Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie den Zusatzpunkt 6 auf:
13. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung von Fristen und Bezeichnungen im
Neunten Buch Sozialgesetzbuch und zur Änderung anderer Gesetze
- Drucksache 15/124 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1})
- Drucksache 15/317 Berichterstattung:
Abgeordnete Silvia Schmidt ({2})
ZP 6 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Dienst des Bundes
- Drucksache 15/227 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Helga Kühn-Mengel, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Behindertenpolitik konnten in den letzten vier
Jahren große Erfolge erzielt werden. Rot-Grün hat unter
der Federführung unseres Behindertenbeauftragten Karl
Hermann Haack gemeinsam mit den Menschen mit Behinderungen und den Behindertenverbänden viel auf den
Weg gebracht. Mit unserer Behindertenpolitik übernimmt
Deutschland in Europa eine Vorreiterrolle und setzt auch
international wichtige Maßstäbe.
({0})
Der Deutsche Behindertenrat hat beschlossen, der
Bundesrepublik zu empfehlen, sich um den Franklin D.
Roosevelt International Disability Award, einen Preis für
bedeutende Fortschritte auf dem Gebiet der Behindertenpolitik, zu bewerben. Diese Anerkennung motiviert uns.
Die Behindertenpolitik wird auch in der 15. Legislaturperiode ein Schwerpunktthema für Rot-Grün und die Ministerin sein.
Im Übrigen weise ich darauf hin, dass die Behindertenpolitik kein Minderheitenthema ist: Rund 37 Millionen
Europäer, davon 8 Millionen in Deutschland, sind Menschen mit Behinderungen. Das Thema geht uns alle an,
weil Barrieren nicht allein den Lebensraum und den Alltag behinderter Menschen einschränken, sondern auch
Hindernisse für ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger sowie für Familien mit Kindern sind.
Mit den größten gesetzgeberischen Reformen seit den
70er-Jahren hat die Bundesregierung Maßstäbe gesetzt.
Wir haben die Lebenswelt behinderter Menschen wesentlich verbessert. Dabei gibt es einen roten Faden: weg von
der staatlichen Fürsorge hin zu einem Recht auf Selbstbestimmung, zu einem Recht von Bürgerinnen und Bürgern
auf Teilhabe.
({1})
Wichtige Tragpfeiler sind dabei das Sozialgesetzbuch IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen -, in Kraft getreten am 1. Juli 2001, und das Gesetz
zur Gleichstellung behinderter Menschen, in Kraft getreten am 1. Mai 2002. Den Anfang unserer erfolgreichen Behindertenpolitik markiert natürlich - nicht ohne Grund das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
Schwerbehinderter vom Oktober 2000. Erwerbsarbeit
ist nun einmal für Menschen mit Behinderungen, aber
auch für alle ein zentrales Anliegen, auch für die Verbände, Organisationen, Gewerkschaften, der Arbeitgeber
und eben auch für uns.
Das war nicht immer so. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, im Ausschuss haben Sie nach
den Zahlen gefragt. Ich will sie Ihnen vorstellen: Lassen
Sie uns zuerst einen Blick auf Ihre Regierungszeit werfen.
In der Zeit von 1990 bis 1998 nahm die Zahl der beschäftigten Schwerbehinderten von 959 435 auf 739 993 ab,
also um 219 442. Die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten stieg von 126 671 auf 188 449. Das sind allein in
diesem Zeitraum 61 778 Arbeitslose mehr. Die Zahl der
nicht besetzten Pflichtplätze stieg in diesem Zeitraum von
433 369 auf 525 569. Aber Sie haben nichts unternommen.
Diesem Negativtrend haben wir mit unserer Offensive
ein Ende gesetzt. Das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter und die Kampagne
„50 000 Jobs für Schwerbehinderte“ sind ein großartiger
Erfolg.
({2})
Die Zahl der erwerbslosen schwerbehinderten Menschen
konnte von 189 766 im Oktober 1999 auf nunmehr
144 292 im Oktober 2002 gesenkt werden. 45 474 arbeitslose Schwerbehinderte weniger: Dieser Rückgang
um rund 24 Prozent innerhalb von drei Jahren ist ein
großartiger Erfolg.
({3})
Die spezifische Arbeitslosenquote schwerbehinderter
Menschen wurde danach wie folgt verringert: Die Arbeitslosenquote betrug im Oktober 1999 17,7 Prozent und
im Oktober 2002 nur noch 14,2 Prozent. Hervorheben
möchte ich, dass sich diese Ergebnisse deutlich vom allgemeinen Trend des Arbeitsmarktes abheben und vor dem
Hintergrund einer konjunkturellen Schwäche besonders
positiv zu bewerten sind. Um die Zahl der arbeitslosen
schwerbehinderten Menschen zu reduzieren, waren allein
über 150 000 Vermittlungen während der Kampagnezeit
erforderlich. Diese Zahl verdeutlicht auch, welcher Kraftakt hier nötig war.
Zusätzlich flankiert wurden die Bemühungen durch die
neuen Grundlagen für offensive Arbeitsvermittlungsstrategien wie das Job-AQTIV-Gesetz, JUMP und die Reformen der Bundesanstalt für Arbeit. Wir waren so besonders
erfolgreich, weil alle Beteiligten - die Arbeitgeber, die
Gewerkschaften, die Behindertenverbände und die öffentliche Verwaltung - an einem Strang gezogen haben.
Diese Kooperation war vorbildlich und ihr gebührt hohe
Anerkennung. Wir werden sie gerade auch mit Blick auf
die jetzt einsetzende Neuordnung auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt fortsetzen.
Wir werden trotz enger werdender finanzieller Spielräume Möglichkeiten suchen und finden, um die Situation
der Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Ich
denke, wir haben gezeigt, dass wir das wollen und auch
können.
({4})
Die wesentlichen Instrumente des 2001 in das SGB IX
eingegliederten Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter sind bekannt: die Stärkung der
Rechte der Schwerbehinderten und der Schwerbehindertenvertretungen, der Ausbau der betrieblichen Prävention
und die Schaffung eines Anspruchs auf Übernahme der
Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz, Auf- und
Ausbau eines flächendeckenden Netzes von Integrationsfachdiensten und natürlich auch die Neugestaltung des
Systems der Beschäftigungspflicht und der Ausgleichsabgabe. Damit haben wir dafür gesorgt, dass sich die Einstellung schwerbehinderter Menschen nicht nur unter sozialen Gesichtspunkten lohnt, sondern sich auch für
Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen rechnet.
Damit die Arbeitgeber auch weiterhin motiviert sind,
wollen wir die Anhebung der Beschäftigungspflichtquote um 5 auf 6 Prozent um ein Jahr auf den 1. Januar
2004 verschieben. Das geschieht vor dem Hintergrund,
dass die anvisierte Senkung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter im Prinzip erreicht wurde. Leider wurde die
Latte von 25 Prozent am Ende um 1 Prozentpunkt knapp
gerissen. Nach geltender Rechtslage müsste infolgedessen
die Pflichtquote auf 6 Prozent angehoben werden. Dies
hatten wir beschlossen, um die Arbeitgeber zu motivieren.
Um aber den erfolgreich in Gang gesetzten Reformprozess nicht empfindlich zu stören, wird die Anhebung
im heute hier vorliegenden Gesetzentwurf um ein Jahr
ausgesetzt. Das gibt uns Zeit, mit allen Beteiligten weiterhin Zielvorgaben und Konzepte zum weiteren Abbau
der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen zu entwickeln. Wir arbeiten bereits daran und sind sehr motiviert.
Die Erfolgsstory zeigt: Wir können nur erfolgreich
sein, wenn alle Beteiligten partnerschaftlich, sozusagen
auf gleicher Augenhöhe, mithelfen.
Vorbildlich hat sich hier auch der Bund als Arbeitgeber
im Jahre 2001 gezeigt. Der Anteil der im öffentlichen
Dienst beim Bund beschäftigten Schwerbehinderten lag
2001 bei 6,4 Prozent. Das geht aus dem nun vorliegenden
Bericht der Bundesregierung über die Beschäftigungssituation schwerbehinderter Menschen hervor.Damit sind
2 421 Schwerbehinderte mehr beim Bund angestellt als
gesetzlich vorgeschrieben.
Mit diesen guten Ergebnissen unserer Behindertenpolitik können wir selbstbewusst in das Europäische Jahr der
Menschen mit Behinderung 2003 gehen. Wir verstehen
dieses Jahr auch als Verpflichtung. Rot-Grün wird mit der
Ministerin und dem Beauftragten der Bundesregierung
für die Belange behinderter Menschen daran arbeiten und
hier Fortschritte erzielen.
Wir haben das SGB IX und das Gleichstellungsgesetz
bewusst als Haus gebaut, das alle Bewohnerinnen und Be1560
wohner ausbauen können, damit es den Bedürfnissen der
Menschen optimal gerecht wird.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Hubert Hüppe, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
jetzt von Frau Kühn-Mengel sehr viel zu allgemeinen
Themen, aber auch einige Zahlen gehört. Ich denke, man
muss an dieser Rede einiges zurechtrücken.
Wenn wir heute über die Integration von Schwerbehinderten auf dem Arbeitsmarkt sprechen, dann werden auch
Sie erkennen, dass die katastrophale Wirtschafts- und Arbeitspolitik der Bundesregierung natürlich auch für Menschen mit Behinderung - vielleicht sogar besonders für
sie - nicht ohne Folgen bleibt.
({0})
Das zeigt, dass Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik keine
Gegensätze sind, sondern einander bedingen. Ohne wirtschaftlichen Aufschwung, ohne mehr Beschäftigung wird
es immer schwieriger, gerade Schwerbehinderte in das
Arbeitsleben zu integrieren. Geht ein Betrieb Pleite - das
kam letztes Jahr viel zu oft vor -, verliert eben nicht nur
der Nichtbehinderte, sondern gleichermaßen auch der Behinderte seinen Arbeitsplatz.
Dies zeigen vor allem die neuesten Zahlen der Bundesanstalt fürArbeit für den Monat Dezember 2002. Die
Arbeitslosigkeit insgesamt hat sich im Dezember gegenüber dem Vormonat von 9,7 Prozent auf 10,1 Prozent erhöht. Der Anstieg der Arbeitslosenquote bei den Schwerbehinderten war noch dramatischer: Hier hat sich die
Quote von 14,6 Prozent im November auf 15,3 Prozent im
Dezember erhöht. Damit beträgt sie 150 Prozent der Arbeitslosenquote bei den Nichtbehinderten. Frau KühnMengel, deswegen kann ich überhaupt nicht verstehen,
dass Sie sich jetzt auf den so genannten Erfolgen ausruhen. Vielmehr müssen wir alle uns hier in sämtlichen
Bereichen anstrengen - für alle Menschen, denen Arbeitslosigkeit droht, vor allen Dingen aber für die Schwerbehinderten.
Meine Damen und Herren, wir alle wissen, wie schwierig es ist, in den jetztigen Zeiten die Integration Schwerbehinderter in die Berufswelt durchzusetzen. Sie wissen,
dass wir, wenn wir hier im Bundestag über die Integration
von Menschen mit Behinderungen geredet haben, über
die Fraktionsgrenzen hinweg gemeinsame politische Entscheidungen getroffen haben, weil wir uns grundsätzlich
im Ziel kaum unterscheiden. Sie haben eben zwei Beispiele genannt: das SGB IX und das Gleichstellungsgesetz. Zu beiden haben wir Ja gesagt, weil wir die dortigen
Maßnahmen für vernünftig halten. Ich finde es gut, dass
man hier über die Fraktionsgrenzen hinweg zusammenarbeiten kann und vor Augen hat, dass es um Menschen
geht, denen wir nicht nur im Beruf, sondern allgemein
Chancengleichheit eröffnen wollen.
({1})
Meine Damen und Herren, auch heute werden wir dem
Vorschlag der Regierungsparteien zustimmen, die Erhöhung der Pflichtquote zur Beschäftigung Schwerbehinderter von 5 auf 6 Prozent, die eigentlich - auch das muss
man sagen - schon am 1. Januar 2003 hätte erfolgen müssen, auf das Jahr 2004 zu verschieben. Wir tun dies, weil
wir wissen, dass eine Ablehnung keinen zusätzlichen Arbeitsplatz für Schwerbehinderte schaffen würde.
Die CDU/CSU-Fraktion wird weiterhin alles daran setzen, die Bereitschaft von Arbeitgebern, Arbeitsplätze mit
Schwerbehinderten zu besetzen, zu wecken und zu fördern. Genauso wichtig - auch darauf möchte ich ein Augenmerk legen - ist darüber hinaus, die Arbeitsplätze von
Schwerbehinderten zu erhalten und zu stabilisieren.
Wir wollen ferner - darüber wird kaum gesprochen -,
dass Schwerbehinderte sich selbstständig machen oder
ihre Selbstständigkeit erhalten können. Das gilt insbesondere für Selbstständige, bei denen die Schwerbehinderung
erst später eintritt. Es ist natürlich ein ganz wichtiger
Punkt, dass wir es Schwerbehinderten ermöglichen, selbst
als Arbeitgeber auf dem Markt tätig zu sein. Hier gibt es
sehr viele Beispiele dafür, dass wir noch einiges mehr machen könnten.
An dieser Stelle möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die in diesem Bereich mithelfen: beim Handwerk, bei den Arbeitgeberverbänden, den Behindertenverbänden, den Gewerkschaften und vor allem bei den
Mitarbeitern vor Ort in den verschiedenen beteiligten
Behörden.
Trotzdem teile ich nicht die Euphorie des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Herrn Haack. Ich hoffe, er ist inzwischen anwesend. - Nein, ich sehe ihn nicht. Das kann ich
nicht ganz verstehen. - Herr Haack hat in einer Presseerklärung vom 7. November 2002 erklärt, beim Rückgang
der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen sei ein
„großartiger Erfolg“ zu verzeichnen.
Tatsache ist: Das selbst gesteckte Ziel der Bundesregierung, die Zahl arbeitsloser Schwerbehinderter von
Oktober 1999 bis zum Oktober 2002 um mindestens
25 Prozent zu senken, ist nicht erreicht worden. Dies ist
auch der Grund dafür, dass das Gesetz, das Rot-Grün
beschlossen hat, heute wieder korrigiert werden muss.
Wir werden im Übrigen in diesem Jahr noch einmal über
diese Änderung sprechen müssen, da ansonsten am 1. Januar 2004 automatisch die Pflichtquote erhöht werden
muss. Denn eigentlich sollte es ja im Oktober 2002
25 Prozent weniger arbeitslose Schwerbehinderte geben.
Da es hier keine Änderung gab, ist diese Zahl weiterhin
festgeschrieben. Das würde eine Erhöhung der Pflichtquote ab dem 1. Januar 2004 bedeuten.
Nun werden Sie sagen - das haben Sie soeben auch
getan; im Ausschuss wurde ähnlich argumentiert -: Jetzt
seid mal nicht so kleinlich. Immerhin gibt es einen Rückgang um 23,9 Prozent. - Allerdings sieht die Situation ganz
anders aus, wenn man sich anschaut, wie es zu diesem
Rückgang gekommen ist, der in Wahrheit gar keiner ist
bzw. nur in geringem Maße erfolgt ist. Die Arbeitslosenzahl
ist eben nicht deswegen um 23,9 Prozent gesunken, weil
mehr Schwerbehinderte einen Arbeitsplatz auf dem ersten
Arbeitsmarkt gefunden haben, sondern deswegen, weil
mehr Schwerbehinderte aus Altersgründen aus der Statistik herausgefallen sind.
({2})
Wer sich die aktuelle Alterseinteilung bei den schwerbehinderten Arbeitslosen anschaut, kann feststellen, dass
über vier Fünftel der Abgänge im Vergleich zu 1999 aus
der Altersgruppe der 55-Jährigen und Älteren stammen.
Bei den jüngeren schwerbehinderten Arbeitslosen unter 55 Jahren war nirgendwo ein Rückgang von über
20 Prozent zu verzeichnen. Bei der Gruppe der unter
25-jährigen Schwerbehinderten - hören Sie bitte zu! müssen wir sogar einen Anstieg der Arbeitslosigkeit feststellen.
Ich hoffe, dass heute niemand behaupten will, die
annähernde Halbierung der Zahl der schwerbehinderten
Arbeitslosen im Alter von 55 und höher innerhalb von drei
Jahren sei in erster Linie auf einen erheblichen Anstieg
der Beschäftigung in dieser Altersgruppe zurückzuführen.
Das nimmt Ihnen keiner ab. Der Hauptgrund für diese
Entwicklung ist die Frühverrentung.
Auch das Bundesministerium hat nun deutlich gemacht, dass es in den letzten Jahren stetig weniger arbeitslose Schwerbehinderte gab - das ist richtig -, dass allerdings die Zahl der Abgänge in die Beschäftigung jedes
Jahr geringer wurde. Das heißt, es sind zwar mehr
Schwerbehinderte aus dem Erwerbsleben ausgeschieden;
aber immer weniger schwerbehinderte Menschen haben
tatsächlich Arbeit gefunden.
Besondere Anstrengungen werden nötig sein, wenn wir
den jüngeren schwerbehinderten Arbeitslosen zu einem
Arbeitsplatz verhelfen wollen. Herr Haack hat in der Debatte zur Verabschiedung des Gesetzes zur Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter am 7. Juli 2000
mit dem JUMP-Programm der Bundesregierung geprahlt, mit dem Hunderttausende von jungen Arbeitslosen
in Arbeit gebracht werden sollten. Wir haben dieses Programm schon damals als milliardenschweres Strohfeuer
kritisiert. Heute zeigt sich, dass dieses Programm gescheitert ist und an den schwerbehinderten jungen Menschen offensichtlich völlig vorbeigegangen ist. Was die
Arbeitslosen - behinderte wie nicht behinderte - jetzt brauchen, ist eine nachhaltige Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, die auf Dauer Arbeitsplätze schafft und sichert.
Nun noch ein paar Worte zur Unterrichtung der Bundesregierung über die Beschäftigung schwerbehinderter
Menschen im öffentlichen Dienst des Bundes. Natürlich
hat der öffentliche Dienst - da stimmen wir mit dem Bericht überein - Vorbildfunktion. Ich finde es gut, dass
beim Bund die Pflichtquote erfüllt wird;
({3})
darauf wurde soeben hingewiesen. Verschwiegen wurde
aber - auch das müssen wir hier feststellen -, dass bei den
Arbeitsplätzen des Bundes sowohl die Zahl als auch die
Beschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen zurückgegangen ist. Sie ist eben nicht gestiegen. Damit kann
man sich doch nicht zufrieden geben! Wenn man auf der
einen Seite sagt, dass man mehr Arbeitsplätze schaffen
möchte, und zwar vor allen Dingen im öffentlichen Dienst
beim Bund, dann kann man sich doch auf der anderen Seite
nicht damit zufrieden geben, dass die Quote sinkt, auch
wenn die Beschäftigtenzahl insgesamt zurückgegangen
ist. Damit, meine Damen und Herren, können wir nicht zufrieden sein. Diesen Trend müssen wir wieder umkehren.
({4})
Besonders bedrückend ist, dass in dem Bericht erwähnt
wird, dass bei den Beschäftigten des Deutschen Bundestags die Zahl der Schwerbehinderten zurückgegangen
ist und wir nur noch eine Quote von 4,9 Prozent erreichen.
Natürlich weiß ich, dass es unter anderem auch durch den
Umzug nach Berlin Probleme gab. Aber diese gab es auch
bei anderen Behörden und Arbeitgebern. Wenn wir aber
von anderen etwas verlangen, müssen wir selber Vorbild
sein. Das gilt insbesondere für dieses Haus, aber auch für
den öffentlichen Dienst insgesamt. Wir alle sollten daran
mitarbeiten, dass sich diese Zahl wieder erhöht.
({5})
Meine Damen und Herren, die Regierungsparteien haben in ihrem Gesetzentwurf und auch in ihrer Koalitionsvereinbarung angekündigt, weitere Konzepte zur Verringerung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter zu
erarbeiten und hier im Hause zu beschließen. Bisher habe
ich diese Konzepte allerdings vermisst. Ich habe auch
noch keinen entsprechenden Ansatz festgestellt. Ich
meine, wir können nicht so lange warten, bis der Bericht,
der ja nach § 160 SGB IX bis zum 30. Juni dieses Jahres
zu erstellen ist, vorgelegt wird. Wir müssen jetzt handeln
und dafür sorgen, dass die Menschen - Behinderte wie
Nichtbehinderte - wieder in Arbeit kommen. Die Union
ist bereit, daran mitzuarbeiten, wie wir das auch bei anderen Gesetzesvorhaben gemacht haben. Es geht uns um die
gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen auch am Arbeitsleben, aber nicht nur dort. Hier
wäre jedes parteipolitische Kalkül völlig fehl am Platze.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile dem Kollegen Markus Kurth, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss
mich schon etwas darüber wundern, dass Herr Hüppe hier
in dieser Art und Weise und so selektiv die Zahlen eines
Bremer Instituts zitiert. Sie haben das auch schon im Ausschuss getan und ich habe Ihnen dort entgegnet. Ich hätte
nicht gedacht, dass Sie hier noch einmal so einseitig behaupten würden, der Hauptgrund für die derzeitige Be1562
schäftigungssituation schwerbehinderter Menschen sei
die Frühverrentung, und dass Sie die Erfolge, die wir hier
erreicht haben, kleinreden würden.
({0})
Sie hätten nämlich, wenn Sie die Zahlen vollständig zitiert hätten, auch sagen müssen, dass wir die Arbeitslosigkeit in der Altersgruppe der 25- bis 35-Jährigen sowohl
bei den Männern als auch - das erfreut mich insbesondere bei den Frauen um jeweils zweistellige Raten reduziert
haben. Natürlich haben wir das ehrgeizige 25-ProzentZiel nicht vollständig erreicht. Aber es ist schon ein ganz
bemerkenswerter Erfolg, dass wir es geschafft haben, diesem ehrgeizigen Ziel so nahe zu kommen.
({1})
Insgesamt aber freue ich mich, dass wir in diesem
Hause eine recht konstruktive Debatte über die berufliche Eingliederung Schwerbehinderter führen. Auch
bin ich erfreut darüber, dass wir diese Änderung des Sozialgesetzbuches IX im Ausschuss mit den Stimmen aller
Fraktionen beschließen konnten.
Für bemerkenswert halte ich allerdings nicht nur das
Verfahren und den sachlichen Erfolg. Bereits bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfes habe ich auf die Wirksamkeit der kooperativ ausgerichteten Steuerungsinstrumente in
diesem Politikbereich hingewiesen und festgestellt, dass
hier eine durchaus beispielhafte Philosophie gesetzgeberischen Handelns zum Tragen kommt, die auch bei der Reform der sozialen Sicherungssysteme lohnend sein kann.
Warum? Die Offensive für 50 000 neue Jobs für
Schwerbehinderte hat gezeigt, dass man nicht allein mit
monetären Anreizen effektive Politik betreiben kann.
Denn die bis zum Jahr 2000 übliche Praxis einer stetigen
Anhebung der Ausgleichsabgabe, um die Arbeitgeber allein über finanziellen Druck zu zwingen, Schwerbehinderte einzustellen, hat sich als nur begrenzt wirksam erwiesen. Wir haben nämlich - das ist bemerkenswert einen neuen Akzent gesetzt, der ökonomische Anreize mit
Aufklärungsarbeit und Beratung für die Unternehmen
verknüpft und zusätzlich durch innovative Öffentlichkeitsarbeit begleitet hat. Heute können wir sagen: Der Abbau von Denkbarrieren, den wir erreicht haben, hat sich
gegenüber der Regulation durch Zwang als mindestens
ebenso wirksam, wenn nicht gar als wirksamer erwiesen.
({2})
Auch darauf sollten wir achten.
Diese Beratungsarbeit haben wir mit den Integrationsämtern und Integrationsfachdiensten in den Betrieben geleistet. Wir haben die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber
davon überzeugt, dass Menschen mit Behinderungen
nicht zwangsläufig leistungsgemindert sind, sondern dass
sie nur angemessene, ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen
entsprechende Arbeitsplätze brauchen.
({3})
Vor allen Dingen haben wir - das ist der große Unterschied zu Ihrer Regierungszeit - den Arbeitgebern die entsprechenden Instrumente an die Hand gegeben: Arbeitsassistenzen, Dolmetscher für die Gebärdensprache und
vieles andere mehr.
Weil die Betriebe das Angebot der rot-grünen Bundesregierung angenommen haben, können wir jetzt auf ein
Anziehen der Schraube „Beschäftigungspflichtquote für
Schwerbehinderte“ verzichten. Wir können allerdings
nicht - Herr Hüppe, darin gebe ich Ihnen Recht - auf eine
Verstärkung der gemeinsamen Anstrengungen der Politik
- auch des Deutschen Bundestages - und der Wirtschaft
verzichten, um auch in 2003 unsere ehrgeizigen beschäftigungspolitischen Ziele in diesem Bereich zu erreichen.
({4})
Drei Punkte möchte ich besonders herausgreifen:
Erstens: Tatsache ist leider, dass in 97,2 Prozent der
kleinen und mittleren Betriebe mit unter 100 Beschäftigten keine Schwerbehinderten beschäftigt sind. Gerade
bei kleinen und mittleren Betrieben müssen wir darum
kämpfen, Einstellungshemmnisse abzubauen. Außerdem müssen wir dort weiter massiv für die Beschäftigung
Schwerbehinderter werben. Viele Arbeitgeber wissen immer noch nicht, welche Potenziale hier ungenutzt bleiben;
denn häufig sind Menschen mit Behinderungen nicht nur
gut ausgebildet, sondern auch sehr viel leistungsbereiter
als Menschen ohne Behinderungen. Hier gilt es, gemeinsam mit den Unternehmen und dem Handwerk Informationsdefizite und Vorurteile abzubauen.
Zweitens. Die mehr als 180 Integrationsfachdienste,
die aus der Ausgleichsabgabe finanziert werden, leisten
eine wichtige Vermittlungshilfe bei der Überzeugung und
Beratung der Arbeitgeber. Dies zeigt, dass man durch entschlossenes Engagement - nicht zuletzt durch finanzielles Engagement - auch denjenigen Arbeitsuchenden helfen kann, die bisher als nicht vermittelbar oder gar als
nicht arbeitsfähig gegolten haben.
Im Rahmen der Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt muss und wird in diese Richtung
weitergegangen werden. Wir brauchen - die Antworten
des Ministeriums auf schriftliche Anfragen im Ausschuss ermutigen mich - eine sinnvolle Verzahnung von
Integrationsfachdiensten und Personal-Service-Agenturen.
Drittens. Zur erfolgreichen Fortsetzung der bisherigen
Behindertenpolitik ist es überdies notwendig, dass die
Bundesanstalt für Arbeit auch nach der Neustrukturierung
der Ministerien die Belange der Menschen mit Behinderungen wie bisher mit Nachdruck unterstützt. Bei der Mittelvergabe ist es unbedingt erforderlich, sicherzustellen,
dass die Bundesanstalt neben den Mitteln aus dem Ausgleichsfonds auch eigene Mittel zur beruflichen Wiedereingliederung einsetzt. Gerade im Europäischen Jahr der
Menschen mit Behinderungen werden wir Parlamentarier
- da bin ich mir sicher - die weitere Entwicklung gemeinsam genau beobachten.
Meine Damen und Herren, unser Modell der Integration von Menschen mit Behinderungen in den ersten
Arbeitsmarkt ist international anerkannt. Aus diesem
Grund werden wir den Erfahrungsaustausch auf lokaler,
nationaler und europäischer Ebene stärken. Durch unsere
Erfolge und Erfahrungen wollen wir in diesem Jahr, dem
Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen, anderen europäischen Staaten Impulse geben. Ich würde mich
freuen, wenn wir das in dieser Frage weiterhin ebenso einmütig wie entschlossen tun könnten.
Danke.
({5})
Ich erteile dem Kollegen Daniel Bahr, FDP-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich, dass wir uns gleich in der ersten Sitzungswoche des neuen Jahres, des Europäischen Jahres der
Menschen mit Behinderungen, der Situation behinderter
Menschen in Deutschland widmen. Wir sollten dieses Jahr
als Ansporn nutzen, notwendige Verbesserungen auf den
Weg zu bringen. Insofern kann ich dem Kollegen Hüppe
nur Recht geben: Wir sollten uns nicht auf etwaigen Erfolgen ausruhen, sondern uns gegenseitig anspornen. Das
ist die Devise für dieses Jahr.
({0})
Die FDP will sowohl die größtmögliche Freiheit als auch
ein höchstmögliches Maß an Eigenverantwortung für jeden
einzelnen Menschen. Diese Prinzipien sind auch Richtschnur einer liberalen Politik für Menschen mit Behinderungen. Für Liberale ist Behindertenpolitik keine Spartenoder gar Nischenpolitik. Nein, sie ist Bürgerrechtspolitik.
({1})
Es ist in diesem Hause unser gemeinsames Anliegen,
dass mehr behinderte Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Chance erhalten. Ich finde es schön, dass Redner aller Fraktionen dieses gemeinsame Anliegen hier
betont haben. Für jeden Bürger ist die Aufnahme einer bezahlten Beschäftigung ein wichtiger Beitrag zu mehr
Selbstständigkeit und Selbstsicherheit. Wir alle in diesem
Hause sind uns darüber einig, dass die Arbeitslosigkeit bei
behinderten Menschen mit 14,2 Prozent in 2002 und im
Dezember mit über 15 Prozent immer noch viel zu hoch
ist.
({2})
Dennoch freuen wir uns alle, dass diese Arbeitslosenquote in den letzten Jahren gesunken ist. Ich will gar nicht
verhehlen, Herr Kollege Kurth, dass das insgesamt ein
guter Rückgang ist. Wenn man aber versucht, 20- bis
25-Jährige gegen über 55-Jährige auszuspielen, dann darf
man nicht vergessen, dass ein ganz eklatanter Anteil am
Rückgang der Arbeitslosigkeit auf den Rückzug der über
55-Jährigen zurückzuführen ist. Es sollte uns nachdenklich stimmen, ob wir bei jungen behinderten Menschen
genügend Anstrengungen unternehmen, um sie in Arbeit zu
bringen. Deswegen müssen wir hier weitere Ansätze finden.
({3})
Ich möchte bei dieser Gelegenheit von dieser Stelle aus
all denen danken, die ihren Beitrag zu dieser Entwicklung
geleistet haben. Insbesondere die Arbeitgeber, die Bundesanstalt für Arbeit, das Handwerk und die Verbände haben daran einen ganz großen Anteil; denn bei den Arbeitgebern und im Handwerk entstehen die Arbeitsplätze.
Deswegen sollten wir ihnen ganz besonders danken.
({4})
Die FDP unterstützt den vorliegenden Gesetzentwurf
der Koalition. Die gesunkene Arbeitslosigkeit bei behinderten Menschen in dem Zeitraum, in dem die Pflichtquote gesenkt wurde, zeigt, dass eben nicht die Höhe der
Ausgleichsabgabe entscheidend ist. Vielmehr kommt es
auf die Motivation, Einsicht und Überzeugung der Arbeitgeber an, behinderte Menschen einzustellen. Eine erneute Fristsetzung mit Androhung einer erhöhten Ausgleichsabgabe ab dem 1. Januar 2004 ist daher unnötig.
({5})
Das Entscheidende ist die Einsicht und Motivation der Arbeitgeber. Dort müssen wir weitere Anstrengungen unternehmen.
Dazu zählen neben der wichtigen Aufklärungsarbeit,
dass Menschen mit Behinderungen meist sehr zuverlässige, hoch motivierte und eben auch produktive Arbeitnehmer sind, auch vermehrte Anreize für Unternehmen,
Menschen mit Behinderungen einzustellen. Staatlicher
Dirigismus führt nicht weiter. Gefragt sind individuelle
Konzepte, die die berechtigten Interessen von Menschen
mit Behinderungen und die berechtigten Interessen von
Arbeitgebern zusammenführen.
Ich möchte auch etwas zur Situation schwerbehinderter
Menschen im öffentlichen Dienst des Bundes sagen. Der
vorliegende Bericht zeigt leider eine negative Entwicklung. Die Beschäftigungsquote der mit schwerbehinderten
Menschen besetzten Arbeitsplätze ist nämlich rückläufig.
({6})
Sie ist von 6,5 auf 6,4 Prozent gesunken. Übrigens befürchte ich, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird.
Wenn wir uns die Neueinstellungen anschauen, dann stellen wir fest, dass in den Jahren 2000 mit 4,4 Prozent und
2001 mit 4,7 Prozent der Anteil schwerbehinderter Menschen bei den Neueinstellungen unter der schon gesenkten Pflichtquote von 5 Prozent liegt.
({7})
Hier enttäuscht der Bund die Erwartungen. Wir werden
die Entwicklung kritisch verfolgen und sie daran messen.
