Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/16/2003

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Da wir uns das erste Mal in diesem Jahr sehen, wünsche ich Ihnen allen ein freundliches, gutes und friedliches neues Jahr. ({0}) Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass der ehemalige Kollege Gerhard Scheu aus dem Stiftungsrat der Stiftung „Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen“ ausscheidet. Als seine Nachfolgerin wird die Kollegin Dorothee Mantel vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin Mantel für den Stiftungsrat der Stiftung „Humanitäre Hilfe“ benannt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung zu ihren verschlechterten Prognosen für das Wirtschaftswachstum in Deutschland im Jahr 2003 und der daraus geforderten Erhöhung der Neuverschuldung für den Bundeshaushalt 2. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({1}): Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer ({2}), Eduard Oswald, Georg Brunnhuber, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Bundesfernstraßenfinanzierungs- und Managementgesellschaft ({3}) - Drucksache 15/299 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4}) Haushaltsausschuss 3. Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Daniel Bahr ({5}), Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes ({6}) - Drucksache 15/313 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss 4. Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Kuratoriums der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ - Drucksache 15/304 5. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Anrufung des Vermittlungsausschusses zu dem Zwölften Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ({7}) - Drucksachen 15/27, 15/74, 15/76, 15/120, 15/298 6. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Dienst des Bundes - Drucksache 15/227 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({8}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Weiterhin wurde vereinbart, Tagesordnungspunkt 10 - internationales Insolvenzrecht - vor Tagesordnungspunkt 9 - GATS-Verhandlungen - aufzurufen und über die bisher ohne Debatte vorgesehene Beschlussempfehlung zur Weitergeltung von Geschäftsordnungsrecht - Tagesordnungspunkt 19 b - heute als letzten Punkt der Tagesordnung zu beraten. Darüber hinaus mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 16. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({9}), Dirk Fischer ({10}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Seesicherheit optimieren - nationaler und europäischer Handlungsbedarf nach Tankeruntergang der „Prestige“ - Drucksache 15/192 Präsident Wolfgang Thierse überwiesen: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({11}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Der in der 12. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Rechtsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Abbau von Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen ({12}) - Drucksache 15/119 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({13}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Aussschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf: a) Vereinbarte Debatte 40 Jahre Élysée-Vertrag - Zusammenarbeit und gemeinsame Verantwortung für die Zu- kunft Europas b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP Entwurf einer gemeinsamen Erklärung der Französischen Nationalversammlung und des Deutschen Bundestages zur interparlamentari- schen Zusammenarbeit - Drucksache 15/295 - c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Andreas Schockenhoff, Dr. Friedbert Pflüger, Peter Hintze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU 40 Jahre deutsch-französischer Freundschaftsvertrag - für eine neue Qualität und Dynamik der deutsch-französischen Beziehungen - Drucksache 15/200 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({14}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN 40 Jahre Élysée-Vertrag - Die deutsch-französische Zusammenarbeit fortentwickeln und in gemeinsamer Verantwortung für Europa die Zukunft mitgestalten - Drucksache 15/296 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({15}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Franz Müntefering, SPD-Fraktion, das Wort. ({16})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 22. Januar 1963, also vor fast genau 40 Jahren, unterzeichneten ein Franzose, Präsident Charles de Gaulle, und ein Deutscher, Bundeskanzler Konrad Adenauer, den Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit, den Élysée-Vertrag. Heute würdigen wir dieses Jubiläum in einer Debatte im Deutschen Bundestag. Aus dem damaligen Vertrag der Aussöhnung und über Zusammenarbeit ist ein Dokument der Freundschaft zwischen unseren Völkern geworden. ({0}) Am Jahrestag in der kommenden Woche werden der Deutsche Bundestag und die Französische Nationalversammlung, also die frei gewählten Abgeordneten als Vertreter ihrer Völker, gemeinsam das Ereignis würdigen und in Versailles beieinander sein. Wir werden gerne dort sein und freuen uns darauf. ({1}) Dass sich die beiden Parlamente treffen, habe es noch nie gegeben; das haben manche in Deutschland in großen Buchstaben reklamiert. Richtig, das gab es noch nie. Gerade deshalb ist es so wichtig. Das sei vor allen Dingen Symbolik, wurde geschrieben. Richtig, das ist ein Symbol, aber ein gutes. ({2}) Das koste viel Geld, wurde beanstandet. Richtig, das kostet viel Geld. Was für eine glückliche Zeit, in der sich Menschen über die Kosten eines gemeinsamen freundschaftlichen Jubiläums Deutschlands und Frankreichs erregen können und nicht über die Milliarden klagen müssen, die für Kriege zwischen unseren Völkern ausgegeben wurden! ({3}) Ich bin Jahrgang 1940. Ich habe noch als Kind gelernt, dass Franzosen unsere Feinde seien. Sie standen im Krieg meinem Vater gegenüber. Er kam Gott sei Dank heil zurück. Meine Generation hat dann gelernt, dass Franzosen, Briten, Amerikaner und all die anderen, die im Zweiten Weltkrieg Nazideutschland gegenüberstanden, nicht unsere Feinde sind, dass wir sogar Freunde werden können. Nun haben wir seit bald 58 Jahren Frieden an dieser Stelle in Europa. Das gab es an dieser Stelle in Europa noch nie, zumindest über Jahrhunderte nicht. Wenn es diesen Frieden seit 58 Jahren nicht gäbe, dann würden wir heute nicht über Wohlstand und nicht über einen Sozialstaat auf hohem Niveau sprechen; wir hätten ganz andere Sorgen. Wir müssen uns daran erinnern, wie dieser Friede in Europa und der Wohlstand in Europa möglich wurden, und daran, dass diese Entwicklung kein Zufall ist, dass kluge, weitsichtige Menschen, auch verantwortliche Politiker, dabei eine große Rolle spielten. Nicht Politik allein, aber eben doch auch und im Wesentlichen Politik hat das bewirkt. Das gilt auch für die großen Herausforderungen, vor denen wir in dieser Zeit stehen. Politik kann nicht alles und es gelingt ihr nicht alles. Aber sie hat die Macht und die Kraft, Weichen zu stellen, zum Beispiel was die gute Zukunft Europas angeht, und daran wollen wir mitwirken. ({4}) Wir wissen, dass dieses Europa mehr als Deutschland und Frankreich und deren Freundschaft ist, dass aber diese Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich der unverzichtbare Fokus für diese historische Entwicklung war und bleibt. Diese Freundschaft ist nichts Exklusives; aber sie ist exemplarisch. Die deutsch-französische Zusammenarbeit bleibt für die Entwicklung Europas wesentlich. Im Frühjahr 1961, noch vor dem Élysée-Vertrag, war ich bei einem der ersten Bataillone der deutschen Bundeswehr, die in Frankreich zu Gast sein durften, in Mourmelon. Viele haben damals noch gezweifelt, ob das trägt und ob das geht: Deutsche in Uniform in Frankreich. Manche, auch in Frankreich, haben nicht klatschen mögen. Wir haben das verstanden, besonders als wir an den riesigen Feldern mit den vielen, vielen Kriegsgräbern der Opfer gedachten. Aber die Zeichen standen überall auf Freundschaft. Edith Piaf, Juliette Gréco, Jacques Brel faszinierten uns, auch wenn wir ihre Sprache nicht verstanden. Existenzialismus war Mode, aber auch viel mehr. Albert Camus und Jean-Paul Sartre beeindruckten und beeinflussten uns. Camus‘ „Der Mensch in der Revolte“ und „Der Mythos von Sisyphos“ haben eine ganze Generation deutscher Jugendlicher mit geprägt. Die deutsche und die französische Jugend standen beieinander und nicht mehr gegeneinander. Das DeutschFranzösische Jugendwerk hat diese große Idee in feste Form gebracht. Mehr als 7 Millionen Jugendliche haben im Rahmen dieses Jugendwerks seitdem das jeweils andere Land kennen gelernt. Diese Idee braucht immer wieder neue Impulse. Jede Generation muss das neu lernen und erleben: die anderen zu kennen und gute Nachbarn nach innen und nach außen zu sein. ({5}) Am 23. Januar, nächste Woche, am Tag nach dem Zusammentreffen von Bundestag und Nationalversammlung in Versailles, werden Bundeskanzler Gerhard Schröder und Präsident Chirac hier in Berlin mit jungen Menschen aus Frankreich und aus Deutschland über die gemeinsame Zukunft diskutieren. Eine solche Veranstaltung ist längst nicht mehr sensationell; aber sie ist ein gutes Zeichen dafür, dass die Jugend und die Politik den Mut und die Ausdauer haben, die Freundschaft zwischen unseren Völkern zu festigen und auszubauen. ({6}) Ich will für meine Fraktion ein Dankeschön sagen an die vielen großen und kleinen Kommunen in Deutschland und Frankreich, etwa 5 000 insgesamt, die lebendige Städtepartnerschaften pflegen. ({7}) Da wird ganz unspektakulär Frieden, Freundschaft und Wohlstand sicherer gemacht. Diese inzwischen gute Tradition darf nicht zur Routine werden. Dieses Jubiliäumsjahr des Élysée-Vertrages ist eine gute Gelegenheit, der Idee der Städtepartnerschaften neue Impulse zu geben und die enge Verflechtung der zivilen Gesellschaften und auch der Wirtschaft zu stärken. Wir würdigen heute einen Vertrag, der in vielem die Ziele der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorweggenommen hat. 1963 verpflichteten sich beide Staaten auf die Koordinierung ihrer Außen-, Sicherheits-, Jugend- und Kulturpolitik. 1988 wurde diese Kooperation auf die Wirtschafts- und Währungspolitik erweitert. Ganz selbstverständlich haben sofort nach der deutschen Einheit Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl bekräftigt, dass der Élysée-Vertrag auch für das vereinte Deutschland Gültigkeit und großes Gewicht hat. Kernstück des Élysée-Vertrages war damals, eine gemeinsame Konzeption in der Außen- und Sicherheitspolitik zu entwerfen. Heute haben wir längst ein deutsch-französisches Korps, in dem eng und regelmäßig zusammengearbeitet wird. Wir sind darüber hinaus bei der gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorangekommen, auch wenn wir noch nicht am Ziel sind. Das gilt auch für die Wirtschafts-, Innen- und Rechtspolitik sowie für andere Politikbereiche. Im Dezember 2002 hat der Europäische Rat in Kopenhagen den Beitritt von zehn weiteren Ländern beschlossen - eine historische Entscheidung. Wir sind stolz, dass die deutsche Bundesregierung unter Führung von Bundeskanzler Gerhard Schröder einen so entscheidenden Beitrag dazu geleistet hat. ({8}) Aber auch das große Engagement der EU-Kommission und besonders des zuständigen Kommissars Günter Verheugen hat eine besondere Anerkennung verdient. Es ist gerade heute wichtig, daran zu erinnern, dass Günter Verheugen wegen seiner Verdienste um die Erweiterung am 9. Januar in Polen als Mann des Jahres ausgezeichnet wurde. Das wurde in Deutschland kaum registriert. Wir gratulieren ihm zu diesem außerordentlichen Ereignis ganz herzlich. ({9}) Jetzt beginnt der Abschluss des großen europäischen Projekts: die endgültige Überwindung der Teilung Europas. Zusammen mit Frankreich wollen wir dafür sorgen, dass das größer werdende Europa politisch erfolgreich geführt werden kann. Wir wollen eine europäische Verfassung, die Demokratie, Transparenz und Entscheidungsfähigkeit garantiert. Der EU-Konvent ist mitten in der Arbeit. Vor wenigen Tagen hat der Präsident des Konvents in der „Süddeutschen Zeitung“ über die zukünftige Verfassung für Europa geschrieben und einen Vorschlag für den Art. 1 einer solchen Verfassung gemacht: ... eine Union von Staaten und Völkern, die ihre Politiken eng miteinander abstimmen und auf föderale Weise bestimmte gemeinsame Zuständigkeiten wahrnehmen. Sie alle wissen: Vieles wird noch zu konkretisieren sein; aber die Dinge kommen in Bewegung. Das gilt auch für die Frage nach den neuen Führungsstrukturen der EU. Bundeskanzler Schröder und Präsident Chirac haben sich verständigt und gemeinsam ihren Vorschlag unterbreitet für die Wahl des Präsidenten des Europäischen Rates durch den Rat und für die Wahl des Präsidenten der Kommission durch das Europäische Parlament. Es kann uns Abgeordnete nur freuen, dass das Europäische Parlament auch insofern an Kompetenz gewinnen soll. ({10}) Von herausragender Bedeutung wird auch sein, die richtige und belastbare Lösung der mit der Bündelung der außen- und sicherheitspolitischen Aufgaben verbundenen Probleme zu finden. Auch dazu gibt es einen Vorschlag Deutschlands und Frankreichs. Europa, seine neue Dimension, seine neue Verfassung, Europa als Voraussetzung für dauerhaften Frieden und für Wohlstand, all das wird eines der großen Themen deutscher Politik in den kommenden Monaten und auch in den kommenden Jahren sein und sein müssen. Keines der europäischen Länder wird seinen Wohlstand allein dauerhaft sichern können. Auch die größeren Länder in Europa, zum Beispiel Frankreich und Deutschland, werden dazu nicht in der Lage sein. Mit anderen Worten: Dieses Europa mit seinen rund 500 Millionen Menschen, mit seinen großartigen Potenzialen ist eine gewaltige Chance für die Zukunftsfähigkeit dieses Teils der Welt und eine Hoffnung weit darüber hinaus. Die gute Erfahrung, die wir Deutschen und die Franzosen mit dem Élysée-Vertrag gemacht haben, soll dabei Ansporn sein. Die bewährte Freundschaft zwischen Sozialdemokraten aus Deutschland und Sozialdemokraten und Sozialisten aus Frankreich wird dabei helfen. Die Spitzen unserer Fraktionen haben gestern hier, in Berlin, konferiert und noch einmal festgestellt: Keiner der beiden Staaten, keine der verschiedenen Nationen Europas konnte vor 40 Jahren vor den Herausforderungen einer Welt, die dem Gebot der damaligen Supermächte unterworfen war, im Alleingang bestehen. Das ist insgesamt auch heute so und es wird auch in Zukunft so sein. Die vielfältigen Anforderungen einer von scharfem Wettbewerb und dem Verlust politischer und ethischer Maßstäbe gekennzeichneten Welt machen das freundschaftliche und enge Zusammenwirken von Deutschland und Frankreich und allen europäischen Nationen unverzichtbar. Frieden und Demokratie zu bewahren, Wohlstand zu entwickeln, das europäische Sozialstaatsmodell zu erhalten, Chancengerechtigkeit zu gewährleisten, den Ärmsten der Welt zu helfen, das sind unsere gemeinsamen Aufgaben. Wir sehen die Europäische Union in einer Mitverantwortung für den Frieden in der Welt. Wir Abgeordneten verleihen unserer Hoffnung Ausdruck, dass es der internationalen Gemeinschaft gelingt, den Irakkonflikt friedlich zu lösen. Wir begrüßen die Aussagen, die Bundeskanzler Schröder dazu in diesen Tagen noch einmal gemacht hat. ({11}) Am 22. Januar werden der Deutsche Bundestag und die französische Nationalversammlung in Versailles gemeinsam und feierlich ihren Willen und ihre Entschlossenheit bekunden, unsere beiden Länder miteinander in eine gute Zukunft zu führen. Zwischen all den Sorgen und Aufgaben, die dort in Frankreich und hier in Deutschland auf der politischen Tagesordnung stehen, ist das eine Nachricht, die Anlass für viel Zuversicht gibt. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Lieber Kollege Müntefering, da Sie uns das Vergnügen bereitet haben, an Ihrem Geburtstag hier eine Rede zu halten, möchte ich Ihnen sehr herzlich, wie ich denke, auch im Namen des Hauses, zu Ihrem Geburtstag gratulieren. ({0}) Ich erteile nun das Wort Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir feiern und debattieren heute über den 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages und werden aus diesem Anlass auch in wenigen Tagen in Paris sein. Wir können feststellen: Er hat sich als das wichtigste Fundament der deutschfranzösischen Zusammenarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg und zugleich als eine der wichtigsten Grundlagen für Versöhnung, Zusammenarbeit und Frieden auf dem europäischen Kontinent erwiesen. Fünf Seiten schlichten Papiers - dennoch war es ein politisches Programm für die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. Wenn man sich die einzelnen Punkte noch einmal anschaut, stellt man vielleicht nichts Ungewöhnliches fest: Im ersten Teil geht es um Abstimmung in den wichtigen Fragen der Außenpolitik einschließlich der Europapolitik, der Ost-West-Beziehungen, der NATO- und der UNO-Fragen - damals schon alles so aufgeschlüsselt - sowie der Entwicklungspolitik, in einem zweiten Teil um gemeinsame Ziele auf dem Gebiet der Verteidigungs-, der Rüstungspolitik und des Zivilschutzes. Also insgesamt ein Programm, das überschaubar ist. Für mich war es sehr interessant, dass von Anfang an als dritter Schwerpunkt auch die Förderung der deutschfranzösischen Jugendarbeit und einer entsprechenden Zusammenarbeit beinhaltet war. Ich denke, der Jugendaustausch muss auch für die Zukunft der Kraftquell sein, aus dem heraus sich jede Generation das deutsch-französische Verhältnis wieder neu erarbeiten kann. ({0}) Wichtiger vielleicht als die einzelnen Punkte erschienen Adenauer und de Gaulle damals schon die dahinter stehenden politischen Überzeugungen zu sein, die in einer gemeinsamen Erklärung zu dem Vertrag dann auch sichtbar wurden: … in der Überzeugung, dass die Versöhnung zwischen dem deutschen und dem französischen Volk, die eine Jahrhunderte alte Rivalität beendet, ein geschichtliches Ereignis darstellt, das das Verhältnis der beiden Volker zueinander von Grund auf neu gestaltet … Und weiter: ... in der Erkenntnis, dass die Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern einen unerlässlichen Schritt auf dem Wege zu dem vereinigten Europa bedeutet, welches das Ziel beider Völker ist … Auf der Basis dieser Grundüberzeugungen hat sich die deutsch-französische Kooperation in allen Partei- und Regierungsstrukturen der letzten Jahre bewährt und immer wieder entwickelt sowie alle Häme und alle Fragezeichen überwunden. Deshalb ist es unsere Aufgabe, diesen Jahrhundertvertrag auch weiter am Leben zu erhalten. ({1}) Nun habe ich noch einmal nachgelesen: Damals war die Debatte um diesen deutsch-französischen Vertrag, der uns heute so einleuchtend erscheint, gar nicht so unkontrovers; denn eingebettet in eine konkrete weltpolitische Lage wurde natürlich durchaus und von allen Fraktionen gleichermaßen die Frage gestellt: Ist es richtig, dass wir in einer solchen weltpolitischen Situation einen bilateralen Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich abschließen, oder geben wir damit vielleicht dem Bilateralismus zu viel Gewicht, sodass die atlantische Partnerschaft zurücktreten könnte? - Das ist ein Thema, das auch in der heutigen weltpolitischen Lage immer wieder eine Rolle spielt. Es war damals so, dass sich die französische Armee aus der militärischen Zusammenarbeit in der NATO zurückgezogen hatte; außerdem gab es das französische Veto gegen den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft - zwei Vorgänge, die die Parlamentarier in Deutschland mit Recht beunruhigten. Adenauer mit seinem Sinn fürs Praktische ließ sich nicht beirren. Er stellte dem Ratifikationsgesetz flugs eine Präambel voraus, die die Dinge klarstellte - sehr zum Missfallen von Charles de Gaulle. Nun hatten diese historischen Kontroversen sicherlich ihre Bedeutung; aber heute haben sie nur noch den Wert einer Fußnote der Geschichte. Uns steht die Frage vor Augen: Welche Bedeutung hat dieser Vertrag für die Zukunft und wie können wir ihn immer wieder mit Leben erfüllen? Meine Damen und Herren, es ist unstrittig, dass es eine Vielzahl interessanter deutsch-französischer Kooperationen gibt. Als Beispiel nenne ich das Jugendwerk. Ich verbinde das mit der Bitte, dass dieses Jugendwerk nicht finanziell ausgezehrt wird; denn jede Generation muss sich die Kontakte neu erarbeiten. ({2}) - Das Klatschen von Herrn Müntefering stimmt mich hoffnungsfroh; ich hoffe, dass wir das Gleiche darunter verstehen. Dieses Deutsch-Französische Jugendwerk ist nämlich außerordentlich wichtig, um immer wieder junge Menschen zusammenzubringen. In einer Welt, die vielerlei Faszinationen, gerade kultureller Art, aus dem angloamerikanischen Raum bietet, ist es von Bedeutung, dass wir sowohl in Bezug auf die Sprachfähigkeit als auch das gegenseitige Verständnis, wie es Herr Müntefering eben für seine Jugendzeit dargestellt hat, stets deutsch-französische Impulse setzen. Wir haben den FernsehsenderArte, wir haben deutschfranzösische Hochschulen, wir haben die deutsch-französische Brigade. Es gibt also eine Vielzahl von Kooperationen. Unsere Volkswirtschaften sind stark miteinander verflochten. Das ist allerdings mit der Aufgabe verbunden, dafür zu sorgen, dass die deutsch-französische Kooperation Motor und nicht Bremser der europäischen Entwicklung ist und dass das gemeinsame Grundbekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft nicht in schönen Vereinbarungen zur Verlangsamung von Privatisierungen und Staatseinflüssen genutzt wird. Dafür gab es in der Vergangenheit ungute Beispiele. ({3}) Deshalb müssen wir, wenn wir lebendige Beziehungen haben wollen, immer wieder kritisch schauen, ob die deutsch-französischen Beziehungen in Ordnung sind. Der französische Botschafter in Deutschland hat einmal gesagt, die Beziehungen hätten einen Teil ihres emotionalen Charakters verloren. Es ist wichtig, dass wir diesen emotionalen Charakter stets deutlich machen und mit Leben erfüllen. Weil sich Charles de Gaulle damals bei der Unterzeichnung der Präambel außerordentlich geärgert hatte, hat er, als er Deutschland im Juli 1963 besuchte, gesagt, dass Verträge wie Rosen und junge Mädchen seien, sie blühten nur einen Morgen und deshalb dürfe man an ihnen nicht herummachen. ({4}) - Ich dachte, als Frau kann ich mir leisten, das zu sagen. ({5}) Adenauer griff diese Worte auf und antwortete: „Rosen und junge Mädchen, natürlich haben sie ihre Zeit; aber die Rose - davon verstehe ich nun wirklich etwas - überdauert jeden Winter.“ Der deutsch-französische Vertrag hat sich mehr als Rose denn als junges Mädchen erwiesen. ({6}) Meine Damen und Herren, inzwischen - auch das will ich anmerken - ist es manchmal so, dass wir, gerade in Europa, froh sind, dass wir die französische Regierung haben. Als Beispiel aus jüngster Zeit will ich den Agrarkompromiss nennen. Er wäre sicher nicht so gut geworden, wenn nicht der französische Staatspräsident ein etwas besseres Herz für die Bauern hätte als der deutsche Bundeskanzler. ({7}) Alfred Grosser hat auf die Frage, ob der Élysée-Vertrag neu geschrieben werden sollte, geantwortet: Um Gottes willen, nicht neu schreiben! Aber er hat auch gesagt, dass er sich vorstellen könne, dass man einen Satz hinzufügt, nämlich: Wir, der französische Präsident und der deutsche Kanzler, erkennen an, dass unser hauptsächliches nationales Interesse die Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft ist. Ich glaube, dieser Satz ist von außerordentlicher Bedeutung. Ich teile ihn uneingeschränkt. Die Frage, wie es mit Europa weitergeht, hängt natürlich von Deutschland und Frankreich ab. Ich bin sehr dafür, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, dass Sie immer wieder versuchen, gerade zusammen mit Frankreich Motor der europäischen Einigung zu sein. Da gab es schlechtere Zeiten. Im Augenblick haben wir wieder etwas fruchtvollere Zeiten. Ich bitte Sie aber auch, dass die Schicksalsfragen im Zusammenhang mit der Entwicklung der Europäischen Union wieder vorher im überparteilichen Konsens geklärt werden. Diese Tradition scheint in letzter Zeit verloren gegangen zu sein. ({8}) Wir sind bereit, diese Dinge im Vorfeld zu klären. Aber man muss auch mit uns sprechen. Ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie sich mit den Konventmitgliedern der Bundesrepublik Deutschland - natürlich gibt es keinen Zwang, sich zu einigen - einmal darüber austauschen, in welcher Art und Weise wir ein möglichst großes Stück des gemeinsamen Weges gehen könnten, was die Konventvorschläge anbelangt. Dasselbe hätte für die Frage der EU-Mitgliedschaft der Türkei gegolten. Da ist das Kind aber leider bereits in den Brunnen gefallen. ({9}) Die Geschichte des deutsch-französischen Vertrages ist die Geschichte von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer. Es ist die Geschichte von Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing. Es ist die Geschichte von Helmut Kohl und François Mitterrand. Es ist die Geschichte, die immer auf einem breiten Konsens in unseren beiden Völkern beruht hat. Damit es auch weiterhin eine gute Geschichte ist, sollte dieses Bemühen um eine gemeinsame, breite Grundlage nicht verloren gehen. ({10}) Lassen Sie mich das, was Sie in Bezug auf den Konvent vereinbart haben, von meiner Seite kurz kommentieren. Erster Punkt. Es ist zu begrüßen, dass der zukünftige Kommissionspräsident vom Parlament gewählt werden soll. Das ist eine Forderung, die wir seit langem aufgestellt haben. Ich möchte an dieser Stelle nur die Anmerkung machen, dass man aufpassen muss, dass das Quorum für die Wahl durch das Parlament nicht so hoch gesetzt wird, dass letztendlich die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger bei der Europawahl, auf der die Zusammensetzung des Parlaments beruht, völlig nivelliert wird; denn ein sehr hohes Quorum würde sozusagen eine gemeinschaftliche Regelung bewirken. Zweiter Punkt. Wir waren erstaunt, dass der Vorschlag, nämlich einen ständigen Ratspräsidenten zu installieren, den Sie bisher mit relativ großer Skepsis betrachtet haben, nun ein gemeinsamer Vorschlag ist. Ich will an dieser Stelle aber sagen, dass wir aufpassen müssen, dass ein solcher ständiger Ratspräsident nicht der heimliche Herrscher über alle Institutionen Europas wird, und dass wir dafür sorgen müssen, dass das Verhältnis zum Kommis1428 sionspräsidenten auf festgelegten Zuständigkeiten beruht. Denn der Sinn des Konvents besteht darin - das darf bei Diskussion über die Institutionen nicht vergessen werden -, die Zuständigkeiten zwischen Europa und den Nationalstaaten insgesamt klar zu regeln. Es gilt also, die neuen Überlegungen in das Gesamtkonzept für die Neuordnung der EU-Institutionen einzubetten. Es darf deshalb nicht sein, dass der ständige Ratspräsident Dinge außerhalb seiner Zuständigkeit entscheidet und so den Kommissionspräsidenten in seiner Arbeit behindert. Es ist auch erfreulich, dass die Kommissare offensichtlich Weisungsrechte bezüglich ihrer Generaldirektion bekommen sollen. Ich begrüße das außerordentlich, weil damit klarere Verhältnisse geschaffen werden. Aber beim ständigen Ratspräsidenten stelle ich mir die praktische Umsetzung relativ schwierig vor, weil er natürlich schnell sozusagen ein Herrscher ohne Unterbau sein könnte. Man muss sich fragen, woher er diesen Unterbau nimmt: entweder durch eine Aufblähung des Ratssekretariats, was ich nicht begrüßen würde, oder durch ein Hineinregieren in die Kommission, was ich für genauso falsch hielte. Über diese Fragen sollten wir ehrlich sprechen, damit wir später sowohl geklärte Zuständigkeiten, was die Sachaufgaben angeht, als auch geklärte Zuständigkeiten, was die Institutionen anbelangt, haben. ({11}) Wir begrüßen es, dass es nunmehr eine deutsch-französische Gemeinsamkeit in der Frage der Außenvertretungen der Europäischen Union gibt. Allerdings sage ich auch: Bei allem intergouvernementalen Charakter der Außen- und Sicherheitspolitik wird es wichtig sein, dass die Persönlichkeit, die diese Funktion ausübt, auch die Chance hat, in der Kommission Einfluss zu haben, dass der Kommissionspräsident weiterhin die Außenvertretung der Europäischen Union übernimmt und dass diese Zuständigkeit nicht klammheimlich Richtung Rat wandert. Auch das wird ganz wichtig sein. Meine Damen und Herren, deshalb hoffen wir, dass wir in die Diskussionen der deutschen und der französischen Regierungen in Zukunft besser mit einbezogen werden. Ich glaube, es kann der Arbeit im Konvent nicht schaden. Es ist in anderen Ländern Usus, dass man versucht, die nationalen Interessen durch gemeinschaftliche Konsultationen vorher zu regeln. Deshalb möchte ich angesichts von 40 Jahren erfolgreicher deutsch-französischer Kooperation diesen Wunsch hier in aller Klarheit anmelden. Wir werden in der nächsten Woche nach Paris fahren. Ich glaube, dass angesichts des besonderen Charakters des deutsch-französischen Verhältnisses diese Reise des Parlaments angemessen ist, wenngleich sie eine Ausnahme bleiben sollte. Darüber sind wir uns aber auch einig. Ich glaube, es ist gut, dass es gerade auch mit jungen Menschen Diskussionen in unserem Land geben wird, die daraus etwas über das deutsch-französische Verhältnis lernen können. Ich bin der festen Überzeugung, dass Deutschland und Frankreich auch in Zukunft der Motor bleiben müssen, äußere allerdings einen allerletzten Wunsch: Mit der Erweiterung der Europäischen Union wird es noch wichtiger sein, dass Deutschland und Frankreich als Motor einer europäischen Einigung auch die Fähigkeit aufbringen, kleine Länder ernst zu nehmen. Deutsch-französische Kooperation darf woanders niemals so gesehen werden, dass kleine Länder kein wirkliches Mitspracherecht mehr haben. Darauf müssen wir achten, auch bei den weiteren Arbeiten im Konvent sowie in der sich anschließenden Regierungskonferenz. Ich glaube, es ist richtig, dass unser Parlament diese Debatte heute führt, und ich hoffe, sie ist zum Wohle des deutsch-französischen Verhältnisses. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Krista Sager, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 81 Prozent der Franzosen und 86 Prozent der Deutschen halten gute deutsch-französische Beziehungen für wesentlich und wichtig. Aber diese nüchternen Zahlen sagen kaum etwas darüber aus, wie weit der Weg gewesen ist, den die ehemaligen Erbfeinde Deutschland und Frankreich erfolgreich hinter sich gebracht haben. Um die Bedeutung des Élysée-Vertrages, der die deutsch-französische Zusammenarbeit auf eine neue, einzigartige Grundlage gestellt hat, tatsächlich ermessen zu können, muss man schon einen Blick auf die Zeit vor 1963 werfen. Es ist aufschlussreich, was de Gaulle 1944 über Deutschland sagte: Ein großes Volk, das aber ständig auf Krieg ausgerichtet ist, weil es nur davon träumt, zu herrschen, das immer bereit ist, denen, die ihm Eroberungen versprechen, bis zum Verbrechen zu folgen, das ist das deutsche Volk. Das ist hart, aber es macht auch den Ausgangspunkt für die französische Annäherung deutlich. Es stellte sich die Frage: Was tun mit Deutschland, in der Mitte Europas, nach zwei verheerenden Weltkriegen und nach dem nationalsozialistischen Massenmord? Diese Frage stellten sich nicht nur die französischen Nachbarn. Es waren interessanterweise französische und deutsche Opfer des Nationalsozialismus, aber auch Männer wie Jean Monnet und Robert Schuman, die noch vor de Gaulle und noch vor Adenauer erkannten, dass die Antwort auf diese zentrale Frage nur in der europäischen Integration liegen konnte. Als Voraussetzung für diese Integration sollte die enge deutsch-französische Partnerschaft dienen. Dass wir heute auf Jahre des Friedens, der Sicherheit und des Wohlstands in Europa zurückblicken können, ist in erster Linie dem strategischen Weitblick, aber auch dem politischen Mut dieser Männer zu verdanken, vor allen Dingen unseren französischen Nachbarn. ({0}) Dieser strategische Weitblick, diese Vision eines vereinten Europas ermöglichte erst das Hineinwachsen Deutschlands in die Gemeinschaft der demokratischen Staaten und Völker. Die Vision von der Integration des großen Deutschlands in eine noch größere Gemeinschaft machte es überhaupt erst möglich, die Angst vor Deutschland zu überwinden, und gab außerdem eine Antwort auf die Frage: Wie können wir die jahrhundertealte Geißel des Nationalismus in Europa überwinden? Mit dieser Antwort konnte man sich auch davon befreien, Deutschland dauerhaft schwach oder geteilt halten zu müssen. Man konnte Deutschland als starken Partner für Sicherheit und Wohlstand in Europa akzeptieren. Die Unterstützung dieses Integrationsprozesses durch Frankreich hat letztlich überhaupt erst den Weg für die deutsche Wiedervereinigung geebnet. Auch dafür sollten wir heute dankbar sein. ({1}) Nicht Nationalismus und Abschottung, sondern Versöhnung und Partnerschaft sind die Kernmotive der deutsch-französischen Beziehung. Diese Kernmotive sind auch heute noch Richtschnur dafür, wie wir mit den osteuropäischen Staaten nach Überwindung der Blockkonfrontation umgehen. Sie liefern uns immer noch die Hinweise auch dafür, wie wir mit den Konflikten auf dem Balkan umgehen, wo erneut die europäische Geißel nationalistischer Auseinandersetzungen und ethnischer Verfolgungen mitten in Europa entflammt ist. Frieden, Wohlstand und Sicherheit sind durch Annäherung und Partnerschaft tatsächlich erreichbar. Tiefe Antagonismen und Nationalismen können tatsächlich überwunden werden. Das durften wir durch die deutschfranzösische Partnerschaft lernen und diese Erkenntnis können wir heute in Europa gemeinsam in die Bewältigung der anstehenden Aufgaben einbringen. Für diese Ziele brauchen wir auch weiterhin die Vertiefung und die Erweiterung des europäischen Integrationsprozesses. Lassen Sie mich eines zum Thema der Erweiterung sagen: Aus den Reihen der Opposition wird gefordert, die Grenzen der Europäischen Union zu definieren. Ich behaupte: Niemand kann derzeit die Finalität der EU definieren. Der Erweiterungsprozess ist nicht abgeschlossen. Prodi hat zu Recht in Athen formuliert: Die Tore der EU sind offen für den Balkan. Ob der Kandidat dann aufgenommen wird, hängt von der Erfüllung der wirtschaftlichen Bedingungen und der politischen Grundwerte ab. Lassen Sie mich an dieser Stelle auch sagen: Diese Grundwerte, das, was die europäische Wertegemeinschaft ausmacht, und nicht nur Wohlstand und Sicherheit sind für die Beitrittsländer und -kandidaten besonders attraktiv. Diese Werte sind entscheidend französisch geprägt. Sie beruhen auf den Werten der Französischen Revolution, der Aufklärung, der Deklaration der Menschenrechte, der Tradition des französischen Geisteslebens und der Rechtsstaatlichkeit. ({2}) Dass Deutschland und Frankreich gemeinsam Motor und Impulsgeber für diese Werte sein konnten, ist darauf zurückzuführen, dass sie ihre Spaltung überwinden konnten. Deswegen müssen wir aufpassen, dass die Erweiterung der Gemeinschaft nicht eine neue politische Spaltung auf unserem Kontinent hervorruft. Das sage ich besonders all denjenigen, die jetzt nach einer Definition der Grenzen verlangen. Frau Merkel, Sie haben das Stichwort Türkei angesprochen. Die CDU hat in ihrer Göttinger Erklärung eine Beitrittsperspektive für die Türkei ausgeschlossen. Dazu sage ich Ihnen: Der Geist des Élysée-Vertrages ist ein anderer. Der Geist des Élysée-Vertrages ist: Kooperation und Integration statt Antagonismus. Das ist die Botschaft. ({3}) Natürlich geht es um die Erfüllung der Beitrittskriterien. Aber stellen wir uns einmal vor, wir hätten in den frühen 60er-Jahren über den Vorschlag diskutiert, ob man vor dem deutsch-französischen Vertrag nicht erst einmal in Frankreich eine Abstimmung darüber durchführen sollte, wie es die Franzosen mit den Deutschen halten. Frau Merkel, ich bin froh, dass Sie dem Vorschlag eines deutschen Referendums über den Beitritt der Türkei entgegengetreten sind. Aber Sie hatten dafür eine falsche Begründung. Sie wollen den Deutschen nicht das Recht geben, Volksentscheide und Volksbegehren durchzuführen. Dies passt nicht in die Zeit; dies ist eine falsche Begründung. Sie hätten mit Blick auf das Jahr 1963 lernen können, wie de Gaulle und Adenauer Ressentiments entgegengetreten sind, sie nicht befördert haben und wie sie ihre Völker auf dem Weg, Antagonismen zu überwinden, den sie für richtig erkannt haben, mitgenommen haben. ({4}) Zu Recht ist hier auch das Deutsch-Französische Jugendwerk besonders hervorgehoben worden. Gerade wenn man das als besonders vorbildlich sieht, dann müsste man heute eigentlich eher darüber nachdenken, wie man die deutsch-türkischen Austauschbeziehungen vertieft, nicht aber, wie man in diesem Zusammenhang Unüberbrückbarkeiten besonders betont. ({5}) Meine Damen und Herren, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit nach wie vor als Motor für den europäischen Prozess funktioniert, haben wir gerade vorgestern durch die Vorschläge des deutschen Bundeskanzlers und des französischen Staatspräsidenten erlebt. Natürlich geben diese Vorschläge nicht auf alle Fragen eine Antwort - diese Fragen werden im Konvent auch weiter diskutiert werden müssen -, aber sie sind ein Kompromiss, um Europa handlungsfähiger, demokratischer und für die Bürgerinnen und Bürger transparenter zu machen. ({6}) Ich bin ganz sicher, dass wir diesen Weg weiter gehen werden. Es gibt doch nichts Schöneres als die Vorstellung, dass der europäische Konvent in dem Jahr, in dem wir das 40-jährige Jubiläum des deutsch-französischen Vertrages feiern, eine Verfassung und eine Grundrechtscharta vorlegt. Das wäre doch wirklich die schönste Würdigung dieses deutsch-französischen Vertrages, die wir uns überhaupt vorstellen können. ({7}) Meine Damen und Herren, die Befürchtung de Gaulles, der deutsch-französische Vertrag führe zu einem Widerspruch und Frankreich könne mit den gleichzeitigen transatlantischen Beziehungen nicht leben, hat sich zum Glück nicht bewahrheitet. Alle Befürchtungen, der deutsch-französische Vertrag schlösse aufgrund seiner Besonderheit weitere Partner aus dem Integrationsprozess aus, haben sich schon gar nicht bewahrheitet. Ich finde es richtig und gut, dass gerade vorgestern Frankreich und Deutschland ihre besondere Rolle auch mit Blick auf die gewachsene internationale Verantwortung Europas wahrgenommen haben. Natürlich ist es wichtig gewesen, dass Bundeskanzler und Staatspräsident hierbei deutlich gemacht haben, dass wir auch eine besondere Verantwortung für den Frieden in der Welt haben. Dies heißt, dass die Arbeit der Waffeninspekteure eine Chance haben muss und wir in dieser Hinsicht jede Möglichkeit nutzen müssen, eine militärische Auseinandersetzung im Irak zu verhindern. Auch das ist ein angemessener Beitrag Deutschlands und Frankreichs zu einer größeren Verantwortung Europas für den Frieden in der Welt. ({8}) Frau Merkel, Sie haben zu Recht auf den Satz von de Gaulle hingewiesen, der deutsch-französische Vertrag sei wie die jungen Mädchen und wie Rosen, die nur einen Sommer blühen. Vielleicht sollte man, weil gerade die Franzosen angeblich von Wein und Frauen besonders viel, angeblich mehr als die Deutschen, verstehen, ({9}) den deutsch-französischen Vertrag eher mit gutem Wein und gereiften Frauen vergleichen: Beide wachsen mit den Jahren in ihrer Substanz, beide werden von Jahr zu Jahr immer gehaltvoller und besser. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Gerhardt für die FDP-Fraktion das Wort.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht nur ein nüchternes Vertragswerk, über dessen Zustandekommen man hier diskutieren kann. Der Élysée-Vertrag ist eine historische Leistung ohne Beispiel. ({0}) Er erwuchs aus der unglückseligen Geschichte dieser beiden großen Völker mitten auf dem europäischen Kontinent. Diese Geschichte der unglückseligen Verkettung der Erbfeindschaften hat Herr Müntefering sehr gut dargestellt; er hat dies zu Recht mit seinem persönlichen Beispiel verwoben. Er ist ein Jahrgang, gar nicht weit von mir entfernt, der beim Aufwachsen in seiner Familie das Glück erlebte, dass sein Vater zurückkam; mein Vater ist in Frankreich beerdigt. Daraus können wir beide wohl schätzen, was ein solches Vertragswerk bedeutet. Es hat die größte Friedensperiode geschaffen, die heute viele vergessen - über die Selbstverständlichkeiten wird ja nicht mehr geredet -; es versetzt die beiden Völker und deren Repräsentanten in die Lage, auf europäischer Ebene Impulse zu geben und Schritte zu realisieren, die nach Ende der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges niemand erwartet hatte. Natürlich gab es Rückschläge. Nicht jede Gipfelveranstaltung war ein großer Erfolg, aber bei den entscheidenden qualitativen Schritten der Europäischen Union sind Frankreich und Deutschland die Impulsgeber gewesen. Dabei gab es langwierige Verhandlungen, die zu schwierigen Kompromissen führten. Die Ergebnisse wurden aber von anderen als akzeptabel empfunden, weil sie wussten, dass zwischen uns, zwischen den Deutschen und den Franzosen, oft viele psychologische nationale Unterschiede bestehen. Die Verhaltensweisen, die Mentalitäten sind oft anders, aber die Anstrengungen, zu einem Kompromiss zu kommen, werden so respektiert, dass sie auch für andere akzeptabel sind. Das ist das tiefe Geheimnis vieler gemeinsamer Vorschläge von Deutschland und Frankreich. Gerade in der Unterschiedlichkeit liegt die Chance, dass erreichte Verständigungen für die anderen akzeptabel sind. ({1}) Ein Grundsatz soll für uns gelten: Wir dürfen uns dabei gegenseitig nicht überfordern und wir müssen anderen gegenüber sensibel sein. Es ist gelungen, dass vielen das deutsch-französische Vertragswerk und die deutsch-französische Freundschaft nicht nur als ein Stück diplomatischer Vernunft oder notwendiger Zusammenarbeit erscheinen. Es ist wahr, dass die Partnerschaften - die Städtepartnerschaften, der Jugendaustausch und die vielfältigen Begegnungen - wirklich zu einem Fundament unterhalb der Ebene der Begegnungen von Wirtschaft, Verbänden und Politik geworden sind. Trotzdem empfinden wir, dass wir einen neuen Anstoß geben müssen. Mit Blick auf die europäischen Gipfel der letzten Jahre muss ich für meine Fraktion und mich ohne Vorwurf sagen, dass von ihnen schwächere Impulse als von früheren Veranstaltungen ausgegangen sind. Im Übrigen stehen wir nicht nur vor europäischen Herausforderungen: Es wird weiterhin kontrovers bleiben, ob wir eine Ratspräsidentschaft über einen längeren Zeitraum wollen oder ob es nicht besser wäre, die Kommission, den Kommissionspräsidenten und das Europäische Parlament zu stärken, um darin den entscheidenden Ansatzpunkt zu finden. Es ist natürlich auch eine Herausforderung, über Staatsanwaltschaften, Grenzpolizei, Verteidigungspolitik und vieles andere in Europa zu reden. Ich will aber wegen der Kürze der Zeit gleich auf das Wesentliche zu sprechen kommen: Die Bundesregierung hat sich bisher im Hinblick auf die Resolution 1441 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen betreffend den Irakkonflikt und die Chance, Saddam Hussein durch Inspektoren zur Offenlegung und gegebenenfalls zur Vernichtung von Massenvernichtungswaffen zu bringen, etwas missverständlich und in der Person des Bundesaußenministers reichlich sibyllinisch geäußert. Der Bundeskanzler hat - wir nehmen Sie, Herr Bundeskanzler, gern beim Wort - in dieser Woche erklärt, dass die europäischen Partner auf eine zweite Entschließung hinarbeiten müssen und er das auch für vernünftig halte. Die gesamte Bundestagsfraktion der Freien Demokraten stimmt Ihnen in dieser Äußerung ausdrücklich zu. ({2}) Nach 40 Jahren Élysée-Vertrag, nach den geglückten Erfahrungen deutsch-französischer Verständigung in bedeutsamen qualitativen europäischen Fragen und in der Überzeugung, die Sie nun geäußert haben, dass eine europäische Abstimmung, zumindest aber eine gemeinsame französisch-deutsche Bewertung des weiteren Vorgehens in der Irakfrage nicht nur wünschenswert, sondern unverzichtbar ist, möchte ich Sie ausdrücklich auffordern, bei dieser Position zu bleiben und eine enge, verantwortungsbewusste Abstimmung mit Frankreich herbeizuführen und - das füge ich ausdrücklich hinzu - beizubehalten. ({3}) Auch Helmut Schmidt hat das heute Morgen vorgeschlagen. Ich wiederhole das hier deshalb, damit wir uns richtig öffentlich auseinander setzen und die Chance eines solchen Freundschaftsvertrags mit Frankreich in der Frage „Krieg oder Frieden“ - so stellen Sie es immer dar nutzen. Dabei - das möchte ich ausdrücklich sagen - möchte ich in dieser Debatte den großen Respekt aller Mitglieder der Fraktion der Freien Demokraten hier im Bundestag gegenüber dem französischen Staatspräsidenten erwähnen. Er hat nach unserer Überzeugung durch seine Verhaltensweise, sein Verhandeln, seine klare Aussprache, aber auch durch sein transatlantisches Bewusstsein stark persönlich dafür gesorgt, dass die Entscheidung eine Aufgabe des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen geworden ist und dort auch bleibt. Diese ausdrückliche Haltung sollten wir respektieren. ({4}) Diese Haltung ist nicht daraus entstanden, dass man beiseite stand, sondern daraus, dass man sich eingemischt hat und im Dialog geblieben ist. Deshalb sage ich: Es gibt nicht nur europäische Herausforderungen für die deutschfranzösische Freundschaft. Es gibt heute internationale Herausforderungen mit für unser Land und für die beiden Völker hervorragenden Wirkungen. Angesichts einer solchen Debatte und angesichts des wichtigsten Punktes, des Themas „Krieg oder Frieden“, möchte ich die Chance nutzen, dem Bundeskanzler und der gesamten Bundesregierung zu sagen: Es sollte nichts unversucht gelassen werden, aus der deutsch-französischen Freundschaft die Kräfte zu bündeln, jetzt gemeinsame diplomatische Initiativen zu entwickeln und zu ergreifen sowie gemeinsame Verantwortung deutlich werden zu lassen, bis hin zu der Bereitschaft, bei einer gemeinsamen Verständigung dann auch entsprechend gemeinsam abzustimmen. Freundschaft und Klugheit gebieten dies ganz einfach bei einem solchen Vertragswerk, bei dessen Bedeutung und dessen Chancen. Ich sage mit Dank für Ihre Aufmerksamkeit: Ich glaube, beide Völker erwarten dies auch von uns. Damit wäre für eine überzeugende Position der deutschen Bundesregierung in enger Abstimmung mit dem französischen Nachbarn ein Weg zu gehen, der akzeptabel und chancenreich wäre, der immer den Krieg als letztes Mittel ansieht und vorher alles aus eigenen Kräften versucht, ihn zu vermeiden. Sie sollten diesen Weg gehen. Dann könnten Sie auf die Freien Demokraten hier in der Opposition bauen. Wir würden Sie dabei unterstützen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nun dem Bundesminister Joseph Fischer, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stehen vor dem 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages, eines Freundschaftsvertrages zwischen unserem Land und der Französischen Republik. Es ist ein Freundschaftsvertrag, kein Friedensvertrag, aber dieser Vertrag hat wesentlich zur Institutionalisierung eines dauerhaften Friedens in Europa beigetragen. ({0}) Insofern stimme ich allen zu, die diesen Vertrag einen historischen Vertrag, einen Jahrhundertvertrag genannt haben, denn dies war er tatsächlich. Franz Müntefering hat aus seiner Biografie heraus nochmals die frühere Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich benannt. Gerade als Außenminister begegne ich oft Gesprächspartnern, die sich noch exakt in einer solchen Situation befinden. Erst jüngst fiel mir dies wieder ein, als ich mit dem armenischen Staatspräsidenten gesprochen habe. Dabei ging es um einen ähnlichen Konflikt in Bergkarabach, um einen Konflikt, bei dem zwei Völker, zwei Nachbarn um dasselbe Territorium streiten, jeweils mit historischer Legitimität begründet. Dabei fiel mir ein, welche Bedeutung die deutsch-französische Freundschaft, die deutsch-französische Aussöhnung für den Frieden auf unserem Kontinent tatsächlich hat. Wir dürfen nicht vergessen - Franz Müntefering hat es genannt, ich kann es biografisch nur unterstreichen -: In meiner Schulzeit wurden die Lehrer noch nach Erbfeind1432 schaften eingeteilt. Da gab es diejenigen, die die Russen, diejenigen, die die Angloamerikaner, und natürlich immer wieder diejenigen, die die Franzosen als Erbfeinde begriffen haben. Hierauf beruhte die Einteilung. Dies klingt heute bereits wie eine Geschichte aus einer längst vergangenen Zeit. Auch dies ist eine der großen Leistungen, die der deutsch-französische Freundschaftsvertrag, der Élysée-Vertrag, erbracht hat: die Selbstverständlichkeit. ({1}) Denken wir doch einmal daran, was gerade diese Grenze im deutschen Südwesten an Unglück für die dortige Region, für Baden und für Rheinland-Pfalz und immer wieder auch für das Saarland bedeutet hat und mit welcher Selbstverständlichkeit diese Grenze staatsrechtlich heute noch existiert, aber faktisch die Menschen nicht mehr trennt, sondern in einem gemeinsamen Europa längst durchlässig geworden ist. Hierfür hat der ÉlyséeVertrag Wesentliches geleistet. Meine Damen und Herren, die deutsch-französische Aussöhnung war auf dem Hintergrund der Selbstzerstörung des europäischen Staatensystems möglich. Das Gleichgewicht der Mächte wurde in zwei großen Kriegen im 20. Jahrhundert, die vor allen Dingen von Deutschland und Frankreich geführt wurden, endgültig zerstört. Auf dem Hintergrund dieser Erfahrung haben zwei großartige Staatsmänner, nämlich Robert Schuman und Jean Monnet, die Idee eines anderen Prinzips gehabt: gründend auf der deutsch-französischen Aussöhnung die Integration der Interessen herbeizuführen. Sie begannen mit der Wirtschaft, aber sie hatten natürlich auch die Kultur und vor allen Dingen die Politik im Kopf. Das setzte voraus, dass Deutschland und Frankreich zusammenarbeiten, dass diese Erbfeinde gewissermaßen zu Erbfreunden werden. Das war und - ich unterstreiche das - das ist bis zum heutigen Tag die Grundlage, auch in einer erweiterten Union. Das ist der eigentliche Charakter des deutsch-französischen Vertrages. ({2}) Diese Vision in Politik umzusetzen war von Anfang an die große Leistung von Konrad Adenauer, von Willy Brandt, von Helmut Schmidt, auch von Helmut Kohl und jetzt von Gerhard Schröder, aller Bundeskanzler und aller französischen Premierminister und Staatspräsidenten seit Charles de Gaulle. Diese Vision in konkrete politische Realität und gelebte gesellschaftliche Realität umzusetzen und dieses gemeinsame Europa zu bauen ist das oberste Ziel und meines Erachtens auch das oberste Interesse beider Völker, beider Staaten. Dies gründet mit auf dem Élysée-Vertrag. Deswegen ist es sehr wichtig - ich freue mich, dass diese Debatte zu Ende gegangen ist; Frau Merkel, das soll keine Selbstverständlichkeit sein -, dass die beiden Parlamente sich treffen. Ich habe es gestern im Ausschuss gesagt: Vielleicht haben wir, was die Symbolik betrifft, nicht die Sensibilität unserer französischen Freunde. Aber für mich ist die Tatsache, dass beide Parlamente sich zum ersten Mal wirklich plenar treffen, ein ganz wichtiges symbolisches Faktum für die Versöhnung unserer beiden Völker. Insofern wird diese Initiative von der Bundesregierung voll unterstützt. ({3}) Wir haben natürlich von Anfang an auch die kulturelle Dimension gehabt, die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit vor allem der Jugend. Das ist im deutschfranzösischen Freundschaftsvertrag, im Élysée-Vertrag, von entscheidender Bedeutung gewesen. Wir sollten dieses Vertragswerk nicht nur rückblickend loben; hier müssen wir uns für die Zukunft neue Initiativen vornehmen. Mit einer gewissen Sorge sehe ich, dass die Sprachentwicklung, das heißt das Lernen der jeweils anderen Sprache, auf beiden Seiten eher rückläufig ist, um es ganz diplomatisch zu formulieren. Dafür gibt es Gründe: die Globalisierung; die Tatsache, dass heute Englisch die Lingua franca, die universale, die Weltsprache ist - ohne jeden Zweifel. Aber wir würden auch und gerade in einem zusammenwachsenden Europa viel an Zukunft im deutschfranzösischen Verhältnis verlieren, wenn wir nicht verstärkt Wert darauf legten, dass das Lernen der jeweils anderen Sprache für die kommende Generation wieder auf eine breitere Grundlage gestellt wird. ({4}) Hier müssen wir uns gemeinsam mit den Ländern - ich denke, da gibt es überhaupt keinen Widerspruch - verstärkt in die Zukunft hinein engagieren. Ich weiß, wie schwer das ist, aber ich halte das und gemeinsame kulturelle Initiativen für unverzichtbar. Sie sprechen die Agrarpolitik an. Wenn das Geld da wäre, würde ich darüber gar nicht so diskutieren. Aber wir müssen uns schon die Frage stellen, ob wir es uns in der Welt des 21. Jahrhunderts auf Dauer werden erlauben können, mehr als 40 Prozent des gemeinsamen Budgets in der Europäischen Union für Agrarpolitik und Agrarsubventionen auszugeben, während die gemeinsame Kulturentwicklung, Film etc., ziemlich Not leidend ist. Wenn Europa - und das heißt auch Deutschland und Frankreich - in der Welt von morgen, im 21. Jahrhundert seine Rolle spielen soll, müssen wir die Ressourcen anders einsetzen. Das wissen Sie, Frau Merkel. Das ist der entscheidende Punkt. Ich denke, das ist von zentraler Bedeutung. ({5}) Lassen Sie mich hier nochmals klipp und klar sagen: Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist der Kern und das Schwungrad der europäischen Entwicklung gewesen und wird dies - so behaupte ich - auch unter den Bedingungen der EU der 25 bleiben. Das ist die Erfahrung, die ich in den vergangenen vier Jahren gemacht habe: Wenn Deutschland und Frankreich sich einig sind, ist das nie exklusiv, gegen andere gerichtet gewesen, sondern hat immer als Schwungrad gewirkt. Wir haben vorhin Adenauer und de Gaulle und die Schwierigkeiten, die sich aus der Präambel ergeben haben, angesprochen. Das kam mir plötzlich bekannt vor. Da hat sich im deutsch-französischen Verhältnis nicht sehr viel geändert: Die Kompromisse sind schwierig; aber wenn man sie einmal erreicht hat, treiben sie die europäische Entwicklung unglaublich kraftvoll voran. ({6}) Das ist das Faszinierende am deutsch-französischen Verhältnis. So nah wir als direkte Nachbarn aufgrund unserer Historie in vielen Bereichen auch beieinander sind, so unterschiedlich - das ist in einer Familie oft so - sind wir. Dieses Spannungsverhältnis ist seit Adenauer und de Gaulle produktiv. Die Aufgabe des deutsch-französischen Motors ist es, diese Kompromisse für Europa voranzutreiben. Ich freue mich über Ihre positive Bewertung des vorgestern erreichten Kompromisses. Es war vor allen Dingen auch eine große Leistung des Bundeskanzlers, die integrativen Elemente in einem europäischen Verfassungskompromiss voranzubringen. Dass die Kommission vom Europäischen Parlament gewählt wird, ist natürlich eine enorme zusätzliche demokratische Legitimation für die Kommission im Rahmen einer zukünftigen Verfassung. Zugleich handelt es sich dabei natürlich um einen gewaltigen Kompetenzzuwachs sowohl für das Europäische Parlament als auch für die Bürgerinnen und Bürger, die dieses Europäische Parlament aufgrund dieser verstärkten Kompetenz anders sehen und indirekt einen Einfluss auf die Zusammensetzung der Kommission haben werden. Gleichzeitig werden wir in der Frage der Ausweitung der Rechte der Kommission einen entscheidenden Schritt nach vorne tun. So soll zum Beispiel die Kontrolle der Generaldirektionen von der Politik - genauer gesagt: von der Kommission - wahrgenommen werden. Das halte ich ebenfalls für einen ganz entscheidenden Schritt nach vorne. Wer die praktischen Verhältnisse kennt, wird mir zustimmen. Die Ausdehnung des Mitentscheidungsverfahrens auf sämtliche Legislativakte der Union ist für die zunehmenden Rechte des Europäischen Parlaments ebenfalls von sehr großer Bedeutung. Darüber hinaus haben Sie die Frage der gemeinsamen Außenpolitik angesprochen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die gemeinsame institutionelle Vertretung der Außenpolitik in Zukunft durch einen EU-Außenminister wahrgenommen wird. Frau Merkel, als genauso wichtig sehe ich es an, dass es uns im gesamten Bereich der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik jetzt gelungen ist, Mehrheitsentscheidungen generell einzuführen. Auch darin sehe ich einen ganz wichtigen Schritt nach vorn. Das reiht sich in die über Jahre hinweg andauernde Zusammenarbeit dieser Regierung mit der französischen Regierung ein. Eines möchte ich Ihnen noch sagen: An diesem Punkt freue ich mich, dass Sie Ihre Kritik, die Sie in der Vergangenheit immer geäußert haben, ein Stück weit zurückgenommen haben. Sie kritisierten ständig, der Bundeskanzler würde die deutsch-französischen Beziehungen, die europäischen Angelegenheiten insgesamt, schleifen lassen. Ich kann Ihnen nur sagen: Mit der Agenda 2000 haben wir unter diesem Bundeskanzler einen fast nicht möglich erscheinenden Kompromiss erreicht. ({7}) Das war die Voraussetzung dafür, dass wir in praktischen Verhandlungen weiterkommen konnten. ({8}) Unter der Vorgängerregierung wurde das Jahr 2000 als Termin für den Beitritt Polens genannt. Ein halbes Jahr, bevor wir die Regierung übernommen haben, waren die Verhandlungsdossiers aufgeklappt worden. Unter der deutschen Präsidentschaft hat der Verhandlungsprozess Schwung bekommen. In Kopenhagen haben wir den historischen Prozess, nämlich die Verhandlungen mit zehn neuen Mitgliedstaaten, abgeschlossen. ({9}) Darüber hinaus haben wir unter der deutschen Präsidentschaft den zweiten Teil - nicht nur die Erweiterung der Union - begonnen. Zugleich - dies geschah, gründend auf den Kompromiss von Berlin, immer gemeinsam mit Frankreich - war es aufgrund der deutschen Initiative möglich, den Konvent zu beginnen. Es geht also nicht nur um die Erweiterung, sondern auch um die Verfassung Europas. Ich stimme der Kollegin Sager völlig zu: Wenn es in diesem Jahr, dem 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages, gelingt, im Konvent zugleich zu einer europäischen Verfassung zu kommen - die Arbeiten im Konvent laufen auch dank der Führung von Präsident Giscard d‘Estaing sehr gut -, dann hat sich das Vermächtnis des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages, des Élysée-Vertrages, 40 Jahre danach erfüllt. Das war und ist das politische Ziel dieser Bundesregierung. Das ist die Politik von Bundeskanzler Schröder und - das füge ich hinzu - Staatspräsident Jacques Chirac. Ich finde, das ist eine beachtliche Leistung, die im Interesse Europas liegt. ({10}) Das gilt auch für unsere Verpflichtung zum Frieden. Ich bin gerne bereit, diese Debatte an anderer Stelle aufzunehmen. An einem Tag wie heute sollten wir aber keine taktischen Debatten darüber führen, wie die Regierung irgendwohin geschoben werden kann. ({11}) - Es ist für Sie wichtig und völlig legitim. An einem solchen Tag sollten Sie das aber nicht tun. Jetzt ist nicht die Stunde der Taktik. ({12}) Ich sage Ihnen: Der deutsch-französische Vertrag ist ein Freundschaftsvertrag, der vor allen Dingen Frieden geschaffen hat. Wenn sich diese Bundesregierung zu etwas verpflichtet fühlt - dabei sind wir nicht naiv -, dann ist das die Verpflichtung zum Frieden. An diesem Punkt ist für uns eines klar: Wir sind für die Umsetzung der Resolution 1441. Das heißt, die Inspektoren sollen ihre Arbeit tun. Unserer Auffassung nach gibt es keinen Grund, militärische Gewalt einzusetzen. Unsere Sorge ist viel zu groß, dass ein Einsatz militärischer Gewalt im Irak eine Folgekette auslöst, die fatale Wirkungen haben könnte. Aus diesem Grund haben wir uns von Anfang an klar positioniert. Wir haben gesagt, dass wir uns an einer militärischen Aktion im Irak nicht beteiligen werden. Dabei bleibt es. Das ist konkrete Friedenspolitik. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Michael Glos, CDU/CSUFraktion, das Wort.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundesaußenminister, heute ist weniger die Stunde des Selbstlobes als vielmehr die Zeit, darüber nachzudenken, was uns der deutsch-französische Vertrag gebracht hat und was wir aus diesem Geist, der damals die Staatsmänner beflügelt hat, für unsere Zukunft mitnehmen können. Wir sind sehr dankbar, dass wir heute auf 40 Jahre Élysée-Vertrag zurückblicken können und dass das erfolgreiche Werk der Gründerväter, die die Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich überwunden haben und die sich die Hand zur Versöhnung gereicht haben, auch in die Zukunft getragen werden kann. Ich glaube, das war damals eine Leistung, die zu Recht den Namen „historisch“ verdient. Damals haben die Gründerväter europäische Geschichte geschrieben. Wir alle in diesem Haus müssen uns heute bewusst sein, dass deren Handeln für uns in Zukunft Auftrag und Verpflichtung ist. ({0}) Frieden auf dem alten Kontinent war damals nicht unbedingt selbstverständlich. Wir sind sehr dankbar, dass dies heute gerade für unsere Kinder und für die nachfolgende Generation vollkommen selbstverständlich geworden ist. Das ist aber nicht immer automatisch so, sondern an solchen Grundentscheidungen muss immer wieder weitergearbeitet werden. Die Bedeutung des Élysée-Vertrages im Einzelnen zu würdigen hieße, Eulen nach Athen zu tragen. Es ist, wie gesagt, viel wichtiger, das Ganze in der Zukunft fortzusetzen. Wir wissen, dass der Geist, der damals geherrscht hat, auch heute notwendig bleibt, um viele Krisen in der Welt zu überwinden. Wenn zwischen den Nachbarn Misstrauen herrscht, dann lassen sich Krisen nicht überwinden. Trotz der aktuellen Diskussion, trotz der drohenden Kriegsgefahr im Nahen Osten, trotz der Tatsache, dass es so aussieht, als ob manches in einem nicht zu stoppenden Automatismus abläuft, dürfen wir nie vergessen, dass sich der Einsatz um Frieden immer lohnt. ({1}) Dazu gehört immer auch das Überwinden von Misstrauen, weil nur dann, wenn man Misstrauen überwunden hat, eine friedliche Nachbarschaft möglich ist. Darin liegt der historische Kern des Élysée-Vertrages. 40 Jahre Élysée-Vertrag zeigen auch, dass sich Deutschland Vertrauen bei seinen Nachbarn erworben hat. Diese Nachbarn sind von Deutschland im letzten und im vorletzten Jahrhundert nicht immer gut behandelt worden. Wir freuen uns, dass wir Deutschen heute ein anerkannter Partner sind, sowohl bei unseren europäischen Verbündeten als auch in der Welt überhaupt. Dazu gehört Verlässlichkeit. Dazu gehört, dass wir Deutschen keine Sonderwege mehr gehen, sondern dass wir unser politisches Handeln für die Zukunft in diese Partnerschaft einbetten. ({2}) Wenn die deutsch-französische Partnerschaft für den Fortgang der europäischen Einigung entscheidend geworden ist, dann liegt das an der aufrichtigen Bereitschaft der Menschen zur Verständigung untereinander. Es ist bereits gewürdigt worden, dass es sehr viele Städte- und Regionalpartnerschaften gibt, durch die die Menschen immer wieder zusammenkommen. Der Herr Bundesaußenminister hat zu Recht beklagt, dass die französische Sprache wie auch die deutsche Sprache in dem jeweils anderen Land zu wenig gepflegt werden. Es gibt auch heute noch sehr viele idealistisch gesinnte Jugendliche, denen der europäische Einigungsgedanke und die deutsch-französische Verständigung am Herzen liegen. Ich könnte Ihnen aus meiner eigenen Familie sehr viel darüber berichten. Mein Sohn hat in Frankreich studiert und dort ein juristisches Examen abgelegt. Insofern kann ich auch einiges über die praktischen Erfahrungen berichten, die die jungen Leute dort machen. Er ist sehr idealistisch gesinnt dorthin gegangen und hat auch alles gut bewältigt, aber es war ihm nicht verständlich zu machen, warum man sich in Frankreich ein Vierteljahr von einer Behörde zur anderen anmelden muss, wenn man dort als Deutscher in einem gemeinsamen Europa studieren will. Sicherlich gibt es immer noch viele praktische Schwierigkeiten, die überwunden werden müssen. Aber daran muss gearbeitet werden. Es hilft nicht, mit dem Finger aufeinander zu zeigen. Entscheidend ist sicherlich auch - wie immer, wenn etwas vorangehen soll -, dass die handelnden Personen ein gutes Verhältnis zueinander pflegen und dass zwischen den Staatsmännern die Chemie stimmt, wie man so sagt. Ich erinnere daran, dass zwischen Adenauer und de Gaulle die Chemie gestimmt hat; sonst wäre der deutsch-französische Freundschaftsvertrag, über den wir heute reden, nicht möglich gewesen. Ich erinnere daran, dass auch zwischen Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing die Chemie gestimmt hat. Ich erinnere auch an das gute Verhältnis, das zwei an sich so gegensätzlich erscheinende Personen wie Helmut Kohl und François Mitterrand zueinander gefunden haben. Die CSU, für die ich hier spreche, hat diesen Prozess immer unterstützt und ihm auf wichtigen Etappen ihren Stempel aufgedrückt. Ich erinnere daran, dass Dr. Josef Müller, einer unserer Parteigründer, zu den Europäern der ersten Stunde gezählt hat und dass aus der CSU bereits 1946, als es die D-Mark noch nicht gab, eine europäische Währung gefordert wurde. Ich bin stolz darauf, dass der damalige Vorsitzende meiner Partei, Theo Waigel, entscheidenden Anteil am Zustandekommen der Europäischen Währungsunion gehabt hat. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn man den Blick nach vorne richtet, fallen einem viele aktuelle Notwendigkeiten ein, zum Beispiel, dass Europa nur dann stark werden und stark bleiben kann, wenn auch unsere Wirtschaft gut funktioniert. Dabei haben wir Deutsche eine besondere Verpflichtung. Ich will nicht alle Äußerungen des französischen Premierministers Raffarin über die mangelnden Anstrengungen der Deutschen zitieren, den europäischen Wirtschaftsmotor flott zu machen. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass wir Deutsche in Europa auch deswegen beliebt und geachtet sind, weil wir immer der wirtschaftliche Motor waren. Dass dieser Motor stottert, ist bedauerlich. Es dient der deutsch-französischen Freundschaft und der europäischen Einigung, wenn wir wieder gemeinsam daran arbeiten und wenn die Bundesregierung auf diesem Gebiet noch besser wird, als es der Herr Bundesaußenminister dargestellt hat. Der Verfassungskonvent tritt jetzt in eine entscheidende Phase. Wir fühlen uns bisher nicht sonderlich eingebunden. Überhaupt muss man sich nicht wundern, Herr Bundeskanzler, wenn vieles in unserer Gesellschaft nicht mehr zusammengeht, wenn Sie die politischen Eliten - dazu müssen immer noch die politischen Parteien gezählt werden -, die vorher immer über das notwendige Vorgehen einig waren, die Opposition nicht mehr einbinden. Früher ist es nie vorgekommen, dass sich ein EU-Kommissar an die Opposition gewandt hat. Auch entscheidende Erweiterungsschritte - vorhin ist bereits über die Türkei gesprochen worden - sind nicht diskutiert worden. Ich meine, wir müssen bei dem, was wir künftig zu gestalten haben, darauf achten, dass wir die Menschen auf unserem Weg mitnehmen. Wir können ihnen keine weiteren Entscheidungen überstülpen. Auch gibt es gegenwärtig keinen nationalen Konsens, der überhaupt eine Rechtfertigung dafür böte, etwas ohne weitere Diskussion und ohne Mitentscheidung des Volkes durchzusetzen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Menschen erwarten natürlich eine Antwort auf die Frage, wohin in Europa die Reise geht. Die Menschen wollen wissen, welche staatsrechtlichen Ergebnisse am Ende dieses Prozesses zu erwarten sind, welches die Grenzen des gemeinsamen europäischen Hauses sind und über welches Selbstverständnis das gemeinsame Europa verfügt. Nur dann, wenn sich Europa am Schluss als Schicksalsgemeinschaft versteht, wird es sich dauerhaft behaupten können. ({4}) Nach wie vor befürchtet die große Mehrheit unseres Volkes infolge des Fehlens eines echten europäischen Bewusstseins, Nation und Region würden auf dem Altar der europäischen Einigung geopfert. Unter den gegenwärtigen Voraussetzungen sehe ich keinen anderen Weg als den, die Rolle der Nationalstaaten noch immer als sehr wichtig zu erachten. Der Vorschlag des französischen Staatspräsidenten und des deutschen Bundeskanzlers, den wir prüfen werden, sagt dies ebenfalls aus: Auch in Zukunft wird Europa auf einem Verbund selbstständiger Nationalstaaten aufbauen, die Souveränität nur in einem begrenzten Ausmaß an Europa übertragen. Es ist somit zwingend erforderlich, Föderalismus und Subsidiarität nicht nur in Paragraphen, sondern auch in der konkreten Politik Rechnung zu tragen. Auch darum wird es beim Verfassungskonvent gehen. Wir dürfen ferner nicht vergessen, dass Europa auf einem verbindenden historischen Erbe aufbaut. Die Europäer bekennen sich zu einer gemeinsamen Werteordnung auf den Grundlagen des Christentums und der Aufklärung. Nur dann, wenn wir diese uns verbindenden Werte aufrechterhalten, kann es zu einer eigenen gemeinsamen europäischen Identität kommen. Herr Bundeskanzler, Folgendes kann ich Ihnen in diesem Zusammenhang nicht ersparen: Dass die verbindenden europäischen Werte, die man definiert, wie man es gerade braucht - als es um die Türkei ging, ist darüber nicht diskutiert worden -, ausgerechnet an Österreich ausprobiert werden sollten, war ein schlimmes Bubenstück, das wir eigentlich vergessen machen sollten, an das wir als Opposition aber immer wieder erinnern müssen. ({5}) Aufgabe des gemeinsamen Europas muss es sein, die globalen Probleme mit zu gestalten, Frieden und Freiheit in der Welt zu erhalten und den Terrorismus zu bekämpfen, der natürlich auch Europa bedroht. Manche Diskussionen in unserem Land - auch in unseren Reihen - zeigen, dass das Bewusstsein der Menschen zu gering ist, dass auch wir in der Bundesrepublik Deutschland mitten im Herzen Europas vom internationalen Terrorismus bedroht sind und im eigenen Interesse gegen diesen Terrorismus vorgehen müssen. ({6}) Dazu brauchen wir ein handlungsfähiges Europa. Lassen Sie uns auch in Zukunft daran bauen! Danke schön. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Angelica Schwall-Düren, SPDFraktion, das Wort.

