Bad Governance in Afrika im Allgemeinen. In diesem Zusammenhang fordern wir von der deutschen Außenpolitik, Herr Bury, und dem Kanzleramt einen Politikwechsel gegenüberAfrika. Ich möchte gerne wissen, was der Außenpolitiker im Hause gegenüber dazu sagt. Wir müssen weg von der Politik des freundlichen Desinteresses, garniert mit erheblicher Entwicklungshilfe, hin zu dem Versuch, eine international abgestimmte Gegenoffensive gegen das zunehmende Chaos in Afrika zu organisieren. Es ist auch im deutschen Interesse, dass die Zonen der Ordnungslosigkeit in Afrika eingedämmt werden. ({3}) Den wichtigsten Schlüssel zu einem Regierungswechsel in Simbabwe oder zumindest zu einem Einlenken von Mugabe hat allerdings die Regierung in Südafrika. ({4}) Aber Südafrikas Präsident Mbeki hält sich trotz aller Bekenntnisse zu Menschenrechten, Demokratie und den ambitiösen Zielen von NEPAD auffällig zurück. Seine Strategie der stillen Diplomatie hat bisher zu keiner erkennbaren Verbesserung der Lage in Simbabwe geführt. Ganz im Gegenteil: Sein Verhalten deuten viele als eine stille Anerkennung dessen, was dort passiert. Südafrika hält das Terrorregime durch seine Treibstoff- und Stromlieferungen, aber auch durch seine Kreditvergaben künstlich am Leben, obwohl selbst Libyen inzwischen kein Öl mehr liefert. Mittels einer geschickten Sanktionspolitik könnte Südafrika den Rücktritt von Robert Mugabe binnen kürzester Zeit herbeiführen und damit Millionen von Menschen aus der Gefahr befreien. ({5}) Deswegen ist Simbabwe die Nagelprobe für Afrikas Bekenntnis zu Menschenrechten, Rechtstaatlichkeit und Demokratie. Simbabwes Nachbarländer stehen in der Pflicht, Mugabe zum Einlenken zu bewegen. Vor allem Südafrika ist als Protagonist von NEPAD moralisch verpflichtet, tätig zu werden. Der SADC-Vertrag von 1994 gibt der SADC die rechtliche Möglichkeit, Sanktionen gegen Simbabwe einzuleiten. Herr Bury, wenn die Grundsätze und Prinzipien von NEPAD und des SADC-Übereinkommens weiterhin mit Füßen getreten werden, dann müssen wir Europäer unsere Zustimmung zu beiden Abkommen infrage stellen, weil sie sonst wirklich zu einer Farce werden. ({6}) Wir dürfen dem Terror von Robert Mugabe nicht länger zusehen. Millionen von Menschen sind in Gefahr. Auch die Glaubwürdigkeit der Afrikaner und das Vertrauen der Welt, dass Afrika von Süden her eine neue Zukunft aus eigener Kraft schafft, stehen auf dem Spiel. Wir waren alle parteiübergreifend angesichts der Informationen betroffen, die wir auf der Veranstaltung, die wir zusammen mit der Afrikastiftung vor zwei Wochen durchgeführt haben - viele von uns waren dabei -, erhalten haben. Wir sollten versuchen, einen gemeinsamen Antrag vorzulegen. Wir sind gerne dazu bereit, wenn wir auf substanzielle Aussagen unseres Antrages nicht verzichten müssen. Die Zeit drängt allerdings. Ich sage ausdrücklich: Die Zeit für Beschwichtigungen ist vorbei! ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Walter Riester.

Walter Riester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003616, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehrere Regionen in Afrika stehen erneut vor einer Hungerkatastrophe. Fast 40 Millionen Menschen, vor allem in Äthiopien und im südlichen Afrika, sind davon betroffen; circa 7 Millionen davon leben in Simbabwe. Besonders betroffen sind Kinder, Mütter und gesundheitlich geschwächte Personen. Im Wesentlichen sind vier Ursachen für die immer wieder auftretende Katastrophe verantwortlich: erstens, die immer häufiger auftretenden Dürreperioden, zweitens eine hoch subventionierte Agrarindustrie mit teilweise nicht angepassten Agrarprodukten, drittens die schwierige und ungerechte Bodenbesitzstruktur sowie viertens die mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit einiger afrikanischer Regierungen, sich für die Lösung dieser prekären Lage einzusetzen, ohne die Neuverteilung von Land politisch zu instrumentalisieren. ({0}) Die katastrophale Situation in weiten Teilen Afrikas ist sicherlich kein Anlass für innenpolitische Auseinander1998 setzungen in dieser Debatte, die bedauerlicherweise erst so spät am Abend geführt wird. Der Beifall zu vielen Passagen der Rede des Staatsministers, der nach meiner Auffassung sehr klare Aussagen zur Position der Regierung machte, war ermutigend. Die Situation in Simbabwe ist zurzeit äußerst brisant und sowohl politisch als auch humanitär schwierig. Die Rahmenbedingungen sind schlecht. Im Kontext deutscher Entwicklungszusammenarbeit ist Simbabwe nur als potenzielles Kooperationsland eingestuft. Die Regierung von Robert Mugabe hat sich als Partner staatlicher Entwicklungszusammenarbeit selbst disqualifiziert. Ich werde auf zwei der wesentlichen Rahmenbedingungen der Krise eingehen, nämlich auf die politische und die wirtschaftliche Situation Simbabwes. Präsident Mugabe, der seit nunmehr 23 Jahren an der Macht ist, hat die Trennung von Staat, Regierung und Partei aufgehoben und blockiert mögliche und dringend notwendige Demokratisierungsprozesse. Seine Regierungsführung ist insbesondere durch Repression und politische Gewalt, besonders gegen die immer stärker werdende Opposition unter Morgan Tsvangirai, geprägt. Den knappen Vorsprung gegenüber seinem