({8})
Ich möchte bei der ersten behindertenpolitischen Debatte in dieser Legislaturperiode noch ein anderes Thema
ansprechen. Die SPD hat im Bundestagswahlkampf 2002
durch ihre Kandidaten und Fraktionsmitglieder ein Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderung in dieser
Wahlperiode versprochen.
({9})
Gerade vor diesem Hintergrund ist es schwer enttäuschend, dass ein Leistungsgesetz im Koalitionsvertrag
nicht vorgesehen und nach Auskunft von Ministerin
Schmidt in der letzten Fragestunde auch nicht geplant ist.
Ebenso wenig sind Ansätze zu erkennen. Wir werden die
Regierung an ihren Versprechungen messen. Wir erwarten von ihr, dass in dieser Legislaturperiode ein solches
Gesetz im Bundestag eingebracht wird.
({10})
Die FDP hat sich seit jeher dafür eingesetzt, den Gesetzes- und Vorschriftendschungel gerade auch im Bereich der Behindertenpolitik zu lichten. Es hilft nämlich
niemandem und den behinderten Menschen und ihren Angehörigen erst recht nicht, wenn nur schwer nachvollziehbar und eben nicht eindeutig ist, von wem welche Hilfeleistung zu erwarten ist. Gerade in der Behindertenpolitik
brauchen wir klare Zuständigkeiten, verständliche Regeln
und vor allem Transparenz.
({11})
Deswegen möchte ich zum Schluss betonen, dass die
FDP-Fraktion diesem Gesetzentwurf zustimmen wird.
Lassen Sie uns in diesem Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen gemeinsam weitere Anstrengungen unternehmen, damit mehr behinderte Menschen
auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Chance erhalten. Darüber werden wir gemeinsam im Bundestag hoffentlich
noch viele Vorschläge diskutieren.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich erteile der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie bereits
ausgeführt wurde, stehen wir am Beginn des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen, das den
Belangen und Nöten dieser Menschen gewidmet ist. Ich
meine, die schwerbehinderten Menschen haben ein Recht
darauf, dass gerade in diesem Jahr sehr intensiv und konstruktiv über das Erreichte gesprochen und über neue
Konzepte gestritten wird.
Wir wollen nicht darüber hinwegsehen, dass es der Regierung gelungen ist, Projekte aufzulegen und neue Anstöße zu geben, aber es ist sicherlich nicht Sinn und
Zweck eines Jahres, das den Menschen mit Behinderungen gewidmet ist, dass vor allem die eigenen Erfolge gelobt und Proklamationen abgegeben werden, obwohl
- damit komme ich zu dem Kern des Gesetzentwurfs, über
den wir abzustimmen haben - das gesetzlich vorgeschriebene Ziel nicht erreicht wurde.
Im Gesetz war vorgesehen, die Arbeitslosigkeit von
schwerbehinderten Menschen von Oktober 1999 bis Oktober 2002 um wenigstens 25 Prozent zu senken. Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf selbst festgestellt, dass dieses
Ziel nicht erreicht wurde. Der Kollege von den Grünen hat
es als ein sehr „ehrgeiziges Ziel“ bezeichnet. Ihren Worten war zu entnehmen, dass Sie der Meinung sind, dieses
Ziel konnte nicht erreicht werden.
({0})
Ich meine, bei Gesetzen, in denen konkrete Zahlen
festgeschrieben werden, kann man nicht später zu der Interpretation kommen, das sei ein ehrgeiziges Ziel und man
könne stolz sein, dieses Ziel fast erreicht zu haben, statt
selbstkritisch dazu Stellung zu nehmen, dass das Ziel eindeutig nicht erreicht wurde.
23,9 Prozent wurden erreicht.
({1})
Das ist weniger, als im Gesetz vorgesehen war. Was mir
in der Debatte etwas zu kurz kam, ist die Tatsache, dass
diese Zahl wenig aussagt. Zahlen an sich sagen nichts
über die Art und Länge der Beschäftigung aus. Insbesondere die Qualität der Arbeitsplätze von Menschen mit
Behinderungen ist nicht ausreichend dargestellt und interpretiert worden. Wenn Sie Ihrem eigenen Gesetz folgen
würden, müssten Sie jetzt die Pflichtquote von 5 Prozent
auf 6 Prozent anheben. Sie dürften also diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Es sollte Ihnen doch zu denken geben, meine Damen
und Herren von der Regierungskoalition, dass von einem
Vertreter der FDP festgestellt wurde, die FDP wolle überhaupt keine Quoten, und dass die gesetzliche Vorgabe
nicht erreicht wurde, sei nicht so schlimm.
Ich meine, wenn man sich Ziele setzt und diese gesetzlich festschreibt, dann sollte man auch ehrlich sein und
sich daran halten. Deshalb werden wir diese Gesetzesänderung ablehnen.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich erteile der Kollegin Barbara Lanzinger, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wir sind uns sicherlich in der Grundintention
darüber einig, dass alle Maßnahmen und Anstrengungen
ergriffen werden müssen und müssten, um vor allem
auch Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen,
Daniel Bahr ({0})
insbesondere die Schwerbehinderten, in den Arbeitsmarkt
zu vermitteln und zu integrieren.
Wie heute schon einige Male ausgeführt wurde, wird
nun in der Begründung des von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurfs darauf verwiesen, dass bis Ende
Oktober 2002 gegenüber Oktober 1999 ein Abbau der
Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen um rund
23,9 Prozent stattgefunden hat. Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, lässt man diese Zahl als
generelle Aussage so stehen, mag sie durchaus positiv
klingen. Zunächst klingt bei Ihnen immer alles positiv
- zumindest verkaufen Sie es so -, auch wenn es noch so
negativ ist.
In diesem Fall kommen allein angesichts der Tatsache,
dass die allgemeinen Arbeitsmarktzahlen dramatisch zugelegt haben, Zweifel ob der Richtigkeit Ihrer Aussagen
auf. Hinzu kommt auch, dass Sie als Regierung nicht in
der Lage waren, uns, der Opposition, im Gesundheitsausschuss in sich schlüssige, brauchbare Zahlen zu liefern.
Was nützen mir einerseits Prozentzahlen und andererseits
nicht dazu in Relation stehende Zahlenangaben? Das ist
für mich schlichtweg Verschleierungstaktik.
({1})
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, es kann doch
nicht sein, dass es keine konkreten Angaben und Zahlen
über die entscheidende Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt gibt und auch nicht die dazugehörige Aufgliederung in Altersgruppen. Interessant ist, dass der Jahresbericht 2002 der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen bei der Zuordnung der schwerbehinderten Menschen in Altersgruppen
sehr deutlich zeigt, dass vor allem ältere Menschen überproportional vertreten sind. Laut Angaben des Statistischen Bundesamtes 2002 sind mehr als 65 Prozent der
schwerbehinderten Menschen 60 Jahre und älter.
Ich teile hier die Aussagen des Kollegen Hüppe ganz
entschieden, dass es so ist, dass die Zahl der von der Statistik erfassten über 55-Jährigen bei den allgemeinen Arbeitsmarktzahlen sinkt. Dies ist ganz erkennbar kein Gang
in die Beschäftigung, sondern in den Vorruhestand.
({2})
Nun sage ich Ihnen, dass gerade die älteren schwerbehinderten Menschen aus dem Arbeitsmarkt genommen werden. Wir wissen es alle: Eine Unterschrift reicht, um dem
Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Das ist
natürlich auch eine Art Bereinigung von Arbeitsmarktszahlen.
Bestätigt werde ich hier vom Leiter einer Behindertenwerkstatt mit 400 Beschäftigten, der dieses Gesetz für unrealistisch hält, vor allem auch im Hinblick auf die nachhaltige Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt.
Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, wir teilen
Ihre positive Einschätzung zwar nicht, jedoch werden wir
für den Gesetzentwurf stimmen, der vorsieht, die Beschäftigungsquote bei 5 Prozent zu belassen. Diese Quote
jetzt auf 6 Prozent anzuheben wäre das falsche Signal in
der derzeit äußerst angespannten und zu keinem Spielraum mehr fähigen wirtschaftlichen Lage der Arbeitgeber.
({3})
Äußerst interessant ist in diesem Zusammenhang
die Aussage der Regierungskoalition in der Ausschussdrucksache 0053 in dieser Sache. Die Bemühungen der
Bundesregierung zielen gerade darauf, Arbeitgeber der
mittleren und kleineren Betriebe zu motivieren, schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Kollege Kurth,
Ihre Aussagen dazu schlagen dem Fass den Boden aus.
Denn Ihr Regierungsrezept der Motivationsförderung
der Betriebe ist keineswegs so, wie Sie es darstellen, sondern sieht vielmehr folgendermaßen aus: Sie nehmen Mitbestimmungsgesetz, Bürokratie ohne Ende, Energie- und
Ökosteuer, somit höhere Stromkosten und daraus resultierende Konzessionsabgaben, nicht mehr tragbare Lohnnebenkosten und Sozialabgaben, kontraproduktive Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst, mischen das Ganze
kräftig durch und verschließen es mit einem Stöpsel.
({4})
Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition,
wann merken Sie endlich, dass Sie den Betrieben die Luft
zum Atmen nehmen und ihnen keinen Spielraum mehr
lassen und sie ersticken? Ich frage mich: Wo können da
unsere schwerbehinderten Menschen noch Platz finden,
bei denen Zielvorgaben wie prozentuale Beschäftigungsquote, Zeitdruck und Erreichung des Jahreslimits fast
schon zynisch klingen? Wäre es nicht besser, Ziele zu formulieren, die eine grundsätzliche nachhaltige Beschäftigung und Eingliederung der Schwerbehinderten auch unter menschlichen und sozialen Gesichtspunkten
anstreben?
Genau die schwerbehinderten Menschen mit ihren Familien sind es doch, die uns im Prinzip tagtäglich zeigen,
was wir in unserer Gesellschaft tun müssen: weg von der
Spaßgesellschaft und weg davon, tun und lassen zu können, was man will. Sie, meine Damen und Herren von der
Regierung, haben diese gesellschaftliche Entwicklung,
die letztendlich Kälte produziert, ganz hauptsächlich mitzuverantworten.
({5})
Gerade die Menschen mit Behinderungen sind es doch,
die uns lehren, was es heißt, persönliche Verantwortung
und Wertorientierung zu haben und Eigen- und Selbstverantwortung zu übernehmen. Es muss unser aller
Bemühen sein, Menschen mit Behinderungen und Schwerbehinderte in den Arbeitsmarkt einzugliedern, um ihnen damit eine ganz wesentliche Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben zu ermöglichen. Für die Würde unserer Menschen
mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und für die
Stärkung ihrer Fähigkeit, ihr Leben so weit wie möglich
selbst zu gestalten und selbst zu bestimmen, ist die Eingliederung und Integration vor allem auch ins Arbeitsleben und in den ersten Arbeitsmarkt von elementarer Bedeutung.
Wir von der CDU/CSU-Fraktion erwarten, dass von einer rot-grünen Bundesregierung und deren Behindertenbeauftragten Herrn Haack - ich weiß nicht, ob der schon
anwesend ist - Zielvorgaben entwickelt werden, die un1566
seren Menschen mit Schwerbehinderungen eine effektive
und nachhaltige Teilnahme am Arbeitsleben ermöglichen
und so das Jahr 2003 wirklich zu einem erfolgreichen Jahr
der Menschen mit Behinderungen werden lassen.
Motivation, Frau Kühn-Mengel, ist eigentlich eine
Grundvoraussetzung für eine Regierung. Aber sie alleine
reicht meiner Meinung nach noch lange nicht aus. Wir
werden jedoch bei allen konstruktiven und machbaren
Vorschlägen der Bundesregierung unsere Mitarbeit nicht
verweigern.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Dies war die erste Rede der Kollegin Lanzinger. Ich
gratuliere Ihnen herzlich dazu.
({0})
Nun erteile ich das Wort Kollegin Silvia Schmidt,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Herr Hüppe und Frau Lanzinger, zur
Erklärung: Herr Haack vertritt heute die Bundesregierung
bei einer internationalen Tagung der Sprachheilpädagogen in Fulda. Das ist besonders wichtig. Übrigens hat die
Bundesregierung, die für den vorliegenden Bericht verantwortlich ist, natürlich den Parlamentarischen Staatssekretär Franz Thönnes als ihren Vertreter geschickt. Ich
glaube, damit muss das geklärt sein.
({0})
Des Weiteren möchte ich Herrn Bahr sagen: Frau
Ministerin Schmidt hat in ihrer letzten Rede durchaus deutlich gemacht, dass die Eingliederungshilfe bedarfsorientiert
ausgerichtet werden müsse und dass am Ende durchaus ein
Leistungsgesetz stehen könne. Lesen Sie es einfach nach!
Noch ein Wort zu der Zahl der Stellen, die die Bundesregierung im öffentlichen Dienst abgebaut hat: Es waren
insgesamt 4 850 Mitarbeiter. Das sollte man in die Betrachtungen einbeziehen; denn das, was Sie betreiben, ist
Polemik. Lesen Sie die Zahlen bitte richtig.
({1})
„Nichts über uns ohne uns“ - das ist das Motto des Europäischen Jahres 2003 der Menschen mit Behinderung.
Dieses Motto ist auch die Leitlinie für unsere sozialdemokratische Politik. Wir werden den eingeschlagenen
Weg in der Behindertenpolitik konsequent fortsetzen, sicherlich auch mit Ihnen. Wir alle wissen aber auch: In der
Behindertenpolitik waren die Kohl-Jahre verlorene Jahre.
Betroffene sagen:
16 Jahre lang fand ein Integrationszirkus statt, der
mit den Forderungen und Bedürfnissen der Menschen mit Behinderung nichts zu tun hatte.
Für die Betroffenen war das ein menschenverachtendes
Schauspiel; denn die Behinderten waren lange genug Objekt. Der Paradigmenwechsel seit unserem Regierungsantritt ist der richtige Weg. Das Gesetz zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter, das Neunte Buch Sozialgesetzbuch und das Gleichstellungsgesetz sind drei
wichtige Schritte in die richtige Richtung. Wir alle müssen
jetzt diese Gesetze mit Leben erfüllen. Das ist die zentrale
behindertenpolitische Aufgabe dieser Legislaturperiode.
Wir haben nicht nur Gesetze gemacht, sondern auch
eine grundlegende Neuausrichtung in der Behindertenpolitik eingeleitet. Nicht die Behinderung steht im Mittelpunkt, sondern der Mensch. Im Vordergrund steht der
Anspruch auf Selbstbestimmung und gesellschaftliche
Teilhabe. Hindernisse, die dem entgegenstehen, werden
wir weiter abbauen. Wir haben die Gesetze auch nicht
über die Köpfe der Betroffenen hinweg erlassen. Nein, sie
wurden gemeinsam mit den behinderten Menschen, ihren
Verbänden und Leistungserbringern erarbeitet. Viele Regelungen gehen auf ihr Engagement und ihre Erfahrungen
zurück. Ohne diesen ständigen Dialog wäre die Reform so
nicht möglich gewesen. Der Behindertenbeauftragte der
Bundesregierung, Karl Hermann Haack, hat diesen Dialog angestoßen und mit aller Kraft befördert. Ihm gilt besonders großer Dank.
Wir setzen mit unserer Behindertenpolitik internationale Maßstäbe. Wir haben endlich eine Vorreiterrolle in
Europa. Gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben beinhaltet auch den Zugang zum Arbeitsmarkt. Integration bedeutet mehr als nur ein schönes Heim, einen
goldenen Käfig. Es bedeutet vielmehr, dabei zu sein, jeden Tag zu leben und zu arbeiten. Arbeit ist nicht nur Broterwerb, sondern bedeutet auch, sich zu beweisen, Anerkennung zu erleben und Leistung zu erbringen. Dafür
müssen die Voraussetzungen vorhanden sein.
({2})
Das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
schwerbehinderter Menschen schafft dafür neue Wege
und Instrumente; ich werde noch einige Beispiele vortragen. Wir stellen die Kompetenz und Fähigkeiten behinderter Menschen bei der Arbeit und im Beruf in den Mittelpunkt: Integration statt Ausgrenzung. Unser Ziel ist es,
die Zahl der arbeitslosen schwerbehinderten Menschen
spürbar und dauerhaft zu senken. Als Anreiz für die Arbeitgeber wurde, wie bereits erwähnt, gleichzeitig die
Pflichtquote der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen von 6 Prozent auf 5 Prozent gesenkt. In nur zwei
Jahren ist es gelungen, viele tausend behinderte Menschen
auf den Arbeitsmarkt zu vermitteln. Der Rückgang der Arbeitslosenzahlen lag Ende Oktober bei 45 305. Das haben
Sie alle festgestellt. Auch diese Zahlen sind bekannt.
Integrationsamt, Arbeitsamt, Integrationsfachdienste,
Unternehmen und Gewerkschaften haben zu diesem Erfolg - es ist ein Erfolg; Frau Kühn-Mengel hat die Zahlen
dazu genannt - beigetragen. Dazu müssen wir auch stehen. Sie haben dieses Gesetz ebenfalls mitgetragen.
({3})
Silvia Schmidt ({4})
Die Integrationsfachdienste sind Partner bei der beruflichen Integration in den ersten Arbeitsmarkt.
Auch die Integrationsfirmen sind Wegweiser. Ein erfolgreiches Beispiel dafür ist die Firma Docu-Safe aus
Gera. Das moderne Unternehmen bietet Dienstleistungen
im Bereich Mikrofilm und elektronischer Archivierung
an. Docu-Safe begann seine Geschäftstätigkeit - Sie erinnern sich - 1999 als Bundesmodellprojekt. Es integriert
schwerbehinderte und nicht behinderte Menschen in das
Arbeitsleben. Weg von Fürsorge, hin zum selbstbestimmten Leben!
Seit dem erfolgreichen Abschluss der Modellphase
Ende des Jahres 2001 arbeitet das Unternehmen als
gemeinnützige Gesellschaft. Dort sind 34 Vollzeitstellen.
23 davon sind mit schwerbehinderten Menschen besetzt.
Unter ihnen befinden sich Diplom-Mathematiker, Kaufleute, Informatiker, Elektroniker, Bauingenieure, Bürokauffrauen und Pädagogen.
Ein weiteres Beispiel aus Ihrem Wahlkreis, Herr Hüppe:
Acht Mitarbeiter, davon vier mit Behinderung, hat die
Firma Inno Vita in Schwerte.
({5})
Die gemeinnützige Integrationsfirma bewirtet drei städtische Firmen und bietet einen Cateringservice an.
Im Arbeitsamtsbezirk Schwerin sind zwei Integrationsfirmen, ANKER Sozialarbeit und ZAGAPU, besonders erfolgreich. Dort arbeiten 50 Schwerbehinderte. Herr
Hüppe, das ist der erste Arbeitsmarkt! Das sind die konkreten Erfolge unserer sozialdemokratischen Behindertenpolitik. Die müssen wir endlich einmal zur Kenntnis
nehmen.
({6})
Nach der geltenden Gesetzeslage müsste die Pflichtquote zum 1. Januar 2003 wieder auf 6 Prozent angehoben werden. Das wäre natürlich das falsche Signal. Es
würde die Arbeitgeber, die sich positiv hervorgetan haben, mit 340 Millionen Euro Mehrkosten belasten und
ihre Motivation, behinderte Menschen einzustellen, senken, nicht erhöhen. Der erfolgreiche Reformprozess wäre
gefährdet. Daher wollen wir die Anhebung der Pflichtquote für ein Jahr aussetzen.
In der Zwischenzeit werden wir unsere Anstrengungen
zum Abbau der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen weiterführen. Gemeinsam mit den Verbänden wollen wir das Konzept weiterentwickeln und neue Zielvorgaben umsetzen. Ich fordere Sie, meine Damen und Herren
von der Opposition, ganz herzlich auf, sich auch diesem
Schritt nicht zu verschließen.
Mithilfe der Kampagne „50 000 neue Jobs für Schwerbehinderte“ sind 151 000 behinderte Menschen in Arbeit
vermittelt worden. Trotz der schwierigen wirtschaftlichen
Lage haben wir erreicht, dass die Zahl der schwerbehinderten Menschen in Beschäftigung allein von 2000 bis
2001 um 35 000 anstieg.
({7})
Das ist keine Frühverrentung. Es sind 35 000 Beschäftigungsplätze!
({8})
Wir werden - das versprechen wir - in unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Wir wissen durchaus - das
sagen wir auch -, dass die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter heute noch überdurchschnittlich hoch ist. Ausbildung und Umschulung von Behinderten müssen mit den
steigenden Anforderungen des Arbeitsmarkts abgestimmt
werden. Der Bund fördert die Netze der Berufsbildungsund Berufsförderungswerke. Die Eingliederungsquote von
mehr als 70 Prozent ist ein deutlicher Beleg für deren Erfolg.
Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe müssen in allen Bereichen praktiziert werden. Die Menschen
mit Behinderungen wissen selbst am besten, was für sie
richtig und wichtig ist. Aber sie müssen es auch einfordern und sie müssen es einfordern können. Dafür sind die
gemeinsamen Servicestellen der Rehaträger eingerichtet
worden.
Der flächendeckende Aufbau der Servicestellen ist abgeschlossen. Aber sie werden noch nicht in ausreichendem Maße in Anspruch genommen. Viele Leistungsberechtigte wissen noch zu wenig Bescheid. Aufklärung und
Öffentlichkeitsarbeit sind nötig. Diese Arbeit zu leisten ist
natürlich in erster Linie Aufgabe der Rehabilitationsträger.
Aber auch wir müssen unseren Teil dazu beitragen; denn
wir stehen bei den Menschen mit Behinderung im Wort.
Wo die Servicestellen noch nicht optimal funktionieren, müssen die Mängel zügig abgestellt werden. Dafür
müssen wir uns einsetzen. Ich sehe diesbezüglich vor
allem bei der Schulung der Mitarbeiter Bedarf. Die Mitarbeiter müssen umfassend beraten können und den Leistungsberechtigten den Gang durch den Behördendschungel abnehmen. Paradigmenwechsel in diesem Bereich
heißt, über die Grenzen des einzelnen Trägers hinauszusehen, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und nicht
in erster Linie zu fragen, wer die Leistungen bezahlen soll.
Unsere besondere Sorge - wir haben es schon erwähnt gilt der Früherkennung und der Frühförderung behinderter Kinder. Das SGB IX sieht ein System mit übergreifenden und umfassenden Behandlungen vor. Probleme bereitet die Ausgestaltung der gemeinsamen Empfehlung der
Rehaträger zu diesem Bereich. Seit Monaten können sich
die Krankenkassen und die kommunalen Spitzenverbände
nicht auf eine endgültige Formulierung einigen.
({9})
Das ist ein unwürdiges Geschacher; denn es geht doch darum zu helfen.
Kollegin Schmidt, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ja, Herr Präsident. - Für diesen Bereich muss es eine
weitere Rechtsverordnung geben.
2003 ist das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderung. Ich fordere Sie alle auf, hier mitzuarbeiten und
in die Öffentlichkeit zu treten; denn es ist ein gesellschaftliches Problem, dass auf den Bereich der Behindertenpolitik nicht genug aufmerksam gemacht wird.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 15/124 zur
Änderung von Fristen und Bezeichnungen im Neunten
Buch Sozialgesetzbuch und zur Änderung anderer Gesetze. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/317, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der
beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen.
({0})
Zusatzpunkt 6: Interfraktionell wird die Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 15/227 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Jugendschutzgesetzes ({1})
- Drucksache 15/88 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Staatsministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen
des Freistaates Bayern, Christa Stewens, das Wort.
Christa Stewens, Staatsministerin ({3}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unsere Kinder und Jugendlichen brauchen einen
nachhaltigen und konsequenten Schutz vor schädlichen
Einflüssen auf ihre Persönlichkeits- und Werteentwicklung. Jugendschutz muss daher der wachsenden Gewaltbereitschaft gerade bei der jüngeren Generation entschieden entgegentreten. Notwendig ist dazu ein umfassendes,
für Kinder und Jugendliche bedarfsgerechtes, für Eltern
verlässliches und für Vollzugsbehörden, Anbieter und Gewerbetreibende transparentes, einheitliches gesetzliches
Schutzsystem. Das am 14. Juni 2002 verabschiedete neue
Jugendschutzgesetz wird diesem Anspruch in keiner Weise
gerecht.
({4})
Insgesamt betrachtet weist das Gesetz gravierende
Lücken auf. Eine zukunftsweisende Weichenstellung für
den Jugendschutz ist hier nicht erkennbar.
Unter dem Eindruck der exzessiven Gewalttat in Erfurt
mit bitteren Konsequenzen und in Erinnerung der dramatischen Ereignisse andernorts - ich denke nur an Bad Reichenhall, Freising usw. - waren sich alle politisch Verantwortlichen auf allen Ebenen in diesem Land einig, dass
junge Menschen vor Gewalt verherrlichenden Medieninhalten stärker und konsequenter geschützt werden müssen.
({5})
Der Bundeskanzler hat ja beispielsweise im Beisein der
Ministerpräsidenten am 6. Mai 2002 die langjährige bayerische Forderung nach einem generellen, altersunabhängigen Vermiet- und Verleihverbot ausdrücklich begrüßt.
Das in einer Blitzaktion dann vorgelegte neue Jugendschutzgesetz bleibt aber leider Gottes weit hinter dem
Konsens, der damals erzielt worden ist, zurück. Auch wurde
die Chance vertan, den Sachverstand der Länder über einen
ersten Durchgang im Bundesrat einzubinden.
Auf Initiative Bayerns beschloss der Bundesrat am
27. September letzten Jahres das Ihnen vorliegende Änderungsgesetz. Aufgrund der fachlich und wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse ist es vollkommen unverständlich, dass die Bundesregierung die vorgeschlagenen
Regelungen für ungeeignet hält, den Kinder- und Jugendmedienschutz im Interesse eines möglichst gewaltfreien
Aufwachsens der Kinder und Jugendlichen zu verbessern.
Zu den wichtigsten Änderungsvorschlägen möchte
ich, meine Damen und Herren, die Position des Bundesrates kurz darstellen:
Als Erstes nenne ich das generelle Vermietverbot von
jugendgefährdenden Trägermedien. Die Bundesregierung
spricht sich ja dagegen aus. Dabei verkennt sie völlig,
dass mit einem solchen Vermietverbot ein notwendiges
gesellschaftspolitisches Signal gesetzt wird.
({6})
Denn solche Produkte sind prinzipiell nicht erwünscht
und ihr Vertrieb sollte starken Beschränkungen unterworfen werden. Das Argument der Bundesregierung, die hier
die Informationsfreiheit der Erwachsenen gefährdet sieht,
ist für mich keineswegs stichhaltig. Hier geht der Schutz
der Kinder und Jugendlichen eindeutig vor.
({7})
Silvia Schmidt ({8})
Staatsministerin Christa Stewens ({9})
Der käufliche Erwerb ist ja weiterhin für Erwachsene
möglich; das muss man schon sehen.
Zweitens. Zum generellen Vermietverbot gehört dann
natürlich auch das Verbot von Videoverleihautomaten.
Dies lehnt die Bundesregierung unter Verweis auf die
technischen Sicherungsmöglichkeiten, die eine Bedienung durch Kinder und Jugendliche verhindern können,
ab. Es bestehen natürlich durchaus erhebliche Zweifel, ob
der Stand der Technik gewährleisten kann, dass Kinder
und Jugendliche nur an die für ihre Altersgruppe vorgesehenen Angebote gelangen können. Qualifizierte Tests bezüglich biometrischer Verfahren beweisen, dass damit derzeit eine ausreichende Zugangssicherung definitiv nicht
gewährleistet werden kann.
({10})
Auf der anderen Seite gilt es auch, die negative Sogwirkung von Videoverleihautomaten auf Kinder und Jugendliche einzuschränken.
Drittens. Der Bundesrat fordert das Verbot von so genannten Killerspielen. Die Bundesregierung macht es
sich hier wirklich zu leicht, indem sie sich auf die Position
zurückzieht, dass das Bundesverwaltungsgericht bereits
grundsätzlich entschieden habe, dass derartige Spiele gegen die Menschenwürde verstoßen und deshalb regelmäßig zu verbieten sind. Sie kann sich nicht mit einem
solchen Verweis von ihrer originären Gesetzgebungspflicht befreien. Eindeutige, klare gesetzliche Regelungen
sind notwendig. Man sollte sich hier nicht auf Urteile
zurückziehen.
({11})
Der vierte Punkt: Zur Stärkung der Erziehungskompetenz und zur Unterstützung der Eltern sind deshalb
auch staatlicherseits strukturelle, klare gesetzgeberische
Rahmenbedingungen und letztendlich auch Grenzen zu
setzen. Wir müssen auch den Eltern, die hinsichtlich ihrer
Erziehungskompetenz verunsichert sind, ganz klar sagen,
wo wir Grenzen setzen wollen. Davor hat sich der Gesetzgeber nicht zu drücken.
Deswegen: Etikettiert als Elternprivileg sieht das Jugendschutzgesetz Lockerungen vor, mit denen die fundierten und gesellschaftlich anerkannten Alterskennzeichnungen der freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft
unterlaufen werden können. Eltern haben schlichtweg oft
nicht die Möglichkeit, sich in allen Fällen vorab so umfassend zu informieren, dass sie die Medienwirkung des Kinobesuches auf ihre Kinder sicher einschätzen können.
Dies müssen wir gerade vor dem Hintergrund stärker gewichten, dass wir genau wissen, dass Erziehungsunsicherheiten heute stärker steigen als früher. Deswegen ist
es wichtig, dass wir unseren Eltern hier klare und verlässliche Informationen bieten.
Der fünfte Punkt: Auch die Einführung der so genannten erziehungsbeauftragten Person ist entschieden abzulehnen. Zwar mag es in bestimmten Fällen notwendig
sein, die Erziehungsberechtigung auf Dauer oder auch
zeitweise übertragen zu können, jedoch muss - dies ist
ganz wichtig - hierfür ein natürliches Autoritäts- bzw.
Respektverhältnis bestehen. Aktive Jugendschützer in
Deutschland befürchten, dass in der Praxis beispielsweise
die Erziehungsaufgaben an den Betreiber einer Diskothek
übertragen werden. Solchen Auswüchsen muss durch eine
klare und eindeutige gesetzliche Formulierung ein Riegel
vorgeschoben werden.
({12})
Meine Damen und Herren, jetzt komme ich noch zu einem Anliegen, das mir persönlich ganz besonders am Herzen liegt - das ist der sechste Punkt -: Die Vorstufe von
Kinderpornographie ist die Darstellung von Kindern in
erotisch aufreizenden Posen. Das Jugendschutzgesetz
muss hier dem dringenden Schutzinteresse von Kindern
und Jugendlichen besser Rechnung tragen und diese Art
der Darstellung wie im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag generell verbieten.
({13})
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich bringe keine Toleranz für
diese Art der Darstellung auf. Kinder und Jugendliche
sind definitiv keine Sexualobjekte; auch nicht für
Erwachsene.
({14})
Im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag haben wir es Gott
sei Dank erreicht, dass sie aus geschlossenen Benutzergruppen für Erwachsene herausgenommen worden sind.
Ich meine, dass wir dies auch im Jugendschutzgesetz erreichen müssen.
({15})
Hier sollte parteiübergreifende Einigkeit darüber bestehen,
dass der Schutz unserer Kinder oberste Priorität haben
muss.
({16})
Die Gesellschaft reagiert nicht erst seit den schrecklichen Ereignissen von Erfurt zunehmend mit Angst und
Sorge auf Gewalt, Extremismus und Pornographie in den
Medien. Wir alle sind gefordert, Verantwortung für die
Vermittlung von Normen und Werten zu übernehmen, die
mit unserer Gesellschafts- und Sozialordnung in Einklang
stehen. Zur Unterstützung des erzieherischen Jugendmedienschutzes und zur Stärkung der elterlichen Erziehungsverantwortung gibt ein verbindlicher und verlässlicher Rechtsrahmen die notwendige Schubkraft.
Sicherlich kann - darüber müssen wir uns alle im Klaren sein - Politik Gewaltphänomene nicht im Alleingang
bewältigen. Notwendig ist eine breite gesellschaftliche
Allianz gegen Gewalt, in der Eltern und Pädagogen,
Medienschaffende und politisch Verantwortliche gemeinsam mit verlässlichen Leitlinien unseren Kindern und Jugendlichen den notwendigen sicheren sozialen Halt geben.
Das zuständige Bundesfamilienministerium bedient
sich oft und gerne des Zitats vom „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“. Hier fordere ich mehr Verantwortung für Kinder und Jugendliche ein. Beim Jugendschutzgesetz kann die Regierungskoalition die Probe aufs
Exempel machen. Hier kann sie unter Beweis stellen, was
letztendlich von den vielen schönen Worten zu halten ist.
Ich appelliere an Sie als diejenigen, die hier im Parlament Verantwortung für die Gesetze tragen, die fachlich
gebotenen Nachbesserungen über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg im Interesse unserer Kinder und Jugendlichen unverzüglich auf den Weg zu bringen.
Danke schön.