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Einer meiner Großväter liegt auf dem Hartmannsweiler Kopf, einem Bergrücken der Vogesen, begraben, gefallen in den letzten Monaten des mörderischen Ersten Weltkrieges. Mein Vater geriet 1945 verwundet in französische Kriegsgefangenschaft. Meine Kindheit in Baden war durch die französische Besatzung geprägt. Mein Vater verdiente nach 1945 das Brot für seine junge Familie als Arbeiter im Dienst des französischen Militärs. Das sind Einzelereignisse aus einer durch Feindschaft und blutige Auseinandersetzungen geprägten deutsch-französischen Geschichte. Und dann geschieht nach dieser leidvollen Geschichte das Unglaubliche: Trotz brutaler Okkupation Frankreichs durch die Deutschen und trotz Gestapo- und SS-Terror haben unsere Nachbarn uns nach der NS-Zeit die Hand zur Versöhnung gereicht. Franzosen und Deutsche haben aus Feinden Freunde gemacht. Die zwischen den beiden Zivilgesellschaften und Regierungen aufgebaute Partnerschaft wurde bereits vor 40 Jahren durch den Élysée-Vertrag feierlich besiegelt. Heute fragen uns viele Menschen: Macht es denn noch Sinn, wegen der notwendigen Versöhnung ein besonderes Verhältnis zu Frankreich zu rechtfertigen und aufrechtzuerhalten? Die Versöhnung ist doch längst erledigt. Heute geht es doch um andere Fragen in Europa. Heute muss zum Beispiel die Aussöhnung mit Tschechien und Polen vorangebracht bzw. vollendet werden. Heute muss die europäische Zukunft gestaltet werden. In der Tat ist das, was noch unsere Eltern und Großeltern für undenkbar hielten, nämlich dass sie ohne jede Schranke in das jeweils andere Land reisen und dass Franzosen und Deutsche in Freundschaft miteinander leben, für die jüngere Generation zu einer solchen Selbstverständlichkeit geworden, dass sie den weiten Weg kaum ermessen kann, den unsere beiden Völker aufeinander zugegangen sind. Sie versteht auch kaum, dass auch noch heute einzelne Vorfälle genügen, damit man sich bei unseren Nachbarn des hässlichen Deutschen erinnert. Aussöhnung, gute Nachbarschaft und Freundschaft müssen also auch mit den Menschen unseres großen westlichen Nachbarlandes immer wieder neu gewonnen und gelebt werden. Eine Bürgerin schrieb mir dieser Tage: Ich wünsche uns, dass wir nicht ermatten in dieser Tätigkeit, die heute vielleicht schwieriger ist, sich mehr rechtfertigen muss als damals, wo man die Versöhnung als Glück und Fortschritt erlebt hat und nicht als etwas Gewöhnliches. Die deutsch-französische Zusammenarbeit hatte aber von Anfang an eine weit über die Verarbeitung der Vergangenheit hinausweisende Bedeutung und Aufgabe. Aus unterschiedlichen Motiven heraus - das ist schon angesprochen worden - wollten Deutschland und Frankreich die Westintegration der Bundesrepublik. Es war klar, dass dies nur über den europäischen Einigungsprozess möglich war. In den 50er-Jahren waren Deutschland und Frankreich deshalb maßgeblich an der Gründung der Europäischen Gemeinschaft beteiligt. Dabei war die Verständigung weder selbstverständlich noch einfach zu bewerkstelligen. Es war und ist durchaus nicht so, dass sich in Deutschland und Frankreich gesellschaftliche Entwicklungen in gleicher Weise vollzogen oder sich Traditionen und Wertvorstellungen völlig identisch herauskristallisierten. Daraus ergibt sich, dass unsere Länder auch nicht von vornherein gleich gerichtete Interessen haben und auch nicht hatten. Dafür lassen sich viele Beispiele anführen. Eines davon ist der unterschiedliche Umgang mit den Risiken der Nukleartechnologie. Über den Versöhnungswillen, über den brennenden Wunsch hinaus, unsere beiden Völker mögen aufhören, im Generationenabstand ihre Jugend auf den Schlachtfeldern zu opfern, gab es drei Grundlagen für die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich: Erstens: eine Balance zwischen Partnern mit unterschiedlichen Stärken. Deutschland, durch den Viermächtestatus gebunden und mit eingeschränkter Souveränität, war politisch zunächst ein Zwerg. Das deutsche Wirtschaftswunder hatte es aber mit sich gebracht, dass die Bundesrepublik zur bedeutendsten europäischen Wirtschaftsmacht geworden war. Frankreich tat sich dagegen schwerer, den Weg von der alten Industrienation in das hochtechnologische Zeitalter zu finden. Politisch war Frankreich aber gleichberechtigtes Mitglied im Kreis der ehemaligen alliierten Kriegsgegner Deutschlands. Zweitens: der feste Wille, Gegensätze zu überwinden und die anstehenden Herausforderungen im Konsens zu meistern. Drittens: die Arbeit an einem gemeinsamen Projekt, wie es beispielsweise die Währungsunion darstellte, die bereits von Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt als Idee entwickelt und dann von François Mitterrand und Helmut Kohl in die Tat umgesetzt wurde. Trotz zeitweise auftretender Schwierigkeiten ist es immer wieder zu wegweisenden deutsch-französischen Initiativen gekommen. Dabei spielte im Übrigen die politische Farbe kaum eine Rolle. Ohne den gemeinsamen deutsch-französischen Willen hätte es weder den Binnenmarkt noch das Verschwinden der Grenzkontrollen im Schengen-Raum gegeben. Nun ist viel darüber spekuliert worden, ob in den 90erJahren und erst recht mit Amtsantritt der rot-grünen Regierung der deutsch-französische Motor ins Stocken geraten sei. ({0}) Ich sehe das nicht so. Allerdings hatte sich die über Jahrzehnte existierende Balance zwischen den beiden Ländern nach dem 30. Geburtstag des Élysée-Vertrages verändert. Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat Deutschland wieder seine volle Souveränität erhalten. Das relative politische Gewicht des größer gewordenen Deutschland als normaler Staat ist auch im Vergleich zu Frankreich gestiegen. Dagegen haben der Zusammenbruch der ostdeutschen Industriestrukturen und die Notwendigkeit, die neuen Länder ökonomisch und sozial zu integrieren, zu einer wirtschaftlichen Schwächung Deutschlands geführt. Frankreich hat den Übergang ins Zeitalter der Globalisierung etwas besser meistern können. Aber Frankreich sorgte sich, dass Deutschland mit dem Fallen des Eisernen Vorhangs seine Energie nun darauf richten würde, wieder Sonderbeziehungen zu osteuropäischen Ländern aufzubauen und daraus besondere Stärke zu beziehen. Nicht zuletzt deshalb war es ein besonderer Glücksfall, dass die Außenminister Polens, Frankreichs und Deutschlands, Skubiszewski, Dumas und Genscher, den Grundstein für das „Weimarer Dreieck“ gelegt haben, das nicht nur für die Heranführung Polens an die EU nützlich war, sondern auch Frankreich neben Deutschland eine wichtige Rolle bei dieser Heranführungsstrategie gab. Das ist im Übrigen ein Beleg dafür, dass die deutsch-französische Beziehung andere Partner nicht ausschließt, sondern auf Integration gerichtet ist. Zum Ende der 90er-Jahre war auch das gemeinsame Projekt Euro erfolgreich abgeschlossen, sodass ein wichtiger Fixpunkt für die deutsch-französische Zusammenarbeit wegfiel. Dies alles machte es notwendig, dass die Partner zu einer neuen Rolle und zu neuen Projekten fanden. Doch lassen Sie mich zunächst noch auf einen anderen Punkt eingehen. Über die gesamten 40 Jahre des Bestehens des Élysée-Vertrags hinweg haben Kontakte und Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft das deutsch-französische Verhältnis wesentlich bestimmt; Frau Griefahn wird darauf noch näher eingehen. Unzählig viele Arbeitsund Freundschaftsbeziehungen sind entstanden. Immer mehr dauerhafte Beziehungen sind das Ergebnis. Wo Menschen zusammenleben, entstehen auch neue Konflikte und nicht immer können sie von den Beteiligten selbst gelöst werden. Auch deutsch-französische Paare trennen sich gelegentlich und manchmal schaffen es die Menschen nicht, ihre Trennung so zu organisieren, dass ihre Kinder weiter regelmäßigen Kontakt zu beiden Elternteilen behalten. Eine unterschiedliche Rechtspraxis in unseren Ländern kann die Konflikte noch verschärfen. Deshalb hatten die Justizministerinnen Frankreichs und Deutschlands 1999 eine sechsköpfige deutsch-französische parlamentarische Mediatorengruppe ins Leben gerufen, die zerstrittenen binationalen Paaren helfen sollte, eine Regelung zugunsten ihrer Kinder zu finden. Diese Einrichtung ist ein Beispiel für zahlreiche Aktivitäten, die durchaus unspektakulär dazu beitragen, deutschfranzösische Anliegen gemeinsam voranzubringen. ({1}) Bei den großen europäischen Projekten erweist sich zum wiederholten Male die Stärke der deutsch-französischen Zusammenarbeit: Voraussetzungen für die EU-Erweiterung mussten geschaffen werden. Mit einer europäischen Verfassung soll in diesem Jubiläumsjahr die Handlungsfähigkeit der EU angesichts größerer und neuer Herausforderungen gestärkt werden. Wegen der Notwendigkeit, den EU-Stabilitätspakt einzuhalten, und angesichts weltweiter Konjunkturschwäche ist die Finanzierung der EU-Erweiterung mit Augenmaß zu betreiben. Dabei - das ist schon angesprochen worden fällt der umfangreiche Agrarhaushalt besonders ins Gewicht. Hier sind die unterschiedlichen Interessen der Europäer auch sehr deutlich: Das Agrarland Polen als wichtigster Vertreter der Beitrittsländer wollte für seine Bauern wie die Altmitglieder Direktzahlungen erhalten. Deutschland wollte als größter Nettozahler keine zusätzlichen Mittel aufbringen. Frankreich mit seiner Agrarstruktur wollte auf keinen Fall auf Mittel verzichten. Trotz dieser schwierigen Ausgangslage haben es Deutschland und Frankreich geschafft, auf dem Brüsseler Gipfel den Agrarkompromiss zu schließen, dem sich die anderen Mitglieder anschließen konnten und der die Erweiterung möglich gemacht hat. Der deutsch-französische Motor hat funktioniert. Auch in Zukunft wird die Bewältigung dieser historischen Erweiterungsrunde hohe Anforderungen an das deutsch-französische Tandem stellen. Das anstehende Zukunftsprojekt der Vollendung der Einigung Europas durch die Erweiterung und die Vertiefung ist von historischer Dimension. Das Ziel muss es sein, dass auch die erweiterte EU demokratisch, handlungsfähig, bürgernah, transparent und solidarisch ist. Die dafür nötigen Weichenstellungen müssen im Europäischen Verfassungskonvent vorgenommen werden. Deutschland und Frankreich - das zeigt sich wieder - werden sich gemeinsam für den Erfolg des Konvents und für die weitere Vertiefung der Europäischen Union einsetzen. Der Außenminister und unser Fraktionsvorsitzender Franz Müntefering haben schon den Hinweis auf die verschiedenen konkreten Initiativen im Hinblick auf die Konventsarbeit, die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und den Raum der Sicherheit, des Rechts und der Freiheit gegeben. Die Bilanz des Élysée-Vertrages ist also nicht nur positiv, sie ist sogar hervorragend. Wir alle sollten dazu beitragen, dies deutlich zu machen und Impulse für die Fortsetzung der deutsch-französischen Zusammenarbeit zu setzen. ({2}) Die Parlamente werden diese Initiativen über das Feiern des Geburtstages hinaus durch konkrete Arbeit begleiten. Es macht Sinn, kommende Woche zu unseren Kollegen nach Versailles zu fahren. Ich darf Alfred Grosser zitieren, der in Frankfurt am Main geboren wurde und nach Frankreich emigrieren musste - er ist ein großer Kenner Deutschlands -: Wunderbar ist, dass endlich einmal die Volksvertretungen spektakulär zusammenkommen; das hat mehr Symbolkraft als jedes Treffen der Regierenden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher, FDP-Fraktion.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 40 Jahre Élysée-Vertrag, das bedeutet Aufbau einer tiefen und vor allem einer belastbaren Freundschaft zwischen den Menschen diesseits und jenseits des Rheins. 40 Jahre Élysée-Vertrag bedeutet auch eine intensive Kooperation mit vielen Mechanismen zwischen Regierungen und teilweise zwischen Parlamenten. Die Intensität dieser Kooperation war nicht immer gleich. Man muss schon feststellen: Mit Amtsantritt der Regierung Schröder/ Fischer ist dieser Motor ins Stottern geraten und er hat leider viel zu lange gestottert. ({0}) Die FDP-Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass die Zusammenarbeit in den vergangenen Monaten wieder besser geworden ist. Wir begrüßen ausdrücklich, dass diese Zusammenarbeit, anknüpfend an vergangene Perioden, wieder Erfolge zeigt. Auch das soll hier ganz deutlich gesagt werden. Wir mahnen aber auch an, dort, wo es Konflikte gibt, diese auszusprechen. Wir veranstalten heute keine Feierstunde - sie findet nächste Woche statt -, sondern wir führen eine Parlamentsdebatte durch. ({1}) Es beunruhigt mich schon, zu sehen, dass die Franzosen heute - vor einigen Jahren hatten sie noch ein Stück weit Angst vor der wirtschaftlichen Übermacht Deutschlands - eher Angst davor haben - ich erinnere an die Aussagen von Raffarin -, dass Deutschland Europa wirtschaftlich herunterzieht. ({2}) Herr Bundeskanzler, das beste Geburtstagsgeschenk, das Sie nächste Woche nach Versailles mitnehmen könnten, ist eine Änderung der Wirtschafts- und Finanzpolitik, damit in Deutschland endlich wieder Wachstum erfolgt, wodurch auch die Wirtschaft in Europa wieder angekurbelt würde. ({3}) 40 Jahre Élysée-Vertrag heißt enge Kooperation zwischen den Regierungen. Ich meine, es ist jetzt höchste Zeit, diese durch eine enge Kooperation zwischen den Parlamenten zu ergänzen. Gemeinsame Sitzungen der Auswärtigen Ausschüsse, der Europaausschüsse, eine enge Begleitung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik durch die Parlamente, aber auch ein regelmäßiger Austausch einzelner Abgeordneter, Hospitationsprogramme der Abgeordneten, das müssten wir viel mehr initiieren; denn wir haben doch gelernt: Dort, wo Menschen zusammenkommen, funktioniert die Zusammenarbeit. Diesem Motto sollten wir auch in diesem Parlament viel mehr folgen. ({4}) 40 Jahre Élysée-Vertrag heißt, die Begegnungen und die Freundschaft zwischen den Menschen zu stärken. Und da hat sich, verehrte Frau Kollegin Schwall-Düren - da stimme ich Ihnen zu -, etwas verändert. Die Generation derer, die den Krieg noch erlebt hat, tritt nach und nach von der politischen Bühne ab. Die jungen Leute haben diesen besonderen Bezug nicht mehr. Es ist ja so, dass das, was wir bisher erreicht haben, nämlich dass Kooperation selbstverständlich ist und die Versöhnung erfolgt ist, die Raison d’être des Vertrages ein Stück weit obsolet gemacht hat. Deshalb müssen wir die jungen Menschen davon überzeugen, wie wichtig das besondere Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich ist. ({5}) Herr Außenminister, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu: Zentrale Bedeutung hat hier die Sprache. Es muss uns schon mit Sorge erfüllen, wenn in Deutschland nur etwa 14 Prozent der jungen Menschen Französisch lernen und in Frankreich weniger als 10 Prozent Deutsch lernen. Die Zahl der Einschreibungen an germanistischen Instituten in Frankreich ist in den Jahren 1999 und 2000 um mehr als die Hälfte zurückgegangen. ({6}) Da dürfen wir nicht einfach untätig zusehen. Meine Damen und Herren, wir müssen hier agieren. Hier liegt für unsere junge Generation eine riesengroße Chance. Nach Schätzungen des deutschen Botschafters in Paris können derzeit zwischen 20 000 und 40 000 Stellen in Frankreich nicht besetzt werden, weil die Bewerber über keine deutschen Sprachkenntnisse verfügen. Das französische Wirtschaftsministerium nennt sogar eine Zahl von 180 000. Hier muss etwas getan werden. Es dürfen nicht, wie es in den letzten Jahren erfolgt ist, Kultureinrichtungen geschlossen werden, vielmehr müssen wir Kultureinrichtungen schaffen. ({7}) Wir müssen gemeinsame Projekte durchführen. Der in Baden-Württemberg beschrittene Weg, Französisch in Grundschulen in der Nähe zur französischen Grenze als Pflichtfach einzuführen, ist richtig. Ich möchte zum Schluss kommen: 40 Jahre Élysée-Vertrag impliziert auch, dass wir uns entsprechend verhalten. Die Menschen schauen auch auf uns. Ich habe, ehrlich gesagt, manche kleinkrämerische Reaktion in der Partei Konrad Adenauers in Bezug auf unser Treffen nächste Woche nicht verstanden. Die Freundschaft lebt von Symbolen. Die Unterzeichnung des Vertrages war ein solches Symbol. Das Treffen in Versailles in der nächsten Woche wird ein weiteres Symbol sein und auch zu neuen Aufbrüchen führen. Für die FDP-Fraktion sage ich: Wir sind stolz darauf, in Versailles an diesem Prozess mitwirken zu dürfen. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Blick auf die deutsch-französischen Beziehungen hat für mich als ostdeutsche Parlamentarierin noch mehr Aspekte, als hier schon beschrieben wurden. Die Erfahrungen meiner Generation sind noch durch das Frankreichbild geprägt, das in der DDR vermittelt wurde. Dieses Bild war ambivalent: Auf der einen Seite wurde die Geschichte der Widersprüche und der Kriege zwischen beiden Völkern vermittelt, auf der anderen Seite gab es Hochachtung vor den französischen Beiträgen zur Aufklärung und große Sympathien für die revolutionäre Tradition von 1789, für die Tradition der Pariser Kommune und nicht zuletzt für die Kämpfe der Résistance gegen Faschismus und Krieg. So spiegelte sich unser Bild von Frankreich auch in den Erzählungen vieler Antifaschisten wider, die zusammen mit Franzosen gegen die deutsche Invasion in der Résistance gekämpft haben. Der französische Botschafter in der Bundesrepublik erklärte 1995 gegenüber Deutschen, die in der Résistance gegen Hitler gekämpft hatten, dass die Wurzeln der deutsch-französischen Versöhnung in dem gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus liegen. Ich kenne viele deutsche Kämpfer der Résistance, die in Frankreich mit offenen Armen empfangen werden, aber in der Bundesrepublik, leider auch von dieser Regierung, bisher nicht die entsprechende Aufmerksamkeit erfahren haben. Hier gibt es, wie ich denke, noch Nachholbedarf. Aus all meinen persönlichen Erfahrungen speiste sich immer ein Gefühl der Achtung und des Respekts gegenüber dem französischen Volk, einem Volk, das sich zu Antifaschismus, Toleranz und gesellschaftlichem Fortschritt bekannte. Ganz im Gegensatz zur Bundesrepublik der 60er- und 70er-Jahre, wo gegen solche Leute Berufsverbote verhängt wurden, spielten im politischen Leben Frankreichs Linke und Kommunisten immer eine normale und geachtete Rolle. Viele Prominente und Intellektuelle schlossen sich der kommunistischen und der Gewerkschaftsbewegung an. So kam Frankreich bei vielen Ostdeutschen oft besser weg als die damalige Bundesrepublik. Ich verstehe daher auch den Beitrag der Ostdeutschen als Träger von deutsch-französischen Beziehungen nicht nur quantitativ, sondern auch als kulturelle Bereicherung, die auf die Traditionen von Humanismus, Antifaschismus und gesellschaftlicher Toleranz Bezug nimmt und die dazu beitragen kann, die in der Geschichte entstandenen und leider sicher auch heute noch in der einen oder anderen Form vorhandenen Vorbehalte zwischen beiden Völkern abzubauen und zu überwinden. Ich möchte zum Abschluss noch einen Aspekt besonders hervorheben. Die große Lehre aus der deutsch-französischen und der europäischen Geschichte, die über Jahrhunderte viele verheerende Kriege hervorbrachte, besteht in der Erkenntnis, dass sich Konflikte nicht mit Gewalt lösen lassen. Umso mehr muss dieser Jahrestag auch Anlass für ein gemeinsames Bekenntnis zu Frieden und Zusammenarbeit sein. Angesichts der Gefahr eines neuen Golfkrieges liegt es, so denke ich, auch in der besonderen Verantwortung der Bundesrepublik und Frankreichs, sich als Mitglieder des Sicherheitsrates aktiv für einen friedlichen Weg einzusetzen und dies auch dann zu tun und durchzuhalten, wenn es Gegenwind gibt, statt einer falschen Doktrin zu folgen. Denn der Krieg wird dieser Region keine Befriedung geben, sondern zu neuem Terror aufwiegeln. Möge sich hier die Achse Paris-Berlin als eine verlässliche Stütze der europäischen und internationalen Kriegsgegner erweisen. Ich denke, dabei haben die politisch Verantwortlichen das deutsche und das französische Volk auf ihrer Seite. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jean Monnet hat einmal gesagt: Europa ist ein Beitrag zu einer besseren Welt. War das nicht eigentlich das Leitmotiv, das dem Élysée-Vertrag seinen Sinn gegeben hat und für immer geben wird, nämlich - wie es darin heißt - eine alte Rivalität zwischen den Deutschen und den Franzosen zu beenden, damit sie solidarisch miteinander leben? Charles de Gaulle und Konrad Adenauer haben damals als gemeinsames Ziel erklärt, „dass die Verstärkung der Zusammenarbeit ... einen unerlässlichen Schritt auf dem Wege zu dem vereinigten Europa bedeutet“. Die deutsch-französische Freundschaft also muss, seither jedenfalls, immer wieder neu erkämpft und erarbeitet werden. Sie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie lebt, wenn sie immerfort aufgebaut wird, getragen aus der Mitte unserer Gesellschaften, immerzu angetrieben von einem stetigen politischen Willen. Tausende von Städtepartnerschaften, von Gemeinden, die zueinander gefunden haben, bilden das feste Netzwerk, das wir miteinander geschaffen haben. Dieses Netzwerk der Zivilgesellschaften, der Menschen, die zusammenarbeiten, ist unzerreißbar. Durch die Instrumente, die entwickelt worden sind, haben in diesen 40 Jahren beispielsweise 6,5 Millionen Jugendliche an Austauschprogrammen teilgenommen. Es sind noch immer jährlich - Frau Merkel hat das Thema angesprochen 140 000 Jugendliche, die einander begegnen. Daran wollen wir festhalten, denn das ist das feste Fundament, auf dem wir eine gemeinsame Zukunft aufbauen wollen. ({0}) Der Élysée-Vertrag war ein Meilenstein, der Deutschland einen Weg in die Europäisierung gezeigt hat. Vielleicht darf ich an die Kolleginnen und Kollegen von der Union gewandt sagen - gerade als Deutscher, gerade als Mitglied der Sozialdemokratie, die gegründet worden ist, um die Enge des nationalen Denkens zu überwinden -: Es war ein Glücksfall, dass Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, die beide aus einem eher konservativen Lager stammten, zueinander gefunden haben. Es war auch für die Sozialdemokratie ein glücklicher Umstand, weil damit die Zeit jahrzehntelanger Gegnerschaft und Rivalität zwischen Deutschen und Franzosen beendet werden konnte. Denken Sie an 1871, als es im Reichstag Stimmen - wenn auch nur wenige Stimmen, darunter die von August Bebel - gegen den deutsch-französischen Krieg gegeben hat. Das ist die Tradition, die die deutsche und französische Sozialdemokratie miteinander verbindet: Es gab den Versuch, den Ersten Weltkrieg abzuwenden. Ich nenne ferner die Demonstrationen, an denen Léon Blum und August Bebel in Basel teilgenommen hatten, um die schreckliche Tragödie, die dann über Europa hereinbrach, zu verhindern. Denken Sie an 1925, als im Heidelberger Programm der deutschen Sozialdemokratie gefordert wurde - dies ist vielleicht ein verstaubter Begriff -: Wir wollen die Vereinigten Staaten von Europa schaffen. Was wäre geschehen, wenn dieser Grundgedanke der Sozialdemokratie damals Realität geworden wäre? Vielleicht wären diesem Kontinent die zwei Weltkriege, die ihn so zerrissen haben und die ihn haben so bluten lassen, erspart geblieben. Dieser Grundgedanke liegt in der Tradition der Sozialdemokratie beider Länder und der europäischen Sozialdemokratie. ({1}) Nicht vergessen werden darf: Der Élysée-Vertrag hat schießlich die Möglichkeit geschaffen, dass Willy Brandt seine Ostpolitik machen konnte. Nur aufgrund der festen Verwurzelung Deutschlands in der atlantischen Allianz und in der Europäischen Gemeinschaft sowie der festen Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland war es möglich, dass es eine nach Osten gewandte Politik der Verständigung gab. Die Politik Willy Brandts war nur möglich - er hat das immer wieder betont -, weil es diese feste Bindung Deutschlands an Europa gegeben hat. Darin liegt der unendlich große historische Gewinn, den Konrad Adenauer und Charles de Gaulle für unsere beiden Nationen geschaffen haben. Auf diesem Fundament stehen wir und auf diesem Fundament werden wir weiterarbeiten, damit - dieses Ziel wurde schon im Élysée-Vertrag formuliert - Europa ein Kontinent des Friedens wird. Diesem Ziel bleiben wir verpflichtet und daran werden wir weiterarbeiten. ({2}) Natürlich hat es - auch das ist heute schon angesprochen worden - in der Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland immer wieder Verstimmungen gegeben. Es gab auch manches Missverständnis. Vielleicht sollten wir überlegen - Kollege Gerhardt hat es vorhin schon angesprochen -, woher ein Teil dieser Missverständnisse kommt. Ein Teil rührt sicherlich daher, dass wir unterschiedliche historische Erfahrungen haben. Frankreich achtet aus seiner großen Tradition der Aufklärung und der bürgerlichen Revolution heraus natürlich darauf, dass der Zentralstaat das wichtigste Element der nationalen Identität ist und bleibt. In Deutschland ist der föderale Gedanke der wichtigste Bestandteil unseres Selbstverständnisses. Die Föderation der Länder ist für uns unverzichtbar - aus ihr ziehen wir unsere Kraft - und wird uns noch für lange Zeit prägen. Aber gerade weil es diese Unterschiedlichkeiten zwischen föderalem Staat und Nationalstaat, zwischen lokaler Autonomie und zentraler Politik gibt, besteht für das gemeinsame Duo Deutschland und Frankreich die große Chance, den Kerngedanken der europäischen Integration lebendig zu halten. Den Grund dafür nennt „Le Monde“ heute in einem wunderbaren Artikel über den Vorschlag von Jaques Chirac und Gerhard Schröder: dass wir immer dazu verdammt sind, den Zwang des Kompromisses selbst zu erarbeiten, aus den Logiken, die auseinander fallen - oder, wie Verfassungsrechtler sagen, aus der doppelten Legitimation Europas -, eben aus dem Nationalen und aus dem Regionalen heraus die Kraft zu schöpfen. Dieses Spannungsverhältnis müssen wir produktiv nutzen und in den gemeinsamen Prozess der Integration einbringen. Das ist das, was Europa lebendig macht und lebendig hält. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass die große Weltmacht unserer Zeit, die Vereinigten Staaten von Amerika, nicht ganz versteht, was die europäische Integration bedeutet. Dieses Spannungsverhältnis aus den Regionen und aus den Kommunen ist für die USA zwar etwas ganz Natürliches. Daraus leben die USA auch selbst. Doch die Vielfalt in den Sprachen und in den unterschiedlichen Konzepten verwirrt manche innerhalb der USA. Es ist ja auch schwierig, damit umzugehen. Nur sage ich: Wenn diese unterschiedlichen kulturellen, sprachlichen und politischen Herkünfte zueinander finden, wenn sie miteinander Kooperationsbedingungen eingehen, machen sie die wirkliche Modernität unserer Zeit aus - nicht die Hegemonialmacht, sondern das, was uns in Europa miteinander verbindet, dass wir aufeinander hören, dass wir jeden, auch den Kleinen, ernst nehmen und ihm Respekt zollen. Diese unterschiedlichen Herkünfte müssen wir zusammenbinden und zusammenführen, um aus dieser produktiven Spannung heraus ein neues, integratives Europa zu schaffen. Das ist die wirkliche Kraft Europas, das ist die Modernität. Ich finde, in diesem Punkt hat das europäische Modell eine Faszination, die stärker ist als die Faszination der USA. Ich darf das so, jedenfalls für mich, sagen. ({3}) Ein letzter Aspekt, Herr Präsident, gerade auch aus Ihrer eigenen Vergangenheit und Geschichte heraus: Dieses faszinierende Modell hat gerade im Osten Europas gewirkt. Gestern noch hat mir Kazimierz Wojcicky, einer der großen Denker der polnischen Dissidenz, gesagt: In den 70er-Jahren war dieses sich integrierende Europa, der Westen, das große faszinierende Modell dafür, wie man sich selber entwickeln kann, wie man eine zivile Gesellschaft vorantreiben und von unten entwickeln kann, um zu versuchen, dass Polen, Deutschland und Frankreich der Kern werden für ein sich vereinigendes Europa. Ein Gedanke, der 30 Jahre alt ist, der auf dem Élysée-Vertrag fußen kann und der im nächsten Jahr Realität wird. Ein wunderbarer Gedanke von Charles de Gaulle und von Konrad Adenauer ist Realität geworden und heute kann Europa sagen: Das hat uns vorangebracht und daran werden wir festhalten. ({4}) Gert Weisskirchen ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Ministerpräsidenten des Saarlandes, Peter Müller. Peter Müller, Ministerpräsident ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Élysée-Vertrag markierte weder den Beginn noch den Endpunkt des Prozesses der deutsch-französischen Aussöhnung. Aber er war sicherlich eine wichtige Wegmarke in diesem Prozess, denn er besiegelte nach Jahrhunderten blutiger Auseinandersetzungen den Frieden zwischen Deutschen und Franzosen. Der Begriff der Erbfeindschaft, der sehr lange die Debatte geprägt hat, wurde damit überwunden. Es ist gerade einmal 70 Jahre her, dass ein vermeintlicher Philosoph wie Joseph Sieberger formulierte: Deutsche und Franzosen markieren die jeweils äußerste Möglichkeit des Menschseins. Vor diesem Hintergrund war der Élysée-Vertrag, den Konrad Adenauer und Charles de Gaulle unterschrieben haben, ein nicht unumstrittener Pakt, der darauf abzielte, menschliche Begegnungen zu ermöglichen, der aber vor allem darauf abzielte, in der Zukunft konstruktiv und schöpferisch zusammenzuarbeiten. Er wurde Grundlage der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Aus ihm hat sich die Rolle Deutschlands und Frankreichs als Motor der europäischen Integration entwickelt, ganz im Sinne Robert Schumans, der gesagt hat: „L’Europe ne sera possible sans la France et sans l‘Allemagne.“ Gerade für ein Land wie dasjenige, aus dem ich komme, das Saarland, das zwischen den Nationalstaaten Deutschland und Frankreich immer wieder hin- und hergeworfen wurde, ist der Élysée-Vertrag ein Vertrag von unschätzbarem historischen Wert. Deshalb ist es richtig, den 40. Jahrestag zu feiern. Deshalb ist es richtig, dass sich die nationalen Parlamente zu dieser Gelegenheit zu einer gemeinsamen Sitzung treffen. Deshalb ist es kleinkariert, darüber ausschließlich unter Kostengesichtspunkten zu diskutieren. Das wird der historischen Bedeutung des Vertrages nicht gerecht. ({1}) Ich freue mich, hier im Bundestag als Bevollmächtigter der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Vertrages einige Sätze sagen zu dürfen. Diese Institution wurde vor dem Hintergrund der Kulturhoheit der Länder und vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass in diesen Beziehungen gerade die Kultur eine besondere Rolle spielt, in den Vertrag mit aufgenommen. Jean Monnet soll auf die Frage, was er mit Blick auf den Prozess der europäischen Integration anders machen würde, wenn er noch einmal von vorne anfangen könnte, gesagt haben: Wenn ich noch einmal von vorne anfangen könnte, dann würde ich mit der Kultur beginnen. Das zeigt die Bedeutung der kulturellen Beziehungen, die Bedeutung der interkulturellen Kommunikation. Nur wenn diese funktioniert, kann auch Freundschaft funktionieren. Deshalb ist dies ein ganz wichtiger und zentraler Punkt. ({2}) Die vermeintliche Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich war nur vor dem Hintergrund der kulturellen Selbstüberschätzung der jeweils eigenen Nation und vor dem Hintergrund der kulturellen Abwertung der jeweils anderen möglich. Die deutsche Kultur und die „civilisation française“ galten im Selbstverständnis beider Nationen lange als unüberbrückbare Gegensätze. Die Überwindung dieser Gegensätze, die kulturelle Aussöhnung und die kulturelle Wertschätzung des jeweils anderen, war die Basis für den Prozess der gesamten Aussöhnung. Nur auf der Basis einer Kultur der Toleranz, nur auf der Basis gemeinsamer Werte und nur auf der Basis des klaren Bekenntnisses zu Freiheit, Demokratie und universellen Menschenrechten konnte die deutsch-französische Aussöhnung gedeihen. Nur auf dieser Basis und auf der Grundlage des Élysée-Vertrages kann auch in Zukunft weitergearbeitet werden. Ich glaube, dass gerade in diesem Zusammenhang auch in der heutigen Zeit der ÉlyséeVertrag Bedeutung und Aktualität hat. ({3}) Der Prozess der Aussöhnung ist sicher eine der größten historischen Leistungen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Für unsere junge Generation, für meinen 15-jährigen Sohn, ist die Aussöhnung keine große Errungenschaft mehr. Für ihn ist die deutsch-französische Freundschaft eine Selbstverständlichkeit geworden. Deshalb brauchen wir, wenn wir junge Menschen für dieses Projekt gewinnen wollen, eine weitergehende, eine zusätzliche Begründung. Diese weitergehende Begründung sollte das klare Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie und Menschenrechten, das Eintreten für Frieden und Toleranz überall auf der Welt sein. Auf dieser Grundlage können wir die Rolle eines Motors in Bezug auf die europäische Integration wahrnehmen. Mit diesem Inhalt können wir junge Menschen für die Mitarbeit am Projekt der deutschfranzösischen Freundschaft gewinnen. Es gilt, genau an diesem Punkt anzusetzen. Die deutsch-französische Freundschaft kann nur gedeihen, wenn sie nicht nur in den Institutionen und in den Köpfen der Politiker vorhanden ist, sondern auch in den Herzen der Menschen verinnerlicht ist, insbesondere in den Herzen der jungen Menschen. ({4}) In der kulturellen Zusammenarbeit sind in den 40 Jahren des Bestehens des Élysée-Vertrages viele Fortschritte erzielt worden. Wir sollten diese Fortschritte nicht kleinreden. Das Deutsch-Französische Jugendwerk ist angesprochen worden. Fast 7 Millionen Menschen sind sich in den zurückliegenden Jahren begegnet. Ich kenne keine vergleichbare Institution, die so viele junge Menschen zueinander bringt, wie das Deutsch-Französische Jugendwerk es tut. ({5}) Wir sollten aber auch zur Kenntnis nehmen, dass sich - ich habe dies selbst erfahren - junge Deutsche und junge Franzosen auch bei Zusammenkünften unter dem Dach des Deutsch-Französischen Jugendwerkes miteinander weder deutsch noch französisch unterhalten, sondern in Englisch. ({6}) Dies ist ein Punkt, der uns nachdenklich machen muss. Es ist bereits angesprochen worden: Die deutschen Sprachkenntnisse in Frankreich gehen ebenso wie die französischen Sprachkenntnisse in Deutschland zurück. Ich glaube, wir dürfen uns damit nicht abfinden. Wir sollten uns vor falschen Frontstellungen hüten. Es ist klar, dass Englisch in der heutigen Zeit unverzichtbar geworden ist. Deshalb heißt die Herausforderung auch nicht Bilingualität, sondern Trilingualität. Vielleicht sollten wir einmal darüber nachdenken, ob nicht zumindest in den grenznahen Regionen die Vermittlung der Sprache des Nachbarn, die Vermittlung der französischen Sprache nicht nur eine Aufgabe für unsere Schulen ist, sondern ob wir nicht verstärkt damit beginnen müssen, diese Vermittlung bereits in die vorschulischen Einrichtungen zu tragen. Die Erfahrungen, die wir mit Kindergärten machen, in denen französische Muttersprachlerinnen und Muttersprachler beschäftigt sind, sind höchst ermutigend. Das ist vielleicht ein Weg, um das Zurückgehen der Französischkenntnisse in Deutschland abzubremsen. ({7}) Es gibt viele andere Bereiche, in denen wir vorangekommen sind: mehr als 100 Schulen mit bilingualen Klassenzügen, 23 Gymnasien, die das Abi-Bac, also das deutsche und das französische Abitur gleichzeitig, anbieten, das deutsch-französische Sekretariat, das jedes Jahr etwa 4 000 junge Auszubildende zusammenführt, die deutschfranzösische Hochschule mit Sitz in Saarbrücken, ein Erfolgsmodell mit mittlerweile mehr als 100 angeschlossenen Universitäten und mit inzwischen mehr als 4 000 Studenten. Wenn aber die Aufgabe Deutschlands und Frankreichs gerade darin besteht, weiterhin Motor der europäischen Entwicklung und der Erweiterung der Europäischen Union zu sein, dann sollten wir darüber nachdenken, diese Hochschule weiterzuentwickeln, uns zwar nicht nur mit Blick auf binationale, sondern mit Blick auf trinationale, auf multinationale Studiengänge, dann sollten wir sie zu einer europäischen Universität weiterentwickeln, die aus dem binationalen Erfolgsmodell ein europäisches Erfolgsmodell macht. ({8}) Neben allem, was erreicht wurde, gibt es eine Vielzahl von Dingen, die gerade auch im Bereich des kulturellen Austauschs noch bewältigt werden müssen: Noch immer ist es nicht vollständig gelungen, Diplome und Abschlüsse gegenseitig anzuerkennen. Die Zusammenarbeit der Museen und der Rundfunkanstalten kann ausgebaut werden. Über die Reichweite eines Senders wie Arte sollte man noch einmal nachdenken. Grenzüberschreitende Kulturereignisse finden immer noch in relativ begrenztem Umfang statt. Die Problematik der Sprachkenntnisse habe ich bereits angesprochen. Ich glaube deshalb, dass der Élysée-Vertrag ein Vertrag ist, der vieles bewirkt hat, auf den wir mit Freude blicken können, der uns aber unverändert auch nach 40 Jahren noch viele Aufgaben für die Zukunft stellt. Auf der Grundlage des Élysée-Vertrages haben Deutsche und Franzosen zur Versöhnung gefunden und sind zum Motor der europäischen Einigung geworden. Der Élysée-Vertrag ist eine Erfolgsgeschichte, aber die letzten Kapitel sind noch lange nicht geschrieben. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass auch die noch folgenden Kapitel zu erfolgreichen Kapiteln werden. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Griefahn, SPD-Fraktion.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Freundschaft - das kennen Sie aus Ihren eigenen Beziehungen - ist eben keine Selbstverständlichkeit, sondern muss immer wieder erarbeitet werden. Anderenfalls hätten wir auch innerdeutsch nicht so viele Trennungen. Das gilt auch dann, wenn der Titel einer jüngst erschienenen Studie unsere Länder als „Ganz normale Freunde“ beschreibt, und das nach Jahrhunderten von Krieg und Feindschaft. Mich berührt immer noch, wenn der Konzertchor von Canteleu - das ist eine kleine Stadt in der Normandie - mit seinem Partner aus Buchholz in der Nordheide ein gemeinsames Konzertwochenende organisiert, bei dem die Mitglieder der Chöre in den Familien wohnen, gemeinsame Aufführungen machen und gemeinsam feiern. Das wäre vor einem halben Jahrhundert so nicht möglich gewesen und zeigt mir, dass der Dialog nach Kriegen und emotionale Nähe möglich sind. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiges Gut. ({0}) Aber auch die normalste Freundschaft braucht hin und wieder einen Anstoß, um lebendig zu bleiben. Wir hatten öfter Stillstand zu verzeichnen, das Erstarren in Ritualen war und ist manchmal eine Gefahr. Auch das haben wir erlebt. Vor allen Dingen in den 90er-Jahren schien es, als ob die Fähigkeiten und der Wille zu gemeinsamen europapolitischen Projekten abnähmen. Das hatte viele Ursachen, eines aber wurde deutlich: Erst ein Befreiungsschlag wie die Kompromisse von Brüssel Ende Oktober 2002 und - zu meinem Leidwesen als Sozialdemokratin - das Ende der Kohabitation in Frankreich machten es möglich, neue Impulse für unsere Beziehungen zu geben. Ministerpräsident ({1}) Peter Müller Deutlich wird immer wieder: Nur gemeinsam können wir europäische Integrationspolitik vorantreiben, keiner kommt am anderen vorbei. Das zeigt auch das Ergebnis des jüngsten Gespräches zwischen Kanzler Schröder und Präsident Chirac. Allerdings werden in einer erweiterten Union auch zusätzliche Führungsqualitäten gefragt sein. Die Fliehkräfte in der EU werden größer und das bedeutet, dass wir eine zusätzliche Verantwortung haben. Die Rolle unserer beiden Länder in Europa wird wachsen und wir müssen wieder Motor sein, damit Europa durch die zusätzlichen Mitglieder stärker und nicht schwächer wird. Kurzfristig werden alle Blicke auf die Ausgestaltung und Umsetzung der Arbeit im Verfassungskonvent gerichtet sein. Neben den Fragen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik sowie der europäischen Innenpolitik ist ein Thema, das heute bereits mehrfach angesprochen wurde, zentral: Wir müssen die Besonderheit der kulturellen Vielfalt in Europa erhalten und gleichzeitig die Stärke der Bürger nutzen. Jean Monnet hat gesagt - Herr Müller hat es ausgeführt -, dass er, wenn er das Projekt der europäischen Einigung noch einmal anfangen müsste, mit der Kultur beginnen würde. In der 1443Tat: Die Kultur schien schwach beleuchtet zu sein, aber gerade hier liegt das größte und interessanteste Potenzial der europäischen Einigung, wie es schon der Kollege Weisskirchen gesagt hat. Das Potenzial ist groß, weil es so viele unterschiedliche Kulturen bereits in einem Land gibt, wodurch schon sichtbar wird, wie wichtig der Erhalt und die Förderung der kulturellen Vielfalt in Europa ist. Interessant und schwierig ist es deshalb, weil Fragen der Sprache, der Musik, der Literatur, des Films und damit auch des Selbstverständnisses herausragende Ansatzpunkte für produktive Auseinandersetzungen und kreative Lösungen bieten, auf die andere Regionen der Welt schauen, um davon lernen zu können. Das ist gerade für unsere Arbeit in Krisenregionen wichtig. ({2}) Bei der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ländern geht es eben nicht um die Schaffung einer europäischen Kultur, im Gegenteil: Die Beteiligung der Bürger und besonders der unterschiedlichen Gruppen in Europa ist ein Schlüssel für die Akzeptanz und damit auch für den Erfolg von Europa. Solange es heißt, das passiert da hinten in Brüssel, werden wir keinen Erfolg haben. Wir müssen alle beteiligen. Alle Vorschläge zu vertieften bilateralen Beziehungen auf parlamentarischer und Regierungsebene, so sehr ich sie begrüße und fördere - ich glaube, dass wir in der letzten Legislaturperiode viele gemeinsame Schritte, auch mit der Assemblée Nationale, gemacht haben -, reichen nicht weit, wenn wir nicht darauf achten, das ungeheure Interesse, das die Gesellschaften aneinander haben, wirklich zu fördern und weiterzuentwickeln. Es gibt die Städtepartnerschaften, in deren Rahmen sich Jugendgruppen, Sportler und Ratsmitglieder treffen und eine andere Kultur und andere Denkstrukturen direkt kennen lernen. Das Deutsch-Französische Jugendwerk - es wurde schon mehrfach erwähnt - tauscht immer noch wie im Jahr 1963 200 000 Jugendliche jährlich aus; ihm stehen aber heute, nach Kaufkraft berechnet, nur noch 34 Prozent der Mittel, die es 1963 hatte, zur Verfügung. Daran müssen wir sicherlich etwas ändern, wenn wir von dem wegkommen wollen, was eine Studie des DeutschFranzösischen Jugendwerkes vor zwei Tagen veröffentlicht hat: Obwohl die Jugendlichen die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich für gut halten, besteht das Wissen übereinander immer noch aus Stereotypen, wenn sie nicht an einem Austausch teilgenommen haben. Diese Stereotypen lauten „Baguette“, „Eiffelturm“ und „Käse“ auf deutscher Seite und „Zweiter Weltkrieg“, „deutsche Automarken“ und „deutsche Küche“ auf französischer Seite. Dies kann eigentlich nicht das Ergebnis sein, wenn man so eng miteinander arbeitet. Hier müssen wir nacharbeiten. Die Sprache ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir brauchen die Umsetzung des Vorschlages von Jack Lang, der gesagt hat: Wir müssen in Europa zu einem System kommen, dass das Abitur mit mindestens zwei Sprachen abgeschlossen wird, dass wir also dadurch unsere Vielfalt erhalten, dass jeder neben Englisch noch eine zweite Sprache lernt. Dies muss vorangebracht werden. ({3}) Ich finde es interessant, dass die Zusammenarbeit der Deutschen und der Franzosen auch auf dem kulturellen Gebiet wirklich Früchte zeigt. Vor zwei oder drei Jahren wurde die Diskussion darüber, ob man zum Beispiel eine Quote für Film oder Musik einführen sollte, noch als vollkommen absurd abgetan. Heute wird dies von Musikproduzenten gefordert, weil sie das französische Modell gesehen haben. Sie haben zum Beispiel auch gesehen, dass in der WTO und in den GATS-Verhandlungen die kulturelle Vielfalt in Europa leidet, wenn wir solche Dinge in Europa nicht unterstützen. Hier gibt es viele Annäherungen und viel Zusammenarbeit. Wir haben viel zu tun, wir haben viele gemeinsame Projekte. Ich werde in diesem Sinne persönlich für die deutsch-französischen Beziehungen weiterarbeiten und mich dafür einsetzen, dass die Stärke von Europa, die kulturelle Diversität, erhalten bleibt. Ich freue mich auch auf die Begegnung der Parlamente in Versailles. Dies wäre noch vor einem halben Jahrhundert undenkbar gewesen. Wenn, dann gab es Regierungskontakte, aber keine Parlamentskontakte. Diese sind etwas wirklich Neues. Das sollten wir auch als positiv beschreiben. ({4}) Unsere Möglichkeiten, neue Kontakte mit Parlamentariern auf der ganzen Welt zu knüpfen, werden gestärkt, wenn wir sehen, dass die Parlamente auf deutsch-französischer Ebene zusammenarbeiten. Ich denke, es liegen noch große Aufgaben vor uns. Wir müssen weiter zusammenarbeiten. Dazu sind auch der persönliche Kontakt und die emotionale Nähe notwendig. Wir sollten dies auch als solches positiv begreifen. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns in diesem Hause einig: Die Einigung Europas bleibt auch in Zukunft auf das strategische Bündnis zwischen Deutschland und Frankreich angewiesen. Seit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die Einheitliche Europäische Akte, das Schengen-Abkommen, die Wirtschafts- und Währungsunion gab es keinen Integrationsfortschritt in der Europäischen Union, dem nicht eine gemeinsame deutsch-französische Initiative vorausgegangen wäre. Umgekehrt zeigten die Verhandlungen des Europäischen Rates in Berlin und Nizza, dass Europa nicht vorankommen kann, wenn Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland manifest werden. ({0}) Wir begrüßen es daher ausdrücklich, dass bei den Feierlichkeiten am 22. Januar 2003 der Aufbau einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion angestoßen werden soll. Im „Spiegel“ dieser Woche war zu lesen: In ihrer „Gemeinsamen Erklärung zum 40. Jahrestag des Élysée-Vertrags“ kündigen Bundeskanzler Gerhard Schröder ... und Staatspräsident Jacques Chirac an, „in internationalen Gremien, einschließlich des Sicherheitsrats, gemeinsame Standpunkte zu vertreten und abgestimmte Strategien gegenüber Drittländern festzulegen“. Dies wäre ein echter Fortschritt. Wir unterstützen dies mit Nachdruck. ({1}) Am Dienstag hat nun der Bundeskanzler auf einer Pressekonferenz betont, der deutsche Vertreter im UN-Sicherheitsrat habe gegen ein militärisches Vorgehen gegen den Irak zu stimmen, sollte es dort zu einer Abstimmung kommen. Deshalb, Herr Bundeskanzler, fragen wir Sie: Haben Sie dies so mit der französischen Seite abgestimmt oder nicht? Das müssen Sie spätestens am 22. Januar 2003 klipp und klar sagen. Aus Paris hören wir nämlich ganz andere Töne. Sie können nicht dort feierliche Erklärungen abgeben, an die Sie sich zu Hause nicht halten. In Fragen der Sicherheitspolitik kann sich keiner auf unsere französischen Freunde berufen, der einen Sonderweg propagiert. Ganz im Gegenteil: Wenn es um den Schutz der eigenen Bevölkerung geht - um nichts anderes geht es ganz aktuell in der Irakkrise -, haben alle französischen Präsidenten, egal welcher Couleur, den engen Schulterschluss mit Amerika gesucht. Ich erinnere an die Rede von Präsident Mitterrand zum 20. Jahrestag des Élysée-Vertrages am 20. Januar 1983. In Deutschland tobte der Streit um den NATO-Doppelbeschluss, die Linke warnte vor amerikanischen Abenteuern und forderte einen deutschen Sonderweg. Wie sich Geschichte doch wiederholt! ({2}) In dieser Situation hat der große französische Sozialist Mitterrand vor dem Deutschen Bundestag seinen Genossen die Leviten gelesen. ({3}) Er forderte die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen, ohne die wir den Kalten Krieg nicht überwunden hätten. Er sprach sich vehement gegen die Abkopplung des europäischen Kontinents von den Vereinigten Staaten aus und für eine enge Solidarität unter den NATO-Staaten. ({4}) Ich will eine Passage aus dieser Rede Mitterrands zitieren: Es gibt kein vorbestimmtes Schicksal, und unsere Völker wissen sehr wohl, dass sie heute im Frieden das Wertvollste aller Güter haben, nachdem ihre Eltern, ihre Großeltern so häufig an der Front, in den Schützengräben, im Widerstand, in den Lagern, in den Befreiungsarmeen davon geträumt haben, dass Frankreich und Deutschland sich irgendwann einmal gegenseitig achten und zu einem guten Einvernehmen finden würden ... Leider - Herr Bundesaußenminister, gerade nach Ihren Einlassungen heute möchte ich Ihnen besonders folgenden Satz Mitterrands in Erinnerung rufen hilft es nicht, den Frieden wie eine unsichtbare Macht anzurufen. Man muss den Frieden aufbauen, jeden Tag mit eigenen Kräften neu bauen, festigen, absichern. ({5}) Dazu braucht man einen kühlen Kopf und einen festen Willen. Der Aufbau einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion ist eine zentrale Aufgabe der deutschfranzösischen Zusammenarbeit. Dazu brauchen wir keine Stimmungsmache, sondern in der Tat einen kühlen Kopf und einen festen Willen. ({6}) Unsere engen und freundschaftlichen Beziehungen sind Aufgabe der Politik. Sie sind aber, so hat es bereits de Gaulle 1962 bei seinem Deutschlandbesuch formuliert, insbesondere das Werk der Jugend. Es ist von den Vorrednern auf die großartige Erfolgsbilanz des DeutschFranzösischen Jugendwerkes hingewiesen worden, an dem bisher knapp 7 Millionen Jugendliche teilgenommen haben; Herr Müller, Sie haben das gerade erwähnt. Wir wünschen uns, dass in Zukunft nicht weniger, sondern noch mehr junge Menschen Kultur und Sprache des Partnerlandes kennen lernen. Es ist zu Recht gesagt worden: Während die wirtschaftlichen Verflechtungen immer enger werden, sinkt die Zahl derer, die jeweils die Sprache des Partnerlandes lernen. Ich will mit Nachdruck unterstreichen, was der Ministerpräsident des Saarlandes über die Wichtigkeit des Erlernens der Partnersprache als Drittsprache bereits in der Vorschule, in der Schule, aber auch später in der Hochschule gesagt hat. Herr Müller, lassen Sie mich aber ergänzen: Angesichts der engen wirtschaftlichen Verbindungen zwischen unseren Ländern ist es auch für Auszubildende und deren spätere berufliche Zukunft entscheidend, dass sie einen Teil ihrer dualen Ausbildung im Partnerland absolvieren können. ({7}) Es ist meiner Ansicht nach auch überfällig, bei der Erarbeitung von Lehrplänen und Schulbüchern zusammenzuarbeiten, ganz besonders bei der Erarbeitung von Schulbüchern für den Geschichtsunterricht. Meine Damen und Herren, die Erklärung des 79. deutsch-französischen Gipfels in Schwerin verweist völlig zu Recht auf die Bedeutung der Medien für die Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit. Wir haben seit Jahren den deutsch-französischen Fernsehsender Arte. Ich habe überhaupt nichts gegen Arte. Allerdings handelt es sich dabei nur um ein Programm für ein elitäres, intellektuelles Publikum. Wir brauchen deutsch-französische Medien und wir brauchen ein deutsch-französisches Fernsehprogramm für ein Massenpublikum, ({8}) in dem Nachrichtensendungen, die Übertragung gesellschaftlicher und sportlicher Ereignisse, regionale Schwerpunktprogramme und vor allem auch Unterhaltungsprogramme und Quiz-Shows, in denen die jeweilige Lebensart und das kollektive gegenseitige Wissen zu einem Gemeinsamen werden, vorgesehen sind. Herr Müller, ich freue mich, dass Sie als Vertreter des Bundesrates heute an dieser Debatte über die deutschfranzösischen Beziehungen teilnehmen. Wir müssen in den Grenzregionen der betroffenen Bundesländer noch viel stärker zusammenarbeiten und zu modellhaften, starken binationalen Räumen kommen. Wir müssen gemeinsame Verwaltungseinheiten aufbauen, eine gemeinsame Raumordnung und Verkehrsinfrastruktur schaffen und soziale Einrichtungen sowie Sportvereine grenzüberschreitend anlegen. Vor 40 Jahren hat man sich im Élysée-Vertrag damals kaum für möglich gehaltene ehrgeizige Ziele gesetzt, die für uns heute selbstverständlich sind. Warum sollten wir dann nicht auch über grenzüberschreitende politische Einheiten nachdenken und für die Europawahlen zum Beispiel grenzüberschreitende Wahlkreise errichten und binationale Wahllisten erstellen? ({9}) Frankreich bleibt für Deutschland und Deutschland bleibt für Frankreich der größte Nachbar, der wichtigste Handelspartner und der wichtigste Partner innerhalb der Europäischen Union. Die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland ist die längste zwischen zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Beide haben keine Alternative zu dieser strategischen Partnerschaft. Für uns sind die privilegierten Beziehungen zu Frankreich durch die Wiedervereinigung Deutschlands und die Einigung Europas noch existenzieller geworden. In vielen bilateralen Fragen haben wir noch große Aufgaben vor uns. Wir können unser Verhältnis noch viel enger ausgestalten. Eine aktive deutsche Außenpolitik ist nur in einer funktionsfähigen Europäischen Union denkbar. Die internationale Handlungsfähigkeit Europas ist auf das enge und gleichberechtigte Zusammenwirken Deutschlands mit Frankreich angewiesen. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/ Die Grünen und der FDP auf Drucksache 15/295 zum Entwurf einer gemeinsamen Erklärung der Französischen Nationalversammlung und des Deutschen Bundestages zur interparlamentarischen Zusammenarbeit. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. ({0}) Tagesordnungspunkte 3 c und 3 d: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/200 und 15/296 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Allerdings sollen diese Vorlagen - abweichend von den in der Tagesordnung gemachten Angaben - federführend vom Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresbericht 2002 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit - Drucksache 14/9950 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) Innenausschuss Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister Manfred Stolpe.