politischen Gegner von der Reformpartei bei der Wahl im März 2002 konnte er nur durch Manipulation mittels fiktiver Wählerstimmen und Gewalt erzielen. Die Opposition und andere zivilgesellschaftliche Kräfte werden systematisch an der Teilhabe am politischen Leben gehindert und unterdrückt. Es geht so weit, dass der Oppositionsführer unter einem dubiosen Mordkomplottverdacht vor Gericht gestellt und die internationale Öffentlichkeit anfangs von der Verhandlung ausgesperrt wurde. Seit den 90er-Jahren ist die Gesellschaft durch eine Günstlingswirtschaft geprägt, die nur dazu dient, die Macht Mugabes zu festigen. Die Unterstützung der Regierung entscheidet über die Teilhabe an den noch spärlich vorhandenen Gütern. So ist auch die Landreform zu bewerten. Präsident Mugabe versucht, durch die Neuverteilung des Bodens im Rahmen der Landreform, seine Unterstützer aus den Reihen der Polizei, des Militärs und der eigenen Partei zu versorgen. Die Landreform wird hier als politisches Instrument zur Machterhaltung der Herrschaft Mugabes missbraucht und nicht dazu genutzt, ungerechte Landbesitzverhältnisse aus der kolonialen Vergangenheit zu revidieren. ({1}) In Simbabwe handelt es sich also nicht nur um eine drohende wirtschaftliche Krise; die nationale Ökonomie leidet vor allem unter den Folgen der Miss- und Klientelwirtschaft. Die allgemeine Wirtschaftslage Simbabwes ist seit den 90er-Jahren durch die Rezession geprägt. Das Bruttoinlandsprodukt ging um 12 Prozent zurück. Die Inflationsrate lag im Dezember bei 198 Prozent und die Arbeitslosenquote - das ergibt sich aus den Unterlagen, die ich gelesen habe - liegt nicht bei 70, sondern sogar bei 80 Prozent. Ich denke, dass man sich angesichts dieser Dimension nicht über die korrekte Zahl streiten muss. Die wirtschaftliche Situation hat für die Menschen katastrophale Folgen. ({2}) Die Gesellschaft ist geprägt von Armut. Drei Viertel der Menschen Simbabwes leben unter der Armutsgrenze. Die fiskalische Situation Simbabwes wird durch Kapitalflucht und Devisenmangel zusätzlich verschärft. Kapital und Devisen wären aber für die Importe so wichtiger Güter wie Nahrungsmittel und Erdöl dringend notwendig. Zudem liegt die einst exportorientierte Landwirtschaft - Sie sagten es bereits, Herr Ruck - brach. Zwar leidet das Land unter einer periodischen Dürre. Jedoch kann man sich nicht der Tatsache verschließen, dass der Hauptverursacher der zusammenbrechenden Nahrungsmittelproduktion die missglückte und machtpolitisch missbrauchte Landreform ist. Sowohl politisch als auch wirtschaftlich kehrt die Regierung Mugabes immer mehr zum Staatsinterventionismus zurück. Wie soll und kann sich die Bundesregierung gegenüber Simbabwe verhalten? Ich finde es gut, dass der Staatsminister eingangs die politische Position sehr deutlich skizziert hat. Die Hilfe für Simbabwe darf natürlich nicht abbrechen. Viele Menschen würden dadurch noch mehr leiden und hungern. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit darf allerdings die Position Mugabes nicht stärken. Es muss also ein Weg beschritten werden, der das technisch Mögliche und das entwicklungspolitisch Notwendige verbindet. Klar ist, dass die entwicklungspolitische und die außenpolitische Linie kohärent sein müssen. Die auswärtige Politik muss den politischen Dialog mit allen mulitlateralen Gremien führen, zur gegebenen Zeit natürlich auch mit der simbabwischen Regierung. Das sollte vor allem in enger Abstimmung mit den EU-Partnern und den SADC-Staaten erfolgen. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit muss also abgestimmt, entwicklungspolitisch sinnvoll und nachhaltig sein. Die Auswahl von Mitteln, Trägern und Empfängern muss gezielt erfolgen und sich auf reformwillige und reformfähige simbabwische Partner konzentrieren. Das Kriterium der Bedürftigkeit, also Armut und Hunger, muss bei der Auswahl der Zielgruppen das entscheidende Kriterium sein. Regierungsnahe Personen und Funktionäre, Polizei und Militär müssen jedoch von bilateraler Hilfe ausgeschlossen werden, da dadurch das bestehende Regime gestärkt würde. ({3}) Der Handlungsansatz der Bundesregierung ist richtig. Die Einstellung der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit ist Grundvoraussetzung dafür, das Regime Mugabes nicht zu unterstützen. Es ist ein politischer Dialog gefragt, der die Opposition stärkt und zudem vor willkürlicher staatlicher Gewalt schützt. Die Stärkung der Nichtregierungsorganisationen und anderer zivilgesellschaftlicher Kräfte kann dazu beitragen, dass Hilfelieferungen Bedürftige erreichen und nicht als Instrument zur Machterhaltung missbraucht werden. Lassen Sie mich auf das zurückkommen, was ich anfangs gesagt habe. Auch wenn sich für uns und die Weltöffentlichkeit Simbabwe als Zentrum schlechter Regierungsführung in Afrika und als Kristallisationspunkt der Hungerkatastrophe darstellt, dürfen wir den Rest Afrikas nicht aus den Augen verlieren. Wir müssen in Zukunft darauf hinarbeiten, politischen und ökologischen Krisen rechtzeitig entgegenzuwirken. Zudem müssen Handlungsoptionen erarbeitet werden, um auf umweltbedingte Gefahren im Vorfeld reagieren zu können. Danke schön. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Löning.