({17})
Ich erteile das Wort der Kollegin Kerstin Griese, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Staatsministerin, wir haben hier im letzten Sommer, im
Juni 2002, ein neues Jugendschutzgesetz beschlossen.
Darin sind viele gute Dinge enthalten. Ich freue mich sehr,
dass dieses Gesetz am 1. April in Kraft treten kann. Dann
können wir darüber diskutieren, was sich dadurch in der
Praxis verbessert. Es kann am 1. April Geltung erlangen,
wenn auch der Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk- und
Telemedien in Kraft tritt; denn vieles darin ist Länderangelegenheit. Deshalb beraten wir hier den Bundesratsentwurf.
Ich will deutlich machen, was unser Konzept von
Jugendschutz und Jugendpolitik ist. Unsere oberste Priorität, unsere Leitlinie ist, Jugendliche zu stärken und zu
schützen.
({0})
Wir wollen Jugendliche stark machen gegen Gewalt und
wollen sie schützen vor Gewalt und Gewaltdarstellungen.
Dazu gehört - das vergessen Sie gerne -, die Medienkompetenz zu stärken, damit Jugendliche mit den neuen
Medien umgehen können, damit sie lernen, die neuen Medien kritisch einzuschätzen, damit sie aber auch deren
Chancen sinnvoll nutzen können. Darüber hinaus müssen
aber auch die Eltern und die Erziehenden in ihrer Medienkompetenz gestärkt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Jugendschutz gewährleistet das Recht junger Menschen auf Schutz und
Integrität ihrer Persönlichkeit, er gewährleistet die Integration in die Gesellschaft und die Teilhabe an der Gesellschaft. Deshalb dürfen wir Jugendliche nicht einfach
wegsperren, sondern müssen sie stark machen und müssen
ihre Kreativität und Kompetenz fördern. Dieses Verständnis eines optimalen Jugendschutzes finden Sie in dem Gesetz, das wir im letzten Sommer beschlossen haben.
({1})
Dieses Gesetz wurde übrigens nach sehr intensiven Beratungen beschlossen. Das sage ich ausdrücklich, da Sie
nämlich immer wieder behaupten, dass es nicht so gewesen sei. Im Vorfeld haben über zwei Jahre hinweg intensive Beratungen mit Fachleuten stattgefunden. Der bayerische Entwurf, den wir heute hier als Bundesratsentwurf
beraten, ist längst überholt und hilft nicht bei der Verbesserung des Jugendschutzes.
({2})
In Ihrer Regierungszeit haben Sie es jahrelang nicht geschafft, den Jugendschutz den aktuellen Erfordernissen
und den sehr deutlichen technischen Veränderungen anzupassen. Wir haben das gemacht. Wir haben zum ersten
Mal durchgängige Alterskennzeichnungen für alle
Spiele auf allen Medien eingeführt. Die Fachleute und
Praktiker haben immer gefordert, nicht zu trennen, sodass
auf Kinofilmen Alterskennzeichnungen zu finden sind,
auf Videos, DVDs und Computerspielen aber nicht. Das
haben wir geändert. Eltern, Erzieher und Schulen finden
jetzt Angaben, welche Medien für Kinder und Jugendliche geeignet sind.
Wir haben erstmals - das halte ich für ganz wichtig den Jugendschutz im Internet angepackt. Das haben Sie
nicht gemacht, obwohl es das Internet seit 1985 gibt. Inzwischen hat mindestens die Hälfte aller Sechsjährigen
bis 14-Jährigen Zugang zu einem Computer, etwa ein
Fünftel dieser Altersgruppe surft mindestens einmal im
Monat im Internet. Deshalb geht es darum, qualitativ
hochwertige Angebote im Internet zu unterstützen, Angebote, bei denen sich Eltern und Erziehende sicher sein
können, dass sie gut für ihre Kinder sind. Wir haben in der
Debatte damals deutlich gesagt - das will ich auch heute betonen -, dass auch die positiven Ansätze wie Kinderportale
oder Zugänge mit sinnvollen Angeboten wichtig sind.
({3})
Für uns steht die Förderung der Medienkompetenz im
Mittelpunkt. Dazu haben wir schon viel getan. Im Rahmen des Programms „Schule ans Netz“ sind alle Schulen
ans Netz gekommen.
({4})
Jetzt soll die Jugendarbeit ans Netz kommen, damit die
digitale Spaltung der Gesellschaft überwunden werden
kann. Ich will nur ein Beispiel für ein gutes Angebot nennen, das sich gestern einige von uns beim Kinderhilfswerk
ansehen konnten, nämlich „www.kindersache.de“. Das ist
ein Portal, zu dem man Kindern guten Gewissens Zugang
geben kann und in dem sie gute Angebote finden.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie behaupten immer
wieder, es wäre weiterhin möglich, schwer jugendgefährdende Trägermedien Kindern zugänglich zu machen.
Das stimmt nicht. Mit dem neuen Jugendschutzgesetz haben wir den Katalog der schwer jugendgefährdenden Trägermedien, also Medien, auf denen schwer jugendgefährdende Inhalte zu sehen sind, um Gewaltdarstellungen und
Darstellungen, die die Menschenwürde verletzen und die
den Krieg verherrlichen, erweitert. Diese Medien unterliegen weit reichenden Abgabe-, Vertriebs- und Werbeverboten, die mit dem neuen Jugendschutzgesetz im April
in Kraft treten werden.
Staatsministerin Christa Stewens ({6})
Ein weiterer ganz wichtiger Punkt ist, dass wir auf
internationaler Ebene den Jugendschutz verstärken wollen. Das Internet ist nun einmal ein World Wide Web; deshalb brauchen wir europäische und internationale Standards. Ich hoffe, dass wir uns in diesem Punkt alle einig
sind, denn es bedarf der Unterstützung des gesamten Hauses, um auch auf internationaler Ebene solche Standards
zu setzen.
({7})
- Es ist schön, wenn wir das gemeinsam fordern.
({8})
Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass wir das im
April in Kraft tretende Jugendschutzgesetz ausführlich
beraten haben. Es gab sehr viel Zustimmung aus Fachkreisen. Ich darf Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, daran erinnern, dass Sie sich bei der Abstimmung über dieses Gesetz - ich war nämlich dabei - enthalten haben. Interessanterweise haben die Länder im
Bundesrat - dort haben Sie auch ein paar Stimmen - diesem Gesetz zugestimmt. Das heißt, es war ein gutes Gesetz und es war sinnvoll, dass dieses Gesetz im letzten
Sommer verabschiedet wurde.
({9})
Ich bin froh, dass Sie dieses Gesetz im Bundesrat mit so
breiter Mehrheit angenommen haben und die zuständigen
Fachleute, auch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende, wie sie jetzt heißt, Medien das Bemühen unterstützt haben. Wir werden dieses Gesetz nach fünf Jahren
evaluieren - das ist festgelegt - und dann sehen, wie sich
die Regelungen bewähren.
Ich will eine interessante Tatsache nicht verschweigen:
Der zuständige Fachausschuss des Bundesrates, in dem die
Fachminister sitzen, hat mehrheitlich beschlossen, den Antrag des Bundeslandes Bayern nicht einzubringen, hat ihn
also mehrheitlich abgelehnt. Die Fachminister der Länder
haben festgestellt - ich zitiere aus der Begründung -:
Mit dem Inkrafttreten dieses
- also unseres im letzten Jahr beschlossenen Jugendschutzgesetzes wird den gewandelten Anforderungen an einen effektiven Kinder- und Jugendschutz, insbesondere hinsichtlich der neuen Medien,
Rechnung getragen und gleichzeitig eine wichtige
Säule des Kinder- und Jugendschutzes, die Förderung der Medienkompetenz der Jugendlichen und
Eltern berücksichtigt.
Der bayerische Antrag hat im Fachausschuss des Bundesrates keine Mehrheit gefunden. Deshalb rate ich Ihnen,
sich erst einmal bei den zuständigen Fachleuten aus der
Praxis Rat zu holen.
({10})
Ich komme auf einige Ihrer Vorschläge im Einzelnen
zu sprechen:
Sie wollen die Telemedien neu definieren. Ich rate Ihnen, sich auch diesbezüglich mit den zuständigen Medienpolitikerinnen und -politikern - Frau Krogmann sehe
ich jetzt nicht - zusammenzusetzen, denn es handelt sich
um eine komplizierte Materie. Die von uns vorgesehene
Definition von Telemedien wurde im Konsens mit den
Ländern abgestimmt und ist deshalb umsetzbar.
Das Gleiche gilt für Ihren Vorschlag, die nutzerautonomen Filtersysteme zu streichen. Ich weiß, dass es innerhalb der CDU/CSU-Fraktion zwischen den Medien-, den
Wirtschafts- und den Jugendpolitikern darüber schwere
Auseinandersetzungen gibt. In der Fachwelt hat sich inzwischen längst die Überzeugung durchgesetzt, dass im
Gegensatz zu pauschalen Filtern nur solche Filter, deren
Kriterien klar sind und die von Eltern, Erziehenden und
Lehrern eingesetzt werden können, weil sie selbst entscheiden können, was gefiltert werden soll, sinnvoll sind.
Außerdem machen gute Angebote für Kinderportale Sinn.
Auch in diesem Punkt ist Ihr Vorschlag hinter der Zeit
zurückgeblieben.
Ich komme auf Ihren Vorschlag zu sprechen, zu der alten Regelung zurückzukehren, welche vorsah, dass Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren verboten wird, an
elektronischen Bildschirmspielgeräten zu spielen, deren Nutzung Geld kostet. Das ist ein interessantes Thema.
Wir haben das Kriterium verändert. Uns geht es darum,
welche Inhalte auf diesen Geräten sind. Uns geht es um
eine Alterskennzeichnung. Das Kriterium soll also nicht
sein, ob das Spielen mit diesem Gerät 1 Euro kostet, sondern welche Inhalte und welches Programm dort vorhanden sind. Es gibt mit Sicherheit kostenfreie Zugänge zu
jugendgefährdenden Medien; es gibt aber auch Zugänge
zu sehr sinnvollen Lernprogrammen, die etwas kosten.
Deshalb ist in der heutigen Zeit das Kriterium nicht das
Taschengeld, sondern die inhaltliche Frage: Was schützt
Kinder und Jugendliche?
({11})
Frau Stewens, Sie suggerieren mit Ihrem Vorschlag in
§ 13 Abs. 3 des Jugendschutzgesetzes - Sie haben das
wiederholt - fälschlicherweise, dass die Darstellung von
gewalttätigen Handlungen, von Kriegsverherrlichung und
sexuelle Darstellungen von Kindern Kindern zugänglich
gemacht würden. Das ist falsch. Ich will es ganz deutlich
sagen: Es ist strafbar, sexuelle Handlungen an Kindern
überhaupt darzustellen. Wir reden also über das Strafgesetz. Es ist aber auch nicht zulässig, derartige Inhalte Kindern zugänglich zu machen. Natürlich ist das schon längst
geregelt, und zwar in § 15 Abs. 2 des Jugendschutzgesetzes.
Sie haben ferner vorgeschlagen, das Indizierungsverfahren bei der Bundesprüfstelle, das sich sehr bewährt
hat, zu verändern. Sie wollen von einer Zweidrittelmehrheit auf eine einfache Mehrheit gehen. Ich kann Ihnen nur
raten, dabei sehr vorsichtig zu sein. Die Indizierung, die
Zensur, ist ein sehr sensibles Thema. Deshalb halten wir
an der Zweidrittelmehrheit fest, die sich in der Praxis positiv bewährt hat.
Alles in allem: Der Gesetzentwurf des Bundesrates ist
ein Überbleibsel aus Herrn Stoibers Wahlkampf. Den hat
er verloren. Packen Sie diesen Entwurf lieber wieder ein
und lassen Sie uns gemeinsam an der Umsetzung eines
modernen und effektiven Kinder- und Jugendschutzes arbeiten! Lassen Sie uns das neue Gesetz begleiten und auswerten! Wir sind natürlich bereit, gute Veränderungsvorschläge aufzunehmen. Lassen Sie uns nach den besten
Lösungen im Sinne der Kinder und Jugendlichen suchen!
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Haupt, FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Hektik, mit der die damalige Jugendministerin Bergmann
innerhalb weniger Sitzungstage am Ende der letzten Legislaturperiode das Jugendschutzgesetz durch die Gremien
gepeitscht hat, hat dem Gesetz nun wirklich nicht gut getan.
({0})
So ein Vorgehen führt zu baldigem Nachbesserungsbedarf.
Der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf des Bundesrates
weist auf einige problematische Punkte hin und enthält begrüßenswerte Elemente. Andererseits beinhaltet dieser Gesetzentwurf, der übrigens mit den CDU/CSU-Änderungsanträgen des letzten Sommers weitgehend übereinstimmt,
({1})
auch Punkte, die den Jugendschutz nicht voranbringen
oder unverhältnismäßig sind.
({2})
Der notwendige gesetzliche Jugendschutz darf nicht
einzig und allein von dem Ziel geprägt sein, Kinder und
Jugendliche vor Gefährdungen zu schützen. Kinder in einem Glashaus aufwachsen zu lassen, in dem sie von allen
unerfreulichen Dingen dieser Welt völlig abgeschirmt
sind, kann kein Ziel des Jugendschutzes sein.
({3})
Der notwendige Jugendschutz ist deshalb immer abzuwägen gegen die für eine Kompetenzentwicklung erforderlichen Freiheiten der Kinder und Jugendlichen.
({4})
Zu berücksichtigen ist zudem auch das Recht der Kinder
und Jugendlichen auf ihre eigene Kultur, auf kindgerechte
Medien und Medieninhalte.
({5})
Der Bundesrat fordert die Abschaffung des Elternprivilegs bei Kinobesuchen. Das widerspricht seiner eigenen
Forderung, die Eltern in ihrer Erziehungsverantwortung
und -kompetenz zu stärken.
({6})
Zugleich weist das jedoch tatsächlich auf einen echten
Schwachpunkt der alten und der neuen Jugendschutzbestimmungen hin: Die Systematik der Altersgruppendifferenzierung im Rahmen der FSK ist den tatsächlichen
kindlichen Entwicklungsschritten überhaupt nicht angepasst.
({7})
Die FDP ist der bei vermutlich allen Fraktionen zustimmungsfähigen Auffassung, dass sich im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren Kinder erheblich stärker
verändern und entwickeln als zwischen 16 und 18 Jahren.
({8})
Dementsprechend wäre zumindest eine zusätzliche Altersgrenze zwischen sechs und zwölf Jahren zu erwägen.
Doch den Eltern die Möglichkeit zu nehmen, mit ihren
Kindern gemeinsam einen eigentlich erst eine Altersklasse höher freigegebenen Film zu besuchen, zeugt von
einem Menschenbild, in dem dem Gesetzgeber oder der
FSK mehr zugetraut wird als den verantwortlichen Menschen, nämlich den Eltern.
({9})
Wenn das neu geregelte Jugendschutzgesetz ein verändertes Bewertungsverhalten der FSK zur Folge hätte, wie
es kirchlicherseits vermutet wird, so wäre das durchaus
begrüßenswert. Eine zusätzliche Altersgrenze würde auch
unter diesem Aspekt sinnvoll sein.
In Bezug auf Bildschirmspielgeräte schlägt der Bundesrat die Rückkehr zur alten Regelung vor, die Kindern
und Jugendlichen das entgeltliche Spielen verbot und so
der Gefahr des Verspielens größerer Geldsummen begegnete. Die Neuregelung des Jugendschutzes schreibt die
Alterskennzeichnung vor und ermöglicht eine differenzierte Freigabe, lässt aber die Entgeltproblematik offen. In
der Abwägung beider Aspekte bevorzugen wir die Alterskennzeichnung. Es ist jedoch überlegenswert, auch die
Entgeltproblematik im Jugendschutz zu regeln.
Wir können hier nur mahnen, bei allen berechtigten
und wohl zu verstehenden Schutzvorschlägen immer daran zu denken, dass Jugendliche irgendwann, spätestens
mit 18, reif sein müssen, verantwortungsbewusste Entscheidungen selbst zu treffen.
({10})
Wir wollen Kinder und Jugendliche nicht nur vor Gefährdungen schützen; wir wollen und müssen sie auch befähigen, mit Gefährdungen besonnen und kritisch umzugehen.
({11})
Ein generelles Verbot, jugendgefährdende Trägermedien zu verleihen, auch an Erwachsene, wie in der Bundesratsinitiative gefordert, halten wir Liberale für unzweckmäßig und unverhältnismäßig. Es kann nicht sein,
dass jugendgefährdende Trägermedien zwar verkauft
werden und im Internet zugänglich sein können, dass aber
der Verleih, auch an Erwachsene, verboten wird.
({12})
Das trägt nur zur Diskriminierung eines Wirtschaftszweiges, nicht aber zum Jugendschutz bei.
({13})
Denn wenn trotz des ohnehin existierenden Verbots jugendgefährdende Medien in die Hand von Jugendlichen
gelangen können, dann gilt dies natürlich nicht nur für
Medien, die durch Verleih, sondern eben auch für solche,
die durch Verkauf oder via Internet in Umlauf gelangen.
({14})
Ein Verleihverbot trägt ganz offensichtlich nicht zur Lösung dieses Problems bei.
Das Gleiche gilt für das Automatenverbot bei Bildträgern. Das Jugendschutzgesetz in der demnächst in
Kraft tretenden Fassung schreibt technische Vorrichtungen vor, die verhindern sollen, dass die entsprechenden
Automaten von Kindern und Jugendlichen bedient werden können. Wer damit nicht zufrieden ist, müsste sich
konsequenterweise generell gegen den Automatenverkauf
aussprechen, etwa auch bei Zigaretten. Das tut aber der
Bundesrat aus wohl überlegten Gründen nicht.
({15})
Mit Sympathie betrachte ich dagegen das geforderte
Verbot der Darstellung von Kindern in unnatürlicher, geschlechtsbetonter Körperhaltung. Hier nähern wir uns zu
sehr einer Grauzone zum sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen und der Gesetzgeber kann gar
nicht klar genug sagen, dass auch Informations- oder
Kunstfreiheit nicht ansatzweise als Vorwand dienen dürfen, Kinder und Jugendliche auch nur in die Nähe dieser
Grauzone zu bringen.
({16})
Ich kann nur erneut versuchen, in Erinnerung zu rufen:
Rechtliche Regelungen zum Jugendschutz können nie mehr
als einen Beitrag dazu leisten, dass die Gesellschaft als
Ganzes Kinder und Jugendliche vor Gefährdungen schützt.
Die Vorschläge des Bundesrates zur Novellierung des Jugendschutzgesetzes machen deutlich, dass es auf diesem
Gebiet weiterhin Handlungsbedarf gibt. Aber damit der gesetzliche Jugendschutz seine Aufgabe wirkungsvoll erfüllen
kann, braucht es auch ein breites Engagement aller für das
Aufwachsen der jungen Generation verantwortlichen Instanzen, nicht nur der staatlichen Stellen. Die Verantwortung jedes Einzelnen darf nicht aus dem Blickfeld geraten.
Danke.
({17})
Ich erteile das Wort Kollegin Jutta Dümpe-Krüger,
Bündnis 90/ Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei Jahre lang ist zwischen Bund und Ländern diskutiert worden, bevor der Bundesrat im Juni 2002 dem
neuen Jugendschutzgesetz zugestimmt hat. Das Gesetz
zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit wurde mit
dem Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender
Schriften und Medieninhalte zusammengeführt, um zu einem einheitlichen Jugendschutzgesetz zu kommen.
Warum war das gut und richtig, meine Damen und Herren? - Um den Schutz von Kindern und Jugendlichen da
zu verbessern, wo es nötig ist, und trotzdem mit Augenmaß den Rahmen dafür zu schaffen, dass Jugendliche einerseits einen besonderen und umfassenden Schutz genießen, andererseits aber auch noch in der Lage sind,
eigenverantwortlich zu handeln. Denn unsere Gesellschaft - und damit auch unsere Wirtschaft, die Unternehmen und die Betriebe - braucht junge Menschen, die in
der Lage sind, selbstständig zu denken, zu handeln und
Entscheidungen zu treffen.
Der Jugendschutz ist nicht nur verbessert, er ist ja auch
verschärft worden - ein Wort, das Ihnen, meine Damen
und Herren auf der rechten Seite dieses Hauses, besonders
gut gefällt. Ich beschränke mich auf einige Beispiele.
Computer und Bildschirmspielgeräte müssen mit
Altersfreigabekennzeichnungen versehen werden. Wer
diese Bildträger an Kinder und Jugendliche abgibt, die
jünger sind, kann mit Bußgeldern bis 50 000 Euro bestraft
werden.
Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien
kann ohne Antrag Medien aller Art auf eine Verbotsliste
setzen.
Trägermedien, die Gewalt verherrlichen oder pornographisch sind, werden mit weit reichenden Abgabe-, Vertriebs- und Werbeverboten belegt. Sie dürfen Jugendlichen nicht zugänglich sein.
Heute liegt uns der Gesetzentwurf des Bundesrates
vor, der vom Freistaat Bayern eingebracht wurde. Warum,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU, dieser Vorstoß aus dem tiefen Süden der Republik? Die Antwort ist
einfach, auch wenn man wie ich nur aus Nordrhein-Westfalen kommt - als neue Abgeordnete hatte ich mir
aufgrund etlicher Diskussionen in der letzten Zeit vorgenommen, mich zu gegebener Zeit einmal dafür zu entschuldigen; das möchte ich hier tun -: Weil Ihnen selbstverständlich wieder einmal all das, was im Gesetz steht,
viel zu windelweich erscheint.
({0})
Sie fordern in Ihrem Gesetzentwurf nämlich nicht nur
eine Verschärfung des bestehenden Gesetzes, sondern
fallen auch in Uraltregelungen längst überholter Lawand-order-Politik zurück. Das machen schon Ihre Be1574
griffsverwendungen deutlich: „Verbot“, „Rückkehr“, „Abschaffung“ oder auch „Erhöhung des Bußgeldrahmens“.
Wo ist da Neues? Wo ist da Innovatives?
({1})
Ich greife einige Punkte heraus:
Erstens. Sie wollen - so der Gesetzentwurf - die Abschaffung des Elternprivilegs bei Kinobesuchen. Sie sagen einerseits, Elternleistung dürfe nicht durch gesetzliche
Regelungen konterkariert werden. Im gleichen Atemzug
fügen Sie hinzu:
Verbindliche und bewährte Altersempfehlungen, wie
sie für Kinofilme durch die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft ... bestehen, sollten deshalb
nicht durch ein so genanntes Elternprivileg ... unterlaufen werden.
Meine Damen und Herren, Sie stellen damit nicht nur Eltern ein Armutszeugnis aus; dieser Widerspruch fällt Ihnen nicht einmal auf. Nein, Sie unterstellen auch, dass es
so etwas wie den fiktiven Acht- oder Zwölfjährigen gibt.
An der grob über den Daumen gepeilten Definition dessen Entwicklungsstandes wäre ich sehr interessiert.
Unser Jugendschutzgesetz gibt den Eltern die Möglichkeit, unterschiedliche Entwicklungsstufen ihres Kindes zu
beachten, und zwar individuell. Das ist gut und richtig so,
weil Eltern ihr Kind am besten kennen und seinen Entwicklungsstand deswegen am besten einschätzen können.
({2})
Zweitens. Wenn es nach Ihnen geht, dann soll es anscheinend unterschiedliche Bußgeldrahmen für gleich
geartete Vergehen geben. Das würde nicht nur das Verhältnismäßigkeitsgebot auf den Kopf stellen, sondern
auch dem Gleichbehandlungsgrundsatz widersprechen.
Außerdem ist doch längst bekannt, dass schärfere Sanktionen nicht zu einem höheren Schutz des gefährdeten
Rechtsguts - hier des Jugendschutzes - führen.
Drittens. Sie führen in Ihrem Gesetzentwurf eine Unmenge unbestimmter Rechtsbegriffe, Regelbeispiele und
Generalklauseln ein, zum Beispiel im Bereich der Killerspiele oder beim „Verbot für Darstellungen von Kindern
und Jugendlichen in unnatürlicher, geschlechtsbetonter
Körperhaltung“. Niemand, der Recht anwenden muss,
wüsste, wie er das überhaupt machen sollte.
Das heißt im Klartext: Ihr Gesetzentwurf führt zu keiner Effektivitätssteigerung und auch nicht zu einem besseren Jugendschutz. Er führt lediglich dazu, dass Ihnen
anerkannte Fachleute attestieren, dass Sie einen „deutlichen Nachholbedarf an fachlicher Beratung haben“.
({3})
Die Situation der Jugend ist in jeder Generation eine
andere. Auf den ständigen Wechsel in diesem Bereich
muss der heutig Gesetzgeber reagieren. Rot-Grün hat reagiert, indem das Jugendschutzgesetz umfassend und in
geeigneter Weise reformiert wurde.
Wir haben es soeben bereits gehört - ich wiederhole
es -: Zwischen Bund und Ländern besteht das Einvernehmen, die neuen Vorschriften innerhalb von fünf Jahren
ständig zu evaluieren. Die Neuregelung wird zu Verbesserungen führen; davon bin ich überzeugt. Vielleicht muss
an der einen oder anderen Stelle nachgebessert werden;
das ist normal. Aber auch das wird laufend hinterfragt
werden. Akteure auf allen Ebenen werden dauerhaft in
diesen Prozess eingebunden sein.
Das Fazit kann nur sein: Das, was Sie uns hier über den
Bundesrat vorlegen, wäre eine Verschlimmbesserung,
von der wir tunlichst die Finger lassen sollten.
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für Ihre
Aufmerksamkeit.
({4})
Dies war die erste Rede der Kollegin Dümpe-Krüger.
Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Andreas
Scheuer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Griese, Sie haben so liebe Worte gefunden. Deshalb
möchte ich Ihnen sagen: Schauen Sie sich doch zuerst einmal die Werbekampagne der SPD in Niedersachsen an, in
der Sie Kinder für Ihre Sache instrumentalisieren. Parteiübergreifender Konsens mit Ihnen? - Ich sage: Wahnsinn!
({0})
Auch wenn Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, nicht gern daran erinnert werden, kann ich es Ihnen nicht ersparen, noch einmal auf die Geschichte der
Reform des Jugendschutzgesetzes einzugehen. Es war
am Beginn der Regierungszeit von Rot-Grün, als Gerhard
Schröder zum Thema Jugendschutz - seine Phrasen sind
aber beliebig auf alle Politikbereiche anwendbar - sagte:
Das ist ganz wichtig, da müssen wir etwas tun. Dann geschah erst einmal wie gewohnt gar nichts.
Die Union mahnte, dass eine Reform dringend notwendig sei. Es folgte die Nullnummer Bergmann. Mit
weit gehenden Reformen ist man ja ohnehin - das wissen
wir - bei Rot-Grün sehr sparsam. Man verkündete also
zunächst einmal, dass keine Reform des Jugendschutzgesetzes in der 14. Legislaturperiode mehr angepackt werde.
So der Plan.
Dann ereignete sich die Bluttat in Erfurt. Es muss
eben leider immer erst etwas passieren, damit gehandelt
wird. Sie hinken mit Ihrer Politik immer hinterher und
wundern sich, dass die Instrumente nicht oder zu spät
greifen.
({1})
Nach dem Ereignis in Erfurt wurde mit glühend heißer
Nadel gearbeitet. Rot-Grün brauchte schnell etwas zum
Vorweisen, um von der langen Untätigkeit abzulenken.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie hörten nicht auf Expertenratschläge,
({2})
ignorierten weitgehend wichtige Änderungsanträge und
peitschten das Gesetz einfach durch. Das ist ja auch verständlich; denn in der SPD macht man sich lieber intensiv
Gedanken, wie man die Hoheit über den Kinderbetten
nach den Vorgaben von Müntefering und Scholz erreichen
kann,
({3})
als vielmehr vollständige und zukunftsfähige Konzepte
auf den Weg zu bringen.
Ja, meine Damen und Herren von der Koalition, das
werden Sie noch öfter zu diesem Thema hier im Hohen
Haus hören;
({4})
denn Sie machen Gesellschaftspolitik aus der SPD-Parteizentrale heraus. Sie wollen insgesamt eine Gesellschaft
- lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen - à la DDR
light. Das ist wahrlich traurig.
({5})
An drei Beispielen will ich den Sinn und die Praxisnähe unseres Vorschlags deutlich machen. Erstes Beispiel: Ballerspiele an Bildschirmgeräten. Es ist doch Realität, dass in den Spielhöllen die jungen Freaks vor allem
durch Ihre Lockerung der Altersgrenze öffentlich um den
Sieg ballern können.
({6})
Die Spiele werden zudem mit den neuen Grafiken an
Hightechbildschirmen immer realer.
Zweites Beispiel: Laserdromes und Gotchaspiele.
Schießen auf alles, was sich bewegt, und Abknallen des Mitspielers sind der Inhalt dieser Spiele. Besser kann man einen
Amoklauf gar nicht trainieren. Das passt nicht in unser Wertesystem. Da muss der Riegel vorgeschoben werden.
({7})
Drittes Beispiel: Videoverleihautomaten. Selbst der
Videofachhandelsverband, IVD, geht gegen diese Automaten vor. Nach wie vor ist die soziale Kontrolle beim
Betreten eines Ladengeschäftes höher als beim Zugang zu
einem Automatenraum. Durch Strohmänner kann der Jugendliche locker gefährliches und schädliches Material
ausleihen. Die Chipkarte - seien wir doch ganz ehrlich und der Fingerabdruck sind leicht von einem 18-jährigen
Kollegen organisiert - und dann geht das wilde Verleihen
los.
Meine Damen und Herren, dass es bei diesem Thema
immer Lücken geben wird, ist klar. Wenn wir aber die
Lücken nicht schließen, die wir schließen können, dann
erfüllen wir im Deutschen Bundestag unsere Aufgabe
nicht.
({8})
Zu Beginn dieser Legislaturperiode war Ministerin
Renate Schmidt mit der Friedenspfeife unterwegs. Sie hat
bei ihrem Auftritt im zuständigen Ausschuss beteuert, Sie
werde alle Vorschläge prüfen und dankend aufnehmen,
die von der Union eingebracht würden.
({9})
Frau Beck, Sie sind Ihre Vertreterin. Teilen Sie ihr bitte
mit, dass sie im Wort steht. Greifen Sie jetzt zu bei den
Verbesserungen im Jugendschutz!
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, haben Sie
keine Angst. Wir wissen ja, dass Sie immer wieder bei
den verschiedensten Themen unsere Hilfestellung brauchen, um die Fehler und Blindstellen Ihrer Gesetze auszumerzen.
({10})
Wir verzeihen Ihnen ja Ihre Flickschusterei und Ihre Hektik bei diesem Thema, wenn Sie jetzt bei dieser Gesetzesänderung mitmachen.
Zum Schluss möchte ich Ihnen einen Spruch des ehemaligen Oberbürgermeisters von Stuttgart, Manfred
Rommel - der Spruch ist für Rot-Grün wie geschaffen -,
in Erinnerung rufen:
Der Mensch kommt nicht umhin, sein ganzes Leben
lang ein Irrender zu sein. Er hat aber die Chance, sich
zu einem immer weniger Irrenden zu entwickeln.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, es gibt also
noch Hoffnung für Sie. Nutzen Sie sie!
Herzlichen Dank.
({11})
Dies war die erste Rede des Kollegen Scheuer. Nach
seinem Zitat des Oberbürgermeisters Rommel gratuliere
ich ihm besonders herzlich dazu.
({0})
Nun erteile ich der Kollegin Sabine Bätzing, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, dass Sie, meine Damen und
Herren von der Union, uns heute, zu Beginn des neuen
Jahres, so alte Hüte präsentieren.
({0})
Wir nehmen das aber dankbar auf, um noch einmal deutlich zu machen, wie erfolgreich und vor allem zukunftsorientiert unsere rot-grüne Regierungspolitik ist.
({1})
- Passen Sie gut auf! - Vor allem sind wir, offensichtlich
im Gegensatz zu Ihnen, auf der technischen Höhe der Zeit
angelangt und stellen uns der Realität.
Statt zu begrüßen, dass mit dem Jugendschutzgesetz
und dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, der noch in
Kraft treten muss, eine deutliche und zeitgemäße Verbesserung des Jugendschutzes erreicht wird, halten Sie sich
mit Änderungswünschen auf, die entweder überholt sind
oder einen deutlichen Rückschritt bedeuten würden.
({2})
Sie geben dem Jugendschutzgesetz und dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag überhaupt keine Chance, auf
ihre Wirksamkeit hin überprüft zu werden. Wie Sie wissen, haben sich die Länder in ihrem Eckpunktepapier auf
eine Evaluierungsphase von fünf Jahren verständigt. Wir
sollten dem Gesetz die Chance geben, diese fünf Jahre erst
einmal in Kraft zu sein.