Manfred Stolpe (Minister:in)

Politiker ID: 11005306

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit ist noch kein Thema, das Begeisterungsstürme auslösen kann; denn harte Fakten fallen zuerst ins Auge: Die jüngsten Arbeitsmarktzahlen weisen im Osten eine Durchschnittsarbeitslosigkeit von 18,4 Prozent gegenüber 8,2 Prozent im Westen aus. Die Abwanderung vor allem junger Leute dauert unvermindert an. Der Wohnungsleerstand beträgt an einigen Standorten mehr als 20 Prozent und er wächst weiter. Diese Liste ließe sich fortsetzen. Doch ist auch wahr: Die Wertschöpfung von Unternehmen, speziell im verarbeitenden Gewerbe, ist seit 1996 um 30 Prozent gestiegen. Die Zuwachsraten liegen über denen Westdeutschlands. Große Unternehmen, zum Beispiel der Autoindustrie und der chemischen Industrie, haben mit strategischem Blick in Ostdeutschland erheblich investiert. Im Wissenschafts- und Forschungsbereich sind neue und zukunftssichere Arbeitsplätze entstanden. Die ostdeutschen Hochschulen und Institute haben weltweit einen guten Ruf. Wirtschaftliche Zentren entwickeln sich in erfreulicher Weise. Alle Länder weisen mittlerweile starke industrielle Kerne auf. Die Zahl der Existenzgründungen, zum Beispiel in Sachsen und Brandenburg, liegt, auf die Bevölkerung bezogen, über der in Baden-Württemberg und NordrheinWestfalen. Die Angebote der Kinderbetreuung sind im Osten des Landes hervorragend. ({0}) Der Kampf gegen die Flut und ihre Folgen hat einmal mehr die Tatkraft, die Belastbarkeit und die Leistungsfähigkeit der Menschen in Ostdeutschland gezeigt. ({1}) Es ist eindeutig: Zwölf Jahre deutsch-deutscher Solidarität und tatkräftiger Aufbauarbeit in den neuen Bundesländern haben einen gewaltigen Fortschritt gebracht. Weitaus mehr als die Hälfte des Rückstandes ist überwunden. Die Menschen wollen die Angleichung der Lebensverhältnisse durch eigene Leistung mitgestalten. ({2}) Wir im Osten Deutschlands wollen nicht mehr länger Bremsklotz der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern aktive Mitgestalter eines starken und zukunftssicheren Deutschlands sein. Das muss unser gemeinsames Interesse sein. Noch müssen wir Überbrückungs- und Stützungsmaßnahmen insbesondere für den Arbeitsmarkt leisten. So werden wir bis auf weiteres Arbeitsförderungsmaßnahmen, Strukturanpassungsmaßnahmen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanzieren müssen; denn vorerst ist die Zahl der Arbeitswilligen weitaus größer als die Zahl der Arbeitsplätze. ({3}) Das gilt auch für Maßnahmen, die die Bundesregierung zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ergriffen hat. In den neuen Ländern sind im Jahr 2001 rund 165 000 junge Menschen unter 25 Jahren durch gesetzliche Maßnahmen gefördert worden. Entsprechend groß muss unser Engagement auch sein, wenn es um die Schaffung von Ausbildungsplätzen geht. Trotz aller Anstrengungen sind wir weiterhin auf öffentlich finanzierte Ausbildungsplätze angewiesen. Im Jahr 2002 waren es fast 37 000. Auch das JUMP-Plus-Programm ist gegenwärtig unverzichtbar. All das reicht jedoch nicht. Zusätzlich werden wir uns auch alle schon beschlossenen Maßnahmen vornehmen müssen, die uns gerade in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik helfen können. Unsere Konzeption heißt, die wichtigsten Hebel entschlossen und beharrlich ansetzen. Diese Hebel kennen wir. Wir müssen sie nicht erst ratlos suchen. Mit der Umsetzung des Hartz-Konzeptes und der Neuordnung des Arbeitsmarktes haben wir einen wichtigen Schritt getan, ({4}) zum Beispiel werden „Kapital für Arbeit“ sowie steuerliche Erleichterungen für Existenzgründungen und Kleinstunternehmen auch im Osten Arbeitsplätze schaffen. ({5}) Ein wichtiger Hebel wird die Mittelstandsoffensive sein; denn der Mittelstand ist das Herz der ostdeutschen Wirtschaft. Die Mittelstandsoffensive schreibt die bisherigen Hilfen fest. Neue Fördermaßnahmen kommen hinzu. Wir wollen, dass sich der Mittelstand im industriellen Dienstleistungsbereich noch besser entwickelt. ({6}) Die Gründung einer Mittelstandsbank wird für ganz neue Impulse bei Existenzgründern und investitionsbereiten mittelständischen Unternehmen sorgen. Die Mittelstandsbank wird Förderwege vereinfachen und beschleunigen. Sie wird Möglichkeiten für die Stärkung des Eigenkapitals der Unternehmen schaffen. Sie wird zusätzliche Beratungsaktivitäten entwickeln und Unternehmen unterstützen, die bisher Schwierigkeiten hatten, eine Hausbank zu finden. Wir wollen, dass sich der Mittelstand in den neuen Ländern vor Ort entwickelt. ({7}) Aber natürlich wollen wir auch Unternehmensansiedlungen fördern. Denn Ostdeutschland ist ein guter Investitionsstandort. ({8}) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Die zentrale europäische Lage, die immer besser werdende Infrastruktur, qualifizierte Arbeitskräfte, in der Regel schnelle Verwaltungsverfahren und nicht zuletzt gute Investitionsförderung sollten wir weltweit stärker herausstellen. Wie man das macht, zeigt das Industrial Investment Council, IIC. Dieses Promotionsbüro, dessen Name im Ausland bekannter ist als hierzulande, wurde von Bund und Ländern, Wirtschaftsvertretern und der Deutschen Ausgleichsbank initiiert. Es dient der Investitionswerbung. Seit 1997 hat das IIC 88 Projekte mit einem Investitionsvolumen von 4,1 Milliarden Euro und rund 19 000 Arbeitsplätzen angeworben. Es soll zunächst bis Ende 2004 weitergeführt werden. Der Kollege Clement und ich werben dafür, dass eine Weiterführung auch über diesen Termin hinaus möglich wird. Ich nutze die Gelegenheit, um auch Sie um Ihre Unterstützung zu bitten. ({9}) Die Bundesregierung wird die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die neuen Länder durch eine Vielzahl von Maßnahmen weiter verbessern. Dazu zählt auch der Neu- und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, eines wichtigen Hebels der Standortentwicklung. Entsprechend haben wir die Investitionspolitik in diesem Bereich von Beginn an gestaltet. In den Jahren 1999 bis 2002 entfielen mehr als die Hälfte der Mittel des Investitionsprogramms auf die neuen Länder. So konnten dort 18 Milliarden Euro in die Verkehrswege investiert werden. Damit haben wir wichtige Projekte wie den Bau der Ostseeautobahn A 20 vorfristig gesichert. Auch in Zukunft werden die neuen Länder bei den Verkehrsinvestitionen besondere Berücksichtigung finden. ({10}) Sie sollen einen Schwerpunkt im neuen Verkehrswegeplan bilden. Dabei wird es auch um den Neubau wichtiger Verkehrsachsen gehen. Ich nenne in diesem Zusammenhang die A 14 zwischen Magdeburg und Schwerin, die A 72 zwischen Leipzig und Chemnitz und die Hochgeschwindigkeitsstrecke der Bahn von Nürnberg über Erfurt nach Berlin. ({11}) Lassen Sie mich an dieser Stelle einfügen: So, wie der Aufbau Ost eine Aufgabe im Interesse von ganz Deutschland ist, werde ich mich auch für den Ausbau West einsetzen. Denn zum Beispiel sind überlastete und verstopfte Verkehrswege in westlichen Entwicklungszentren auch eine Behinderung wirtschaftlicher Entwicklung für das gesamte Land. In den neuen Bundesländern gibt es noch erhebliche Rückstände in der kommunalen Infrastruktur. Straßen und öffentliche Gebäude bedürfen dringend der Instandsetzung. Da gibt es noch viel Arbeit und die Attraktivität der Städte könnte erheblich verbessert werden. Doch die Finanzkraft der Kommunen ist gering. Oft sind sie nicht in der Lage, die Kofinanzierung für Bundes- oder Landesprogramme aufzubringen. Ich setze hierbei dringend auf die Kommission Kommunalfinanzen, damit hier Auswege aufgezeigt werden können. Wenn es aber keine schnellen Möglichkeiten zur Verbesserung der Finanzlage gibt, sollten Krediterleichterungen ernsthaft geprüft werden. Das ist jedoch bekanntlich nicht nur Aufgabe des Bundes. Lassen Sie es mich noch einmal betonen: In der Verbesserung der kommunalen Infrastruktur liegt ein sehr wichtiger Hebel für den Aufbau Ost. ({12}) Wir haben uns vorgenommen, noch in diesem Jahr Bauen in Deutschland schneller und einfacher zu machen. Auch der Vorschlag, für ostdeutsche Länder entwicklungshemmende Regelungen auszusetzen, sollte ernsthaft geprüft werden. Ich jedenfalls meine nicht, dass dieser Weg verfassungsrechtlich unmöglich ist. Meine Damen und Herren, Sie kennen das Programm „Stadtumbau Ost“. Dabei geht es um die Schaffung attraktiver Wohn- und Lebensräume, die von Bürgern und potenziellen Investoren gerne angenommen werden. Das ist eine direkte Standortpolitik für die neuen Länder, die wir massiv weiterführen werden. Die dabei gewonnen Erfahrungen fließen jetzt auch in das Pilotprogramm „West“ ein. Meine Damen und Herren, wir wissen uns in der Pflicht, gleichwertige Lebensbedingungen in Ost und West zu schaffen. Das ist in vielen Bereichen gelungen. Auch die schrittweise Tarifangleichung hat in diesem Zusammenhang große Bedeutung. Es muss Schluss sein mit teilungsbedingten Benachteiligungen. ({13}) Heute wissen wir, dass die innere Einheit bedeutet, nicht Ost und West gleichzumachen, sondern gemeinsam nach Perspektiven für unser Land zu suchen. In den 90er-Jahren überließen Ostdeutsche die großen gesellschaftlichen Diskussionen über die Rolle Deutschlands in Europa und der Welt oft dem Westen. In Ostdeutschland kümmerte man sich „um die wirklichen Probleme des Lebens“, wie es genannt wurde, nämlich Arbeitslosigkeit und Wirtschaft. Diese Sicht hat sich geändert; denn die Menschen in den neuen Ländern haben sich verändert. Die Ostdeutschen haben begriffen, dass sie ein Teil dieses Landes sind und Mitverantwortung tragen: ob es um das gesellschaftliche Zusammenleben in unserem Land geht - ich denke dabei zum Beispiel an das Selbstbewusstsein unserer berufstätigen Frauen - oder ob es um die großen Fragen von Globalisierung, Terrorismusbekämpfung oder Erhaltung des Friedens geht. Die Menschen in Ostdeutschland mischen sich ein und werden gehört. Dabei ist es selbstverständlich, dass auch dort die Meinungen auseinander gehen und sich mitunter überraschende Allianzen quer durch Deutschland bilden. Bei anderen Fragen verläuft es entgegengesetzt. Haben wir im Osten vor zehn Jahren zum Beispiel in der Bildungspolitik noch darüber gestritten, welche Westmodelle am besten zu übernehmen seien, gibt es heute ein neues Selbstbewusstsein, das durch die Suche nach gemeinsamen Perspektiven gekennzeichnet ist. ({14}) Ostdeutschland ist auf einem guten Wege. Ich hoffe, dass die große Herausforderung, aber auch die Chance der Osterweiterung der Europäischen Union diesen Weg verstärken und nicht gefährden wird. Große Wettbewerber wachsen heran. Georg Milbradt sprach unlängst von einer möglichen Sandwichsituation des Ostens zwischen den alten Ländern und den künftigen EU-Mitgliedern. Es wird in der Tat darauf ankommen, dass wir im Osten besser, effektiver und schneller sind. Innovation, Flexibilität und Qualität müssen Merkmale ostdeutscher Wirtschaft und Gesellschaft sein. ({15}) Ich wünsche mir, dass wir im Osten viele gute Beispiele für das ganze Deutschland hervorbringen können. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich nutze die Gelegenheit, Ihnen allen für Ihre Unterstützung auf unserem schwierigen, aber hoffnungsvollen Weg zu danken, und bitte um Ihre weitere konstruktive und kritische Mitarbeit an dem großen Projekt deutsche Einheit. Ich danke Ihnen. ({16})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der nächste Redner ist der Kollege Arnold Vaatz, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das letzte Jahr war ein besonderes Jahr. Es ist sicherlich gerechtfertigt, von diesem Pult aus darauf einzugehen, wie es im Übrigen auch der Bericht tut. Es gab eine Naturkatastrophe, wie wir sie zuvor noch nicht erlebt hatten. Dabei haben wir nicht nur festgestellt, dass die Flüsse Unmengen von Wasser und Schutt gebracht haben, sondern auch eine Botschaft vernommen: Das vereinigte Deutschland hat eine neue Belastungsprobe erfolgreich überstanden; im Gegensatz zu dem, was diejenigen meinen, die immer von der Mauer in den Köpfen reden, ist Deutschland zusammengewachsen. ({0}) Das ist ein Grund zur Freude. Es ist mir als sächsischem Abgeordneten ein Bedürfnis, mich von diesem Pult aus für das Ausmaß der Hilfe zu bedanken, das uns zuteil geworden ist: 73 000 Einsatzkräfte von Bundeswehr, Technischem Hilfswerk, Bundesgrenzschutz, freiwilligen Feuerwehren usw. sowie unzählige freiwillige Helfer standen uns zur Seite. Ferner gab es eine Lawine der Hilfsbereitschaft der deutschen Öffentlichkeit. Auch viele Abgeordnete aus diesem Hause haben sich um die Organisation von Hilfsgütern verdient gemacht. Auch die Medien haben dazu beigetragen. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz besonders herzlich dafür bedanken. ({1}) - Des Weiteren hat die Bundesregierung - das ist richtig an dieser Stelle mit den betroffenen Landesregierungen erfolgreich zusammengearbeitet und im Wesentlichen, wie ich meine, richtig gehandelt. Auch dafür kann man Dank sagen. Herr Bundeskanzler, Sie haben uns sogar mit den Worten Mut gemacht, es werde niemandem nach der Flut schlechter gehen. Ich weiß nicht genau, ob Sie das in Kenntnis der wirklichen Sachlage gesagt haben; denn mit der Flut ist für viele Menschen weit mehr verschwunden als nur Hab und Gut. Aber wahlkampfwirksam war diese Aussage. Das muss man Ihnen sicherlich zugestehen. Etliche Zeitungen haben damals insinuiert, dass es die Flut gewesen sei, die diese Regierung gerettet habe. ({2}) Das ist ein Stück weit auch mein Eindruck. Es war in diesen Tagen leider so, dass die Frage nach der wirtschaftlichen und sozialen Zukunft Ostdeutschlands hinter den schrecklichen Flutbildern für kurze Zeit zurückgetreten ist. Wenn dies nicht geschehen wäre, dann wäre deutlich geworden, dass Sie auf diese Frage damals - das gilt auch heute - keine vernünftige und akzeptable Antwort gehabt haben. ({3}) Das zeigt auch Ihr neuerlicher Bericht zum Stand der deutschen Einheit. Wir warten eigentlich seit 1998, also seitdem Sie regieren, auf eine in sich geschlossene Gesamtstrategie, die eine Perspektive eröffnet, wie und in welcher Zeit der Aufholprozess in Ostdeutschland vorangehen kann. Dieser Aufholprozess könnte ein Argument dafür liefern, dass sich Firmen wieder in Ostdeutschland ansiedeln und dass junge Menschen in Ostdeutschland bleiben. Aber auf eine solche Gesamtstrategie warten wir bis heute vergeblich. Das zeigt auch wieder der neue Bericht. ({4}) - Herr Stiegler, lassen Sie Ihre Kommentare. Hören Sie erst einmal zu! Bei Ihnen in Bayern stehen die Dinge glücklicherweise noch etwas besser. ({5}) Wenn Sie aber so weitermachen, dann sieht es bei Ihnen in Bayern bald genauso aus wie bei uns. ({6}) Das versichere ich Ihnen. Herr Stiegler, alles, was in Berlin vergeigt wird, können die Bundesländer nicht herausreißen. ({7}) Diesmal liegen uns zum Glück zwei Schriftstücke vor, über die wir diskutieren können. Das eine ist der Bericht zum Stand der deutschen Einheit und das andere ist das Sachverständigengutachten, das ungefähr zur selben Zeit erschienen ist. Ein Unterschied ist festzustellen: Der Bericht der Bundesregierung erschien am 9. September 2002, also vor den Bundestagswahlen, und das Sachverständigengutachten erschien am 13. Dezember 2002, also nach den Wahlen. Wenn man den Bericht und das Gutachten vergleicht, dann fühlt man sich sehr stark an Herrn Gabriel erinnert, der gesagt hat: Die Wahrheit vor der Wahl - das hätten Sie wohl gern. Das Sachverständigengutachten, das sich sehr eingehend mit Ostdeutschland beschäftigt und das in der nüchternen Sprache der Wissenschaftler geschrieben ist, ist eigentlich - das stellt man nur fest, wenn man es genau liest - eine vernichtende Kritik erstens an der Diagnosefähigkeit der Bundesregierung, zweitens an der Fähigkeit, Bilanz zu ziehen, und drittens an der Fähigkeit, Rezepte zu entwerfen. Der Kernsatz des Sachverständigengutachtens lautet: Der Konvergenzprozess der neuen Bundesländer ist nach einem schnellen Fortschreiten in den ersten Jahren der Wiedervereinigung deutlich ins Stocken geraten. Deutlicher kann man Ihnen nicht sagen, was Chefsache Aufbau Ost für Ostdeutschland wirklich bedeutet hat. ({8}) Die Sachverständigen fordern als Therapie ein spezielles Wachstumsprogramm für Ostdeutschland mit teilweise einschneidenden Konsequenzen. Im Übrigen ist das derselbe Tenor, der zwar schon seit vielen Jahren von unserer Seite dieses Hauses vorgetragen wird, den Sie aber Jahr für Jahr nicht befolgen. Entsprechend nimmt das auch schon die Presse auf. Vor kurzer Zeit war in einer deutschen Illustrierten vorn eine Bildgeschichte abgedruckt - ich weiß nicht, ob Sie es gesehen haben -, bei der Herr Minister Stolpe Herrn Ministerpräsidenten Steinbrück offenbar etwas Lustiges erzählt. Unter der Rubrik „Prominenten in den Mund geschoben“ schrieb der „Stern“ dazu wie folgt: Herr Stolpe sagt Herrn Steinbrück, er habe dem Bundeskanzler erzählt, der Aufbau Ost komme in diesem Jahr zum Laufen. Daraufhin lacht Herr Steinbrück schallend. - Wenn diese Worte es wert sind, Prominenten in den Mund geschoben zu werden, wenn sie ein Witz sind, wenn die Leute in der Tat darüber lachen müssen, dann bedeutet das: Die Öffentlichkeit weiß schon sehr genau, was wirklich hinter den schönfärberischen Berichten steht, die, seit Sie an der Regierung sind, regelmäßig zum Stand der deutschen Einheit erstattet werden. Diese Berichte beinhalten seit 1999 etwa dasselbe, nur mit einem Unterschied: Sie sind etwas unehrlicher geworden. 1999 hieß es im Bericht zum Stand der deutschen Einheit noch, dass sich der gesamtwirtschaftliche Aufholprozess der neuen Länder vorerst nicht mehr fortgesetzt habe. Weiter haben Sie damals geschrieben: In den letzten beiden Jahren hat sich die Schere in der wirtschaftlichen Leistung zwischen neuen und alten Ländern sogar wieder leicht geöffnet. Im Bericht 2000 hatte die Bundesregierung festgestellt - ich muss auch das wieder zitieren, obwohl es eigentlich bekannt ist, weil es mir darauf ankommt, diesen beschönigenden Sprachgebrauch aufzuzeigen -: 1998 erreichte das gesamtwirtschaftliche Wachstum in den neuen Ländern 2,0 Prozent und lag damit erneut leicht unter der westdeutschen Wachstumsrate von 2,8 Prozent. Damit ist das Wachstum im Osten um fast 30 Prozent niedriger gewesen als das im Westen. So weit hatte sich die Schere mittlerweile geöffnet. Es spricht Bände, dass das für diese Regierung kein Alarmsignal war. Im Jahr 2000 betrug das ostdeutsche Wirtschaftswachstum nur noch 1,1 Prozent gegenüber 3,3 Prozent im Westen. Im Jahr 2001 sind wir schließlich dahin gekommen, dass die ostdeutsche Wirtschaft geschrumpft ist: ein Wachstum von minus 0,1 Prozent. Herr Stolpe, Sie haben vorhin davon gesprochen, die Menschen in Ostdeutschland wollten nicht mehr länger Bremsklotz der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland sein. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Die Menschen in Ostdeutschland waren niemals der Bremsklotz der Entwicklung. ({9}) Wenn es einen Bremsklotz der Entwicklung gab, dann war er in Berlin, im Bundeskanzleramt und in den Ministerien. Das zu der Bilanz der letzten vier Jahre Ihrer Regierung. ({10}) Während der ersten acht Jahre der deutschen Wiedervereinigung war dieser Prozess einmal anders. Da wies die Tendenz in die andere Richtung. Es ist klar, dass es nur ziemlich quälend und ziemlich langsam ging, aber es war zumindest mit einer Perspektive versehen. Nicht hinzunehmen ist, wenn sich diese Tendenz jetzt umkehrt, wenn alles darauf hinweist, dass wir es in Zukunft mit einer größeren Lücke zwischen Ost und West zu tun haben werden als heute. Das werden die Menschen mit gutem Grund nicht hinnehmen. ({11}) Kommen wir nun zu einigen Detailproblemen. Die Sachverständigen erklären richtigerweise, das Hauptproblem in Ostdeutschland sei die unbefriedigende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Genauso empfindet es auch die absolute Mehrzahl der Ostdeutschen. In Ihrem Bericht müssen Sie offenbaren, dass sich die Anzahl der Arbeitsplätze in Ostdeutschland durch Ihre Politik in den vergangenen vier Jahren nicht erhöht, sondern reduziert hat. Das können Sie auf der Seite 64 Ihres Berichts nachlesen. Die Beschäftigung in Ostdeutschland ist während Ihrer gesamten Regierungszeit zurückgegangen - im ersten Jahr ungefähr um 40 000, im zweiten Jahr um 110 000 und im dritten Jahr um 180 000. Das ist kein kontinuierlicher, sondern ein progressiver Rückgang. Pro Jahr ist der Rückgang der Arbeitsplätze gegenüber dem Vorjahr um 70 000 gestiegen. Stellen Sie sich diese Kurve bitte einmal weiter für die nächsten zehn Jahre vor! Dann werden wir den Punkt erreichen, dass es in Ostdeutschland überhaupt keine Arbeitsplätze mehr gibt. Das ist die Situation; sie lässt sich mit diesem Rückgang beschreiben. ({12}) - Das ist kein Grund, Witze zu reißen. Herr Stiegler, Sie können zwar Witze reißen; aber an dieser Stelle sind sie ausnahmsweise einmal am falschen Platz. ({13}) Dennoch schreiben Sie in diesem Bericht, dass sich die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern seit 1998 kaum geändert hat. Das ist, wie man diesem Bericht entnehmen kann, wieder nur die halbe Wahrheit und demzufolge eine halbe Lüge. Die Arbeitslosenquote spiegelt das Dilemma der Erwerbslosigkeit in Ostdeutschland schon längst nicht mehr adäquat wider. Das ist das Problem. Die Arbeitslosenquote schnellt nur deshalb nicht in die Höhe, weil altersbedingt inzwischen mehr Personen den Arbeitsmarkt verlassen als in ihn eintreten, weil die Regierung die Abwanderung gerade von jungen Leuten aus Ostdeutschland fördert - wir haben vorhin vom JUMP-Programm gehört; die Abwanderung der jungen Leute ist nämlich auch eine Folge dieses Programms ({14}) und weil Langzeitarbeitslose dann aus der Statistik fallen - das ist besonders zynisch -, wenn sie nach der Teilnahme an einem Programm der aktiven Arbeitsmarktpolitik erneut arbeitslos werden. Das ist die Realität. Sie müssen berücksichtigen, was gerade der letzte Fakt bedeutet. Er ist deshalb so schwerwiegend, weil unter den Arbeitslosen in Ostdeutschland die Anzahl der Langzeitarbeitslosen - Personen, die länger als ein Jahr ohne Arbeit waren - gegenüber 1996 um fast ein Viertel gestiegen ist. Was haben Sie denn eigentlich getan - wir haben das lange Zeit beobachten können -, um diesen Zustand zu verbessern? Ich muss Ihnen sagen: leider nahezu gar nichts. Eine Reihe von Gesetzen, die Sie in diesem Hause mit Ihrer Mehrheit gegen uns verabschiedet haben, wirken bis heute asymmetrisch zulasten Ostdeutschlands. Im Sachverständigengutachten liest man, dass die Arbeitslosigkeit unter den Geringqualifizierten in Ostdeutschland von 31 Prozent in 1991 auf 50 Prozent in 2001 hochgeschnellt ist. In Ihrem Bericht halten Sie es nicht einmal für nötig, wenigstens die Frage zu untersuchen, was Ihr 630-Mark-Gesetz in Bezug auf die Arbeitsplätze für Geringqualifizierte in Ostdeutschland bewirkt hat. Eine solche Untersuchung kann man doch einmal in Auftrag geben! Sie haben es nicht gemacht, weil Sie ganz genau wissen, dass dieses Gesetz besonders den Arbeitsmarkt in Ostdeutschland erheblich beschädigt hat. Auch auf die Frage, wie sich Ihr Scheinselbstständigengesetz und Ihr Betriebsverfassungsgesetz auf den Arbeitsmarkt in Ostdeutschland ausgewirkt haben, findet man in Ihrem Bericht keinerlei Antwort. Wo, wenn nicht in einem solchen Bericht, wollen Sie denn darauf überhaupt einmal eingehen? Ich kann daraus nur schlussfolgern, dass Sie darauf deshalb nicht eingehen, weil Sie etwas zu verbergen haben und weil Sie nicht zugeben wollen, dass diese Gesetzesinitiativen kontraproduktiv waren, dass sie die Perspektiven in Ostdeutschland weiter beschädigt und den Menschen nicht geholfen haben. ({15}) Die Disproportionen zwischen Ost und West haben sich in den letzten Jahren verschärft. Die Anzahl der Existenzgründungen in Ostdeutschland ist schon seit 1999 rückläufig. Im Jahr 2001 nahm die Anzahl der Neugründungen im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 9 Prozent ab, während der Rückgang im Westen nur bei 5 Prozent lag. Die Anzahl der Unternehmensneugründungen im Handel ging im gleichen Zeitraum um 12 Prozent zurück, während der Rückgang im Westen bei 5 Prozent lag. Ganz besonders schlimm ist die Entwicklung bei den EDVDienstleistungen in Ostdeutschland. Dort ist die Quote von 2000 zu 2001 um 18 Prozent gefallen. Das sind die traurigen Realitäten der Wirtschaft in Ostdeutschland. ({16}) Gerade was die Wachstumsbranchen angeht, auf die wir gesetzt haben - sie sind die einzige Hoffnung dafür, dass es tatsächlich zu einer Annäherung kommen kann -, ist das besonders traurig. Die Sachverständigen weisen der Infrastruktur nach wie vor eine Schlüsselstellung im Hinblick auf die Wachstumserwartung in Ostdeutschland zu. In der Tat ist es Ihnen im Infrastrukturbereich an vielen Stellen gelungen, wenigstens die langfristigen Ansätze beizubehalten, die bereits die Vorgängerregierung geschaffen hatte. Das verdient Respekt. Nur: Eine wirkliche Weiterentwicklung des Infrastrukturprogrammes für Ostdeutschland ist leider nicht zu sehen. Im Osten werden zwar technologische Neuerungen eingeführt, aber eben in Schanghai und nicht in Halle oder Leipzig. ({17}) - Das ist doch so. Während noch an den überregionalen Netzen gearbeitet wird, kristallisieren sich inzwischen ganz andere Knackpunkte bei der Infrastrukturentwicklung heraus, die Sie in Ihrem Bericht nicht genügend zur Kenntnis nehmen. Das betrifft, wie es die Sachverständigen Ihnen in ihrem Gutachten sehr deutlich sagen, das gesamte Thema der öffentlichen Infrastruktur der Kommunen. Das sieht folgendermaßen aus: Die Kommunen sind mittlerweile durch Zahlungsverpflichtungen, die sie eigentlich nicht mehr bewältigen können, durch Kosten, die auf sie zukommen, und jetzt mittlerweile auch noch durch Tarifabschlüsse, die sie nicht tragen können, an einem Punkt angelangt, wo sie ihre investiven Haushaltsanteile immer weiter zurückfahren müssen; dabei ist absehbar, dass sie nicht einmal mehr mit den Reparaturen der bestehenden Straßennetze nachkommen werden. Das ist die Realität. Sie sind in Ihrem Bericht gegenüber diesem Umstand leider völlig blind. Meine Damen und Herren, ich könnte noch sehr viel zu etlichen Einzelthemen sagen, ({18}) zum Beispiel auch dazu, dass Ihnen überhaupt nicht aufgefallen ist, dass die Themenbereiche Ärztemangel und Wegbrechen der hausärztlichen Versorgung in Ihrem Bericht überhaupt nicht erwähnt werden. Die Ärzte schlagen Alarm und beklagen, dass Sie dafür überhaupt keine Konzepte haben. Ich möchte mit einer kurzen Bemerkung schließen. Hier geht es nicht allein um das Thema Ostdeutschland. Vielmehr müssen wir im Kopf haben, dass wir keine für Ostdeutschland günstige Entwicklung erwarten können, solange in der gesamtdeutschen Wirtschaftspolitik grundsätzlich falsche Weichen gestellt werden. ({19}) Hier bitte ich Sie, sich anzuschauen, was Ihnen die Sachverständigen ins Stammbuch geschrieben haben, nämlich dass Sie endlich einmal Nägel mit Köpfen machen sollten. Wenn Ihre Vorschläge sinnvoll sind, werden Sie die Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion bekommen. ({20}) Aber machen Sie sich eines klar: Unser Land Deutschland - ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin - ist nicht mehr so stark, dass es eine beliebige Zeit lang eine völlig unfähige und neben der Mütze stehende Regierung vertragen könnte. Ostdeutschland ist noch nicht stark genug und war noch nie stark genug, als dass es ihm, wenn es dem gesamten Deutschland schlecht geht, nicht noch schlechter ginge. ({21}) Bedenken Sie, dass die Dinge, die in Westdeutschland negativ zu Buche schlagen, in Ostdeutschland eine noch viel verheerendere und möglicherweise sogar irreparable Wirkung hinterlassen. ({22})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind in den zwölf Jahren deutsche Einheit, über die wir Bilanz ziehen, trotz aller Kritik, trotz aller Unkenrufe und trotz aller Sorgen und noch bestehenden Probleme ({0}) einen Teil davon hat der Herr Minister Stolpe hier vorgestellt - ein gutes Stück vorangekommen. Mich stört nicht, Arnold Vaatz, die schwierige Problemlage, in der wir uns befinden, sondern deren schizophrene Darstellung. Es geht nicht, wenn man in Sachsen ein Loblied auf den Aufbau Ost singt und die Aufbauleistungen des eigenen Landes darstellt, aber die Rede hier in Berlin damit nicht übereinstimmt. Das müsste sie aber, denn der Aufbau Ost ist die Summe der Leistungen der einzelnen Länder. ({1}) Wenn man dauernd von einer Erfolgsgeschichte in Sachsen hört, die mit Biedenkopf-Milbradt überschrieben wird, dann muss ein gutes Stück dieses Erfolges auch Berlin gutgeschrieben werden. Im Übrigen wissen das die Bürger dieses Landes selbst; die Fortschritte sind zu sehen. Wir haben nicht nur architektonische Schätze aus dem Grau geborgen, sondern man kann von Görlitz bis Usedom sehen, wie die Leute ihre Regionen aufbauen, den Eigenwert ihrer Regionen wieder entdecken und beim Standortwettbewerb mithalten. Es hat in Ostdeutschland ein einzigartiger Strukturwandel stattgefunden. Ökonomen nennen das Transformationsprozess. Wenn Sie das mit dem Steinkohlebergbau in Westdeutschland vergleichen - der ehemalige Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, unser Wirtschaftsminister Clement, zitiert dieses Beispiel häufig -: Dort hat vor 30 Jahren der Strukturwandel begonnen und er hält noch immer an. ({2}) Darüber kann man kritisch diskutieren. Aber in Ostdeutschland hat man in den Bereichen Braunkohle, Textil und Chemie nur ein Zehntel der Zeit gehabt. Dort ist in der Industriegeschichte Europas ein wirklich einzigartiger Wandlungsprozess erfolgt. Möglicherweise aber haben die Lasten und die Probleme die Leistungen so verdeckt, dass den Ostdeutschen nicht richtig bewusst werden konnte, was sie Großes vollbracht haben. Das muss hier deutlich gesagt werden. ({3}) Arnold Vaatz, Rot-Grün ist nicht durch die Flut gerettet worden. Mir tat es manchmal Leid, wie rettungslos verloren der Spitzenkandidat der Union im Osten war. ({4}) Dieses Bild haben wir doch gesehen: ein taumelnder Mann, der nach zwölf Jahren deutscher Einheit den Osten entdeckt und sich vor Ort ein eigenes Bild macht. Ich habe immer gescherzt, dass er, wenn er bei Günther Jauch eine Ostfrage für 4 000 Euro gestellt bekäme, dann schon seine drei Joker brauchen würde, einschließlich des Telefonjokers Lothar Späth. ({5}) Das war der Stand der Union zwölf Jahre nach der deutschen Einheit: Sondergebiet Ost, neue Ostzone, obwohl man acht Jahre Zeit hatte, sich darauf einzustellen. Viele unserer Probleme hängen doch auch mit einem falschen Leitbild der Anfangsphase zusammen. ({6}) Das Leitbild hieß: blühende Landschaften. Aber eine florierende Wirtschaft kommt nicht von allein, sondern muss gezielt angesteuert werden, nicht nach dem Gießkannenprinzip, um dieses floristische Bild zu bedienen. Wir haben die Förderstrategien neu ausgerichtet. Das Konzept, das hier angemahnt worden ist, gibt es ja. Das Ziel der Bundesregierung ist, Nachhaltigkeit auch beim Aufbau Ost zu erreichen. Deswegen steht Solidarität bei uns nicht nur auf dem Papier. Die Flutkatastrophe mag als eindrucksvolles Beispiel dafür dienen, wie aus der Einheit Deutschlands die Einheit der Deutschen geworden ist, wie das Zusammengehörigkeitsgefühl gewachsen ist, wie Menschen in Notsituationen geholfen haben. Aber man muss dann bitte schön auch erwähnen, dass wir in der letzten Legislaturperiode den Solidarpakt II geschaffen haben, der den ostdeutschen Ländern und Kommunen Finanzsicherheit und Planungssicherheit bis 2020 bringt. Es werden über 150 Milliarden Euro fließen. Das ist kein Pappenstiel. ({7}) Manche westdeutsche Kommune würde sich freuen, wenn sie für zwei Jahrzehnte Planungssicherheit hätte. Auch das muss erwähnt werden; denn das war ein finanzieller Kraftakt. Wir haben uns im Unterschied zu der Pauschalförderung, die es vorher gab, vor allen Dingen auf die industriellen Wachstumskerne konzentriert. Wir versuchen, durch Innovation, zum Beispiel durch die erfolgreichen Inno-Regio-Programme und das Pro-Inno-Programm, Wachstumsregionen zu fördern. Diese gibt es in Ostdeutschland mittlerweile, beispielsweise das Biocon Valley in Mecklenburg-Vorpommern, wo sich Biotechnikunternehmen mit Medizintechnikunternehmen zusammengetan haben, oder die Buna- und Leuna-Olefin-Region, wo wir den Wiederaufbau, die Revitalisierung der Chemieindustrie erleben. Ein weiteres Beispiel ist der Solarverbund Ost mit dem Kompetenzzentrum in Freiberg. Das alles sind hervorragende Beispiele für die Entwicklung des Ostens. Der wirkliche Umbauprozess wird verdeckt, wenn man sich nur die nackten Wachstumszahlen anschaut. Die Schrumpfprozesse in der Bauindustrie sind notwendig. Sie werden jetzt etwas gestreckt, weil die Bauindustrie durch die nach der Flutkatastrophe nötige Wiederaufbauleistung Aufträge bekommen hat. Dennoch haben wir in der Bauindustrie Überkapazitäten, die schrumpfen müssen. Zweistellige Wachstumsraten zu verzeichnen sind hingegen in den Zukunftsbranchen, in der Medizintechnik, Biotechnik, Elektronik, Elektrotechnik. Wir haben nach der Deindustrialisierung Ostdeutschlands eine Reindustrialisierung mit zweistelligen Wachstumsraten. Das ist der eigentliche Aufholprozess. Natürlich brauchen wir - das betone ich - eine Offensive gegen die Arbeitslosigkeit. Der Aufbau Ost kommt voran, aber er kann nicht alle gebrauchen, nicht alle erreichen. Es sind nicht alle eingebunden. ({8}) Wenn man über die Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen spricht, gehört zur Wahrheit aber auch, dass die Erwerbsquote in Ostdeutschland genauso hoch ist wie in Westdeutschland und dass die Arbeitslosigkeit Ostdeutschlands auch etwas mit der Übergangsphase zu tun hat. Wenn aus einer Arbeitsgesellschaft plötzlich eine postindustrielle Gesellschaft wird, dann sind solche hohen Arbeitslosenquoten nicht so schnell zu reduzieren. Dennoch dürfen wir nicht nur an der technischen, sondern wir müssen auch an der sozialen Infrastruktur arbeiten. Wir müssen bessere Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder und Jugendliche schaffen. Von wissenschaftlichen Einrichtungen, Kultur- und Freizeitangeboten hängt es ab, ob die Regionen so attraktiv sind, dass die jungen Leute dort bleiben oder hinkommen. Deshalb haben wir den Wettbewerb „Jugend kommt und bleibt“ ausgerufen, für den immerhin 2,5 Millionen Euro im Einzelplan 17 enthalten sind. Damit machen wir bestimmte Regionen für Jugendliche attraktiv, steigern ihren Wert und stärken das Bindungsgefühl. Wir werden die Chancen der EU-Osterweiterung nutzen. ({9}) - 2004. Sie wissen doch auch, dass die EU-Osterweiterung 2004 stattfindet. ({10}) - Auch für die Grenzregionen gibt es spezielle Programme. Sie wissen, dass es dort eine höhere Investitionszulage gibt. ({11}) Werner Schulz ({12}) Werner Schulz ({13}) - Wahrscheinlich, weil diese Menschen Sie so schreien hören. ({14}) Auch Frau Pieper hat einen großen Anteil daran, dass die Menschen in Ostdeutschland enttäuscht sind. ({15}) - Selbstverständlich. Sie waren doch diejenige, die so groß aufgetrumpft hat. Wenn man so auf die Pauke haut, indem man sagt, man sorge in Sachsen-Anhalt demnächst für den großen Aufschwung, aber im nächsten Moment, in dem die Verantwortung übernommen werden könnte, verschwindet, dann löst das Enttäuschung aus. ({16}) Es ließe sich sicherlich noch vieles auch zu dem, was Arnold Vaatz ausgeführt hat, sagen. Ich will aber zum Schluss kommen. Es lohnt sich, dass der Bericht zum Stand der deutschen Einheit angesichts der Chancen, die sich aus der Osterweiterung ergeben, in den nächsten Jahren in der vorliegenden Form fortgesetzt wird. Ich danke Ihnen. ({17})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Pieper, FDP-Fraktion.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Argumentation zeigt sich die Schwäche der Regierungskoalition beim Aufbau Ost. Die Argumente, die Herr Werner Schulz angeführt hat, waren einfach unsachlich und nicht richtig. Ich stelle klar, dass das Engagement der FDP für den Aufbau Ost von Anfang an vorhanden gewesen ist. Wir haben zu Beginn der 90er-Jahre ein Niedrigsteuergebiet Ost eingefordert. Sie hätten diese Forderung unterstützen können. Dann wäre der Osten Deutschlands in einer ganz anderen Situation. ({0}) Aber was tun Sie? - Sie erhöhen die Steuern und Abgaben zulasten des Mittelstandes und des Handwerks. Ich zitiere Ihren Kollegen aus der SPD-Bundestagsfraktion, Stephan Hilsberg. Er kritisiert Ihre eigene Aufbau-Ost-Politik, indem er sagt, Sie hätten kein Konzept für den wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland, es herrsche tiefe Ratlosigkeit in Ihren Fraktionen und Ihre Kollegen aus dem Osten seien immer mehr frustriert, weil ihnen niemand mehr zuhöre, wenn sie die Probleme des Ostens erwähnen. Wenn Sie wirklich etwas für den Osten tun wollen, dann sollten Sie aufhören, beim Aufbau Ost, gerade bei den Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen in den neuen Ländern - Stichwort: Leibniz-Gemeinschaft -, zu kürzen. Die Hälfte der Institute liegt in den neuen Ländern. Trotz aller Versprechungen vor der Wahl kürzen Sie hier massiv. Das bringt den Osten nicht voran, sondern belastet ihn. Tun Sie etwas! Sie haben es in der Hand! Sie regieren. Wir leider noch nicht. Danke. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Schulz, Sie haben die Möglichkeit zu antworten.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Pieper, Sie haben sich mit Ihrem Zettel gut für diese Kurzintervention präpariert. Da Sie von Wahrheit gesprochen haben, will ich Ihrem Wahrheitsverständnis etwas nachhelfen. Wahr ist zum Beispiel, dass Sie 1990 mit Ihrer Forderung nach einem Niedrigsteuergebiet Ost die Unterstützung von Bündnis 90/Die Grünen gefunden haben. Wahr ist aber auch, dass Sie damals mit Graf Lambsdorff und Hans-Dietrich Genscher regiert haben. Sie hatten acht Jahre Zeit, ein Niedrigsteuergebiet Ostdeutschland einzuführen. Das ist die Wahrheit. ({0}) Wahr ist, dass Sie in Sachsen-Anhalt angetreten sind, um ähnliche Versprechungen einzulösen. Wahr ist auch, dass Sie aus diesem Land geflohen sind, ({1}) weil Sie sich nicht getraut haben, die Verantwortung für die Bildungspolitik zu übernehmen. Das ist genauso wahr. ({2}) Ich finde es haarsträubend, wie Sie auf der einen Seite diese Show „Wir helfen dem Osten“ abziehen und auf der anderen Seite die anderen kritisieren. Sie sagen: Wir müssen erst einmal an die Regierung kommen. ({3}) Wahr ist aber, dass Sie den Soli, der Ostdeutschland zugute kommt, abschaffen wollten. Das sind die Forderungen der FDP. Insofern ist es unverständlich, dass Sie ein so gutes Ergebnis in Sachsen-Anhalt erzielen konnten. Aber das wurde zwischenzeitlich ins rechte Lot gerückt. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Joachim Günther, FDP-Fraktion. ({0})

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zum wiederholten Male und richtigerweise behandeln wir heute den Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit. Und zum wiederholten Male stelle ich verblüfft fest, dass dieser Bericht überwiegend Positives darstellt, obwohl die Schere zwischen Ost und West ständig weiter auseinander geht. ({0}) Das ist etwas unfair gegenüber den Bürgern in den neuen Bundesländern, denn sie haben wesentlich schlechtere wirtschaftliche Verhältnisse und fühlen sich durch solche Berichte im Endeffekt verschaukelt. Natürlich ist es legitim, positive Beispiele herauszustellen, aber obwohl der Osten Chefsache gewesen ist, sind 18,4 Prozent Arbeitslosigkeit Realität. Die Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern und die Prognosen verheißen eindeutig eine Erhöhung der Arbeitslosigkeit im Osten Deutschlands. ({1}) Wie toll Sie das in Ihrem Bericht zum Ausdruck bringen, möchte ich mit einem Zitat beweisen: Damit hat sich auch im Jahr 2001 die seit Beginn dieser Legislaturperiode zu verzeichnende positive Entwicklung auf dem Frauenarbeitsmarkt in den neuen Ländern fortgesetzt. Die Arbeitslosenquote der Frauen verringerte sich zwischen 1998 ({2}) und 2001 ({3}) kontinuierlich und näherte sich der niedrigeren Arbeitslosenquote der Männer an. Das hört sich toll an und man denkt, die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern geht zurück. Die Zahl sagt eindeutig etwas anderes; Kollege Vaatz hat es in Jahresscheiben dargestellt. 1998 gab es im Osten 5 133 000 Beschäftigungsverhältnisse, nach drei Jahren Rot-Grün haben wir noch 4 810 000. Das heißt, die Zahl der Arbeitsplätze nimmt ständig ab. Und was tun die Menschen? Sie wandern ab. Im Jahr 2001 verließen nach Angaben des Statistischen Landesamtes Sachsen 63 000 Bürger den Freistaat; das entspricht einer mittleren Kleinstadt. Davon waren 53 Prozent jünger als 30 Jahre und 44 Prozent verfügten über Fachhochschul- oder Hochschulabschluss. Genau diese Leute brauchen wir aber in ein paar Jahren. Sie sind einfach notwendig, um die Infrastruktur im Lande aufrechtzuerhalten. ({4}) Ich empfehle Ihnen, diese Wanderungsanalyse sehr genau zu betrachten. Das sind nicht nur die bösen schwarzen Zahlen, das ist die Realität, mit der man sich auseinander setzen muss und die zum Handeln mahnt. Herr Minister, Sie haben heute das Job-AQTIV-Gesetz und das JUMP-Programm angesprochen. Bisher wurden über 1 Milliarde DM - das Programm läuft ja seit 1990 in dieses Programm eingebracht. In Ihrem Bericht heißt es, es seien Erfolge erreicht worden. Sie wollen das JUMP-Plus-Programm für den Osten auflegen. Ich frage mich, wer dieses Programm überhaupt noch in Anspruch nehmen kann, wenn die Abwanderung so weitergeht. Die Jugendlichen wandern aus Ostdeutschland ab. Wenn es nicht gelingt, Arbeitsplätze zu schaffen, werden wir in Ostdeutschland auch keine Ausbildungsplätze haben. Das ist das Grundproblem, an dem wir kranken. ({5}) Sie wissen alle sehr genau, dass ohne Wirtschaftswachstum keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir eine durchgreifende Steuerreform mit einer Senkung der Tarife und eine Reform der Sozialsysteme mit einer Reduzierung der Beitragslast. Hierzu gibt es viele Ansatzpunkte. Besonders wichtig wäre für den Osten gewesen, das Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit zurückzunehmen. Das haben Sie aber nicht getan. Wenn Sie den Willen zu Reformen haben, fangen Sie doch bei Kleinigkeiten an, die auf dem Tisch liegen. Hier kann man sofort etwas umsetzen. ({6}) Was tut die Bundesregierung stattdessen? Sie erschwert den Menschen das Leben durch steigende Steuer- und Abgabenlasten, um ihren hoch verschuldeten Haushalt zu konsolidieren. Von neuen Arbeitsplätzen weit und breit keine Spur. Ich bin der festen Überzeugung, dass für die neuen Länder für eine Übergangszeit - ich finde es gut, Herr Stolpe, dass Sie das angesprochen haben - neue Regelungen und Sonderregelungen erforderlich sind. Mit seinen „Paukenschlägen für den Osten“ hat Altkanzler Schmidt das bereits einmal eingefordert. Das war nichts anderes als ein Paragraphenbeseitigungsprogramm. Lange hat man nichts gehört. Jetzt kommt wieder so etwas wie eine Sonderförderung Ost. Die Überlegungen, die von Herrn Clement kommen, sind zu begrüßen. Dazu kann man noch mehr Vorschläge unterbreiten. Damit es im Osten vorangeht, müssen die vom Westen im Verhältnis 1 : 1 übernommenen und fest zementierten Strukturen auf dem Arbeitsmarkt aufgebrochen werden. Die starren bundeseinheitlichen Regelungen im Arbeitsund im Baurecht erschweren den Aufholprozess aller wirtschaftsschwachen Regionen. Hier ist es Zeit zu handeln. Wir als FDP treten für Experimentierklauseln in den Ländern ein. Konkret wollen wir, dass der Landesgesetzgeber im Arbeitsrecht und bei Planungsverfahren im Baurecht sehr schnell mehr und umfassende Spielräume erhält. Das kürzlich vom sächsischen Wirtschaftsminister Gillo propagierte Modellprojekt Ost entspricht im Wesentlichen Joachim Günther ({7}) den Positionen der FDP. Wir werden es dementsprechend unterstützen. Herrn Clement - auch wenn er nicht anwesend ist bitte ich, dass er die Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften und Verbänden nicht scheut. Denn wir wollen nicht gegen die Arbeitnehmer, sondern gegen die Arbeitslosigkeit kämpfen. Das muss das Grundanliegen sein. ({8}) Die Schaffung von Experimentierklauseln ermöglicht einen föderalen Wettbewerb im Sinne von Millionen Arbeitslosen. Dann kommt wieder Bewegung in den Reformstau. Dann kann sich zeigen, wo mehr Arbeitsdynamik entsteht und welcher Weg im Endeffekt erfolgversprechend ist. Dem von der Bundesregierung angekündigten Masterplan Bürokratieabbau sehen wir mit großer Spannung entgegen. Ich hoffe, dass den Ankündigungen nun auch Taten folgen. ({9}) Wie ernst es die Bundesregierung grundsätzlich mit dem Bürokratieabbau nimmt, das können wir feststellen, wenn der FDP-Antrag „Abbau von Bürokratie sofort einleiten“ im Bundestag zur Abstimmung steht. ({10}) Was mich im Zusammenhang mit der Entwicklung in den neuen Ländern besonders beschäftigt, ist die Rolle der Kommunen, die meines Erachtens bei der Bundesregierung viel zu kurz kommt. Die Kommunen haben es in ganz Deutschland schwer; das wissen wir. Aber im Osten Deutschlands stehen die meisten vor einem Kollaps. Dabei geht es nicht nur um die Orts- und Kreisstraßen, die Sie, Herr Stolpe, vorhin angesprochen haben. Grund dafür sind die ständig steigenden Soziallasten, die die Kommunen aufgrund Ihrer Arbeitsmarktpolitik zu verkraften haben, und die sinkenden Einnahmen bei der Gewerbesteuer, weil der Mittelstand vor dem Ruin steht. Die Kommunen können die Möglichkeiten der bestehenden Förderprogramme nicht mehr ausschöpfen, weil der dazu notwendige Eigenkapitalanteil nicht mehr vorhanden ist. Ein weiterer Grund ist nicht zuletzt der Tarifabschluss, der im Endeffekt eine Kündigungswelle nach sich ziehen wird. Herr Stolpe, die Bürgermeister im Osten Deutschlands wachen morgens mit Kopfschmerzen auf, weil sie nicht mehr wissen, wie sie am nächsten Tag ihre Kommunen weiterführen können. ({11}) Ich könnte viele Einzelbeispiele nennen, die den miserablen Zustand in den Kommunen verdeutlichen würden; aber dazu ist meine Redezeit zu kurz. Die Ursachen dafür sehe ich nach wie vor darin, dass es beim Bund und in den Ländern an einem konsequenten Abbau der überzogenen Bürokratie fehlt und dass eine Gemeindefinanzreform dringend erforderlich ist. Die Kommunen werden gegenwärtig kaum entlastet, aber ständig mit neuen Anforderungen konfrontiert. ({12}) Die rot-grüne Regierung hat eine Reihe von Lasten des Bundes auf die Länder und die Kommunen verschoben. Hierzu gehören zum Beispiel die von den Kommunen zu erbringende Leistung für die Strukturanpassungsmaßnahme Ost, die Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge von Arbeitslosen oder die zu erbringenden Leistungen im Rahmen des Langzeitarbeitslosenprogramms. Die damit auf die Kommunen zugekommenen Pflichtaufgaben strangulieren diese so, dass sie aufgrund ihrer leeren Kassen keinerlei andere Aufgaben mehr übernehmen können. Nicht nur Deutschland ist Schlusslicht in Europa. Auch die Kommunen werden bald als Bittsteller am Ende stehen. Trotzdem handeln Sie weiter nach dem Motto: Lieber die rote Laterne als gar kein Licht in Deutschland! ({13}) Nach vier Jahren Stillstand der Chefsache Ost und seines dafür Beauftragten setzen wir unsere Hoffnungen nun auf Sie, Herr Minister Stolpe. ({14}) Unsere konkreten Vorschläge im Hinblick auf einen Bürokratieabbau, auf Steuerreformen und Sozialprogramme liegen vor. Handeln Sie, Herr Minister, bevor Sie stolpern! Handeln Sie, bevor im Osten Deutschlands der Letzte das Licht ausmacht! ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Scheffler, SPD-Fraktion.