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Riester, in dem, was Sie und auch die anderen Kollegen zur Einschätzung der Situation in Simbabwe und zur Einschätzung dessen, was Robert Mugabe seinem Land antut, gesagt haben, sind wir uns, fraktionsübergreifend einig. Mugabe ist ein furchtbarer Despot. Er fälscht Wahlen, er schüchtert Leute ein durch Enteignung, Mord und Vertreibung - 1,5 Millionen Landarbeiter hat er vertrieben -, er zerstört die wirtschaftliche Grundlage und damit auch die Ernährungsgrundlage seines Landes in einer brutalen Art und Weise, die nicht zu tolerieren ist. Er tritt die Menschenrechte mit Füßen, wie die jüngsten Attacken auf die indische Minderheit und der Prozess, den Sie erwähnt haben, beweisen. Ich glaube, es ist gut, dass wir uns in dieser Einschätzung einig sind. Ich halte auch die von der EU verhängten wirtschaftlichen und politischen Sanktionen gegen Simbabwe für richtig. Sehr gut finde ich, dass sie auch persönliche Sanktionen gegen Herrn Mugabe verhängt und sein Vermögen sowie das seiner Freunde eingefroren hat, soweit es sich in der EU befindet. Ich halte den Versuch für richtig, den Diktator auch persönlich am Portepee zu fassen. ({0}) - Richtig, das ist der entscheidende Punkt. Es muss auch funktionieren. Am Montag will der EU-Ministerrat diese Sanktionen verlängern. Herr Bury, es gibt offensichtlich einen Kompromiss zwischen den Botschaftern, der nach Meldungen der Agenturen ein bisschen anders aussieht als der, den Sie hier geschildert haben. Der Kompromiss lautet, dass mit Mehrheitsentscheidung im Ministerrat eine Einreisegenehmigung für Herrn Mugabe erteilt werden kann. ({1}) Wir unterstützen die Verlängerung der Sanktionen, denn man kann die Sanktionen jetzt nicht aussetzen. Dennoch sollte man beachten, dass die Sanktionen bis jetzt nicht zu einer Verbesserung der Situation in Simbabwe beigetragen haben. ({2}) Das müssen wir uns der Ehrlichkeit halber vor Augen führen. Deswegen schlagen wir vor, den Ansatz in der Politik gegenüber Simbabwe etwas zu verändern. Man muss die Sanktionen fortsetzen - es wäre ein katastrophales Signal, wenn wir sie jetzt zurücknehmen würden -, aber den Weg, den die Union vorschlägt, wollen wir nicht mitgehen. Wir glauben nicht, dass erfolglose Sanktionen dadurch erfolgreich werden, dass wir einfach versuchen, die Sanktionen noch härter zu machen und auch noch die Nachbarländer mit in die Haftung zu nehmen. Das scheint uns nicht der richtige Weg zu sein. ({3}) Ich habe mir auch den Antrag von Rot-Grün angesehen. Es ist ein bisschen schwierig, darin die Linie zu finden. In dem Antrag wird sehr viel abgehandelt: Genfood, Dialog mit der Zivilgesellschaft und eine Menge Gutes und Schönes. Irgendwo aber habe ich einen Absatz gefunden, über den ich mich sehr gefreut habe. Er könnte aus unserem Antrag sein, denn er beschreibt den Weg, den wir vorschlagen. Dieser Weg sieht so aus: Wenn wir als Europäer feststellen, dass es nicht funktioniert, wenn wir allein Sanktionen verhängen, müssen wir den Schulterschluss mit den afrikanischen Nachbarn Simbabwes suchen. Natürlich spielt Südafrika dabei eine Schlüsselrolle. Herr Bury, Frau Ministerin, an dieser Stelle ist besonders die SPD gefragt. Der ANC ist Partnerpartei der SPD, Sie sitzen gemeinsam mit dem ANC in der Sozialistischen Internationale. Ich nehme an, dass Sie miteinander reden. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat in Südafrika gemeinsam mit dem ANC sehr viel gemacht. Es muss dort Netzwerke geben. Ich gehe davon aus, dass Sie dort auch Einfluss nehmen können. Tun Sie das. Nehmen Sie Einfluss auf den ANC, damit der ANC und Herr Mbeki ihre Politik ändern und zu einer gemeinsamen europäisch-afrikanischen Initiative Ja sagen, ({4}) sodass wir gemeinsam Einfluss auf Simbabwe nehmen können, damit Herr Mugabe seinen Kurs dort ändert. Ohne Südafrika - wir müssen eigentlich noch mehr afrikanische Länder ins Boot holen - wird es keinen Erfolg geben. Dafür ist die Rolle, die Südafrika spielt, einfach zu wichtig. Herr Mugabe wird ja nun wohl zu den Konferenzen in Paris und Lissabon reisen können. Wir haben darüber in der Fraktion eine lange und sehr leidenschaftliche Debatte geführt und sind zu dem Schluss gekommen: Wenn die Franzosen wünschen, dass er kommt, dann müssen Sie, Herr Bury - die Bundesregierung ist hier gefordert -, gemeinsam mit den Vertretern der anderen afrikanischen Staa2000 ten die Konferenzen in Paris und Lissabon nutzen, Herrn Mugabe unter Druck zu setzen und dafür sorgen, dass er sich, soweit dies möglich ist - das wird auf dieser Konferenz sicherlich schwer zu erreichen sein -, einer geschlossenen Front von europäischen und afrikanischen Ländern gegenübersieht. Vielleicht wird er dann seinen Kurs ändern bzw. wird das irgendetwas bewegen. Es wäre der Bevölkerung von Simbabwe sehr zu wünschen, dass dies gelingt. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Uschi Eid.