Herr Scheuer, aus Ihrer Kritik zum Jugendschutzgesetz
könnte man schließen, es sei vom rot-grünen Regierungshimmel einfach auf Sie gefallen. Wir wissen aber, dass
dieses Gesetz mit großer Mehrheit - auch im Bundesrat verabschiedet wurde. Im Übrigen möchte ich auch darauf
hinweisen, dass - ein absolutes Novum - auch Mitglieder
der Bundesschülerinnen- und schülervertretung an der
Anhörung des Bundestages zum Jugendschutzgesetz
teilgenommen haben. Auch hier wird der Unterschied
zwischen unserer Regierungsarbeit und Ihrer Politik deutlich:
({3})
Wir nehmen Kinder, Jugendliche und deren Eltern ernst.
Wir machen keine Politik über Jugendliche, sondern für
junge Menschen und deren Familien. Das funktioniert nur
gemeinsam. Das nennt man Politik gestalten.
({4})
In den Ausführungen der Opposition wurde heute immer wieder vom Erziehungsbeauftragten gesprochen. Abgesehen davon, dass Sie den Erziehungsbeauftragten in
der Debatte mit dem Elternprivileg vermischt und verwechselt haben - diesen Eindruck hatte ich -, glaube ich,
dass Sie die Begrifflichkeit und deren Bedeutung noch
nicht verstanden haben. Ich erläutere es Ihnen aber gerne
noch einmal.
Sie kritisieren, dass es sich bei dem Erziehungsbeauftragten zum Beispiel um den volljährigen Freund der
Tochter handeln könnte, wodurch die minderjährige
Tochter praktisch ständig die Möglichkeit hätte, mit ihm
in der Disko zu versumpfen. Sie verkennen dabei aber
- ob wissentlich oder unwissentlich lasse ich einfach einmal dahingestellt -,
({5})
dass ein Auftrag zur bloßen Begleitung durch den Freund
nicht als Erziehungsauftrag angesehen werden kann und
von uns auch nicht als Erziehungsauftrag angesehen wird.
Oft sind es die Tanten, die Großeltern oder die bereits
volljährigen Geschwister, die mit den Kindern und Jugendlichen zu Veranstaltungen gehen und sie nicht nur begleiten, sondern auch beaufsichtigen. Es kommt auf den
Auftrag zur Beaufsichtigung und somit zur Erziehung und
nicht auf die bloße Begleitung an.
({6})
Es ist auch verwunderlich, dass Sie in der Begründung
zu Ihrem Änderungsgesetz die Stärkung der Erziehungskompetenz und der Elternkompetenz anführen; denn Sie
lassen Ihren Worten keine Paragraphen folgen. Auf der einen Seite wollen Sie einen Schritt zurückgehen und den
Begriff des Erziehungsberechtigten wieder einführen, um
die Erziehungskompetenz zu stärken. Auf der anderen
Seite trauen Sie den Eltern nicht zu, einzuschätzen, ob ein
Kinofilm ihr Kind emotional oder intellektuell überfordert. Hier sprechen Sie den Eltern jegliche Erziehungskompetenz ab. Wir trauen den Eltern diese Erziehungskompetenz zu; denn es sind doch die Eltern, die ihre
Kinder und deren Entwicklung tagtäglich erleben. Wer,
wenn nicht Vater oder Mutter, soll Kinder denn einschätzen können?
Auch gehört es zur Erziehungsverantwortung der Eltern, dass sie sich - das ist selbstverständlich -, bevor sie
sich mit ihrem Kind einen Film anschauen, über dessen
Inhalt informieren und dann entscheiden, ob sie ihn ihrem
Kind zumuten können oder nicht. Es gibt so viele TV- und
Kinozeitschriften, in denen sie sich darüber informieren
können. Sie brauchen sich den Film nicht vorher extra anzuschauen, sondern es reicht, wenn sie sich über den Inhalt in entsprechenden Zeitschriften informieren.
Das Elternprivileg ist keine utopische Träumerei von
einer besseren Welt. Dieses System funktioniert in Großbritannien unter dem Stichwort Parental Guidance hervorragend. Horrorszenarien von Kindern zu malen, die
durch den gemeinsamen Kinobesuch mit ihren Eltern geschädigt werden, ist an dieser Stelle gänzlich unangebracht.
({7})
Dieses Elternprivileg stärkt die Erziehungsverantwortung der Eltern. Ihre vorgeschlagene Änderung, meine
Damen und Herren von der Opposition, ist dagegen eine
Entmündigung der Eltern und steht im Übrigen im Widerspruch zu Ihrer Begründung. Trauen Sie doch den Eltern die Erziehungskompetenz zu! Unterstützen wir sie,
indem wir für sie optimale Rahmenbedingungen schaffen.
Sie tragen die Verantwortung und sie wollen und können
diese Verantwortung auch tragen.
Auch die Medienkompetenz im neuen Jugendschutzgesetz ist ein wichtiges Stichwort. Aber dieses Stichwort
wird in dem uns vorliegenden Änderungsgesetz fast durch
ein Medienverbot ersetzt. Sie wollen Medienkompetenz
durch Verbote und Vorschriften ersetzen. Natürlich - darin
sind wir uns wohl alle einig - bergen die Entwicklung des
Internetangebots und der sonstigen Informationslandschaft
sowie deren Nutzung für die jungen Menschen auch Gefahren; das will niemand bestreiten.
({8})
Auch sind wir uns einig, dass Verstöße gegen das Jugendschutzgesetz in besonderem Maße geahndet werden
müssen. Daher haben wir uns für die Erhöhung des Bußgeldes auf 50 000 Euro bei entsprechenden Gesetzesverstößen eingesetzt. Dabei handelt es sich um mehr als das
Dreifache des vorherigen Betrages.
({9})
Die in Ihrem Änderungsgesetz gewünschte Erhöhung auf
500 000 Euro sprengt allerdings die Grenzen der Verhältnismäßigkeit.
({10})
Eine solche Bußgelddrohung ist nicht nur unverhältnismäßig, sondern sie wird auch dem Gesamtgefüge des
Bußgeldrahmens im Nebenstrafrecht nicht mehr gerecht.
({11})
Ich frage mich, wie Sie begründen wollen, dass bei Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften des Jugendschutzgesetzes 500 000 Euro erforderlich sein sollen, jedoch bei
gegen die Menschenwürde verstoßenden Spielen - dabei
handelt es sich schließlich um ein Grundrecht - ein Bußgeld von 5 000 Euro ausreicht. Diese Erklärung bleiben
Sie schuldig.
Spannend ist auch der Art. 2 des Änderungsgesetzes.
Er ist schlicht überflüssig. Sie wollen im Ordnungswidrigkeitengesetz den § 118 a neu einführen, nach dem so
genannte Killerspiele wie Gotcha, Laserdrome oder
Paintball verboten werden sollen. Aber in diesem Bereich
hinken Sie der Entwicklung leider um etwa anderthalb
Jahre hinterher; denn bereits im Oktober 2001 hat das
Bundesverwaltungsgericht in einer Grundsatzentscheidung klargestellt, dass diese Spiele, die ohne Zweifel gegen die Menschenwürde verstoßen - ich betone, dass es
irrelevant ist, ob dabei Laserpistolen oder Farbmarkierungswaffen eingesetzt werden -, über die polizeiliche
Generalklausel zu verbieten sind.
Ich bin mir sicher, dass Ihnen der Schutz der Kinder
und Jugendlichen ebenso am Herzen liegt wie mir. Aber
glauben Sie wirklich, dass Sie Heranwachsende ausschließlich durch Verbote und Regelungen vor Gewalt
schützen können? Ist es nicht eher so - denken Sie dabei
bitte an Ihre eigene Kindheit und Jugend zurück -, dass gerade das, was verboten ist, den besonderen Reiz darstellt?
({12})
Wir können junge Menschen nicht nur durch Verbote
schützen, Herr Zöller. Wir wollen das auch nicht.
({13})
Wir wollen sie nicht vor Gefahren und Problemen verstecken. Wir wollen unsere Kinder so auf die neuen Medien vorbereiten, dass sie einen verantwortungsbewussten
Umgang damit lernen und Medienkompetenz ohne einen
Wust von Verboten und Regelungen erreichen. Deshalb
müssen die Kinder zu ihrem eigenen Schutz frühzeitig lernen, wie sie bestimmte Medien einzuschätzen und wie sie
mit ihnen umzugehen haben. Stärken wir lieber die Medienkompetenz der Kinder und Jugendlichen sowie die
Erziehungskompetenzen der Eltern.
({14})
Hören Sie auf mit diesem Wust von Verboten!
({15})
Vielen Dank.
({16})
Ich erteile das Wort der Kollegin Michaela Noll,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gut
gemeint, aber leider nicht gut gemacht: Das beste Beispiel
dafür ist das erst vor sechs Monaten verabschiedete Jugendschutzgesetz. Ziel war es, den Jugendschutz zu stärken. Dieses Ziel wurde verfehlt. Ursachen dafür sind uns
allen bekannt: Erfurt, Hektik im Gesetzgebungsverfahren
und mangelnde Umsetzung der kritischen Stimmen.
Wir durften uns ja hier und heute schon vieles anhören.
Aber an dieser Stelle möchte ich vor allem auf Ihre Maßnahmen eingehen, die sich als ungeeignet, als nicht praktikabel und als schlichtweg misslungen darstellen.
({0})
Novellierung des Jugendschutzes muss Stärkung des
Jugendschutzes bedeuten. Der Bundesratsentwurf leistet
dazu einen effektiven Beitrag.
({1})
Es ist doch ein Schließen der Augen, wenn die Regierungskoalition gebetsmühlenartig auf die Reformen des
letzten Jahres verweist. Erinnern Sie sich noch an die kritischen Urteile der Sachverständigen? - Anscheinend
nicht. Kritik wurde zur praktischen Umsetzung des Erziehungsbeauftragten und zum Elternprivileg geäußert. Kritik wurde auch zur auffälligen Geschwindigkeit der parlamentarischen Beratungen geäußert. Das Ergebnis ist
bekannt. Es hat sich ja herausgestellt, dass die von Ihnen
beschlossenen Maßnahmen nicht alltagstauglich sind.
Der Bundesrat schlägt in seinem Entwurf vor, das so
genannte Elternprivileg wieder abzuschaffen. Eltern können jetzt für die untere Altersstufe entscheiden, ob sie
ihren achtjährigen Sohn ins Kino mitnehmen, obwohl der
Film erst ab zwölf Jahren freigegeben ist. Das Elternprivileg unterläuft damit die Einstufung durch die FSK. Hier
gehen unsere Meinungen diametral auseinander.
({2})
Sie träumten davon, dass Eltern und Kinder einen begleiteten, gemeinsamen und harmonischen Medienkonsum erleben.
({3})
Nur, die Realität ist eine andere. In dem Film „Herr der
Ringe“ tummeln sich Sechsjährige.
({4})
Aber diese Filme sind für Sechsjährige - bei aller Begeisterung - nicht geeignet, weder ohne noch in Begleitung.
({5})
Die Erfahrungen haben gezeigt, dass Eltern nur unzulänglich mit dem Medienkonsum ihrer Kinder umgehen können. Eltern müssten die Filme aus ihrer Elternverantwortung heraus im Vorfeld anschauen, um sich
persönlich ein Bild davon zu machen, ob diese Filme für
ihre Kinder geeignet sind.
({6})
Aber das geschieht eben nicht - aus Mangel an Zeit, aus
Überforderung oder schlicht aus Desinteresse.
Hier werden wir mit dem Elternprivileg erst recht
nichts erreichen - ganz im Gegenteil. Sinnvoller wäre es,
Eltern stark zu machen. Ich wünsche mir Eltern, die auf
bittende Fragen ihrer Kinder auch einmal Nein sagen können. Wenn ein Achtjähriger vor ihnen steht und mit gierigen Augen fragt, ob er sich den Film „Herr der Ringe“ ansehen darf, braucht es starke Eltern, die den Mut zur
Erziehung haben. Denn Nein sagen fällt Eltern sehr viel
schwerer als Ja sagen.
Die Stärkung der Erziehungs- und Medienkompetenz
der Eltern steht daher bei uns mit an erster Stelle. Erziehungskompetenz stärken heißt aber auch, Eltern zu ermutigen, Grenzen zu setzen. Das ist der richtige Weg.
({7})
Der Schutz der Kinder und Jugendlichen muss den Stellenwert erhalten, der ihm zukommt. Dies darf durch die Regelungen des Jugendschutzes nicht konterkariert werden.
Das Elternprivileg widerspricht auch der Vorbildfunktion
der Eltern, da so Sechsjährige hautnah erfahren, wie leicht
Schutzbestimmungen umgangen werden können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Jugendschutz
wird der aktuellen Entwicklung und auch den gesellschaftlichen Veränderungen hinterherlaufen. Allerdings
ziehen wir auch hier andere Schlussfolgerungen als Sie
von der Regierungskoalition. Wir wollen starke Eltern,
die eigenverantwortlich und verantwortungsbewusst handeln. Sie dagegen wollen die „Lufthoheit“. Die Einstellung, die dahinter steckt, ist gegenüber der Familie rücksichtslos und zynisch.
({8})
Das ist nicht nur ein flotter Spruch, sondern erinnert an sozialistische Herrschaftsansprüche über die Familie.
({9})
Auch der neu eingeführte Erziehungsbeauftragte
macht die Eltern nicht stark und fördert nicht die Medienkompetenz der 16-Jährigen. Sie sind bis heute die Antwort
schuldig geblieben, wie das Konzept des Erziehungsbeauftragten konkret aussehen soll. Angeblich ist die Einführung des Erziehungsbeauftragten eine Anpassung an
die längst bestehende Realität.
Wir sagen: Sie rennen nur dem Zeitgeist hinterher. Sie
wollen alles, was chic und cool erscheint und die Wählerstimmen der Jugendlichen bringt, ermöglichen. Die Gefahren nehmen Sie billigend in Kauf.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, verweigern Sie sich
nicht und lassen Sie uns konstruktiv und ohne Hektik das
unzureichende Jugendschutzgesetz konsequent verbessern!
Vielen Dank.
({11})
Frau Kollegin Noll, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten
Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Nun erteile ich das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Marieluise Beck.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, wir alle sollten im Vorfeld konzedieren,
dass die Debatte über dieses Thema zunehmend schwieriger wird. Es geht darum, wie Jugendliche vor Gewalt, vor
Brutalität, vor Pornographie geschützt werden können in
einer Zeit, in der die Medien eine immer größere Rolle im
Leben der Kinder spielen und die technologische Entwicklung dazu führt, dass die Medienträger in rasanter
Geschwindigkeit gewechselt werden können. Hier bedarf
es einer klugen Gesetzgebung.
Frau Noll, Sie haben gesagt, Sie wünschen sich, dass
Eltern ihre Kinder zum Beispiel nicht in den Film „Herr
der Ringe“ gehen lassen sollten, wenn sie dafür noch zu
jung sind. Sie müssen aber bedenken, dass es nur wenige
Monate dauern wird, bis dieser Film, der zunächst in einem öffentlichen Raum gezeigt wird, auf den der Gesetzgeber noch Zugriff hat, in den Geschäften auf Video zu
kaufen ist und in den privaten Haushalten Verwendung
findet. Damit geht es um die Frage der Erziehungskompetenz der Eltern. Sie müssen entscheiden, ob sie diesen
Film dem Kind im privaten Raum zugänglich machen
oder nicht. In einem weiteren Schritt geht es darum, dass
junge Menschen selbst entscheiden, vielleicht lieber einmal nicht hinzuschauen, weil sie das Gefühl haben, durch
Darstellungen, die sie nicht verarbeiten können, seelisch
verletzt werden zu können.
({0})
Im Gesetzgebungsverfahren haben wir uns mit diesem
Schnittfeld, den verfassungsrechtlichen Möglichkeiten
und Grenzen und der rasanten technologischen Entwicklung, auseinander gesetzt. Die Konsequenz, die aus den
Beratungen gezogen werden muss, lautet: Viel hilft nicht
immer viel.
Es ist schon vielsagend, dass der Fachausschuss im
Bundesrat dieses heute wieder aufgewärmte Gesetz nicht
positiv beschieden hat.
({1})
Wir sind gut beraten, neben den gesetzlichen Vorschriften
darüber nachzudenken, wie sowohl die Erziehungskompetenz der Eltern als auch die Entscheidungskompetenz
der Kinder und Jugendlichen gestärkt werden können.
Wir kennen einen anderen Bereich des Jugendschutzes,
in dem ein Verbot sehr wenig greift: den Tabakkonsum. Wir
können uns bemühen, das Rauchen insgesamt zu verbieten
oder das Aufstellen von Zigarettenautomaten. Trotzdem
gibt es eine Grenze, ab der kein Zugriff auf die Jugendlichen mehr möglich ist, es sei denn, es ist uns gelungen, sie
wirklich davon zu überzeugen, dass Tabak ihnen nicht gut
tut. Einen ähnlichen Ansatz brauchen wir beim Konsum
von Gewalt, von Brutalität, von Pornographie. Der eigentliche Dollpunkt liegt da, wo Kinder und Jugendliche
selbst das Gefühl haben: Das tut mir nicht gut.
({2})
Der Bundesrat hat dem neuen Jugendschutzgesetz mit
großer Mehrheit zugestimmt, aber das Gesetz ist noch
nicht einmal in Kraft. Sie legen also zu einem Zeitpunkt
nach, an dem das Gesetz noch nicht einmal zu wirken begonnen hat. Sie alle wissen, dass wir auf das Ende des Verfahrens zur Ratifizierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags warten und dass das neue Gesetz ab 1. April 2003
seine Wirkung entfalten wird.
({3})
Lassen Sie uns also vernünftig sein und nicht aus
Hilflosigkeit von einem Gesetzgebungsverfahren zum
nächsten springen. Es gilt jetzt, vernünftig zu sein, das
Gesetz zur Anwendung zu bringen und dann immer wieder zu überprüfen, ob es an die technologischen Entwicklungen angepasst werden muss. Wir sollten also gemeinsam in den Evaluierungsverfahren schauen, wo vielleicht
noch Nachjustierungen notwendig sind. Ich versichere für
die Bundesregierung, dass gerade im Bereich des Jugendschutzes sinnvolle Vorschläge, die aus dem öffentlichen
Raum kommen, immer Gehör finden werden.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/88 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für
Kultur und Medien vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Zivildienstgesetzes ({0})
- Drucksache 15/297 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Anton Schaaf, SPD.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung ist weitestgehend unumstritten. Haushaltskonsolidierung ist für uns
aber kein Selbstzweck, also nicht Sparen um des Sparens
willen. Wir erarbeiten uns damit vielmehr notwendige
Spielräume insbesondere für Investitionen.
({0})
Wir leisten damit aber auch einen Beitrag dazu, dass künftige Generationen nicht zusätzlich belastet werden. Wenn
wir die Gerechtigkeitsdebatte schon überall führen, dann
sollten wir diesen Aspekt der Debatte, also die Generationengerechtigkeit, besonders im Blick haben.
({1})
Wir haben auch von dieser Stelle aus immer wieder
deutlich betont, welche Prioritäten wir in den Politikfeldern in der laufenden Legislaturperiode setzen wollen. Im
Bereich der Familien- sowie der Kinder- und Jugendpolitik haben sich Regierung und Koalition viel vorgenommen. Wir werden dies auch umsetzen.
({2})
Als Beispiel sei hier die Ganztagsbetreuung genannt. In
den genannten Politikfeldern wird zusätzlich investiert.
An dieser Prioritätensetzung wird klar, in welchen Bereichen wir nicht sparen werden und - das füge ich ausdrücklich hinzu - auch nicht sparen dürfen. Dennoch
muss jedes Ressort zur Konsolidierung des Haushalts beitragen, so auch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 90,6 Millionen Euro müssen eingespart werden. Der zur Verfügung stehende Spielraum ist
eng, wie wir alle aus den Ausschussberatungen wissen.
In den schon durchgeführten Etatberatungen zum Einzelplan 17 haben wir deutlich gemacht, dass es aus unse1580
rer Sicht nur möglich ist, den zu erbringenden Sparbeitrag im Bereich des Etatansatzes für den Zivildienst zu
erzielen.
({3})
Darüber, wie die notwendigen Einsparungen im Bereich
des Zivildienstes erbracht werden können, ist insbesondere mit den Wohlfahrtsverbänden sehr ausführlich diskutiert worden. Es wurden zwischen dem Ministerium
und den Verbänden die verschiedenen Möglichkeiten ausgelotet, wie der Einsparungsbetrag zu erbringen ist. Zu den
Möglichkeiten gehörten der Verzicht auf Einführungskurse, die Verkürzung der Zivildienstdauer oder die Senkung der Zahl der Zivildienstleistenden.
Als verträglichste Lösung erachteten alle Beteiligten
aber den von uns eingebrachten Vorschlag, § 6 Abs. 2
Satz 2 des Zivildienstgesetzes dahin gehend zu ändern,
dass die Kostenerstattung an die Beschäftigungsstellen
von derzeit 70 Prozent auf 50 Prozent sinkt. Mit dieser
Maßnahme und gezielten Steuerungsmaßnahmen bei der
Verteilung nicht verbrauchter Kontingentanteile lassen
sich die notwendigen Einsparungen erzielen. Diese Maßnahme - das sei hier noch einmal ausdrücklich betont - ist
bis zum Ende dieses Jahres befristet.
({4})
Um in den vielen Bereichen, in denen Zivildienstleistende hervorragende Arbeit tun, zum Beispiel bei der
Schwerstbehindertenbetreuung, Kontinuität zu gewährleisten, haben die Wohlfahrtsverbände dieser Maßnahme
zugestimmt. Die Mehrkosten pro Zivildienstleistenden
und Monat - um einmal deutlich zu sagen, über welche
Beträge wir reden - belaufen sich auf 66,61 Euro.
({5})
- Frau Lenke, wenn Sie sich schon bei der Einbringung
des Gesetzentwurfs so aufregen, dann, fürchte ich, müssen wir bei der abschließenden Beratung für Sie ärztliche
Hilfe mitbringen.
({6})
Die Zahl der Zivildienstleistenden wird aufgrund
dieser Maßnahme sicherlich etwas zurückgehen, aber nur
die von uns vorgeschlagene Änderung des § 6 des Zivildienstgesetzes kann verhindern, dass die Zahl der Zivildienstleistenden im Jahresdurchschnitt dramatisch sinken
muss, was von Ihnen, meine Damen und Herren von der
Opposition, ja befürchtet wird.
({7})
Allerdings halte ich hier fest, dass sinkende Zivildienstleistendenzahlen auch ein Schritt in die richtige
Richtung sind, nämlich - das dürfen wir in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich erwähnen - in Richtung
Wehrgerechtigkeit.
({8})
Die Diskussion um die Wehrgerechtigkeit steht aktuell eh
an. Wir werden sie weiterführen, insbesondere mit den
Wohlfahrtsverbänden. Wir müssen auf die Kontinuität der
guten Zusammenarbeit der Ministerien, der Politik und
der Wohlfahrtsverbände, insbesondere im Bereich des Zivildienstes, setzen.
({9})
Besonders erwähnenswert finde ich, dass Sie, meine
Damen und Herren von der Union, in den Ausschussberatungen dem Antrag der FDP auf Wiedereinstellung der
Mittel für den Zivildienst nicht zugestimmt haben. Ihre
Begründung war und ist nach wie vor richtig: Die FDP
hatte schlichtweg keinen Deckungsvorschlag.
({10})
Sie erkennen also an, dass gespart werden muss, sagen
aber, wie üblich, nicht, wie und wo gespart werden soll.
({11})
Ihre Anträge im Ausschuss hätten die notwendigen
90 Millionen Euro bei weitem nicht erbracht.
({12})
Ihre Vorschläge hätten darüber hinaus - auch das soll hier
betont werden - wichtige Projekte, insbesondere gegen
Rechtsradikalismus, zerstört.
({13})
Auch wenn Ihre Vorschläge für uns nicht akzeptabel
waren, könnte man Ihr Verhalten - ich muss ehrlich sagen,
dass ich schon überrascht war - doch als konstruktiv bezeichnen; denn Sie haben endlich mal Vorschläge eingebracht. Das war in dieser Legislaturperiode bisher noch
nicht so und es ist im Besonderen erwähnenswert.
({14})
Seit 1961 ist es möglich, Ersatz- oder Zivildienst zu
leisten. Hunderttausende junger Männer haben in diesen
40 Jahren für die Gesellschaft Hervorragendes geleistet.
Wurden Zivildienstleistende von manchen zunächst als
Drückeberger wahrgenommen, die über den Zivildienst
sozusagen abgestraft wurden - das wurde durch die Ungleichbehandlung zwischen Wehr- und Zivildienstleistenden deutlich -, genießen diese jungen Männer mittlerweile
und zu Recht höchste Anerkennung. In einigen Bereichen
sind Zivildienstleistende nicht mehr wegzudenken.
({15})
Wir haben allen Grund, denke ich, den Zivildienstleistenden für ihre wertvolle Arbeit zu danken, und das will ich
hier auch ausdrücklich tun.
({16})
Die Absenkung der Erstattung des Bundes für Zivildienstleistende als Beitrag zur Haushaltskonsolidierung
ist übrigens kein neues Instrument.
({17})
Vielleicht erinnern Sie, meine Damen und Herren von der
Union und von der FDP, sich noch an einen Gesetzentwurf aus dem Jahr 1993, auch wenn das schon lange her
ist, mit dem wunderschönen Titel: Entwurf eines Gesetzes
zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms. Zur Änderung des Zivildienstgesetzes
stand darin Folgendes - ich zitiere das gern einmal -:
Das Bundesministerium für Frauen und Jugend legt
im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der
Finanzen
- höchst spannend! für die Erstattung einheitliche Pauschalbeträge fest.
Gott sei Dank ist es nicht so weit gekommen. Ergebnis
war am Ende, dass die Erstattung von 100 auf 75 Prozent
gesenkt worden ist.
({18})
Wenn Sie unseren Vorschlag kritisieren, dann schauen Sie
sich einmal Ihre alten Vorlagen an! Sie wollten die Erstattung sogar konjunkturabhängig machen. Anders ist nicht
zu erklären, dass der Finanzminister bei der Entscheidung
ein besonderes Wörtchen mitzureden hatte.
({19})
Friedrich Merz sagte in einem Zeitungsinterview, dass
er die Zivildienstleistenden am liebsten nur im Dienst am
Menschen sehen würde. Lassen Sie mich an dieser Stelle
deutlich sagen: Die Aufgabe des Zivildienstes ist es
zunächst einmal nicht, den Sozialstaat zu sichern;
({20})
Aufgabe des Zivildienstes ist es, jungen Männern, die
gemäß Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen anerkannt sind, einen
Ersatzdienst zu ermöglichen.
({21})
In diesem Sinne werden wir den Zivildienst weiterentwickeln. Die Absenkung der Erstattungspauschale ist
sachlich vertretbar und - ich betone es noch einmal - sie
ist auf dieses Jahr befristet.
Es sind die Verbände der freien Wohlfahrtspflege, die
Umweltverbände und die vielen kirchlichen und kommunalen Einrichtungen, die den Zivildienst in den vergangenen vier Jahrzehnten in guter Partnerschaft mit allen
Bundesregierungen erfolgreich und zum Wohl unserer Gesellschaft durchgeführt haben.
({22})
Auf diese Partnerschaft haben wir in der Vergangenheit
gesetzt und das werden wir auch in Zukunft tun.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({23})
Herr Kollege Schaaf, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause sehr herzlich und wünsche Ihnen persönlich und politisch für Ihre Zukunft alles
Gute.
({0})
Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Willi
Zylajew, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Interessant an diesem Gesetzentwurf ist nicht das, was darin
geschrieben steht, sondern das, was darin nicht geschrieben steht. Dieser Gesetzentwurf folgt dem Motto - dementsprechend müsste sein Titel sein -: Haushaltssanierung
auf Kosten der Alten, der Pflegebedürftigen und der Behinderten.
({0})
- Ja, natürlich stimmt das. Als Maurer müssten Sie eigentlich wissen, wo vorne und hinten ist.
({1})
Nicht das Gegenteil, sondern das, was ich gesagt habe, ist
richtig.
Sie finanzieren hiermit Ihren Haushalt ein Stück weit
auf Kosten der Schwachen und der Schwächsten in unserer Gesellschaft. Das ist unerhört.
({2})
Im Gesetzentwurf heißt es lapidar:
1. Die vorgeschlagene Änderung führt für die Träger
des Zivildienstes zu einer Kostensteigerung in Höhe
von 66,-- je Zivildienstleistender je Monat. ...
Nur für sich betrachtet ist das - es ist schon angesprochen
worden - kein besonders großer Betrag. Multipliziert man
diesen Wert aber mit 123 000, also mit der Zahl der Zivildienstleistenden in unserem Land, dann sind das 8,1 Millionen Euro. Dies sind die monatlichen Mehrkosten der
Träger des Zivildienstes. Berücksichtigt man dann noch
die Dienstzeit, dann kommt man auf einen Betrag von über
80 Millionen Euro. Dieses Geld entziehen Sie dem sozialen Versorgungssystem einfach. Diese Mittel sind weg.
({3})
Dies führt dazu, dass es zu Leistungseinschränkungen kommen wird. Das ist ganz eindeutig.
({4})
Die Leidtragenden sind die Hilfsbedürftigen und ihre Angehörigen, niemand anders. Dies nehmen Sie ausdrücklich in Kauf. Herr Kollege Schaaf, das können Sie nicht
schönreden.
({5})
Auf die Wohlfahrtsverbände komme ich noch zu sprechen. Bleiben Sie nur ruhig!
Im Gesetzentwurf heißt es weiterhin:
Auswirkungen auf Einzelpreise und das Preisniveau,
insbesondere das Verbraucherpreisniveau, entstehen
nicht.
Das ist doch schlichtweg Blödsinn; denn erstens werden
Leistungskürzungen vorgenommen. Ich gebe zu, dass das
Preisniveau in manchen Bereichen gleich bleibt; dafür ist
die angebotene Leistung aber schlechter. Zum Zweiten
werden natürlich auch Leistungsentgelte erhöht, und zwar
in einer Größenordnung von fast 70 Prozent. Man muss
also künftig für dieselbe Leistung 70 Prozent mehr bezahlen. Dass Sie sagen: „Das spielt keine Rolle; das ist im
sozialen System nicht so wichtig“, kann ich nicht nachvollziehen.
Sie müssen sehen: Die Zivildienstleistenden erbringen
sehr praktische, handfeste und unbedingt notwendige
Leistungen. Sie kaufen für ältere Menschen ein. Sie betreuen in Pflegeeinrichtungen. Sie sind in Behindertenschulen weitgehend für die hauswirtschaftlichen und für
die pflegerischen Leistungen zuständig. Nach Verabschiedung Ihres Gesetzentwurfs würden die Träger des
Zivildienstes, bei denen diese Leistungen erbracht werden, mit Mehrkosten in Höhe von über 80 Millionen Euro
befrachtet. Das ist nicht in Ordnung und dafür gibt es
überhaupt keine Rechtfertigung.
({6})
Der einzige Bereich, in dem die Mehrkosten aufgefangen werden können, ist der der normalen Tarifangestellten; das muss hier auch einmal deutlich angesprochen
werden. Weil die Budgets für die Alten- und Pflegeheime
für das laufende Jahr schon aufgestellt sind - die Verhandlungen sind ja schon abgeschlossen -, ist festzuhalten, dass Sie mit den Mehrkosten für die Zivildienstleistenden das Personalkostenbudget befrachten und der
Träger keine andere Chance hat, als dieses Geld bei Tarifangestellten einzusparen.
({7})
Dazu, Herr Schaaf, gibt es keine Alternative; das weiß ich,
denn ich habe schließlich 16 Jahre in diesem Bereich gearbeitet. Das kostet Arbeitsplätze - und das wollen Sie
als Gewerkschafter und als Mitglied einer Partei, die sich
immer wieder lobt, dass sie vieles im Einvernehmen mit
den Gewerkschaften erledigt! Sie gehen hin und kürzen
schlichtweg zulasten von Tarifangestellten Leistungen im
sozialen Bereich. Das ist aus meiner Sicht schon fast schäbig.
Ich sage noch einmal ganz deutlich, dass uns dieser Gesetzentwurf in einer Phase trifft, in der den Krankenhäusern und Pflegeheimen sowieso schon wenig Geld zur
Verfügung steht. Sie befrachten diese Einrichtungen nun
mit der Arbeit, zusätzliche Mittel aufbringen zu müssen,
und sagen: Das machen wir ja nur übergangsweise für ein
Jahr. Damit haben Sie die Wohlfahrtsverbände ja auch
ein Stück weit gelockt. Eines Ihrer Argumente war ja, dass
diese Kürzungen nur ein Jahr lang Bestand haben.
({8})
- Von wegen Planungssicherheit; die Träger können sicher sein, dass sie nächstes Jahr noch weniger bekommen.
Die Litanei, die wir nächstes Jahr von Ihnen hören werden, kennen wir ja schon. Die Weltwirtschaftslage ist wieder unendlich schwierig, es droht uns wieder ein blauer
Brief von der EU, wir haben hier und dort Probleme.