Siegfried Scheffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001952, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über Ihre Rede, lieber Kollege Günther, kann man meiner Meinung nach nur den Kopf schütteln. Sie wie auch Kollege Vaatz müssen doch, wenn Sie durch die neuen Länder oder in Ihre Wahlkreise fahren, reinste Bretterwände vor dem Kopf haben. Ich halte es nicht für angemessen, den Menschen in Ost und West angesichts der Aufbauleistungen in den neuen Ländern und der Solidarität klarmachen zu wollen, dass in diesen zwölf Jahren nichts passiert sei. Sie haben ja acht Jahre in Sachsen regiert, Herr Vaatz. Das, was Sie heute hier vorgetragen haben, ist dem wirklich nicht angemessen. Sie sprachen von vier Jahren Stillstand. Kollege Günther, Sie dürften teilweise Einreiseverbot bekommen, wenn Sie in Regionen von Mecklenburg-Vorpommern bis nach Sachsen kommen, die durch innovative Arbeitsplätze nicht nur zarte Blüten getrieben, sondern sich wirklich hervorragend zu Technologie- und Hightechstandorten entwickelt haben. Minister Stolpe hat vorhin die Programme Stadtumbau Ost bzw. Soziale Stadt angesprochen. Es kann doch nicht sein, dass einerseits die von Ihren Parteien gestellten Bürgermeister und Landräte und auch Ihre Länderminister mit diesen Programmen arbeiten, hierzu Wettbewerbe ausloben, tolle Veranstaltungen inszenieren und sich selber an die Brust klopfen, während andererseits Sie als Bundestagsabgeordnete hier alles in Bausch und Bogen verdammen. Das ist dieser Modernisierung und insbesondere dem Aufbauwillen und der Leistungskraft der Menschen in den neuen Ländern wirklich nicht angemessen. ({0}) Offensichtlich wollen Sie nicht sehen oder sehen Sie nicht, dass wirklich Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze entstanden sind. Es ist das Problem von Statistiken, dass ihre Zahlen nichts darüber aussagen, in welcher Weise Arbeitsplätze umgewandelt wurden. Natürlich sind Arbeitsplätze verloren gegangen, aber dies waren keine zukunftsfähigen Arbeitsplätze. Das erfahre ich nicht nur in meinem Wahlkreis hier in Berlin oder in Brandenburg; das müssen Sie doch auch feststellen. Hier sind Millionen innovativer neuer Arbeitsplätze bei kleinen und mittleren Unternehmen entstanden. Nur diese haben eine tragfähige Substanz und sind letztendlich zukunftsfähig. Hinzu kommt, dass im Technologiebereich 80 Prozent aller betrieblichen Anlagen in diesen Unternehmen neuwertig sind. Das ist doch eine enorme Leistung, die sich sowohl in den Haushalten der Kohl-Regierung, aber insbesondere seit 1998 in den Haushalten der rot-grünen Regierung niedergeschlagen hat und die Wirtschaftskraft von Hightechregionen in den neuen Ländern von Nord nach Süd widerspiegelt. Besonders erfreulich ist - das haben Sie überhaupt nicht erwähnt -, dass das verarbeitende Gewerbe hier doppelt so schnell gewachsen ist wie in den alten Bundesländern und teilweise wie in vergleichbaren Ländern in der Europäischen Union. Weiterhin ist erfreulich - auch das haben Sie nicht erwähnt -, dass die Exportquote sich dabei mehr als verdoppelt hat. ({1}) Hiervon konnten wir zu Ihren Zeiten doch nur träumen. ({2}) Sie können doch erwähnen, dass wir mittlerweile die modernste technische Infrastruktur der Welt haben und dass wir technische Infrastruktur und Technologie weltweit exportieren. ({3}) Auch das war Ihnen hier keine Silbe wert. Mehr als die Hälfte des vorhandenen Wohnungsbestandes wurde modernisiert; Verbesserungen im Wohnumfeld schlossen sich an. Das waren Maßnahmen, die die Bürgerinnen und Bürger zum Bleiben bewegt haben. Zudem hat sich die Wohneigentumsquote deutlich erhöht. Sie sollten auch einmal darauf eingehen, dass sich der wesentlich höhere Stellenwert der natürlichen Lebensgrundlagen im Abbau von Umweltbelastungen manifestiert. Auch das ist in den neuen Ländern festzustellen. Es ist bitter und wir beschönigen es überhaupt nicht - deshalb spreche ich es an -, dass aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit auch unter den Jugendlichen Wanderungsbewegungen stattgefunden haben und weiter stattfinden. Aber wenn Sie seriös analysieren, dann können Sie daneben auch ein Nord-Süd-Gefälle bzw. Wanderungsbewegungen in den alten Bundesländern und Wanderungsbewegungen von den alten in die neuen Bundesländer feststellen. Auch das gehört zur Wahrheit, die Sie darstellen müssen, wenn Sie hier redlich argumentieren wollen. Anderenfalls könnte ich Ihnen detaillierte Zahlen aus Bayern vortragen, der Region, die Sie als beispielhaft anführen. ({4}) Mehrere konkrete Ziele lassen sich aus der Problemanalyse herauskristallisieren und werden von der Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen prioritär verfolgt. Dazu gehören natürlich die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze und die Angleichung der Einkommen, die aber nur - das sage ich ganz deutlich - in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Entwicklung stattfinden kann. Dazu gehören auch der Abbau der Transferabhängigkeit - darauf ist Kollege Schulz schon eingegangen - und die Stärkung der Wirtschaftskraft sowie die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ostdeutschland an das Westniveau. Das ist ein Prozess, den wir seit Jahren fordern. Er stand natürlich schon zu Ihren Zeiten immer wieder auf der Agenda, aber mit den jetzigen Tarifabschlüssen wird Licht am Ende des Tunnels sichtbar.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Scheffler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kretschmer?

Siegfried Scheffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001952, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen. Schon mit der Bundestagswahl wurden neue, in die Zukunft gerichtete Impulse gesetzt; auch das hat Kollege Schulz bereits angesprochen. Wir setzen nicht auf kurzfristige Effekte - das haben Sie zu Ihrer Zeit mit der kurzfristigen Ausweitung der ABM getan -, uns geht es um Nachhaltigkeit. Darauf sind die Programme der Bundesregierung ausgerichtet. Wir haben ein umfassendes Programm für den Aufbau und den Ausbau der neuen Bundesländer aufgelegt. ({0}) - Sie können das zusammen durcharbeiten. ({1}) Ich komme darauf noch detailliert zu sprechen, wenn ich mich dem Bereich Bildung und Forschung zuwende, dessen Haushalt Ihr Superminister Rüttgers bis 1998 - ich will es locker formulieren - in den Keller gefahren hat. Ihnen müssten jeden Tag die Ohren klingen. Heute reden wir über innovative Arbeitsplätze und Hightechstandorte für Technologien. Wir müssen Sie daran erinnern, dass Sie seit Beginn der deutschen Einheit acht Jahre lang - bis 1998 - für diesen Prozess verantwortlich waren. ({2}) Sie könnten Ihre Reden hier halten, wenn wir 1998 am Beginn der deutschen Einheit gestanden hätten. Aber Ihre verkorkste Politik hat dazu geführt, dass Millionen von Ausbildungsplätzen gefehlt haben. Selbst Ihr Kanzler Kohl hat diese nicht schaffen können. Erst mit der rot-grünen Bundesregierung 1998 ({3}) wurden entsprechende Programme zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt. ({4}) Das JUMP- und das JUMP-Plus-Programm wurden bereits angesprochen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Scheffler, der Kollege Kolbe würde gern eine Zwischenfrage stellen.

Siegfried Scheffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001952, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, die Kollegen hatten schon Gelegenheit, ihre Standpunkte vorzutragen. Sie können ja nachher ein paar Kurzinterventionen machen. 1998 waren die Jugendarbeitslosigkeit und die Situation der Ausbildungsplätze in den neuen Ländern katastrophal. Ich möchte Ihnen einige Programme, die wir zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt haben, nennen: Förderung überbetrieblicher Berufsbildungsstätten, Zukunftsinitiative für Berufliche Schulen, das Projekt „Schulen ans Netz“ und die Ausbildungsförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Wir hätten zu Oppositionszeiten davon geträumt, dass diese Programme aufgelegt und die Mittel im Haushalt für die Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit und die Verbesserung der Ausbildungssituation der jungen Leute in den neuen Ländern bereit gestellt würden. Nichts von dem haben Sie vorgetragen und das ist das Problem. Ich finde es perfide, dass Sie so tun, als hätte 1998 jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz gehabt. Genau das Gegenteil war der Fall. Wenn ich von einem Modernisierungsprozess spreche, der eingeleitet wurde, muss ich auch die Programme InnoRegio und EXIST für Existenzgründer nennen. Wir haben in den letzten Jahren Umgestaltungen vorgenommen, damit der Mittelstand durch die Förderprogramme finanzielle Unterstützung erhält und die Innovation auch in den neuen Ländern greifen kann. Vom Minister bzw. vom Kollegen Schulz wurden hier schon einige Standorte angesprochen. Ich kann Ihnen aber noch einige nennen, so zum Beispiel den Bereich Jena. Hier hat sich aufgrund einer enormen Gründungsdynamik bei der Biotechnologie eine regelrechte Bioregion entwickelt. ({0}) Wenn Sie einmal nach Jena und zu Herrn Späth kommen und Sie vor den Menschen und den Arbeitskräften dort diese Jammerarie, die Sie hier vor dem Deutschen Bundestag halten, von sich geben würden, ({1}) würden Sie dort kein weiteres Mal Zugang bekommen. ({2}) Oder schauen Sie in die Region Leipzig/Halle/Bitterfeld: Hier hat sich eines der international führenden Zentren für Umwelttechnik etabliert. Gleiches gilt für die Region Thüringen/Sachsen in Bezug auf die Elektronik. Sachsen-Anhalt und Sachsen machen sich zurzeit als Zulieferer für die Automobilindustrie unentbehrlich. In Mecklenburg-Vorpommern bilden sich Allianzen für eine innovative maritime Wirtschaft heraus. Es kann doch nicht sein, dass uns auf der einen Seite vor Ort - da ich hier den lieben Kollegen Werner Kuhn sehe: zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern -, ({3}) die wunderbaren Aufbauleistungen vorgeführt werden, die durch Programme der jetzigen Bundesregierung seit 1998 finanziert werden, man aber auf der anderen Seite hier ein Zerrbild schafft und so tut, ({4}) als habe es diese Entwicklung in den neuen Bundesländern und Berlin überhaupt nicht gegeben. Genau diese Innovationsnetzwerke müssen wir verstärkt fördern und finanzieren. Ich denke, mit dem Programm Inno-Regio, mit dem Programm Innovationskompetenz mittelständiger Unternehmen oder mit dem Programm Inno-Net ist dies bereits jetzt erfolgreich eingeleitet. Ich behaupte gar nicht, dass dies alles vollkommen sei; ich denke, wir sind uns alle darüber einig - auch der Herr Minister hat es vorgetragen -, dass wir erst die Hälfte der Wegstrecke geschafft haben. Wir können uns alle hier hinstellen und darüber lamentieren, ob das Glas halb leer oder halb voll ist. Ich sage: Seit 1990 haben wir gemeinsam mit den Menschen Gewaltiges vollbracht. Insofern ist das Glas halb voll. ({5}) Wir sind auch mit dem Kraftakt Solidarpakt II, den Sie überhaupt nicht erwähnt haben und wahrscheinlich am liebsten verschweigen würden, auf einem guten Weg. Ihre Länderministerpräsidenten sind doch glücklich und zufrieden darüber, dass im Rahmen des Solidarpaktes II die kommunalen Infrastrukturen, insbesondere die verkehrlichen Infrastrukturen, verbessert werden. Ich freue mich jetzt schon darauf, mit Ihnen über den Bundesverkehrswegeplan zu diskutieren, wo Sie alle wieder die Wünsche aus Ihrem Wahlkreis vortragen, sei es eine Ortsumgehung, eine Kommunalstraße, eine Bundesfernstraße oder eine Autobahn. Dann werden Sie nach Hause kommen, sich hinstellen und sagen, Sie hätten dies hier geschafft und mit Unterstützung des Bundes bei der Finanzierung und der Sicherung im Haushalt würden Sie dazu beitragen, dass vor Ort alles besser und schöner wird. Zu DDR-Zeiten gab es den Wettbewerb „Schöner unsere Städte und Gemeinden“. Nach diesem Slogan verfahren Sie vor Ort. Aber hier im Deutschen Bundestag und für die Menschen vor den Bildschirmen tun Sie so, als wenn alles grau in grau wäre. Ich denke, Sie werden der Wirklichkeit damit überhaupt nicht gerecht. ({6}) Ich könnte noch weitere Programme vortragen. Von Ihnen, Frau Pieper, obwohl Sie ja im Bildungs- und Forschungsausschuss sind, ({7}) kam zum Beispiel kein Wort zum Programm EXIST, wodurch sich 430 Unternehmen aus Hochschulen - was bis 1998 überhaupt nicht der Fall war - ausgegründet haben und das dazu beigetragen hat, dass sich die Zahl der Spinoffs auf einem Niveau von über 150 pro Jahr stabil etabliert hat. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Scheffler, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?

Siegfried Scheffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001952, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. - Dazu kam von Ihnen kein Wort. Dies gilt auch für das Programm „Zentrum für Innovationskompetenz“, das versucht, universitäres Wissen in die Wirtschaft zu transferieren. Auch ich möchte mich noch einmal an den Minister wenden: Es steht jetzt in der Öffentlichkeit und hier im Raume, dass für die neuen Bundesländer Bundesgesetze teilweise außer Kraft gesetzt werden, damit wir gerade im öffentlichen Bereich, bei PPP, beim Hochbau und in der Verkehrsinfrastruktur, schneller vorankommen. Gepaart mit der Entbürokratisierung sollte dies der Dynamik beim Zurücklegen der nächsten Hälfte des Weges dienlich sein. Ich denke, auch das sinnvolle Instrument des Bundesverkehrswegeplans, das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, wäre eine gute Möglichkeit, um deutschlandweit ein Zeichen zu setzen. ({0}) - Mein lieber Kollege Friedrich, das ist weder in den alten noch in den neuen Bundesländern abgelehnt worden. Wir werden uns darüber im Rahmen der Diskussion um den Bundesverkehrswegeplan unterhalten. Mit diesem Instrument werden wir, wie ich denke, in der Zukunft weiter vorankommen. Wir sollten aufhören, hier nur herumzujammern; vielmehr sollten wir, vor allem hinsichtlich der EU-Osterweiterung, einmal zur Kenntnis nehmen, was erfolgreich entstanden ist. Herr Minister, Sie sprachen gerade von „Sandwich“. Das Beste bei einem Sandwich ist die Mitte. Es sind die neuen Länder, die in der Mitte Europas liegen. Von den neuen Ländern werden positive Signale ausgehen. Ich denke, dass wir in einigen Jahren von starken Wachstumsregionen in den neuen Ländern sprechen können. Vielen herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Kretschmer, CDU/CSU-Fraktion.

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, Ihre Rede passt in der Tat in die Zeit von „Schöner unsere Städte und Gemeinden“. Es ist schofelig, die Abwanderung aus den neuen Bundesländern mit Abwanderungsbewegungen in anderen Teilen Deutschlands zu vergleichen. Ich weiß, wie die Leute darunter zu leiden haben, wie es bei uns in Görlitz und in Dresden aussieht. Es steht außer Frage, dass wir beim Aufbau Ost und bei der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern Fortschritte gemacht haben. Aber das, was erreicht worden ist, sind höchstens kleine Pflänzchen. Was wir heute kritisiert haben, ist, dass Sie keinen Weg aufgezeigt haben. Ich hätte von Ihnen heute ein Konzept erwartet: Wie schaffen wir den Anschluss an die alten Bundesländer? Was ist Ihr Weg? Die Jugendarbeitslosigkeit steigt. Die Unternehmensdichte und die Forschungsintensität sind wesentlich geringer als in den alten Ländern. Beim Projekt Inno-Regio wie bei anderen Projekten zur Wachstumsförderung wird gekürzt. Die Kaufkraft ist geringer und sinkt. Die Frage ist, wie Ihr Konzept aussieht. Aussagen hierzu fehlen uns. Diese hätten wir von Ihnen erwartet. Darauf haben Sie keine Antwort gegeben. Es ist vollkommen richtig: Der Bericht, der vorliegt, ist nicht das Papier wert, auf dem er steht. Er ist eine Beleidigung für die Menschen in den neuen Bundesländern. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Scheffler, Sie haben die Möglichkeit zu antworten.

Siegfried Scheffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001952, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich möchte darauf antworten. Ich habe davon gesprochen, dass die Abwanderungsbewegungen sehr differenziert betrachtet werden müssen und nicht pauschalisiert werden dürfen. ({0}) Ich habe kritisch angesprochen, dass wir die Abwanderungsbewegung insbesondere der jungen Menschen stoppen müssen. Was Sie überhaupt nicht beachten, ist Folgendes: Sehen Sie sich einmal den Forschungs- und Bildungshaushalt seit 1998 an. Jedes Jahr haben wir draufgesattelt. Die Mittel weisen ungeahnte Höhen auf. Noch nie war der Haushalt der Bundesrepublik Deutschland in diesem Bereich so groß wie im Jahr 2002 und er wird es auch im Jahre 2003 sein. ({1}) Noch nie war er so hoch wie heute, obwohl Sie für die Bildung einen so genannten Superminister, nämlich Herrn Rüttgers, hatten. Sehen Sie sich einmal die Zahlen bei der Erstausbildung, beim Studium und bei der Weiterbildung, beim erwähnten BAföG und beim Meister-BAföG an! Sie alle weisen ungeahnte Höhen auf. Zu Ihren Zeiten war das Image von BAföG derart negativ, dass Sie davon nur träumen konnten. In den letzten beiden Jahren haben wir bei der Zahl der Studienbeginner richtige Sprünge zu verzeichnen. Das Gleiche trifft übrigens auch auf das Meister-BAföG zu. Sehen Sie sich einmal den Verkehrshaushalt an! Wir sprachen von Verkehrsinfrastruktur als Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung. Die Verkehrsinfrastruktur wird in den neuen Ländern seit 1998 so berücksichtigt wie noch nie. Auch dieser Einzelplan war in den Jahren 2000, 2001 und 2002 so hoch wie nie zuvor seit der Wiedervereinigung. Auch das müssen Sie anerkennen. Das ist das Programm der Bundesregierung. ({2}) Ich frage mich, wo Sie bis 1998 waren. Dabei denke ich gerade an diese zwei wichtigen Komplexe für die neuen Länder: Bildung und Forschung sowie Auf- und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur als grundsätzliche Voraussetzung für Ansiedlungen des Gewerbes und für regionales, aber auch bundesweites Wachstum. Ihre Länderminister sind offensichtlich schon viel weiter; denn sie loben die Bundesregierung immer wieder für die aufgelegten Programme ({3}) und deren Finanzierung. Sie bitten händeringend darum, die Finanzierung so, wie wir sie mit dem Haushalt 2003 angedacht haben, zu sichern. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der nächste Redner ist der Kollege Werner Kuhn, CDU/CSU-Fraktion.

Werner Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich halte es nach wie vor für richtig und wichtig, dass sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in diesem Hohen Hause alljährlich zu einer Generaldebatte über den Stand der deutschen Einheit versammeln. Der diesbezügliche Bericht der Bundesregierung liegt uns vor. Wir müssen gemeinsam um einen vernünftigen Weg ringen. ({0}) Die jetzigen Koalitionsparteien dürfen dabei nicht behaupten, dass der Aufbau Ost erst seit 1998 richtig in Angriff genommen wurde. ({1}) Zuerst gab es die Chefsache Ost, dann gab es die ruhige Hand und jetzt gibt es Herrn Stolpe, der alles regeln soll. Verehrter Herr Kollege Stolpe, ich muss Ihnen sagen, dass die Botschaften, die Sie uns vermitteln wollten, doch sehr dürftig waren. Es reicht einfach nicht aus, dem Mittelstand nur mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Hier müssen konkrete Konzepte her. ({2}) In den neuen Bundesländern gibt es die schwierigste Arbeitsmarktsituation seit der Wiedervereinigung. Die Arbeitslosigkeit liegt im Jahresdurchschnitt bei 20 Prozent, wobei die verdeckte Arbeitslosigkeit noch gar nicht berücksichtigt wurde. In strukturschwachen Gebieten liegt sie bei 30, 40 oder gar 50 Prozent. Ich komme zur Infrastrukturlücke. Ich finde es in Ordnung, dass die jetzige Bundesregierung um einen lückenlosen Übergang im Bereich der Infrastruktur, so wie wir ihn im Bundesverkehrswegeplan mit den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ seinerzeit angelegt haben, bemüht ist. ({3}) Es gibt aber immer noch eine Infrastrukturlücke in einer Größenordnung von 150 Milliarden Euro. Dabei geht es nicht nur um Schienen, Straßen und Wasserstraßen, sondern da müssen auch die weichen Standortfaktoren berücksichtigt werden. Der Städteumbau ist dabei ein ganz wichtiger Aspekt. Durch den Städteumbau sollen unsere Städte und Gemeinden, die zu DDR-Zeiten mit einer völlig verfehlten Wohnungsbaupolitik verschandelt worden sind, neu geordnet werden. Dazu gehört auch der Abriss der leer stehenden Wohnungen. Es gibt einen Wohnungsleerstand von 1 Million Wohnungen. Verehrter Herr Minister Stolpe, diese müssen abgerissen werden und es muss zu einer Entschuldung kommen. Es kann nicht sein, dass wirtschaftlich einigermaßen intakte Wohnungsbauunternehmen keine Entschuldung erhalten, während dies bei denjenigen, die in Insolvenz geraten sind, der Fall ist. Ich bitte Sie: Das ist doch der völlig falsche Weg. ({4}) Es könnte passieren, dass eine gesunde Wohnungsbaugenossenschaft Wohnungen nicht abreißt, sodass es sozusagen zu einem nicht vertretbaren Lückengefüge kommt. ({5}) Vonseiten der Bundesregierung muss hierzu unbedingt ein vernünftiges Konzept vorgelegt werden. Ich komme zur Unternehmens- und Unternehmerlücke. Wir haben gehört, dass die Zahl der Unternehmensgründungen in Ostdeutschland vergleichbar mit der in Baden-Württemberg sei. Die allgemeine wirtschaftliche Situation zeigt etwas anderes. Wenn Sie den Ausführungen des Statistischen Bundesamtes heute richtig zugehört haben, dann wissen Sie, dass das Wirtschaftswachstum im Jahre 2002 in ganz Deutschland nur 0,2 Prozent betrug. Das heißt, dass die Wirtschaft in Ostdeutschland geschrumpft ist. Im ersten Halbjahr 2002 gab es 5 500 Unternehmenspleiten in Ostdeutschland. Damit gingen 30 Prozent der Unternehmenszusammenbrüche auf das Konto der neuen Bundesländer. Das sind die wahren Zahlen! Das ist die wahre Situation! Das ist die wahre Beschreibung der Wirtschaft in Ostdeutschland! ({6}) Obwohl dies nach meiner Auffassung das zentrale Thema ist, enthält dieser Bericht gerade einmal eineinhalb Seiten dazu, wie es mit der Wirtschaft weitergehen soll. Ich komme nun zum Thema Schulen ans Netz. Herr Kollege Scheffler, dies ist sicherlich eine interessante periphere Erscheinung für bessere Bildungsprogramme. Wir müssen unsere Leute aber in Arbeit bringen, damit sie wieder Zuversicht haben und die deutsche Einheit positiv sehen. Diese Zuversicht haben die Menschen durch diese Bundesregierung verloren. ({7}) Das zeigen auch die Abwanderungszahlen. Im letzten Jahr sind 2,5 Prozent der 15- bis 30-Jährigen aus Mecklenburg-Vorpommern weggezogen und haben sich in den Ballungsgebieten eine neue Existenz gesucht. Sagen Sie mir: Mit wem wollen wir den Aufbau Ost realisieren? Wir brauchen die gut ausgebildeten und hoch qualifizierten Facharbeiter. Diese werden am Markt gesucht, aber sie ziehen aus Ostdeutschland weg. Zurück bleibt eine Bevölkerung mit einer demographischen Verwerfung. Diesem Problem müssen wir uns stellen. Dafür müssen Konzepte her. Die Wirtschaft in Ostdeutschland muss wieder in Gang gebracht werden. Existenzgründerinitiativen, Small Business Act, Mittelstandsbank - all das haben wir von Herrn Minister Stolpe gehört. Übrigens vermisse ich den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er hat gesagt: Der Aufbau Ost ist Chefsache, ich will der Kanzler aller Deutschen sein. - Er ist heute bei der Debatte nicht dabei. Das muss man einmal knallhart sagen. ({8}) Wir leben im wiedervereinigten Deutschland, zu dem wir alle stehen. Viel wichtiger ist, die Bestandspflege der noch bestehenden Unternehmen in Angriff zu nehmen. ({9}) Das heißt, dass wir potenzielle Auftraggeber finanziell in die Lage versetzen müssen, einen Auftrag an ein Unternehmen zu vergeben, um zum Beispiel im Investitionsgüterbereich Maschinen und Anlagen zu bestellen. Dadurch würde die Binnenkonjunktur verbessert und die Auftragslage günstiger. Aber von all dem ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt nichts zu spüren. Die Privathaushalte sind mit Ökosteuerreform, Abgaben und Steuern derart stranguliert, dass sie beim Konsum sehr zurückhaltend geworden sind. Der Einzelhandel dokumentiert das ebenfalls. Dort sind die Umsätze massiv zurückgegangen. Hier würde eine Steuerentlastung helfen. Die Flutkatastrophe - das haben wir gehört - war ein schlimmes Ereignis. Sie hat einen Schaden von insgesamt 9,2 Milliarden Euro angerichtet, der finanziert werden musste. Die Versicherungen übernehmen - bei denjenigen, die gegen Elementarschäden versichert sind - 2 Milliarden Euro. Der Bundeskanzler hat angekündigt, dass wir für den Wiederaufbau in Ostdeutschland von der Europäischen Union 2,5 Milliarden Euro erhalten. Jetzt bleiben noch etwa 4,5 Milliarden Euro übrig. Das sind, über drei Jahre verteilt, jeweils 1,5 Milliarden Euro; denn mehr kann man in einem Jahr kaum verbauen. Dafür haben Sie die Steuerreform verschoben! In Wirklichkeit war das nur das Stopfen von Finanzlöchern, weil Sie weder ein noch aus wussten und vor der Bundestagswahl die wahren Zahlen verschleiert haben. ({10}) Die Binnenkonjunktur hätte auch in Ostdeutschland schon längst angekurbelt werden können: Wenn die Menschen mehr Geld zwischen den Fingern hätten und damit mehr einkaufen würden, hätte der Unternehmer Aufträge und von diesen Investitionen würde dann auch die Industrie profitieren, sodass das Schwungrad der Wirtschaft wieder in Gang käme. Es reicht nicht, Herr Schulz, in feuilletonistischer Art eine Ist-Beschreibung vorzunehmen, sondern wir müssen dafür sorgen, dass die Auftraggeber wieder Geld in der Kasse haben. ({11}) Dazu gehören auch die Städte und Gemeinden. Ich will, dass die Bürgermeister und Landräte im Osten endlich wieder eine kommunale Investitionspauschale bekommen, damit sie sich um ihre Schulen, Kindertagesstätten und Krankenhäuser kümmern können, die streckenweise in einem noch sehr jämmerlichen Zustand sind. Dabei muss die Vergabepraxis - das hat damals schon Lothar Späth gesagt - so funktionieren, dass die örtlichen Handwerksbetriebe davon profitieren; denn nur so werden sie vor der Pleite bewahrt. Das ist für die kommunale Infrastruktur ein ganz wichtiger Punkt. Herr Minister Stolpe, Sie haben einen Punkt angesprochen, in dem ich Ihnen Recht gebe - wir wollen schließlich konstruktiv zusammenarbeiten -: Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden. Über dieses große Wort wird immer wieder gesprochen. Aber schauen wir uns einmal die öffentliche Auftragslage des Bundes bei der Wehrtechnik an. Dort ist es zu großen Verwerfungen gekommen, die wir einfach nicht hinnehmen dürfen. Werner Kuhn ({12}) Werner Kuhn ({13}) Ich erinnere an die Korvette K130 mit einem Investitionsvolumen von 1,2 Milliarden Euro. Es ist Usus gewesen, dass sich die fünf norddeutschen Küstenländer diesen Auftrag mit allen Unteraufträgen so aufteilen, dass alle gleichmäßig partizipieren: Jeder bekommt 20 Prozent. Mecklenburg-Vorpommern - ich frage mich: Wo sind die Kämpfer für Mecklenburg-Vorpommern auf der Bundesratsbank? - hat nur einen Anteil von 10 Prozent erhalten. Dies kann ich weiterrechnen. Eine weitere Anschaffung ist der große Transportflieger A400M mit einem Auftragsvolumen von 9 Milliarden Euro. Welches Unternehmen in Ostdeutschland, zum Beispiel ein Metall verarbeitender Betrieb, ein GFK-Betrieb oder ein Elektrobetrieb, ist überhaupt in der Lage, dort als Zulieferer gelistet zu werden? Sie sind luftfahrttechnisch überhaupt nicht zertifiziert. Herr Minister Stolpe, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Nehmen Sie Geld in die Hand - diese Zertifizierung kostet vielleicht 60 000 Euro - und legen Sie ein Programm auf, damit unsere Unternehmen in Ostdeutschland an diesem Projekt partizipieren können. Das ist ein ganz konkreter Vorschlag. ({14}) Das Gleiche wird beim Schienenfahrzeugbau deutlich. Es gibt nicht nur Bombardier in Halle, das kurz vor einer Bundestagswahl sozusagen durch die schützende Hand des Bundeskanzlers gerettet wurde, sondern in Pankow zum Beispiel gibt es ein Unternehmen, das sich wie viele andere Unternehmen auch um die Aufträge bewirbt. Wir können durchaus alle Unternehmen, bei denen wir hundertprozentige Gesellschafter sind, fit machen, sodass eine gleichmäßige Verteilung gewährleistet wird. Dann gäbe es erst einmal eine Grundauslastung. Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen. Ich freue mich sehr, Herr Minister Stolpe, dass Sie wieder Ihr Herz für die Magnetschwebebahn zwischen Hamburg und Berlin entdeckt haben. Ich hätte mich aber noch viel mehr gefreut, wenn wir beide gemeinsam in zwei Jahren in Perleberg das Wagenumlaufwerk für die Magnetschwebetechnik in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern hätten eröffnen und damit in dieser extrem strukturschwachen Gegend 400 Menschen Arbeit hätten bieten können. Sie aber haben die vier Jahre verstreichen lassen und einen Stillstand produziert. Damit werden wir uns als Opposition nicht abfinden! ({15}) Die Aufgabenverteilung zwischen Opposition und Regierungskoalition darf nicht einseitig erfolgen. Wir sind durchaus bereit, unsere Ideen einzubringen - das ist auch vonseiten der FDP eindeutig signalisiert worden - und Lösungen und Strategien für die Umsetzung zu entwickeln. Es kann aber nicht sein, dass wir die Arbeit machen, während für den Verkauf die Bundesregierung zuständig ist, die sich darüber freut, dass sie eine Idee kopieren kann. Zum Beispiel erscheint mir die Idee, die Ministerien für Wirtschaft und Arbeit in einem großen Ministerium zusammenzufassen, vernünftig. Das haben wir im Wahlkampf immer wieder bestätigt; denn diese Ressorts gehören nun einmal zusammen. Über die Minijobs haben wir im Vermittlungsausschuss vernünftig verhandelt. Das sind erste Ansätze, die deutlich machen, dass wir Deutschland gemeinsam fit machen können, wenn wir das wollen. Aber es handelt sich dabei um unsere Ideen und Aktivitäten, die wir als Oppositionspartei entwickelt haben. Diese Ansätze können Sie weiterverfolgen. Unserer Mitarbeit können Sie sich dabei sicher sein. Ich bin aber nicht damit einverstanden, dass Sie immer weiter dazu neigen, Investoren durch Regulierungen, Gesetze und Durchführungsbestimmungen abzuschrecken. Was soll ich einem potenziellen Investor aus Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg oder Berlin antworten, der sich bei mir meldet und sagt: Sie haben im Bundestag eine interessante Rede gehalten, Herr Kuhn, ich möchte bei Ihnen investieren? ({16}) Wenn er mich fragt, wie denn die Investitionsförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, wie denn die Investitionszulage, der Mittelstandskredit und das Programm Kapital für Arbeit funktionieren, muss ich ihm antworten: Kommen Sie her; ich habe alle Fragebögen dabei - bis hin zum Formblatt zur Offenlegung Ihrer persönlichen Verhältnisse, zu der Sie verpflichtet sind. Sie haben 135 Formulare auszufüllen. Der potenzielle Investor erwidert dann sicherlich: Verehrter Herr Abgeordneter, ich wollte nicht zum Ausfüllen von Fragebögen kommen, ({17}) sondern um mein Kerngeschäft zu erledigen, Leute einzustellen, mein Produkt zu verkaufen und Geld zu verdienen. - Dem müssen wir uns wieder annähern!

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit?

Werner Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es geht nicht an, dass die Bundesregierung letztendlich dazu neigt, jedem, der Geld verdienen will, im Prinzip nur die Aufgabe in unserer Gesellschaft zuzuweisen, einen Solidarbeitrag zu leisten. Wir müssen vielmehr dazu kommen, dass diejenigen, die Leistungen bringen, auch selber etwas davon haben. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Deutschland wird es wirtschaftlich und gesamtgesellschaftlich nur dann wieder aufwärts gehen, wenn der Osten auf die Beine kommt. Das ist nicht nur die Überzeugung der CDU/CSUFraktion, sondern das sind Tatsachen. Der Osten hat eine zu schwache Lobby und zu wenig Fürsprache in der Bundesregierung. Viele Menschen in Ostdeutschland wünschen sich wieder einen Kanzler aller Deutschen wie den, mit dem dieser Sessel bis 1998 besetzt war. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Kuhn, ich darf Sie noch einmal eindringlich an Ihre Redezeit erinnern.

Werner Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erlauben Sie mir einen letzten Satz. Wenn es in wenigen Wochen um die Entscheidung für die Olympiabewerbung Deutschlands geht, dann hätte die Stadt Leipzig, von der 1989 der Funke der Freiheit auf ganz Deutschland übergesprungen ist, einen prominenten Fürsprecher.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Kuhn!

Werner Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das wäre der Altbundeskanzler! ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Peter Hettlich, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Peter Hettlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003554, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz aller Redebeiträge, die ich heute von der Opposition gehört habe, kann es sich sehen lassen, was Rot-Grün in den vergangenen vier Jahren für die ostdeutschen Bundesländer geleistet hat; darauf können wir stolz sein. Die Kollegen Scheffler und Schulz haben dies eindeutig klargestellt. ({0}) An diese Erfolge werden wir anknüpfen. Wir kämpfen für eine Angleichung der Lebensbedingungen der Menschen in Ost und West. Deswegen sehe ich auch im jüngsten Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst ein deutliches Signal in diese Richtung. ({1}) Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die unteren Einkommensgruppen in den neuen Ländern bis 2007 an das Westniveau angeglichen werden - so haben wir es auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben -, denn nach so vielen Jahren der deutschen Einheit ist gleicher Lohn für gleiche Arbeit ein Gebot der Fairness. ({2}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unter den Punkten, die Kollege Kuhn eben angesprochen hat, waren auch das Programm Stadtumbau Ost und die Altschuldenhilfe für die Wohnungsunternehmen. Ich frage mich, ob er gestern nicht im Ausschuss gewesen ist. Wir haben gestern über diese Themen gesprochen. Das Erfolgsprogramm Stadtumbau Ost, das in den letzten vier Jahren auf den Weg gebracht worden ist, kann sich doch sehen lassen. ({3}) - 1,1 Milliarden Euro stellt allein der Bund bis 2009 dafür zur Verfügung. Zusammen mit den Finanzmitteln von Ländern und Kommunen summiert sich dies auf 2,7 Milliarden Euro. Diese riesige Summe beruht maßgeblich auf den Initiativen der letzten Wahlperiode. Dass das Programm erfolgreich ist, zeigt sich auch daran, dass sich über 250 ostdeutsche Kommunen an diesem Wettbewerb beteiligt haben. Das Engagement ist deutlich höher, als wir alle es erwartet haben. Das Thema Altschuldenhilfe haben wir ebenfalls angepackt. Hier hat der Bund seine Mittel um fast 50 Prozent aufgestockt; wir stellen dafür fast 700 Millionen Euro zur Verfügung. Das kann man nicht einfach unter den Tisch reden. Hier tun wir etwas, um das verfehlte Förderprogramm der ersten acht Jahre zu korrigieren und die großen Leerstände zu beseitigen. ({4}) Die Wohnungsunternehmen im Osten brauchen unsere Unterstützung. Sie brauchen Bewegungsfreiheit; denn die leer stehenden Wohnungen kosten nur Geld und bringen keine Mieteinnahmen. Dadurch bedrohen sie letztendlich die wirtschaftliche Existenz der Unternehmen. Besonders stolz können wir auf das sein, was wir in der Forschung geschafft haben. Ich freue mich sehr, dass Kollege Scheffler dies noch einmal ausdrücklich aufgezeigt hat. Wir haben hier über 660 Millionen Euro in die institutionelle Förderung gesteckt. Das ist zukunftsträchtig, das bezeichnen wir Grüne als nachhaltige Politik. Mit diesen Forschungsstandorten schaffen wir die Arbeitsplätze von morgen. Diese attraktiven Standorte tragen dazu bei, dass junge Leute im Osten bleiben bzw. wieder in den Osten zurückkehren. ({5}) Ich weise hier nur auf die Schiene Thüringen - Sachsen hin, wo mittlerweile einer der führenden Elektronikstandorte entstanden ist. Auch dies ist ein Resultat unserer Arbeit. Ich stimme mit Ihnen überein, dass die Arbeitslosigkeit das größte und belastendste Problem ist. Ich bin vor zwölf Jahren nach Sachsen gezogen. Sie können mir glauben, es belastet mich genauso wie jemanden, der dort geboren ist. Allerdings ist es nicht sinnvoll, jetzt wieder mit der Gießkanne über das Land zu gehen. Vielmehr müssen unsere Programme den Unternehmen gezielt Rahmenbedingungen und Anreize bieten, Arbeitsplätze zu schaffen. Es ist besser ein Licht anzuzünden, als über die Dunkelheit zu klagen. Neben der Beseitigung der Flutschäden, die immer noch im Gang ist, stehen drei wichtige Punkte auf der politischen Tagesordnung. Das eine ist der Bundesverkehrswegeplan. Ich halte es für sehr wichtig, dass die Infrastruktur in den neuen Bundesländern noch einmal sehr stark gefördert wird. Wir werden von unserer Seite darauf achten, dass der Nachhaltigkeitsaspekt berücksichtigt wird und darüber nachgedacht wird, welches Verkehrsund Infrastruktursystem geeignet ist. Wir bemühen uns intensiv darum, dass auf diesem Gebiet der Osten nicht hinten herunterfällt. Ganz wichtig ist für mich der Mittelstand. Im Osten gibt es kaum noch große Unternehmen. Daher müssen die kleinen und mittelständischen Unternehmen gefördert werden. Ich stimme dem Kollegen Kuhn zu, dass es wichtiger, einfacher und mit geringeren finanziellen Mitteln möglich ist, bestehende Arbeitsplätze zu sichern. In der Bauindustrie wurde schon 1994/95 damit begonnen, die Überkapazitäten abzubauen, die durch eine verfehlte Förderpolitik entstanden sind. ({6}) - Richtig, das war Steuersparpolitik. - Diese Konsequenzen müssen wir heute leider ausbaden. Die neue Mittelstandsoffensive der Bundesregierung ist hier der richtige Weg und gibt die richtigen Ziele vor. So können neue Arbeitsplätze entstehen. Intelligente Wirtschaftsförderung hilft auch, die Größennachteile der ostdeutschen Unternehmen auszugleichen. Wir wollen die Bildung von regionalen Netzwerken unterstützen. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Hettlich, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Peter Hettlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003554, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, Frau Präsidentin. - Ich möchte zu guter Letzt nur noch ganz kurz auf die Gemeindefinanzreform eingehen. Sie ist ein ganz wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Gesundung der Finanzlage der ostdeutschen Kommunen. Sie wissen, dass die ostdeutschen Kommunen seit 1999 einen größeren Anteil für Zinsen und Tilgung ausgeben als die westdeutschen. Dieses Dilemma soll der Vergangenheit angehören. Dafür werden wir uns unter besonderer Berücksichtigung der ostdeutschen Kommunen in starkem Maße einsetzen. Wir reklamieren als Politiker gern den Erfolg für uns. Aber ich sage ganz deutlich - Werner Schulz und der Minister haben das bereits in ihren Reden getan -: Den großen Fortschritt, den die neuen Bundesländer in den letzten Jahren erreicht haben, haben wir den dort lebenden Menschen zu verdanken. Das sollte man an dieser Stelle ganz ausdrücklich sagen. Den Transformationsprozess müssen wir über die Fraktionsgrenzen hinweg mit aller Kraft unterstützen. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Petra Pau, fraktionslos.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über die Lage in den so genannten neuen Bundesländern. Dazu liegt ein über 100-seitiger Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit vor. Ich möchte zwei Sätze aus diesem Bericht zitieren. Das erste Zitat: Die nach der Wiedervereinigung weit verbreitete Annahme eines schnellen Aufbaus in den neuen Ländern hatte sich als Illusion erwiesen. Das stimmt. Noch schlimmer: Wie zur Auszeit der DDR suchen viel zu viele Jugendliche ihre Zukunft in der Ferne. Sie verlassen also die neuen Bundesländer. Der Berliner Schriftsteller Wolfgang Engler fasste seinen Befund so zusammen: Weil der Hoffnung die Arbeit fehlte, kam die Arbeit an der Hoffnung ({0}) zum Erliegen. Die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern ist längst mehr als ein massenhaftes Schicksal. Sie führt zum nachhaltigen Aderlass. Vor diesem Hintergrund komme ich zum zweiten angekündigten Zitat aus dem Bericht der Bundesregierung: Als eine weitere Fehlorientierung erwies sich die Vorstellung, der Aufbau Ost sei durch das bloße Übertragen westdeutscher Erfolgsmuster zu bewältigen. Natürlich ist dieser Satz ein Seitenhieb auf die Kohl-Ära. Aber er stimmt, zumal nicht nur die Erfolgsmuster, sondern auch die Misserfolgsmuster übertragen wurden, und zwar koste es, was es wolle. ({1}) Wir könnten das jetzt im Bildungs- und im Gesundheitswesen, im Steuerrecht sowie in der Umwelt- und in der Verkehrspolitik durchgehen. Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, wer ein Hartz-Konzept heiligt und dieses ohne Rücksicht auf Verluste auch noch 1 : 1 auf die neuen Bundesländer überträgt, der ist kein Deut klüger und auch kein Deut besser, der betreibt vielmehr die Fortsetzung einer falschen Politik mit neuen Mitteln. ({2}) Zwei weitere aktuelle Beispiele: Sie verweigern die Wiedereinführung einer Vermögensteuer und befürworten stattdessen einen Ablasshandel für Steuerflüchtlinge. ({3}) Das ist fatal, und zwar nicht nur, weil schon Luther, übrigens ein Ossi, ({4}) den erkauften Ablass als unmoralisch geächtet hat. Vor allem verweigern Sie damit jenen Entlastung, die finanziell am meisten gebeutelt sind, nämlich den Ländern und Kommunen im Osten. Ähnlich verhält es sich mit den jüngsten Tarifvereinbarungen im öffentlichen Dienst. Man mag ja das Ergebnis so oder so bewerten. Nur, eines ist auffällig: Hintenherum wurde die Angleichung der Einkommen im Osten an die im Westen um zwei weitere Jahre verschoben. Das halte ich nicht nur Innenminister Schily vor; das ist offensichtlich auch Verdi-Politik. Ich sage, es ist falsche Gewerkschaftspolitik. ({5}) Es straft aber auch die rot-grüne Regierung Lügen; denn Sie haben im Wahlkampf und in der Koalitionsvereinbarung anderes versprochen. Nun wurde ich in dieser Woche von Journalisten gefragt, warum ich zu Ihnen, Herr Minister Stolpe, so garstig sei. Das bin ich mitnichten. Ich bin kritisch und auch skeptisch. Ganz persönlich gesagt: Als Hoffnungsminister sind Sie nicht gestartet. Ich will nicht, weder für Sie persönlich noch für die neuen Länder, dass aus dem roten Adler irgendwann eine graue Maus wird. ({6}) Es war der Kollege Schulz vom Bündnis 90/Die Grünen, der jüngst öffentlich bedauert hat, dass drängende Ostthemen im Bundestag kaum noch eine Rolle spielen, seit es die PDS hier nicht mehr als Fraktion gibt. ({7}) Das bedaure natürlich auch ich. Nur, Kollege Schulz - damit wende ich mich auch an den Kollegen Hilsberg -, es gibt zuweilen so etwas wie eine Delegierungskultur. Ich kenne das auch aus meiner eigenen Partei. Das Thema „neue Bundesländer“ können Sie aber nicht delegieren. Rot-Grün steht in der Verantwortung. ({8}) Sie können diese Verantwortung nur teilen, wenn Sie nicht von oben, sondern mit den Betroffenen regieren. Deshalb möchte ich Ihnen von Rot-Grün zum Abschluss auch noch einen Tipp geben. Bisher war der Osten der Osten und für viele, für viele von Ihnen hier im Hause, gar der ferne Osten. Mit der EU-Osterweiterung verschieben sich nun die Koordinaten. Die neuen Bundesländer werden zur neuen Mitte. Wenigstens das sollte doch die SPD anspornen, den Osten Deutschlands endlich neu zu begreifen und auch ernster zu nehmen. Danke schön. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner von der SPD-Fraktion das Wort.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Diskussion um den Jahresbericht 2002 zeigt wieder einmal ganz deutlich, wie die Opposition mit dem erreichten Stand der deutschen Einheit umgeht. Es werden wieder Vorurteile bedient. Leistungen werden mies gemacht oder sogar ignoriert. Sie merken gar nicht, dass Sie den Handelnden in den neuen Ländern damit unrecht tun und dass Sie durch Ihre Miesmacherei auch das Ansehen Ostdeutschlands schädigen. ({0}) Dabei möchte ich der Bundesregierung gerade für diesen aussagekräftigen Bericht danken. ({1}) Sie finden in diesem Bericht alle Maßnahmen. Sie können sie klar erkennen. Sie können sie bewerten. Sie finden dort unsere Zielrichtung und auch unsere Schwerpunktsetzung für den Aufbau Ost. Zwei Ereignisse haben die Bemühungen der Regierungskoalition im letzten Jahr deutlich gehemmt und dazu geführt, dass viele Programme, die aufgelegt worden waren, noch nicht richtig greifen konnten. Das eine - das ist auch schon erwähnt worden - war die Hochwasserkatastrophe. Eine Reihe von Fortschritten bei der Infrastruktur und beim Wirtschaftsaufbau in den neuen Ländern wurde durch diese Naturkatastrophe zunichte gemacht. Das hat uns tief getroffen. Die Bundesregierung hat schnell und auch politisch richtig gehandelt. Die Wiederaufbauhilfen wurden durch die Verschiebung der Steuerreform um ein Jahr finanziert. Ich möchte noch einmal betonen: Das war der richtige Weg. ({2}) Die von der Opposition damals geforderte Finanzierung über Schulden hätte katastrophale Folgen für unser Ziel der Konsolidierung des Haushalts, aber letztlich auch für den Aufbau Ost bedeutet. Es war imponierend und mitreißend, zu beobachten, wie durch solidarisches Helfen bei der Flutkatastrophe eine große Einigkeit der Bürgerinnen und Bürger gezeigt wurde. Bei all den schlimmen Folgen für die Städte, für die Gemeinden, aber auch für die einzelnen betroffenen Menschen gab es doch eine gute Seite. Wir konnten nämlich erleben, dass es um die innere Einheit gar nicht so schlecht bestellt ist. Das zweite Ereignis war die Krise der Weltwirtschaft, die die neuen Länder besonders trifft. Es ist eine Binsenwahrheit, aber es ist so: In einer Marktwirtschaft hat die Politik nur begrenzt Einfluss auf die Konjunktur. Wir können Rahmenbedingungen schaffen, wir können sie verändern; den Hauptanteil an der konjunkturellen Entwicklung hat die Wirtschaft aber selbst zu erbringen. Was unsere Aufgabe angeht, so haben wir - das können Sie nachlesen - einiges auf den Weg gebracht. Der Solidarpakt II gibt uns Planungssicherheit für 15 Jahre. Die Programme zur Verbesserung der Infrastruktur vom Stadtumbau bis hin zu den Verkehrsprojekten - Minister Stolpe hat sie erwähnt - bringen uns voran. Dennoch klaffen strukturelle Unterschiede in der Wirtschafts- und Infrastruktur zu den alten Bundesländern. Das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes in Ostdeutschland liegt weiter hinter dem im Westen zurück. Angesichts der Tatsache, dass das Wohlstandsniveau bei nur 60 Prozent des Westniveaus liegt, erscheint dies dramatisch. Wenn wir genauer hinschauen, dann stellen wir auch fest, dass ein Hauptgrund für diese Tatsache die Krise der Bauindustrie ist. Rechnet man die die Bauindustrie betreffenden Daten heraus, so zeigt sich, dass die Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes in den neuen Ländern immer noch doppelt so hoch wie im Westen sind. ({3}) Das beste Beispiel ist - das haben wir gehört - das verarbeitende Gewerbe. Zur Wahrheit gehört auch: Die Produktivität in den neuen Ländern wächst kontinuierlich. Sie liegt jetzt bei 70 Prozent des Westniveaus. Auch die Exportquote hat sich seit 1995 verdoppelt. Die Krise der Bauindustrie macht aber diese - an sich positiven - Werte zunichte. Gerade die Kollegen der Opposition müssten eigentlich wissen, dass dieses Problem hausgemacht ist. Die einseitige Förderung der Bauindustrie durch die Regierung Kohl hat auf diesem Gebiet enorme Überkapazitäten geschaffen. Meine Damen und Herren auf der rechten Seite dieses Hauses, das geht auf Ihr Konto. ({4}) Wie stark diese Auswirkung ist, belegen auch einige Zahlen. Die Bruttowertschöpfung im ostdeutschen Baugewerbe sinkt seit 1996 jährlich um 8,5 Prozent. Auch die Beschäftigungszahlen sind seit 1996 halbiert. Genau diese Zahlen hat Herr Vaatz erwähnt, als er über die verlorenen Arbeitsplätze sprach. Die Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung und auf den Arbeitsmarkt sind deutlich sichtbar. Eines ist aber auch klar: Die Umstellung der Förderung durch die Bundesregierung seit 1998 war richtig und notwendig. Abgesehen von den mit diesen Daten zum wirtschaftlichen Aufholprozess verbundenen Schwierigkeiten gibt es ein ganz großes Problem im Osten, das wir angehen müssen: den dramatischen Mangel an produktiven Arbeitsplätzen und die hohe Arbeitslosigkeit. Gerade in diesem Bereich ist das Erreichen des Westniveaus wichtiger als irgendwo sonst. Nichts trägt zur Verwirklichung der inneren Einheit mehr bei als Arbeitsplätze. Das von der Opposition immer wieder gescholtene Hartz-Konzept geht hierbei in die richtige Richtung. Durch die Gesetze zur Umsetzung des Hartz-Konzeptes und die Mittelstandsoffensive der Bundesregierung eröffnen sich in der Tat viele Chancen, die Arbeitslosigkeit zu verringern. Ich denke dabei an die Kompetenzcenter, die den Arbeitsmarkt und die Wirtschaftspolitik vernetzen werden. Wir werden regional intelligente Strategien umsetzen können, um Arbeit und Beschäftigung zu schaffen. Ich denke auch an den Aufbau von Clustern in strukturschwachen Regionen in Ostdeutschland. Aber wir werden auch die Förderung von Existenzgründungen verstärken und damit neue Unternehmen schaffen. Die Ich-AGs bieten Raum für Kleinstunternehmen und das Programm „Kapital für Arbeit“ verbindet Investitionsförderung mit Beschäftigungswirksamkeit. Das wird auch in den neuen Ländern angenommen. Darüber hinaus hat die Hartz-Kommission die eigentliche Misere des Ostens erkannt und auf ein kommunales Infrastrukturprogramm gesetzt. Das schafft wichtige Voraussetzungen für die Ansiedlung von Unternehmen und fördert gezielt die Wirtschaft. Es wird auch in beschäftigungsintensiven Bereichen neue Arbeitsplätze bringen. Die vorgeschlagene Finanzierung über Betreibermodelle und langfristige Kommunaldarlehen werden die kommunalen Haushalte entlasten. Diese Vorschläge werden wir prüfen und deren Umsetzung werden wir ermöglichen. Ich könnte noch eine Reihe anderer Punkte nennen. Klar ist: Das Hartz-Konzept stellt auch einen wichtigen Beitrag zum Aufbau Ost dar. Es schafft mittelfristig die richtigen Impulse für den Arbeitsmarkt. Wir werden es vollständig umsetzen. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, der Prozess des Aufbaus Ost schreitet weiter voran. Der Bericht hat es deutlich belegt. Wir haben die richtigen Instrumente und wir haben die Weichen in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik richtig gestellt. ({5}) Wie weit wir damit schon der Einheit von Ost und West, der alten und neuen Bundesländer ({6}) nahe gekommen sind, weiß wohl keiner so genau zu sagen. Aber ich sehe Ähnlichkeiten mit einem Marathonlauf: Wir haben das Ziel vor Augen. Auch ein Läufer muss in der zweiten Hälfte hart mit sich kämpfen und durchhalten. ({7}) Wir sind auf der zweiten Wegstrecke und wir alle müssen mitziehen. Danke. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Volkmar Uwe Vogel von der CDU/CSU-Fraktion.