Ursula Eid-Simon (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000454

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns alle gemeinsam besorgt, ja bestürzt die Entwicklung in Simbabwe. Wir glaubten eigentlich, dass die Zeit der Apartheid und des Rassismus beendet sei. Aber jetzt müssen wir zusehen, wie in Simbabwe neuer Rassismus entsteht, der von der unverantwortlichen Politik der Regierung Mugabes gegen weiße Bevölkerungsteile geschürt wird. ({0}) Das alte Unrecht der Kolonialzeit muss dringend beseitigt werden. Daran führt kein Weg vorbei. Aber das alte Unrecht darf nicht durch neues Unrecht ersetzt werden. Dafür ist kein Platz in dieser Welt. ({1}) Es ist auch kein Platz für ein korruptes Regime wie das von Mugabe. Er erhält seine Macht um jeden Preis und er geht dabei über Leichen. Seine Politik führt - darauf ist schon hingewiesen worden - zu Hunger und Unterdrückung. Platz ist in unserer Welt für das selbstbewusste, das offene, das reformbereite und das der Zukunft zugewandte Afrika. Gerade wir, die wir gegen den Rassismus der Weißen in Südafrika und Namibia gekämpft haben, und die wir die Menschen in diesen Ländern in ihrem Kampf gegen das menschenunwürdige System der Apartheid unterstützt haben, sind jetzt besonders aufgerufen, diesen neuen Rassismus politisch zu bekämpfen und das demokratische Afrika und das Afrika, das international anerkannte Werte und Standards respektiert, zu stärken. Genau das tut die Bundesregierung. ({2}): Na!) Wir tun es aber nicht, Herr Hedrich - das sage ich in aller Deutlichkeit -, indem wir andere afrikanische Staaten für die Politik in Simbabwe in Geiselhaft nehmen. Das aber fordern Sie in Ihrem Antrag. Wir sind dagegen. Wir tun es auch nicht, indem wir den intensiven Dialog der G 8 und Europas mit Afrika wieder abbrechen. Dazu sind wir nicht bereit. ({3}) Nein, wir tun es, indem wir noch intensiver mit unseren afrikanischen Partnern - und zwar auf gleicher Augenhöhe - über ihre gemeinsame Verantwortung für Afrika sprechen. Unsere Strategie ist klar: erstens Abbruch der Beziehungen mit der Regierung Mugabe bei gleichzeitiger Unterstützung der demokratischen und reformwilligen Kräfte in der Bevölkerung und zweitens Dialog mit unseren afrikanischen Partnern, um den Druck auf Mugabe zu erhöhen und dazu beizutragen, dass die politische Verantwortung für die weitere Entwicklung übernommen wird. Ich kann Ihnen versichern: Alle Mitglieder der Bundesregierung bis hin zu Bundespräsident Rau haben in allen Gesprächen mit Vertretern Südafrikas immer wieder gefordert, den Druck Südafrikas auf Simbabwe zu verstärken. Die Südafrikaner, die Malawier, die Lesother, alle SADC-Politiker haben immer wieder versichert, dass sie alles versucht hätten. ({4}) - Waren Sie dabei, Herr Ruck? Ich glaube, nicht. ({5}) Wir wissen zum Beispiel genau, dass Simbabwe jetzt an der Reihe gewesen wäre, die Vizepräsidentschaft bei der SADC zu übernehmen. Die SADC-Staaten haben genau dies verhindert. Mugabe ist nicht Vizepräsident geworden. Es sollte verhindert werden, dass im nächsten Zyklus dann Simbabwe die Präsidentschaft der SADC übernimmt. Genau das ist also nicht passiert. Das ist auf Druck der anderen Politiker des südlichen Afrika geschehen. Darüber sind wir auch froh. Die Bundesregierung hat von Anfang an mit Entschiedenheit gegen die systematische Zerstörung des Rechtsstaats in Simbabwe Stellung bezogen. Gerade wir waren es, die sich schon sehr früh für konsequente Sanktionen eingesetzt haben, und wir sind es, die jetzt innerhalb der Europäischen Union für eine Verlängerung der Geltungsdauer der Sanktionen eintreten. Darüber hinaus hat das BMZ - das wurde auch erwähnt - bereits im Jahre 2000 die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit, also die staatliche Entwicklungszusammenarbeit, in großen Teilen ausgesetzt und nach den letzten massiv manipulierten Wahlen im März 2002 vollständig eingestellt. Gleichzeitig haben wir die Zusammenarbeit auf nicht staatlicher Ebene intensiviert. Wir machen weiter mit HIV-/Aidsbekämpfung, Demokratieförderung und Krisenprävention. Was die Zusammenarbeit mit Ländern der Region angeht, so haben wir im Politikdialog mit Südafrika und mit anderen Regierungen des südlichen Afrikas darauf hingewirkt, dass die Verantwortung gegenüber dem Nachbarn wahrgenommen wird und der Druck auf das Regime in Simbabwe zunimmt. Darum werden wir uns auch in Zukunft konsequent bemühen. Wir müssen dabei aber berücksichtigen - dabei dürfen wir auch nicht ahistorisch sein -, dass viele Menschen im südlichen Afrika zu Zeiten der Apartheid bei Mugabe in Simbabwe Schutz und Unterstützung fanden und dass es dort historisch gewachsene Freundschaften und Loyalitäten gibt, die eine rigorose