({9})
Das führt dazu, dass Sie dann sagen: Das hat in diesem
Jahr mit 50 Prozent funktioniert, dann muss es auch im
nächsten Jahr mit 50 Prozent funktionieren.
({10})
So gehen Sie doch vor.
({11})
Wir sollten deutlich sagen, dass dieses Einvernehmen
mit den Wohlfahrtsverbänden, das Sie ja so gelobt haben,
deshalb zustande gekommen ist, weil Sie ihnen gesagt haben: Ihr könnt zwischen Pest auf der einen und Cholera
auf der anderen Seite wählen.
({12})
Da sie denken, die Pest sei im Moment vielleicht ein bisschen besser beherrschbar, haben sie dem zugestimmt. Die
Träger sind letztendlich von Ihnen erpresst worden.
({13})
Nichts anderes ist geschehen, als dass sie erpresst worden
sind nach dem Motto: entweder weniger Stellen oder weniger Geld. Ich weiß nicht, ob solch ein Handeln einer
Bundesregierung überhaupt zusteht. Ich finde es nicht in
Ordnung, wenn man mit Trägern, freien Wohlfahrtsverbänden und Kommunen in der Form umgeht.
({14})
Eine weitere Bemerkung: In vielen Fällen wird diese
Regelung im Übrigen auch die Kommunen direkt treffen,
da der eine oder andere Träger Vereinbarungen getroffen
hat - ich kenne die Situation in meinem Wahlkreis sehr
gut und kann das deswegen beurteilen -, nach denen
90 Prozent der ungedeckten Kosten die Kommune trägt.
Sie schieben also einen Teil dieser 80 Millionen, die Sie
einsparen wollen, schon wieder auf die Kommunen ab
und belasten sie damit. Dieses Verfahren können wir
ebenfalls nur kritisieren. Diese Regelung gilt mit Sicherheit - da bleibt überhaupt keine andere Chance; das sage
ich noch einmal - nicht nur für ein Jahr, sondern für weitere Jahre.
Nun sagen Sie, dass Sie hier kürzen, um den Haushalt
zu konsolidieren und - Herr Schaaf, Sie haben es eben angesprochen - um Handlungsraum für Investitionen zu bekommen. Wo gibt es denn diese Investitionen? Wo passiert denn etwas? Sie stellen irgendwelche möglichen
Leistungen in Aussicht, so im Bereich der Ganztagsbetreuung von Kindern
({15})
in den nächsten vier Jahren.
({16})
Aber was danach passiert, interessiert Sie doch überhaupt
nicht. Sie schauen nur bis zur nächsten Wahl und lassen
die Kommunen dann mit diesen und anderen Belastungen
wieder einmal im Regen stehen.
({17})
Das ist Ihr Konzept, etwas anderes haben wir hier nicht
gehört.
({18})
Ich will noch einen weiteren Bereich ansprechen: Es
gibt im zuständigen Ministerium einen Beirat für den
Zivildienst. Diesen Beirat beteiligen Sie immer gerne
dann, wenn er Ihnen applaudiert. Dann sind Sie ganz groß,
inszenieren seine Arbeit und nehmen seine Aussagen
gerne als Beleg für Ihr Handeln in Anspruch. In der jetzigen Situation haben Sie den Beirat aber nicht einmal beteiligt.
({19})
Dazu kann man nur sagen: außer Spesen nichts gewesen.
Die Beiratsmitglieder haben nicht einmal die Chance, hier
Position zu beziehen und ihren Beitrag zu leisten. Dies
zeigt, wie es um Ihre Bereitschaft zur demokratischen Zusammenarbeit bestellt ist. Herr Ströbele hat Recht: Bei
dem, was hier von Ihnen vorgetragen wird, kann man im
Grunde genommen nur die Möbel zerdeppern.
({20})
Ich sage klipp und klar: Wir werden dieses Gesetz ablehnen. Wir haben dem Antrag der FDP nicht zugestimmt,
({21})
weil wir ein geordnetes Verfahren mit der entsprechenden weiteren Beratung möchten. Dann werden wir auch
Deckungsvorschläge nach dem Gesamtdeckungsprinzip
einbringen. Wir halten es für völlig falsch, jeden Antrag
als Einzelantrag zu sehen, ihm zuzustimmen und dann zuzusehen, wie wir nachher auf der Strecke bleiben. Wir
bringen Ihnen ordentliche und ausgewogene Haushaltvorschläge,
({22})
die zu gleichmäßigen Belastungen und Entlastungen der
Gesellschaft führen, die fair und ordentlich sind.
Was Sie hier mit dieser Initiative machen, ist aus unserer Sicht rundherum beschämend. Sie sparen über 80 Millionen Euro zulasten der Behinderten, der Kranken,
({23})
der Schülerinnen und Schüler; und dies tun Sie als Vertreter einer Partei, die sonst versucht, sich die soziale Plakette ganz oben ans Revers zu heften. Dieses Verfahren ist
wie Wasser: durchsichtig und geschmacklos.
({24})
Es ist bedauerlich, dass Sie zu keinen anderen Ergebnissen kommen.
Schönen Dank.
({25})
Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen in diesem
Jahr die Bundeszuschüsse zu den Geldleistungen für
Zivildienstleistende von 70 auf 50 Prozent gesenkt werden. Dadurch steigt der Kostenanteil der Träger von
30 auf 50 Prozent.
({0})
Das Echo auf diesen Entwurf ist geteilt. Dies sehen wir
deutlich. Die Verbände der freien Wohlfahrtspflege haben
schriftlich ihre Zustimmung zu diesem Kompromiss erklärt. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft sowie die
Vertreter der Umweltverbände haben ihre Zustimmung
mündlich erklärt. Bedenken kommen von den kommunalen Spitzenverbänden und es kommen Proteste von kleineren Trägern. Dies können wir nicht übersehen. Ich muss
auch sagen, dass man den Protesten der kleineren Träger
nicht widersprechen kann, weil vor allem die kleinen Träger unter dieser Veränderung zu leiden haben werden. Es
wäre vielleicht sinnvoll gewesen, an den entsprechenden
ministeriellen Beratungen auch den Beirat für den Zivildienst und die Bremer Zentralstelle für Recht und Schutz
der Kriegsdienstverweigerer zu beteiligen.
({1})
Warum ist nichtsdestoweniger dieser Entwurf notwendig? Erstens. Im Haushalt 2003 müssen in Einzelplan 17
90,6 Millionen Euro eingespart werden. Daran führt kein
Weg vorbei. Wir müssen schauen, welches die Alternativen sind: Eingriffe in Familienleistungen oder Einsparungen beim Zivildienst.
({2})
Die Konsequenz ist klar.
Zweitens. In der Koalitionsvereinbarung haben wir
vereinbart, die Anzahl der besetzten Zivildienstplätze derjenigen im Wehrdienst anzugleichen, und zwar weil es
hier bisher eine Einberufungsungerechtigkeit gibt. Im
Grunde werden nämlich alle Kriegsdienstverweigerer aus
Gewissensgründen, die zur Verfügung stehen, auch eingezogen, während dies bei den Wehrdienstleistenden
nicht der Fall ist und in Zukunft noch weniger Wehrdienstleistende eingezogen werden. Insofern wäre in diesem Fall die Absenkung der Zahl der Einberufungen am
sinnvollsten gewesen.
Dem stand allerdings ein erhebliches praktisches Problem entgegen, denn die Kontingente für Einberufungen
im Haushaltsjahr 2003, welches schon im Oktober letzen
Jahres anfing, wurden bereits seit Mai letzten Jahres verteilt und sind zum großen Teil seit November letzten Jahres „verbraucht“. Wenn man dann mit einer erheblichen
Reduzierung der Einberufungen gekommen wäre, hätte
dies bedeutet, dass es ab dem dritten Quartal dieses Jahres einen erheblichen Einbruch gegeben hätte; und dies zu
einem Zeitpunkt, wo der Bedarf an Zivildienstplätzen wegen der Abiturienten und derjenigen jungen Männer, die
gerade ihre Ausbildung abgeschlossen haben, besonders
hoch ist. Das wäre ein massiver Eingriff in die Lebensplanung der jungen Männer gewesen und hätte die Kontinuität bei den Trägern unterbrochen. Aus diesem Grund
halten wir diesen Schritt für notwendig und unvermeidbar.
({3})
Die Einwände der FDP - wir werden sie gleich hören
- gehen, wie sich beim Zuhören bestätigen wird, daneben,
und zwar aus folgenden Gründen:
({4})
Erstens. Die Maßnahmen gehen in keiner Weise zulasten
der Zivildienstleistenden. Zweitens. Sehr geehrte Frau
Lenke, Sie von der FDP predigen sonst immer den Abbau
von Subventionen.
({5})
Auch hier geht es um Subventionen.
({6})
Es ist erstaunlich, dass Sie hier auf einmal dagegen sind.
({7})
- Sie sind gleich dran. Sie können in Ihrer Rede darauf
eingehen.
({8})
Zusammengefasst: Es ist notwendig, den gewählten
Schritt jetzt zu tun. Uns ist aber auch klar, dass es nur eine
Zwischenlösung ist. Deswegen haben wir das auch nur für
dieses Jahr beschlossen und nicht für die folgenden Jahre.
Die jetzt gefundene Zwischenlösung entbindet uns aber
nicht von der Verpflichtung, die Zahl der Einberufungen
zum Zivildienst zu senken und an die Zahl der Einberufungen zum Wehrdienst anzugleichen. Der Druck, die
Zahl der besetzten Zivildienstplätze zu senken, wird mit
Fortgang der Bundeswehrreform noch zunehmen. In diesem Jahr, so die nüchterne Zahl, werden nur noch
94 500 Wehrdienstplätze zu besetzen sein. Von daher besteht beim Zivildienst entsprechender Druck.
Im weiteren Verlauf dieser Legislaturperiode werden
wir - so lautet auch unsere Abmachung im Koalitionsvertrag - die Wehrform grundsätzlich auf den Prüfstand stellen. Dann wird die von den Grünen lange geforderte Abschaffung der Wehrpflicht nicht nur möglich, sondern
angesichts der sicherheitspolitischen Entwicklung unserer Auffassung nach auch wahrscheinlich. Deshalb müssen wir uns endlich der Frage stellen, wie die Absenkung
beim Zivildienst und der wahrscheinliche Ausstieg aus
dem Zivildienst sozialverträglich gestaltet werden können.
Die „Frankfurter Rundschau“ kommentiert den heutigen Gesetzentwurf folgendermaßen:
Die kurzfristige Therapie für die heutige Notsituation
darf nicht zur Strategie werden. ... Dringend notwendig ist eine aufrichtige Debatte darüber, wie der Pflegesektor den absehbaren Verlust der günstigen Zivis
verkraften kann.
Die Vorschläge der Grünen dazu liegen seit Jahren auf
dem Tisch.
({9})
Wenn jetzt angeregt wird, wie in der vorherigen Legislaturperiode eine Arbeitsgruppe „Zukunft des Zivildienstes“ zu bilden, so ist das unserer Auffassung nach sinnvoll
und unbedingt zu unterstützen. Allerdings muss eine Anforderung hinzukommen: Es muss in diesem Rahmen
endlich die Frage überprüft werden, wie die so genannte
Zivildienstkonversion bewältigt werden kann. Dafür sollten wir uns alle fraktionsübergreifend einsetzen, egal, wie
wir sonst zu der Frage der Wehrform und, daraus resultierend, des Zivildienstes stehen. Diese Frage zu klären ist,
so denke ich, vorausschauende Verantwortung.
Danke schön.
({10})
Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Ina
Lenke, FDP-Fraktion.
Herr Nachtwei, politisch haben die Grünen in den letzten Jahren in dieser Regierung nichts durchgesetzt. Sie reden immer von Aussetzung der Wehrpflicht und von Gerechtigkeit, haben dazu aber nichts durchgesetzt. Diese
Kritik richtet sich an Herrn Beck und an Sie.
({0})
Was bedeutet eigentlich Wehrungerechtigkeit? - Wenn
wir 100 000 Zivildienstleistende und 100 000 Wehrpflichtige haben, dann ist das für Sie Wehrgerechtigkeit. Wissen
Sie, was für die FDP Wehrungerechtigkeit ist? - Wenn in
diesem Jahr 200 000 junge Männer einen Pflichtdienst
verrichten müssen und 200 000 junge Männer nicht. Das
ist Wehrungerechtigkeit und nicht dieser Quatsch, den Sie
hier erzählen.
({1})
Ich komme auf das Thema Subventionen zu sprechen.
Sie wissen ganz genau: Die Träger haben Ihnen nicht
dankbar zu sein.
({2})
Herr Nachtwei, die Bundesregierung ist verpflichtet, den
Kriegsdienstverweigerern solche Stellen zur Verfügung
zu stellen. Das ist kein Geschenk an die Einrichtungen,
sondern die Einrichtungen müssen diese Stellen anbieten.
({3})
Wo wollen Sie die Kriegsdienstverweigerer sonst unterbringen? Wenn Sie eine Diskussion mit einer solchen
Schieflage führen wollen, dann kann ich nur sagen: Da
mache ich nicht mit.
({4})
Meine Damen und Herren, mit dem scheibchenweisen
Rückzug aus der Finanzierung der Zivildienststellen - das
gilt auch für Sie, Herr Beck - hat Rot-Grün den Anfang
vom Ende des Zivildienstes eingeläutet.
({5})
Sie haben in den vergangenen Jahren bei der Rentenversicherung der Zivildienstleistenden und beim Entlassungsgeld gespart und die Einrichtungen weiter belastet.
Jetzt machen Sie das bei den monatlichen Zahlungen an
die Zivildienstleistenden. Das geht nicht. Wir als FDP
sind gegen diese scheibchenweise Verlagerung der Kosten vom Haushalt auf die Träger.
({6})
- Hören Sie doch auf, Herr Beck! Wenn Sie den Anfang
vom Ende des Zivildienstes einläuten, dann frage ich
mich, Herr Beck, warum Sie als prominenter Grüner nicht
gleich über die Abschaffung des Zivildienstes beraten.
Die zuständige Ministerin, Frau Schmidt, hat im Ausschuss gesagt, sie sei gegen die Wehrpflicht und die Bundesregierung werde 2006 darüber entscheiden. Ich habe
die Frau Ministerin gefragt, ob das vor oder nach der Bundestagswahl geschehen solle. Die gleichen Töne haben
auch Sie angeschlagen. Aber Sie reden nur davon, dass
der Zivildienst ein auslaufendes Modell sei, Herr Beck. In
den letzten vier Jahren haben Sie nicht einen Cent dazugetan, um das wirklich anzugehen.
({7})
In diesem Jahr wollen die Ministerin und die Bundesregierung 30 000 Zivildienststellen einsparen. Das bedeutet 30 000-mal weniger Betreuung für ältere Menschen
und Menschen mit Behinderungen.
({8})
Durch die Streichung von Zivildienststellen in diesem
Jahr werden Sie die himmelschreiende Wehrungerechtigkeit in unserem Land noch verstärken; denn durch Ihre
Politik wird bald jeder zweite junge Mann zu keinem
Dienst mehr herangezogen.
({9})
Herr Beck, Sie haben doch dem Einzelplan 17 den
Hans-Eichel-Preis gegeben und das geforderte Einsparvolumen nahezu aus dem Bereich des Zivildienstes erbracht. Es kann aber auch bei Gutachten und anderen Dingen gestrichen werden und nicht nur in den Bereichen,
von denen Sie, Herr Nachtwei, gesprochen haben.
Wir lehnen Ihr Änderungsgesetz also ab, weil Sie bei
den Haushalten der Zivildienstträger, der Alteneinrichtungen, der Krankenhäuser im Laufe eines Haushaltsjahres buchstäblich von heute auf morgen - dagegen können
Sie ja nun wirklich nicht protestieren, Herr Beck -, nämlich ab dem 1. März 2003, den Finanzierungsanteil des
Bundes von 70 auf 50 Prozent reduzieren,
({10})
ohne den Trägern und Einrichtungen eine Vorbereitung
darauf zu ermöglichen, nach dem Motto: Sollen doch die
Alten- und Pflegeheime und die Krankenhäuser selber sehen, wie sie die Misswirtschaft von Rot-Grün, von dieser
Bundesregierung ausgleichen.
Meine Damen und Herren, das Gesetz ist befristet. Es
soll von März bis Dezember dieses Jahres gelten. Und was
dann, Herr Nachtwei? Glauben Sie tatsächlich, dass Sie
und andere sich dafür einsetzen werden, dass wir ab 2004
wieder zu einem 70-prozentigen Finanzierungsanteil
zurückkehren?
({11})
Sie wollen dann Ihre merkwürdige Vorstellung von Wehrgerechtigkeit realisieren, indem Sie die Zahl der Zivildienststellen von 135 000 auf 100 000 senken. Das nennen Sie Wehrgerechtigkeit.
({12})
Ich komme jetzt zum Schluss. Anstatt endlich, meine
Damen und Herren von Rot-Grün, ein schlüssiges Konzept für die Umwandlung von Zivildienststellen in einen
Mix aus regulären Arbeitsplätzen und verschiedenen Angeboten zur Ableistung von freiwilligen, ehrenamtlichen
Engagements vorzulegen, wie es die FDP als Konzept
schon in der letzten Legislaturperiode vorgelegt hat,
trocknen Sie lediglich den Zivildienst langsam aus.
Frau Kollegin Lenke, Sie haben ohnehin eine sehr
großzügig bemessene Redezeit. Deshalb bitte ich Sie,
zum Schluss zu kommen.
Das war mein letzter Satz.
({0})
Ein Minus von 33 Sekunden ist nicht viel.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, beenden
Sie Ihre kopflose Flickschusterei und schaffen Sie endlich Planungssicherheit! Die FDP lehnt diesen Gesetzentwurf ab. Wir werden Ihnen aber in diesem Jahr noch
ein gutes Konzept zur Umwandlung des Zivildienstes
vorlegen.
({1})
Frau Kollegin Lenke, wir hatten Ihnen aus Versehen
fünf Minuten Redezeit eingeräumt. Eigentlich hätten der
FDP nur drei Minuten Redezeit zugestanden.
({0})
Deshalb stimmt das mit der halben Minute nicht ganz.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 15/297 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 c auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sondergutachten des Sozialbeirats zur Rentenreform
- Drucksache 14/5394 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche
Rentenversicherung, insbesondere über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der
Schwankungsreserve sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren gemäß § 154 SGB VI
({2}) und Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2001
- Drucksache 14/7639 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche
Rentenversicherung, insbesondere über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der
Schwankungsreserve sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren gemäß § 154 SGB VI
({4}) und Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2002
- Drucksache 15/110 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Zum Rentenversicherungsbericht 2002 liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Erika Lotz, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir diskutieren heute die Rentenversicherungsberichte
2001 und 2002 sowie die dazugehörigen Gutachten des
Sozialbeirats.
Allen Unkenrufen der Opposition zum Trotz stellt der
Sozialbeirat fest, dass unsere Rentenreform „ein zukunftsweisender Kompromiss zwischen den im Konflikt
stehenden rentenpolitischen Zielen der Finanzierbarkeit
bzw. Beschäftigungs- und Wachstumseffizienz, der Versorgungssicherheit, des sozialen Ausgleichs und der Generationengerechtigkeit“ ist. Er bestätigt unsere Rentenreform, die von der Opposition nicht mitgetragen wurde.
Aber er beschreibt auch die Anforderungen an unsere
Rentenversicherung: Finanzierbarkeit - das heißt: bezahlbare Beiträge -, Sicherheit im Alter, sozialer Ausgleich
und Generationengerechtigkeit. Das war das Ziel unserer
Reform. Wir haben es erreicht.
Die Berichte enthalten eine Fülle von Informationen.
Die Lektüre lohnt sich für jeden in diesem Hause. Die Berichte widerlegen aber auch einen Punkt, der in der öffentlichen Debatte immer mal wieder eine Rolle spielt.
Das Thema Frühverrentung wurde erst kürzlich wieder
problematisiert. Aber ich sage - das belegt auch der
Bericht -: Die Menschen gehen heute nicht wesentlich
früher in Rente als vor 40 Jahren. In den alten Bundesländern liegt der Zugang zur Altersrente bei durchschnittlich
62,7 Jahren. 1960 lag er bei 64,7 Jahren. Es stimmt also
einfach nicht, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
immer früher in Rente gehen und dass es eine Kompensation in Form höherer Abschläge geben müsste.
({0})
Bei der Erwerbsminderungsrente dagegen - ich denke,
hier müssen wir schon sauber trennen - ist das durchschnittliche Zugangsalter gesunken. Erwerbsminderungsrente bekommt man aus gesundheitlichen Gründen. Man
muss sich also genau ansehen, welche Gründe es für diese
Entwicklung gibt. Ich würde mich an dieser Stelle sehr
freuen, wenn auch die Arbeitgeber einmal ein Augenmerk
darauf richten würden.
({1})
Trotz aller öffentlichen Meinungsmache: Unser solidarisches System ist sehr wohl auch für die Zukunft tragfähig. Die gesetzliche Rentenversicherung ist in der Vergangenheit immer wieder an veränderte gesellschaftliche
Entwicklungen angepasst worden, und zwar auch im Hinblick auf die demographischen Veränderungen.
Ich glaube, wir dürfen auch nicht vergessen, dass eine
der größten Leistungen der Rentenversicherung - eine,
die ich persönlich noch immer für bemerkenswert halte die im Zusammenhang mit der deutschen Einheit zu bewerkstelligende Überführung der Renten Ostdeutschlands in unsere gemeinsame Rentenversicherung war.
Kein Versorgungssystem und keine private Vorsorge hätte
diese Aufgabe schultern können. Kein anderes System
könnte den finanziellen Ausgleich zwischen West und
Ost, der leider immer noch notwendig ist, leisten. Im
Jahre 2002 betrug dieser Transfer 13 Milliarden Euro.
Aber die Rentenversicherung bewältigt nicht nur diesen Ausgleich. Sie schafft den sozialen Ausgleich zwischen denen, die langjährig erwerbstätig sind, und denen,
die die Erwerbstätigkeit wegen Familienarbeit unterbrechen müssen. Sie sorgt mit Rehabilitation dafür, dass
Menschen wieder erwerbsfähig werden. Auch das sind
Leistungen, die wir von einem rein kapitalgedeckten System niemals erwarten dürften.
Die rot-grüne Rentenreform hat die Anpassungsformel
modifiziert, verschämte Altersarmut verhindert, die sozialen Härten des Rentenreformgesetzes der Vorgängerregierung von 1999 bei Erwerbsminderung beseitigt. Damit
haben wir den demographischen Veränderungen Rechnung getragen.
({2})
Frau Merkel und die CDU wollen ja offenbar das Rentenniveau weiter absenken; das konnte ich jedenfalls in
diesen Tagen der „Berliner Morgenpost“ entnehmen. Ich
denke, wir haben die notwendigen Schritte mit unserer
Rentenreform 2001 eingeleitet.
({3})
Schauen wir uns doch einmal die Renten an. Nach
45 Jahren Erwerbstätigkeit sind es im Schnitt 1 164 Euro
in den alten Bundesländern, in den neuen sind es
1 022 Euro. Nun weiß ich auch, dass diese Durchschnittswerte - wer erreicht schon noch 45 Versicherungsjahre? nicht unbedingt korrekte Aussagen über die Masse der
Rentenbezieher oder über das Haushaltseinkommen erlauben. Allerdings zeigen sie - denke ich -, dass dort riesengroße Sprünge nicht gemacht werden können. Ich will
noch einmal betonen: Die Rentenstrukturreform 2001 hat
auf eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Realitäten
reagiert.
Zwei davon will ich noch einmal beispielhaft nennen:
Wir haben dafür gesorgt, dass die Kindererziehung in
der Rente besser anerkannt wird, und zwar sowohl bei erwerbstätigen als auch bei Vollzeitmüttern.
({4})
Es gibt eine Kinderkomponente bei der Hinterbliebenenversorgung ebenso wie eine Höherbewertung unterdurchschnittlich bezahlter Tätigkeiten bei gleichzeitiger Kindererziehung.
({5})
Auch diese Verbesserungen haben wir gegen den Widerstand der Opposition durchsetzen müssen. Ferner hat RotGrün mit der bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung
dafür gesorgt, dass Altersarmut in Zukunft kein Thema
mehr ist.
({6})
Unser solidarisches, umlagefinanziertes Rentensystem
ist leistungsfähig, sehr leistungsfähig. Auf ihm lasten
nicht nur der soziale Ausgleich und die deutsche Einheit,
sondern auch die schwierige Situation auf dem Arbeitsmarkt. Die gesetzliche Rentenversicherung steht also keineswegs auf unsicheren Beinen und auch nicht vor einer
unsicheren Zukunft. Wir sollten dieses auch nicht herbeireden und die Menschen, die Rentnerinnen und Rentner,
verunsichern.
({7})
- Wir verschließen die Augen nicht;
({8})
denn wenn das so wäre, hätten wir keine Rentenreform
2001 auf den Weg gebracht. Damit können wir uns sehen
lassen. Der Sozialbeirat hat uns das bestätigt; lesen Sie
das doch bitte nach!
Danke schön.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Storm, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Lotz, das, was Sie uns heute Morgen hier erzählt haben, klingt eher wie ein verspätetes Weihnachtsmärchen
im Januar, aber mit der Rentenwirklichkeit in diesem
Lande hat es nun nichts, aber auch gar nichts zu tun.
({0})
Denn anderthalb Jahre nach Verabschiedung der RiesterReform stehen Sie vor einem einzigen rentenpolitischen
Scherbenhaufen.
({1})
Die Finanzlage der gesetzlichen Rentenkassen ist desaströs
({2})
und die Riester-Rente ist ein einziger Flop.
({3})
Bei der Verabschiedung wurde gesagt, der Rentenbeitrag
werde in diesem Jahr bei 18,7 Prozent liegen. Tatsächlich
liegt er bei 19,5 Prozent - und das nur aufgrund der Notoperationen,
({4})
die Sie vor Weihnachten durchgezogen haben. Ohne
diese, Frau Lotz, läge er sogar bei 20,2 Prozent.
({5})
Die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit sind
1,5 Beitragssatzpunkte
({6})
oder 13 Milliarden Euro. Dieses zeigt, wie unsolide die
gesamte Rentenreform finanziert ist.
({7})
Bereits jetzt tun sich neue Löcher in den Rentenkassen
auf. Die Aussage von Ihnen, Frau Ministerin Schmidt, von
vor anderthalb Monaten bei der Vorstellung des Rentenversicherungsberichts 2002, wonach der Rentenbeitrag
für dieses Jahr auch bei verschlechterter wirtschaftlicher
Entwicklung und erkennbaren Finanzrisiken ausreiche,
ist bereits jetzt Makulatur. Sie haben vorgestern im Sozialausschuss eingestanden,
({8})
der Rentenbeitrag für dieses Jahr sei auf Kante genäht.
Es dürfe keine zusätzlichen Risiken mehr geben. Sonst
komme man nicht mehr hin.
({9})
Aber diese Risiken sind bereits eingetreten. Sie gründen sich vor allen Dingen auf drei Faktoren: Zum Ersten
sind die Beitragseinnahmen im November und Dezember
letzten Jahres komplett weggebrochen. Zum Zweiten sind
die Annahmen der Bundesregierung zur Entwicklung der
Lohnsumme, die der Beitragskalkulation zugrunde liegt,
völlig hinfällig. Selbst die Rentenversicherungsträger haben noch im November und Dezember darauf hingewiesen, dass die Annahme, die Beitragslohnsumme wachse in
diesem Jahr um 2,5 Prozent, völlige Illusion ist. Zum Dritten kam es vor wenigen Tagen im öffentlichen Dienst zu
einem Tarifabschluss. Die Ergebnisse dieses Abschlusses
belasten die Kassen der Sozialversicherungsträger in diesem Jahr mit 2 Milliarden Euro.
({10})
Damit ist bereits jetzt klar, dass der Rentenbeitrag von
19,5 Prozent 2003 nicht ausreichen wird. Das bedeutet:
Die bereits massiv gesenkte Rücklagenvorgabe von einer
halben Monatsausgabe wird in diesem Jahr erheblich unterschritten.
({11})
Wenn nicht noch weitere Verschlechterungen hinzukommen, wird die Reserve am Jahresende zwischen maximal
0,42 und 0,47 einer Monatsausgabe liegen. Frau Schmidt,
das bedeutet, dass wir in den kritischen Monaten, im Spätsommer und im Frühherbst, eine Rente haben werden, die
von den Rentenversicherungsträgern nicht mehr aus eigener Kraft finanziert werden kann, und dass Herr Eichel an
die Rentenversicherungsträger Kredite vergeben muss.
Damit ist die finanzielle Eigenständigkeit der Rentenversicherung bedroht.
({12})
Eine weitere Konsequenz dieser unsoliden Politik ist,
dass der Beitrag im nächsten Jahr nicht sinken kann, sondern steigen wird. Auch das haben Ihnen die Rentenversicherungsträger zum Jahreswechsel in Ihr Stammbuch geschrieben. Eine Beitragsuntergrenze wäre im nächsten
Jahr 19,7 Prozent. Wenn die Entwicklung weiterhin
schlecht verläuft, droht sogar ein Anstieg auf die 20-Prozent-Marke.
Damit würde die Fahrt des Bundesfinanzministers am
21. Mai dieses Jahres nach Brüssel, wo er der EU-Kommission die notwendigen Sparmaßnahmen im Hinblick
auf den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme,
um das Defizit der öffentlichen Haushalte zu verringern,
erläutern muss, zu einem Gang nach Canossa.
({13})
Deshalb zeichnet sich bereits heute ab, dass Rot-Grün
weitere Sparmaßnahmen bei der Rente plant. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD Kollegin
Schaich-Walch hat am Jahresende in der „Financial Times
Deutschland“ deutlich gemacht, dass eine weitere Beitragssatzsteigerung mit den Grünen schwierig werden
dürfte. Der Boden für Leistungseinschnitte bei der Rente
ist mit dem Strategiepapier gelegt worden, das das Kanzleramt vor Weihnachten lanciert hat. Ich zitiere wörtlich
aus diesem Strategiepapier:
Sowohl unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten als auch unter Aspekten der Gerechtigkeit wird
man der Diskussion über eine weitere Beteiligung
auch der Rentner an der Rückführung der konsumtiven Ausgaben nicht ausweichen können.
({14})
Bei allen großen Ausgabenblöcken ... muss das
Tempo des Anstiegs deutlich gedrosselt werden bzw.
in einzelnen Jahren auch mal zum Stillstand kommen.
Das bedeutet im Klartext: Es soll erneut in die Rentenanpassung eingegriffen werden, so wie wir das bereits im
Jahr 2000 unter dem damaligen Arbeitsminister Walter
Riester erlebt haben.
({15})
Möglicherweise droht den Rentnern sogar eine Nullrunde, also eine Rente nach Kassenlage.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist mit Sicherheit
kein Zufall, dass dieses Kanzleramtspapier das Licht der
Öffentlichkeit an dem Tag erblickt hat, als der Deutsche
Bundestag die Erhöhung der Rentenbeiträge zum 1. Januar dieses Jahres beschlossen hat. Frau Ministerin
Schmidt mag noch so oft beteuern, dass mit ihr eine Nullrunde bei den Rentnern nicht zu machen sei. Im Zweifel
muss sie darüber gar nicht mehr entscheiden. Dann verzichtet der Kanzler auf sie, wie er das auch mit ihrem
Amtsvorgänger, Herrn Riester, zur Überraschung seiner
eigenen Fraktion im Oktober getan hat.
Die Unterstützung des Vorschlages einer Nullrunde bei
den Rentnern durch die Grünen dürfte dem Kanzler sicher
sein. Ich erinnere daran, dass die Grünen bereits Anfang
November 2002 eine Aussetzung der Rentenanpassung
zum 1. Juli dieses Jahres gefordert haben. Damals ging es
noch um die Frage, ob der Rentenbeitrag auf 19,3 Prozent
oder 19,5 Prozent steigen soll. Es wäre nicht nur konsequent, sondern ganz logisch, wenn sie an dieser Forderung auch festhielten.
In der Tat hat der sozialpolitische Sprecher der Grünen,
Markus Kurth, am 30. Dezember noch einmal den „Beitrag der Rentner“ ins Gespräch gebracht. Er sagte in der
„Financial Times Deutschland“ wörtlich:
Dann werden wir sicher auch noch mal über eine
Nullrunde für Rentner reden müssen.
In der heutigen Ausgabe der „Financial Times Deutschland“ sagt Herr Kurth zur Entwicklung der Beiträge:
Es ist klar, dass es knapp wird. Als Grüner schließe
ich Beitragserhöhungen aus.