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat ihren Jahresbericht 2002 vorgelegt. Richtigerweise hat sie in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass eine belastbare Infrastruktur die Grundlage für einen zukunftsfähigen Wirtschaftsstandort Deutschland ist. Die Grundlage jedoch, meine sehr verehrten Damen und Herren, auf der Sie aufbauen, ist der Bundesverkehrswegeplan, den die Regierung Helmut Kohl erarbeitet hat. Bei Berichten und bei Ankündigungspolitik allein darf es nicht bleiben. Wir brauchen keine Berichte. Wir brauchen Taten! ({0}) Dass der Aufbau Ost wegen Ihrer Wirtschaftspolitik ins Stocken geraten ist, erwähnen Sie in Ihrem Bericht nicht. Das erfahren wir von den Sachverständigen. Es ist dabei eine Zumutung, dass die Bedingungen für eine vitale Infrastruktur der neuen Länder und dringend notwendige Verbesserungen insgesamt auf nur zwei - ich wiederhole: auf nur zwei - Seiten beschrieben worden sind. Für die Landwirtschaft - das kam an dieser Stelle überhaupt noch nicht zur Sprache - hatte man auch nur gerade vier Seiten übrig. Hinweise auf die bestehenden Infrastrukturlücken fehlen in Ihrem Bericht ganz. Der Vorrang der neuen Länder beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur scheint Ihnen allein durch die prozentuale Zuordnung von Haushaltsmitteln sichergestellt zu sein. Ob diese Mittel aber auch tatsächlich zur Verfügung stehen, ({1}) bleibt wie vieles in Ihrem Bericht unklar. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Straßen, Schienen, Leitungsnetze, also unsere gesamte Infrastruktur, machen nicht vor Verwaltungsgrenzen Halt. Mobilität für alle Bürger ist notwendiger denn je, und das ganz besonders im Osten unseres Landes. Mobilität ist auch immer ein Ausdruck von Freiheit - Freiheit, die den Menschen in 40 Jahren DDR verwehrt wurde. Durch Beschränkung der Mobilität und Kontrolle der Kommunikation wurde die Freiheit der Menschen bewusst begrenzt. Wer zwölf Jahre nach der Einheit ehrlichen Herzens die Angleichung der Lebens- und Lohnverhältnisse zwischen den alten und neuen Bundesländern erreichen will, muss Entscheidendes auch bei der Infrastruktur tun. Gerade hier gibt es noch die größten Unterschiede zwischen Ost und West. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Menschen in meiner Heimat genauso fleißig wie in anderen Teilen unseres Landes arbeiten. Die Unterschiede in der Produktivität, die es ja leider immer noch gibt ({2}) - ich spreche hier nicht über Thüringen, sondern über den gesamten Osten; aber auch in Thüringen besteht natürlich noch ein enormer Nachholbedarf -, ({3}) sind vor allem auf schlechtere Standort- und natürlich Infrastrukturbedingungen in den neuen Ländern zurückzuführen. Diese Defizite führen zu erheblichen Zeit- und Produktivitätsverlusten im Osten. ({4}) Das Gebiet zwischen Halle/Leipzig, Gera, Jena und Chemnitz bezeichnet man als den mitteldeutschen Wirtschaftsraum, der vor dem Zweiten Weltkrieg zu den stärksten Wirtschaftsregionen in Deutschland und in ganz Europa zählte. Was Krieg und Sozialismus zerstörten, gilt es wieder zu aktivieren und dabei in die gesamteuropäische Entwicklung einzubetten. Effektive, aber auch attraktive und moderne Verkehrsanbindungen sind standortentscheidend für Investoren und damit für Arbeitsplätze in unserem Land. Daher plädiere ich für die Durchführung aller wichtigen Verkehrsprojekte, so das Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ 8.1 und 8.2, ({5}) das Sie fortführen wollen. Allerdings fehlt jeglicher Hinweis, ob die gesamte Finanzierung gesichert ist und in welchem Umfang die Deutsche Bahn an dieser Stelle Verantwortung übernehmen will und auch wirklich kann. Ebenso wichtig ist es, die Vollendung der MitteDeutschland-Schienenverbindung in Angriff zu nehmen, damit diese Strecke bis spätestens 2015 zweigleisig und elektrifiziert zur Verfügung steht. ({6}) Ein weiteres wichtiges Verkehrsprojekt ist der Ausbau der A 72, die wichtige Oberzentren in Mitteldeutschland miteinander verbindet. Der Nutzen wird die Kosten um das Elffache übersteigen. Im Hinblick auf die Fußball-WM 2006 in Leipzig, die Bundesgartenschau 2007, die in Gera und Ronneburg stattfinden wird, und Leipzigs Olympiabewerbung für 2012 - Kollege Kuhn hat das eindrucksvoll beschrieben - ist es dringend erforderlich, dieses Projekt rasch in die Tat umzusetzen und in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans aufzunehmen. Dies sind nur unvollständige Beispiele für wichtige überregionale Projekte, die in den letzten vier Jahren nicht vorankamen. Fatal ist, dass damit die begleitende kommunale Infrastruktur ins Stocken kam.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich bin gleich fertig. - Brücken, Autobahnanschlüsse, Umgehungsstraßen und Erschließungen blieben liegen. Jetzt fehlt den Kommunen das Geld für deren Realisierung. Über den Ausbau der Bundesstraßen darf die Ertüchtigung der kommunalen Infrastruktur in den nächsten Jahren auf keinen Fall vergessen werden. ({0}) Meine Damen und Herren, beleben Sie den stockenden Ausbau der Infrastruktur im Osten unseres Landes! Machen Sie den Osten wirklich zur Chefsache - auch wenn der Chef heute wieder nicht da ist! Bei allen finanziellen Schwierigkeiten: Bedenken Sie die Langzeitfolgen! Sehen Sie diese Investitionen als Teil eines Generationenvertrages, als Investition auch für unsere Nachkommen, so wie wir heute von vielen weitsichtigen Verkehrsplanungen früherer Zeiten profitieren. Danke. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Vogel, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Ich habe deshalb bei der Redezeit beide Augen zugedrückt. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/9950 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Zusätzlich soll sie aufgrund einer interfraktionellen Vereinbarung an den Tourismusausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Strobl ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Deutschland wirksam vor Terroristen und Extremisten schützen - Drucksache 15/218 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Wolfgang Bosbach von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesminister Schily, Sie haben vor kurzem gesagt: Die Bedrohung durch den internationalen islamistisch-fundamentalistischen Terrorismus - das ist eine realistische Einschätzung - hat zugenommen. Wir sehen die breite Blutspur des Terrors und wir müssen leider voraussehen, dass sich der Terror fortsetzen wird. Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes sagt: Wir sehen zurzeit keine Entwarnung. Wir sehen eher ein Anwachsen dieser Aktivitäten ... Es finden Rekrutierungen statt. Der renommierte Terrorismusforscher Tophoven meint: Trotz der Zerschlagung der al-Qaida-Basen in Afghanistan ist der Terror durch diese Gruppe noch lange nicht gebannt. Im Gegenteil: Die Kommandos formieren sich gerade neu und sind weltweit verstreut ... Es gibt leider keinen Grund zu der Annahme, dass diese Sicherheitsanalysen, die Darstellungen dieser Bedrohungsszenarien falsch sind. Gerade weil wir Grund zur Annahme haben, dass die Bedrohungsanalysen zutreffend sind, ist die standhafte Weigerung der rot-grünen Koalition, offensichtliche Schutzlücken zu schließen, unverantwortlich. ({0}) Vermutlich werden heute die Rednerinnen und Redner der Koalition von dieser Stelle aus behaupten, man habe ja alles getan, was nach den Ereignissen vom 11. September habe getan werden müssen. Diese Argumentation ist ebenso richtig wie falsch. Es ist richtig, dass zwei Antiterrorpakete geschnürt worden sind und auch Maßnahmen - zum Teil längst überfällige - beschlossen wurden. Wir haben diese Maßnahmen mitgetragen. Richtig ist aber auch, dass Sie nur das beschlossen haben, worauf Sie sich mit Mühe und Not einigen konnten, und nicht etwa das, was im Interesse der Sicherheit unseres Landes dringend hätte getan werden müssen. ({1}) Die Gefahren, die vom internationalen Terrorismus ausgehen, kann man nicht mit halber Kraft und nicht mit angezogener Handbremse bekämpfen. Was wir brauchen, ist Entschlossenheit. Wir brauchen aber keine Kompromisse zulasten der Sicherheit unseres Landes. Aber genau solche Kompromisse haben Sie geschlossen. ({2}) Unser Sicherheitsnetz hat nach wie vor eine ganze Reihe von Lücken. Diese Lücken müssen wir schließen, eher heute als morgen. Wir belassen es aber nicht bei dieser Kritik, sondern wir unterbreiten ganz konkrete Vorschläge. Sie rühmen sich beispielsweise, eine Strafbarkeitslücke geschlossen zu haben. Seit einiger Zeit ist die in1468 ländische Unterstützung einer ausländischen Terrorgruppe nach § 129 b StGB strafbar. Das war aber nur Zug um Zug gegen Erfüllung eines uralten Wunsches der Grünen möglich, nämlich die Sympathiewerbung für terroristische Vereinigungen endlich straflos zu stellen. Das führt zu dem absurden Ergebnis, dass es zwar vor dem 11. September 2001 strafbar war, beispielsweise für das Terrornetzwerk al-Qaida Werbung zu machen, dass es aber nach den mörderischen Anschlägen straflos ist. Das ist für uns ein unerträglicher Zustand, der geändert werden muss. ({3}) Wir dürfen niemanden einbürgern, von dem wir wissen, dass er extremistischen Organisationen angehört oder gar terroristische Aktivitäten unterstützt. Ich möchte nur ein einziges Zitat aus der Originalurteilsbegründung des Oberlandesgerichts Düsseldorf im so genannten KaplanProzess anführen: Was aber der besonderen Erwähnung bedarf, ist Folgendes: Nahezu mit Verblüffung musste der Senat zur Kenntnis nehmen, dass eine Vielzahl von Zeugen aus den Reihen des Kaplan-Verbandes, und davon nicht wenige mit inzwischen deutscher Staatsangehörigkeit, mit einer kaum zu glaubenden Unverblümtheit oder besser Unverfrorenheit erklärten, dass für sie auch hier in Deutschland nicht die deutschen Gesetze, ja nicht einmal die deutsche Verfassung, sondern das islamische Recht, die Scharia, maßgeblich sei. ({4}) Der Kollege Beckstein hat gesagt, eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz ist zwingend notwendig. Wenn dort Erkenntnisse vorliegen, dass jemand terroristische Aktivitäten unterstützt, dann dürfen wir ihn nicht einbürgern. In der Sendung von Sabine Christiansen sagte Herr Schily, dass in diesem Punkt Herr Beckstein völlig Recht habe. Daraufhin fällt Claudia Roth in Ohnmacht und sagt: Unmöglich! Also sucht man nach einem Kompromiss. Wir fragen: Wie steht es in Sachen Verhinderung der Einbürgerung von Extremisten und Terroristen? Antwort der Bundesregierung - noch druckfrisch vom 9. Januar 2003 -: Nach dem 11. September haben alle Innenminister und alle Innensenatoren der Länder von sich aus obligatorische Regelanfragen eingeführt. Rhabarber, Rhabarber, Rhabarber. ({5}) Diese Antwort ist in dreifacher Hinsicht interessant. Erstens. Offensichtlich kennt die Bundesregierung die Rechtslage, jedenfalls die Verwaltungspraxis der Länder, selber nicht. Zweitens. Es gibt Länder - allesamt unionsregiert -, die bereits vor dem 11. September von sich aus solche Regelanfragen eingeführt haben. Drittens. Es ergibt sich ein buntes Bild. Einige Länder gehen nur nach bestimmten Staatenlisten vor; andere werden nur aktiv, wenn sich ein Verdacht ergibt. Wiederum andere differenzieren bei der Einbürgerung zwischen Rechtsanspruch und Ermessen. Die originellste Regelung hat das Land Schleswig-Holstein. Dort gibt es Anfragen nämlich nur dann, wenn der betroffene Einbürgerungsbewerber seine Zustimmung erteilt. ({6}) Das ist doch absurd. Was wir brauchen, ist eine bundeseinheitliche Regelanfrage. Wenn nur ein einziges Land eine Schutzlücke aufweist, dann wirkt sich das auf alle anderen Bundesländer aus, auch auf solche, die eine Regelanfrage haben. Denn wir können nicht verhindern, dass es in unserem Land Wanderungsbewegungen gibt. ({7}) Nächster Punkt: Kronzeugenregelung. Gerade bei der Bekämpfung von ethnisch geschlossenen Tätergruppen, wo wir keine Erkenntnisse mit dem klassischen Instrumentarium verdeckter Ermittler gewinnen können, sind wir nun einmal leider auf Aussagen von Täterzeugen angewiesen, um Straftaten aufzuklären und neue Straftaten zu verhindern. Otto Schily sagte an dieser Stelle am 15. November 2001 unter Bezugnahme auf diese Forderung von mir: Ich stimme Ihnen aber insoweit zu, als wir dort etwas zustande bringen müssen. Das ist ein Appell an die Grünen, sich in dieser Frage etwas hurtiger zu bewegen, als dies bisher der Fall war. Dann tut sich erst einmal ein Jahr lang nichts und dann kommt es zu einem Koalitionsvertrag mit einer nebulösen Formulierung. In der Pressekonferenz wird der Bundesinnenminister gefragt: Heißt das, es gibt eine neue Kronzeugenregelung? - Antwort: Ja. - Dann wird der Rechtsexperte der Grünen gefragt: Ist das die neue Kronzeugenregelung? - Er sagt: Nein. So kann man sich über Parteitage retten, aber so kann man den Terrorismus nicht bekämpfen. ({8}) Wenn es Ihnen so unendlich schwer fällt, der Union Recht zu geben, hören Sie doch wenigstens auf die Experten. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter: Islamisten lachen über Rasterfahndung; Kronzeugenregelung gefordert. Bundeskriminalamt fordert neue Kronzeugenregelung. Kersten, der Präsident des BKA: So können wir Terrornetzwerke aufdecken. Hören wir auf diejenigen, denen wir unsere Sicherheit anvertrauen. Die Experten, die Praktiker werden am ehesten wissen, was sie brauchen, um Kriminellen und Terroristen das Handwerk zu legen. Die so genannte Verdachtsausweisung ist auch ein originelles Kapitel. Wir müssen im Ausländerrecht die Voraussetzungen dafür schaffen, bei begründetem Terrorverdacht - wenn Tatsachen vorliegen, die die Annahme rechtfertigen, dass jemand einer terroristischen Vereinigung angehört oder diese unterstützt - die Einreise zu verhindern und den weiteren Aufenthalt im Lande zu beenden, und zwar eher heute als morgen. ({9}) Sagen Sie bitte nicht: Genau das steht im Gesetz. Genau das steht nämlich nicht im Gesetz. Ich zitiere aus einem Antrag des Landes Niedersachsen, SPD-regiert, wenn auch nur noch 17 Tage. ({10}) - Apropos Niedersachsen. Ich zitiere aus einer druckfrischen Pressemeldung der Niedersachsen-Kampa der SPD vom 15. Januar: Niemand soll uns vorwerfen, wie hätten nicht vor Wulff gewarnt. Wulff ist nicht nur der blasse Leisetreter und Warmduscher, als der er gemeinhin im Lande gilt, er ist ein strammer Konservativer, der das Rad der Geschichte zurückdrehen will. Er will einen Polizei- und Überwachungsstaat. ({11}) Wie verzweifelt und geistig verwirrt muss man eigentlich sein, um einen solchen Text in der Bevölkerung zu verbreiten? Diese Frage müssen Sie mir einmal beantworten. ({12}) Ich zitiere aus der Bundesratsinitiative: Ausweisung, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört, die den internationalen Terrorismus unterstützt. Diesen Vorschlag haben Sie abgelehnt. Sie haben stattdessen in das Gesetz den Begriff „Beleg“ aufgenommen. Ein Beleg ist nichts anderes als ein Beweis. Wir reden nicht von Gerüchten, wir reden nicht von übler Nachrede, sondern wir reden von Tatsachen. Wenn Tatsachen vorliegen, ({13}) die die Annahme rechtfertigen, dass jemand einer terroristischen Vereinigung angehört, dann muss das Interesse des Landes an der Beendigung des Aufenthalts zum Schutz der Bevölkerung Vorrang haben vor dem Aufenthaltsinteresse des betroffenen Ausländers. ({14}) Letzter Punkt: Einsatz der Bundeswehr im Innern. Es geht uns nicht darum, die Bundeswehr zu einer Art zweiter Bereitschaftspolizei zu machen. Wenn wir Defizite bei der Bekämpfung der Kriminalität haben, dann müssen wir die Polizei des Bundes und der Länder personell und technisch in die Lage versetzen, die Gefahren abzuwehren. Es geht uns nur um die Fallkonstellation, bei der erkennbar nur die Bundeswehr die technischen und personellen Fähigkeiten hat, um eine Gefahr abzuwehren, ganz gleich, ob sie auf dem Boden oder aus der Luft droht. Das gilt nicht nur im Bereich des Luftangriffes, des Air Policing. Das kann auch bei der Abwehr von ABC-Gefahren und dem Schutz ziviler Objekte, beispielsweise dem Schutz von Flughäfen, Atomkraftwerken und Trinkwassertalsperren, gelten. ({15}) Wir können auf diesen Schutz nicht verzichten, wenn wir eine besondere Gefährdungssituation haben, die weder einen Spannungsfall noch einen Verteidigungsfall noch eine Naturkatastrophe darstellt. Wenn man sagt: „Wir können ja die Regelung der Amtshilfe oder die des übergesetzlichen Notstands heranziehen“, dann wird damit die Verfassung überdehnt, was nur so lange gut geht, wie sich alle Beteiligten darüber einig sind, dass so verfahren werden soll. In dem Augenblick, in dem ein Schadensfall eintritt - möglicherweise in einer Dimension, die wir uns alle weder wünschen noch vorstellen -, wird es zu einer verfassungsrechtlichen Überprüfung kommen und dann werden sich zig Juristen monatelang über diese Frage beugen, die die Praktiker in wenigen Sekunden haben entscheiden müssen, ohne dass es hierfür irgendeine rechtliche oder praktische Regelung gibt. Für uns ist das ein unerträglicher Zustand. ({16}) Ich kann den Bundesminister der Verteidigung nur darum bitten, bei seiner Haltung zu bleiben. Denn er als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt muss in einer Gefahrenlage in Bruchteilen von Sekunden entscheiden, was zu geschehen hat. Die Entscheidung kann grausam falsch sein, egal wie sie fällt, ob Abschuss ja oder nein. Es kann richtig und unabwendbar sein; es kann aber auch falsch sein. In diesem Fall hat man aber keine Zeit für lange verfassungsrechtliche Erörterungen oder zur Regelung von Verfahren. Dafür muss es ein klares Regelwerk geben. Lieber Hans-Peter Kemper, du sagst: Wir wollen die klassische Trennung von Polizei und Bundeswehr nicht aufheben, es soll bei der derzeit im Grundgesetz festgelegten Trennung bleiben. ({17}) Hast du irgendeinen Grund zu der Annahme, dass sich die Terroristen danach richten? Ich habe die große Befürchtung, dass diesen die Kompetenzverteilung im Grundgesetz egal ist. ({18}) Wir wissen, dass mit militärischen Mitteln im Inland angegriffen werden kann. Deswegen wollen wir die Bevölkerung nicht schutzlos lassen, wenn nur die Bundeswehr einen Schutz bieten kann. Danke. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat nun der Kollege Hans-Peter Kemper von der SPD-Fraktion.

Hans Peter Kemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001083, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Wolfgang Bosbach, ich bin froh, dass ich bereits durch den Redner der Union angekündigt worden bin. Das überbrückt aber nicht die Gegensätze, die wir in dieser grundlegenden Frage haben. Die Gewährleistung der inneren Sicherheit ist Aufgabe der Polizei und der dafür in der Verfassung benannten Dienste - und nicht der Bundeswehr. Die ist dafür nicht ausgerüstet. Die hat dafür auch keine entsprechende Ausbildung und keinen Verfassungsauftrag. ({0}) Ich bin aber froh - deswegen möchte ich erst einmal meinen Dank an die Opposition richten -, dass Sie und Ihre Partei den vorliegenden Antrag gestellt haben - nicht, weil er so gut ist. Mitnichten! Das ist klar. Aber Sie haben endlich dafür gesorgt, dass das wichtige Thema der inneren Sicherheit, worüber wir in den vergangenen zehn Jahren immer nur in den Abend- und Nachtstunden diskutiert haben, zur Kernzeit und damit öffentlich debattiert wird. Sie haben dafür gesorgt, dass wir die Möglichkeit haben, unsere gute Innenpolitik und besonders die gute Politik, die wir seit Jahren im Bereich der inneren Sicherheit erfolgreich praktizieren, darzustellen. ({1}) Es ist gute sozialdemokratische Politik, dafür zu sorgen, dass die Menschen in unserem Land ohne Angst leben können. Denn ein Leben in Sicherheit, ein Leben ohne Angst ist ein Stück Lebensqualität. Das ist die Überzeugung der Sozialdemokraten und dafür stehen dieser Innenminister, diese Regierung und diese Koalition. ({2}) Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik zeigen eindeutig die Richtigkeit unserer Innen- und Sicherheitspolitik. Die Bundesrepublik gehört im internationalen Vergleich zu den sichersten Staaten der Welt. Der Anteil der Schwerstkriminalität geht zurück. Diese Debatte wird deutlich machen, dass die innere Sicherheit bei der Koalition und der Regierung in guten Händen ist, auch wenn die Opposition mit ihrem Antrag krampfhaft versucht, einen anderen Eindruck zu erwecken. Wir haben engagierte und motivierte Sicherheitsdienste, angefangen von den Länderpolizeien über den Bundesgrenzschutz und die Verfassungsschutzorgane bis hin zu den Katastrophenschutzeinrichtungen. Sie alle haben in der Vergangenheit, besonders aber nach dem 11. September gezeigt, dass sie bereit sind, ein Höchstmaß an Sicherheit zu produzieren. Auf das gesamte Sicherheitspaket der Bundesregierung, das Herr Bosbach gerade angesprochen hat, will ich nicht eingehen. Vielmehr will ich mich, weil Sie mit Ihrem Antrag auf die Zeit nach dem 11. September abzielen, nur auf diesen Zeitraum beschränken. Nach den fürchterlichen Anschlägen vom 11. September haben wir in mehreren Antiterrorgesetzen den rechtlichen und finanziellen Rahmen für zusätzliche und intensivere Maßnahmen zur Terrorbekämpfung geschaffen. Ich will nur stichpunktartig darauf eingehen. Unter strenger Beachtung der Rechtsstaatlichkeit haben wir der Polizei, dem Bundesgrenzschutz, dem BKA, Europol, den Diensten und hier ganz besonders dem Verfassungsschutz in den Bereichen Post, Luftfahrtunternehmen, Telekommunikationsunternehmen und Dienstleistungsunternehmen zusätzliche und bessere Kompetenzen gegeben. Wir haben den rechtlichen Rahmen für bessere und sicherere Personenidentifizierungen geschaffen. Wir haben die Bereitschaftspolizeien der Länder erheblich verstärkt. Wir haben gerade im Bereich der Luftsicherheit viele Dinge auf den Weg gebracht, die längst überfällig waren, so die bessere Bestreifung der Flughäfen, bessere Zugangskontrollen und bessere Gepäckkontrollen. Seit dem 1. Januar sind diese besseren Kontrollen auch auf europäischer Ebene bestätigt, denn nunmehr wird jedes Gepäckstück lückenlos kontrolliert. Wir kontrollieren die Fluggäste besser, aber auch das Personal, das auf den Flughäfen beschäftigt ist. Wir haben eine Flugbegleitung organisiert, qualifiziert und motiviert. Die so genannten Skymarshals gewährleisten auf bestimmten Flügen eine deutliche Steigerung der Flugsicherheit. Wir haben - ebenfalls unter strenger Beachtung der Rechtsstaatlichkeit - den Datenaustausch zwischen den Behörden verbessert. Das alles waren Maßnahmen, die längst überfällig waren. Wir haben das Vereinsgesetz verändert; damit wurde unter bestimmten Voraussetzungen auch das Religionsprivileg abgeschafft. Ich will gar nicht verhehlen, dass es auch mich geärgert hat, wenn Kaplan oder andere auftraten und unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit oder des Religionsprivilegs ihre Parolen verkündeten. ({3}) Aber wir haben Abhilfe geschaffen. Im Gegensatz zu Ihnen haben wir die Gesetze verändert; die Situation war in den 16 Jahren zuvor nicht anders. Kaplan war vorher auch da. Aber diese Regierung, dieser Innenminister hat es geändert. Als Konsequenz aus dieser Maßnahme sind in der Zwischenzeit entsprechende Vereinsverbote ergangen, auch im Hinblick auf Gruppen, die seit langem hier tätig waren. ({4}) Wir haben Vorkehrungen getroffen, die die Einreise von Terroristen in die Bundesrepublik verhindern bzw. die es ermöglichen, solchen Gruppen zugehörige Personen wieder auszuweisen, wenn sie denn schon hier sind. Nun komme ich kurz auf den Antrag der CDU/CSU zu sprechen. Sie fordern, die Einreise von Terroristen zu verhindern. Da frage ich mich: Wer will das denn nicht? Glauben Sie, Sie allein wollten das? Das, was Sie in dem Antrag fordern, ist doch längst Realität. ({5}) Nach dem Ausländergesetz werden Personen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik gefährden, sich an Gewalttätigkeiten beteiligen, zu Gewaltanwendungen aufrufen, mit Gewaltanwendung drohen oder einer Vereinigung angehören, die den internationalen Terrorismus oder derartige Vereinigungen unterstützt, gar nicht ins Land gelassen bzw. wieder ausgewiesen, wenn sie sich im Land befinden. Ich führe ein anderes Beispiel an; Herr Bosbach hat die Regelanfrage angesprochen. Die Regelanfrage wird in den Bundesländern längst praktiziert, ({6}) und zwar von allen Bundesländern. Genauso ist es möglich, erkennungsdienstliche Behandlungen im Rahmen des jetzt geltenden Ausländerrechts durchzuführen. Wir hatten im Zuwanderungsgesetz einige Verstärkungen und Verschärfungen vorgesehen, die auch in Ihrem Sinne gewesen wären. Sie haben dieses Zuwanderungsgesetz zu Fall gebracht. ({7}) Die von Ihnen jetzt beklagte Situation - fehlende Integration, unkontrollierte und ungesteuerte Zuwanderung - ist auf der Basis des alten Rechtszustandes, den Sie lange Jahre zu vertreten hatten, entstanden. ({8}) Wir wollten das ändern, Sie haben es verhindert. Bejammern Sie also nicht die Ergebnisse Ihrer eigenen Politik! ({9}) Da ich mich nicht zu lange mit Ihrem Antrag aufhalten will, nenne ich nur noch ein letztes Beispiel. ({10}) Die Union behauptet in ihrem Antrag, dass es Defizite im Katastrophenschutz gibt. Ich will nicht bestreiten, dass es da eine Menge zu verbessern gibt, aber es gehört auch zur historischen Wahrheit, dass es die Vorgängerregierung unter Ihrem Innenminister Kanther war, die den Katastrophenschutz massiv zurückgefahren hat. ({11}) Das war ein Innenminister, von dem Sie heute nicht mehr so viel wissen wollen, weil er sich im Dunstkreis der organisierten Kriminalität bewegt hat. ({12}) Ich habe die Worte des Innenministers noch genau im Ohr. Er hat gesagt: Wir haben nach der deutschen Einheit und den Veränderungen in Europa eine veränderte Bedrohungslage, wir müssen den Katastrophenschutz zurückführen. Sie haben den BVS platt gemacht und hoch qualifizierte und engagierte Leute auf die Straße geschickt bzw. völlig unsinnig im Langen Eugen Feuerstreife laufen lassen. Sie haben den Sirenenalarm ohne adäquaten Ersatz abgeschafft. Sie haben das THW drastisch verringert. ({13}) Ich habe noch genau vor Augen, wie die Ortsverbände des THW in Nordrhein-Westfalen um ihre Existenz gekämpft und verloren haben, weil Sie und der Innenminister es nicht wollten. Wir sind diesen Weg - da haben Sie Recht - zu großen Teilen mitgegangen. Das ist überhaupt keine Frage, ({14}) aber wir stehen auch heute noch dazu, während Sie in Ihrem Antrag den Eindruck erwecken, als ob wir das zu verantworten hätten. ({15}) Sie bejammern die Früchte Ihrer eigenen Politik und Ihres eigenen Fehlverhaltens. ({16}) Wir haben die Notwendigkeit funktionierender Katastrophenschutzeinrichtungen erkannt und umgesteuert. Wir haben in diesem Bereich dafür gesorgt, dass die finanzielle Ausstattung und die Akzeptanz der Katastrophenschutzeinrichtungen wieder so ist, wie es sich gehört. Gestern haben wir im Innenausschuss den Einzelplan 06 beraten. Herr Bosbach, Sie waren nicht dabei, aber Sie wissen das auch so. Dabei müsste Ihnen aufgefallen sein, wie die Aufwüchse im Bereich der inneren Sicherheit sind. ({17}) Ich will Ihnen nur einige Beispiele nennen: Aufwuchs im Bereich des THW gegenüber dem letzten Jahr 21,3 Prozent, Aufwuchs im Zivilschutz gegenüber dem letzten Jahr 37,78 Prozent, Aufwuchs im Bundesgrenzschutz 12,31 Prozent, Aufwuchs beim Bundeskriminalamt 20 Prozent und beim Bundesamt für Verfassungsschutz 22 Prozent. Ich kann mich nicht erinnern, dass Ihre Regierung jemals so viel für funktionierende Sicherheitseinrichtungen und damit für die innere Sicherheit getan hat. ({18}) Ich behaupte nicht, dass wir ein Patentrezept haben. Das hat keiner. Kein Gesetz dieser Welt und keine Verfassungsänderung hätten die Anschläge vom 11. September verhindern können. Es gehört aber auch zur Ehrlichkeit, den Menschen zu sagen, dass es eine absolute Sicherheit und den absoluten Schutz vor Kriminalität nicht gibt. Deswegen sage ich Ihnen, die CDU sollte ihren Antrag zurückziehen. Er ist ein Sammelsurium von überholten und populistischen Behauptungen und Einzelstücken. Sie sollten mit uns zusammen den Weg weitergehen. Das ist ein guter Weg für die innere Sicherheit und wir hätten gemeinsam Erfolg. Schönen Dank. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Piltz von der FDP-Fraktion.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Unionsfraktion will Deutschland wirksam vor Terroristen und Extremisten schützen. Nach Auffassung der FDPFraktion bedarf es dazu keiner neuen Gesetze und schon gar nicht der von Ihnen vorgeschlagenen. ({0}) Bevor sich die SPD zu früh freut: Herr Kemper, das wird kein Lob für Sie. Sicherheit ist der Schutzwall der Freiheit unserer Gesellschaft und jedes Einzelnen. Ohne Zweifel hat dieser Wall Risse und Löcher, doch wird man diese nicht dadurch stopfen, dass immer neue Gesetze den Schutzwall immer höher werden lassen. Wir müssen die bestehenden Schutzmechanismen stärken, indem wir Vollzugsdefizite abbauen und nicht die Freiheit in blindem Aktionismus einmauern. ({1}) Unsere Aufgabe ist es, die Ängste und Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ernst zu nehmen und ihren berechtigten Anspruch auf Sicherheit einzulösen. Unredlich ist es, vorzugaukeln - wie Sie dies tun -, dass die Sicherheit allein durch neue und schärfere Gesetze gewährleistet werden kann. ({2}) Schon das Sicherheitspaket II der Bundesregierung hat die FDP-Fraktion abgelehnt, ({3}) weil die Verhältnismäßigkeit zwischen Freiheit und Sicherheit nicht gewahrt war. ({4}) Dass Sie von der CDU/CSU dies nicht nachvollziehen können, ist mir völlig klar. Nun aber in gesetzgeberischen Aktionismus zu verfallen, wie von Ihnen gefordert, ist der falsche Weg. Die Unionsfraktion stellt in ihrem Antrag jeden Ausländer, der die Grenzen Deutschlands zu überqueren sucht, unter den Generalverdacht des Terrorismus und des Extremismus, ({5}) insbesondere wenn der Ausländer muslimischen Glaubens ist. Die Religionszugehörigkeit allein ist kein potenzielles Gefahrenmerkmal. Die Sudanesin, die vor der Scharia flieht, ist ebenso Muslimin wie die von der Steinigung bedrohte Nigerianerin. Gleiches gilt für den religionskritischen Schriftsteller aus einem arabischen Land. Nicht die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft, sondern die innere Gesinnung ist entscheidend für mögliche Gefahren. ({6}) Dies können Sie aber nicht durch eine einfache Abfrage des Glaubens erfahren. ({7}) Daher wird mit der verpflichtenden Speicherung im Ausländerzentralregister - wie von Ihnen im Antrag gefordert - kein Plus an Sicherheit gewonnen. ({8}) Aber nach Ihrer Vorstellung, liebe Kollegen von der CDU/CSU, soll der Staat ohnehin zum sammelwütigen Datenjäger werden. Biometrische Daten sollen nicht nur in den Ausweispapieren von Ausländern gespeichert werden - dies könnte noch eine sinnvolle Maßnahme sein -, sondern Sie wollen auch noch biometrische Daten, die Sie nicht näher spezifizieren, in verschlüsselter Form grundsätzlich in allen Ausweispapieren und für Behörden abrufbar speichern. Heißt dies im Klartext, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wollen den verschlüsselten gläsernen Bürger, auslesbar für die Behörden, unverständlich für den Bürger selbst? Dies wird die FDP nicht mitmachen. ({9}) Folgt man dem hier vorgelegten Entwurf der CDU/CSU, so soll der Staat auch nicht vor einer Ausweitung der Wohnraumüberwachung Halt machen. Gerade hier, wo es um einen besonders intensiven Eingriff in die Privatsphäre der Menschen geht, muss sehr sorgfältig abgewogen werden. ({10}) Eine verdachts- und gefahrunabhängige Überwachung von Wohnräumen durch Sender oder Video darf es nicht geben. Die Position der FDP-Fraktion ist und bleibt klar und eindeutig: Es muss immer der begründete Verdacht einer schweren Straftat vorliegen, wenn in den durch Art. 13 des Grundgesetzes geschützten Raum eingegriffen wird. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die FDP-Fraktion teilt allerdings die Kritik an der Bundesregierung bezüglich einer verfehlten Europapolitik. Statt konsequent mit den europäischen Partnern zusammenzuarbeiten, geht die Bundesrepublik einen eigenen Weg. Weder wirkt die Bundesrepublik auf die Partner ein, sich an die eigenen Beschlüsse zu halten, zum Beispiel wenn es um die Schaffung eines einheitlichen digitalen Funknetzes für die Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben geht, noch kümmert sie sich aus unserer Sicht ausreichend um die Umsetzung gemeinsamer europäischer Alarmpläne für Katastrophenfälle. Dies ist aus meiner Sicht der falsche eigene deutsche Weg. ({12}) Weder Naturkatastrophen noch Terroristen machen an nationalen Grenzen halt. Die Kleinstaaterei, die auch von der deutschen Regierung in Europa betrieben wird, behindert eine effektive grenzüberschreitende Bekämpfung. ({13}) - Dass Sie das nicht so sehen, ist mir auch klar. In den vergangenen Tagen hat uns der versuchte Flugzeugangriff auf die Frankfurter Banktürme beschäftigt. Die dadurch aufgeworfenen Fragen des Umgangs mit einem möglichen Terrorangriff im Luftraum riefen bei CDU/CSU, aber auch bei der SPD die reflexartige Forderung nach dem Einsatz der Bundeswehr im Innern hervor. ({14}) Die Bundeswehr soll nun nach dem vorgelegten Entwurf mehr Kompetenzen im Innern erhalten, um den Zivil- und Katastrophenschutz zu verstärken. Die Hürden, die das Grundgesetz aufstellt, sollen nach Ihrer Forderung fallen. Dies haben Sie vorhin hier auch selber gesagt. Die Sicherungsmechanismen, die davor bewahren sollen, dass eine deutsche Armee jemals wieder gegen ihre eigenen Bürger eingesetzt wird, sollen einem gesetzgeberischen Aktionismus weichen. Zu derartigen Plänen kann ich für die FDP-Fraktion nur erklären: Nicht mit uns! ({15}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen alles daran setzen, um unsere Freiheit zu bewahren, auch wenn das in mancherlei Hinsicht verwundbar macht. Nach unserer Auffassung ist unsere Freiheit das aber wert. Neue und schärfere Gesetze sind gerade in den vergangenen Jahren zur Genüge in Kraft getreten. Sie strapazieren die Freiheit unserer Gesellschaft und jedes Einzelnen aus unserer Sicht schon genug. Belassen wir es dabei! Setzen wir konsequent um, was uns der Rechtsstaat an die Hand gibt, und vergessen wir dabei nie, dass es die Freiheit ist, um die wir kämpfen! Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wir stimmen sicherlich Ihrer Überschrift zu, aber auf gar keinen Fall Ihrem Antrag. Vielen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Piltz, ich darf Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag herzlich gratulieren. ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Piltz, ich möchte Ihnen zu Ihrer ersten Rede gratulieren. Sie war, zumindest im ersten Teil, sehr erfreulich. Ich bitte Sie aber - vielleicht könnten die Gratulanten aus der eigenen Fraktion das Zuhören ermöglichen -, Ihren Redetext den Mitgliedern Ihrer Landesregierungen zuzuschicken. ({0}) Denn ich entsinne mich noch an die Beratungen des Sicherheitspaketes: Gerade die von CDU und FDP regierten Länder haben Verschärfungsanträge in den Bundesrat eingebracht. ({1}) Die FDP im Bundestag vertritt die gegenteilige Linie. Mal sehen, was Herr Bouffier, ein christlich-liberaler Innenminister, nachher zu diesen Fragen zu sagen hat. Die rot-grüne Bundesregierung bekämpft den Terrorismus in Deutschland mit allen legitimen Mitteln und mit großem Erfolg. Unser zügig umgesetztes Antiterrorgesetz greift in der Praxis. Die Festnahmen der letzten Tage zeigen eindeutig: Deutschland ist kein Platz, an dem sich mutmaßliche Terroristen sicher fühlen können. ({2}) Im Gegenteil: Sie müssen mit dem energischen Zugriff unserer Sicherheitsbehörden rechnen. Das ist gut so; denn auf diese Weise reduzieren wir die Gefährdung durch terroristische Aktivitäten in unserem Land enorm. Wir machen es also nicht mit halber Kraft, wie Sie behauptet haben, Herr Bosbach, wir machen es mit klarem Verstand. ({3}) Honoriert wird unser erfolgreicher Kampf gegen den Terrorismus von unserem wichtigsten Bündnispartner, den USA. Ich erinnere nur an die in den letzten Tagen gefallene Äußerung des amerikanischen Innenministers Ashcroft, der sich unmittelbar nach dem Zugriff auf die al-Qaida-Mitglieder bei der Bundesregierung für die gute Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus bedankt hat - zu Recht. Lassen Sie sich gesagt sein und nehmen Sie endlich zur Kenntnis, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU: Rot-Grün handelt im Kampf gegen den Terror erkennbar erfolgreich und verlässlich. Sie dagegen re1474 den nur und versuchen, mit Anträgen, teilweise unausgegorenem Zeug und mit Dingen, die mit der Sache überhaupt nichts zu tun haben, die Bevölkerung und die innenpolitische Debatte zu irritieren. ({4}) Wenn zu lesen ist, dass selbst der Doppelpass eines der zentralen Sicherheitsrisiken beim Kampf gegen den Terrorismus ist, ({5}) dann sieht man, dass es dem Antrag wirklich an Ernsthaftigkeit fehlt. Sie versuchen nach alter Manier, so wie immer zwei Wochen vor einer Landtagswahl, das Thema innere Sicherheit zu instrumentalisieren. Herr Koch wird diese Debatte bestellt haben. Sie wollen Ängste schüren. Sie verunsichern die Bevölkerung und stellen Bedrohungsszenarien auf, die es nicht gibt. Das ist Wahlkampf à la CDU/CSU, wie wir ihn schon lange kennen: substanzlos, polemisch und gegen Minderheiten gerichtet. ({6}) Meine Kollegin von der FDP, es war richtig, dass die Koalition in der letzten Wahlperiode die beiden Antiterrorpakete auf den Weg gebracht hat. Viele Instrumente waren notwendig, um unser Land sicher zu machen. Wir haben, um nur ein Beispiel zu nennen, von der alten Bundesregierung eine Visadatei übernommen, die reiner Datenschrott war. In ihr wurde noch nicht einmal verzeichnet, ob der Antragsteller ein Visum bekommen hatte oder ob wir Erkenntnisse hatten, dass wir es ihm verweigern mussten. Da das nicht festgehalten worden ist, konnte derjenige, dem das Visum verweigert worden ist, am nächsten Tag im nächsten Land zu einer anderen Botschaft gehen, es bestellen und einreisen. Das kann es doch wirklich nicht sein. Solche Dinge mussten wir ändern und wir haben sie geändert. Damit haben wir unser Land sicherer gemacht, ohne die Freiheitsrechte in diesem Land zu beschädigen oder zu gefährden. ({7}) Wir haben dafür gesorgt - das wurde schon angesprochen -, dass sich Vereine nicht hinter dem Religionsprivileg verstecken können und dadurch gegen Minderheiten hetzen, zu Gewalt aufrufen und Terroranschläge finanzieren oder selbst vorbereiten können. In der Vergangenheit hat es schon zwei Verbote gegeben, nämlich das des Aachener Vereins Al-Aqsa und das des radikal-islamischen Kalifatstaats. Das war richtig, vernünftig und gut. Gestern hat der Bundesinnenminister Hizb ut-Tahrir, die Partei der Befreiung, verboten. Wenn man ins Internet schaut - weil die Internetseiten aus dem Ausland kommen, gibt es sie noch -, findet man grässliches Zeug. Trotzdem wird man dort in den nächsten Tagen - auch das habe ich auf einer Seite gelesen einen Brief finden können, in dem sie sich als brave und unschuldige, gewaltfreie Lämmer gerieren. Unter der Überschrift „Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt ...“ steht dort: „Ihr sollt das hässliche Judengebilde vernichten ...“ und dergleichen mehr. Selbstverständlich ist das untragbar. Solche Leute dürfen in unserem Land nicht agitieren, sich nicht organisieren und für ihre Ziele nicht werben. ({8}) Herr Innenminister, meine Fraktion unterstützt Ihr energisches und entschlossenes Vorgehen ausdrücklich. Diese Maßnahme war dringend überfällig. Es ist gut, dass wir die Rechtsgrundlage für solche notwendigen Maßnahmen geschaffen haben. ({9}) Der 11. September hat uns eine neue schreckliche Dimension des internationalen Terrorismus vor Augen geführt. Selbstverständlich hat sich der Kampf gegen diese Strukturen mit unseren beiden Sicherheitspaketen nicht erledigt. Im Bereich des Vollzugs und der Umsetzung gibt es noch viel zu tun. Wir meinen - dies haben wir uns in der Koalitionsvereinbarung auch vorgenommen -, dass die Arbeit der Geheimdienste dringend auf ihre Effizienz hin, auf die Effizienz der Kontrolle und auf die Effizienz der Zusammenarbeit der verschiedenen Dienste von Bund und Ländern, überprüft werden muss. Wenn wir dabei feststellen werden, dass es bei der Zusammenarbeit Verbesserungsmöglichkeiten gibt, dann werden wir sie sicherlich genauso auf den Weg bringen wie bei den Verbesserungen der Kontrollmöglichkeiten. Hier wird Rot-Grün das Notwendige tun. ({10}) Trotz der vielen Fortschritte, die wir in der letzten Wahlperiode bereits erreicht haben, werden wir ein ambitioniertes Programm vorlegen. Schauen Sie sich einmal an, was wir in der letzten Wahlperiode getan haben. Das Innenministerium hat die Einzelmaßnahmen zum Kampf gegen den Terrorismus auf vier eng beschriebenen Seiten mit Spiegelstrichen aufgeschrieben. All diese Maßnahmen atmen den Hauch der Verhältnismäßigkeit. ({11}) Dabei wurde zwischen dem, was notwendig ist, und dem, was für die Bürgerrechte und die Rechtsstaatlichkeit unseres Landes verträglich ist, abgewogen. Der heutige Antrag der Union ist das glatte Gegenteil; er ist voller Ladenhüter. Auch wenn Sie die Debatte über die Fragen der Kompetenzen der Bundeswehr hier erneut aufflammen lassen, werden Sie bei uns nicht auf offene Türen stoßen. Art. 35 des Grundgesetzes ermöglicht es uns, immer dann, wenn wir zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit zwingend auf die Fähigkeiten der Bundeswehr zurückgreifen müssen, im Rahmen der Amtshilfe das Notwendige zu tun. Dafür gibt es hinreichende verfassungsrechtliche Grundlagen. Volker Beck ({12}) Volker Beck ({13}) Es mag aber sein, dass es auch unterhalb der Ebene der Verfassungsänderung die Notwendigkeit gibt, Verfahrensabläufe zwischen Bund und Ländern zu klären. Das kann man nicht erst tun, wenn die Gefahr vor der Tür steht. ({14}) Wir müssen schauen, ob wir im Gesetz eine Präzisierung bezüglich der Anwendung des unmittelbaren Zwangs brauchen, um Rechtsklarheit für die Soldatinnen und Soldaten zu schaffen. Der Verteidigungsminister hat völlig Recht: Er engagiert sich als Anwalt für die Soldatinnen und Soldaten, um Rechtsklarheit bezüglich der Grundlagen zu schaffen. Ich bin trotzdem froh, dass der Bundeskanzler gesagt hat, dass es hierzu keine Grundgesetzänderung geben wird, ({15}) weil es keine Lücken gibt. Sie wollen diese Fragen ja auch nicht klären. ({16}) Sie wollen einen Schritt in Richtung Militarisierung der Innenpolitik gehen. ({17}) Deshalb führen Sie hier diese ideologische Debatte. Um das tun zu können, was wir tun wollen, brauchen wir sie nicht. Herr Bosbach, genauso abwegig ({18}) war vorhin Ihre Einlassung zum Thema Kronzeugenregelung. Selbstverständlich haben wir in unserem Koalitionsvertrag vereinbart, eine allgemeine Strafmilderungsvorschrift, unter anderem für Präventions- und Aufklärungsgehilfen, unter bestimmten Voraussetzungen zu ermöglichen. (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Ist das eine Kronzeugenregelung? - Das ist nicht der Weg zurück zur alten Kronzeugenregelung, dem schmutzigen Deal des Rechtsstaats mit Schwerverbrechern, bei dem Mörder straffrei ausgehen, obwohl sie möglicherweise noch nicht einmal eine richtige Aussage gemacht und andere fälschlicherweise belastet haben. Diesen schmutzigen Deal wird es nicht geben. Sie werden sehen: Wir werden etwas Vernünftiges, Praktikables ({19}) und rechtsstaatlich Verantwortbares vorlegen, auch wenn es Ihnen nicht gefällt. Herr Kollege Bosbach, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede gesagt, man brauche unbedingt mehr Rasterfahndung, was auch die Sicherheitsbehörden forderten. ({20}) - Ich habe zur Kenntnis genommen, dass Sie dabei einen Sicherheitspolitiker zitiert haben. Ich meine, die Union sollte, wenn ein hessischer Innenminister anwesend ist, besonders ruhig sein. Es war die Rasterfahndung in Hessen, die von den entsprechenden Gerichtshöfen wegen ihrer Rechtswidrigkeit außer Kraft gesetzt wurde. Erledigen Sie erst einmal Ihre Hausaufgaben. Machen Sie die Sicherheitspolitik vor allen Dingen genauso rechtsstaatlich wie diese Bundesregierung. Dann sprechen wir uns wieder. ({21}) Am besten - da schließe ich mich Herrn Kemper völlig an - packen Sie diesen Antrag am 3. Februar, wenn der Wahlkampf vorbei ist und wir ihn für diese Auseinandersetzung nicht mehr brauchen, einfach wieder ein. Seriöse Substanz ist darin einfach nicht zu finden. Schließen Sie sich den Initiativen dieser Koalition an. Dann sind Sie vor allem in der Innenpolitik gut beraten. ({22})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Koschyk von der CDU/CSU-Fraktion.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Beck, die bisherigen Maßnahmen von Rot-Grün bei der Terrorismusbekämpfung atmen nicht, wie Sie uns einreden wollen, den Hauch der Verhältnismäßigkeit, sondern die kalte Brise rot-grüner Uneinigkeit und Handlungsunfähigkeit wird in jeder Zeile der bisherigen Sicherheitspakete deutlich. Im Gegensatz zur FDP haben wir sie übrigens mitgetragen. Aber wir haben bei der Verabschiedung immer deutlich gemacht, dass wir sie für unzureichend halten. Wir wissen - darüber dürfen wir unsere Bevölkerung nicht im Unklaren lassen -: Absoluten Schutz vor terroristischer Bedrohung kann und wird es nicht geben. Aber es ist und bleibt Aufgabe verantwortungsvoller Politik, alle Vorkehrungen für einen bestmöglichen Schutz unserer Bevölkerung vor terroristischen Angriffen zu treffen. ({0}) Welche Aktualität unser heute vorgelegter Antrag hat, hat nicht zuletzt die Frankfurter Flugzeugentführung, aber auch die Verhaftung mutmaßlich hochrangiger jemenitischer Mitglieder des Terrornetzes al-Qaida in Frankfurt gezeigt. Beide Ereignisse belegen: Der Abwehrkampf gegen den Terrorismus in Deutschland hat gravierende Sicherheitslücken. Wir meinen, dass die Bundesregierung bislang noch nicht alle notwendigen Konsequenzen aus den Ereignissen des 11. September gezogen hat. ({1}) Die Frankfurter Flugzeugentführung belegt, dass die Bundesregierung auf einen derartigen Fall äußerst dürftig vorbereitet ist: Uneinigkeit und Kompetenzstreit statt sicherer Handlungsgrundlagen. In einem so wichtigen Bereich geht das so nicht. Herr Bundesinnenminister, die Innenministerkonferenz hat bereits im Dezember 2001 wegen des Gefährdungspotenzials von Kleinflugzeugen die Bundesregierung zu Aktivitäten aufgefordert. Wenn ich gestern bei dem, was Herr Staatssekretär Körper in der Fragestunde gesagt hat, richtig zugehört habe, dann muss ich feststellen, dass außer der Umsetzung der EU-Richtlinie in diesem Bereich bislang zu wenig passiert ist. ({2}) Der Streit zwischen Ihnen, Herr Minister Schily, und Herrn Verteidigungsminister Struck zeigt, dass selbst eineinviertel Jahre nach den Anschlägen vom 11. September keine klaren Regelungen für den Einsatz der Bundeswehr bei einer Gefahr im Innern getroffen worden sind, wie wir sie in unserem vorliegenden Antrag fordern. Es reicht nicht, dass die Bundesregierung nach dem 11. September über ein Jahr braucht, um zu diesem Sachverhalt erst einmal eine Arbeitsgruppe einzusetzen. Wir meinen, dass die rechtlichen Grauzonen beseitigt werden müssen und dass Art. 35 des Grundgesetzes geändert werden muss. Denn letztlich muss klar sein, wer in einer Krisenlage die Entscheidungsbefugnis besitzt, notfalls auch ein gefährliches Flugziel abschießen lassen zu können. Solche Entscheidungen können nicht erst in der Stunde der Gefahr getroffen werden. Herr Minister Struck, wir teilen mit Ihnen die Auffassung, dass Soldaten, die in solchen Fällen auf Ihren Befehl hin unter Umständen auch Flugzeuge abschießen müssten, nach der derzeitigen Rechtslage weder vor Strafverfolgung wegen vorsätzlicher Tötung noch vor Schadensersatzklagen geschützt sind. In den Medien wurde heute darüber berichtet, dass Sie sich in diesem Sinne geäußert haben. Wir teilen Ihre Auffassung voll und ganz, auch dahin gehend, dass die Verantwortlichkeit geklärt werden muss. Denn wenn etwa bei dem jüngsten Zwischenfall der hessische Ministerpräsident die Zuständigkeit des Verteidigungsministers nicht akzeptiert hätte, dann wäre diese Frage rechtlich umstritten gewesen. Eine verantwortliche politische Führung erfordert Einigkeit, um handlungsfähig zu sein. Deshalb bieten wir Ihnen an: Wir treten gerne mit Ihnen in Gespräche über die Beseitigung dieser rechtlichen Grauzone und darüber ein, wie wir auch in der Verfassung einwandfreie rechtliche Grundlagen für solche Fälle - auf die wir uns einstellen müssen; das hat der Vorfall in Frankfurt deutlich gezeigt - schaffen können, um zu klären, wie wir in dieser Frage zu einem politischen Konsens kommen können. ({3}) Ein Wort zu der Verhaftung der zwei mutmaßlichen al-Qaida-Mitglieder aus dem Jemen. In der Presse wurde der Eindruck von Schlagkraft erweckt. Dieser Eindruck hält aber einer ernsten Prüfung nicht stand. Bislang wurde der Innenausschuss des Bundestages noch nicht über alle Zusammenhänge der Verhaftung informiert, aber schon die Berichterstattung in den Medien macht deutlich, dass der Zugriff nicht auf eigene Initiative hin erfolgte, sondern lediglich auf Ersuchen der Amerikaner. ({4}) Die verhafteten Männer waren von den Amerikanern als hochrangige al-Qaida-Mitglieder identifiziert worden; die deutschen Behörden hatten offensichtlich keine eigenen Erkenntnisse über die beiden. Das heißt, ohne Warnung und Ersuchen der Amerikaner hätten sich die beiden in Deutschland aufgehalten. Sie haben auch von den deutschen Behörden problemlos ein Visum erhalten, und zwar obwohl der Jemen ein so genannter Problemstaat ist, bei dem nach einer durch das Sicherheitspaket II eigens geschaffenen Vorschrift besondere Sicherheitsschranken gelten sollen. Es muss auch zu denken geben, dass die Bundesregierung nach eigenen Angaben in der Fragestunde des Bundestags allein im vergangenen Jahr 300 000 Visa für Angehörige aus so genannten Problemstaaten erteilt hat. Das alles zeugt nicht von Schlagkraft, sondern es macht deutlich, dass es Sicherheitslücken gibt, die dringend und schnell geschlossen werden müssen. Weil wir in der Analyse der Sicherheitslage einig sind, müsste es doch möglich sein, auch einmal vorbehaltlos über unsere Vorschläge und Anregungen zu diskutieren. Die alte Spielregel „Die Konkurrenz hat immer Unrecht, auch wenn sie Recht hat“ sollte bei einem so wichtigen Thema nicht gelten. ({5}) Wir wollen mit unserem Antrag zwei Ziele erreichen. Zum einen wollen wir den notwendigen Sicherheitsgewinn ermöglichen. Die Schutzlücken müssen beseitigt werden. Wir wollen aber zum anderen auch eine gesellschaftliche Debatte über die Grenzen von Toleranz anstoßen; denn wir sind überzeugt, dass der Kampf gegen den Terrorismus nicht nur Angelegenheit von Polizei, Sicherheitsdiensten und schärferen Gesetzen ist, sondern wir müssen auch über die gesellschaftspolitische Dimension dieses Themas diskutieren. Ich will noch auf das eingehen, was Sie zum Thema Regelanfrage beim Verfassungsschutz im Einbürgerungsverfahren ausgeführt haben, Herr Kemper. Sind Sie nicht mit mir einer Meinung, dass es keinen Sinn macht, wenn wie in Schleswig-Holstein eine solche Anfrage nur mit Zustimmung des Betroffenen erfolgen kann? Das ist doch weiße Salbe. ({6}) Weil die bisherigen Verbotsverfahren gezeigt haben, dass es sich nicht mehr nur um ein Ausländer-, sondern auch um ein Inländerproblem handelt, ist auch im Einbürgerungsverfahren die Regelanfrage notwendig, damit wir doppelt hinsehen, wer aus einem solchen Bereich deutscher Staatsbürger wird. Lieber Herr Bundesinnenminister, es fällt schon auf, dass die Verbotsverfahren immer kurz vor Wahlen erfolgen. Wir begrüßen diese Verbotsverfahren. Aber die beiden ersten fanden kurz vor der Bundestagswahl statt. Zwei Tage vor der Bundestagswahl haben Sie die Ausweisung von Kaplan zu einem großen Thema gemacht. Jetzt, kurz vor den Wahlen Anfang Februar, erfolgt wieder ein Verbotsverfahren und wird das Thema Kaplan wieder hochgezogen. Wir wollen, dass unabhängig von Wahlterminen und möglichst in einem großen politischen und gesellschaftlichen Konsens entschieden gegen terroristische Gefahren in unserem Land vorgegangen wird. ({7}) Lassen Sie mich noch einen Satz zur gesellschaftlichen Dimension dieses Themas sagen. Wir müssen uns fragen, wie viel Unterschiedlichkeit ein Land verträgt und wie viel Gemeinsamkeit es braucht, um seine innere Bindungskraft und seine Widerstandsfähigkeit gegenüber extremistischen Strömungen zu behaupten. Wir wissen bzw. müssen zur Kenntnis nehmen, dass es bei Zuwanderern aus fremden Kulturkreisen eine deutliche Tendenz zu Parallelgesellschaften gibt, in denen sie sich von unserer Werte- und Gesellschaftsordnung abschotten, ja, sie sogar massiv bekämpfen. ({8}) Darin zeigt sich, Herr Kollege Veit, auch die ganze Problematik der rot-grünen Zuwanderungspolitik, die die Integration der bereits hier lebenden Ausländer vernachlässigt und die Zuwanderung trotzdem massiv ausweiten will. ({9}) Deshalb müssen wir die neu eröffnete Zuwanderungsdebatte nicht nur unter dem Gesichtspunkt ökonomischer und sozialer Verträglichkeit von Zuwanderung nach Deutschland führen, sondern bei dieser Debatte auch dem Sicherheitsaspekt und der Frage des inneren Friedens in unserem Land eine zentrale Bedeutung beimessen. Im Interesse der Sicherheit unserer Bürger müssen wir dafür Sorge tragen, dass unser Zuwanderungs- und Ausländerrecht nicht auch weiterhin dazu führt, dass Deutschland Ruhe- und Aktionsraum für islamistische Terroristen ist. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelie SonntagWolgast von der SPD-Fraktion.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass der vornehmlich islamistisch geprägte internationale Terrorismus auch unser Land bedroht. Es gibt ebenso wenig Zweifel daran, dass nicht nur die Sicherheitsdienste, sondern auch die Parlamentarier zu äußerster Wachsamkeit aufgerufen sind. Es ist richtig, dass sich die Lage seit dem 11. September 2001 nicht entspannt hat. Wir haben also keinen Anlass, das Problem zu verharmlosen, aber, meine Damen und Herren, auch keinen Anlass zu Panik und Psychose. Diese Regierung und die sie tragenden Fraktionen haben umfassende Maßnahmen eingeleitet, um die Gefahren durch Gesetze sowie durch operative und organisatorische Vorkehrungen zu Lande, zu Wasser und in der Luft einzudämmen. Personen, Gebäude und sensible Einrichtungen werden stärker bewacht, Kontrollen wurden verschärft, BGS-Beamte als Sky Marshalls geschult, mögliche Kommunikationswege des internationalen Verbrechens unter die Lupe genommen, das Vereinsrecht wurde geändert und die Befugnisse der Sicherheitsbehörden mit ihren Kooperationsmöglichkeiten untereinander haben wir erweitert. Der Haushalt des Bundesministeriums des Innern weist trotz der angespannten Finanzlage deutliche Steigerungsraten auf; mein Kollege Kemper ist darauf eingegangen. All dies und vieles mehr dient der Wahrung und Stärkung der Sicherheit und insbesondere dem Kampf gegen den Terrorismus. Meine Damen und Herren, wenn man sich nun den umfangreichen Antrag der Unionsfraktion anschaut, muss man streckenweise den Eindruck gewinnen, ihre Verfasser lebten in einem anderen Staat. Offenbar wollen Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen, einfach nicht wahrhaben, was alles geschehen ist, was weiter geschieht und was wir in der zurückliegenden Legislaturperiode gemeinsam beschlossen haben. Sie wollen offensichtlich nicht eingestehen, dass diese Regierung entschlossen handelt. ({0}) Ich gebe gern zu, dass uns diese Art des Terrorismus immer wieder vor unvorhergesehene Fragen stellt, mit denen wir nicht gerechnet haben. Freilich geht es zuweilen auch um Themen mit ganz anderem Hintergrund, die aber Assoziationen zu den schrecklichen Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon erwecken, wie wir es kürzlich erlebten, als ein vermutlich geistesgestörter Mann über das Frankfurter Bankenviertel flog. Abgesehen von der Frage nach der verfassungsrechtlichen Legitimation möglicher Bundeswehreinsätze, die ich durch Art. 35 des Grundgesetzes gedeckt sehe, sollten wir uns darüber einig sein, dass es eine schleichende Durchmischung bei der Zuständigkeit für die Gefahrenabwehr im Inland nicht geben darf. ({1}) Kehren wir zum - leider - real existierenden Terrorismus zurück und halten wir fest: Die beiden Gesetzeswerke, die so genannten Antiterrorpakete I und II, die wir beschlossen haben, bieten, Frau Kollegin Piltz, ein breit gefächertes Instrumentarium und sie greifen - das haben Sie richtig dargestellt - auch in sensible Bereiche des Datenschutzes und der persönlichen Rechte ein. Sie sind so umfassend, dass wir in Teilen eine Befristung beschlossen haben. Wir werden also nach einer gewissen Zeit die Tauglichkeit und die Tragfähigkeit dieser Gesetze überprüfen. Sie müssen jetzt ihre Wirkung entfalten, das heißt, von den Sicherheitsorganen und ihren Mitarbeitern ausgeschöpft werden. Das geschieht beispielsweise auch mit den jüngst ergangenen Verboten. Herr Kollege Koschyk, schade, dass Sie gerade telefonieren, aber ich muss in diesem Moment sagen: Sie können doch unseren Sicherheitskräften nicht unterstellen, dass sie möglicherweise bis zu Wahlen oder zum Weihnachtsfest abwarteten oder nach irgendwelchen Erfolgen bzw. nach irgendwelchem Applaus schielten, wenn sie sich genötigt fühlten, eine Festnahme im Sinne dieser Gesetze vorzunehmen. Das kann doch wohl nicht sein. Sie müssen eine solche Behauptung bzw. Vermutung zurücknehmen. Das hat nun wirklich nichts mit Wahlen zu tun. ({2}) Mir drängt sich der Eindruck auf, dass Sie bei Ihrem Antrag auf der Suche nach möglichen Lücken oder Mängeln vorgegangen sind wie jemand, der sich in eine eigentlich gut gepflegte Grünanlage begibt und nun mühsam nach irgendwelchen Abfallresten Ausschau hält. ({3}) Der Wortreichtum, den Sie entfalten, ersetzt freilich nicht die gebotene Überzeugungskraft und Stringenz. Was bezwecken Sie eigentlich mit Ihrer kampagnenartigen Schelte der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, das angeblich - ich betone das - kriminellen Ausländern den Zugang in die Bundesrepublik ebnet? Gerade das reformierte Einbürgerungsrecht - Herr Grindel, das wissen Sie ganz genau; jedenfalls sollten Sie es wissen - fordert ein klares Bekenntnis zum Grundgesetz und zum friedfertigen Leben hier und verschließt sich denjenigen, die die Normen unseres Rechtsstaates unterlaufen, und zwar klarer, als es die alten Vorschriften verlangten. ({4}) Sie ignorieren die integrationsfördernde und Frieden stiftende Wirkung des neuen Staatsangehörigkeitsrechts. Es hat doch eine ganz andere Wirkung, als Sie es darstellen. Des Weiteren fordern Sie die konsequente Abschiebung derer, die nach abgelehntem Asylantrag unseren Schutz nicht brauchen, schärferes Vorgehen gegen solche, die ihre Ausweisung mit Tricks und Täuschungen verhindern, sowie ein genaueres Hinsehen, wer in unser Land kommt. All das enthält unser Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes, den Sie mit finsterer Entschlossenheit ablehnen und bekämpfen. Herr Kollege Koschyk, Sie haben Ihre Kritik an den geplanten Regelungen - das wurde eben in Ihrer Rede deutlich - mit einer pauschalen Fremdenfeindlichkeit verbunden. ({5}) Wir wenden uns konsequent dagegen. ({6}) So inkonsequent, wie Sie vorgehen, so bar jeder besseren Einsicht - diese müssten Sie eigenlich haben; denn Sie kennen ja die Gesetze - kann nur eine Partei handeln, die sich vergeblich bemüht, die Kompetenz in Fragen der inneren Sicherheit zurückzugewinnen. Sie verlangen die Aufnahme biometrischer Daten in Legitimationspapiere. Ich möchte Ihnen dazu sagen - Frau Piltz hat das bereits angesprochen -: Kaum eine andere Regierung bemüht sich so beharrlich um einheitliche europäische Regelungen wie die Bundesregierung. Ein weiteres Beispiel: Die Einführung eines bundesweit einheitlichen Digitalfunks für die Sicherheitsbehörden und -verbände wird mit Nachdruck betrieben, muss aber technisch organisiert und gemeinsam mit den Ländern und Kommunen auch in ihren finanziellen Auswirkungen bewältigt werden. Es sollte Ihrer Aufmerksamkeit ebenso wenig entgangen sein, dass seit Jahresbeginn - Kollege Kemper ist schon kurz darauf eingegangen - die Koffer in den Verkehrsflughäfen vollständig und mit modernen technischen Methoden kontrolliert werden. Auch das ist ein wichtiger Schritt zur Vorbeugung krimineller Übergriffe auf Flugzeuge. Der Kampf gegen den Terrorismus ist nun wahrhaftig eine langwierige Aufgabe. Sie fordert Fantasie und den Willen zur Verbesserung; das ist ganz klar. Er lebt auch vom reibungslosen Zusammenspiel der Sicherheitskräfte. Er verlangt engste Kooperation und Kommunikation. Doch die strikte Aufgabenteilung zwischen den Diensten und bei der Gefahrenabwehr hat sich im Wesentlichen bewährt. Die Menschen haben Anspruch auf bestmöglichen Schutz und Vorsorge, aber auch auf ein Vorgehen unsererseits mit Augenmaß, mit Besonnenheit und mit Sachlichkeit. Verstörte, verschreckte und unsichere Menschen handeln unkontrolliert. Sie büßen das ein, was wir ihnen in unserem Rechtsstaat nun wirklich garantieren wollen: die Freiheit von Angst. Deswegen gilt: Nachhilfestunden in Wachsamkeit gegenüber dem Terrorismus haben wir nun wahrhaftig nicht nötig. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Funke von der FDP-Fraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es um Gesetzesvorhaben geht, die zur Bekämpfung des Terrorismus erforderlich sind, wird die FDP-Fraktion ihre Zustimmung sicherlich nicht verweigern. Maßnahmen, die zur Verbesserung der inneren Sicherheit wirklich geboten sind, werden von uns natürlich mitgetragen. Das war in der Vergangenheit auch nie anders. Beim Sicherheitspaket Schily II waren wir allerdings kritisch. Bis heute ist die Effizienz der damals beschlossenen Maßnahmen nicht hinreichend belegt. ({0}) Meine Damen und Herren, Sie alle haben hoffentlich ein gutes Gedächtnis. Das Verfahren bei Schily II konnte auf keinen Fall rechtsstaatlichen Gesichtspunkten genügen. Bevor man überhaupt über weitere Verschärfungen nachdenken darf, müssen zunächst einmal die Auswirkungen der Sicherheitspakete I und II auf die Arbeit der Sicherheitsbehörden richtig untersucht werden. ({1}) Vor der Ausweitung der Befugnisse von Sicherheitsbehörden im Bereich der Terrorismusbekämpfung muss auch eine wissenschaftliche Bewertung der bestehenden Kompetenzen und deren Auswirkungen auf die Grundrechte erfolgen. Hierzu - jetzt ist der Bundesinnenminister leider nicht hier ({2}) wäre ein Bericht der Bundesregierung sicherlich wünschenswert. Der Bundestag sollte einen solchen Bericht auch einfordern. ({3}) Jeder, der neue gesetzliche Maßnahmen fordert, ist auch in der Pflicht, deren Notwendigkeit zu beweisen. Ein Staat, der die Freiheit seiner Bürger wirkungsvoll schützen will, braucht leistungsfähige Instrumente im Kampf gegen Terroristen, die sich mit ihren Aktivitäten ja immer auch gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richten. Primat dabei hat aber immer die optimale Ausnutzung der bereits vorhandenen Möglichkeiten und Mittel. Wir brauchen eine personell und technisch optimale Ausstattung von Polizei, Justiz und Nachrichtendiensten. Die Instrumente dürfen nicht aufgrund von finanziellen Erwägungen in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt werden, wie dies unter dem Diktat der leeren Kassen ja leider allzu häufig passiert. Bezüglich der besseren Koordinierung der Polizeiarbeit besteht weiterhin Handlungsbedarf. In diesem Bereich müssen Doppelzuständigkeiten vermieden und die Effizienz gesteigert werden, sowohl auf nationaler Ebene als auch bei der Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern; darauf hat meine Kollegin Frau Piltz schon hingewiesen. Wo es darum geht, bestehende Instrumente polizeilichen Vorgehens rechtsstaatlich auszugestalten, werden wir uns einer konstruktiven Diskussion nicht verschließen. Die Rasterfahndung beispielsweise kann als Mittel der Terrorismusbekämpfung durchaus erforderlich sein. Aber ohne richterliche Anordnung und ohne die Möglichkeit nachträglicher gerichtlicher Kontrolle wird sie den Anforderungen eines rechtsstaatlichen Gemeinwesens nicht gerecht. ({4}) Auch bei dem Einsatz verdeckter Ermittler besteht weiterer Handlungsbedarf. Wir haben in Deutschland in erster Linie ein Vollzugsdefizit. Dies gilt nicht nur für die Polizei und die Ermittlungsbehörden, sondern auch hinsichtlich der Zügigkeit von Verhandlungen und Ermittlungen. Natürlich soll unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten gegen Terrorismus ermittelt werden. Es gibt jedoch ein altes deutsches Sprichwort, das heißt: Wer schnell gibt, gibt doppelt. Das gilt natürlich auch für unser Justizwesen. Das Vertrauen in unseren Rechtsstaat wird beim Bürger nicht dadurch gestärkt, dass sich die Ermittlungen über Monate, manchmal über Jahre erstrecken und sich die Gerichtsverfahren ebenfalls über Monate und Jahre hinziehen. Wir müssen die Justiz auch personell so ausstatten, dass zur Bekämpfung des Terrorismus ausreichend Staatsanwälte und Richter vorhanden sind. Dies darf aber nicht in der Weise geschehen, dass man wieder irgendwelche Löcher dadurch stopft, dass man zum Beispiel Richter in Terrorismusbekämpfungsabteilungen versetzt und dadurch die Abteilungen, in denen sie bisher tätig waren, schwächt. Vielmehr sollte man zusätzliche Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus bereitstellen. Die innere und äußere Sicherheit sind Kernaufgaben des Staates. Da kann und darf nicht gespart werden. Die hier von der CDU/CSU vorgeschlagenen Regelungen sind zum großen Teil bereits Gegenstand der Beratungen über das Sicherheitspaket II im Jahre 2001 gewesen. Bei einer Expertenanhörung im Innenausschuss im Jahre 2001, Herr Bosbach, sind Ihre Vorschläge von fast allen Experten verworfen worden. Bei jeglichem Vorgehen gegen terroristische Aktivitäten steht für uns eine grundrechtsorientierte Politik im Mittelpunkt. Das bedeutet, dass jedes staatliche Handeln rechtsstaatlichen Anforderungen genügen muss. Ein grundrechtssensibles Tun der Sicherheitsbehörden bedarf dabei grundsätzlich der vorherigen richterlichen Genehmigung. Für den Betroffenen muss eine nachträgliche gerichtliche Kontrolle möglich sein. Das setzt eine Mitteilung an ihn voraus. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Silke Stokar von Neuforn vom Bündnis 90/Die Grünen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die spannendste Frage im bisherigen Verlauf dieser Debatte lautet: Wo steht eigentlich die FDP? Viele FDP-Abgeordnete sind ja nicht mehr anwesend. Der erste Redebeitrag hat mir natürlich sehr gefallen. Herzlichen Glückwunsch! Ich habe schon gedacht: Das ist ja fast meine Rede. ({0}) Vielleicht sollten Sie klären, in welche Richtung die FDPBundestagsfraktion gehen will. ({1}) Wir können und wollen mit der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus nicht dauerhaft leben. Unsere Gesellschaft, unsere Demokratie können dies auf Dauer nicht aushalten. Die Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus hat für uns in der Innen- und Außenpolitik oberste Priorität. Ich setze diesen Satz bewusst an den Anfang, weil die Mitglieder der CDU/CSUFraktion hier immer wieder versuchen, den Eindruck zu erwecken, sie seien die Einzigen, die sich darüber Gedanken machen, wie man für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande sorgen kann. Ich sage aber auch: Ich wünsche mir in dieser innenpolitischen Debatte genauso viel Nachdenklichkeit und Verantwortungsbewusstsein wie in der Debatte über Krieg und Frieden. Wir entscheiden über die Anwendung staatlicher Gewalt, über den Bestand von Werten und Normen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. In anderen Debatten erheben Sie auch immer wieder die Forderung nach Anwendung staatlicher Gewalt. Der Umgang mit den höchsten Grundwerten unserer Verfassung ist mir zu leichtfertig. Ich wünsche mir hier gerade von den Volksparteien CDU und CSU etwas mehr Verfassungspatriotismus. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, Sie versuchen mit Ihrem Antrag den Eindruck zu erwecken, man könne mit immer neuen Gesetzesverschärfungen den Terrorismus ausrotten. Diese Suche nach Sicherheit im Recht hat längst die Grenzen effektiver Wirksamkeit überschritten. ({2}) Sie überfordert unsere Verfassung und gefährdet die Werte, die Sie vorgeben verteidigen zu wollen. Meine Damen und Herren, es ist in den vergangenen Tagen im Zusammenhang mit dem Frankfurter Luftzwischenfall viel über formale Zuständigkeiten und über Befehlsketten diskutiert worden. Zu wenig wurde mir über politische und persönliche Verantwortung in Grenzsituationen diskutiert. Mir war die offensichtliche Unsicherheit unseres Verteidigungsministers Peter Struck in dieser Grenzsituation sympathisch. Die Frage, ob ein Flugzeug über Deutschland abgeschossen werden darf oder nicht, kann nicht durch eine Grundgesetzänderung beantwortet werden. ({3}) In so einer Lage muss abgewägt werden, wie viele unschuldige Menschen geopfert werden dürfen, um vielleicht eine noch höhere Anzahl von Opfern zu verhindern; diese Güterabwägung wirft für mich erst einmal ethische und moralische Fragen auf, die sich nicht durch eine formale Rechtsdiskussion beantworten lassen. ({4}) Eine Debatte nach dem Motto: „Schaff mir die Rechtsgrundlage, dann mache ich alles!“, ist für mich typisch deutsch. Die legitimen Mittel eines demokratischen Rechtsstaates sind begrenzt. Dies muss man gerade den Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion immer wieder sagen. Es war Gerhard Schröder - ich meine jetzt nicht unseren hochgeschätzten Bundeskanzler, sondern den damaligen CDU-Innenminister -, der 1958 den ersten Entwurf zum Einsatz der Armee im Innern vorlegte. Danach war der CDU völlig willkürlich jeder Anlass recht - seien es die großen Streiks, die RAF oder sogar der angeblich für Deutschland gefährliche Zustrom von Bürgerkriegsflüchtlingen -, um aus ihren Reihen den Einsatz der Bundeswehr im Innern zu fordern. ({5}) - Nein, das ist kein dummes Zeug. Ich habe diese Debatte verfolgt. Schon damals, in der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze, war das Kernpunkt Ihrer Politik. Ihre Innenminister sagten: Wir wollen den Einsatz der Bundeswehr im Innern. Diese Grundgesetzbestimmung, die Trennung von Polizei und Militär, ist aus guten historischen Gründen eine Grundlage unserer Verfassung.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bosbach?