Isolationspolitik, wie wir sie uns vorstellen und wie sie international gefordert wird, sehr erschweren. ({6}) - Herr Hedrich, Ihre Regierung hätte ja schon sehr viel früher damit anfangen können, aber auch Mitglieder Ihrer Partei pflegten sehr gute Freundschaften zu Mitgliedern von Mugabes Regime. Sie erinnern sich: Wir waren gemeinsam in Simbabwe. Herr Mutambuka gehörte auch zu denen, die in der CDU gute Freunde hatten, und er war sicherlich kein Demokrat. ({7}) Bei aller Enttäuschung über die so genannte stille Diplomatie muss auch gesehen und verstanden werden, dass Südafrika nicht Verursacher der Krise ist und nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann. Wenn unsere Politik gegenüber den Nachbarstaaten Simbabwes nicht von Augenmaß und strategischem Weitblick geprägt ist, dann werden wir das Gegenteil von dem erreichen, was wir wollen und zu Recht erwarten. Lassen Sie mich noch kurz etwas zur Forderung der CDU/CSU im Zusammenhang mit NEPAD sagen. Mit NEPAD haben sich die afrikanischen Staaten zu grundlegenden wirtschaftlichen und politischen Reformen sowie zu global gültigen Werten, zu Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und verantwortlichem Regierungshandeln bekannt. Sie haben sich darüber hinaus zu ihrer kollektiven Verantwortung für die afrikanische Entwicklung, zur Verantwortung für die Entwicklungschancen der Zukunft, aber auch zu Fehlern der Vergangenheit und Gegenwart bekannt. Diese neue Entwicklungsstrategie NEPAD hat ihre Rolle als Vorreiter von Reformen schon mehrfach unter Beweis gestellt, ({8}) am deutlichsten bei der Gründung der Afrikanischen Union im Jahre 2002, ({9}) weil nämlich da das in der OAU verankerte Prinzip der Nichteinmischung radikal über Bord geworfen wurde. Die Afrikanische Union bekennt sich zu Demokratie, guter Regierungsführung und Menschenrechten in allen Mitgliedstaaten, was letztlich die Möglichkeit von Sanktionen aufgrund von Menschenrechtsverletzungen und gegen Diktatoren einschließt. Diesem Bekenntnis zu gemeinsamer Verantwortung entspricht die konkrete Bereitschaft von heute bereits zwölf afrikanischen Staaten, sich einem gegenseitigen Bewertungs- und Beurteilungsprozess zu unterwerfen. ({10}) Die Vorbereitungen dafür werden in Kürze abgeschlossen sein. Damit werden Demokratie, gute Regierungsführung, Marktwirtschaft und Menschenrechte erstmals zum Gegenstand eines förmlichen Dialogs zwischen afrikanischen Staaten. Das muss man anerkennen und genau dies unterstützen wir. Die gegenseitige Wertung wird einen umfassenden und nachhaltigen Prozess der politischen Transformation auf dem afrikanischen Kontinent auslösen. Falls dieser Prozess transparent und glaubwürdig durchgeführt wird, bietet er die Grundlage für eine Neuausrichtung unserer Entwicklungszusammenarbeit mit den Reformstaaten in Afrika. Vor diesem Hintergrund fordern wir von unseren afrikanischen Partnern selbstverständlich, dass sie die kollektive Verantwortung, der sie sich verschrieben haben, auch im Falle Simbabwes konsequent wahrnehmen. Um genau diese Forderung geht es, wenn über die Unterstützung von NEPAD durch die G-8-Staaten diskutiert wird. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Hedrich, Ihre Adresse an die Frau Staatssekretärin war nicht ganz parlamentarisch. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus-Jürgen Hedrich.

Klaus Jürgen Hedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000840, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich gebe zu, dass mein Zwischenruf nicht ganz parlamentarisch war. Ich nehme Ihren Hinweis zur Kenntnis. Ich bitte um Entschuldigung.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gut, entschuldigt und verziehen. ({0})

Klaus Jürgen Hedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000840, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich gelobe auch Besserung. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich erinnere daran, dass heute Morgen jemand von diesem Pult aus den politischen Gegner zunächst beschuldigt hat, ein Kriegstreiber zu sein. Dann hat er behauptet, der politische Gegner vernachlässige die Prinzipien seiner Politik. Lassen Sie uns solche Behauptungen einmal auf den hier diskutierten Fall transferieren! In der gestrigen Sitzung des Auswärtigen Ausschusses - er tagte nicht geheim - wurde darauf hingewiesen, dass die Europäische Union vor zwei Optionen steht: Die erste Option ist - Hans Martin Bury hat darauf hingewiesen -, dass der europäisch-afrikanische Gipfel in Lissabon - das ist der Wunsch der Bundesregierung 2002 nicht stattfindet. Wenn Mugabe dorthin kommt, schließen wir uns dem Wunsch der Bundesregierung an. ({0}) In derselben Sitzung hat der Vertreter des Auswärtigen Amtes erklärt - damit