Meine Damen und Herren, wenn Beitragserhöhungen
ausgeschlossen werden,
({17})
dann geht es an die Leistungsseite. Deswegen: Schenken
Sie den Rentnerinnen und Rentnern, aber auch den Beitragszahlern reinen Wein ein, und zwar schon vor dem
2. Februar! Die Menschen wollen wissen, was auf sie zukommt. Wir wollen nicht wieder so etwas wie 1999 erleben, als Sie vor der Europawahl heilige Eide geschworen
haben, dass keine Eingriffe in die Rente erfolgen werden,
und sich der Bundeskanzler ein Vierteljahr später bei der
deutschen Öffentlichkeit für den Rentenbetrug, den RotGrün begangen hat, entschuldigen musste.
Meine Damen und Herren, nicht nur die katastrophale
Finanzsituation der Rentenversicherung ist ein Thema,
sondern auch die Riester-Rente. Sie hat sich als einziger
Rohrkrepierer entpuppt.
({18})
Nach Schätzungen des Gesamtverbandes der Deutschen
Versicherungswirtschaft haben gerade einmal 3 Millionen
Berechtigte
({19})
so genannte Riester-Verträge abgeschlossen. Ausgehend
von über 40 Millionen potenziell förderberechtigten Personen sind das noch nicht einmal 10 Prozent.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Erstens. Die
Förderung der privaten Altersvorsorge ist völlig praxisfremd und überbürokratisiert. Der Sachverständigenrat
schreibt Ihnen in seinem Jahresgutachten ins Stammbuch,
dass - ich zitiere wörtlich das komplizierte Gesetzeswerk dazu führt, dass der
Anleger und selbst der Finanzberater Schwierigkeiten haben, alle Fördermöglichkeiten und Förderkombinationen zu überblicken.
Damit hat der Sachverständigenrat wieder einmal den Nagel auf den Kopf getroffen.
({20})
Zweitens. Den Bürgern wird eine staatlich garantierte
Alterssicherung vorgegaukelt, die nicht existiert und über
die Notwendigkeit einer zusätzlichen Altersvorsorge hinwegtäuscht. Im Rentenversicherungsbericht steht, dass
wir im Jahr 2016 immer noch ein Rentenniveau von
70 Prozent erreichen werden, obwohl Sie, Frau Schmidt,
immer wieder darauf hinweisen, dass die Rentenanpas1590
sung in den nächsten Jahren Jahr für Jahr um 0,5 Prozent
bis 0,6 Prozent niedriger ausfallen wird. Das heißt, Sie
haben die Statistik in einer Art und Weise manipuliert, dass
jede Versorgungslücke wegretuschiert wird. Daher ist es
auch kein Wunder, wenn sich die Menschen nicht mehr im
Klaren darüber sind, in welcher Form sie vorsorgen müssen.
Drittens. Wenn die Menschen ergänzend vorsorgen
sollen - das ist ein entscheidender Punkt -, brauchen sie
dafür auch den finanziellen Spielraum im Portemonnaie.
Diesen nehmen Sie ihnen; denn die Beitragssatzspirale
dreht sich ununterbrochen weiter: ein Anstieg der Rentenbeiträge in diesem Jahr um 0,4 Prozentpunkte, ein Anstieg der Krankenkassenbeiträge um 0,4 Prozentpunkte,
die Ankündigung großer Kassen, dass die nächste Beitragswelle im Gesundheitswesen unmittelbar bevorsteht
und die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der
Rentenversicherung um 600 Euro.
Unter solchen Rahmenbedingungen sind die Menschen nicht in der Lage, ergänzend vorzusorgen.
({21})
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Wir brauchen eine grundlegende Reform nicht nur im
Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern auch
bei der Riester-Rente. Sie muss durch eine Förderrente abgelöst werden, die den Menschen auf breiter Front ermöglicht, ein zweites Standbein in der Alterssicherung zu haben.
({0})
Ein rentenpolitischer Neubeginn ist unbedingt erforderlich. Wenn Sie zur Umkehr bereit sind, ist die Union
auch bereit, daran tatkräftig mitzuwirken.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgitt Bender,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Storm, das einzig Aufschlussreiche an Ihrer Rede war
der Hinweis auf ein Datum, nämlich auf den 2. Februar.
Das erklärt das ganze Theater hier.
({0})
Sie versuchen, den hessischen Landtagswahlkampf hier
im Bundestag zu führen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU und der
FDP, ich finde, das ist sehr durchsichtig und auch ein wenig anstrengend. Sie machen sich nicht einmal die Mühe,
in Ihrer Argumentation für ein wenig Konsistenz zu sorgen. Sie sprechen von „hätte“, „wäre“, „wenn“ und bringen die Nummer „Wie hoch könnte der Beitrag sein, wenn
ihr nicht dieses hättet und wenn man noch jenes weiter gerechnet hätte?“.
({1})
Ich rechne Ihnen jetzt auch einmal etwas vor: Würde
die Ökosteuer fehlen - das wäre nach Ihren Vorstellungen
so -, läge der Beitrag höher. Das Fehlen der Ökosteuer
- sie macht 9 Milliarden Euro aus - würde den Beitrag um
fast einen Prozentpunkt steigen lassen.
({2})
Wenn man Ihren Konzepten gefolgt wäre, würden diese
9 Milliarden Euro fehlen und der Rentenbeitrag wäre
höher. Halten wir das einmal fest.
({3})
Hinzu kommt das Gejammer, wir hätten die Schwankungsreserve zu weit abgesenkt. Sie machen den Leuten
Angst, indem Sie sagen, sie würden ihre Renten nicht erhalten. Sie wissen genau, dass das sehr wohl der Fall ist.
Hätten wir die Schwankungsreserve nicht abgesenkt,
wäre der Rentenbeitrag höher. Wollen Sie das?
({4})
Sie können doch nicht die Höhe der Rentenbeiträge und
gleichzeitig die strukturellen Maßnahmen und die Notmaßnahmen, die wir im letzten Jahr noch ergriffen haben,
kritisieren.
Besonders schön macht das auch die FDP. Mit großem
Interesse habe ich Ihren Antrag gelesen. Es ist einfach
wunderschön. Dort steht zum Beispiel der Satz:
Die Rentenpolitik der Bundesregierung ist ein einziges Desaster.
({5})
Wenn man weiterliest - Sie haben sich ja schon die Mühe
gemacht, sich das ein wenig anzuschauen -, erfährt man:
Die Finanzkrise der Rentenversicherung hat noch
keine demographischen Ursachen, sondern beruht allein auf der schlechten Konjunkturlage und der damit
zusammenhängenden Massenerwerbslosigkeit.
({6})
Da sage ich: Ei, guck a mal, schau! Es hat also tatsächlich
etwas mit der Konjunkturlage zu tun, die bei Ihnen auch
nicht anders aussähe.
({7})
Diese beschert uns ein Problem.
Der einzige Schluss, den man daraus ziehen kann - auf
diesen sollten wir uns verständigen -, ist, dass unsere soziale Sicherung in der Tat sehr konjunkturanfällig ist und
dass dies ein Grund für eine weitere Rentenreform ist, mit
der die Konjunkturanfälligkeit der sozialen Sicherung reduziert wird. Darum geht es doch.
({8})
Das Gemäkel über den jetzigen Beitragssatz bringt uns
nicht weiter.
Die FDP will nicht nur die Schwankungsreserve wieder heraufsetzen, sondern auch die Beitragsbemessungsgrenze wieder heruntersetzen.
({9})
Nach diesen Maßnahmen würden Sie sowieso bei
19,9 Prozent liegen. Das würde Ihnen auch nicht gefallen.
({10})
Im Übrigen: Vielleicht haben auch Sie gelesen, dass
der Sozialbeirat sehr unterschiedliche Positionen zur Heraufsetzung der Beitragsbemessungsgrenze einnimmt.
Wenn das auch in der Politik so ist - wir waren uns da
auch nicht ganz einig -, kann man es also kaum als Fehler ansehen. Es gibt weiteren Reformbedarf bei der Rentenversicherung; das ist gar keine Frage. Das ist aber kein
Grund, die vorangegangene Rentenreform in Grund und
Boden zu stampfen. Es waren nämlich die richtigen Schritte.
Wenn Sie sich die Unterlagen, die heute eigentlich zur
Debatte stehen - schließlich gibt es eine Tagesordnung -,
angeschaut hätten, wüssten Sie, dass wir durch den Bericht des Sozialbeirates aus dem letzten und dem vorletzten Jahr genau darin unterstützt werden.
({11})
In diesen Berichten steht nämlich, dass es richtig war, für
eine Absenkung des Niveaus der gesetzlichen Rente zu
sorgen und in diesem Zusammenhang eine kapitalgedeckte Säule aufzubauen. Wer hat das denn getan? - Das
war Rot-Grün.
({12})
Die staatliche Förderung dafür wird in den Berichten
als beachtlich beschrieben. Allerdings steht dort auch,
dass zwischen der Beitragsfestlegung und der Rentenniveaufestlegung auf Dauer ein Zielkonflikt bestehen
kann. Deswegen wird man in der Tat überlegen müssen,
was die Leistungsempfänger und -empfängerinnen zur
Finanzierbarkeit der Rente und zur Nichtüberlastung der
jüngeren Generation beitragen können. Mit dieser Frage
muss man sich beschäftigen.
({13})
Ich sage Ihnen: Die Politik wird auch mithilfe der RürupKommission, die Vorschläge machen soll,
({14})
das Verhältnis zwischen der Beitragslast der Jüngeren und
den Ansprüchen der Älteren überprüfen. Auch die Leistungsempfänger und -empfängerinnen werden ihren Beitrag leisten müssen.
({15})
Schauen wir uns einmal die Zahlen in diesem Bericht
an. Ich erinnere einmal an die sehr niedrigen Renten, etwa
die Witwenrente, die im Durchschnitt etwas weniger als
150 Euro ausmacht. Dabei denkt man zunächst einmal,
dass dies ein Armutsfall ist. Für einen solchen Fall haben
wir die Grundsicherung geschaffen. Ich weiß auch gar
nicht, was es daran wieder zu mäkeln gibt. Sie ist nämlich
bedarfsorientiert. Wir stellen aber fest, dass diese Witwen
im Durchschnitt ein Nettoeinkommen von 850 Euro zur
Verfügung haben. Das Existenzminimum ist also sehr wohl
gesichert. Auch bei Ehepaaren liegt das Nettoeinkommen
bei nahezu 2 000 Euro, obwohl der Rentenzahlbetrag geringer ist. Die soziale Absicherung ist folglich gewährleistet.
Wir stellen fest, dass die gesetzliche Rente bereits jetzt
für viele nur einen Teil ihres Alterseinkommens darstellt.
Wir werden diese verschiedenen Säulen in Zukunft neu
zueinander ins Verhältnis setzen müssen. Dabei werden
wir die kapitalgestützte Säule stärken.
({16})
Herr Storm, Sie haben wieder einmal die Riester-Rente
madig gemacht. Ich möchte gerne von Ihnen wissen, was
Sie daran genau stört.
({17})
Sagen Sie uns, ob Sie ein Problem mit dem Verwaltungsverfahren zur Zertifizierung haben. Darüber ließe sich reden. Sagen Sie uns, ob Sie die Kriterien, die im Interesse
des Verbraucherschutzes bei der Riester-Rente einbezogen wurden, einschränken wollen.
({18})
Ich möchte gerne genau wissen, wie dann Ihre Vorschläge
im Hinblick auf die soziale Sicherheit aussehen. Wenn wir
eine private Absicherung staatlich fördern, muss der Verbraucherschutz gewährleistet sein. Dazu sollten Sie einmal etwas auf den Tisch legen.
({19})
Wenn Sie dazu gar nichts anzubieten haben, dann weiß ich
nicht, was an der Riester-Rente so schlecht sein soll, dass
Sie sie in Grund und Boden stampfen. Dafür gibt es keinen Grund.
({20})
Zusammengefasst: Diese Debatte, wonach in der Rentenpolitik angeblich alles falsch läuft, ist dem Landtagswahlkampf in Hessen geschuldet. Ich hoffe, dass wir danach wieder sachlich miteinander reden und bei den
Reformvorstellungen tatsächlich in einen Wettbewerb treten können.
({21})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Bender, es bleibt dabei: Die Rentenpolitik
der rot-grünen Bundesregierung ist ein einziges Desaster.
({0})
Ich finde es vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung geradezu skandalös, dass die Bundesgesundheits- und Sozialministerin heute offensichtlich kneifen
will. Ich habe jedenfalls der vorliegenden Rednerliste entnommen, dass der von mir sehr geschätzte Staatssekretär
Thönnes in der Debatte für die Bundesregierung reden
soll. Das beweist mir einmal mehr, dass die Rente das ungeliebte Findelkind der Gesundheits- und Sozialministerin ist.
({1})
Das ist auch in der Aussprache nach der Regierungserklärung deutlich geworden. Es soll wohl Normalität vorgegaukelt werden. Ich will Ihnen sagen: Es brennt schon
unter dem Dach. Aber Sie haben noch nicht gemerkt, dass
es bereits so weit ist. Ich will Ihnen das näher erläutern.
Frau Ministerin Schmidt, Sie kneifen, weil auch Sie
wissen, dass der Rentenversicherungsbericht 2002 das
Papier nicht wert ist, auf dem er gedruckt ist. Ich fordere
Sie auf: Ziehen Sie diesen Rentenversicherungsbericht
2002 zurück und legen Sie diesem Haus einen neuen Bericht mit aktuellen und realistischen Zahlen vor.
({2})
Sie können Ihre Politik des Tarnens und Täuschens nicht
einfach fortsetzen, wie das vor der Bundestagswahl geschehen ist.
Nach dem Rentenversicherungsbericht 2000 hätte
nach der ungünstigsten Annahme und ohne Absenkung
der Mindestreserve der Rentenversicherungsbeitrag für
2003 18,9 Prozent betragen sollen. Nach dem Rentenversicherungsbericht 2001 hätten es in diesem Jahr 19,2 Prozent sein sollen. Das ist Ihre Berichtslyrik. Wie sieht die
Realität aus? Keine zwei Wochen nach der Bundestagswahl im September 2002 haben Sie den Offenbarungseid
ablegen müssen und trotz der Absenkung der Mindestreserve und der Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze
den Beitragssatz für die Rente von 19,1 auf 19,5 Prozent
erhöhen müssen. So soll es offensichtlich weitergehen. Jedenfalls lese ich das aus Ihrem Rentenbericht heraus. Sie
wollen die Tradition des Verschleierns und Beschönigens
fortsetzen. Allmählich mutiert der jährlich zu erstellende
Rentenbericht wirklich zu einer Geschichte aus Tausendundeiner Nacht. Frau Schmidt, so ist es. Aber Sie verschließen die Augen davor. Sie müssen verstehen, dass
wir in diesem Punkt etwas sensibel sind. Denn Sie haben
die Öffentlichkeit schon vor der Bundestagswahl - ich
kann es nicht anders ausdrücken - über die Situation bei
der Rente belogen. Jetzt versuchen Sie es hier erneut.
({3})
Frau Schmidt und Frau Lotz, ich sage Ihnen voraus,
dass der Rentenbeitrag, wenn Sie so weitermachen und
Ihre Augen vor der Realität verschließen, im Jahre 2006
nicht auf 19,1 Prozent sinken wird, sondern dass er aller Voraussicht nach bereits im kommenden Jahr, im Jahr 2004,
über die 20-Prozent-Marke steigen wird, weil Ihre Annahmen betreffend die Entwicklung der Einnahmen in
der gesetzlichen Rentenversicherung einfach fernab
von jeder Realität sind.
Betrachten Sie doch einmal die Zahlen, die vorliegen.
Für das vergangene Jahr hatten Sie mit einem Zuwachs
der gesamten Beitragseinnahmen von 2,75 Prozentpunkten gerechnet. Das können Sie in Ihrem Bericht nachprüfen. Vorgestern musste die Ministerin, Frau Schmidt, im
Ausschuss zugeben, dass die Pflichtbeiträge, die ja
annähernd 85 bis 90 Prozent der Gesamtbeiträge ausmachen, im Jahre 2002 um nur 0,1 Prozent gewachsen sind.
({4})
Wie Sie bei der gegenwärtigen düsteren konjunkturellen Situation und nach der korrigierten Wachstumsprognose - auch Herr Clement musste ja einen Schritt zurückgehen - weiterhin davon ausgehen wollen und können,
dass die Gesamtbeitragseinnahmen in diesem Jahr um
4,5 Prozentpunkte wachsen werden, ist mir schlicht unverständlich.
Frau Ministerin, Sie haben vorhin von der Regierungsbank in einem Zuruf geäußert - das ist ja eigentlich unzulässig -, das dies alles eingerechnet sei. Aus meiner
Sicht sind die Einnahmeausfälle in der gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund der Neuregelung der Minijobs
und der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse in Höhe
von 500 Millionen Euro in diesem Jahr und 700 Millionen
Euro in den nächsten Jahren nicht eingerechnet.
({5})
Aus meiner Sicht sind die absehbar fehlenden 2 Milliarden Euro aus dem Tarifabschluss im öffentlichen Dienst
und der Verschiebung der Beitragszahlen in Ihrem Bericht
nicht eingerechnet. Frau Schmidt, deswegen stelle ich
fest, dass in der Rentenkasse ein riesiges Loch klafft. Von
Ihnen, Frau Ministerin, wollen wir hier und heute wissen
- das ist Ihre Aufgabe; dafür sind Sie hier auch vereidigt
worden -, wie Sie es schließen wollen.
({6})
Was wir Ihnen vorwerfen, ist Folgendes: Bei Ihren Prognosen, insbesondere wenn es um Entwicklungen geht,
die noch weit in der Zukunft liegen, stellen Sie die Dinge
sehr schön und günstig dar. Wenn es aber darum geht, die
Prognosen zu erfüllen - Butter bei die Fische zu geben -,
dann müssen Sie regelmäßig eingestehen, dass die Prognosen nicht tragen, dass Sie sich geirrt haben und dass
Sie eigentlich absehbare Entwicklungen schöngefärbt haben. Deswegen, Frau Schmidt, glaubt Ihnen niemand
mehr: weder die Rentner noch die Beitragszahler noch die
Wähler in diesem Lande.
({7})
Ich komme nun zur Schwankungsreserve. Das Gutachten des Bundesrechnungshofes vom Dezember letzten
Jahres war für Sie ja eine schallende Ohrfeige. Darin
wurde deutlich gesagt, dass die Liquidität der Rentenversicherung in Monaten mit niedrigem Beitragsaufkommen
nur mit zusätzlichen Bundesmitteln sichergestellt werden
kann. Das war die Perspektive des letzten Jahres. Aber
jetzt gehen Sie mit einer Vorbelastung in das ohnehin
schwierige Jahr 2003. Denn sie hatten eben nicht die
0,66 Prozent einer Monatsausgabe als Reserve am Jahresende 2002 erreicht, wie Sie eigentlich wollten, sondern sie
liegen deutlich darunter. Das heißt, dass es zu einer Verschiebung nach unten gekommen ist. Deswegen ist vollkommen klar - Frau Ministerin, wenn Sie ehrlich sind, haben Sie es ja auch eingeräumt -, dass die Liquidität der
Rentenversicherung im Oktober dieses Jahres ohne zusätzliche Zuschüsse und wahrscheinlich auch ohne die Inanspruchnahme der Bundesgarantie nach § 214 SGB VI
nicht aufrecht erhalten werden kann. Hierzu wollen wir
heute etwas von Ihnen hören. Sie können sich nicht einfach darüber ausschweigen.
({8})
Meine Damen und Herren, wir sind wirklich bereit, zur
Lösung der Probleme beizutragen. Aber Sie müssen sich
endlich einmal der Realität stellen. Sie können nicht einfach die Augen verschließen und die Probleme aussitzen
wollen. Es muss gehandelt werden - je schneller, desto
besser. Bewegen Sie sich endlich!
Vielen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Dreßen, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kolb, durch ständiges Wiederholen werden Ihre
Zahlen nicht richtiger. Natürlich hat diese Bundesregierung die Liquidität der Rentenversicherung sichergestellt.
Gehen Sie einmal davon aus und verunsichern Sie die
Rentner und Rentnerinnen nicht durch solche Miesmachermethoden. So kommen wir nicht weiter!
({0})
Das Sondergutachten des Sozialbeirats zur Rentenreform - Sie sollten es einmal lesen - belegt eindeutig,
dass die Rentenversicherung auf soliden Füßen steht.
Auch wenn Sie es nicht gerne hören, meine Damen und
Herren von der Opposition: Wir haben die Weichen richtig gestellt. Im Gutachten ist formuliert, man müsse bei
der Rentenpolitik in einer alternden Gesellschaft versuchen, die Kosten ökonomisch sinnvoll, sozial ausgewogen und generationengerecht zu verteilen. Diese ehrgeizigen Grundsätze verfolgt die rot-grüne Bundesregierung
seit 1998 mit großem Elan und mit großem Erfolg.
Walter Riester - damit gehe ich auf Herrn Storm ein hat mit der zusätzlichen, kapitalgedeckten Eigenvorsorge einen Weg beschritten, den inzwischen alle Fachleute und alle verantwortungsbewussten Politiker und Politikerinnen, aber auch immer mehr Bürger als richtig
ansehen. Walter Riester ging seinen Weg unbeirrt. Dieser
Weg war anfangs steinig. Jetzt aber befinden wir uns auf
einer asphaltierten Straße.
({1})
Für diese Leistung möchte ich Walter Riester an dieser
Stelle im Namen meiner Fraktion ein herzliches Dankeschön sagen.
({2})
Wenn Sie die Berichte der Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung lesen, werden Sie feststellen,
dass die Riester-Rente mit dafür sorgt, dass die betriebliche Altersvorsorge in ihren unterschiedlichsten Arten einen Boom in ungeahnter Höhe erlebt. Und das ist gut so;
denn das wollten wir damit erreichen.
Kritiker werfen uns vor, wir hätten mit dem Zertifizierungsgesetz ein bürokratisches Monster geschaffen. Dieses Gesetz ist aber ausschließlich zum Schutz der Verbraucher erarbeitet worden. Wer mit einfachen Mitteln
dasselbe Ziel zu erreichen glaubt, sollte im Bundestag entsprechende Vorschläge vorlegen. Bisher jedoch - das hat
Ihnen die Kollegin Bender schon gesagt - haben wir solche Vorschläge weder gehört noch gelesen.
Ich bin froh, dass es diese Schutzvorschriften gibt.
Denken Sie nur an die USA! Dort gibt es keinen Verbraucherschutz dieser Art. Die Folge ist, dass Pensionsfonds
mit Hunderten von Milliarden US-Dollar verschwunden
sind, auch in der Unterwelt. Die Beitragszahler stehen
jetzt ohne Alterssicherung da und sind mit 70 oder 80 Jahren gezwungen, wieder zu arbeiten. Eine solche Situation
wollen wir unseren Menschen ersparen. Deswegen gibt es
das Zertifizierungsgesetz.
Das Beitragssatzsicherungsgesetz war sicherlich
keine Rentenreform, sondern eine Anpassung der Rentenversicherung an die wirtschaftlichen Gegebenheiten.
({3})
Im Übrigen hat die Politik diese Stellschrauben in jeder
Wahlperiode verändert.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben in den Jahren von 1995 bis 1997 mit dem Wachstumsund Beschäftigungsförderungsgesetz, das in Wirklichkeit
ein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm war, den Beitragssatz von 18,6 auf 20,3 Prozent erhöht. Sollten Sie es
vergessen haben, darf ich Sie daran erinnern, dass wir Ihnen damals aus der Patsche geholfen haben, indem wir einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt
zugestimmt haben. Die dadurch eingenommenen Steuermittel wurden der Rentenkasse zugeführt. Wäre dies nicht
geschehen, hätten Sie den Beitragssatz weit mehr anheben
müssen, auf 21 Prozent. Sie sollten wissen: Wer unter dieser Glaskuppel sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Ansonsten fallen die Glassplitter auf ihn selbst nieder.
In letzter Zeit wird behauptet, dass es keine Gerechtigkeit zwischen den Generationen gebe. Das halte ich
wirklich für absurd. Sinnigerweise wird dies oft von Menschen behauptet, die sich an diesem Solidarsystem überhaupt nicht beteiligen. Es sind diejenigen, die nach dem
Motto leben: Wozu brauchen wir Kinder? Es sind diejenigen, die sich aufgrund ihres hohen Einkommens rundum
privat absichern können und sich aus der solidarischen
Gemeinschaft ausklinken. Auf den Ratschlag dieser Menschen kann ich gern verzichten.
Es ist klar, dass wir auch in Zukunft für die Erhaltung
unseres Rentensystem einiges tun müssen. Ich will Ihnen
einmal einige Punkte nennen:
Erstens. Wir müssen alles daransetzen, dass in Zukunft
auch ältere Arbeitnehmer bis zum 65. Lebensjahr beschäftigt werden. Das Gutachten des Sozialbeirats sagt
klar aus, dass das heutige Renteneintrittsalter in den
neuen und alten Bundesländern bei 62 Jahren liegt, wenn
man die Zahl der Empfänger von Erwerbsminderungsrenten herausrechnet.
({4})
- Wenn Sie die entsprechende Passage genau lesen, dann
stellen Sie fest, dass das nur sehr wenig angenommen
wird. Von der Regelung betreffend das Brückengeld
- darin bin ich mir sicher - werden auch nicht sehr viele
Gebrauch machen; denn für den Einzelnen - ich glaube,
auch Sie werden zu diesem Schluss kommen, wenn Sie
genau nachlesen - bleibt nicht viel übrig. Diejenigen, die
davon Gebrauch machen können, sollen das natürlich tun.
Sollte es uns gelingen, das Renteneintrittsalter bei allen Renten um ein Jahr zu erhöhen, könnten wir den Beitragssatz um 1,3 Prozentpunkte senken. Sie sollten dies
im Sondergutachten des Sozialbeirats zur Rentenreform
auf Seite 21 noch einmal nachlesen; denn ich habe das
Gefühl, dass manche, die hier gesprochen haben, diesen
Bericht überhaupt nicht gelesen haben.
({5})
Zweitens. Es muss uns gelingen, die in den nächsten
Jahren zu erwartende steigende Produktivität an der Reform der Finanzierung unserer Sozialversicherungssysteme in irgendeiner Form zu beteiligen. Ich hoffe und erwarte, dass dieser Aspekt von der Rürup-Kommission
aufgegriffen wird. Dort ist ja genügend Sachverstand versammelt, um Vorschläge zu diesem komplexen Thema zu
erarbeiten.
Drittens. Es dürfen keine unnötigen Verwaltungskosten entstehen. Allerdings befürchte ich, dass uns hier wieder der Föderalismus durch egoistische Machtansprüche
eine sinnvolle Lösung vermasseln wird. Dabei ist es
längst Zeit, im Bereich der Verwaltung grundsätzlich umzudenken. Das setzt allerdings den Willen bei allen Beteiligten voraus, an einer drastischen Senkung der Verwaltungskosten im Rentenbereich aktiv mitzuwirken. Wir
leisten uns zurzeit - um das einmal protokollarisch festzuhalten - neun landwirtschaftliche Alterskassen, 23 Landesversicherungsanstalten, davon allein fünf in Bayern,
eine knappschaftliche Alterskasse, die Bahnversicherungsanstalt, die Künstlersozialkasse und die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Hier könnten durch Zusammenschlüsse Synergieeffekte erzielt und viel Geld
eingespart werden.
Ich glaube, wir sind bei der Rentenversicherung auf
dem richtigen Weg. Es ist gut, dass uns dieses Thema auch
in den nächsten Jahren weiter beschäftigen wird. Ich bin
auch froh, dass dies von der rot-grünen Bundesregierung
behandelt wird. Denn wenn ich mir die Vorstellungen der
FDP zu diesem Thema anschaue, dann muss ich wirklich
sagen: Heinrich, mir graut vor dir.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Hildegard Müller,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die einschlägigen Schlagworte sind auch heute
wieder von diesem Rednerpult aus mehrfach angeklungen. Wenn man als Neuling im Bundestag in die Archive
schaut und sich die Protokolle und Drucksachen der vergangenen Legislaturperiode durchliest, dann stellt man
fest, dass alle Rednerinnen und Redner immer wieder den
demographischen Wandel und die Verantwortung gegenüber künftigen Generationen ansprechen. Das darf offenbar in keiner Debatte fehlen.
Auch die uns heute von der Bundesregierung vorgelegten Berichte benennen das Thema jeweils schon auf
der ersten Textseite. Auch Herr Dreßen hat sich - wenn
ich Ihnen ein Arbeitszeugnis ausstellen darf - im Rahmen
seiner Möglichkeiten bemüht.
({0})
Aber umso mehr muss es zum Nachdenken anregen, dass
bislang alle von der Bundesregierung und der rot-grünen
Koalition in diesem Haus vorgelegten Anträge und Gesetzentwürfe zu diesem Thema der Lösung dieses Problems leider weiter aus dem Weg gehen. Wenn man sich
die Medienberichte der letzten Wochen dazu ansieht, dann
kann man leicht den Eindruck gewinnen, dass einige Damen und Herren noch immer nicht gemerkt haben, oder,
Herr Dreßen, vielleicht auch nicht wahrhaben wollen, dass
sich die Arbeitswelt in diesem Land bereits verändert hat
und noch weiter verändern wird. Der 45 Jahre lang abhängig beschäftigte Arbeitnehmer gehört der Vergangenheit an.
Auch zur Erinnerung: 1992 war noch jeder fünfte Bürger älter als 59 Jahre. Im Jahre 2040 wird es jeder dritte
sein. Allein dieses dramatische Zahlenverhältnis zeigt
doch schon, dass wir handeln müssen und nicht bloß mit
Ihren Rezepten weiter herumdoktern können.
({1})
Die Bundesregierung behauptet in ihrem Bericht, die
Rentenversicherung modernisiert zu haben, um „die künftigen Herausforderungen insbesondere der demographischen Entwicklung meistern zu können“. In Ihrem aktuellen Rentenversicherungsbericht rechnen Sie sogar mit
sinkenden Beiträgen bis 2006.
Auch der Sozialbeirat mit Herrn Professor Rürup an
seiner Spitze hat im vergangenen Jahr in einem Sondergutachten zur Rentenreform die Lage noch sehr optimistisch gesehen: Die neuen Anpassungsformeln reichen aus,
um den Beitragssatz bis weit ins nächste Jahrzehnt unter
20 Prozent zu halten.
Angesichts der aktuellen Zahlen, die uns jetzt vorliegen, stellt sich schon die dringliche Frage, ob man über
diese Aussagen heute eher weinen oder lachen soll. Ihre
Jahrhundertreform hat noch nicht einmal ein Jahr gehalten. Von nachhaltiger Entwicklung im Sinne der Generationengerechtigkeit kann angesichts der heutigen Lage nicht
mehr die Rede sein. Sie haben kein Strukturproblem gelöst.
({2})
Zur Erinnerung: Schon im Oktober drohte der Anstieg
des Rentenbeitrags auf 19,8 Prozent. Das Thema Schwankungsreserve haben wir bereits angesprochen. Frau
Bender, Sie haben gerade wieder erwähnt, wir würden
hier mit Blick auf den 2. Februar Wahlkampf machen. Sie
verschweigen der Bevölkerung mit Blick auf den 2. Februar nach wie vor die wirklichen Zusammenhänge beim
Thema Finanzlage.
({3})
Nur eine Schwankungsreserve in ausreichender Höhe
gibt die Möglichkeit, konjunkturelle Anfälligkeiten zu beseitigen. Wenn die Rente konjunkturanfällig ist - Frau
Bender, Sie sagen das ja und begründen auch immer wieder, warum die Lage aktuell so ist -, dann dürfen Sie die
Schwankungsreserve nicht weiter absenken.
({4})
Sie sehen: Rot-Grün hat also auch schon jetzt einen
einzigartigen rentenpolitischen Offenbarungseid geleistet: Im Jahr 2001 zunächst eine Rentenreform, mit der stabile Beiträge bis zum Jahr 2030 versprochen worden sind,
im Jahr 2002 ein getrickster Rentenbeitrag, der nur durch
die Absenkung der Schwankungsreserve stabil gehalten
werden konnte,
({5})
und im Jahr 2003, Herr Dreßen, wird erneut getrickst; trotzdem kann ein Anstieg des Rentenbeitrags nicht verhindert
werden.
({6})
Wir werden am Ende des Jahres 2003 sehen, dass das kein
dummes Geschwätz ist,
({7})
sondern der Wahrheit entspricht.
({8})
Mit solch einer unsoliden Rentenpolitik führt die Bundesregierung die gesetzliche Rentenversicherung als tragende Säule der Altersversorgung in Deutschland immer
weiter in eine Vertrauenskrise.
Das ist leider das Gegenteil der so oft bemühten Generationengerechtigkeit. Die Rentenpolitik von Bundesregierung und Koalition stellt eine einseitige Belastung
der jungen Generation dar.
({9})
Die Lasten müssen aber gleichmäßig verteilt werden, um
dadurch auch den jungen Menschen den notwendigen
Spielraum für die private Vorsorge zu geben. Die Beiträge
steigen, das Rentenniveau sinkt und die private Altersvorsorge ist zu bürokratisch angelegt, für viele nicht finanzierbar.