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, ich erlaube keine Zwischenfrage, da ich nur sieben Minuten Redezeit habe. ({0}) Meine Damen und Herren, Sie sprechen in Ihrem Antrag von einer neuen Sicherheitsarchitektur. Aber auf die wirklichen Herausforderungen, die neu sind, gehen Sie mit keinem Satz ein. Sie bringen wirklich nicht einen einzigen neuen Aspekt in die Debatte ein. In der Frage der Einreise von Terroristen gehen Sie immer noch davon aus, als ob Deutschland komplett von eigenen Außengrenzen umgeben wäre. Wir leben in einem europäischen Rechtsraum und haben europäische Außengrenzen. Es ist völlig absurd, zu glauben, dass man mit dem Schließen der vielen von Ihnen entdeckten - angeblichen - Gesetzeslücken die europäischen Grenzen dicht machen könnte. Dies ist eine absurde Vorstellung. Wir in Deutschland müssen Konzepte - ich sehe, dass die rot-grüne Bundesregierung diese Aufgabe angepackt hat - für diesen neuen europäischen Raum entwickeln. Das heißt, wir müssen uns ganz konkret Gedanken darüber machen, wie eine europäische Grenzpolizei konzipiert sein könnte und welche weiteren Veränderungen in diesem Zusammenhang auf den Bundesgrenzschutz zukommen. Über diese Dinge würde ich mit Ihnen ganz gerne streiten. ({1}) Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie schränken die Debatte unzulässig ein, wenn Sie glauben, dass in einer permanenten Erweiterung der Eingriffsbefugnisse der Weg zu mehr Sicherheit bestehe. Wir sind längst an einem Punkt, wo wir eine Strukturdebatte über den Aufbau von Sicherheitsbehörden in Deutschland und eine Debatte über Qualitäts- und Effektivitätsverbesserungen bei diesen brauchen. Es geht nicht mehr um eine Erweiterung von Eingriffsbefugnissen. Aber lassen Sie mich auch dies zum Schluss sagen, meine Damen und Herren: Wir können Demokratie nicht allein in Europa durchsetzen. Vielmehr müssen wir einen Beitrag dazu leisten, dass unsere Werte wie Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat global und weltweit Gültigkeit bekommen. Wir dürfen diese Grundwerte nicht in unserem eigenen Land zerstören, sondern müssen ihnen weltweit Geltung verschaffen. Ich denke - mein letzter Satz, Herr Präsident -, der beste Beitrag, den Deutschland zu mehr Sicherheit leisten kann, ist die Unterstützung von friedlichen Lösungen im Irakkonflikt. ({2}) Hier wünsche ich mir die Geschlossenheit aller Fraktionen im Bundestag. Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Wolfgang Bosbach von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich mache diese Kurzintervention nur, weil die Kollegin - was ihr Recht ist - keine Zwischenfrage zugelassen hat. ({0}) Sie haben in Ihrer Rede behauptet, Repräsentanten der Union hätten in der Vergangenheit den Einsatz der Bundeswehr im Innern gefordert, um unter anderem den Zustrom von Bürgerkriegsflüchtlingen verhindern zu können. Das ist nicht nur frei erfunden und glatt erlogen, sondern diese Behauptung ist auch infam. ({1}) Ich fordere Sie auf, Frau Kollegin, in Ihrer Replik entweder sofort den Beweis für diese Behauptung anzutreten und zu sagen, wer wann wo was gefordert hat, oder sich von dieser Behauptung zu distanzieren. Ich meine, da wäre auch ein Ausdruck des Bedauerns angebracht. Bei allem, was wir hier kontrovers austragen, sind zwei Dinge immer wichtig: Erstens müssen Tatsachenbehauptungen, die aufgestellt werden, stimmen. ({2}) Zweitens sollte man sich, wenn man den politischen Gegner attackiert, zumindest darum bemühen, oberhalb der Gürtellinie zu bleiben. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Stokar von Neuforn, Sie haben das Recht zur Erwiderung.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Bosbach, ich muss Sie sehr enttäuschen: ({0}) Ich bin nicht bereit, die Äußerung, die Sie im Protokoll nachlesen können, zurückzunehmen. Ich habe in meiner Rede gesagt, dass aus den Reihen der CDU/CSU-Innenpolitiker der Einsatz der Bundeswehr im Innern gefordert wurde, auch im Zusammenhang mit der Debatte um den Zuzug von Bürgerkriegsflüchtlingen. ({1}) - Herr Kollege Bosbach, Sie haben keinen Anspruch auf einen Sofortbeweis. ({2}) Ich werde Ihnen das gerne aus dem Internet holen. Ich habe gestern Abend dazu eine umfangreiche Recherche durchgeführt und bin gerne bereit, Ihnen das Material zu geben. ({3}) Aber stellen Sie sich nicht hier hin und machen solche Äußerungen. Gehen Sie selbst einmal ins Internet und geben Sie in eine Suchmaschine - falls Sie damit umgehen können - die Wörter „CDU“, „Einsatz der Bundeswehr im Innern“ und „Notstandsgesetze“ ein und schauen Sie, was seit 1958 vonseiten der CDU/CSU zu diesem Thema gesagt wurde. ({4}) Sie werden überrascht sein, was Sie dort alles finden. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Herrmann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt hat der Kollege Herrmann das Wort. Bitte schön.

Jürgen Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003552, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Welt hat sich nach den Anschlägen in den USA drastisch verändert. Die gestiegene Bedrohung der Bevölkerung durch extremistische und terroristische Aktionen hat alle Sicherheitsbehörden auf den Plan gerufen. Eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen wurde bereits verabschiedet und hat dazu beigetragen, dass erste Fahndungserfolge erzielt werden konnten. Für mich steht jedoch außer Frage, dass wir noch nicht ausreichend auf die Bekämpfung bereits heute bestehender, aber auch künftiger Gefahren vorbereitet sind. Der von der CDU/CSU eingebrachte Antrag zur Bekämpfung von Terrorismus und Extremismus leistet hier einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung dieser Aufgabe. Kollege Kemper und Kollegin Piltz, Sie haben über innere Sicherheit gesprochen. Aber wir, die CDU/CSU, sorgen dafür, dass die rechtlichen Möglichkeiten dafür geschaffen werden. ({0}) Zielorientiert, praxisnah und konsequent zeigt unser Antrag auf, wie die globale Gefahr von Extremismus und Terrorismus bekämpft werden kann. Insbesondere die Zusammenarbeit der verschiedenen Behörden wird angesprochen und gestärkt. Denn eines ist uns in den zurückliegenden Monaten sicherlich klar geworden: Innere und äußere Sicherheit lassen sich nicht mehr voneinander getrennt betrachten. Die Handlungsfelder Inneres und Äußeres sowie Verteidigung müssen jetzt und heute sinnvoll miteinander vernetzt werden. ({1}) Wir sind gefordert, eine neue Sicherheitsarchitektur für Deutschland im internationalen Kontext zu entwerfen. Dabei kommt es darauf an, den größtmöglichen Schutz unserer Bevölkerung zu gewährleisten und gleichzeitig allen staatlichen Organen entsprechende rechtliche Instrumente an die Hand zu geben. Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass mit den von uns eingebrachten Vorschlägen praxisnahe Lösungen ermöglicht werden. Herr Kollege Bosbach hat dies in seiner Rede anschaulich dargestellt. Diese Vorschläge ermöglichen operative Maßnahmen, die sich am Erforderlichen orientieren. Die Wiedereinführung der Kronzeugenregelung in diesem Zusammenhang ist zwingend erforderlich. ({2}) - Sie brauchen gar nicht darüber zu schimpfen. Sie sollten sich lieber einmal die Praxis anschauen. Der Einsatz verdeckter Ermittler im terroristischen Bereich - das sage ich hier ganz deutlich - bringt keinerlei Erfolg. ({3}) - Der verdeckte Ermittler im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung kann effektiv eingesetzt werden, Herr Ströbele. Aber der Einsatz des verdeckten Ermittlers im terroristischen Bereich ist nicht effektiv. Es wäre dasselbe, als wenn man versuchen würde, Sie unserer Fraktion unterzuschieben. Das würde sofort auffallen. ({4}) - Dem stimme ich zu. Außerdem würde es keinen Erfolg zeigen. Sicherlich ist es auch erforderlich, dass biometrische Daten in Ausweispapieren verwendet werden. Außerdem ist der verstärkte Austausch von Erkenntnissen zwischen den Diensten sehr wichtig, damit es keine Reibungsverluste gibt. Falsch verstandener Liberalismus und inkonsequentes Vorgehen gegen Extremisten und Terroristen werden dazu beitragen, dass sich die so genannten Schläfer auch weiterhin in Deutschland heimisch fühlen. Verbrecher wie Atta müssen aufgespürt, von unseren Polizeikräften verfolgt und durch die zuständigen Behörden ausgewiesen werden. In der Bevölkerung herrscht mittlerweile der Eindruck vor, dass erst etwas Gravierendes passieren muss, damit der Staat entschieden gegen Rechtsbrecher vorgehen kann bzw. dazu in die Lage versetzt wird. Gestern, Herr Innenminister, wurde die bundesweit operierende Vereinigung „Hizb ut-Tahrir el Islami“ verboten. Das ist der richtige Weg. Aber damit ist nur ein Teil der Arbeit getan. Bei begründetem Terrorismusverdacht sollten die Täter sofort ausgewiesen werden. Das wäre konsequent. ({5}) Ansonsten bildet sich im Anschluss an das Verbot eine neue Gruppierung, die unter einem anderen Namen auftritt. Herr Ströbele, es ist aus der polizeilichen Praxis bekannt, dass sich Organisationen, die verboten werden, auf anderen Feldern betätigen. Das Ausweisungsgebot auch für einen Großteil der rund 60 000 in Deutschland lebenden Personen, die als Mitglieder extremistischer Organisationen bekannt sind, wäre letztendlich folgerichtig. Die Ereignisse in Frankfurt, als ein geistig verwirrter Mann die Metropole in Angst und Schrecken versetzte, haben gezeigt, wie dringend erforderlich die enge Zusammenarbeit der verschiedenen staatlichen Institutionen ist. Die Diskussion um den Einsatz der Bundeswehr im Inland wird uns noch beschäftigen müssen, nicht nur aus einsatztaktischer, sondern auch aus verfassungsrechtlicher Sicht. Es freut mich daher besonders, dass sich der Verteidigungsminister in der Frage einer Grundgesetzänderung bezüglich eines Einsatzes der Bundeswehr im Inland der CDU/CSU-Position deutlich genähert hat. Ziel der sich nun anschließenden Diskussion muss eine klare gesetzliche Regelung sein, die den Verantwortlichen uneingeschränkte Planentscheidungen ermöglicht. Es darf keinen Kompetenzstreit oder keine zeitlichen Verzögerungen bei der Lagebewältigung geben. Wir dürfen Polizeiführer oder Kommandeure von Bundeswehreinheiten bei ihren weitreichenden Entscheidungen nicht im Regen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms stehen lassen. Die Politik muss sich daher als zuverlässiger Partner an ihrer Seite befinden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bereits bei der Terrorismusbekämpfung in den vergangenen Jahrzehnten - ich erinnere hier insbesondere an die Zerschlagung der RAF war Deutschland immer bemüht, konsequent und mit aller Härte gegen die Urheber der Gewalt vorzugehen. Auch in der heutigen Zeit ist dies der einzig gangbare Weg. Null Toleranz gegen all diejenigen, die terroristische Aktivitäten unterstützen, die Menschen als „weiche Ziele“ für ihre Anschläge auswählen oder extremistisches Gedankengut verbreiten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Jürgen Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003552, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wir sind es den Bürgern unseres Landes schuldig, rechtzeitig und umfassend gegen die Geißel des Terrorismus und Extremismus vorzugehen. Die CDU/CSU-Fraktion leistet ihren Beitrag dazu. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Herrmann, ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Lambrecht von der SPD-Fraktion.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Reden haben gezeigt, dass wir uns darin einig sind, dass wir die Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft durch Terrorismus, egal von welcher Seite er kommt, sehr ernst nehmen und dass wir dafür alle Mittel, die unser Rechtssystem bietet, auch ausschöpfen müssen. In der Anwendung und in der Auslegung gehen dann die Meinungen etwas auseinander. Ich möchte mir die Mühe machen, zu dem, was Sie in Ihrem Antrag vorschlagen, en détail etwas zu sagen. Man hat ja ein bisschen den Eindruck, als gäbe es all das, was Sie vorschlagen, überhaupt nicht. Wir, die rot-grüne Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen, haben bei der Terrorbekämpfung in Europa zum Teil sogar eine Vorreiterrolle übernommen. Das wird in Ihrem Antrag überhaupt nicht berücksichtigt, muss aber einmal deutlich gesagt werden. Einen Punkt vermisse ich in Ihrem Antrag völlig. Es wird gar nicht wahrgenommen, dass Deutschland als erster Staat in der Europäischen Union ein Gesetz zur konsequenten Bekämpfung von Geldwäsche und zur Aufdeckung von Finanzflüssen terroristischer Organisationen in Kraft gesetzt hat. Damit haben wir einen Sumpf trockengelegt, der die Grundlage für Terrorismus ist. Ich kann mich noch an den Tanz in diesem Haus erinnern, bis Sie sich dazu durchringen konnten, diesem Geldwäschebekämpfungsgesetz zuzustimmen. Das war ein ganz langer Kampf. Das Gesetz ist ein wirksames Mittel. ({0}) Es ist uns bei den Sicherheitspaketen I und II zur Terrorbekämpfung gelungen - das ist bereits angesprochen worden -, einige Maßnahmen auch mit Teilen der Opposition zu beschließen. Ich denke, das Thema, um das es hier geht, ist schlicht zu wichtig, als dass man es für durchsichtige Wahlkampfmanöver missbrauchen sollte. ({1}) Wesentliche Teile Ihres Antrages, vor allem die zu justizpolitischen Themen, zu denen ich Stellung nehmen möchte, beinhalten aber genau das. Die rechtspolitischen Elemente Ihres Antrages enthalten - das muss man wirklich deutlich sagen - ein Sammelsurium von unnötigen und überflüssigen Regelungen. ({2}) So ist zum Beispiel der Vorschlag für eine Terrorismusverdachtslösung nicht nur von der rechtlichen Seite her höchst fragwürdig, sondern im Kern auch völlig unnötig. Selbst wenn die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen, ist nach § 8 des Ausländergesetzes die Aufenthaltsgenehmigung zu versagen, falls der Antragsteller - es ist schon ausgeführt worden - die freiheitliche Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Gleiches gilt, wenn sich die Person an politisch motivierten Gewalttätigkeiten beteiligt oder dazu aufruft oder entsprechende Vereinigungen unterstützt. Hier gilt der alte Spruch, dass ein Blick ins Gesetz die Rechtskenntnis vertieft. ({3}) Genauso unnötig ist das Wiederaufwärmen der Regelanfrage beim Verfassungsschutz. Auch dazu ist hier einiges gesagt worden. Aus der Praxis nur noch einmal der Hinweis: In der Regel wissen die Ausländerbehörden durchaus mehr als das, was sie bei den Diensten in Erfahrung bringen können. Von daher ist das, was im Gesetz steht, nicht immer zielführend. Nun zu einigen konkreten Punkten. Sie wissen genau, dass über die Aufnahme so genannter biometrischer Merkmale zur Identitätssicherung, wie Sie sie fordern, längst im internationalen Rahmen - das ist die Ebene, auf der darüber gesprochen werden muss - diskutiert wird. Antragsteller eines Visums aus Staaten wie zum Beispiel dem Sudan oder Jemen müssen schon heute - das ist längst der Fall - bei den deutschen Konsularbehörden einen Fingerabdruck abgeben. Auch in diesem Bereich haben Sie also das Rad nicht neu erfunden. Das ist nur ein Beispiel für die alten Hüte, die Sie, passend zum Wahlkampf, aus der Mottenkiste holen. Folgendes an Ihrem Antrag ruft wirklich Kopfschütteln hervor: Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken, als würde auf Bundesebene nicht alles dafür getan, Si1484 cherheitslücken aufzuspüren und diese dann auch zu schließen. ({4}) Das möchte ich an zwei Punkten deutlich machen. Sie sind sich nicht zu schade, einen Zusammenhang herzustellen, aus dem man folgern könnte, das neue Staatsbürgerschaftsrecht begünstige die Einbürgerung von Terroristen. ({5}) Ich will das belegen. Schauen Sie sich einmal Ihren Antrag an! Da finden Sie die Überschrift „Kein deutscher Pass für Extremisten und Terroristen“. ({6}) Völlig d’accord im ganzen Hause; darüber brauchen wir nicht zu sprechen. Aber etwas unterhalb dieser Überschrift versuchen Sie, den Eindruck zu erwecken, als ob Rot-Grün genau diese Politik unterstützen würde. Da steht nämlich, „eine leichtfertige Einbürgerungspolitik“ - genau das machen wir nicht; es wird geprüft, bevor eingebürgert wird - sei ein Schritt in die falsche Richtung. Dann listen Sie auf, dass es durch die Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts zu einer Zunahme der Zahl der Einbürgerungen gekommen ist. ({7}) Das ist ganz geschickt, was ich aber eigentlich gar nicht sagen möchte. Diesen Satz verquicken Sie mit der Überschrift. Die Überschrift und das, was folgt, müssen Sie im Kontext sehen. Das Verwerfliche an diesem Antrag ist, dass Sie so agieren. ({8}) Ähnlich unkonkret und ohne Zusammenhang ist Ihre Forderung nach einer zwingenden Angabe der Religionszugehörigkeit. Hier findet man das gleiche Muster, wie ich es soeben beschrieben habe. Die Überschrift lautet: „Extremisten und Terroristen sicher und frühzeitig identifizieren“. Völlig d’accord hier im Hause. Eine weitere Überschrift lautet: „Sicherheitslücken schließen“. Ebenfalls völlig d’accord in Bezug darauf, wo Sicherheitslücken bestehen. Jetzt fordern Sie aber, um diese angeblichen Sicherheitslücken zu schließen, eine lückenlose Erfassung der Religionszugehörigkeit. Das steht in dem Text unter diesen Überschriften. Das ist die von Ihnen soeben genannte „praxisnahe und zielorientierte Auslegung“, um das Schließen der Sicherheitslücken zu erreichen. Die Folge soll sein - auch das zitiere ich wörtlich aus Ihrem Antrag -, dass „auf diese Weise ... das Risiko bei der Einreise wesentlich besser abgeschätzt werden“ könne. Jetzt stellen Sie sich das einmal vor: Sie fordern zwingend die Angabe der Religionszugehörigkeit, um so das Risiko bei einer Einreise besser abschätzen zu können. Was soll denn da das Risiko sein? Ist es ein Risiko, dass jemand irgendein Glaubensbekenntnis abgegeben hat? Besteht dadurch ein Verdacht? Haben Sie sich das gut überlegt? Was haben Sie hier gemacht? Sie haben die Religionszugehörigkeit als Anknüpfungspunkt für Sicherheitsrisiken genannt. Haben Sie dieses Recht? Aus welchem anderen Grund haben Sie die Forderung erhoben, die Angehörigen einer Religion im Zusammenhang mit Sicherheitsrisiken zu nennen? Was ist mit denjenigen, die kein Glaubensbekenntnis abgeben? Sind die per se kein Sicherheitsrisiko? Schützt die Angabe der Religionszugehörigkeit vor irgendwelchen Risiken? Ich glaube, Sie sind zu kurz gesprungen und haben Ihren Vorschlag nicht zu Ende gedacht. Deswegen sollten Sie noch einmal in Klausur gehen. ({9}) Genauso unterstellen Sie, dass das Zuwanderungsgesetz, das wir verabschiedet haben, eine Verschlechterung der Sicherheitssituation in Deutschland bewirken würde. ({10}) Wann legen Sie endlich Ihre Scheuklappen ab? Lesen Sie das Zuwanderungsgesetz zumindest einmal durch! Denn dann würden Sie feststellen, dass es eine Reihe von Regelungen enthält, die es den zuständigen Behörden erstmals ermöglicht, zu kontrollieren, wer in unser Land kommt und was er hier will. Das ist in diesem Zuwanderungsgesetz geregelt. Sie aber blockieren es mit Ihrer Bundesratsmehrheit. Wenn Sie wirklich etwas für die innere Sicherheit tun wollen, dann stimmen Sie endlich dem Zuwanderungsgesetz zu! Denn da ist das geregelt, was Sie angeblich wollen. ({11}) Ihr Antrag - man muss es sagen - ist relativ geschickt aufgebaut. Ich habe es deutlich gemacht: Es wird viel Wahres und Unwahres miteinander vermischt. Er strotzt aber vor Ideologie. Das wurde auch in einigen Redebeiträgen deutlich. Es werden Zusammenhänge in den Raum gestellt, für die die Beweisführung nicht gelingt. Da, wo es konkret wird, versagen Sie. Meine Damen und Herren, verschonen Sie uns in Zukunft mit solchen Schaufensteranträgen kurz vor Wahlterminen. ({12}) Handeln Sie lieber, wo es nötig ist. Ein Punkt, der zur Wahrheit gehört, muss hier auch einmal angesprochen werden: Absolute Sicherheit, wie Sie sie mit solchen Anträgen suggerieren, kann es nicht geben, ({13}) schon gar nicht in einer offenen Gesellschaft wie der unseren, zu der wir uns alle bekennen. Denken Sie an den Mann, der vor ein paar Tagen nicht nur Frankfurt, nicht nur Hessen in Atem gehalten hat, sondern die ganze Republik. Der Mann war Deutscher, er hatte keine doppelte Staatsangehörigkeit und hat vorher wahrscheinlich auch nicht seine Religionszugehörigkeit angegeben. Dies zeigt, dass es Sicherheitsrisiken gibt, die nicht ausgeschlossen werden können. ({14}) Es geht nicht darum, den Menschen vermeintliche Sicherheit zu suggerieren, sondern darum, Strukturen zu schaffen, die dann, wenn es zu einem solchen Fall kommt, funktionieren. Sie haben im Zusammenspiel von Land und Bund funktioniert. Das ist richtig so. ({15}) - Ich habe ja keine Scheuklappen auf, Herr von Klaeden. ({16}) Diese Zusammenarbeit hat über Jahre und Jahrzehnte hinweg funktioniert; es wird sie auch in Zukunft geben. Es wird keinen Landesminister geben - egal, welcher Partei er angehört -, der sich über Kompetenzen im Hinblick auf so bedeutende Fragen der inneren Sicherheit streitet, wie sie sich an diesem Tag stellten. ({17}) Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen Sicherheit für alle sowie Recht und Gerechtigkeit für den Einzelnen. Wir wissen aber auch - das muss man ganz deutlich sagen -, dass derjenige, der sich nur auf die Sicherheit konzentriert, am Ende beides verliert, Freiheit und Sicherheit. Das sind Grundlagen unserer Rechtspolitik. Darin werden wir uns nicht beirren lassen, schon gar nicht von solchen Anträgen. Vielen Dank. ({18})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Röttgen.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Terrorismus ist eine Herausforderung an den Rechtsstaat. Terrorismus bedroht nicht nur einzelne Menschen, nicht nur einzelne Rechtsgüter; vielmehr ist Terrorismus eine Aggression gegen unsere Zivilisation, gegen ihre Werte und gegen unsere Art zu leben. Das ist die Dimension des Angriffs. ({0}) Daher ist es die Aufgabe des Staates und seine Pflicht, die Bevölkerung so gut wie möglich zu schützen; kein Mensch suggeriert doch absoluten Schutz. In einem Rechtsstaat liegt das Besondere und die Herausforderung dieser Aufgabe darin, dass wir in der Art und Weise der Bekämpfung des Terrorismus das verteidigen, was die Terroristen angreifen, nämlich die Freiheit des Einzelnen und die Freiheitlichkeit der Gesellschaft. Nicht auf Kosten der Freiheit, sondern um der Freiheit willen bekämpfen wir den Terrorismus. Das ist der inhaltliche Maßstab unseres Antrags. ({1}) - Ich komme gleich zu den ganz konkreten Punkten. Ein erstes Verdienst unseres Antrages liegt in der Wahl des Zeitpunktes, ({2}) der keinen Zusammenhang mit einem aktuellen terroristischen Anschlag hat. Das hat zwei Vorteile. Erstens können wir diese schwierigen Abwägungsfragen, die sich in einem Rechtsstaat im Hinblick auf die Bekämpfung des Terrorismus stellen, am besten dann beantworten, wenn wir nicht durch Emotionalität und Empörung aufgrund eines terroristischen Anschlags belastet sind. Es ist ein Verdienst, dass wir außerhalb einer solchen Aktualität diskutieren. Zweitens ist Terrorismusbekämpfung eine Daueraufgabe. Wahrscheinlich - so ist zu befürchten - werden wir uns auf Jahre mit diesem Thema beschäftigen müssen. Darum reicht es nicht aus, dass wir reaktiv-ereignishaft handeln; darum reicht es nicht aus, dass Politiker und Regierungen immer erst am Tag nach dem Anschlag, aber dann in Form eines Zehn-Punkte-Programms ganz genau wissen, was zu tun ist. Wir brauchen eine Strategie und planmäßiges Handeln. Wir geben eine Anleitung für eine Strategie in der Auseinandersetzung mit Terrorismus; nicht ereignishaft-reaktiv, sondern strategisch müssen wir vorgehen. ({3}) Nun komme ich zu vier Punkten, die im Bundesjustizministerium ressortieren, denn innere Sicherheit ist auch eine Aufgabe der Rechtspolitik. Das glaubt man fast gar nicht mehr, wenn man das Handeln der Regierung auf diesem Gebiet sieht. Die innere Sicherheit ist als Aufgabe und Thema der Rechtspolitik seit Jahren vakant und wird nicht wahrgenommen. Auch heute finden wir leider wieder Gelegenheit, dies nachweisen zu können. Ich nenne vier konkrete Punkte der Notwendigkeit abgewogenen rechtsstaatlichen Handelns. Ich wiederhole den Vorschlag der unbedingten Notwendigkeit, Sympathie- und Unterstützungswerbung für terroristische Vereinigungen wieder als Straftatbestand einzuführen. Sie haben das geändert. ({4}) Ich habe im Bericht des Rechtsausschusses die Beratungen zur Abschaffung der Strafbarkeit nachgelesen. Der Rechtsausschuss hat mit Ihren Stimmen festgestellt, wie die Rechtslage vor der Abschaffung der Strafbarkeit war. Ich zitiere: Im Blick auf das Grundrecht aus Artikel 5 Abs. 1 GG stellen die Gerichte hohe Anforderungen an die Annahme strafbarer Sympathie- oder Unterstützungswerbung; nur Äußerungen mit werbend auffordernder Tendenz, die eindeutig auf die Stärkung oder auf die Unterstützung einer bestimmten Vereinigung angelegt sind, sollen danach in den Bereich des Strafbaren fallen. Es gab also immer hohe Hürden, aber auch das, was über diese Hürden hinaus in den Bereich des Strafbaren gelangt ist, haben Sie abgeschafft. ({5}) Bezüglich Ihrer Intention zitiere ich weiter: Damit - mit der Abschaffung der Strafbarkeit soll insbesondere verdeutlicht werden, dass die werbende Tätigkeit von sog. Solidaritätsbüros nicht vom Merkmal des Werbens erfasst wird. Ich frage Sie: Welches Interesse haben wir in Deutschland an der Tätigkeit von Solidaritätsbüros terroristischer Vereinigungen? Welches Interesse haben wir daran? ({6}) Es kann doch kein Zweifel daran bestehen - das ist die Abwägung von Freiheiten -, dass das Werben für Terroristen und terroristische Vereinigungen nicht die Wahrnehmung grundrechtlich geschützter Meinungsfreiheit ist. Es ist doch die Bekämpfung der Freiheit des anderen. ({7}) Es ist die Bekämpfung einer Rechtsordnung, die Grundrechte garantiert. Die Abschaffung der Strafbarkeit terroristischer Sympathiewerbung ist die Legalisierung geistiger Brandstiftung, die Sie zu verantworten haben. ({8}) Bei einem zweiten konkreten Punkt ist rechtsstaatliches Handeln erforderlich. Wir brauchen die Ausweitung der Untersuchungshaft, die der Vorbeugung dient. Diese gibt es schon im geltenden Recht. Es gibt die Untersuchungshaft, die der Durchführung und Sicherstellung der Hauptverhandlung dient. Wir brauchen sie aber auch mit präventivem Charakter. Hier gibt es eine Lücke in der Abwehr der Gefahr, die von so genannten terroristischen Schläfern ausgeht. ({9}) - Nein, ich möchte eine deutsche Regelung. ({10}) - Nein, ich sage Ihnen, was wir wollen. Sie haben es hier mit den deutschen Christdemokraten und mit konkreten Vorschlägen zu tun. Ich nenne Ihnen einen konkreten Fall: Es gibt eine Person, die der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verdächtigt wird. Die Person ist dringend verdächtig und die Ermittlungen dauern an. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass der Unterstützer, der noch schläft, erwacht und einen terroristischen Anschlag verübt. Wir haben den dringenden Tatverdacht der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und gleichzeitig besteht die konkrete Gefahr der Begehung terroristischer Taten. Dem Staat sind bis heute die Hände gebunden. Wir als Gesetzgeber binden ihm die Hände; er kann nicht einschreiten. Darum muss es die Untersuchungshaft auch zur Abwehr von Straftaten geben; sie darf nicht erst möglich sein, wenn Straftaten schon begangen worden sind. Wir müssen die präventive Untersuchungshaft einführen, denn sonst bleibt die Lücke in der Abwehr. Rechtspolitik muss auch präventiv und darf nicht nur repressiv arbeiten. ({11}) - Wenn Sie es bestreiten, müssen Sie den konkreten Nachweis liefern. Es ist eine unbestrittene Rechtslage in dem Fall, den ich konstruiert habe. ({12}) Die beiden weiteren Vorschläge, die wir konkret machen, sehen vor, dass wir das Eindringen durch verdeckte Ermittler in terroristische Strukturen und das Aufbrechen terroristischer Organisationen durch Kronzeugen auf eine sichere rechtsstaatliche Grundlage stellen. Das ist geradezu ein Rechtsstaatsgebot. ({13}) - Dann müssen Sie auch sagen, dass Sie die Instrumente nicht wollen. ({14}) Dann müssen Sie als SPD sagen: Wir sind gegen den Einsatz verdeckter Ermittler. ({15}) Dann müssen Sie - anders als in der Koalitionsvereinbarung festgehalten - sagen: Wir sind gegen eine Kronzeugenregelung. Sie können sich aber nicht im Rahmen Ihrer Imagewerbung als Sheriff der Republik dieser Instrumente rühmen, gleichzeitig aber die Schaffung der rechtsstaatlichen Grundlage dieser Tätigkeit verweigern. Es ist unverantwortlich, wenn der Staat seine Beamten als verdeckte Ermittler einsetzt, ihnen aber die rechtliche Grundlage verwehrt. ({16}) Ihre politische Schwäche in der Koalition wird auf dem Rücken der verdeckten Ermittler, der Polizisten, ausgetragen. ({17}) Verdeckte Ermittler und Kronzeugen sind keine Wunschinstrumente des Rechtsstaates, es sind Kompromissentscheidungen. Sie sind aber im Interesse der Prävention gerechtfertigt. Wir nehmen es hin, weil es um die Abwehr schwerster Verbrechen, in ihren Dimensionen möglicherweise nicht absehbarer Verbrechen und Angriffe auf unseren Rechtsstaat geht. Eine nüchterne rechtsstaatliche Folgenabwägung stellt die Grundlage unserer Befürwortung der Instrumente verdeckter Ermittler und Kronzeuge dar. Ich habe hier nur vier konkrete Punkte aus dem Bereich der Rechtspolitik, der Zuständigkeit der Bundesjustizministerin, dargestellt, vier konkrete Punkte, die Ergebnis nüchterner rechtsstaatlicher Abwägung sind, die das Ziel haben, die Bevölkerung zu schützen, die freiheitswahrend sind, die Ausdruck rationaler rechtsstaatlicher Politik sind. Verweigern Sie sich nicht mit pauschaler Zurückweisung und falschen Argumenten unserer nüchternen Strategie zur Bekämpfung der Terrorismus. Wir haben eine Strategie vorgestellt. Folgen Sie ihr, dann tun wir gemeinsam etwas gegen den Terrorismus. Es geht um die Bedrohung unseres Landes, unseres Rechtsstaates. Entziehen Sie sich unseren Vorstößen nicht aus kleinem parteipolitischen Denken! Herzlichen Dank. ({18})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Minister des Innern und für Sport des Landes Hessen, Volker Bouffier. Volker Bouffier, Staatsminister ({0}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte gerne zuerst Ihnen, Herr Kollege Schily, zugehört. Jetzt aber haben Sie darum gebeten, zuerst mir zuzuhören. Ich habe dann gesagt: Lasst uns nicht darüber streiten, wer die Debatte abräumt. Entscheidend ist, dass wir in der Sache vorankommen. ({1}) - Ja, so großzügig sind wir. Ich will mich auf einen Punkt konzentrieren, der mir besonders am Herzen liegt. Ich verhehle nicht, dass mich ein Teil der Debatte erstaunt hat. Es geht um die Frage: Wie organisieren wir in unserem Land die Gefahrenabwehr so, dass wir alles tun, was wir können, was wir müssen, was rechtsstaatlich geboten ist, um den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Lande den Schutz zu geben, den sie brauchen? Damit bin ich bei dem Thema „Einsatz der Bundeswehr“. Ich spreche zu Ihnen als Innenminister eines Bundeslandes, also der staatlichen Einheit, die nach unserem Verfassungsgefüge für die Polizei der Länder zuständig ist und die Gefahrenabwehr organisiert. Ich spreche auch zu Ihnen als der zuständige Innenminister, der mit dem Frankfurter Flughafen den mit Abstand größten Flughafen mit den mit Abstand meisten Flugbewegungen auf dem Kontinent zu betreuen hat. In der Summe sind dies teilweise über 170 000 Passagiere am Tag. Ich spreche zu Ihnen als derjenige, der für eine Hochhauskulisse und eine in Europa einmalige Skyline in Frankfurt am Main zuständig ist. Man braucht kein Sicherheitsexperte zu sein, um zu verstehen, dass damit besondere Anforderungen verknüpft sind. Ich spreche vor allen Dingen als einer zu Ihnen, den am 5. Januar 2003, also am Sonntag vor acht Tagen, ein Mann, der nicht nur die Stadt Frankfurt am Main, sondern auch das ganze Land in Atem gehalten hat, als er ein Flugzeug entführte, mit großem Schrecken, aber auch mit Handlungsaufgaben versehen hat. Wenn ich von besonderen Aufgaben spreche, spreche ich nicht von Theorie, sondern von praktisch Erlebtem. Ich habe das Geschehen an diesem Tag zu einem guten Teil im Lagezentrum der Frankfurter Polizei miterlebt. Bevor ich dazu einige Bemerkungen mache, halte ich es für angebracht, auch heute noch einmal denjenigen Respekt und Anerkennung auszusprechen sowie Dank zu sagen, die bei der Polizei, bei der Feuerwehr, bei der Bundeswehr und bei all den anderen Organisationen, die dort eingesetzt waren, so großartige Arbeit geleistet haben. ({2}) Wir verdanken es letztlich deren Können und deren Geschick, dass dieses Ereignis am Schluss glücklich ausgegangen ist. Ich stelle mir vor, wie die Debatte heute verlaufen würde, wenn es uns nicht gelungen wäre, diesen Täter von seinem Vorhaben abzubringen: Wie hätten wir handeln können und handeln müssen? Was hätten die Flieger der Bundeswehr tun können und gegebenenfalls tun dürfen? ({3}) Angenommen, an diesem Sonntag Nachmittag hätte im Waldstadion in Frankfurt am Main ein großes Spiel stattgefunden, dann hätten sich dort viele Tausend Menschen aufgehalten und es hätte furchtbar viele Opfer geben können. Wenn denkbarerweise das Eingreifen der Bundeswehr zu einem Verlust von wesentlich weniger Menschenleben und zu wesentlich geringeren Schäden geführt hätte - das kann ich nicht beweisen; ich bin auch kein Experte -, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass wir heute völlig anders über die Frage diskutieren würden, wann ein solcher Einsatz vernünftig und erforderlich ist. Wir hätten anders über die Frage diskutiert - das Wort Vorbeugung ist mehrfach genannt worden; ich komme später darauf zurück -, wann die Bundeswehr im Rahmen eines integrierten Sicherheitskonzeptes auch in unserem Land selbst eingesetzt werden kann, wenn die Polizei objektiv nicht helfen kann, die Bürgerinnen und Bürger aber von uns meines Erachtens völlig zu Recht erwarten, dass wir alles tun, was wir können und was rechtsstaatlich geboten ist, um Gefahren zu beseitigen. Meine Damen und Herren, damit wir uns nicht missverstehen - der Kollege Bosbach hat schon darauf hingewiesen -: Niemand denkt daran, die Bundeswehr zu einer Art zweiter Bereitschaftspolizei des Bundes zu machen. Wenn aber, wie im konkreten Fall, die Polizei die Gefahr nicht beseitigen kann, dann kann unsere Antwort doch nicht sein, gar nichts zu tun. ({4}) Wir müssen dann etwas tun. 100-prozentige Sicherheit gibt es nicht; das weiß jeder. Aber das kann doch nicht bedeuten, dass wir gar nichts tun. ({5}) - Wenn Sie sagen, das hätte niemand verlangt, dann frage ich Sie, nach welchen Regeln wir in einer solchen Situation arbeiten. Es geht vor allem um die Gefahr aus der Luft; darauf will ich mich konzentrieren. Wer weiß vorher, wer für was befugt ist und wie wir miteinander reden? Ich kann Ihnen aus praktischem Erleben sagen: Dies ist nicht geregelt. Das Grundgesetz bietet dafür nach meiner Überzeugung auch keine eindeutige Regelung. Ich komme auf diesen Punkt später zurück. Ich will ins Gedächtnis zurückrufen: Es war in diesem Fall kein terroristischer Angriff. Es war „bloß“ ein offenkundig geistig verwirrter Mensch. Den Opfern ist es aber relativ gleichgültig, ob sie Opfer eines Terroristen oder eines geistig Verwirrten werden. Die Frage, die uns die Menschen stellen, ist doch, was wir tun, wenn dort ein Flugzeug kreist und der Täter ankündigt, was er vorhat. Dann kann man es doch nicht dem Zufall überlassen, wer in dieser Situation wen erreicht. Was wäre gewesen, wenn an diesem Sonntag der hessische Ministerpräsident und ich den Kollegen Struck nicht relativ schnell erreicht hätten, weil er irgendwo in der Welt unterwegs gewesen wäre? Hätten wir die Entscheidung dann dem Polizeiführer vor Ort oder dem Piloten der Bundeswehr je nach deren Einschätzung und Gusto überlassen sollen?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Veit? Wir stoppen auch Ihre Redezeit. Volker Bouffier, Staatsminister ({0}): Nein, ich will in der Redezeit bleiben. Ich bitte um Nachsicht. Ich will im Zusammenhang vortragen. ({1}) - Herr Kollege Ströbele, dieser Fall ist kein schlechtes Beispiel. ({2}) Er ist sogar im Gegensatz zu dem, was hier über weite Strecken diskutiert worden ist, nicht Theorie, sondern praktisch und wirklich. ({3}) Deshalb dürfen wir uns nicht in theoretischen Debatten verlieren. Wir müssen eine Antwort geben, und zwar vorher. ({4}) Nach meiner Überzeugung ist es notwendig, ein klares eindeutiges Regelwerk auszuarbeiten. Wir brauchen eine klare Rechtsgrundlage. ({5}) Darüber hinaus brauchen wir klare Regelungen, wie wir miteinander arbeiten. Da hilft mir mit Verlaub eine juristische Debatte, ob Art. 35 des Grundgesetzes und der Begriff des Unglücks das noch abdeckt, sehr wenig. Ich halte das juristisch auch nicht für richtig. Selbst in der Literatur habe ich wenig gefunden, was Ihre Position unterstützt, Herr Kollege Schily. Aber selbst wenn, Sie könnten dann vielleicht für den einzelnen Fall eine Rechtsgrundlage schaffen; das nützt uns aber nichts. Wir brauchen vorher verlässliche Grundlagen. Damit es nicht so theoretisch ist, sage ich Folgendes: Es liegt doch auf der Hand, dass ein Polizeiführer vor Ort, der zur Beseitigung einer Gefahr auf die Bundeswehr zurückgreifen will - welche Einzelheiten dabei auch immer zu beachten sind -, aufgrund eines geregelten Verfahrens wissen muss, wie lange sie braucht, bis sie da ist. Er muss wissen, was die Piloten dürfen und was nicht. Er muss wissen, welche Wege der Kommunikation es gibt. Er muss zum Beispiel wissen, wie er mit dem Piloten kommunizieren kann. Dies alles gibt es nicht. In der Gefahrenabwehr gibt es - in diesem Punkt wird mir niemand widersprechen - einen Grundsatz: Die Gefahrenabwehr funktioniert besonders gut, wenn man sie vorher übt. Es ist notwendig, mit allen Stellen zu üben, sich entsprechend abzustimmen und ein Konzept zu haben. Glauben Sie doch nicht im Ernst, dass man die Türme in Frankfurt, ohne eine Panik auszulösen, in 20 Minuten räumen kann, wenn man das vorher nicht übt. ({6}) - Ich trage ein Konzept vor. - Wenn die Gefahr auftritt, ist es zu spät. Das haben alle gesagt. Man kann in einer Gefahrenlage nicht proben, ob alle rechtzeitig da sind und ob man diese oder jene Maßnahme ergreift. Das muss vorher klar sein. ({7}) Wer nicht bereit ist, hier eine klare Grundlage zu schaffen, der lässt die Polizei, den Polizeiführer und den Piloten schlussendlich allein. ({8}) Staatsminister Volker Bouffier ({9}) Staatsminister Volker Bouffier ({10}) Sie lassen die Leute im Stich. Eine solche Politik halte ich für feige und verantwortungslos. ({11}) Meine Damen und Herren, jeder, der in der Praxis mit Gefahrenabwehr zu tun hat, weiß, dass eine Abfolge glücklicher Umstände wie an dem fraglichen Sonntag auf Dauer nicht ausreichend ist, um Herausforderungen, die eben nicht nur theoretisch sind, angemessen begegnen zu können. Vor fast eineinhalb Jahren fand das Ereignis in New York statt. Seit eineinhalb Jahren ist uns allen das grundsätzliche Problem bekannt. ({12}) - Wir haben in der konkreten Situation in Hessen eine Menge Gutes getan; ich habe vorhin nicht umsonst gedankt. Ich nehme den Dank nicht für mich in Anspruch, aber eines möchte ich auch einmal sagen: Wenn Sie in einem Lagezentrum sitzen und innerhalb weniger Minuten entscheiden müssen, ob Sie ganze Plätze räumen und ob Sie die Menschen mit Gewaltanwendung irgendwo wegholen, damit der Täter kein Ziel hat, um eine furchtbare Ernte halten zu können, dann wissen Sie, dass diesen Polizeibeamten mit allgemeinen, theoretischen und vor allem polemischen Bemerkungen wenig gedient ist. ({13}) Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Schily, und dem Deutschen Bundestag ausdrücklich deshalb anbieten - das Bundesland Hessen ist dazu bereit -, dass wir uns sehr rasch zusammensetzen, um zu klären, wie wir diese eindeutige Grundlage und ein geregeltes Verfahren im Interesse aller erhalten können. Herr Kollege Schily, ich bitte um Nachsicht: Sie sprechen nach mir, weshalb ich Sie persönlich ansprechen will. Wir beide tragen in unserem Amt in besonderer Weise Verantwortung - ich für Hessen und Sie für Deutschland. Es kann doch eigentlich überhaupt keinen Zweifel daran geben, dass wir uns darin einig sind, dass wir alles tun müssen, um Gefahren abzuwenden. Wenn die Polizei dies objektiv aber nicht kann, dann müssten wir uns doch eigentlich auch darin einig sein, dass diese Aufgabe eine Einrichtung wahrnehmen muss, die dies gegebenenfalls kann, die die Gefahr vielleicht beseitigen, zumindest aber erheblich mindern kann. Wir dürfen dann keinen Streit führen, der sich nach meinem Dafürhalten sehr stark im Theoretischen bewegt. Ich habe dafür wenig Verständnis und bitte darum, dass wir möglichst bald zu einem Ergebnis kommen. Ein Streit um diese Frage entlang den Mauern fester Ideologien nützt niemandem. Das zu tun, was nötig und nach meiner Überzeugung rechtsstaatlich auch möglich ist, um Gefahren von den Menschen abzuwenden, hilft uns allen. Vielen Dank. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Veit das Wort.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da ich nicht Gelegenheit hatte, meine Einlassung in Gestalt einer Zwischenfrage vorzubringen, will ich es nun in einer Kurzintervention tun. Ihrem letzten Satz, lieber Herr Kollege Bouffier, der wenigstens zum Teil diesen langen Beifall provoziert hat, kann ich nur ausdrücklich zustimmen. ({0}) Aber ich gebe zweierlei zu bedenken. Erstens. Ist es nicht abwegig, zu glauben, der Abschuss eines Motorseglers über dicht besiedeltem Frankfurter Stadtgebiet, ({1}) zum Beispiel über der Zeil, beinhalte ein geringeres Gefährdungspotenzial, als wenn der Betreffende seine ursprüngliche Absicht wahr gemacht hätte? ({2}) Zweitens. Ist es nicht von Mogadischu bis zu dem Vorfall, über den wir jetzt reden, in dieser Republik immer guter Brauch gewesen, dass bei Fällen dieser Art über Parteigrenzen und die Frage, wer wo wann in welcher Konstellation regiert hat, hinweg sowohl die Polizei als auch der Bundesgrenzschutz als auch gegebenenfalls die Bundeswehr in beispielhafter Weise gut zusammengearbeitet haben? Kann es nicht deswegen auch so bleiben, ohne eine Verfassungsänderung vorzunehmen? ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister Bouffier, Sie haben drei Minuten Zeit, darauf zu antworten. Volker Bouffier, Staatsminister ({0}): Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen. Herr Kollege Veit, wir kennen uns seit vielen Jahren. Es ging nicht nur um den Abschuss. Es ging konkret um die Frage: Kann ein Fluggerät aus der Innenstadt abgedrängt werden? Das können Sie nicht entscheiden, wenn Sie das erste Mal in einer solchen Situation sind. Das kann man üben. ({1}) - Das ist eine Rechts- und Tatsachenfrage. Deshalb sage ich Ihnen: Ihre Einlassung ist zu kurz gesprungen. Ich biete Ihnen an, dass wir dieses Problem entre nous en détail diskutieren. Man darf nicht immer nur vom Abschuss reden. Das ist die Ultima Ratio. Davor gibt es viele andere Möglichkeiten, was wir gemeinsam erörtern und tun können. Ob wir es in der konkreten Gefahrenlage tun können, müssen die Gefahrenexperten vor Ort entscheiden. Die müssen die Gefahr beseitigen. Sie dürfen sich dabei aber nicht mit der Frage herumquälen, ob ihr Handeln, egal ob sie etwas tun oder unterlassen, danach Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen sein wird. ({2}) Ich will mit folgendem Satz abschließen: Ich empfinde es als unbefriedigend - ich glaube, damit stehe ich nicht alleine da -, wenn sonntags etwas passiert und am darauf folgenden Montag inklusive der deutschen Bundesregierung alle darüber diskutieren, ob man die Bundeswehr überhaupt hätte einsetzen dürfen und gegebenenfalls für was. Gut wäre, wenn in der Frage der konkreten Gefahrenabwehr alle wüssten, dass wir am Sonntag schon genauso schlau sind wie am Montag. Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es spricht jetzt der Herr Minister des Innern, Otto Schily.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! In der Beurteilung der Gefahrenlage sind wir uns einig. Der Herr Kollege Bosbach hat einen Satz von mir zitiert, der nach wie vor Gültigkeit hat. ({0}) - Herr Kollege, ich weiß nicht, was daran jetzt so komisch ist. - Deshalb erfordert der internationale Terrorismus weiterhin unsere anhaltende und konzentrierte Wachsamkeit. Nach der zwischen den Sicherheitsbehörden, Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz, BND, aber auch den Landesbehörden abgestimmten Lageeinschätzung besteht innerhalb wie auch außerhalb unseres Landes eine unverändert hohe Gefährdung für bestimmte Einrichtungen, insbesondere amerikanische, israelische, jüdische und britische Einrichtungen. In den Gesprächen, die ich vor einiger Zeit mit den Chefs der CIA und des FBI geführt habe, sind wir gemeinsam zu der Überzeugung gelangt, dass sich die Bedrohungslage gegenüber der Situation vor dem 11. September eher noch verschärft hat. Wir werden diese intensive und vertrauensvolle Abstimmung auch in Zukunft fortsetzen. Ich werde in Kürze noch einmal in die Vereinigten Staaten von Amerika reisen, um gemeinsam mit meinen Kollegen die Situation zu beurteilen. Ich meine, wir sollten besonders beachten, dass die Mehrzahl der Anschläge gegen so genannte weiche Ziele gerichtet war. Das beweist die abscheuliche, menschenverachtende Brutalität der Terroristen und das Ausmaß der Gefahr. Die sehr ernst zu nehmende globale Bedrohung durch den islamistisch-fundamentalistischen Terrorismus nimmt uns daher gemeinsam - früher gab es den Begriff der Gemeinsamkeit der Demokraten; diese sollten wir bekräftigen - in die Pflicht, alle nur denkbaren Anstrengungen zum Schutz der Menschen zu unternehmen. Gleichzeitig will ich aber noch einmal deutlich vor Panikmache warnen; denn wenn wir Panik verbreiten, dann haben die Terroristen schon gewonnen. Ich bin den Innenministern der Länder - dabei schließe ich Herrn Kollegen Bouffier ausdrücklich ein - dankbar dafür, dass sie sich in gleicher Weise äußern. Das ist vielleicht auch das Ergebnis der sehr guten Sitzung der Innenministerkonferenz vor einigen Wochen in Bremen, in der wir noch einmal gemeinsam die Sicherheitslage beurteilt und in der Beurteilung Übereinstimmung erzielt haben. In dem vorliegenden Antrag der CDU/CSU-Fraktion ist folgender Satz enthalten: Jeder Staat, der den Terror wirksam bekämpfen will, hat ... zum Schutz aller seiner Bürgerinnen und Bürger die Verpflichtung, ein umfassendes rechtliches und administratives Sicherheitsnetz zu schaffen, sodass Schritt für Schritt hieraus ein weltweites Sicherheitsnetz entsteht. Diesem Satz kann ich mich anschließen. Wir haben das darin formulierte Ziel bereits weitgehend verwirklicht. Deutschland kann sich im internationalen Vergleich wahrlich sehen lassen. Wir haben sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene eine Vielzahl von Maßnahmen eingeleitet und durchgeführt, die wirksam und sehr rasch den Schutz vor Aktionen des internationalen Terrorismus verbessert haben und weiter stärken werden. Das wird auch bei der bevorstehenden Konferenz der Außenminister in New York erkennbar werden, in der auf der Basis der Resolution 1373 des UN-Sicherheitsrats darüber zu sprechen sein wird, wer in der Zwischenzeit was getan hat. Besonders hervorheben will ich die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland. Diese Zusammenarbeit wird in kaum zu übertreffender Form vom amerikanischen Präsidenten, aber auch von dem amerikanischen Justizminister Ashcroft und dem neuen Minister für Homeland Security besonders gelobt. Herr Kollege Koschyk, auch die jüngsten Festnahmen in Frankfurt sind Ausdruck dieser sehr guten Zusammenarbeit. ({1}) Herr Kollege Ashcroft hat mich deshalb angerufen und gebeten, ich solle der deutschen Öffentlichkeit mitteilen, Staatsminister Volker Bouffier ({2}) dass dies das Ergebnis einer besonders guten amerikanisch-deutschen Zusammenarbeit ist. Weil Sie, Herr Koschyk, in diesem Zusammenhang einen bestimmten Soupçon zum Ausdruck gebracht haben, gebe ich Ihnen einen guten Rat oder verbinde damit eine Bitte, um es freundlich auszudrücken: Seien Sie in der Beurteilung dieses Vorgangs in der Öffentlichkeit vorsichtig! Alles kann man über solche Ermittlungsverfahren in der Öffentlichkeit nicht darstellen. ({3}) Ich bin aber gern bereit, Ihnen in einem vertraulichen Gespräch etwas darüber zu sagen. ({4}) - Auch im Ausschuss, wenn Sie den Wunsch haben. Wenn Sie allerdings glauben, wir könnten Ermittlungsverfahren immer erst mit dem Innenausschuss absprechen, dann irren Sie sich gewaltig. ({5}) - Ich mache Ihnen doch ein freundliches Angebot. Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis und seien Sie lieber dankbar dafür, als schon wieder Ihre Stimme zu erheben. Herr Koschyk, ich habe diesen Vorgang jetzt sehr höflich und freundlich kommentiert - ganz im Gegensatz zu einigen demagogischen Äußerungen aus Ihren Kreisen. ({6}) - Ja, das sollten Sie ruhig einmal zur Kenntnis nehmen. ({7}) Meine Damen und Herren, deshalb ist die CDU/CSUForderung nach Vorlage eines ressortübergreifenden Terrorismusbekämpfungskonzeptes überholt, das „die Aspekte von polizeilicher und sonstiger Gefahrenabwehr, Strafverfolgung und Vorfeldermittlung, Außen- und Sicherheitspolitik, Katastrophen- und Zivilschutz sowie Außenwirtschaft und Entwicklungshilfe miteinander verbindet“. Im Rahmen der bestehenden Kompetenzordnung zwischen Bund und Ländern wurde mit den Antiterrorpaketen I und II das erforderliche Konzept bereits vor über einem Jahr vorgelegt. Dieses Konzept bewährt sich. Sie kommen also ein bisschen spät. ({8}) Die Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik Deutschland haben damit erheblich verbesserte Möglichkeiten zur Früherkennung terroristischer Gefahren sowie zur Verbrechensbekämpfung gewonnen. Ihnen wurden umfangreiche Befugnisse eröffnet, die sie in enger nationaler und internationaler Kooperation wahrnehmen. Die Erfolge dieser Arbeit sind durch eine Reihe operativer Maßnahmen und Ermittlungsverfahren sichtbar geworden. Es ist auch kein Zufall, dass sich viele ausländische Besucher - heute war der kanadische Justizminister bei mir zu Gast - immer wieder danach erkundigen, was wir gemacht haben. Sie interessieren sich dafür, weil sie Ähnliches zum Teil erst noch nachholen müssen. Im Gegensatz zu dem verengten Blickwinkel der CDU/CSU-Fraktion ist es auch Ziel des Konzeptes, nicht nur weitere Anschläge durch polizeiliche und andere Maßnahmen zu verhindern, sondern darüber hinaus die Ursachen des internationalen Terrorismus im Rahmen einer langfristigen Bekämpfungsstrategie zu beseitigen. In dieser umfassenden Sicherheitspolitik greifen polizeiliche, nachrichtendienstliche und militärische Elemente ineinander. Die Beispiele Afghanistan und Balkan belegen, dass die Gefahren des internationalen Terrorismus nicht zuletzt aus zerfallenden Staaten hervorgehen, in denen sich der Terrorismus weitgehend ungestört und unbeobachtet entwickeln kann. Deshalb leistet die Bundesregierung aktive Hilfe beim Aufbau stabiler Staatswesen und bei der Lösung gesellschaftlicher Konflikte. Ein Beispiel für die herausragenden Leistungen der Bundesregierung und der Bundeswehr sowie anderer Organisationen sind die Erfolge beim Wiederaufbau staatlicher Strukturen in Afghanistan. ({9}) Die Leistungen der deutschen Polizeiexperten beim Aufbau der afghanischen Polizei werden weltweit gelobt. Den Polizeibeamtinnen und -beamten, die dort unter Hinnahme großer Gefahren diese Arbeit leisten, spreche ich hier vor dem Hohen Hause meinen ganz besonderen Dank aus. ({10}) Besonders hebe ich die Leistungen eines ehemaligen Abteilungsleiters aus meinem Hause, Herrn Rupprecht, hervor, der dort die erste Mission geleitet hat. Die Bundesregierung hat sich im Übrigen vom Beginn ihrer Amtszeit an mit großer Entschlossenheit der Verbesserung des Schutzes vor Terrorismus, Extremismus und religiösem Fundamentalismus gewidmet. Aus der Erkenntnis, dass diese extreme Form der Intoleranz eine neuartige Bedrohung für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung insgesamt darstellt, dürfen wir nicht zögern, die neu geschaffenen rechtsstaatlichen Instrumente gegen verfassungsfeindliche und Gewalt verherrlichende Organisationen auch mit der gebotenen Härte einzusetzen. Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Bekämpfung des Terrorismus ist selbstverständlich eine angemessene Ausstattung unserer Sicherheitsbehörden mit Personal und Sachmitteln. Ich möchte den Hinweis wiederholen: Der Bund hat trotz angespannter Haushaltslage für den angemessenen Ausbau der finanziellen, personellen und sachlichen Ausstattung der Sicherheitsbehörden umfassend Sorge getragen. So wurden in der Zeit von 1998 bis 2002 die Ausgaben im Bereich der inneren Sicherheit um über 22 Prozent erhöht. Lassen Sie mich an dieser Stelle auf Folgendes hinweisen - das gehört zwar nicht unmittelbar zu unserem Thema, aber zur aktuellen Diskussion -: Es wird ja sehr kontrovers über die Tarife im öffentlichen Dienst gespro1492 chen. Eines muss man aber auch sagen: Wenn wir über die Sicherheitspolitik reden, dann müssen wir auch den Grundsatz befolgen, dass unsere Polizeibeamten genauso eine Leistung erbringen wie die Beschäftigten im Bankensektor oder in anderen Branchen und deshalb einen Anspruch auf angemessene Vergütung haben. ({11}) Die Unterstellung von Sicherheitslücken im Antrag der CDU/CSU-Fraktion entbehrt jeder Grundlage. ({12}) Sie ist auch verantwortungslos, weil Sie mit ihr in der Öffentlichkeit für Verunsicherung sorgen wollen. Auch die Forderungen, die in diesem Antrag gerade im Bereich des Ausländer- und Asylrechts erhoben werden, sind in der Sache nicht nachvollziehbar. Selbstverständlich hat die Bundesregierung unmittelbar nach dem 11. September 2001 geprüft, mit welchen gesetzlichen Änderungen das geltende Recht an die Bedrohungslage angepasst werden kann. Eine Vielzahl wirkungsvoller Rechtsänderungen im Ausländer- und Asylrecht sowie im Ausländerzentralregister wurden mit dem Terrorismusbekämpfungsgesetz zügig in Kraft gesetzt. ({13}) Weiter gehende Rechtsänderungen, wie sie von der Opposition gefordert werden, sind nicht erforderlich und daher abzulehnen, ({14}) wobei ich anmerken möchte, dass es ein Widerspruch ist, wenn Sie uns auf der einen Seite eine Gesetzesflut vorwerfen und auf der anderen Seite immer wieder neue Gesetze fordern. Es beginnt schon mit der Behauptung in Ihrem Antrag, dass das Ausländerrecht nicht ausreichend abschrecke. Dieses Verständnis des Ausländerrechts ist ziemlich seltsam. ({15}) Das Ausländerrecht soll nämlich nicht generell abschrecken, sondern den zuständigen Behörden das notwendige Instrumentarium bereitstellen, das es ihnen ermöglicht, ihre Aufgaben differenziert und unter Berücksichtigung der deutschen Sicherheitsinteressen wahrzunehmen. Den Sicherheitsinteressen haben wir bei der Neufassung der ausländerrechtlichen Vorschriften entsprochen. Leider muss ich aber beklagen - das hat eine Umfrage bei den Ländern ergeben; dabei ist es egal, wer in den einzelnen Ländern gerade regiert -, dass beim Vollzug noch erhebliche Lücken festzustellen sind. Die Defizite liegen also eher im Vollzug als in den Formulierungen des Gesetzes. Herr Kollege Bosbach, Sie weigern sich beharrlich - wenn ich einen Moment Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen darf -, den Unterschied anzuerkennen, der zwischen strafprozessualen Kriterien und polizeirechtlichen Bestimmungen besteht. ({16}) Beim Polizeirecht geht es um Gefahrenabwehr. Dort müssen wir die Kriterien festlegen, die deutlich machen, unter welchen Voraussetzungen eine Gefahrenlage besteht und welche Maßnahmen gegebenenfalls getroffen werden können. Das hat auch seinen Platz im Ausländerrecht. ({17}) - Das ist der Hintergrund. ({18}) - Ja, im Gesetz steht: wenn Tatsachen belegen, dass eine Gefahr besteht. Sie lesen leider das Gesetz nicht. Sie weigern sich beharrlich, das zu tun. ({19}) - Nein, Herr Bosbach, ich erlaube jetzt keine Zwischenfragen. ({20}) Das tun Sie ja auch nicht. ({21}) - Nein, auch der Kollege Bouffier hat keine Zwischenfragen zugelassen. Das wissen Sie doch. Ein so schlechtes Gedächtnis sollten Sie nicht haben. Aber das haben Sie ja auch bei anderen Fragen. Sie wollen mit dem Begriff des Verdachts arbeiten. Das ist aber Sache des Strafprozesses. In diesem Zusammenhang muss ich sagen: Herr Röttgen, ich war - Sie können ja die Debatte noch einmal mit Frau Zypries führen - über Ihre Ausführungen entsetzt, insbesondere darüber, dass Sie sozusagen vorläufig vollstreckbare Strafurteile fordern, also die Untersuchungshaft nutzen wollen, um eine strafrechtliche Verurteilung vorwegzunehmen. ({22}) Da haben Sie sich aber wirklich vergaloppiert. Darüber müssen Sie noch einmal nachdenken und dazu müssen Sie die entsprechenden Kommentare nachlesen. Dann werden Sie selbst ins Grübeln kommen. Die darüber hinausgehenden Forderungen der CDU/ CSU-Fraktion sind nicht geeignet, die Sicherheitslage zu verbessern, und lassen leider auch die notwendige Sorgfalt, die bei derartigen Forderungen unerlässlich ist, weitgehend vermissen. Sonst wäre Ihnen ja zum Beispiel aufgefallen, dass Ihre Forderung nach Herabsetzung der Strafhöhe von drei Jahren als Voraussetzung für die Regelausweisung völlig ins Leere geht. Die Regelausweisung nach § 47 Abs. 2 Nr. 1 des Ausländergesetzes setzt nach geltendem Recht nur die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung voraus; eine Mindeststrafhöhe wird nicht gefordert. Jetzt muss ich die Frage an Sie richten: Wollen Sie die Ausweisung von Straftätern wieder erschweren? Die Frage müssen Sie beantworten, wenn Sie so etwas in Ihren Antrag hineinschreiben. ({23}) Insbesondere im Bereich der Regelungen zur Ausweisung und Abschiebung hat das Terrorismusbekämpfungsgesetz erhebliche sachgerechte Änderungen des Ausländergesetzes bewirkt. Des Weiteren wurden das Ausländergesetz um Regelungen zur Ermöglichung zusätzlicher identitätssichernder Maßnahmen erweitert und eine enge Zusammenarbeit von Ausländerbehörden, Auslandsvertretungen und Sicherheitsbehörden durch Regelungen zum Datenaustausch sichergestellt. Auch die im Terrorismusbekämpfungsgesetz vorgenommenen Änderungen des Ausländerzentralregistergesetzes, insbesondere der Aufbau der AZR-Visa-Datei zu einer Visa-Entscheidungsdatei - sonst macht sie gar keinen Sinn -, verbessern die Kontrolle der einreisenden Ausländer und erleichtern eine rasche Feststellung in der Frage, ob ein in Deutschland lebender Ausländer über ein gültiges Aufenthaltsrecht verfügt. Ich habe eine Bitte an die Präsidentschaft. Ich habe nur noch relativ wenig Redezeit. ({24}) Ich werde von meinem Recht als Mitglied der Bundesregierung Gebrauch machen, meine Redezeit auszudehnen. Es tut mir Leid. Aber nachdem hier so viel gesprochen worden ist, ({25}) werde ich heute einmal ausnahmsweise davon Gebrauch machen; ich hoffe, ich komme an der Stelle nicht mit meiner Fraktion in Konflikt. ({26}) - Sie sind einverstanden. Ich bedanke mich bei der Opposition. ({27}) - Ja, dann machen wir eine neue Runde. ({28}) Nicht nur unsere nationalen Maßnahmen entsprechen den aktuellen Notwendigkeiten. Deutschland nimmt auch innerhalb der Europäischen Union eine Vorreiterrolle bei der Sicherung gegen terroristische Gewalttäter ein. So haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf Initiative Deutschlands hin verpflichtet, innerhalb der nächsten fünf Jahre einheitliche Lichtbildvisa einzuführen. Damit wird der schon heute hohe Sicherheitsstandard des EU-Visums noch weiter verbessert. Deutschland forciert darüber hinaus auf Ebene der EU die Aufnahme weiterer biometrischer Merkmale von Fingern, Händen und Gesicht der Inhaber in Dokumenten. Diese Merkmale sollen in verschlüsselter Form in die Visa- und Aufenthaltstitel eingebracht werden. ({29}) - Wenn Sie es auch wollen, ist es ja gut; dann können Sie mich ja unterstützen. - Erste Schritte zur Einrichtung einer EU-Visa-Datenbank, die Deutschland maßgeblich vorangetrieben hat, sind von der EU bereits eingeleitet worden. Mit der Neuregelung des Asylverfahrens durch das Terrorismusbekämpfungsgesetz erfüllt Deutschland seine völkerrechtlichen Verpflichtungen aus den Resolutionen des UN-Sicherheitsrats, ohne dabei den humanitären Charakter des Asylrechts zu beeinträchtigen. Durch die Normierung des automatisierten Abgleichs der Fingerabdrücke von Asylbewerbern gegen polizeiliche Tatortspuren, aber auch durch die Einführung der Nutzungsmöglichkeit der identitätssichernden Sprachanalyse zur Bestimmung der Herkunftsregion, auf die auch Sicherheitsbehörden bei Bedarf zurückgreifen können, trägt Deutschland dem gesteigerten Sicherheitsbedürfnis auch beim Schutz politisch Verfolgter hinreichend Rechnung. Die von der Union vorgeschlagene Modifizierung des Abschiebungsschutzes ist ebenfalls weder erforderlich noch geboten. Gewährung und Ausschluss des Abschiebungsschutzes für politisch Verfolgte stehen in Deutschland im Einklang mit den Vorgaben des internationalen Rechts. Da die Resolution 1373 aus dem Jahr 2001 selbst keinen über die Genfer Flüchtlingskonvention hinausgehenden Anschlusstatbestand zum Abschiebungsschutz enthält, ist die von der CDU/CSU geforderte Implementierung in die entsprechende Vorschrift des Ausländergesetzes ein völlig ungeeigneter Vorschlag. ({30}) Weiterhin wird verkannt, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung die Verpflichtung aus der Genfer Flüchtlingskonvention keinesfalls infrage stellt. Die Anwendung des Ausschlusstatbestandes bei ausländischen Terroristen erfordert demnach stets eine Einzelfallprüfung unter strenger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Auch und gerade bei der Terrorismusbekämpfung sind die Rechte von politisch Verfolgten mit den legitimen Sicherheitsinteressen des Staates sehr sorgfältig abzuwägen. ({31}) Die von der Union vorgeschlagenen pauschalen Wertungen bieten keinen Ansatz zu einer verantwortungsbewussten Politik und zu einer sachgerechten Lösung solcher Interessenkonflikte. Ich will auch auf Ihre Vorhalte zum Staatsangehörigkeitsrecht eingehen. Alles das, was Sie da vorschlagen, führt überhaupt nicht weiter. Wir sind es gewesen, die im Staatsangehörigkeitsrecht - § 86 Abs. 1 Nr. 2 des Ausländergesetzes - erstmals eine Extremistenklausel eingeführt haben. ({32}) Herr Kollege Bosbach, Sie haben in diesem Zusammenhang aus dem Kaplan-Urteil zitiert und auf einige eingebürgerte Personen verwiesen. Ich kann Sie nur darauf hinweisen: Diese Personen sind im Rahmen des Rechts, das Sie zu vertreten haben, eingebürgert worden und nicht im Rahmen des neuen Rechts. ({33}) - Deshalb machen wir es jetzt besser und deshalb werden diese Überprüfungen selbstverständlich vorgenommen. Sie haben Schleswig-Holstein erwähnt. Diesbezüglich haben Sie in einem Punkt Recht: Man hatte dort eine falsche Formulierung. Inzwischen hat man das aber behoben. Offenbar sind Sie da nicht auf dem neuesten Stand. ({34}) - Nein, das ist falsch. Sie haben hier behauptet, das sei nur noch mit Zustimmung möglich. Das ist falsch. Ich habe mich erkundigt: Das geht inzwischen anders, ohne Zustimmung. Da haben Sie auf das falsche Pferd gesetzt. ({35}) - Nein, gestern nicht. Erkundigen Sie sich! Ich teile Ihnen jetzt gerne den neuesten Stand mit. Ich will ferner auf einen anderen wichtigen Punkt zu sprechen kommen, der in der Öffentlichkeit in der letzten Zeit eine immer größere Rolle gespielt hat: das System des Zivil- und Katastrophenschutzes. Die Union zeichnet in ihrem Antrag ein Bild, das den Eindruck nahe legt, dass bei der - in der Tat notwendigen - Umstrukturierung dieses Bereiches bei null begonnen werden müsse. Richtig ist, dass schon seit den Anschlägen am 11. September offener als bisher - das müssen wir uns gegenseitig bestätigen - über mögliche Schwachstellen gesprochen wird, die das Ergebnis einer durch die veränderte Sicherheitslage bedingten Rückführung des Zivilschutzes zu Beginn der 90er-Jahre sind. Der Kritik aus den Reihen der CDU/CSU könnte ich jetzt mit dem Hinweis begegnen - darüber haben wir schon gesprochen -, dass der massive Abbau der Zivilschutzkapazitäten unter ihrer Regierungsverantwortung durchgeführt wurde. Aber der Hinweis auf Versäumnisse in der Vergangenheit bringt uns alle nicht weiter, zumal ich nicht bestreiten kann, dass auch wir diesen Duktus nach der Regierungsübernahme eine Weile fortgesetzt haben. Lassen wir die Vorwürfe an beide Adressen einmal beiseite und kümmern wir uns lieber um das, was jetzt zu tun ist, und um die Zukunft. Das ist die vernünftigere Einstellung zu diesem Problem. ({36}) Ich halte es deshalb für angemessen, diese Frage nunmehr sachlich zu diskutieren. Derzeit stehen auf der einen Seite der drohende militärische Angriff als Grundlage für die Zivilschutzaufgabe in der Zuständigkeit des Bundes, auf der anderen Seite die so genannte friedensmäßige Katastrophe in der Zuständigkeit der Länder. Vor wenigen Jahren war diese Regelung noch stimmig. Allerdings passt die asymmetrische Bedrohung durch den internationalen Terrorismus nicht mehr ohne weiteres in die tradierte Zuständigkeitsverteilung. Auch mancher Ablauf bei der Bewältigung der Flutkatastrophe stellt die herkömmlich sehr strenge Zweiteilung der Zuständigkeiten infrage. Wir haben jetzt die Chance, eine neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland durchzusetzen. Daran arbeiten wir bereits. Mit den Ländern habe ich mich im vergangenen Jahr in der Ständigen Konferenz der Innenminister und Innensenatoren auf eine neue Rahmenkonzeption für den Zivil- und Katastrophenschutz verständigt. Lesen Sie das doch einfach einmal nach und lesen Sie auch, was auf dem Gebiet in der Zwischenzeit alles geschehen ist. Wegen der Kürze der Redezeit verzichte ich auf eine Aufzählung, welche Maßnahmen wir - übrigens schon vor dem 11. September - in die Wege geleitet haben. Eines möchte ich doch erwähnen: Wenn wir die sich in diesem Zusammenhang stellenden Fragen ernst nehmen, müssen wir uns auch für einen modernen Digitalfunk einsetzen; den braucht Deutschland dann nämlich dringend. Daran sollten nun wahrlich alle mitwirken. ({37}) Ich bitte Sie aber auch, einmal im Land Hessen nachzufragen, warum es sich in dieser Frage so zögerlich verhält. Sie sollten dann vielleicht noch einmal mit Herrn Ministerpräsidenten Koch sprechen. Ich wäre Ihnen, Herr Koschyk, für jede Unterstützung in diesem Zusammenhang dankbar. ({38}) - Ja, auch bei der IMK; aber es geht ja leider nicht nur diese an, sondern auch die Finanzminister. Da habe ich auch einige Probleme mit sozialdemokratisch regierten Ländern. Ich bin da ganz ehrlich. ({39}) - Ja, natürlich. Deshalb meine Bitte: Reden Sie mit Ihren Leuten, ich rede mit unseren Leuten. Dann kommen wir vielleicht gemeinsam ein Stückchen voran. Im Rahmen unserer internationalen Aktivitäten haben wir uns auch um diese Fragen gekümmert. Ich will es hier nur in dieser gerafften Form vortragen. Ich könnte jetzt noch über die Frage des Vereinsverbotes sprechen. Da ist Ihnen, Herr Koschyk, ein Lapsus bezüglich des Zeitpunktes unterlaufen. Ich buche das einmal auf das Konto des Wahlkampfes. Ich kann mich nicht an solchen Daten orientieren. Ich mache das dann, wenn ich in Abstimmung mit Bund und Ländern den richtigen Zeitpunkt für gekommen halte. Ich bin gerne bereit, Ihnen in einem Vieraugengespräch die Hintergründe hierfür zu erläutern. Was Sie dort als Soupçon untergebracht haben, sollten Sie lieber lassen. Ich finde das nicht fair. Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn wir uns nicht auf dieses Niveau begäben. Ich könnte auch noch etwas zur Kronzeugenregelung sagen, Herr Röttgen. Das, was wir vorhaben, stellt den richtigen Ansatz dar. Sie haben da offensichtlich immer noch die alte Formel im Kopf. ({40}) - Wenn Sie sie nicht mehr im Kopf haben, ist es ja gut; dann sind wir uns ein Stückchen näher gekommen. Wir können das auch etwas umständlich Aufklärungsgehilfe nennen, wie Herr Kollege Beck es vorschlägt vielleicht ist das sogar ein ganz guter Ausdruck, der der Sache näher kommt als der Begriff Kronzeuge. ({41}) - Ich will Ihnen erklären, warum er der Sache näher kommt: weil es nicht darum geht, einen Handel bezüglich einer Aussage und einer Vergünstigung zu machen. Das führt in die Irre. Das Modell der „pentiti“ in Italien - das ist ja das Thema - hat übrigens auch in die Sackgasse geführt. Es kommt vielmehr darauf an, ein rechtliches Instrumentarium zu finden, das den Personen, die in objektiv nachvollziehbarer Weise zur Aufklärung von schwersten Verbrechen beitragen, Vergünstigungen in Aussicht stellt. Das ist der eigentliche Punkt. Darüber können wir uns verständigen, auch mit den Grünen, die da eine klare Linie verfolgen; da bin ich sicher. ({42}) - Doch, das ist der Punkt. Deshalb hoffe ich, dass hier die Vernunft siegt. Lassen Sie mich zum Schluss, weil das ja von Herrn Kollegen Bouffier sehr ausführlich angesprochen worden ist, auf den jüngsten Vorfall in Frankfurt und auf die grundsätzliche Frage des Einsatzes der Bundeswehr im Innern eingehen. Mein Standpunkt ist nach wie vor, dass die verfassungsrechtlichen Grundlagen, wie sie im Grundgesetz stehen, dafür ausreichen, dass das Militär da, wo es als Ultima Ratio notwendig ist, eingreifen kann. Ich habe aber auch Verständnis dafür, dass einige Fragen im Zusammenhang mit dem Air Policing auftreten, wie es so schön heißt. Deshalb hat das Innenministerium auch gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium und dem Verkehrsministerium eine Arbeitsgruppe gegründet, die sich mit diesen Fragen beschäftigt. Lassen Sie uns doch diese Debatte ergebnisoffen führen. Wenn jeder mit fliegenden Fahnen in die Debatte hineingeht und dort sein fest gefügtes Urteil durchsetzen will, kommen wir kein Stück weiter. Sie wissen, dass wir eine strikte Trennung zwischen polizeilicher und militärischer Tätigkeit wollen. Darüber gibt es, wie ich glaube - Herr Koschyk nickt -, im Grundsatz eigentlich keine Meinungsunterschiede. Bei dem konkreten Fall lag ein Abschuss völlig außerhalb dessen, was man in Betracht ziehen konnte. Übrigens hat sich Herr Kollege Bouffier nicht rechtswidrig verhalten, sondern aufgrund der bestehenden Verfassungslage völlig korrekt gehandelt, als er sich an Herrn Struck gewandt und um Hilfe der Bundeswehr gebeten hat. Auch der Kollege Struck hat sich korrekt verhalten. In dieser Situation wäre ein Abschuss das Dümmste gewesen, was man hätte tun können. Man hatte die Hochhäuser ja geräumt und wenn der Pilot mit der entführten Maschine in diese Häuser hineingeflogen wäre, hätte er nur sich selbst umgebracht. Wenn der Motorsegler aber abgeschossen worden wäre, hätte das einen unabsehbaren Schaden verursacht. Der Abschuss wäre also nicht das geeignete Mittel gewesen, auch aus polizeilicher Sicht nicht. ({43}) In einer anderen Situation könnte er vielleicht das letzte Mittel sein. Man müsste einmal sehr genau überlegen, ob es eine solche Situation geben könnte. Aber wir müssen - da wiederhole ich mich - eher versuchen, zu verhindern, dass Maschinen entführt werden. ({44}) Da ist noch einiges zu tun, auch vonseiten der Länder. Wer mir in diesem Zusammenhang Vorwürfe macht, liegt falsch, lieber Herr Koschyk. Wir haben den Ländern sogar im Vorgriff auf die EU-Luftsicherheitsverordnung Empfehlungen gegeben, obwohl die Flugplätze der allgemeinen Luftfahrt in die Zuständigkeit der Länder fallen. Das sage ich Ihnen nur, damit Sie uns nicht immer wieder den schwarzen Peter zuschieben. Ich bin dafür, dass wir die Dinge nüchtern diskutieren. Wenn Sie einen Gesprächswunsch haben, werde ich mich dem nicht verweigern. Wir werden Sie auch in Kenntnis darüber setzen, was die eingesetzte Arbeitsgruppe erarbeitet. Aber lassen Sie uns nicht an der falschen Stelle ansetzen und Bestrebungen wieder aufleben lassen, gegen die sich seinerzeit interessanterweise auch der Kollege Rühe zu Recht gewehrt hat. ({45}) Damals hat Herr Schäuble eine allgemeine Öffnung des Militärs für die polizeiliche Arbeit gefordert. Herr Rühe hat das zu Recht abgelehnt und gesagt: Die Bundeswehr ist mit ihren militärischen Aufgaben voll ausgelastet. Sie wird sich auch in Zukunft auf diese Aufgaben konzentrieren. Zwischen äußerer und innerer Sicherheit, zwischen Armee und Polizei sollte auch in Zukunft unterschieden werden. - Wie wahr, Herr Rühe! Dabei werden wir bleiben, meine Damen und Herren. ({46}) - Dem sage ich dasselbe. Ich habe Ihnen doch berichtet, dass wir eine Arbeitsgruppe eingesetzt haben. Es tut mir sehr Leid, dass ich meine Redezeit so ausgedehnt habe. Die Fraktionsgeschäftsführer sind inzwischen in heller Aufregung. ({47}) Ich gelobe Besserung und werde mir eine solche Überziehung der Redezeit nicht mehr erlauben, obwohl das nach der Geschäftsordnung ja möglich ist. Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen, meine Damen und Herren: Dieses Thema ist viel zu ernst, als dass es irgendeine Seite als taugliches Instrument für parteipolitische Profilierung ansehen sollte. Das ist meine volle Überzeugung. ({48}) Ich bin absolut gesprächsoffen. Lassen Sie uns diese Fragen so behandeln, dass wieder etwas an gemeinsamer Verantwortung der Demokraten für die Sicherheit der Menschen in Deutschland und außerhalb unseres Landes spürbar wird. Dann kommen wir einen Schritt voran. Wir sollten auf diese Weise eine konstruktive Debatte führen. Niemand sollte sich auf ein erhöhtes Podest stellen und behaupten, er habe die Weisheit für alle Zeiten gepachtet. Das ist erfahrungsgemäß nie der Fall. Meine Bitte ist wirklich, dass wir konstruktiv diskutieren und diese Fragen nicht für Polemik instrumentalisieren. Dafür taugt dieses Thema am allerwenigsten. Ich bedanke mich für Ihre Geduld. ({49})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Röttgen das Wort.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister Schily, ich melde mich zu Wort, weil ich den Appell, den Sie am Ende Ihrer Rede ausgesprochen haben, sehr ernst nehme. Sie haben zu Beginn Ihrer Rede an die Gemeinsamkeit der Demokraten appelliert. Dieser Appell setzt sicherlich zunächst die Bereitschaft zur sachlichen Auseinandersetzung mit den Vorschlägen der politischen Gegenseite voraus. Am Ende einer langen Debatte möchte ich einen Punkt nennen, auf den Sie mich konkret angesprochen haben und der leider beispielhaft für eine Reihe von Fällen steht, in denen Sie sich nicht sachgerecht mit unseren Vorschlägen auseinander gesetzt haben. Ich will das am Beispiel dieses Punktes ganz konkret nachweisen. Wir haben vorgeschlagen - darauf haben Sie sich bezogen -, bei dringendem Tatverdacht zur Abwehr von terroristischen Taten eine präventive Untersuchungshaft einzuführen. Sie haben sich generell gegen dieses Instrument gewandt und haben es der Sache nach als rechtsstaatswidrig bezeichnet, indem Sie von einer vorläufigen Vollstreckung im Strafrecht gesprochen haben. Ich möchte anregen, dass Sie sich § 112 a der Strafprozessordnung ansehen. Sie werden dann feststellen, dass es dieses Instrument, das Sie als solches für rechtsstaatswidrig halten, im geltenden Strafprozessrecht etwa zur Abwehr von Sexualstraftaten und anderen schweren Verbrechen gibt. Dieses Instrument ist also geltendes Recht. Wir sind der Auffassung, dass es bei konkretem Verdacht der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und der Begehung terroristischer Straftaten wegen der möglicherweise nicht absehbaren Dimension der drohenden Verbrechen gerechtfertigt ist, die präventive Untersuchungshaft auch in diesem Fall anzuwenden. Wie gesagt, in anderen Fällen gibt es sie bereits. Dieses Instrument ist in unserem Strafprozessrecht bekannt. Wenn Sie sich und wenn sich Ihr Haus ernsthaft mit unserem Vorschlag auseinander gesetzt hätten, hätten Sie diesen Vorwurf uns gegenüber nicht erhoben. Die Bereitschaft der Mehrheit, die Gesetze beschließen kann, sich mit Argumenten der Gegenseite, also der Minderheit, auseinander zu setzen, ist sicherlich geboten, wenn wir dieses Thema in der von Ihnen beschriebenen Art und Weise gemeinsam behandeln wollen. Um dies zu verdeutlichen, habe ich mich zu Wort gemeldet. ({0})