ist die zweite Option verbunden -, man sei aber dafür, dass Mugabe nach Paris, interessanterweise zum französisch-afrikanischen Gipfel, komme und dass man der Teilnahme Mugabes dort allein schon deshalb zustimmen wolle und müsse, weil Frankreich angedroht habe, der Verlängerung der Sanktionen nicht zuzustimmen, wenn Deutschland und die übrigen EU-Staaten darauf bestünden, das Mugabe nicht kommen dürfe. Ich halte eine solche Politik für unwürdig und der Europäischen Union nicht angemessen. ({1}) Ich kann die Bundesregierung, lieber Herr Bury - ich möchte mich aber auch an die Ministerin wenden -, deshalb nur auffordern: Wenn Sie möchten, dass Ihre Politik nur ein Fünkchen Konsistenz enthält, dann müssen Sie die Prinzipien, die Sie heute Morgen beschworen haben, nicht nur auf den Fall Saddam Hussein, sondern auch auf den Fall Mugabe und auf die Fälle anderer Diktatoren in gleicher Weise anwenden; sonst wird Ihre Politik unglaubwürdig und setzt sich zu Recht des Vorwurfs der Beliebigkeit aus. ({2}) Sie erwecken nämlich den Anschein, dass Ihnen Simbabwe im Augenblick nicht so wichtig ist. Die Bedeutung dieses Falles - da darf ich mich beim Kollegen Walter Riester ganz herzlich bedanken - ist aber sehr deutlich geworden. Ich wiederhole: Bleiben Sie in Ihrer Politik konsequent! Sie darf nicht, weil jetzt die Beantwortung irgendwelcher anderer Fragen im deutsch-französischen Verhältnis ansteht, auf dem Altar zweifelhafter Gemeinsamkeit geopfert werden. Wenn dieser Mann, Mugabe, die Chance bekäme, sich auf diesem Gipfel in Paris zu präsentieren, dann wäre das ein Schlag in die Gesichter aller Demokraten im südlichen Afrika. Deshalb darf ich die Bundesregierung bitten, dementsprechend zu handeln. ({3}) Im Übrigen habe ich mir sagen lassen - aber das ist eine Pikanterie -, dass sich die Zahl der Französisch sprechenden Bürger in Simbabwe auf 18 Personen beläuft, wobei der französische Botschafter eingeschlossen ist. Das ist aber mehr eine Sache von Chirac. Um diese Frage brauchen wir uns nicht so sehr zu kümmern. Die Parlamentarische Staatssekretärin hat auf NEPAD verwiesen. Ich teile ihre Einschätzung, dass NEPAD, eine in Afrika entstandene Initiative, positiv zu bewerten ist. Ich sage aber auch: Mugabe ist der Testfall. ({4}) - Nein, es gibt keine, aber Mugabe ist der Testfall. - Wie wollen eigentlich die Führer dieser Initiative, Obasanjo von Nigeria und Thabo Mbeki von Südafrika, uns Europäern und ihren eigenen Bürgern klar machen, dass sie für alle afrikanischen Staaten - das ist ja der Ansatz - Demokratie, Menschenrechte, Freiheit der Presse und der Meinungsäußerung einfordern, aber gleichzeitig einen um die Ecke herum herrschenden Diktator nicht darauf aufmerksam machen, diese umzusetzen. Mugabe wäre morgen oder, um es korrekter zu formulieren, übermorgen am Ende, wenn Thabo Mbeki den Daumen senken würde. Wir fordern Mbeki auf, den Daumen zu senken, damit dieses terroristische Regime endlich zusammenbricht. Das hat das Volk von Simbabwe verdient. ({5}) Daran muss man dann auch den einen oder anderen erinnern. Vielleicht hatten Sie Gelegenheit, mit Sam Nujoma, den ich nun seit fast 30 Jahren kenne, bei seinem letzten Besuch zu sprechen. Da haben wir ihn gefragt: Mr. President - er versteht sehr gut Deutsch -, was war eigentlich Ihre Überlegung, dass Sie Robert Mugabe zu seiner Wiederwahl gratuliert haben, bevor die Auszählung der Stimmen begonnen hatte? - Da hat Sam in der ihm eigenen Art formuliert: Ja, gab es denn einen Zweifel, dass er gewinnen könnte? Jeder weiß, dass, wenn es eine freie Wahl in Simbabwe gegeben hätte, der Oppositionsführer, den Sie vorhin zu Recht erwähnt haben, selbst bei den ungünstigsten Prognosen mit einem Ergebnis von 80 Prozent das Rennen gemacht hätte. In einer solchen Situation müssen wir von den Nachbarn einfordern, nicht nur im eigenen Lande - Namibia ist ja Gott sei Dank nach wie vor ein viel versprechendes Beispiel in der Region - demokratischen Prinzipien und Menschenrechten zur Anwendung zu verhelfen. Die Glaubwürdigkeit, liebe Frau Staatssekretärin, von NEPAD misst sich auch daran, welche Stellung die afrikanischen Führer zu den konkreten Beispielen der Verletzung von Menschenrechten in anderen Staaten beziehen. Bis heute müssen wir leider feststellen, dass die afrikanischen Führer es nicht geschafft haben, hier eine eindeutige Position zu beziehen. Damit diskreditiert sich auch der Prozess von NEPAD. Wenn diesem Prozess Glaubwürdigkeit zukommen soll, dann müssen wir darauf bestehen, dass Mugabe abgelöst wird; denn er ist ein Hindernis für ein solides Verhältnis zwischen Europa und Afrika und ein Schänder der Menschenrechte in Afrika. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Brigitte Wimmer.