({10})
Nun zum Beweis für diese Aussage; Herr Storm hat
dazu auch schon etwas gesagt. Der Gesamtverband der
Versicherungswirtschaft hat von nur 3 Millionen Verträgen
gesprochen. Da ist also nichts mit 18 Millionen Verträgen.
Mit 5 Millionen Verträgen zur Riester-Rente ist gerechnet
worden. Frau Ministerin Schmidt, Sie selbst haben noch
im November gesagt, dass 4 Millionen private Rentenverträge Maßstab für den Erfolg der Riester-Rente sind.
({11})
Danach ist selbst nach Ihren eigenen Kriterien die Rentenpolitik gescheitert, Frau Schmidt; geben Sie das endlich zu!
({12})
Frau Bender, zum Verbraucherschutz gehört auch,
dass die Menschen verstehen können, was sie abschließen
sollen. Vielleicht machen Sie sich einmal Gedanken darüber, warum so wenig Menschen entsprechende Verträge
abgeschlossen haben.
({13})
Verbraucherschutz heißt für mich auch Transparenz und
Klarheit. Gerade bei Riester ist das nicht gegeben.
({14})
Da kann es nicht verwundern, dass die viel zitierte Kakophonie in der Koalition wieder losbricht. Ich erinnere
nur an Herrn Berninger, der dringenden Reformbedarf bei
der Riester-Rente sieht. Von der Fraktionsklausur von
Bündnis 90/Die Grünen am Wochenende hörte man, dass
Sie vor allem die betriebliche und private Altersvorsorge
weiter ausbauen wollen. Das ist generell ja löblich, aber
die aktuellen Gesetzesänderungen betreffen gerade diese
Bereiche.
Mit der Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze
haben Sie in den Betrieben große Besorgnis ausgelöst.
Das ist auch in der Ausschussanhörung am 12. November
von den Sachverständigen ausdrücklich hervorgehoben
worden.
({15})
Gegen die Anhebung sprach nämlich eine grundsätzliche
Erwägung. Zahlreichen Arbeitnehmern werden jetzt schlagartig wesentliche Gehaltsbestandteile entzogen, die bislang
für die kapitalgedeckte Alterssicherung zur Verfügung
standen.
({16})
Insofern ergibt sich schon ein auffälliger Widerspruch zur
Intention der angeblichen Rentenreform, nämlich der
Stärkung der kapitalgedeckten Säule der Altersvorsorge.
({17})
Heute stehen wir im Übrigen noch vor einem weiteren
Problem. Sehr viele Formen der betrieblichen Altersvorsorge nehmen implizit oder explizit auf die Beitragsbemessungsgrenze Bezug. Das Resultat der Anhebung
dieser Grenze ist, dass bei nahezu allen Durchführungswegen reale Verluste bei den Betriebsrenten entstehen
werden. Und da sprechen Sie, meine Damen und Herren,
von einer Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge!
({18})
Auch wenn die Grünen noch so lange versuchen, der
SPD die Rolle des reformunwilligen Besitzstandwahrers
zuzuschreiben - Herr Dreßen, Sie zeigen gerade ein hervorragendes Beispiel dafür -: Sie vonseiten der Grünen
haben die katastrophale Rentenreform mit zu verantworten. Wer sich für Generationengerechtigkeit einsetzt, darf
nicht beim geringsten Gegenwind einknicken.
({19})
Wir müssen die Ziele der Rentenreform endlich langfristig verfolgen, um zu einer ehrlichen, generationengerechten Rentenreform zu kommen. In die Rentenformel
muss wieder ein demographischer Faktor eingebaut werden. Für eine bessere Entwicklung sind realistische, zwischen den Generationen austarierte Annahmen vonnöten.
Angesichts der veränderten Lage müssen wir die private
Vorsorge wesentlich vereinfachen und dürfen sie nicht
weiter bürokratisieren. Anders als bei der Riester-Rente
darf es keine weitere Bevormundung geben. Ansonsten
werden wir diese schwierige Aufgabe nicht lösen.
Ich danke Ihnen.
({20})
Frau Kollegin Müller, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause sehr herzlich und wünsche Ihnen ebenfalls persönlich und politisch alles Gute.
({0})
Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär Franz Thönnes.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Kollegin Müller, um bei dem Vergleich mit der
Schule zu bleiben: Im Hinblick auf die Oppositionsarbeit
bis zum 22. September des letzten Jahres stand im Zeugnis
für die Opposition „nicht versetzt“. Es ist in Ordnung, dass
Sie da sind, wo Sie jetzt sind: auf den Oppositionsbänken.
({0})
Das Sondergutachten des Sozialbeirats zur Rentenreform
gibt der Regierung Recht: Was sich über Generationen bewährt hat, das wird sich auch in Zukunft bewähren: die Solidarität der Jüngeren mit den Älteren und die eigene soziale
Absicherung der Jüngeren in der gesetzlichen Rentenversicherung. Das Sondergutachten zeigt auch ganz deutlich
- ich möchte einmal auf einige Inhalte der Rentenreform
eingehen -: Die staatliche Förderung ist beachtlich, die Unterstützung der Bezieher geringer Einkommen ist beträchtlich - davon profitieren Frauen ganz besonders - und das
Vorhandensein vielfältiger Fördermöglichkeiten ist positiv.
Herr Kollege Storm, Sie haben sich darüber beschwert
- aus diesem Gutachten haben Sie falsch zitiert ({1})
- Sie haben eben von „Fördermöglichkeiten“ gesprochen;
ich habe mir das extra aufgeschrieben -, dass die vielen
Fördermöglichkeiten das Ganze unüberschaubar machen. Wer hat denn darauf gedrungen, dass möglichst viele
Fördermöglichkeiten geschaffen werden? Wer hat denn
darauf gedrungen, dass die Förderung des Wohnungseigentums aufgenommen wird?
({2})
Wir sind mit den Fördermöglichkeiten zufrieden. An den
Verbraucherschutzkriterien wird nicht gerüttelt werden.
({3})
Die rot-grüne Rentenreform mit der Einführung der
kapitalgedeckten und der Stärkung der betrieblichen Altersversorgung war ein ganz vernünftiger Kompromiss
zwischen mehreren Zielen: auf der einen Seite die Finanzierbarkeit, auf der anderen Seite die Beschäftigungs- und
die Wachstumseffizienz, die Versorgungssicherheit, der
Ausgleich und die Generationengerechtigkeit.
Werte Kollegin Müller, es wäre vielleicht ganz gut,
wenn Sie zusätzlich zu den Protokollen der Beratungen
des Bundestages auch dieses Gutachten etwas genauer lesen würden. In diesem Gutachten steht auf Seite 18:
Die Berechnungen für den „typischen Rentner“
kommen zu dem Ergebnis, dass der demographisch
bedingte Rückgang der Rendite durch die Reform
deutlich gebremst wird. Die bei einem ({4})
Übergang von der Umlagefinanzierung zur Kapitaldeckung stets unvermeidbaren Übergangskosten
werden also von den älteren renditemäßig vergleichsweise günstiger gestellten Jahrgängen getragen.
Insgesamt führt die Reform daher zu einer gleichmäßigeren Lastenverteilung zwischen den Generationen.
Gleich danach ist zu lesen - ich sage das, weil Sie zu den
jungen Abgeordneten des Hauses gehören -:
Die Berechnungen zeigen, dass die „Gesamtrendite“
für jüngere Generationen mit Reform - im Vergleich
zu einer Fortführung des Status quo - höher liegt.
Langfristig stellt sich eine Renditeverbesserung um
etwa 18 Basispunkte ein. ...
Also: Bleiben Sie an dieser Stelle redlich, bleiben Sie
wahrhaftig!
({5})
Wir haben mit der Rentenreform die Weichen in die
richtige Richtung gestellt. Allerdings wurde - das will ich
nicht leugnen - zum Zeitpunkt der Verabschiedung der
Rentenreform für 2003 ein Beitragssatz von 18,7 Prozent
geschätzt.
({6})
Später, im Herbst, errechnete man bei gleicher Rechtslage
einen Beitragssatz von 19,9 Prozent.
Die Ursachen für diesen Anstieg kennen wir: Die andauernde Konjunkturabkühlung seit Mitte 2001
({7})
hat auch die gesetzliche Rentenversicherung zu spüren
bekommen. Seit dem Frühjahr gibt es 1,1 Millionen weniger Beitragszahler in der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Zahl der Arbeitslosen ist nicht zurückgegangen.
Gleichzeitig ist die Lohnentwicklung hinter den Erwartungen und hinter den Prognosen zurückgeblieben. Die
Ursache für die aktuelle schwierige Finanzlage der gesetzlichen Rentenversicherung ist nicht eine unzureichende
Rentenreform, sondern die Verschlechterung der globalen und der nationalen Wirtschaftsentwicklung.
({8})
Deswegen lassen wir uns von Ihnen heute weder die Reform noch das System zerreden.
({9})
Ich will nichts beschönigen. Die derzeitige Entwicklung gefällt keinem, auch nicht der Bundesregierung.
Jetzt aber den Kollaps der gesetzlichen Rentenversicherung zu prophezeien sowie Ängste und Zweifel an dem
System zu schüren ist unredlich und wird der Realität
nicht gerecht.
({10})
Nur zu Ihrer Erinnerung: Wie sah es denn aus, als Sie
regierten und wir in der Opposition waren? Die letzte Legislaturperiode Ihrer Regierungszeit war doch durchweg
durch Abschwung geprägt. Schauen wir uns einmal an,
wie sich da die Prognosen der Wirtschaftsdaten entwickelt haben:
({11})
Vom Oktober 1995 bis Frühjahr 1997, also ebenfalls in anderthalb Jahren, wurden die Prognosen der wirtschaftlichen Daten weit nach unten korrigiert. Waren Sie, Herr
Kollege Kolb, damals nicht Staatssekretär im Wirtschaftsministerium? Trotz heftiger Einschnitte auf der Leistungsseite - ich denke da insbesondere an das schon erwähnte
Wirtschaftsförderungsgesetz - musste der Beitragssatz
von 18,6 Prozent im Jahre 1995 auf 20,3 Prozent im Jahre
1997 angehoben werden: in 18 Monaten plus 1,7 Prozent.
({12})
Als Notanker, um einen Beitragssatz von 21,3 Prozent
zu verhindern, haben Sie dann noch die Erhöhung der
Mehrwertsteuer auf den Weg gebracht. Das heißt, innerhalb von fünf Jahren eine Anhebung des Beitragssatzes
um 2,5 Prozent. Ich sage ganz bescheiden: Wir hätten uns
in den viereinhalb Jahren unserer Regierungszeit mehr
gewünscht als eine Reduzierung um 0,8 Prozent.
({13})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Abgeordneten Kolb?
Da wir uns trotz der gegenseitigen Kritik aufgrund der
unterschiedlichen politischen Auffassungen schätzen,
lasse ich sie zu.
Das freut mich, Herr Staatssekretär; ich bedanke mich
auch ausdrücklich dafür. - Wenn Sie hier schon solche
Vergleiche anstellen, müssten Sie redlicherweise doch
auch sagen, dass die Menschen in diesem Lande in diesem
Jahr 17 Milliarden Euro Ökosteuer zahlen. Das entspricht,
wenn ich es richtig in Erinnerung habe, beim Rentenversicherungsbeitrag etwas über 2 Prozentpunkten; diese
werden heute an der Tankstelle bezahlt.
({0})
Wenn ich dann zusätzlich noch die Erhöhung des Rentenversicherungsbeitrags, die Sie vorgenommen haben, die
Absenkung der Mindestreserve und die Anhebung der
Beitragsbemessungsgrenze ins Kalkül ziehe, dann stelle
ich fest, dass Sie wirklich an den Problemen vorbeigearbeitet haben und nicht in der Lage sind, für eine zukunftsgerechte Ausgestaltung der Rentenversicherung in
diesem Lande zu sorgen. Stimmen Sie mir zu?
({1})
Werter Herr Kollege Kolb, mich wundert, dass Sie sich
überhaupt trauen, aufzustehen
({0})
und diese Frage in solch einem Zusammenhang stellen.
Ihnen geht es doch um die Senkung der Lohnnebenkosten. Ich stelle hier fest: Wir haben von Ihnen einen Beitragssatz von 20,3 Prozent übernommen und sind jetzt bei
19,5 Prozent.
({1})
Das heißt, die Lohnnebenkosten sind gesenkt worden.
({2})
Wie kann man sich vor dem Hintergrund, dass in Ihrem
Entschließungsantrag, den Sie heute vorlegen, steht,
({3})
dass Sie die Finanzmittel für die Schwankungsreserve auf
20 Milliarden erweitern wollen, überhaupt hier hinstellen
und so etwas sagen? Das entspricht zwei Beitragspunkten.
({4})
Wenn Sie hier fordern, 50 Prozent der gesamten Rücklage
für die Altersvorsorge auf die ergänzende Altersvorsorge
zu übertragen, dann bedeutet das eine Leistungskürzung
für die Betroffenen und eine Reduzierung von bisherigen
Standards.
({5})
Ich stimme Ihnen auch deswegen nicht zu, weil es uns
gelungen ist, die Lohnnebenkosten mit der sinnvollen Besteuerung von Energieverbrauch zu reduzieren und einen
Anreiz dazu zu geben, dass in dieser Gesellschaft mit Umwelt und Natur sorgsamer umgegangen wird.
({6})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Storm?
Das betrifft ja nicht die Redezeit, Frau Präsidentin?
Nein.
Bitte, Herr Kollege Storm.
Herr Staatssekretär Thönnes, Sie haben eben erklärt,
die Lohnnebenkosten seien gesenkt worden. Wie stehen
Sie dazu, dass zum Jahresbeginn der Gesamtsozialversicherungsbeitrag auf 42,1 Prozent gestiegen ist? Das ist ja
offenbar der höchste Wert, den wir in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland jemals hatten.
Das kann nicht sein, weil er am Ende Ihrer Regierungszeit doch auch bei 42,1 Prozent lag. Jetzt sind wir bei
42 Prozent.
({0})
Das mag eine erste Antwort auf Ihre Frage sein, werter
Kollege Storm.
Eine weitere Begründung ist in einer ähnlichen Entwicklung in den Jahren 2001 und 2002 wie zu Ihrer
Regierungszeit zu sehen: Die Schätzdaten, von denen die
Bundesregierung bei der Festlegung ihrer politischen Entscheidungen ausgeht, basieren jeweils auf den Daten der
Frühjahrsgutachten der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, der Bundesbank und der OECD.
({1})
Alle haben bis zum Sommer des letzten Jahres noch ein
verbessertes Wirtschaftswachstum unterstellt. Noch im
Juli hat der Vorsitzende des Sachverständigenrates für die
Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
die damaligen Annahmen der Bundesregierung zur Wirtschaftsentwicklung im Wesentlichen unterstützt.
Ich wiederhole meine Ausführungen, weil Sie sie vorhin
offensichtlich nicht verstanden haben: Die ökonomische
Entwicklung ist anders verlaufen, als dies die Wirtschaftsweisen und Gutachter vorausgesagt haben.
({2})
Ich habe betont: Es gab 1,1 Millionen Arbeitslose mehr,
eine wesentlich geringere Wachstumsrate und damit auch
wesentlich geringere Beitragsseinnahmen.
({3})
Die Annahme, dass ein Beitragssatz von 19,3 Prozent
ausreichen würde, konnte nicht gehalten werden. Ein entsprechender Druck zur Erhöhung des Beitragssatzes ist
ausgeübt worden. Eigentlich hätte er um 0,3 Prozentpunkte höher sein müssen. Damit wären aber wieder die
Lohnnebenkosten gestiegen. Das wollten wir nicht. Deswegen haben wir das Beitragssatzsicherungsgesetz am
20. Dezember 2002 hier im Deutschen Bundestag verabschiedet, um auf einen Rentenversicherungsbeitrag von
19,5 Prozent zu kommen - was Sie bis zuletzt blockiert
haben. Hätten wir Ihre Blockade nicht überwunden, hätten wir heute einen Beitragssatz von 19,9 Prozent und
auch die Lohnnebenkosten wären stärker gestiegen. Dies
wäre unverantwortlich gewesen.
Bei der Anhörung des Deutschen Bundestages hat Professor Ruland vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger noch deutlicher gesagt, selbst bei vorsichtiger
Annahme würde bei einem Beitragssatz von 19,5 Prozent
({4})
und einer Schwankungsreserve von 0,5 Prozent ein Sicherheitskorridor bleiben und die Zahlungsfähigkeit der
Rentenversicherungen wäre auch in diesem Jahr gewährleistet. Nehmen Sie dies doch endlich einmal zur Kenntnis!
({5})
Nach vorläufigen Ergebnissen der Rentenversicherungsträger haben sich die Pflichtbeiträge im Jahre 2002
gegenüber dem Jahr 2001 lediglich um 0,1 Prozentpunkte
erhöht. Der konjunkturelle Verlauf blieb also auch im letzten Quartal flach. Noch im Oktober sind wir von einem
Anstieg um 0,5 Prozent ausgegangen.
Ich will die Risiken, die Einflussfaktoren, die eine
Rolle spielen, überhaupt nicht negieren: Sonderzahlungen
in den Unternehmen sind zurückgeführt worden; Verrechnungen von Tariferhöhungen sind erfolgt;
({6})
es hat einen Überstundenabbau durch Freizeitausgleich
gegeben; es gibt die Flucht in Billigtarifverträge; es gibt
die Entgeltumwandlung. Man kann jetzt auch nicht voraussehen, welche Auswirkungen sich bei der Umsetzung
des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst ergeben
werden und wie die Zahlung der Gehälter erfolgen wird.
({7})
Ich weiß, dass die bislang vorgesehene Reserve auf der
Basis dessen, was wir Ende letzten Jahres festgelegt und
diskutiert haben, mit dazu beitragen kann, dass die Zahlungsfähigkeit der Rentenversicherung gewährleistet ist.
({8})
Grundlage ist die Möglichkeit, Zahlungen aus den Monaten November und Dezember vorzuziehen.
Ich möchte aber noch einen Punkt nennen, zu dem Sie
sich auf der Seite der Opposition auch hinsichtlich Ihrer
eigenen Argumentation Gedanken machen müssen. Sie
haben im Frühjahr und Sommer letzten Jahres vorgeschlagen, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren, die MiniJobs zu erleichtern und die Sozialversicherungsbeiträge
hierfür zu senken. Sie haben angedeutet, dadurch würden
500 000 bis 800 000 neue Arbeitsplätze entstehen.
Bei der Umsetzung der Hartz-Konzeption haben wir
zusammengearbeitet und einen wesentlichen Teil gemeinsam umgesetzt.
({9})
Dies tritt jetzt in Kraft. Was ist denn aus Ihrer Vermutung
geworden, dass es durch die Umsetzung der Konzeption
in diesem Bereich zu einer positiven Beschäftigtenentwicklung kommen würde?
({10})
Sehen Sie doch jetzt die darin liegende Chance für eine
Verbesserung auf dem Beschäftigtenmarkt.
Wie Sie sich aufführen, erinnert es mich an einen
Ausspruch des italienischen Schriftstellers Giovanni
Guareschi, der die schönen Geschichten von Don Camillo
und Peppone geschrieben hat.
({11})
Er hat gesagt: Kaum sieht einmal ein Optimist ein Licht,
das vielleicht gar nicht da ist, dann kommt schon wieder
ein Pessimist daher und bläst es aus. - Dies machen Sie
im Moment: Schwarzmalerei von vorn bis hinten, Jammern auf hohem Niveau.
({12})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Nein, eine Frage war ausreichend, werter Kollege
Kolb.
({0})
Es ist auch jetzt nicht an der Zeit, aufgrund von Schwarzmalerei, von schlechten und noch schlechteren Prognosen, als sie von vielen anderen draußen diskutiert werden,
die Ziele, die zu erreichen wir uns vorgenommen haben,
zu korrigieren. Die dazu notwendigen Daten liegen noch
nicht vor. Die Wachstumsprognosen werden im Jahreswirtschaftsbericht Ende dieses Monats formuliert werden. Ein vorläufiger Jahresabschluss der Rentenversicherungsträger wird wahrscheinlich nicht vor Mitte Februar
vorliegen.
Daten über die Beiträge des ersten Quartals 2003 werden wir erst am 10. April bekommen. Auch die Frühjahrsgutachten der Wirtschaftsinstitute und die wirtschaftliche Einschätzung der Bundesregierung werden
uns erst im April vorliegen. Es müssen gesicherte Daten
vorhanden sein, um auf deren Basis einschätzen zu können,
wie die Entwicklung am Ende aussehen wird. Erst dann
kann man, wie ich glaube, eine Einschätzung vornehmen
({1})
Wir gehen, obwohl unser System häufig zerredet wird,
davon aus, dass die umlagefinanzierte gesetzliche Rente
auch in Zukunft die wichtigste Säule unserer Alterssicherung bleibt. Mit der Rentenreform ist Sicherheit und Verlässlichkeit für die Älteren und Bezahlbarkeit für die Jüngeren gegeben. Der Weg, den wir in Deutschland mit der
Rentenreform eingeschlagen haben, ist unumkehrbar. Das
hat auch das Sondergutachten des Sozialbeirates bewiesen. Die Rentenreform gibt den Menschen die Sicherheit, dass das elementare Lebensrisiko im Alter auch in
Zukunft solidarisch abgesichert wird.
Jetzt kommt es darauf an, gemeinsam darauf hinzuwirken, dass die 25-prozentige Erhöhung der Investitionen in
Bildung und Forschung und die 21-prozentige Erhöhung
der Investitionen in Infrastruktur, also in Straße und
Schiene - das alles sind Steigerungsraten seit 1998 -, erfolgen, dass die Mittelstandsoffensive umgesetzt wird
und dass Flexibilisierungen auf dem Arbeitsmarkt vorgenommen werden. Wir müssen wieder der Überzeugung
sein, dass wir es in diesem Jahr packen, dass wir vorankommen und dass wir Deutschland gemeinsam aus dieser
schwierigen Lage herausbringen.
({2})
Mit dem Jammern auf hohem Niveau, wozu Sie in diesem
Hause mit die besten Lehrer sind, muss endlich Schluss sein.
({3})
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Gerald
Weiß, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das, was insbesondere die Kollegen Thönnes und
Dreßen vorhin hier geboten haben, kann nur mit Negierung der Wirklichkeit umschrieben werden.
({0})
Das, was Sie am Pult betrieben haben, ist eine Wirklichkeitsverweigerung.
Herr Thönnes, wenn Sie sagen, die Wirtschaftsentwicklung sei anders, sei schlechter verlaufen, dann kann
ich nur feststellen, dass sie wegen Ihrer Politik schlechter
gelaufen ist.
({1})
Kommen Sie mir nicht mit dem Argument Weltwirtschaft! Wenn uns noch etwas hoch hält, dann ist das der
Exportboom, den wir aufzuweisen haben.
({2})
Binnenwirtschaftlich haben Sie den Karren elend an die
Wand gefahren, mit dem Ergebnis, dass wir mehr Arbeitslose und weniger Wachstum haben.
Die charmante Ministerin - heute schweigt sie - hat im
Ausschuss dargelegt, welche Folgen die Wachstumsschwäche hat. Beispielsweise 0,5 Prozentpunkte weniger
beim Wachstum des Sozialprodukts bedeuten eine Verschlechterung der Rentenfinanzen um 600 Millionen
Euro. Sie schaffen sich durch Ihre Politik, insbesondere
durch ständige Abgabenerhöhungen, Steuererhöhungen
und die Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge, die
Probleme selber, die Sie hier beklagt haben.
({3})
Meine Damen und Herren, ich dachte, ich stehe im Wald,
als Sie sagten, wir würden - damit meinten Sie uns - die
Lohnnebenkosten in die Höhe treiben. Ich frage Sie: Ist
Ihre Erhöhung des Rentenversicherungsbeitrages von
19,1 Prozent auf 19,5 Prozent keine Steigerung der Lohnnebenkosten?
({4})
Ist der Anstieg der Krankenversicherungsbeiträge um
0,5 auf durchschnittlich 15 Prozent keine Steigerung der
Lohnnebenkosten?
({5})
Sie unterbrechen diesen Teufelskreis nicht, sondern verschärfen zunehmend das Tempo in dieser Spirale. Das ist
es, was insbesondere dem Mittelstand, aber auch unserer
Wirtschaft insgesamt das Leben schwer macht.
({6})
Sie wagen sogar zu behaupten, die Weichen seien richtig gestellt.
({7})
Frau Müller hat darauf hingewiesen: Von den Zahlen der
Jahrhundertreform ist nach einem Jahr keine einzige richtige Zahl mehr übrig geblieben. Alle Prognosen, alle
Projektionen sind falsch. Frau Ministerin, Sie haben im
Gerald Weiß ({8})
Ausschuss so treuherzig gesagt, es werde eng; aber es
werde reichen, wenn keine weiteren Risiken mehr eintreten. Die Risiken sind doch eingetreten!
({9})
Sie selber haben das vorhergesagte Wachstum von
1,5 Prozent auf 1 Prozent zurückgenommen.
({10})
Alle Wirtschaftsforschungsinstitute sagen, es werde noch
viel bescheidener und schlechter ausfallen. Das DIW
spricht beispielsweise von nur 0,6 Prozent Wachstum. Die
Risiken sind eingetreten. Sie werden mit dem Szenario,
das Sie sich selbst zimmern, nicht zurecht kommen.
({11})
Wirklichkeitsverweigerung zeigt, was Sie über die
Riester-Rente gesagt haben. Ich verstehe nicht, wie Herr
Dreßen einen Boom bei der Riester-Rente erkennen kann,
wenn nicht einmal ein Zehntel der Berechtigten - es ist
Riester-Rente und keiner geht hin ({12})
dieses Instrument in Anspruch nimmt.
Man kann analysieren - Kollege Storm und Frau
Müller haben es eben getan -, woran das liegt. Die
Riester-Rente ist zu bürokratisch; zwölf steife, komplizierte Kriterien, die niemand versteht.
({13})
Außerdem werden - das kann ich bei einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung nicht verstehen Einkommensschwächere schwächer als Einkommensstärkere gefördert.
({14})
- Das ist nicht wahr?
({15})
- Was nutzen den Leuten Prozente? Es geht um das, was
sie cash einsetzen können und was nicht. Es ist so geregelt, dass die Verkäuferin 165 Euro Förderung erhält und
ihr Chef, der Filialleiter, das Vierfache.
({16})
Wenn Sie das sozial ausgewogen nennen, dann ist das eine
neue sozialdemokratische Philosophie.
({17})
Als Herr Dreßen hier die Strukturprobleme - zum Teil
richtig - beschrieben und dann den Schluss gezogen hat,
das faktische Renteneintrittsalter müsse erhöht werden,
dachte ich, ich verstehe die Welt nicht mehr. Wir mussten
Ihnen doch eben im Bundesrat mühsam das Brückengeld
wieder abhandeln, das ein Fanal für eine neue Frühverrentung in Deutschland geworden wäre.
({18})
Außerdem haben Sie gesagt, die Struktur der Rentenversicherungsträgerschaft sei ineffektiv, wir hätten zu
viele Rentenversicherungsträger usw. Sie regieren jetzt
beklagenswerterweise im fünften Jahr und aus der notwendigen Organisationsreform in der Rentenversicherung
ist bisher nicht einmal ansatzweise, geschweige denn erkennbar etwas geworden.
Sie können sich doch nicht an die Klagemauer stellen,
wenn Sie in der praktischen Politik versagen. Herr
Thönnes, es war sehr billig, die Oppositionsarbeit so zu disqualifizieren, wie Sie es getan haben. Schauen Sie sich einmal die Bewertung der Arbeit der rot-grünen Regierung in
der Demoskopie an. Sehr viel schlechter könnte sie nicht
ausfallen. Sie bekommen von den Menschen ein miserables Zeugnis,
({19})
weil sie keine Hoffnung mehr haben, dass Sie sie aus dem
Schlamassel herausbringen.
({20})
Ich war auch erstaunt darüber, dass Sie, Herr Thönnes,
wesentliche Ergebnisse der Hartz-Kommission als Ausweg aus der Krise dargestellt haben. Beispielsweise mussten wir das, was wir Ihnen im Rahmen des Laumann-Papiers, der Drei-Säulen-Konzeption, mühsam abhandeln
mussten, im Bundesrat zunächst gegen Sie durchsetzen,
bevor wir uns dann vernünftig geeinigt haben.
An eigenen Leistungen und eigener positiver Anstrengung ist bei Rot-Grün nichts zu erkennen. Damit wird die
Unsicherheit der Rentnerinnen und Rentner genährt. Die
junge Generation hat keine Perspektive. Arbeitnehmer und
Arbeitgeber müssen ständig mehr Steuern und Sozialabgaben blechen. Daraus kann keine Perspektive erwachsen.
Ich bin Frau Bender dankbar.
({21})
Wenn ich den Landtagswahlfilter einmal weglasse, hat sie
gesagt: Auch die Rentnerinnen und Rentner müssen sich
darauf einstellen, etwas zur Sanierung der Rente beizutragen. Das war die Ankündigung der nächsten Beschränkung
der Rentenanpassung für die Rentnerinnen und Rentner.
Wir rufen den Rentnern zu: Das kommt auf Sie zu! Die
Rentenanpassung wird verringert oder gar ausgesetzt.
({22})
So lautet die Botschaft von Frau Bender an die Bürgerinnen und Bürger; das ist die Wahrheit vor dem 2. Februar,
wenn man die Wahlkampfrhetorik einmal beiseite lässt.
({23})
Das haben die Menschen von Ihnen zu erwarten: nichts
außer abermaligem Vertrauensbruch.
Ich bedanke mich.
({24})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5394, 14/7639 und 15/110 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 15/318 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann
Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart, Carl-Ludwig
Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Zinsabgeltungsteuer einführen - Fluchtkapital
zurückholen
- Drucksache 15/217 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP
fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Professor
Dr. Andreas Pinkwart, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag der FDP-Fraktion wollen
wir einen Weg aus einer, wie wir meinen, für den Standort
Deutschland und für das Vertrauen der Bürger in den Rechtstaat schwierigen Krise weisen, in die uns die Vorschläge
der Bundesregierung wie auch die öffentlichen Kampagnen
der Ministerpräsidenten Gabriel und Steinbrück in den letzten Wochen und Monaten geführt haben.
({0})
Hierzu gehören die Ankündigung der Abschaffung des
Bankgeheimnisses, die Einführung einer Wertzuwachssteuer, flächendeckende Kontrollmitteilungsverfahren
und die Diskussion über die Wiedererhebung der Vermögensteuer. Das alles sind Anschläge, die das Vertrauen in
den deutschen Kapitalmarkt beschädigen.
({1})
Wer auf Wahlplakate schreibt „1 Prozent Vermögen für
100 Prozent Bildung“ - PISA lässt grüßen; ich möchte
wissen, in welchem Rechenunterricht diese Gleichung je
aufgegangen wäre -,
({2})
der versucht - viel gefährlicher, wie ich finde -, risikobereites Kapital, das wir in Deutschland brauchen, gegen innovative Köpfe auszuspielen. Wir brauchen aber genau
das Gegenteil. Wir müssen in Deutschland wieder risikobereites Kapital und innovative Köpfe zusammenführen. Dann haben wir auch Geld, um unsere Schulen
und Hochschulen wieder vernünftig ausstatten zu können.
({3})
In diese Richtung gingen die Beiträge der Experten wie
auch der Verbände im Finanzausschuss. Diejenigen, die
dabei waren, können das bestätigen. Sie sind ein Schlag
ins Gesicht rot-grüner Finanzpolitik.
({4})
Dabei - das festzuhalten ist mir als Liberaler besonders
wichtig - tragen auch die Gesetzesvorhaben, die uns
bisher vorliegen, dazu bei, den Datenschutz massiv ins
Hintertreffen zu bringen. Es fehlt bei der Sicherung der
Steuergerechtigkeit an einer datenschutzkonformen Abwägung zwischen den Verfassungsprinzipien einer gesetzesgerechten Steuererhebung und eines grundrechtlichen
Persönlichkeitsschutzes.
({5})
Hierzu möchte ich die Erklärung der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder kurz auszugsweise wiedergeben - ich darf zitieren, Frau Präsidentin -:
Dass künftig auch verdachtsunabhängige Prüfungen
in Banken angeordnet werden können, schafft den
„gläsernen Bankkunden“ und erweckt den Anschein,
als sei jeder Steuerpflichtige ein potenzieller Steuerverkürzer. Das datenschutzrechtliche Prinzip, dass
Daten grundsätzlich bei Betroffenen zu erheben
sind - § 93 a AO -, wird außer Kraft gesetzt.
Die Datenschutzbeauftragten weisen weiter darauf hin,
dass die hier geplanten Kontrollmitteilungen dazu
führen würden, dass die von einzelnen Bürgern abzugebenden Daten zentral verwaltet würden und dass auf diese
zentral verwalteten Daten mit Personenidentitätsnummern
auch andere als die Finanzbehörden jederzeit zugreifen
könnten. Das ist der gläserne Bürger - George Orwell lässt
grüßen -, den wir Liberale nicht haben wollen.