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Herr Kollege Röttgen, es ist gut, dass wir in diesem sachlichen Ton miteinander reden. Das begrüße ich. ({0}) - Sie müssen doch nicht gleich protestieren, wenn ich etwas Nettes sage, Herr Koschyk. ({1}) Wir müssen zwei Aspekte unterscheiden. Die Untersuchungshaft dient in erster Linie der Sicherung des Verfahrens. Dafür werden bestimmte Kriterien vorgegeben: Wenn Fluchtgefahr, zum Beispiel wegen der Höhe der drohenden Strafe, oder wenn Verdunklungsgefahr besteht, kann Untersuchungshaft angeordnet werden. Den anderen Gesichtspunkt, die polizeiliche Gefahrenabwehr, können Sie im Polizeirecht finden. In manchen Fällen soll die Haft Menschen daran hindern, sich an Straftaten zu beteiligen. Herr Kollege Röttgen, diese Unterscheidung sollten wir aufrechterhalten. Das ist geltendes Recht. Sie dürfen die Dinge nicht durcheinander bringen. Bei einer drohenden Verurteilung liegt der Fall anders als beim Vorliegen einer Wiederholungsgefahr. In diesem Fall spielt der Abwehrcharakter im Strafrecht eine Rolle. Natürlich gibt es da eine Schnittstelle. ({2}) - Ja, aber nur an der Stelle. Wenn Sie eine Wiederholungsgefahr befürchten, dann können Sie auf Grundlage der geltenden Vorschriften, wie Sie es selber gesagt haben, entsprechend eingreifen. Ich biete Ihnen an, dass wir einmal ein gemeinsames Gespräch darüber führen. Staatssekretär Hartenbach scharrt schon mit den Hufen, weil auch er gerne in die Debatte eingreifen will. Ich mache Ihnen dieses Angebot, obwohl dieser Bereich mehr in die Zuständigkeit meiner ehemaligen Staatssekretärin fällt. Sie ist eine sehr gute Juristin; auch sie wird in dieser Frage gerne ihre Meinung mit Ihnen austauschen. Wenn wir das in dem Stil tun, in dem Sie eben Ihre Kurzintervention gehalten haben, dann kommen wir ein Stück weiter.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach § 35 Abs. 2 der Geschäftsordnung kann die Fraktion, die eine abweichende Meinung vortragen lassen will, für einen ihrer Redner eine entsprechende Redezeit verlangen, wenn ein Mitglied der Bundesregierung länger als 20 Minuten gesprochen hat. Herr Kollege Binninger, Sie haben jetzt die Möglichkeit, 16 Minuten - Sie müssen natürlich nicht so lange reden - zu sprechen. ({0})

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine spontane Rede von 16 Minuten wird Ihnen erspart bleiben. Ich möchte aber die Gelegenheit nutzen, an das anzuknüpfen, was der Herr Innenminister zum Schluss gesagt hat. Er hat gesagt, das Thema der terroristischen Bedrohung sei viel zu ernst, als dass es sich für parteipolitische Polemik eignen würde, und an die Gemeinsamkeit der Demokraten appelliert. Das kann ich nur unterstützen. Nur waren davor etwa 28 Minuten Ihrer Rede - Herr Minister, die Kritik muss ich direkt anbringen - genau das Gegenteil von Gemeinsamkeit der Demokraten. Das war nur oberlehrerhaft. Auf unsere Position sind Sie mit keinem Wort eingegangen. Sie hatten mit Herrn Minister Bouffier Ihr Rederecht getauscht, weil Sie ihm zuhören wollten. Damit hatte ich die Hoffnung verbunden, dass Sie auf diesen sehr sachlichen Vortrag von Herrn Bouffier - ({0}) - Ich unternehme einen weiteren Versuch. Herr Bouffier hat, wie ich finde, das Problem des Bundeswehreinsatzes bei einem entführten Flugzeug in sehr sachlicher Weise beleuchtet. Dazu haben Sie so gut wie nichts gesagt, nur am Schluss einige wenige Sätze. Ich habe selber 23 Jahre im Sicherheitsbereich gearbeitet. Wenn Sie in der Diskussion sagen, es sei ja alles geregelt, lassen Sie die Menschen, die im konkreten Moment Verantwortung tragen, ganz allein, und das kann nicht sein. Wir brauchen eine gesetzliche Regelung, damit wir Handlungssicherheit für alle haben. ({1}) - Herr Schmidt, wir können uns nicht immer vorhalten, was wir Ende der 80er- oder Anfang der 90er-Jahre entschieden und wie wir die Situation bewertet haben. Wir sind uns doch einig - das wird aus den Beiträgen auch immer deutlich -, dass sich die Bedrohungslage nach dem 11. September 2001 verändert hat. Das heißt, wir können die Bewertungen, die wir vorher vorgenommen haben, nicht mehr als Beleg für irgendwelche Fehlentscheidungen heranziehen. ({2}) Wenn wir in diesen Tagen das Land darauf vorbereiten, dass wir möglicherweise die ganze Bevölkerung gegen Pocken impfen müssen, weil ein terroristischer Angriff drohen könnte - ich formuliere es ganz vorsichtig, aber Frau Schmidt bereitet ja die Bevölkerung darauf vor -, kann man, glaube ich, nicht von Popanz sprechen. Wenn wir damit rechnen müssen, dass leider auch Flugzeuge entführt und in so genannte weiche Ziele gelenkt werden können, ist das kein Popanz, Herr Schmidt. Damit müssen wir uns auseinander setzen. ({3}) Ich will ganz konkret noch einmal auf die vier Punkte eingehen, die der Kollege Bosbach in der ersten Rede zu unserem Antrag angesprochen hat. Er hat etwas gesagt zur Regelanfrage beim Verfassungsschutz vor der Einbürgerung, zur Kronzeugenregelung, zur Verdachtsausweisung bei Terrorismusverdacht und zum Einsatz der Bundeswehr. Herr Minister Schily, Sie haben gestern eine extremistische Organisation völlig zu Recht verboten und auch ganz klar die Konsequenzen aufgezeigt. Das unterstützen wir, wie wir ja auch vieles andere unterstützen. Man sollte nicht vergessen, dass wir uns in vielen Bereichen einig sind. Der Unterschied besteht darin, dass wir sagen: Wir müssen noch mehr tun. An bestimmten Stellen hören Sie zu früh auf. Ich weiß nicht, meine Damen und Herren von der SPD und von den Grünen, warum Sie sich so schwer tun, Personen auszuweisen, die nachweislich terroristische Bestrebungen unterstützen. ({4}) - Danke, Herr Ströbele. - Ich nehme das Beispiel von gestern. Die Organisation, die der Herr Innenminister verboten hat, führt - so war es zumindest gestern Abend den Medien zu entnehmen und so ist es zu lesen - auf Ihrer Website die Fatwa von Bin Laden und al-Quaida aus 1998 auf. Ich will sie gar nicht zitieren, weil sie wirklich widerwärtig ist. Gegen diese Gruppe gehört vorgegangen. Die Vereinigung ist nun verboten, aber die Funktionäre sitzen noch hier. Wir sagen, auch solche Funktionäre müssen abgeschoben werden. Warum tun Sie sich da so schwer? Das verstehe ich nicht. ({5}) - Herr Schmidt, es wäre ja schon ein Ansatz, wenn es nur an der Zeit liegt. Damit kommen Sie uns entgegen. Wir müssen auch darüber sprechen, was wir mit den Funktionären von solchen extremistischen Organisationen tun. Aus dem Verfassungsschutzbericht wissen wir - auch das ist eine Zahl, die uns zu denken geben sollte -, dass es in Deutschland etwa 60 000 ausländische Extremisten gibt. Die Mehrzahl davon sind islamistische Extremisten. Erzählen Sie einmal der deutschen Bevölkerung, warum wir nicht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen diese Personen, die bereits hier sind, vorgehen! Das können wir uns auf Dauer nicht leisten. ({6}) Herr Minister Schily, Sie haben eine sachliche Auseinandersetzung angemahnt. Genau das haben wir heute versucht. Da es in der heutigen Debatte - warum auch immer - offensichtlich nicht möglich war, sich mit unseren Punkten auseinander zu setzen, ist meine Bitte, dass wir uns im Ausschuss ausführlich über dieses Thema unterhalten. Wir sollten einfach einmal das Pro und Kontra abwägen. Wir sind uns doch einig darin, dass wir die deutsche Bevölkerung vor terroristischen Anschlägen, wie sie am 11. September 2001 passiert sind, schützen müssen. Es kann doch nicht so schwer sein, über all die Maßnahmen, die in diesem Zusammenhang notwendig wären, zu diskutieren. Man sollte nicht immer von vornherein sagen - genau das haben Sie heute getan -: All das, was die CDU/CSU empfiehlt, kommt aus der Mottenkiste. Das wollen wir nicht; das ist Wahlkampf. - Das ist keine Auseinandersetzung, wie ich sie hier im Parlament erwarte. ({7}) Ich möchte mit einem Appell schließen. ({8}) - Vielen Dank. ({9}) Wir alle - Herr Beck, ich möchte Sie ausnahmsweise kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten -, die wir hier sitzen, tragen die Verantwortung für unser Land. Wir haben alles dafür zu tun, dass sich bei uns keine Terroranschläge ereignen. Wir haben alles dafür zu tun, dass es gelingt, unsere Bevölkerung davor zu schützen. Wenn wir das ernst meinen, dann sollten wir auch bereit sein, über das Pro und Kontra eines jeden Vorschlages zu diskutieren. Wenn Sie hinterher die besseren Argumente haben, dann schließen wir uns Ihnen an. Das haben wir auch bei den Sicherheitspaketen getan. ({10}) Wir haben uns Ihnen angeschlossen. Den Anspruch aber, dass wir Ihnen immer Recht geben und dass all das, was wir vorschlagen, falsch ist, sollten Sie nicht haben. ({11}) Eine entscheidende Weichenstellung wird sein: Die Menschen in unserem Land zu schützen, das werden wir nur dann erreichen, wenn wir vorbeugend handeln. Wollen Sie warten, bis wieder etwas passiert? Deshalb müssen wir über alle Eventualitäten nachdenken. - Herr Schmidt, da brauchen Sie nicht den Kopf zu schütteln. ({12}) - Herr Schmidt, ich habe gerade gesagt, dass wir für alle Menschen in unserem Land die Verantwortung haben, sie vor terroristischen Anschlägen zu schützen. Wenn Sie das als Unsinn bezeichnen, dann ist das zwar Ihre Meinung. Aber die ist bedenklich. ({13}) Wenn Sie den Schutz der Bevölkerung als Unsinn bezeichnen, ist das bedenklich. ({14}) Wenn Sie jemandem vor dem 11. September ({15}) - zwei Sätze noch, dann haben Sie es überstanden ({16}) gesagt hätten, es passiere ein Terroranschlag in der Form, dass Flugzeuge in das World Trade Center gelenkt werden, hätte jeder gesagt: Das ist Unsinn; das ist Popanz. Heute wissen wir, dass wir leider jeden Anschlag für möglich halten müssen. Deshalb haben wir alle zusammen die Pflicht, alles dafür zu tun, um solche Anschläge zu verhindern. Vielen Dank. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Weitere Redemeldungen liegen nicht vor. Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/218 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c sowie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf: 18. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau von Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen ({0}) - Drucksachen 15/287, 15/312 Clemens Binninger Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({3}) Beratungskapazität Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag - ein Erfahrungsbericht - Drucksache 14/9919 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Kultur und Medien c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Günther Friedrich Nolting, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Ulrich Adam, Ilse Aigner, Dietrich Austermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Transatlantische Beziehungen stärken - Potsdam Center fördern - Drucksache 15/194 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({5}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 2 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer ({6}), Eduard Oswald, Georg Brunnhuber, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Bundesfernstraßenfinanzierungs- und Managementgesellschaft ({7}) - Drucksache 15/299 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8}) Haushaltsausschuss ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Daniel Bahr ({9}), Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes ({10}) - Drucksache 15/313 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/287 soll - abweichend von der ursprünglichen Tagesordnung nicht an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit überwiesen werden. Zu dem Gesetzentwurf liegt inzwischen auf Drucksache 15/312 die Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates vor, die wie der Gesetzentwurf überwiesen werden soll. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 a auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Februar 2002 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen über die Zusammenarbeit der Polizeibehörden und der Grenzschutzbehörden in den Grenzgebieten - Drucksache 15/11 ({11}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({12}) - Drucksache 15/240 - Berichterstattung: Abgeordnete Tobias Marhold Günter Baumann Dr. Max Stadler Es handelt sich um die Beschlussfassung zu einer Vor- lage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist. Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die- jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden. Damit kommen wir zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit auch in der dritten Lesung einstimmig angenommen worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b sowie Zusatzpunkt 4 auf: 6. Wahlen zu Gremien a) Programmbeirat ({13}) beim Bundesministerium der Finanzen - Drucksache 15/206 - b) Beirat nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes - Drucksache 15/303 ZP 4 Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Kuratoriums der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ - Drucksache 15/304 Ich weise darauf hin, dass diese Wahlen mittels Handzeichen durchgeführt werden. Wir kommen zur Wahl der Mitglieder des Programmbeirats beim Bundesministerium der Finanzen. Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/ CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf Drucksache 15/206 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen worden. Wir kommen zur Nachwahl von Mitgliedern des Beirats nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/303 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen der Regierungskoalition und der Fraktion der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen worden. Wir kommen zur Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“. Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/304 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch dieser Wahlvorschlag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU angenommen worden; die FDP hat sich enthalten. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Straßenbaubericht 2001 - Drucksache 14/8754 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({14}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch dagegen höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Petra Weis. Da es ihre erste Rede hier ist, warten wir, bis Ruhe eingekehrt ist. Sie haben das Wort, Frau Kollegin.