Brigitte Wimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003265, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich zähle jetzt nicht mehr die zu Recht von allen Seiten gekommenen Beschreibungen auf, mit denen die Lage in Simbabwe skizziert wurde. Für mich hat das mit am prägnantesten und deutlichsten unsere Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul schon im August drastisch und eindeutig in einer Pressemitteilung formuliert - ich zitiere -: Den Spitzenplatz der Verantwortungslosigkeit nimmt die verbrecherische Clique des Diktators Mugabe in Brigitte Wimmer ({0}) Simbabwe ein… Für die akute Hungersnot in Simbabwe sei die Regierung durch ihre Misswirtschaft und menschenverachtende Willkür mit verantwortlich. Es besteht überhaupt kein Zweifel, dass die Regierung das so sieht. Ich möchte aber noch einmal zwei Aspekte aufgreifen: Ich finde es unerträglich, dass nach übereinstimmenden Aussagen durch systematische Behinderung der Verteilung von Nahrungsmitteln an bestimmte bedürftige Bevölkerungsgruppen versucht wird, die Opposition buchstäblich auszuhungern, indem man ihre Mitglieder verhungern lässt. Diese Aussagen sind ernst. Sie wurden von glaubwürdigen Zeuginnen und Zeugen gemacht und sind übereinstimmend. Deswegen muss unsere erste und wichtigste Forderung sein: Die Regierung in Simbabwe muss der ungehinderten Verteilung von Nothilfe durch unabhängige nationale und internationale Hilfsorganisationen nicht nur zustimmen, sondern sie auch gewährleisten und sicherstellen. Wir können nicht zulassen, dass mit Nahrungsmitteln gnadenlos Politik gemacht wird. ({1}) Die Bundesregierung leistet zu Recht alles ihr Mögliche, um die Nichtregierungsorganisationen bei ihrer humanitären Arbeit zu unterstützen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie die Berichte sehen und hören. Man kann es fast nicht glauben. Ich denke, unsere Regierung macht an diesem Punkt die richtige Politik, indem sie mit aller Energie versucht, die Hilfe an die Menschen zu bringen, ohne das Regime zu unterstützen. Das Zweite ist: Ich stimme absolut der klaren Position von Staatsminister Bury zu, dass es darum geht, Simbabwe bei den Vereinten Nationen zu einem Thema zu machen. Ich finde die Initiative gut. Wir sollten auch die Bemühungen der Länder unterstützen, die Lage in Simbabwe bei der Tagung der Menschenrechtskonvention, die im März in Genf beginnt, auf die Tagesordnung zu setzen. Es ist wichtig, dass in diesem Rahmen darauf hingewiesen wird, welche schrecklichen Menschenrechtsverletzungen es in Simbabwe gibt. Wir tun das - da wende ich mich an die CDU/CSU aus Sorge um die Entwicklung im südlichen Afrika. Deswegen ist der Appell an die südafrikanischen Staaten richtig. Aber wir sollten das nicht vom hohen Ross und aus einer weißen Sicht tun, sondern aus einer Position der Gleichberechtigung heraus. Staatssekretärin Eid hat darauf hingewiesen, dass der Menschenrechtsschutz bei der Gründung der Afrikanischen Union im Sommer 2002 in den Prinzipienkatalog aufgenommen worden ist. Daraus erwächst den afrikanischen Staaten eine Verantwortung. Selbstverständlich muss man an diese Verantwortung appellieren. Dabei hat Südafrika eine ganz wichtige Rolle, aber nicht allein. ({2}) Es hat überhaupt keinen Sinn, sich hier vom hohen Ross gegen NEPAD, gegen Südafrika zu wenden, sondern man muss sich auf gleicher Augenhöhe und gleichberechtigt treffen. Die EU und die afrikanischen Staaten müssen gemeinsam dazu beitragen, die Situation in Simbabwe zu verändern. ({3}) Wir müssen gemeinsam dazu beitragen, den Menschen in Simbabwe zu helfen, und zwar ohne Überheblichkeit, sondern mit aller Kraft und aller Leidenschaft. Wir müssen unsere Regierung auf dem schwierigen, aber richtigen Weg unterstützen. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jüttner.

Dr. Egon Jüttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001036, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um politisch zu überleben - ich will das noch einmal unterstreichen und daran erinnern -, schürte Präsident Mugabe bereits vor den Präsidentschaftswahlen vor einem Jahr den Hass gegen die weißen Großfarmer. Mithilfe so genannter Kriegsveteranen organisierte er deren Vertreibung, verbunden mit Mord und Folter, mit der Folge, dass die Landwirtschaft, einst das Rückgrat des Landes - das wurde bereits betont -, inzwischen völlig zusammengebrochen und die Hälfte der Bevölkerung vom Hungertod bedroht ist. Die dringend erforderlich gewordene Nahrungsmittelhilfe der Vereinten Nationen wird von Mugabe als politische Waffe missbraucht. In den städtischen Regionen werden Lebensmittel nach Parteizugehörigkeit verteilt. In ländlichen Gebieten, in denen überwiegend die Opposition gewählt wurde, wird die Nahrungsmittelhilfe selten oder gar nicht verteilt. Es ist deshalb unbegreiflich, dass die für das Welternährungsprogramm Verantwortlichen daraus trotz ursprünglicher und mehrfacher Ankündigungen bis jetzt keinerlei Konsequenzen gezogen haben. ({0}) - Das stimmt. Die Menschenrechtslage hat sich in Simbabwe drastisch verschlechtert. Von Rechtsstaatlichkeit kann inzwischen keine Rede mehr sein. Horden so genannter Kriegsveteranen machen auf Geheiß Mugabes nicht nur Jagd auf die noch verbliebenen Weißen, sondern bedrohen, foltern und ermorden auch - und das vor allem - Schwarze, die sie für politische Gegner Mugabes halten. Es wurde mehrfach darauf hingewiesen: Bis zu 1 Million Menschen, meist schwarze Farmarbeiter und ihre Familien, sind deshalb auf der Flucht vor diesen Kriegsveteranen. Schlägertrupps und Milizen sorgen zudem für eine brutale Unterdrückung der Opposition. Dies reicht von Einschüchterungen und Misshandlungen bis hin zu politisch motivierten Morden. Oppositionsführer Tsvangirai ist mittels einer dubiosen Beweislage - das hat Herr Riester bereits dargestellt - des Hochverrats angeklagt. Ihm droht die Todesstrafe. Menschenrechtsorganisationen, die Menschenrechtsverletzungen im Lande dokumentieren und Folteropfern medizinische und psychologische Hilfe anbieten, werden mit Polizeiaktionen überzogen. Ihren