({6})
Nicht nur die Datenschutzbeauftragten von Bund und
Ländern weisen auf die Lösung hin, eine Abgeltungsteuer einzuführen, wie sie in Österreich sehr erfolgreich
- dort hat sie zu wachsenden Steuereinnahmen in diesem
Segment geführt - erhoben wird. Auch die Deutsche Bundesbank weist in ihrer Stellungnahme an den Finanzausschuss darauf hin, dass die bisherigen Vorlagen von RotGrün im Parlament nicht zielführend seien, sondern dass
eine Abgeltungsteuer, wie wir sie Ihnen in unserem Antrag vorschlagen, den Weg weisen könnte.
Deswegen fordern wir die Regierungsseite, die Fraktionen von SPD und Grünen, auf: Lassen Sie das, was Sie bisher vorgelegt haben, sein! Ziehen Sie diese Teile des Gesetzes zurück! Legen Sie dem Parlament einen Gesetzentwurf
einer Abgeltungsteuer für Zinserträge, Kapitalerträge und
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wertzuwachsgewinne vor! Dabei sollte es sich um eine
absolute, nicht um eine relative Abgeltungsteuer handeln;
das heißt, es sollte einen klaren Verzicht auf Kontrollmitteilungen geben. Dann könnten wir den zweiten Teil unseres Antrags realisieren, nämlich Kapital aus dem Ausland wieder nach Deutschland zurückholen, und könnten
mit einer pauschalen Regelung für die Nachversteuerung
und einer modifizierten Selbstanzeige erreichen, dass mehr
Menschen bereit sind, diesem Land wieder ihr Vertrauen zu
schenken und sich mit ihrem Kapital hier einzubringen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Frechen,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Grundsätzlich sind Einsicht und Flexibilität positive Eigenschaften. Es ist deshalb prinzipiell sehr lobenswert, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion, die Initiative
unseres Bundeskanzlers vom 16. Dezember zum Anlass
nehmen, heute einen eigenen Antrag zum Thema Abgeltungsteuer im Deutschen Bundestag einzubringen. Ich bin
mit Gerhard Schröder und in diesem Fall auch mit Ihnen
der Meinung: Wir müssen über eine Abgeltungsteuer
nachdenken. Ganz ohne Zweifel wird sie einen erheblichen Beitrag zur Entbürokratisierung und zur Verwaltungsvereinfachung leisten, und zwar sowohl bei den
Steuerpflichtigen als auch bei der Finanzverwaltung.
Sie bringt sogar eine Art Steuergerechtigkeit; denn alle
inländischen Zinseinkünfte werden dann einer regulären
Besteuerung unterworfen. Allerdings führt sie zwangsläufig auch zu einer Steuerungerechtigkeit, weil die Steuerpflichtigen mit einem höheren Steuersatz als 25 Prozent
eine mehr oder weniger große Entlastung bekommen.
({0})
Es bedeutet, dass künftig die Art der Einkünfte über den
persönlichen Steuersatz entscheidet: Wer Einkünfte aus
Vermietung erzielt, unterliegt im Höchstfall dem Spitzensteuersatz; wer Zinseinkünfte aus Kapitalvermögen bezieht, unterliegt dem Steuersatz von 25 Prozent. Aber ich
gebe Ihnen Recht: Es stimmt ja: Was nützt eine Gerechtigkeit, die nur theoretisch, nämlich nur auf dem Papier,
besteht, weil Zinseinkünfte relativ leicht zu verstecken
sind und vielfach bei der Besteuerung hinterzogen werden
können?
Es besteht also Einigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP: Das ist ein guter Vorschlag unseres
Bundeskanzlers.
({1})
Ich kann auch gut verstehen, dass Sie dies zum Anlass
nehmen, Ihr eigenes Gesetz über die Zinsabschlagsteuer
von 1992 mit gut zehn Jahren Verspätung reparieren zu
wollen. Immerhin halten Sie selbst es ja für misslungen.
Leider endet von hier ab die Übereinstimmung zwischen uns. Denn Ihr Antrag ist nicht durchdacht, er ist
nicht ausgewogen und er ist zum völlig falschen Zeitpunkt eingebracht worden.
({2})
Ich werde das an einigen Beispielen deutlich machen.
Stichwort „Zeitpunkt“. Ihr Antrag ist einzig und allein
der Versuch, mit uns Hase und Igel zu spielen, wobei Sie
uns offenbar die Rolle des „Mömmelmann“ zuweisen
wollen. Dazu sage Ich: Ihren Möllemann behalten Sie mal
besser selber.
({3})
- Ich kenne Ihre Art von Humor nicht, Herr Kollege.
Manchmal sehen Sie so aus, als hätten Sie gar keinen.
Der Bundeskanzler hat aus gutem Grund auf den
21. Januar verwiesen. An diesem Tag werden die Wirtschafts- und Finanzminister der EU dieses Thema behandeln. Eines ist doch wohl klar: Gerade bei diesem
Thema bedarf es einer mit den europäischen Nachbarn abgestimmten Lösung. Der heutige Antrag kommt also zur
Unzeit und ist schädlich für die deutsche Verhandlungsposition bei einer europäischen Lösung.
({4})
- Der Bundeskanzler hat sehr wohl und ganz bewusst
({5})
den 21. Januar genannt. Wenn Sie heute Morgen auf Ihren
Kalender geguckt haben, dann wissen Sie: Wir haben
heute den 17. Januar.
({6})
Lieber Herr Kollege, wenn Sie keinen Kalender haben,
dann tut mir das sehr Leid.
({7})
In Ihrem Antrag findet keinerlei Abwägung im Hinblick auf Steuerpflichtige mit einem Steuersatz zwischen
0 und 25 Prozent statt. Was ist mit Freibeträgen? Soll ein
Kleinanleger künftig jeden Euro versteuern, damit alle
insgesamt weniger Steuern zahlen?
({8})
Was ist mit Freistellungen? In Ihrem Antrag heißt es - ich
zitiere wörtlich -:
Lediglich bei Beziehern kleinerer Einkommen mit
einem niedrigeren Steuersatz als 25 % hat die abgezogene Steuer weiterhin den Charakter einer Vorauszahlung. Zu viel gezahlte Steuer kann bei der Steuerveranlagung erstattet bzw. verrechnet werden.
Frau Frechen, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pinkwart zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Ich möchte Sie fragen, ob nicht auch Sie den Satz: „Zu
viel gezahlte Steuer kann bei der Steuerveranlagung erstattet bzw. verrechnet werden“, der in unserem Antrag
steht, Gabriele Frechen ({0}):
Den habe ich Ihnen gerade vorgelesen.
- so interpretieren wollen, dass derjenige, der einen niedrigeren Durchschnittssteuersatz als 25 Prozent hat, diese
Abgeltungsteuer natürlich zurückerstattet bekommt.
Herr Professor Dr. Pinkwart, genau diesen Satz habe
ich Ihnen soeben vorgelesen. Ich werde Ihnen diesen noch
einmal vorlesen und dann meine Anmerkungen dazu machen: „Zu viel gezahlte Steuer kann bei der Steuerveranlagung erstattet bzw. verrechnet werden.“ Danach muss
künftig jeder Rentner, der Kapitaleinkünfte hat, eine
Steuererklärung abgeben, um die Abgeltungsteuer erstattet zu bekommen. Das hat allerdings nichts mit einem
Freibetrag zu tun, sondern nur mit einem Steuersatz von
0 bis 25 Prozent.
({0})
- Moment, wieso eine derartige Hektik? Wir sind doch
fast allein hier; wir haben Zeit.
({1})
- Ich habe noch eine Redezeit von 6 Minuten und 20 Sekunden. Die nutze ich aus.
({2})
- Ich weiß, dass Ihnen die Wahrheit wehtut. Das war
schon immer so.
({3})
Das bedeutet eine Menge mehr Bürokratie für die Steuerpflichtigen. Es wird in Ihrem Antrag keinen Punkt geben, von dem man sagen kann, dass er nicht mehr Bürokratie bedeutet. Halten Sie ein solches Vorgehen wirklich
für zeitgemäß, Herr Professor Dr. Pinkwart? Das glaube
ich nicht. Oder sind Ihre ständigen Forderungen nach einer Vereinfachung wirklich nur Propaganda einer Spaßpartei?
Was ist mit der Nichtveranlagung? Kein Wort dazu! Sie
müssten eine ganze Menge nachbessern, um nur diesen einen Punkt praktikabel zu machen.
Schließlich ist Ihr Antrag nicht durchdacht: Sie wollen
Kapital aus dem Ausland zurückholen. Das ist nicht verwerflich; darin stimme ich Ihnen ausdrücklich zu. Allerdings hat Ihre Begründung eindeutig zu viel Meisterprosa.
Ich erlaube mir, auch hier zu zitieren:
Betroffen sind vor allem Bezieher von Einkünften
aus Schwarzarbeit,
- allein die Tatsache, dass Sie die Einkünfte aus
Schwarzarbeit wie eine achte Einkunftsart im Einkommensteuergesetz benennen, zeigt doch, wie sehr Sie diese
Einkünfte bereits verinnerlicht haben ({4})
Inhaber von Fluchtkapital
- haben Sie schon einmal Kapital auf der Flucht gesehen,
vielleicht mit einer Mathilda über der Schulter oder einem
Rucksack und Wanderstab? Kapital kann nicht flüchten;
das wird nur verschoben ({5})
sowie Bürger, die aus Unwissenheit Zinsen nicht angegeben haben. Viele dieser Menschen möchten
Geld investieren, werden aber wegen der drohenden
steuerlichen und strafrechtlichen Folgen abgehalten.
Andere wollen ihren Nachlass regeln, aber den Erben
die steuerlichen Folgen ersparen.
Man kämpft mit den Tränen vor lauter Mitleid mit den
bedauernswerten Schwarzarbeitern und Kapitalflüchtlingen, die in das Ausland getrieben werden, weil sie hier
nicht investieren können. Warum eigentlich nicht? Investitionen sind doch steuersparend!
Sind die Tränen dann getrocknet, kommt das Kernproblem der von Ihnen genannten Zielgruppe: Schwarz erworbenes Kapital, das schwarz im Ausland Früchte getragen hat,
({6})
soll jetzt weiß vererbt werden, ohne den Schwarzbestand
zu schmälern.
Das machen wir nicht mit.
({7})
Wir wollen aus gutem Grund die Repatriierung, aber nicht
zum Nulltarif. Doch genau das wollen Sie. Der Betroffene
soll künftig nicht nur durch einen niedrigeren Steuersatz
belohnt werden, sondern soll auch noch selbst entscheiden können, wie viel Ehrlichkeit der Staat ihm zumuten
kann. Warum scheuen Sie denn Jahresbescheinigungen
wie der Teufel das Weihwasser?
({8})
Selbst auf europäischer Ebene hoffen Sie ausgerechnet
auf die Steueroasen Schweiz und Luxemburg, um eine europaweite gerechte Lösung zu verhindern.
Bitte erzählen Sie uns jetzt nicht das Märchen von
Bürokratie und Verwaltungsaufwand! Ich weiß aus meiner beruflichen Erfahrung allzu gut, dass die meisten Kreditinstitute diese Bescheinigungen schon heute ohne Anforderung ausstellen. Sie werden mir nicht erzählen wollen,
dass es nicht möglich sein soll, das Ganze auf EDV-Basis
zu machen und per Datenübertragung weiterzuleiten.
Ohne die so genannten Kontrollmitteilungen auf europäischer Ebene lassen sich Kapitalströme überhaupt
nicht nachvollziehen. Auf denselben Wegen, auf denen
das Kapital ins Ausland geschmuggelt wurde, käme es
dann, wenn es opportun erscheint, wieder zurück.
Sie schreiben, dass eine Amnestie aus Gerechtigkeitsgründen nicht infrage kommt. Das hört sich gut an, aber
Sie wissen so gut wie wir, dass diese Forderung ohne
Kontrollmitteilungen reine Augenwischerei ist. Zumindest die Vermutung liegt nahe, dass Sie genau diese Amnestie wollen; Sie trauen sich nur nicht, das zuzugeben.
Ein weiterer Aspekt bleibt völlig außen vor. Was ist mit
dem Kapital, das bisher in Deutschland mit 30 Prozent
Zinsabschlagsteuer besteuert und in der Steuererklärung
nicht angegeben wurde? Wir sprechen hier nicht über Ordnungswidrigkeiten oder Kavaliersdelikte, wir sprechen
hier über Steuerhinterziehung, also über den Abschied aus
der Verantwortung für die Gemeinschaft auf Kosten der
ehrlichen Steuerzahler.
({9})
Das bliebe alles unaufgedeckt und würde künftig auch
noch mit niedrigem Steuersatz belohnt. Ein einfaches Beispiel macht das deutlich: In diesem Jahr hat ein Steuerpflichtiger Zinseinkünfte von x. Im nächsten Jahr wird per
Abgeltungsteuer die doppelte Menge Zinsen besteuert.
Ohne Kontrollmitteilungen bekommt kein Finanzamt die
Chance, die wundersame Geldvermehrung aufzudecken.
Wie können Sie da erwarten, dass jemand freiwillig Strafe
bezahlt, wenn das Entdeckungsrisiko gleich null ist?
Wir brauchen die Kontrollmitteilung als Möglichkeit
des Vergleichs. Alles andere würde einer Generalamnestie
gleichkommen, die Sie doch angeblich gar nicht wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das waren nur einige
Punkte aus Ihrem Antrag, an denen sich zeigt, wie
schlecht vorbereitet und wie wenig durchdacht er ist.
({10})
Hier musste mit Gewalt ein Termin gehalten werden, das
kann man am Ergebnis ganz deutlich sehen.
Wir werden über die Einführung der Abgeltungsteuer
beraten, darüber gibt es keinen Zweifel. Der Bundeskanzler hat Hans Eichel gebeten, einen Entwurf vorzulegen.
Ich bin überzeugt, der Bundesfinanzminister wird einen
ausgewogenen, durchdachten und diskussionswürdigen
Entwurf vorlegen, der Europa einbezieht. Ihr Schnellschuss war absolut überflüssig. Der richtige Termin ist
nach dem 21. Januar.
So viel zu Ihrem Antrag, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Otto Bernhardt,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion ist im Grundsatz dafür, dass
wir von der zurzeit geltenden Zinsabschlagsteuer zu einer
Zinsabgeltungsteuer übergehen. Wenn man das richtig
machte, wäre dieser Übergang ein wichtiger Beitrag zur
Entbürokratisierung, der erhebliche Vorteile für die
Bürger im Zusammenhang mit ihrer Steuererklärung, für
die Finanzverwaltungen und die Banken brächte. Wenn
man es richtig machte, würde sogar Ihr Ziel, Herr Spiller
- Sie haben sich dazu im „Handelsblatt“ geäußert -, dass
Kapital zurückkäme und uns weniger Kapital verließe,
erfüllt werden. Dann bekäme man sogar mehr Steuereinnahmen.
Aber das, was Ihr Bundeskanzler vorgeschlagen hat
und Sie hier praktizieren wollen, wird genau das Gegenteil bewirken. Wer die Zinsabgeltungsteuer mit Kontrollmitteilungen und endgültiger Auflösung des Bankgeheimnisses verbindet, wird keine Mark nach Deutschland
zurückholen und nicht verhindern, dass weiteres Geld
Deutschland verlässt.
Ich habe wie so oft wieder einmal meine Hoffnungen
auf die Kollegin Scheel von den Grünen gesetzt, die im
„Handelsblatt“ gesagt hat, sie habe erkannt, dass nach der
Einführung von Kontrollmitteilungen kein Geld zurückkommen wird. Frau Kollegin Scheel, das Problem ist nur,
dass Sie in der Öffentlichkeit oft gute Sachen sagen, aber
leider immer wieder falsch abstimmen. Ich befürchte,
dass das auch diesmal wieder der Fall sein wird.
Natürlich sollte man bei dieser Steuer den europäischen Gesichtspunkt nicht aus den Augen lassen. Natürlich ist es wichtig, dass die Bundesregierung im Sinne einer einheitlichen Lösung vorgeht. Aber Österreich und
Italien haben gezeigt, dass man es alleine machen kann.
Wenn man es richtig macht - diese beiden Länder haben es
richtig gemacht, nämlich nicht sozialistisch, sondern christlich-demokratisch -, erhält man sogar höhere Einnahmen.
Wir müssen noch einen weiteren Aspekt besonders
berücksichtigen: Der Übergang zu dieser Steuer würde erhebliche Einbußen für die Kirchen bedeuten. Ich habe
hier noch keine Patentlösung. Ich sage aber sehr deutlich,
dass wir darüber nachdenken müssen, wie wir bei der Umgestaltung die aus unserer Sicht berechtigten Interessen
der Kirchen berücksichtigen können. Deshalb ist für uns
beim Steuersatz von 25 Prozent noch nicht das letzte Wort
gesprochen. Man muss ihn in diese Überlegungen einbeziehen.
Genauso deutlich sage ich, dass die Freibeträge in diesem Bereich erhalten bleiben müssen und dass - so, wie
es auch im Antrag der FDP steht - die Leute, die weniger
Steuern als die zur Diskussion stehenden 25 Prozent zahlen, die Möglichkeit erhalten - dafür müssen sie einen Antrag stellen -, den überschüssigen Betrag zurückzubekommen.
Abschließend stelle ich für meine Fraktion fest: Wenn
man die Zinsabgeltungsteuer so wie in Österreich und so,
wie wir sie wollen - entsprechend kommt es auch im
FDP-Antrag zum Ausdruck -, ausgestaltet, ist sie ein hervorragendes Instrument zur Entbürokratisierung. Sie führt
dann dazu, dass weniger Geld Deutschland verlässt und
dass Geld, welches aus Deutschland herausgeflossen ist,
zurückkommt. Eine Zinsabschlagsteuer aber, die mit Kontrollmitteilungen und der Aufhebung des Bankgeheimnisses verbunden wird, wird ähnliche Auswirkungen haben
wie fast alles, was Sie steuerrechtlich angefasst haben. Sie
wird letztlich zu mehr Bürokratie und weniger Einnahmen führen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bernhardt, ich kann mich Ihrer Überlegung, dass wir
in diesem Zusammenhang eine Lösung für die Kirchen
finden müssen, nur anschließen. Auch ich bin der Meinung, dass wir hier eine vernünftige Lösung brauchen, die
mit den Finanzministern der Länder abgestimmt werden
muss, sodass es hier nicht zu einer Verschlechterung der
Einnahmesituation der kirchlichen Einrichtungen kommt.
Ich denke, hier können wir an einem Strang ziehen.
Ich möchte jedoch sagen, dass die FDP vor der Erstellung des Antrages, den sie heute vorgelegt hat, leider nicht
abgewartet hat, was am 21. Januar geschehen wird. Ich
bedauere es sehr, dass es seit fast zwei Jahrzehnten nicht
gelingt, auf diesem Gebiet international zu ähnlichen Steuersätzen zu kommen. Darüber hinaus gelingt es nicht, bei
den Benachrichtigungen zu einem einheitlichen Verfahren zu gelangen.
Ich habe heute im „Handelsblatt“ gelesen, dass sich
EU-Finanzminister wie Geheimdiplomaten benehmen
und dass beispielsweise der griechische Kassenwart
Nikos Christodoulakis verschlossene Briefumschläge bei
den Botschaftern der EU-Staaten verteilt, die ungelesen in
den Finanzministerrat eingespeist werden sollen. Daran
sieht man, welche Sensibilität in diesem Thema steckt.
Es ist zu hoffen, dass die Minister am kommenden
Dienstag erfolgreich sein werden. Allerdings hat sich mittlerweile herausgestellt, dass die Gefechtslage, wie es so
schön heißt, zwischen Luxemburg und Großbritannien im
Ecofin-Rat äußerst schwierig ist. Man steht sich wieder
mit Maximalforderungen gegenüber. Man kann nur hoffen, dass es zu einvernehmlichen Ergebnissen kommt.
Es ist abzusehen - man muss es im Moment sehr vage
formulieren, weil wir alle keine Hellseher sind -, dass
dem Wunsch der deutschen Seite nach einem grenzüberschreitenden Informationsaustausch zwischen allen Beteiligten in den nächsten Jahren nicht nachgekommen
wird. Es wird wohl so sein, dass Länder wie Österreich,
Belgien oder Luxemburg am Bankgeheimnis festhalten
werden. Andere fordern für die Einführung neuer Regelungen einen Übergangszeitraum bis mindestens 2011.
Irgendwo dazwischen werden wir eine Lösung finden
müssen.
Nach dem 21. Januar werden wir auf der Basis der
Beschlüsse des Ecofin-Rates weiter beraten. Natürlich
sehen wir, dass die langjährigen Verhandlungen in den
einzelnen Ländern über die jeweiligen Interessen politisch höher als die Notwendigkeit gewichtet werden, ein
funktionsfähiges Informationsaustauschverfahren zwischen den Ländern im EU-Binnenmarkt zu errichten. Mit
diesen Schwierigkeiten haben wir zurzeit zu tun.
Wir Grünen sind schon seit langem für eine Abgeltungsteuer. Das ist kein Geheimnis. Ich bin der Auffassung, dass wir hier einen sehr einfachen, transparenten
und klaren Weg wählen sollten. Bei diesem Angebot muss
gut überlegt werden, ob Kontrollmitteilungen in diesem
Zusammenhang einen Sinn machen. Das muss man abwägen. In den nächsten Wochen werden wir uns in der
Koalition im Laufe des parlamentarischen Verfahrens
- vonseiten der Bundesregierung wird zur Abgeltungsteuer ein Gesetzentwurf eingebracht, über den wir, denke
ich, in zwei oder drei Monaten beraten können - entscheiden müssen, welches System wir in Deutschland,
eingepasst in die internationale Gemeinschaft, gesetzgeberisch umsetzen.
Klar ist, dass es zu einer Entbürokratisierung kommen muss. Die Abgeltungsteuer hat den Vorteil, dass sie
von den Banken direkt abgeführt wird. Die Deklarierung
in der Einkommensteuererklärung kann dann entfallen.
Selbstverständlich - die Kollegin Frechen hat darauf hingewiesen - können diejenigen, die bei der heutigen Besteuerung unter diesem Satz liegen, wieder so vorgehen,
wie sie das bislang gemacht haben. Das heißt, diese Regelung ist für die Bezieher kleiner Einkünfte kein Nachteil.
Das halte ich für ganz wichtig, weil diese Debatte sonst
äußerst schwierig würde. Wir wollen einen Steuersatz mit
Abgeltung, aber diese Regelung darf nicht zum Nachteil
derer gereichen, die unter diesem Satz liegen. Sie müssen
weiterhin die Möglichkeit haben, wie bisher abzurechnen.
Abschließend noch eine Überlegung. Wir planen eine
Brückenregelung für mehr Steuerlichkeit für diejenigen,
die ihr Geld im Ausland angelegt haben. Ich will jetzt
nicht wieder die Schweiz nennen, aber es wird immer wieder von den Schweizer Konten geredet. Manche behaupten sogar, die Schweiz sei fast komplett untertunnelt.
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Wir wollen anderthalb Jahre lang mit einem gestaffelten
Steuersatz das Angebot machen, ohne Strafbewehrung
das Geld wieder zurück ins Inland zu bringen und es auf
Konten in Deutschland anzulegen, um es dann in Zukunft
wie jeder ehrliche Steuerbürger und jede ehrliche Steuerbürgerin hier zu versteuern.
Danke schön.
({1})
Ich hatte schon fast den Eindruck, dass in Ihrer Fraktion wegen des Überschreitens der Redezeit erste Randalierungsoperationen stattfanden. Aber bevor ich Sie darauf aufmerksam machen konnte oder musste, haben Sie
freundlicherweise Ihre Rede selber zum Abschluss gebracht.
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege JochenKonrad Fromme, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser Debatte ist überhaupt noch nicht erläutert
worden, warum wir über dieses Thema debattieren. Das
Grundübel, weswegen wir uns doch über Kapitalbesteuerung unterhalten müssen, ist doch, dass es in Deutschland
höhere Steuersätze als anderswo gibt. Warum sollte jemand sein Geld ins Ausland schaffen, wenn er es in
Deutschland mit dem gleichen Satz versteuern könnte?
Diese Diskussion hätten wir schon lange haben können,
wenn Sie nicht von 1994 bis 1998 eine Regelung blockiert
hätten.
({0})
Wir freuen uns, dass der Bundeskanzler dieses Thema
entdeckt hat. Es ist schon lange Teil unseres Regierungsprogramms. Auch in unserem Programm war es schon immer enthalten. Ich hoffe, dass dieses Thema anders behandelt wird als die Themen Rente und Ökosteuer, dass
der Kanzler es nämlich zur Chefsache erklärt und Versprechungen macht, nachher aber alles im Papierkorb landet. Auch vor dem Hintergrund des 21. Januar ist diese
Debatte genau richtig. Es ist doch wichtig, international
ein deutliches Signal zu setzen und zu sagen, was richtig
ist und was passieren muss.
Wir wollen Steuerhinterziehung und Kriminalität nicht
fördern. Uns geht es vielmehr darum - bei solchen Vorhaben haben Sie uns immer an Ihrer Seite -, dass Geld,
das bereits bisher hätte versteuert werden müssen, aber
nicht versteuert wurde, einer Besteuerung zugeführt wird.
Deswegen ist die Abgeltungsteuer ein richtiger Weg bzw.
eine Brücke, um einen Schritt zurück aus der Illegalität zu
machen. Meine Damen und Herren, es geht hier nicht
- Sie haben versucht, diesen Eindruck zu erwecken - um
eine neue Steuer. Wir wenden das System der Abschlagsteuer an, die nachher in das Verfahren einbezogen wird.
Wenn man es richtig macht - die Beispiele Österreich
und Italien sind genannt worden -, dann kann man auf
diese Art und Weise Kapital zurückholen, das erstens als
Kapital für Investitionen zur Verfügung steht und das
zweitens am Ende die Steuern erhöht.
Aber man kann dies nicht machen, wenn die Grundvoraussetzung fehlt, nämlich das Vertrauen, das der Bürger, der sein Geld zurückholen soll, braucht. Damit spreche ich den Punkt der Kontrollmitteilungen an. Wer wie
Sie den gläsernen Steuerbürger möchte - hier legen Sie
überhaupt keinen Wert auf Datenschutz und Ähnliches,
auf das Sie sonst immer Wert legen -, der darf sich nicht
wundern, wenn die Menschen nicht zurückkommen.
Meine Damen und Herren, es geht um Folgendes: Ein
Abgeltungsteuersystem bedeutet, dass die Steuer von der
Bank abgeführt wird und dass die Sache damit sowohl für
den Fiskus als auch für den Steuerbürger ein für allemal
erledigt ist. Wer aber wie Sie ständig über Steuererhöhungen spricht - der Erbschaftsteuer, der Vermögensteuer,
der Ökosteuer, der Stromsteuer oder der Gassteuer -, der
erzeugt beim Bürger sofort den Eindruck, dass er, wenn er
eine Selbstanzeige und eine Kontrollmitteilung verlangt,
nur ins Land gelockt werden soll und dass er, wenn er aber
erst einmal hier ist, richtig abgezockt wird. Das ist doch
die Diskussion, die Sie nach dem 2. Februar dieses Jahres
führen werden.
({1})
Sie führen ständig Diskussionen über neue und höhere
Steuern. Im Sommer haben Sie dieses Thema wegen der
Bundestagswahl nicht angesprochen. Danach ging es aber
sofort wieder los, zum Beispiel durch Frau Simonis und
den nordrhein-westfälischen Finanzminister. Der DGB
hat erst heute Morgen wieder erklärt, dass man sich nach
dem 2. Februar dieses Jahres selbstverständlich wieder
über die Vermögensteuer unterhalten muss. Dann werden
wir uns auch wieder über die Kilometerpauschale, das
Ehegattensplitting und all die anderen Themen, die Sie
jetzt nicht anspechen, unterhalten.
Wenn man den Bürgern einen solchen Eindruck vermittelt, braucht man sich nicht zu wundern, wenn nichts
zurückkommt. Ich kann Ihnen sagen: Es wird nichts
zurückkommen. Ganz im Gegenteil: Die Positionen, die
Sie im Augenblick vertreten, werden sogar zu Steuermindereinnahmen führen. Denn dann wird das Geld, das
schon jetzt in Deutschland versteuert wird, nicht mehr zu
48,5 Prozent versteuert, sondern nur noch zu 25 Prozent.
Dies würde zu fast 4 Milliarden Euro Verlust führen. Gleichzeitig würde es keine Einnahmen und keine positiven Auswirkungen geben. Das wäre also ein Minusgeschäft.
Selbst dann, wenn die 100 Milliarden Euro - ich weiß
gar nicht, woher Sie diese Zahl nehmen; das ist wieder eines Ihrer Luftschlösser - zurückgeholt werden könnten,
wäre es immer noch ein schlechtes Geschäft. Zwar gäbe
es eine einmalige Einnahme in Höhe von 25 Milliarden Euro. Aber die restlichen 75 Milliarden Euro würden
zu 1,5 bis 1,8 Milliarden Euro Steuereinnahmen führen,
während Sie - ich habe es Ihnen eben vorgerechnet - durch
die Absenkung des Steuersatzes fast 4,5 Milliarden Euro
verlieren.
Deswegen kann Ihre Rechnung nicht aufgehen. Deswegen geht insbesondere die Rechnung Ihres Wahlkämp1608
fers Gabriel nicht auf, der sich, nachdem er mit dem
Thema Vermögensteuer - die Plakate „1 Prozent für
100 Prozent Bildung“ waren schon geklebt - auf den
Bauch gefallen ist, jetzt aus den 25 Milliarden Euro Strafsteuer 2,5 Milliarden Euro für Niedersachsen ausrechnet.
Meine Damen und Herren, auch dies ist ein einziges Luftschloss und wird nicht zum Tragen kommen. Allerdings
wird das Problem für Herrn Gabriel nicht besonders groß
sein, weil er nach dem 2. Februar dieses Jahres nicht mehr
regieren wird. Deswegen wird er die Folgen auch nicht
mehr tragen müssen.
Aber, meine Damen und Herren, so einfach lassen sich
die Menschen nicht täuschen. Wenn Sie ein wahnsinnig
dichtes Kontrollsystem einführen, dann vertreiben Sie das
Kapital und ziehen es nicht an. Das Wichtigste, was man
in diesem Bereich braucht, haben Sie verschenkt. Jetzt
können Sie behaupten, was Sie wollen. Selbst die Grünen
werden sich nicht durchsetzen. Frau Scheel - sie ist wie
immer nicht anwesend, wenn man sie anspricht ({2})
- Entschuldigung! - ist eben schon mächtig zurückgerudert. Das muss ich feststellen, wenn ich ihre Rede mit den
Aussagen vergleiche, die in der Presse geschrieben standen. Die Rede, die sie eben gehalten hat, klang sehr moderat. Sie sprach davon, dass erst alles geprüft werden
müsse. In der Presse hat sie gesagt: Wir wollen das nicht;
denn es ist falsch.
Bleiben Sie doch endlich einmal bei Ihrem Standpunkt
und setzen Sie sich in der Koalition wenigstens an dieser
Stelle einmal durch! Sie könnten hier etwas Gutes bewirken.
({3})
Selbst vonseiten der Bundesbank - das sind Leute, die Sie
berufen haben - heißt es, dass Kontrollmitteilungen Gift
sind für den Versuch, Kapital zurückzuholen.
Ich kann nur sagen: Folgen Sie der Linie unseres Regierungsprogramms! Folgen Sie der FDP und den Grünen! So werden wir in Deutschland Kapital zurückbekommen! Lassen Sie endlich Ihr Geschwätz über
Kontrollmitteilungen! Noch mehr Bürokratie für Staat
und Bürger, noch mehr Steuern führen uns wirtschaftspolitisch in die falsche Richtung. Dies wird gerade nicht
dafür sorgen, dass Arbeitsplätze entstehen, die wir dringend brauchen. Deshalb: Schließen Sie sich uns an! Gehen Sie den richtigen Weg - Abgeltungsteuer ohne Kontrollmitteilungen - und das Geld wird nach Deutschland
zurückkommen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir müssen noch die wichtige Entscheidung treffen,
ob wir dem interfraktionellen Vorschlag auf Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 15/217 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zustimmen wollen. Einige wichtige Mitglieder des Hauses sehe ich schon heftig mit dem Kopf nicken. Dies allein reicht aber nicht aus.
Ich darf nachfragen, ob Sie damit einverstanden sind. Das ist ganz offenkundig der Fall. Dann haben wir das beschlossen.
Wir sind zugleich am Ende unserer heutigen Tagesordnung angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 29. Januar, 13.00 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende und bis
zur nächsten Sitzung eine gute Zeit.
Die Sitzung ist geschlossen.