führenden Mitgliedern wird mit Verhaftung und Folter gedroht. BBC berichtete vor wenigen Tagen sogar von geheimen Folterkammern in der Hauptstadt Harare. Das Schlimme ist: Menschenrechtsverstöße werden nicht geahndet und entsprechend ungestraft fortgesetzt, weil Gerichtsurteile ignoriert und Gesetze selektiv angewandt werden. Oppositionellen wird der Schutz des Staates verweigert. Medien- und Pressefreiheit ist längst nicht mehr gewährleistet. Unabhängige Medien im Lande werden schikaniert und Journalisten bei ihrer Arbeit behindert, eingeschüchtert und teilweise festgenommen. Diese fortdauernden, massiven Menschenrechtsverletzungen kann die zivilisierte Welt nicht länger hinnehmen. ({1}) Auch wenn die bestehenden Sanktionen, wie zum Beispiel Reisebeschränkungen und Kontosperren in Bezug auf die Mitglieder der Staats- und Parteiführung, in ihrer Wirkung begrenzt sind, so müssen sie dennoch auf weitere Gefolgsleute Mugabes, so meine ich, ausgedehnt werden. Vor allem müssen die von der EU verhängten Sanktionen schnellstens verlängert werden. Es ist unerträglich, dass der dringend erforderliche Beschluss über die Fortsetzung der Sanktionen noch immer aussteht. Hier ist der deutsche Außenminister gefordert, alles daranzusetzen, dass die Europäische Union mit einer Zunge spricht. Insbesondere Frankreich, das Mugabe nach Paris eingeladen hat, muss deutlich gemacht werden, dass Europa geschlossen handeln muss. ({2}) Bei der Schwere der Menschenrechtsverletzungen, ja bei einem sich möglicherweise anbahnenden Genozid müssen nationale Interessen einzelner Länder zurückgestellt werden. Außerdem muss die Bundesregierung ihr ganzes politisches Gewicht dafür einsetzen, dass sich die Europäische Union auf der nächsten Menschenrechtskonferenz in Genf auf eine gemeinsame Position zu Simbabwe verständigt. ({3}) Es muss sichergestellt werden, dass auf der 59. Sitzung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen der im vergangenen Jahr von afrikanischen Staaten zu Fall gebrachte Resolutionsentwurf zur Menschenrechtssituation in Simbabwe erneut unverändert eingebracht und auch beschlossen wird. Die Menschenrechtsverletzungen in Simbabwe müssen durch die Vereinten Nationen verurteilt und ein Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen muss eingesetzt werden. ({4}) Wichtig ist außerdem, dass die Opposition im Lande von außen unterstützt und damit auch der innere Widerstand gegen das Regime gestärkt wird. Außerdem muss alles unternommen werden, damit sich auch Südafrika - das wurde hier wiederholt dargelegt - endlich seiner Verantwortung gegenüber dem Nachbarland Simbabwe bewusst wird. Meine Damen und Herren, nur durch massiven internationalen Druck auf Mugawe besteht die Chance, dass seine menschenverachtende Politik beendet und somit eine noch größere Katastrophe verhindert wird. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Erklärung zur Aussprache erhält nun die Staatssekretärin noch einmal das Wort.

Ursula Eid-Simon (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000454

Frau Präsidentin! Ich möchte eines klarstellen: Afrika ist ein großer Kontinent mit über 50 Ländern. Wir, die Bundesregierung und Europa, können es uns nicht leisten, den Dialog mit einem ganzen Kontinent wegen eines einzigen Landes zu gefährden. Das wäre strategisch falsch. Es wäre falsch in unserem Interesse. Und es wäre falsch aus historischen Gründen. Deswegen, glaube ich, ist es auch falsch, Herr Hedrich, zu sagen: Simbabwe ist der Testfall für NEPAD. Wir müssen im Rahmen der neuen afrikanischen Entwicklungsstrategie den Dialog zwischen Europa und Afrika weiterführen; denn sonst machen wir uns unglaubwürdig, wenn die Frage gestellt wird: Warum nicht der Sudan, warum nicht die Elfenbeinküste, warum nicht Angola, warum ausgerechnet Simbabwe? Wir müssen anerkennen, dass NEPAD bereits sehr positive Erfolge hatte. Dass Südafrika einen Frieden zwischen der demokratischen Republik und Ruanda vermittelt hat, ist ein Erfolg. Aufgrund dieser Erfolge können wir den Dialog mit NEPAD jetzt nicht nur wegen eines Landes wie Simbabwe abbrechen, wie Sie es insinuiert haben. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das war jetzt eine gewisse Schwierigkeit, denn ich darf eigentlich nicht die Debatte verlängern. Ich glaube, es ist fair, wenn ich Herrn Hedrich darauf antworten lasse. ({0}) Ich habe gedacht, dass sich „Erklärung zur Aussprache“ auf etwas Frau Eid Betreffendes bezieht. Jetzt hat sie sich aber auf die ganze Aussprache bezogen. Daher gebe ich Ihnen die Möglichkeit zur Antwort; ich glaube, das ist fair.

Klaus Jürgen Hedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000840, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin! Ich bin auch sofort fertig. - Frau Staatssekretärin, damit kein Missverständnis aufkommt: Sie wissen, dass ich aufgrund der Erfahrungen mit anderen Initiativen, die wir aus Afrika kennen, eine grundsätzliche Skepsis gegenüber NEPAD habe. ({0}) Wenn die Afrikaner NEPAD als eigene Initiative definieren, dann müssen sie sich gefallen lassen - wie auch wir -, an ihren eigenen Forderungen und Prinzipien gemessen zu werden. Wir können nur feststellen: In dem Fall Simbabwe versagt NEPAD. Das ist mein Punkt, nicht mehr und nicht weniger. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich glaube, damit haben wir beiderseits die Standpunkte geklärt. Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/353, 15/428 und 15/429 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 9 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des gesellschaftsrechtlichen Spruchverfahrens ({0}) - Drucksache 15/371 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Es wird gebeten, die Reden der Abgeordneten Brinkmann, Gehb, Ströbele, Funke und Hartenbach zu Protokoll geben zu dürfen. Damit sind Sie, denke ich, einverstanden? - Dann verfahren wir auch so. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/371 an den Rechtsausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. Februar, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen einen schönen Restabend.