Petra Weis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003657, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei dem uns vorliegenden Straßenbaubericht 2001 handelt es sich wie bei seinen Vorgängern um eine überaus umfassende Darstellung der aktuellen Entwicklungen und Rahmenbedingungen in Sachen Fernstraßenbau, der sicherlich eine ausführlichere Würdigung verdient hätte, als es im Rahmen unserer heutigen Debatte oder schon gar im Rahmen meines Beitrages möglich ist. Ich will deswegen sofort zur Sache kommen. Der Bericht konfrontiert uns gleich auf der zweiten Textseite mit der politischen Herausforderung, vor der wir bei diesem Thema stehen. Die Zahlen zur Verkehrsentwicklung auf den Bundesfernstraßen zeigen nämlich - ich zitiere den Bericht - „erstmalig eine Stagnation der mittleren Verkehrsstärken auf den Bundesautobahnen sowie leichte Abnahmen auf den Bundesstraßen, ein Effekt, der sich auch dämpfend auf die Entwicklung der Jahresfahrleistungen ... ausgewirkt hat“. Wer daraus voreilig den Schluss ziehen wollte, dass es im Hinblick auf dieses Thema Zeit zur Entspannung oder zum Durchatmen sei, wird allerdings noch im selben Absatz aller Illusionen beraubt; denn es heißt dort weiter: Die seit langem beobachtete Konzentration des Straßenverkehrs auf den Autobahnen blieb davon unberührt. Weiter heißt es sinngemäß: Die verkehrliche Bedeutung der Bundesfernstraßen besteht nach wie vor in ihren überproportional hohen Anteilen an den Verkehrsleistungen im Straßenverkehr. Ich füge hinzu: Das gilt vor allem im Hinblick auf den Güterverkehr. Ungeachtet des Realitätsgehalts aller Prognosen und Szenarien werden wir uns also auch in Zukunft darauf einstellen müssen, unser Augenmerk darauf zu richten, das Fernstraßennetz - zumindest bis auf Weiteres - als Rückgrat der Verkehrsinfrastruktur in der Bundesrepublik zu begreifen und dafür zu sorgen, dass es in den kommenden Jahren nachhaltig funktionsfähig bleibt und - so füge ich hinzu - dort wieder funktionsfähig wird, wo es in den letzten Jahrzehnten - ich sage bewusst „Jahrzehnte“ und nicht „Jahre“ - gelitten hat. ({0}) Obwohl wir in der Verkehrspolitik über den nach wie vor größten Investitionshaushalt reden, gehört es meines Erachtens zur Wahrheit und zur Klarheit, festzuhalten, dass die Bäume auch hier nicht in den Himmel wachsen. Neubau, Betrieb, Erhaltung und Modernisierung unserer Straßen konkurrieren um begrenzte Haushaltsmittel. Insofern ist es Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer von ganz besonderer Bedeutung, welche politischen Schwerpunkte wir setzen. Es ist zweifellos eine Binsenweisheit, dass wir den Straßenbau nicht unbegrenzt ausdehnen können, sondern alles daran setzen müssen, die Verkehrsprobleme unseres Landes zu lösen, und zwar am besten dadurch, dass wir die bestehenden Systeme effizienter und sicherer machen. Die Erhaltung und die Modernisierung des bestehenden Straßennetzes ist - das möchte ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich betonen - für uns weit mehr als eine Verwaltungsaufgabe, die allein deshalb nicht mit mehr Herzblut betrieben werde, weil sie den politisch Verantwortlichen so wenig Möglichkeiten biete, Spatenstiche oder andere publikumswirksame Eröffnungen zu zelebrieren, wie es der BUND neulich in einem Text vermutet hat. Das Gegenteil ist der Fall: Neben den notwendigen Mitteln für Neubau und Erweiterung der Bundesfernstraßen müssen wir die ebenso notwendigen Mittel für die Erhaltung und Modernisierung des bestehenden Netzes aufbringen. Der Straßenbaubericht 2001 erfüllt im Grunde genommen zwei Funktionen: Er markiert auf der einen Seite eine Leistungsbilanz der Bundesregierung im Straßenbau und ist auf der anderen Seite gewissermaßen unser Lehrplan für das laufende Jahr und die kommenden Jahre. So erläutert er beispielsweise die Grundlagen für die im Gang befindliche Überarbeitung des Bundesverkehrswegeplans, der uns in der kommenden Zeit noch ausführlich beschäftigen wird. Er beschreibt nachdrücklich die Notwendigkeit und die Vorzüge der Einführung der streckenbezogenen LKW-Maut. Beide Themen bieten uns in der Folgezeit, wie ich denke, noch ausreichend Gelegenheit zum Austausch von Meinungen oder auch zu Kontroversen. Daher will ich es an dieser Stelle bei zwei ganz kurzen Anmerkungen bewenden lassen. Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan werden wir den Straßenbau auf drei Schwerpunkte konzentrieren: erstens auf die gezielte Engpassbeseitigung sowie die notwendige Sanierung des bestehenden Straßennetzes, zweitens auf den beschleunigten Bau von Ortsumgehungen, um die Sicherheit und die Lebensqualität der Anwohnerinnen und Anwohner zu erhöhen und den Verkehrsfluss auf den Bundesstraßen zu verbessern, und drittens, aber nicht zuletzt, auf den weiteren gezielten Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern. Mit der LKW-Maut und dem daraus zu finanzierenden Anti-Stau-Programm werden wir noch in diesem Jahr weitere Akzente zur Entlastung vor allem der Bundesautobahnen setzen. Diese Entlastung muss in Zukunft eines unserer vordringlichsten Ziele sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundesfernstraßenbau in der Bundesrepublik ist kein Stiefkind der Verkehrspolitik dieser Koalition, wie gelegentlich behauptet wird. ({1}) Gegen diese Annahme spricht nicht nur die Tatsache, dass die Bundesregierung in den letzten vier Jahren die Ausgaben im Straßenbau auf ein bis dahin nicht erreichtes Niveau geschraubt hat, sondern auch der Realisierungsgrad der einzelnen Projekte, die der Straßenbaubericht anführt. Ich will nur einige wenige Beispiele nennen: Bei der Autobahnerweiterung auf sechs und mehr Fahrspuren wurde das Längenziel vollständig erreicht. Dass hieran vorrangig finanzierte Abschnitte der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ einen außerordentlich hohen Anteil haben, ist weit mehr als nur ein politisches Symbol. ({2}) Beim Autobahn- und Bundesstraßenneubau spricht der Straßenbaubericht von, wie ich meine, beachtlichen Fertigstellungsgraden von 90 bzw. 87 Prozent. Schließlich wurde beim Bau von Ortsumgehungen im Zuge von Bundesstraßen ein Erfüllungsgrad von 82 Prozent erreicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundesfernstraßenbau ordnet sich in ein verkehrspolitisches Gesamtkonzept ein, das vom Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung als der sicherlich wichtigsten Antwort auf die gegenwärtigen Herausforderungen bestimmt wird und - das ist mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig das die Bedeutung der Mobilität für nahezu alle Bereiche unserer Gesellschaft anerkennt. Es sucht nach Wegen, unser aller Mobilitätsbedürfnis, das sich im privaten wie im öffentlichen Straßenverkehr auf letztlich unverändert hohem Niveau ausdrückt, mit einem verantwortungsvollen Ressourcenumgang zu kombinieren. Ich möchte in diesem Zusammenhang kurz auf ein Detail des Straßenbauberichts eingehen, indem ich auf das „verkehrstechnische Konzept der Zuflussregelung zur Verbesserung des Verkehrsablaufes auf ausgewählten Bundesautobahnabschnitten“ zu sprechen komme. Ich gebe zu, dieser Titel ist auch mir ein wenig lang und kompliziert, deswegen habe ich ihn abgelesen. Es handelt sich hierbei um eine der intelligentesten Problemlösungen hinsichtlich der Verkehrslenkung in Ballungsgebieten überhaupt. Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung versichern, dass die dargestellten erheblichen Verbesserungen auf der A 40, also dem Ruhrschnellweg zwischen Duisburg und Dortmund, auf der ganzen Linie eingetroffen sind und - lassen Sie mich dies durchaus eingestehen dass ich es mir als regelmäßige Nutzerin dieser wirklich viel befahrenen Autobahnstrecke im Leben nicht hätte träumen lassen, dass es mir eines Tages wieder Spaß machen wird, diese Strecke zu befahren, die ich jahrzehntelang gemieden habe wie der Teufel das Weihwasser. Zum Schluss lassen Sie mich noch auf ein Thema des Berichtes zu sprechen kommen, das die Verkehrspolitik im Allgemeinen und die Straßenverkehrspolitik im Besonderen in den kommenden Jahren erheblich beeinflussen dürfte: Durch die Osterweiterung der Europäischen Union wird sich der Verkehr auf der Ost-West-Relation verstärken. Angesichts der historischen Größe dieses Schrittes bin ich allerdings geneigt zu sagen: Dies ist sicherlich auch gut so. Dieser Prozess muss allerdings für Deutschland als Transitland weit reichende Konsequenzen nach sich ziehen. Angesichts der Kürze der Zeit möchte ich es aber bei dem allgemeinen Appell bewenden lassen, dass wir uns weiterhin mit großer Intensität am Prozess des Auf- und Ausbaus einer passgenauen Verkehrsinfrastruktur in der Europäischen Union beteiligen müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird Sie nicht wundern, wenn ich sage, dass auch der Straßenbaubericht 2001 eine zuverlässige und wertvolle Grundlage für die Verkehrsplanung ist, denn er vermittelt uns eine ehrliche und realistische Bestandsaufnahme der vor uns liegenden Probleme, die zu lösen wir in der Lage sein müssen, wenn wir den Lebens- und Wirtschaftsstandort Deutschland zukunftsgerecht weiterentwickeln wollen. Aus meiner Sicht macht der Bericht eines ganz deutlich: Wir sind auf dem Weg zu einer integrierten Gesamtverkehrsplanung, die dazu beitragen kann, ja, dazu beitragen muss, ein zukunftsfähiges Mobilitätssystem aufzubauen, das den vielfältigen Ansprüchen in ökonomischer, ökologischer, sozialer und soziokultureller Hinsicht gerecht wird. Ich weiß, dass dies ein hoher Anspruch ist, aber wer sagt denn, dass wir uns - auch in der Straßenbaupolitik - keine ehrgeizigen Ziel mehr setzen können und sollen? Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Frau Kollegin Weis, ich möchte Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede gratulieren. Sie zeigten nicht nur große Kompetenz, sondern Sie sind auch auf die Sekunde genau in der Zeit geblieben. Dies schaffen die allerwenigsten. ({0}) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Renate Blank.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollegin Weis, lassen Sie mich einige Worte zu Ihrer Rede sagen: Natürlich kann Straßenbau nicht unbegrenzt stattfinden, aber wir unterhalten uns eigentlich über den Anbau von dritten Streifen auf den Autobahnen. Für die neuen Bundesländer geht es vor allen Dingen darum, überhaupt erst Verkehrswege zu schaffen. Diese brauchen nämlich den Verkehrswegebau dringend, ({0}) auch damit dort Arbeitsplätze entstehen können und es zu Wirtschaftswachstum kommen kann. Natürlich kritisieren wir den falschen Einsatz der Mittel durch die LKW-Maut. Sie können nicht auf der einen Seite den LKW im Straßenverkehr so belasten, dass viele Speditionen ausflaggen und sich in anderen Ländern niederlassen, auf der anderen Seite aber die Mittel aus der LKW-Maut nicht in den Straßenverkehr fließen lassen. Sie verteilen diese Mittel auf Straße, Schiene und Wasser. Dies ist aus unserer Sicht der falsche Weg. ({1}) Noch ein Wort zu Ihren Ausführungen bezüglich der Mittel im Straßenbau: Ich kann Ihnen nachweisen - die Zahlen belegen dies -, dass die Ausgaben für den Straßenbau bis zum Jahr 2000 kontinuierlich gesenkt wurden. Noch in den Jahren 1998 und 1999 beliefen sich die Mittel für den Straßenbau auf etwa 8,6 Milliarden DM. Ich habe das jetzt aus dem Gedächtnis genannt, weil ich den Zettel, auf dem die Zahlen stehen, an meinem Platz liegen gelassen habe; ich kann Ihnen die genauen Zahlen aber gerne nachreichen. Sie haben diese Mittel im Jahr 2000 - wir unterhalten uns ja über den Straßenbaubericht 2001, dessen Berichtszeitraum das Jahr 2000 ist auf 8,1 Milliarden DM reduziert. Es ist also effektiv weniger Geld für den Straßenbau ausgegeben worden als zu unseren Zeiten. ({2}) Ich bedauere sehr, dass Minister Stolpe heute nicht anwesend ist. Ihn persönlich kann ich natürlich nicht für die miserable Verkehrspolitik der letzten vier Jahre verantwortlich machen. Kollegin Mertens, Sie aber kann ich nicht aus der Verantwortung hierfür entlassen. Das gilt auch für die drei Vorgänger des Ministers, nämlich für Herrn Müntefering, Herrn Klimmt und Herrn Bodewig, die Verwirrung in die Infrastrukturplanung gebracht haben, aber leider keinen Pfennig - damals gab es ja noch den Pfennig - mehr für den Straßenbau erwirkt haben. Ich spreche auch deshalb von Verwirrung, Frau Staatssekretärin, weil uns weder der Bundesverkehrswegeplan, der für das Jahr 1999 versprochen worden ist, noch ein Fernstraßenausbaugesetz noch ein Fünfjahresplan vorgelegt wurde; es gab nur Programme über Programme, mit denen die Kürzung der Straßenbaumittel verschleiert werden sollte. Das Investitionsprogramm, das Planungssicherheit bringen sollte, ist Ende 2002 ausgelaufen. Erst bis weit über das Jahr 2010 hinaus hätten alle darin enthaltenen Maßnahmen abgearbeitet werden können. Alleine dies zeigt, dass das Investitionsprogramm falsch angelegt war. Das Anti-Stau-Programm aus dem Jahr 2000 war eigentlich eine Wahlkampfhilfe für Nordrhein-Westfalen, ({3}) vor allen Dingen, da jeder wusste, dass es erst ab dem Jahr 2003 gültig werden konnte. Mit diesem Anti-StauProgramm, das auf die Einnahmen aus der LKW-Maut angewiesen ist, konnte bisher noch kein Meter Straße realisiert werden; denn Sie waren nicht in der Lage, die LKW-Maut rechtzeitig einzuführen. ({4}) - Auch die Umstellung von der zeit- auf die streckenbezogene LKW-Maut, Frau Kollegin Weis, lässt auf sich warten. Wahrscheinlich wäre es schneller gegangen - vielleicht sind wir uns darin einig -, wenn das Parlament beteiligt worden wäre. So trägt alleine die Bundesregierung die Verantwortung für die Verzögerung. ({5}) Man hätte das Parlament damit befassen können. Ich glaube, wir hätten das schneller und geschickter gelöst. ({6}) Die Gelder aus dem Zukunftsinvestitionsprogramm, gültig für die Jahre 2001 bis 2003, sollten insbesondere für den Bau von Ortsumgehungen eingesetzt werden. Wie wichtig das ist - Frau Kollegin Weis, auch Sie haben das erwähnt -, zeigt der Straßenbaubericht auf. Darin steht, dass bei Ortsumgehungen der geringste Erfüllungsgrad erreicht wurde. Es ist also wichtig, Ortsumgehungen zu bauen. Ich bin froh, dass auch Sie heute darauf hingewiesen haben; denn unsere ständigen Hinweise, dass Ortsumgehungen Menschen- und Umweltschutz sind, fruchten jetzt hoffentlich und werden hoffentlich von Ihnen ernst genommen. Das Maßnahmenpaket „Bauen jetzt - Investitionen beschleunigen“ versucht, private Finanzmittel für den Straßenbau zu aktivieren. Früher wurde diese Art der Finanzierung zwar massiv bekämpft, doch grundsätzlich wäre das ein richtiger und wichtiger Schritt. Denn dem Straßenbaubericht ist eindeutig zu entnehmen - das können Sie alle nachlesen -, dass die privaten Vorfinanzierungsmodelle, immerhin 27 Projekte, rasch verwirklicht werden konnten. Planung und Bau gingen sehr rasch vonstatten. ({7}) Ob allerdings Ihr Konzept der geplanten Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft richtig ist, wird sich zeigen. Wir jedenfalls stellen uns diese Gesellschaft anders vor und werden dazu einen eigenen Antrag einbringen. Kollege Schmidt, Sie haben in den Anträgen bis 1998 immer gefordert - ich hoffe, Sie haben ein gutes Gedächtnis und erinnern sich daran -, die Refinanzierungskosten für Konzessionsmodelle aus dem allgemeinen Haushalt und nicht aus dem Verkehrshaushalt zu finanzieren, damit der Verkehrshaushalt auf Dauer nicht belastet wird. Sie haben Ihre Meinung anscheinend geändert; denn als wir Ihren Antrag im Jahre 1999 übernommen haben, um den Verkehrshaushalt zu entlasten und die Refinanzierungskosten im allgemeinen Haushalt zu veranschlagen, haben Sie unseren Antrag abgelehnt. Ich bitte Sie, einmal darüber nachzudenken, ob nicht die Möglichkeit besteht, dass das Geld aus dem allgemeinen Haushalt genommen wird. Ihre Idee war ja gar nicht so schlecht. Sie sehen, wir haben sie aufgegriffen. Eine schnelle Realisierung von Verkehrsprojekten bedeutet auch einen volkswirtschaftlichen Nutzen. ({8}) Das ist eine wichtige Angelegenheit. Sie dürfen also auf Ihre früheren Ideen und Vorschläge zurückgreifen. ({9}) Meine Damen und Herren, im Straßenbaubericht wird auch über die neuen Bewertungskriterien zum Bundesverkehrswegeplan berichtet. Was nützt uns aber das Wissen, dass bei den Verkehrsprognosen ein Schwerpunkt auf das so genannte Integrationsszenario gelegt werden soll? Dabei handelt es sich um den Versuch, die ökonomischen, ökologischen und sozialen Anforderungen in Übereinstimmung zu bringen und monetäre und nicht monetäre Bewertungsverfahren zukünftig zusammenzuführen. Ich wiederhole: Was nützt uns das Wissen, wenn uns kein vom Kabinett beschlossener Bundesverkehrswegeplan vorliegt? Auf die Kosten-Nutzen-Analyse der einzelnen Projekte sind wir schon sehr gespannt, genauso wie darauf - Kollege Schmidt, ich schaue ganz besonders Sie an -, wie Sie den Konflikt zwischen dem notwendigen Straßenbau, der ja auch von den rot-grün regierten Bundesländern gefordert wird, und grüner Ideologie lösen werden. ({10}) Eine neue Bewertungsmethode ist aus unserer Sicht falsch, nämlich jene, die lediglich die volkswirtschaftlichen und ökologischen Schäden, die durch den Verkehr entstehen, betrachtet. Der Verkehr bringt aber auch einen volkswirtschaftlichen Nutzen. Seriöse Zahlen aus der Wissenschaft beziffern diesen Nutzen auf das Doppelte der Kosten. Vor Jahren wurde ein verkehrlich bedingter volkswirtschaftlicher Schaden von 200 Milliarden DM genannt. Der Nutzen aus dem Straßenverkehr lag aber beim Doppelten, also bei 400 Milliarden DM. Eine Bewertungsmethode sollte also auch den volkswirtschaftlichen Nutzen berücksichtigen. ({11}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige Anmerkungen zum Zustand der Bundesfernstraßen machen. Die volle Gebrauchsfähigkeit nimmt insbesondere in den alten Bundesländern immer mehr ab. Die Schlaglöcher werden immer zahlreicher. Dabei denke ich vor allen Dingen an das Land Baden-Württemberg und an eine ganz bekannte und viel befahrene Strecke um Mannheim. Dort wird es sehr kritisch, wenn man mit mehr als 60 Stundenkilometern fährt. Was ist zu tun? Die Bundesregierung muss für die Instandhaltung mehr Geld zur Verfügung stellen, damit wir nicht eines Tages vor einem total maroden Straßensystem stehen; denn der Substanzverlust schreitet immer mehr voran. Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel, Mittel, die die Bahn nicht verbauen kann, zu nutzen. Es wurde von einem Betrag in Höhe von 2 Milliarden DM gesprochen; im vergangenen Jahr waren es offiziell 151 Millionen Euro, wobei einige Mittel noch im Haushalt versteckt waren. Wir gehen davon aus, dass die Deutsche Bahn AG im vergangenen Jahr rund 600 Millionen Euro nicht verbauen konnte. ({12}) - Sitzen Sie noch im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG, Kollege Schmidt? Dann könnten Sie das nachher ja schriftlich belegen. ({13}) Eine Möglichkeit bestünde also darin, Mittel, die die Bahn nicht verbauen kann, für Instandhaltungsmaßnahmen zu verwenden und nicht im Topf des Finanzministers verschwinden zu lassen. ({14}) - Sie dürfen das nachher aufklären. - Auf jeden Fall sollten die künftig anfallenden Mittel aus der LKW-Maut in den Straßenbau fließen, da sie ja auch aus dem Straßenverkehr stammen, und nicht auf weitere Verkehrsträger aufgeteilt werden. Leistungsfähige Verkehrswege sind die Grundvoraussetzung für Wirtschaftswachstum. Deshalb ist eine leistungsfähige Infrastruktur für den Standort Deutschland und auch für die Mobilität unserer Bürger ungemein wichtig. Ich darf aus einem Interview zitieren, bei dem Minister Stolpe ausgeführt hat: Nach meiner festen Überzeugung ist Mobilität eine Haupttriebkraft für gesellschaftliche Entwicklung und Fortschritt. Sie ist außerdem Ausdruck von Freiheit! Mobilität ist ja auch ein Element der Revolution im Osten gewesen. ({15}) Ich kann ihm nur zustimmen. Aufgrund dieser Aussage fordern wir Sie auf, mehr Geld für den Straßenbau zur Verfügung zu stellen. Es gibt in Deutschland baureife Projekte mit einem Volumen von mehr als 2 Milliarden Euro, die Mehrzahl davon in Baden-Württemberg und Bayern, die mit höheren Finanzmitteln sofort in Angriff genommen werden könnten. Frau Staatssekretärin, ich bitte Sie, Herrn Minister Stolpe Folgendes auszurichten: Er wird sich an seiner Aussage, neben dem Aufbau Ost den Ausbau West nicht zu vergessen, messen lassen müssen. Wir werden ihn nach einiger Zeit daran erinnern. ({16}) Minister Stolpe hat mit seinem Amtsantritt eine gute Chance, von allen verwirrenden Programmen Abstand zu nehmen und zur Klarheit und Wahrheit in der Verkehrspolitik zurückzukehren. Er soll uns baldmöglichst einen neuen stimmigen Bundesverkehrswegeplan vorlegen, der als Bedarfsplan die dringend notwendigen Projekte enthält. Ich erinnere auch an die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, die zügig umgesetzt werden müssen. Der Bundesverkehrswegeplan muss auch das Thema EU-Osterweiterung berücksichtigen; denn - das habe ich vorher schon ausgeführt - die neuen Bundesländer brauchen dringend Verkehrswege, damit dort Wirtschaftswachstum entsteht. ({17}) Ich möchte jetzt speziell an die Staatssekretärin und Minister Stolpe ein paar Worte richten: Nehmen Sie Abschied von Programmen; denn diese haben nur eine begrenzte Wirksamkeit und ermöglichen keine gesicherte, solide und langfristige Finanzplanung. Erteilen Sie der einseitigen Verteilung der Mittel eine Absage. Kehren Sie zur bewährten Aufteilung der Mittel im Rahmen der Länderquoten zurück, wodurch eine Benachteiligung Bayerns oder anderer Bundesländer vermieden wird. Legen Sie auch in Zukunft Wert auf die Mitsprache der Länder bei Festlegung einzelner Maßnahmen! Bisher wurde über die Maßnahmen in den Programmen über die Köpfe der Länder hinweg entschieden. Es kann nicht sein, dass die Länder in einem Programm mit einer Maßnahme konfrontiert werden, die für sie nicht erste Priorität hat. ({18}) Am 6. August 1932 wurde mit der Kraftwagenstraße Köln-Bonn die erste Autobahn Europas eingeweiht. Diese Anfänge des Autobahnbaus in Deutschland waren für die damalige Zeit hoch visionär. Gleiches gilt für den Plan von 1927 für den Bau eines 22 500 Kilometer langen Fernstraßennetzes. Heute gibt es in Deutschland rund 11 000 Kilometer Autobahn und 41 000 Kilometer Bundesstraßen. Übrigens begann der Autobahnbau in Deutschland bereits in einer Zeit, in der das Auto in der Gesellschaft als individuelles Fortbewegungsmittel kaum verbreitet war. Heute haben wir circa 44 Millionen PKW. Sie sehen daran, wie visionär die Entscheidung aus dem Jahr 1927 damals war. Aus diesen Anfängen entwickelten sich die heutigen Hauptschlagadern der Verkehrsinfrastruktur in Deutschland. Auch heute sind wieder Visionen gefragt und Ideen gefordert, um eine weiträumige Mobilität sicherzustellen und Deutschland aus dem Stau herauszuführen. Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, helfen dem neuen Verkehrsminister sehr gerne dabei, damit wieder Ordnung in die deutsche Verkehrspolitik kommt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({19})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Albert Schmidt.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Kollegin Blank, es freut mich zwar sehr, dass Sie sich so genau an unsere Anträge aus der Zeit vor 1998 erinnern, ({0}) aber Ihre Darstellung des Themas Privatfinanzierung hat den Punkt nicht ganz getroffen. Ich will Ihnen noch einmal präzise in Erinnerung rufen, was wir an der privaten Vorfinanzierung von Straßenbau immer wieder kritisiert haben und vor welchen Folgen wir gewarnt haben. Das ist in dem Straßenbaubericht 2001 zu finden. Albert Schmidt ({1}) Wir haben Folgendes kritisiert: Weil die damalige Bundesregierung nicht die Mittel hatte, noch mehr Straßen zu bauen, hat sie diese Straßen privat vorfinanziert. Dabei weiß jedes Kind - nur der damalige Bundesfinanzminister wollte es nicht wissen -, dass Straßen, die auf Pump gekauft werden - wie alles, was auf Pump gekauft wird -, letztlich teurer werden. Ein Rückkauf dieser Straßen zulasten der jetzigen Bundeshaushalte ist sehr viel teurer, als es bei einer Haushaltsfinanzierung der Fall gewesen wäre. Darauf bezog sich unsere Kritik. Deswegen haben wir 1998 mit dem Beginn der rot-grünen Koalition dieses unmögliche Modell der privaten Vorfinanzierung von Straßenbau gestoppt. Das ist auch gut so. ({2}) Ein Blick nach Baden-Württemberg - dort ist nämlich die Hinterlassenschaft von Waigel und Wissmann am deutlichsten zu besichtigen - zeigt, dass die Hauptbauquote Baden-Württembergs zu einem großen Teil von Rückzahlungen für Straßen aufgefressen wird, die schon längst in Betrieb sind. Dort rührt sich keine Schaufel und fährt kein einziger Bagger mehr. Damit wird kein einziger Arbeitsplatz gesichert. Obwohl die Straßen bereits vorhanden sind, verursachen sie immer höhere Kosten. Diesen Fehler haben Sie gemacht. ({3}) Dieses Modell haben wir gestoppt und wir werden es auch in Zukunft nicht wieder beleben. Darin sind wir uns völlig treu geblieben: Was vor 1998 richtig war, haben wir nach 1998 umgesetzt. Es gibt übrigens noch eine zweite Hinterlassenschaft, verehrte Frau Kollegin, die Sie auch angesprochen haben; auch dafür ist Baden-Württemberg ein Musterbeispiel: die Vorratsplanung. Sie haben nämlich im Bundesverkehrswegeplan Straßen noch und noch in den vordringlichen Bedarf hineingeschrieben. ({4}) Damit haben Sie eine Planungstätigkeit der Straßenbaubehörden ausgelöst, die wie die Weltmeister planen. Aber Sie haben nicht die erforderlichen Mittel zur Verfügung gestellt, sodass derzeit baureife Projekte in Milliardenhöhe in den Schubladen vergammeln. Planfeststellungsbeschlüsse verfallen und können nicht umgesetzt werden, weil Sie eine unsittliche Vorratsplanung betrieben haben. ({5}) Auch dies werden wir mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan stoppen. ({6}) Lassen Sie mich nun aber zum Straßenbaubericht 2001 im engeren Sinne kommen. Er weist aus, dass für die Bundesfernstraßen im Jahr 2000 9,9 Milliarden DM aufgewendet wurden, davon 8,2 Milliarden DM investiv. Sie können zwar einwenden, dass dieser Betrag um irgendeine Zahl hinter dem Komma niedriger war als vielleicht ein oder zwei Jahre vorher. ({7}) Aber der Unterschied zu Ihrer Investitionspolitik liegt darin, dass wir nicht nur die Straße nicht vernachlässigt haben, sondern parallel dazu von Jahr zu Jahr schrittweise die Schieneninvestitionen angehoben haben, die inzwischen auf demselben Niveau wie beim Straßenbau liegen. Das ist der Unterschied zwischen unserer und Ihrer Politik: Wir behandeln alle Verkehrsträger von der Straße bis zur Schiene gleich. Auch das war überfällig. ({8}) - Dieses Märchen wird nicht wahrer, wenn Sie es immer wieder wiederholen. Hätten Sie gestern den Parlamentarischen Abend der Parlamentsgruppe Schiene besucht, dann hätten Sie aus dem Munde des Vorstandsvorsitzenden zum wiederholten Male gehört, ({9}) dass im vergangenen Jahr bis auf einen Rest von unter 3 Prozent alle Mittel verausgabt worden sind. ({10}) Erzählen Sie deshalb nicht immer wieder dieses Märchen! Interessant ist es aber, einen Blick auf die Verteilung der Straßenbauinvestitionen zu werfen. Dabei ist festzustellen, dass die Erhaltungsinvestitionen, also die Aufwendungen für den schieren Erhalt der Substanz, 4,4 Milliarden DM - das ist die Zahl für 2000 - und damit mehr als die Hälfte der Investitionen ausmachen. Das heißt, dass wir auch in Zukunft unser Augenmerk viel stärker darauf werden richten müssen, den Bestand eines derart dichten Netzes zu sichern und immer wieder zu erneuern und zu modernisieren. Das bedeutet im Klartext, dass nicht alle Wünsche nach Neu- und Ausbau in Erfüllung gehen können. Vielmehr müssen wir im Straßennetz, in dem insbesondere die Ingenieurbauwerke, die Brücken und Tunnels, in ein kritisches Alter gekommen sind, viel höhere Mittel für die Sanierung aufwenden. Auch das ist ein Stück Haushaltswahrheit und Planungsehrlichkeit, die wir mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan herstellen müssen. Wir werden uns des Weiteren darauf einzustellen haben, in viel stärkerem Maße auch Kompromisse und Zwischenlösungen, zum Beispiel reduzierte Querschnitte, in den Blick zu nehmen. Es müssen nicht immer vier Spuren sein, sondern es kommen durchaus auch zwei Spuren mit einer Überholspur am Berg infrage. Wir müssen wirtschaftlich darstellbare und bezahlbare Lösungen suchen. Wir müssen sogar Zwischenlösungen ins Auge fassen, zum Beispiel die Freigabe eines Stückes Standspur, wenn es aus Sicherheitsgründen möglich erscheint, weil wir den Bau einer dritten Spur nicht sofort bezahlen können. ({11}) Interessant ist es aber auch, in dem Straßenbaubericht nachzulesen, wie viel Geld wir inzwischen für den Schutz der Bevölkerung vor Verkehrslärm aufwenden. Die wenigsten wissen, dass die Straßenbautitel nicht nur den reinen Straßenbau, sondern auch eine Menge Lärmvorsorge und -sanierung enthalten. Im Jahr 2000 waren es 244 Millionen DM. Für Naturschutz und Landschaftspflege, für Grünflächen- und Biotoppflege sind im Zusammenhang mit Straßenbaumaßnahmen 440 Millionen DM aufgewendet worden. Des Weiteren sind 74 Ortsumfahrungen ganz oder teilweise in Betrieb genommen worden. Hier hat es sicherlich im Einzelfall Konflikte vor Ort gegeben. Aber in vielen Fällen bringen Ortsumfahrungen Entlastung für die Ortskerne. Ich mache zum Schluss noch auf eine weitere interessante Zahl aufmerksam: Der Straßenbaubericht referiert, dass erstmals im Jahr 2000 die Verkehrsleistung auf Deutschlands Straßen stagnierend bis leicht rückläufig war. Bezogen auf das gesamte Straßennetz waren es minus 2,5 Prozent; Kollegin Petra Weis hat bereits darauf hingewiesen. Dies bedeutet, dass wir mit unseren Prognosen eines immer währenden Verkehrswachstums vorsichtig sein müssen. Im Gegenteil, wir haben zu registrieren, dass verkehrspolitische Rahmenbedingungen - zu ihnen gehört beispielsweise die Ökosteuer - und die wirtschaftliche Entwicklung das Verkehrsverhalten beeinflussen. Im selben Zeitraum ist nämlich die Leistung des öffentlichen Verkehrs in etwa derselben Größenordnung gewachsen. ({12}) Im Klartext heißt dies, dass Themen wie Verkehrsverlagerung und -vermeidung zu einer vorausschauenden Verkehrspolitik gehören. Sie können sicher sein, dass wir in Zukunft beides tun werden: das Verkehrsnetz verkehrsträgerübergreifend erneuern, modernisieren und in der Substanz erhalten und zugleich die verkehrspolitischen Rahmenbedingungen so setzen, dass der Verkehr umweltverträglich wird bzw. bleibt, die Menschen nicht mit Lärm und sonstigen Belastungen überzieht und auch die öffentlichen Kassen schont; denn das Geld ist nicht beliebig vermehrbar, auch dann nicht, wenn die LKW-Maut kommen wird. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur ein Satz zum Kollegen Schmidt: Die von ihm viel kritisierte Vorratsplanung im Straßenbau hat immerhin dazu geführt, dass im Gegensatz zur Schiene bei der Straße noch nie Investitionsmittel an den Finanzminister zurückgegeben werden mussten. Das Geld, das der Straßenbauabteilung zur Verfügung stand, ist immer ausgegeben worden. ({0}) Im Hinblick auf den Straßenbaubericht 2001, der im Wesentlichen die Bauleistungen des Jahres 2000 dokumentiert, kann man nun trefflich darüber streiten, wer mehr und wer weniger Recht gehabt hat. Damit die vorliegenden 130 Seiten wirklich Sinn machen, sollte man sich mit zwei Aussagen befassen, die heute nur begrenzt oder noch gar nicht angesprochen worden sind, aus meiner Sicht aber auf längere Sicht wichtig sind: der Zustand des Straßennetzes und insbesondere der Brücken. Erstens. Wir werden uns langsam damit anfreunden müssen, dass wir bei der Infrastruktur zu einer Zwei Drittel-ein Drittel-Gesellschaft werden. Schaut man sich auf Seite 9 den Gebrauchswert der Bundesstraßen an, wird man feststellen, dass in Deutschland nur knapp 69 Prozent aller Fernstraßen uneingeschränkt gebrauchsfähig sind, während der Rest leicht eingeschränkt oder sogar schwer eingeschränkt zu nutzen ist, was sich wahrscheinlich irgendwann einmal in der Verkehrssicherheit niederschlagen wird. Der zweite kritische Punkt, den man ansprechen muss, ist der Zustand der Brücken. Nur knapp 34 Prozent aller Brückenbauwerke in Deutschland sind von ihrer Klassifizierung her noch in sehr gutem oder gutem Bauzustand. Der Rest ist in einem maximal befriedigendem Zustand; knapp 3 Prozent sind bereits in einem ungenügenden Bauzustand. ({1}) Wer mit offenen Augen auf Deutschlands Fernstraßen unterwegs ist, sieht vor Autobahnbrücken Geschwindigkeitsbegrenzungen, Abstandsvorschriften für LKWs und Ähnliches. Welche politischen Konsequenzen sind für die Zukunft daraus zu ziehen? Über eine Konsequenz werden wir sicherlich politisch streiten: In einer Zeit, in der der Autofahrer in Deutschland Abgaben in absoluter Rekordhöhe zu tragen hat, ist es aus meiner Sicht nicht hinzunehmen, dass regelmäßig erklärt wird, dass etwas nicht mehr gebaut werden könne, oder auf mangelnden Bauzustand von Brücken oder Straßen ausschließlich damit reagiert wird, dass ein Verkehrsschild mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung wegen schlechten Fahrbahnzustandes aufgestellt wird. Das kann, wie gesagt, auf Dauer nicht mehr hingenommen werden. Das ist der erste Punkt. Man muss sich also Gedanken darüber machen, ob und wie man Finanzierungsmechanismen konsequent umstellen kann. Das, was wir bisher über den Entwurf eines Gesetzes zur so genannten Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft von Rot-Grün gehört haben - darüber werden wir ja demnächst diskutieren -, ist nichts weiter als ein Deckmantel einer ausgelagerten Abteilung des Verkehrsministeriums, Albert Schmidt ({2}) Horst Friedrich ({3}) bei der GmbH dahinter steht. Im Endeffekt wird aber nur das Geld verteilt, das der Finanzminister vorher freigegeben hat. Wir müssen aber eine echte Finanzierungsumstellung mit einer Zweckbindung der Mittel vornehmen, damit wir dem Autofahrer nichts mehr erklären müssen. Der Kollege Schmidt hat in seiner Rede auf einen Vortrag von Herrn Mehdorn hingewiesen, den dieser gestern Abend bei der Parlamentsgruppe „Schienenverkehr“ gehalten hat. Ich möchte das Thema „Verlagerung von der Schiene auf die Straße“ vor dem Hintergrund der EUOsterweiterung nur kurz streifen. Die Kommission geht davon aus, dass der Verkehr insgesamt um 64 Prozent und auf der Straße sogar um 80 Prozent zunehmen wird. Die Antwort darauf lautet: Der Verkehr muss auf die Schiene! Herr Mehdorn hat gestern Abend relativ unverblümt erklärt: Vergessen Sie die Schiene! Niemand im Osten denkt daran, auch nur einen Güterwagen zu beladen. Das kommt alles über die Straße. - Wenn das zu den Belastungen dazukommt, die wir bereits haben, dann können Sie zwar jetzt konstatieren, dass im Jahr 2000 die Verkehrsleistungen zurückgegangen seien. Aber diese werden spätestens im Jahr 2004 in einem Umfang zunehmen, dem wir dann nicht mehr gewachsen sein werden und mit dem wir mit dem Geld, das derzeit im Haushalt zur Verfügung steht, überhaupt nicht mehr klarkommen werden. Das heißt, dass auch hier umgedacht werden muss. Das erfordert aus Ihrer Sicht unpopuläre Maßnahmen. Man muss darüber nachdenken, wie man die Einnahmeströme aus dem Verkehr, die schätzungsweise 120 Milliarden Euro betragen, besser in die Ausgabenströme umlenken kann; denn bestenfalls 30 Milliarden bis 35 Milliarden Euro bekommt man auf dieser Ebene aus den einzelnen Haushalten zurück. Das ist, glaube ich, auf Dauer nicht ausreichend. Wenn das die Konsequenz ist, die wir aus dem Straßenbaubericht 2001 ziehen, dann haben seine 130 Seiten Sinn gehabt. Ansonsten sollten wir ihn zur Kenntnis nehmen; denn die Bauleistungen sind ja bereits erbracht. Danke sehr. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens.

Angelika Mertens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002734

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Blank, ich bin noch ein bisschen ratlos, wie ich auf Sie reagieren soll; denn Ihre Art der selektiven Wahrnehmung ist sehr schwer zu kommentieren. Wenn es um Ihre Vergangenheit als Verkehrspolitikerin geht, fallen Sie praktisch immer jungfräulich vom Himmel. ({0}) Ich möchte mich auf zwei Dinge beschränken. Das eine ist der Bundesverkehrswegeplan. Ich weiß nicht, wer Ihnen diesen für 1999 versprochen hat. Wir sind zwar ziemlich gut, aber zaubern können wir nicht. Das andere ist Folgendes: Sie wissen ganz genau, dass der alte Bundesverkehrswegeplan gilt, bis der neue da ist. Wenn Sie behaupten, wir hätten eine Straße bauen lassen, die das betreffende Land gar nicht haben wollte, dann kann ich nur darauf hinweisen, dass sich dieses Land durchaus hätte melden und sagen können: Diese Straße wollen wir nicht. Bitte nehmt sie zurück! Das ist aber nicht geschehen. ({1}) Eine Infrastruktur, zumal eine Verkehrsinfrastruktur, ist die Voraussetzung für das Funktionieren einer Volkswirtschaft. Quantität und Qualität sagen einiges über den Erfolg einer Volkswirtschaft aus. Obwohl wir heute über den Straßenbaubericht 2001 beraten, möchte ich deutlich machen: Wer eine erfolgreiche Verkehrspolitik machen will, muss eine integrierte Verkehrspolitik betreiben. Alle anderen Forderungen sind Anachronismen. ({2}) Forderungen nach außerordentlichen Verstärkungen eines Verkehrsträgers - das gilt übrigens gleichermaßen für die Schienen- wie für die Straßenfreunde - sind verkehrspolitisches Mittelalter, um das einmal deutlich zu sagen. Mittelfristiges Ziel unserer Verkehrspolitik kann also nur sein, die Stärken der einzelnen Verkehrsträger zu optimieren, die Schwächen zu minimieren und eine Vernetzung aller Verkehrsträger zu forcieren. Wir haben - um auf den Straßenbaubericht 2001 zurückzukommen - seit 1971 den Auftrag, jedes Jahr Bilanz zu ziehen. Ich will die Aufmerksamkeit noch einmal auf die Seite 9 - Gebrauchswert der Fahrbahnen - und auf die Seite 10 - Zustandsbewertung der Brückenbauwerke - lenken. Herr Friedrich hat das schon sehr eindrucksvoll geschildert und damit auch auf die Versäumnisse der Vergangenheit hingewiesen, an denen er vielleicht gar nicht so unbeteiligt war. ({3}) Beide Abbildungen zeigen uns einen Handlungsbedarf im Bestand auf, dem wir in Zukunft nachkommen müssen. Allein die Bundesfernstraßen stellen ein Anlagevermögen von - in altem Geld - 340 bis 350 Milliarden DM dar. Wer die Substanz bewahren will, muss kräftig in die Tasche greifen. Die Ausgabennotwendigkeit - das wissen wir schon heute - wird mit den Jahren stetig größer. Ich werbe wirklich sehr dafür, dass wir das stärker als bisher nach draußen vermitteln. Straßenbau ist eben nicht nur Neubau. Wir müssen den Gebrauchswert unserer Straßen steigern. Auch das zeigt die Abbildung auf Seite 9 sehr deutlich. Herr Friedrich, ich will die Versäumnisse der Vergangenheit überhaupt nicht groß kommentieren. ({4}) Jeder steht in der Situation, die Mark oder jetzt den Euro nur einmal ausgeben zu können. Das war in Ihrer Zeit so und das ist auch in unserer Zeit so. An dieser Abbildung können wir die Probleme der neuen Länder sehr deutlich ablesen. Ein Straßennetz besteht eben nicht nur aus Autobahnen. Deshalb - die Kollegin Weis hat das auch schon gesagt - ist eine Konzentration der Mittel auf die Bereiche mit dem größten Nutzen, vor allem mit dem größten volkswirtschaftlichen Nutzen, sehr hilfreich. Die Kollegin Weis hat die Engpassbeseitigung und die Ortsumgehung genannt. Ich will einen dritten Schwerpunkt hinzufügen: die Zulaufstrecken zu den maritimen Standorten. Die Küstenländer sind in unserem Land traditionell strukturschwach. Die Häfen stellen deshalb einen wichtigen Wirtschaftszweig dar. ({5}) Was noch wichtiger ist und was viele Binnenländer einfach immer wieder vergessen, ist, dass die Wertschöpfungsketten letztlich bis nach Passau, Stuttgart oder Ingolstadt reichen. Sicherlich ist wichtig, wo ein Container umgeschlagen wird; noch wichtiger ist, wo er beladen wird. Das Wichtigste ist, wie er von dort an die Nordsee oder an die Ostsee kommt. Ich denke da natürlich an die Häfen in Mecklenburg-Vorpommern, in Schleswig-Holstein, in Niedersachsen, aber auch an Bremen, Bremerhaven und natürlich nicht zuletzt an Hamburg. Die Anbindung muss besser werden als bisher. Auf der maritimen Konferenz in Rostock haben wir das ja auch beschlossen. Wir werden die Hinterlandanbindung für die Seehäfen realisieren. Über die neuen Bundesländer ist bereits gesprochen worden. Die vordergründig gute Ausstattung mit neuen Autobahnen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir in vielen Bereichen einen Zustand vorfinden, wie er schon vor der Vereinigung bestanden hat. Das gilt besonders für die Ortsumgehungen. Frau Weis hat schon etwas zu den Verkehrsbeeinflussungsanlagen gesagt. Ich werbe dafür, dass wir uns das noch einmal genauer ansehen. Wir haben in der Vergangenheit eigentlich vornehmlich mit dem Sicherheitsaspekt argumentiert. Jetzt nutzen wir diese Verkehrsbeeinflussungsanlagen immer häufiger dazu, eine Verkehrslenkung und eine bessere Ausnutzung der Infrastruktur zu erzielen. Das hat zum Beispiel bei der A 40 dazu geführt, dass die Zahl der Staus und Unfälle um 50 Prozent zurückgegangen und die mittlere Geschwindigkeit um 10 km/h gestiegen ist, dass es eine bessere Ausnutzung der Autobahnkapazität und keine Verschlechterung im nachgeordneten Netz sowie - das finde ich sehr erstaunlich, weil es dort auch Ampelregelungen gibt - eine hohe Akzeptanz bei den Verkehrsteilnehmern gibt. Ein Fazit aus dem Straßenbaubericht ist, dass wir uns mit dem so genannten A-Modell, dem Betreibermodell, auf einen neuen Weg begeben haben, was, wie ich finde, fast überfällig war. Das gibt der Bauindustrie und den vielen mittelständischen Betrieben die Möglichkeit, ihr Können zu beweisen und zu zeigen, dass sie so etwas bauen können. Es gibt uns die Möglichkeit, schneller und preiswerter an Infrastruktur zu kommen. Das ist eine klassische Win-Win-Situation. Von den Vorrednern, gerade aus der Koalition, ist schon sehr viel gesagt worden. Ich will deshalb mit einem Wort an die Opposition schließen - Sie haben dieses Verhalten auch heute wieder gezeigt -: Opposition ist die Kunst, etwas zu versprechen, was die Regierung nicht halten kann. Das ist schon richtig. Die große Frage lautet allerdings: Was ist Kunst? Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang, die Gelegenheit ist flüchtig, der Versuch ist gefährlich und die Entscheidung ist schwer. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache, die mit dem zutreffenden Hinweis auf die Zusammenhänge zwischen Politik und Kunst nicht zugunsten einer weiteren Aussprache über das Kunstverständnis des Deutschen Bundestages verlängert wird. ({0}) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/8754 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist ganz offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart, Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Eigenheimerwerb nicht erschweren - weitere Belastungen für Beschäftigte und Betriebe der Bauwirtschaft und für Familien vermeiden - Drucksache 15/33 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die FDP sechs Minuten erhalten soll. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen Eberhard Otto, FDP-Fraktion, das Wort.

Eberhard Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003605, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Aktuellen Stunde am 7. November des vergangenen Jahres Eberhard Otto ({0}) hat sich der Deutsche Bundestag schon einmal mit der Thematik Eigenheimzulage befasst. Die FDP hat seinerzeit die verheerenden Auswirkungen für die Bau- und Volkswirtschaft dargelegt. Mehrere Wochen sind seitdem vergangen; aber die Bundesregierung hält trotz umfangreicher Kritiken bezüglich der negativen Auswirkungen an ihren Vorhaben, die von der Baubranche als „Giftliste“ bezeichnet werden, ungerührt fest. Allen hier Anwesenden dürfte bekannt sein, dass Wohneigentum einer der wichtigsten Faktoren zur Stabilisierung von Staat und Gesellschaft ist. Es sichert und verbessert eine möglichst breite Streuung des Vermögens in privaten Händen, es sorgt für einen sicheren und wertbeständigen Vermögensstamm, es deckt einen Teil der notwendigen privaten Altersvorsorge ab und es sichert ein vielfältiges und marktgerechtes Wohnraumangebot. Selbst genutztes Wohneigentum ist eines der bedeutendsten gesellschafts- und familienpolitischen Instrumente. Die rot-grüne Regierung ist jedoch weiter auf gutem Wege, sowohl die letzten konjunkturellen Säulen in der Bauwirtschaft systematisch zu zerstören als auch diese wichtige gesellschaftliche Aufgabe des Wohneigentums zu demontieren. ({1}) Die inzwischen in Kraft getretenen Gesetze waren die ersten Schritte in diese schlimme Richtung. Sie bedeuten für die privaten Haushalte neben steigenden Rentenversicherungsbeiträgen weitere Belastungen, unter anderem wegen der Erhöhung der Mietnebenkosten, und für die Bauwirtschaft Investitionsausfälle, was den Abbau von Arbeitsplätzen mit sich bringt. Was die sich ständig verschlechternden Rahmenbedingungen und die daraus resultierende ständig schlechter werdende Auftragslage für die Bau- und Wohnungswirtschaft, insbesondere für den Sanierungsbereich, bedeuten, kann ich am eigenen Beispiel aufzeigen. Ich habe auf diesem Gebiet in den 90er-Jahren, insbesondere bis 1997, in Mecklenburg-Vorpommern bis zu 250 Arbeitsplätze gesichert. Leider habe ich aus den genannten Gründen die Anzahl der Arbeitsplätze bis heute auf durchschnittlich 50 - so viel sind es immerhin noch, wie ich betonen muss reduzieren müssen. Die öffentliche und private Nachfrage nach Bauleistungen geht zurück, insbesondere in den ostdeutschen Ländern. Die verheerenden Auswirkungen auf die Betriebe der Bau- und Wohnungswirtschaft und ihre Arbeitnehmer sind absehbar. Die Pläne der Koalition werden durch sinkende Umsätze, ein geringeres Steueraufkommen sowie durch die Zunahme der Arbeitslosigkeit weniger Sozialversicherungsbeiträge und höhere staatliche Transferleistungen zur Folge haben. Meine Damen und Herren, im Oktober 1995 wurde die Eigenheimzulage beschlossen, damals auch unter Zustimmung der SPD. Ich möchte zitieren: Heute erleben wir ein kleines Wunder: … Und weiter: Die starke Benachteiligung der Menschen in den neuen Bundesländern ist ab heute beendet; denn die einkommensunabhängige Förderung wird dazu führen, dass viele Menschen, die von Eigentum bisher nur träumen konnten, diesen Traum verwirklichen können. Wissen Sie, wer das gesagt hat? Herr Großmann am 27. Oktober 1995; und heute ist das alles nicht mehr wahr. ({2}) Ich muss Ihnen sagen: Wer mittelfristig eine negative Entwicklung im Haus- und Wohnungsbereich herbeiführt, wird eines Tages ein böses Erwachen erleben. Die Einschränkung bei der Eigenheimzulage bzw. der für die Eigentumswohnung und die Senkung der Einkommensgrenzen sind keineswegs - wie von der Bundesregierung behauptet - kinder- und familienfreundliche Maßnahmen. Fast alle Familien werden erheblich schlechter gestellt. Im Neubaubereich wären nur Familien mit sechs Kindern und im Altbaubereich nur Familien mit mehr als drei Kindern nicht benachteiligt. Die Beschränkung der Förderung auf Familien mit Kindern blendet zudem kinderlose Ehepaare und Singles aus. Dem stadtentwicklungspolitisch erwünschten Bestandserwerb durch die Mieter, insbesondere in den Innenstädten, vor allen Dingen im Zuge des Stadtumbaus Ost, droht dadurch das generelle Aus. Ich komme deshalb zu dem Schluss, dass die Kürzung der Eigenheimzulage allein fiskalisch bedingt und keine Maßnahme zugunsten von Familien ist. ({3}) Ich will, damit keine Missverständnisse entstehen, klar sagen, dass sich die FDP grundsätzlich auch für den Abbau von Subventionen einsetzt. Diese müssen aber mit einer deutlichen steuerlichen Gesamtentlastung und Vereinfachung des Steuersystems einhergehen. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.

Eberhard Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003605, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Abbau von Förderinstrumenten ohne gleichzeitige Steuerentlastung ist faktisch eine Steuererhöhung, die in diesem Fall die Familien hart trifft. Ich fordere Sie auf: Helfen Sie unseren Menschen! Helfen Sie unseren Familien! Helfen Sie der Bau- und Wohnungswirtschaft! Ich danke Ihnen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Hilsberg, SPD-Fraktion. ({0})

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eine absolut leichte Aufgabe ist es, meine Damen und Herren, sehr geehrter Herr Präsident, auf diesen FDP-Antrag zu reagieren. Nachdem ich der Rede meines verehrten Vorredners, Herrn Otto, aufmerksam zugehört habe, muss ich sagen, dass sie vielleicht auf vieles einging, aber mit der Reformbedürftigkeit der Eigenheimzulage - vor dieser Situation stehen wir - nichts zu tun hatte. Dieser Antrag ist das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben ist. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, wie reformbedürftig die Eigenheimzulage inzwischen ist. Sie lachen, Herr Fischer, aber Sie waren selber an der Diskussion darüber beteiligt. Wir haben darüber in der letzten Legislaturperiode intensiv im Verkehrs- und Bauausschuss diskutiert. ({0}) - Auch nicht schlecht. Es ist ja gut, wenn man freundlich miteinander umgeht, aber hier muss man einmal Tacheles reden. Dieser Antrag spricht vielleicht Bände hinsichtlich der Situation und des Zustandes der FDP; ein Beitrag zur Reform der Eigenheimzulage ist er sicher nicht. ({1}) Die FDP nennt sich ja eine liberale Partei. Liberal hat etwas mit Freiheit, Beweglichkeit und Verantwortung zu tun; es bedeutet, auf veränderte gesellschaftliche Verhältnisse einzugehen. Aber das finden wir in diesem Antrag nicht. Plötzlich wird das Alte bewahrt. Das zeugt nicht von Liberalität, sondern von Orthodoxie, ({2}) vom reinen Festhalten am Alten, und das nicht einmal, weil es sich bewährt hat, sondern wider besseres Wissen und bessere Einsicht. Bezüglich der Forderungen in Ihrem Antrag waren Sie beispielsweise in den Petersberger Be- schlüssen zur Steuerreform schon viel weiter. Auch das muss man einmal festhalten. Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Da war die FDP doch überhaupt nicht dabei! Das haben wir doch gemacht!) Ist das Populismus? Ist das einer dieser Anträge, in denen die FDP aus dem Füllhorn schüttet? Ich frage mich immer: Wie passt das in ein Gesamtkonzept? Wir haben in diesem Hohen Hause schon viele Anträge von der FDP auf den Tisch bekommen, bei denen ich den Eindruck hatte, dass jedem alles geschenkt werden soll. ({3}) Gleichzeitig tut man so, als könnten die Steuersätze gesenkt und auf 15, 25 und 35 Prozent festgesetzt werden. Wie soll das zusammenpassen? Der Staat, dem man auf der einen Seite die Einnahmen so maßlos kürzt, dass er weder aus noch ein weiß, soll auf der anderen Seite ein unerschöpfliches Füllhorn ausgießen. Das hat mit einem Konzept nichts zu tun. Aber der Antrag spricht in der Tat Bände, weil er den eigentlichen Charakter Ihrer Partei zeigt, die noch nie so weit davon entfernt war, eine Volkspartei zu werden, wie Herr Westerwelle es wünscht, sondern im Grunde genommen doch die Partei der Besserverdienenden ist. Um nichts anderes geht es an dieser Stelle. ({4}) Sie als FDP sind ja nicht ganz unbeteiligt an der bestehenden Konstruktion der Eigenheimzulage, die wir jetzt nur reformieren und anpassen, weil das notwendig ist, weil die Bedingungen unserer Zeit und die schwierige Haushaltslage es erfordern. Ihr eigentliches Projekt, meine Damen und Herren von der FDP, war seinerzeit doch der reine Freibetrag. Sie wussten ganz genau, dass ein solcher Freibetrag nur den Besserverdienenden zugute kommt. Nur diejenigen, die viel Steuern zahlen, konnten auf diese Art und Weise sparen. Die Leute mit geringeren Einkommen haben nie etwas davon gehabt. Das war Ihr eigentliches Projekt. Die Eigenheimzulage hat an dieser Stelle soziale Gerechtigkeit geschaffen und mehr Menschen die Möglichkeit geboten zu bauen, als das vorher der Fall war. Es ist gelungen, und zwar wesentlich unter der Federführung der SPD, auch mithilfe des damaligen Bundesrats, mithilfe des Landes Rheinland-Pfalz und mit der persönlichen Hilfe unseres jetzigen Staatssekretärs, der damals Sprecher der Bauarbeitsgruppe meiner Fraktion war, diesen völlig neuen Typ der Eigenheimzulage zu installieren. Plötzlich ging es nicht mehr um das Sparen von Steuern, sondern um eine echte Zulage, wie das Kindergeld. Die Folge war, dass die Zahl der Anträge enorm in die Höhe geschnellt ist; es hat, Herr Otto, einen echten Bauboom gegeben. Viele Familien, die bauen wollten, es bis dahin aber nicht konnten, waren plötzlich dazu in der Lage. Diese Bugwelle ist inzwischen abgeklungen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Hilsberg, würden Sie freundlicherweise eine Zwischenfrage des Kollegen Meister gestatten?

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. Wir wollen ihn nicht länger warten lassen.

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Kollege Hilsberg. Ich frage Sie, da Sie die Notwendigkeit der Reform der Eigenheimzulage hier so massiv vertreten, wie Sie das in Einklang bringen mit dem Interview des Bundeskanzlers Gerhard Schröder im August letzten Jahres in der Zeitschrift „Familie und Garten“, in dem er ausdrücklich dargelegt hat, dass er der Meinung sei, dass die Eigenheimzulage in der laufenden Wahlperiode so bleiben solle, wie sie ausgestaltet sei. ({0})

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Unter der Voraussetzung, dass Sie ihn richtig zitieren - ich will aber nicht in seinem Namen sprechen -, hat er gesagt: in der laufenden Legislaturperiode. Das war ja auch der Fall. Es war übrigens von Anfang an klar - auch im Ausschuss, dem Sie damals angehört haben -, dass Reformen an dieser Stelle bitter notwendig sind. Ich erinnere daran, dass die Leerstandskommission seinerzeit beispielsweise die komplette Streichung der Eigenheimzulage gefordert hat, weil wir in den ostdeutschen Städten einen Leerstand von bis zu 40 Prozent haben. Das können Sie doch nicht übersehen. Wenn Sie jetzt über dieses Thema lamentieren, dann zeigt das, dass Sie die ostdeutschen Probleme in keiner Weise zur Kenntnis nehmen und dazu auch nicht gewillt sind. Wir haben ähnliche Probleme in den alten Ländern. Ich denke beispielsweise an die Frage der Zersiedelung. In den Grünbüchern der Europäischen Kommission zur Verkehrspolitik steht beispielsweise, dass nicht weiterhin eine Politik betrieben werden dürfe, durch die täglich über 100 Hektar an Naturbestand gewissermaßen zersiedelt werden. An dieser Stelle muss man ansetzen. Aber das ist nur ein Punkt. Es gibt noch einen anderen, der meines Erachtens noch wichtiger ist. Die Eigenheimzulage hat gewiss etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun. Aber sie muss an die realen Bedingungen angepasst sein. Das Wichtigste ist: Eine Eigenheimzulage schafft nur dann soziale Sicherheit für die Menschen, wenn sie gleichzeitig unter den Bedingungen gesunder Staatsfinanzen leben können. Generationengerechtigkeit und Eigenheimzulage gehören zusammen. Wenn Sie das eine zulasten des anderen verändern, kann es nicht funktionieren. Deswegen war es notwendig, auch an dieser Stelle zu sparen. Ich sage ganz ernsthaft: Wir wissen, dass wir Opfer verlangen. Wir wissen, dass der bisherige Besitzstand, was die öffentliche Förderung angeht, durch die Reform der Eigenheimzulage eingeschränkt wird. Wir haben die verschiedenen Varianten geprüft. Die Reform der Eigenheimzulage kann nicht isoliert, sondern sie muss in einem Gesamtkonzept betrachtet werden. Auch eine gesunde Volkswirtschaft, die Sie zu Recht einfordern, kann nur funktionieren, wenn die Staatsfinanzen intakt sind. Deshalb kann man das eine nicht von dem anderen trennen. Ich glaube, es war richtig, die Eigenheimzulage zu reformieren. Wir konzentrieren Sie in Zukunft auf Familien mit Kindern. Der Kinderanteil bei der Eigenheimzulage wird sogar erhöht. Es ist doch überhaupt nicht der Fall, dass an dieser Stelle eingespart wird. Der Familiengrundbetrag wird zwar in Zukunft niedriger sein, aber die Förderung für Kinder wird erhöht, was angesichts des demographischen Wandels wichtig ist. ({0}) Wir müssen eine Politik machen, die den demographischen Wandel im Blick hat und ein Signal an Familien mit Kindern ist. Auch Sie kommen nicht darum herum, diese Punkte zu beachten. Ich möchte noch an Folgendes erinnern: Es gibt keinen Zusammenhang mit der Baukonjunktur; denn die Zahl der Anträge ist bereits unter den Bedingungen des alten Rechts zurückgegangen, obwohl die ausgeschüttete Summe gestiegen ist. Das hängt aber mit dem achtjährigen Förderzeitraum zusammen. Eine Baufirma wird in den nächsten Jahren nicht merken, dass wir an dieser Stelle etwas geändert haben, weil es in den letzten Monaten noch einen Boom gegeben hat, was man an der Zahl der abgegebenen Anträge erkennen kann. ({1}) Die Baukonjunktur ist also nicht abhängig von der Eigenheimzulage. Ich komme zum Schluss. Es wird sicherlich noch einige Diskussionen über diese Frage geben. Sie wird Gegenstand im Bundesrat und mit Sicherheit auch im Vermittlungsausschuss sein. Es müssen hierzu sehr differenzierte Diskussionen geführt werden. Aber man muss aufpassen. Ab und zu wird der Vorwurf gemacht, dass die Bemessungsgrundlage zu hoch gewählt sei, obwohl wir sie von 80 000 auf 70 000 Euro - das sind 140 000 Euro für ein Ehepaar - gesenkt haben. Es gibt aber einen einfachen Grund, weshalb die Bemessungsgrundlage in dieser Höhe gewählt wurde. Wenn man nämlich, wie von einigen Ländern gefordert, noch weiter heruntergehen würde, könnte es sein, dass auf diese Art und Weise Alleinerziehende so benachteiligt würden, dass sie nicht mehr in den Genuss des Bauens kämen. Das kann nicht im Sinne des Erfinders sein. Deshalb muss man an dieser Stelle vorsichtig und differenziert an die Sache herangehen. Wir erwarten spannende Diskussionen. Die Eigenheimzulage muss im Interesse der Aufrechterhaltung unseres Sozialstaates reformiert werden. Wer den Sozialstaat und soziale Gerechtigkeit auch in Zukunft will, der kann nicht, wie die FDP es tut, aus dem Füllhorn schütten. Er muss an das Gesamtwohl denken und er braucht ein Gesamtkonzept; denn ohne ein solches werden wir keine der Aufgaben lösen können, für deren Erledigung wir gewählt wurden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Minkel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Minkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003594, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Hilsberg, Sie haben mich mit Ihrem Beitrag sehr enttäuscht. Wenn man bei der Eigenheimzulage den Fa1512 milien ohne Kindern 100 Prozent und den Familien mit Kindern über 60 Prozent wegnimmt, dann ist das keine Reform und verdient diese Bezeichnung auch nicht. Es ist vielmehr eine verzweifelte Geldbeschaffungsmaßnahme und nichts anderes. ({0}) Es war nicht allein der Bundeskanzler, der sich im letzten Jahr mit salbungsvollen Worten für die Eigenheimzulage eingesetzt hat. Es waren auch die Fraktionen von SPD und Grünen. Ich zitiere aus einem rot-grünen Antrag im Bundestag im Juni: Die Förderung des selbst genutzten Wohneigentums hat gesellschaftpolitisch einen hohen Stellenwert. Wir messen der Eigenheimzulage einen hohen Stellenwert zu. Es heißt weiter: Deshalb ist klar, dass die SPD keinesfalls an die Streichung der Eigenheimzulage denkt. Aus wohnungspolitischer Sicht halten wir auch die derzeitige Höhe des Fördervolumens für sinnvoll. Oder die Grünen: Wir werden uns in der nächsten Legislaturperiode aktiv dafür einsetzen, dass der Erwerb von Wohneigentum weiter erleichtert wird. So die wohnungspolitische Sprecherin der Grünen, Frau Eichstädt-Bohlig. ({1}) Wenn das, was Sie vor der Wahl erklärt haben, wahr gewesen sein soll, dann sind alle Hilfs- und Stützargumente, die Sie jetzt anbringen, um die Streichungen zu rechtfertigen, nicht wahrhaft. Die einzige Verbesserung, die Sie anführen können, ist die bescheidene Erhöhung des Kinderzuschlages um 33 Euro pro Kind und Jahr. Dem muss man die Kürzung des Grundbetrages von 1 556 Euro entgegenhalten. Nach Adam Riese bedeutet das immer noch, dass man 48 Kinder in die Welt setzen muss, um die Kürzungen beim Grundbetrag ausgleichen zu können. ({2}) Herr Hilsberg, Sie werden also mit dieser Reform niemanden in diesem Lande glücklich machen können. ({3}) In diesem Zusammenhang ist mir einzig August der Starke mit seinen 360 Kindern eingefallen. Aber der ist schon 250 Jahre tot.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Er hat auch, glaube ich, keine Eigenheimzulage bekommen, Herr Kollege. ({0})

Klaus Minkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003594, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung ist bekanntlich an nichts schuld. Wenn die Wirtschaft in diesem Jahr genauso schlecht wie im letzten Jahr läuft, dann liegt das wie immer an der Weltwirtschaft. Wir sehen das freilich ganz anders, denn es lahmt die Binnenkonjunktur. Diese Bundesregierung hat durch ihre Politik die Binnenkonjunktur im Allgemeinen und die Bauwirtschaft im Besonderen auf ihrem Gewissen. ({0}) Es fing schon 1998 mit der Ökosteuer an. Aus dieser 6-Pfennig-Steuer sind mit EEG-Abgabe und KWK-Abgabe inzwischen Mehrbelastungen für unsere Bevölkerung von über 20 Milliarden Euro entstanden. Diese Geldbeschaffungsmaßnahmen werden durch Ihren unseligen Gesetzentwurf vom 2. Dezember fortgesetzt, über den wir hier heute zu reden haben. Durch diesen Gesetzentwurf sollen unserer Bevölkerung jedes Jahr weitere 17 Milliarden Euro aus der Tasche gezogen werden. Sie nehmen der Bevölkerung die Kaufkraft, die Umsätze brechen weg. Sie produzieren dadurch mehr Arbeitslosigkeit, die anschließend von der Allgemeinheit teuer finanziert werden muss, wofür Sie dann wiederum tiefer in das Fleisch des deutschen Volkes schneiden werden. ({1}) Die deutsche Bauwirtschaft ist sterbenskrank. In dieser Lage traktieren Sie die Bauwirtschaft in ihrem Überlebenskampf prozyklisch. Die Bauwirtschaft ruft SOS und Sie starten durch Ihren jüngsten Gesetzesvorschlag einen Fächerangriff auf die deutsche Bauwirtschaft, als ob es um ein fröhliches Schiffeversenken ginge. ({2}) Die Begrenzung der Verlustverrechnung betrifft insbesondere die Bauwirtschaft, weil die Bauwirtschaft bei ihren Arbeitsgemeinschaften und Projektgesellschaften auf die Verlustverrechnung angewiesen ist. Die gestrige Anhörung hat zweifelsfrei erwiesen, dass die Bauwirtschaft künftig bei dieser Verlustbegrenzung Scheingewinne wird versteuern müssen. Das ist unredlich. Zu solchen Maßnahmen greift nur ein Räuberstaat. ({3}) Aus gutem Grund gibt es seit Jahrzehnten in diesem Lande die degressive Abschreibung. Sie soll Investitionen anregen und erleichtern. Wenn die degressive Abschreibung künftig wegfallen soll, dann bedeutet das für den privaten Wohnungsbau, dass eine Finanzierungslücke von 8 Prozent entsteht, die durch mehr Zinsen bedient werden muss, was unmittelbar zu höheren Mieten führen wird. ({4}) Wenn sich diese höheren Mieten nicht am Markt durchsetzen lassen, dann bedeutet das, dass noch mehr auf privaten Wohnungsbau verzichtet wird. Aber auch das führt zu höheren Mieten. Als Draufgabe werden Sie zusätzliche Arbeitslose geschenkt bekommen. ({5}) Am schlimmsten sind Ihre Eingriffe bei der Eigenheimzulage; das habe ich schon zu Beginn meiner Ausführungen geschildert. Hier werden insbesondere die Schwellenhaushalte geschädigt, nicht die Reichen. ({6}) Das betrifft die jungen Familien, die einkommens- und kapitalschwach sind und die auf diese Starthilfe angewiesen sind. Sie helfen mit dieser Kürzung niemandem. Sie helfen vor allen Dingen sich selbst und dem Finanzminister nicht. Die Eigenheimzulage hat bei den Neubauten einen enormen Hebeleffekt, weil sie erhebliche private Investitionen auslöst. Wenn diese privaten Investitionen künftig wegfallen, dann bedeutet das, dass die öffentliche Hand in Höhe von etwa 50 Prozent dieser Wertschöpfung über weniger Einnahmen bei Steuern und der Sozialversicherung verfügen wird. Zusätzlich kommen für jede Wohneinheit, die nicht gebaut wird, einige Arbeitslose hinzu, die wir alle dann wieder zu finanzieren haben. Es ist äußerst unredlich gewesen, wie Sie dieses Thema vor der Bundestagswahl behandelt haben. Wenn die Bauarbeiter, die Handwerker, die ihr Brot hart verdienen müssen, gewusst hätten, was ihnen nach der Wahl blüht, dann wäre das Wahlergebnis mit Sicherheit anders ausgefallen. ({7}) Das gilt ebenso für die jungen Familien, die sich auf diese Regierung verlassen haben. Das Eigentum verschafft unserer Bevölkerung Freiheit. Es steht auf der Wunschliste unserer Bevölkerung nach Essen und Trinken ganz weit oben. Die Eigentumsquote in unserem Land ist sowieso die niedrigste in der ganzen Europäischen Union. ({8}) - Die Schweiz ist bekanntlich kein Mitglied der Europäischen Union, verehrte Kollegin. ({9}) Die Eigentumsquote ist in den neuen Bundesländern besonders niedrig. Dort besteht ein hoher Nachholbedarf. Sie nehmen den Menschen in den neuen Bundesländern die Chance, diesen Bedarf zu befriedigen. Ich möchte mit einem Wort von Tucholsky schließen, das besonders den Vertretern der SPD zu denken geben sollte. ({10}) Tucholsky hat gesagt: Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso erschlagen wie mit einer Axt. ({11}) Wir haben in diesem Lande immer noch Wohnungen, die nicht marktgerecht sind und nicht den Bedürfnissen unserer Bevölkerung entsprechen. Besinnen Sie sich auf eine moderne Wohnungsbaupolitik und betreiben Sie endlich wieder eine Politik für und nicht gegen die Menschen! Vielen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig das Wort.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter Herr Kollege Minkel, als Erstes muss ich feststellen: Wenn die Eigenheimzulage den Effekt hat, dass unsere jungen Leute pro Haushalt und Familie 48 Kinder in die Welt setzen, dann brauchen wir hier nicht mehr über den demographischen Wandel und über bestimmte Wachstumsprobleme zu diskutieren. Dann hätten wir wirklich den Joker getroffen. ({0}) Aber ich glaube, das hat auch die bisherige Eigenheimzulage nicht geschafft. Als Zweites ein sehr ernstes Wort: Sie haben Ihren Beitrag mit dem großen Satz angefangen, das wäre eine verzweifelte Geldbeschaffungsmaßnahme und nichts anderes. ({1}) Dazu kann ich nur sagen: Sie sprechen mit gespaltener Zunge, vielleicht nicht Sie persönlich, aber Ihre Fraktion ebenso wie die FDP. Auf der einen Seite beantragen Sie einen Lügenausschuss, weil Sie uns vorwerfen, ({2}) wir sagten der Bevölkerung nicht deutlich genug, dass wir dann, wenn wir Steuermindereinnahmen in großem Umfang haben, ernsthaft sparen müssen. Wenn wir dieses Sparen dann ernsthaft in Angriff nehmen und prüfen, wo und an welcher Stelle wir das verantwortlich machen können, dann beschweren Sie sich auf der anderen Seite, das sei eine verzweifelte Geldbeschaffungsmaßnahme. Sie haben einfach noch nicht kapiert, was die Stunde geschlagen hat. Sie haben noch nicht einmal die aktuelle Vorausschau auf die Entwicklung unseres Bruttoinlandsproduktes verinnerlicht; sonst müssten Sie endlich verstehen, dass auch Sie sich der Verantwortung des Sparens endlich stellen müssen. ({3}) Das gilt sowohl für die FDP, die es überhaupt nicht kapiert hat und immer Steuersenkungen und sämtliche Ge1514 schenke gleichzeitig verspricht. Sie hat gerade eben im Haushaltsausschuss so viel versprochen, dass man eigentlich überhaupt niemandem erzählen darf, wo sie überall draufsatteln wollen; gleichzeitig aber rufen Sie immer nach dem schlanken Staat. ({4}) Kommen wir konkret zu dem gesamten Antrag. - Kollege Brunnhuber, stellen Sie gegebenenfalls eine Frage! Jetzt will ich erst einmal meine Gedanken äußern. ({5}) - Nein, wir geben zu, dass wir vor der Wahl ({6}) gesagt haben, wir müssen sparen, und nach der Wahl gelernt haben, dass wir noch mehr sparen müssen, Herr Kollege Brunnhuber. Das machen wir auch, weil wir die Aufgaben im Interesse unseres Landes lösen, nicht aber dumme Sprüche machen wollen. ({7}) Als ersten wichtigen Satz zu dem Antrag der FDP muss man wirklich sagen: Es geht um zwei grundsätzliche Probleme. In den Zeiten, in denen wir inzwischen in weiten Teilen Deutschlands eine auskömmliche Versorgung mit Wohnraum haben, kann man der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft, die jahrzehntelang direkt und indirekt gut subventioniert worden ist, Subventionskürzungen eindeutig zumuten. Das sage ich mit großer Deutlichkeit; das habe ich übrigens auch vor der Wahl gesagt, Herr Kollege Minkel. Zweitens bin ich schon der Meinung, dass die Wohnungswirtschaft, die wirklich über Jahre gutes Geld bekommen hat, in diesen Zeiten ihren Beitrag zum Subventionsabbau, das heißt zum Sparen leisten muss. Das gilt beispielsweise für die AfA. Übrigens muss man in Bezug auf die Spekulationsfrist deutlich sagen: Die jetzt von uns in das Steuervergünstigungsabbaugesetz aufgenommene Besteuerung für die Veräußerung von Immobilien stellt diejenigen, die von der 10-jährigen Spekulationsfrist betroffen sind, eigentlich sogar günstiger als bisher, aber offenbar begreifen Sie so etwas noch nicht einmal. ({8}) Nun konkret zur Eigenheimzulage: Kollege Minkel, hier muss ich Sie aufklären. Eine aktuelle Untersuchung, die so genannte Färber-Studie, kommt zu einem genau entgegengesetzten Ergebnis. Danach profitieren bislang nicht die Schwellenhaushalte von der Eigenheimförderung, sondern fast ausschließlich die Bezieher mittlerer und höherer Einkommen. Etwa die Hälfte aller Bezieher von Eigenheimzulage gehört zu den 20 Prozent der reichsten Haushalte, während lediglich 3 Prozent der Bezieher von Eigenheimzulage zu den 20 Prozent der ärmsten Haushalte gehören. Die Förderung erreicht also überwiegend Haushalte, die aus eigener Kraft Eigentum bilden können. Mitnahmeeffekte sind eines der großen Probleme der bisherigen Eigenheimzulage. Das sollte man endlich ernst nehmen, insbesondere in diesen Zeiten. ({9}) Ich frage Sie konkret: Wieso wollen Sie einem wenig verdienenden Mieterhaushalt zumuten, dass er die von ihm erwirtschafteten Steuergelder dafür bereitstellt, dass ein anderer, besser verdienender Haushalt Eigentum bildet? Das ist vielen Schichten unserer Bevölkerung in diesen Zeiten eindeutig nicht vermittelbar. Zum zweiten Ziel, zur Förderung der Altersvorsorge, sage ich ganz deutlich: Ich werde mich weiterhin nachdrücklich dafür einsetzen, dass wir eine bessere Verzahnung der von uns neu umgestalteten Form der Eigenheimzulage mit der Altersvorsorge nach der Riester-Rente erreichen. Diese wichtige Aufgabe werden wir Grünen weiterhin aktiv unterstützen. ({10}) Der dritte Punkt - es geht nicht nur um die Bauwirtschaft -: das Ziel Wohnversorgung. SPD und Grüne haben von hier aus Ihren beiden Fraktionen oft genug gesagt, dass Wohnungsengpässe in München, Stuttgart und Frankfurt bestehen, also in den Ländern, die Wachstum haben und vergleichsweise gut betucht und reich sind. Diese Länder sollten sich für eine Lösung der Wohnversorgungsprobleme in ihren wirtschaftsstarken Städten und Ballungsräumen engagieren und nicht ihrerseits Subventionen abbauen, sondern ihr Geld in die Hand nehmen und da aufsatteln. In einer Gesellschaft, die für gleichwertige Lebensverhältnisse eintritt, erwarte ich, dass die Länder, die es sich leisten können, die Subventionen leisten, die sie für notwendig halten. ({11}) Vorletzter Punkt: Städtebauförderung. Wir Grüne werden uns immer dafür einsetzen, dass diese Förderung so gestaltet wird, dass auch die Kernstädte davon einen Vorteil haben. Herr Präsident, lassen Sie mich bitte einen letzten Satz zur Bauwirtschaft sagen. Wir sind sehr für die Förderung der Bauwirtschaft, aber da, wo es inhaltlich sinnvoll ist. ({12}) Deswegen fördern wir die Bauwirtschaft mit Programmen zur CO2-Minderung und Altbausanierung. Wir haben bereits ein Altbausanierungsprogramm mit jährlich 200 Millionen Euro auf den Weg gebracht. Wir satteln im aktuellen Haushaltsverfahren und mit der Verabschiedung des letzten Ökosteuergesetzes noch einmal 150 Millionen Euro im Jahr auf. Da sollten Sie einmal sehen, was Sie bisher geleistet haben. Insofern fördern wir die Bauwirtschaft, wo es nötig und sinnvoll ist. Wir fördern nicht einfach den Bau von Eigenheimen, die aufgrund der demographischen Entwicklung im Osten und auch in Teilen des Westens eventuell schon in 20 Jahren nicht mehr verwertbar sein könnten. Von daher betreiben wir Wirtschaftsförderung mit Sinn. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Georg Fahrenschon, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Georg Fahrenschon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hilsberg! Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig! Die Wahrheit ist: Sie haben ein falsches Instrument gewählt. Wir haben in Deutschland tatsächlich ein Finanzierungsproblem. Der Staatshaushalt ist in einer Schieflage. Aber das Instrument, das Sie gewählt haben, nämlich die Kürzung der Eigenheimzulage, ist schlicht und einfach das falsche Instrument zur Lösung unserer Finanzprobleme. ({0}) Das zeigen auch die Überschriften der Kommentare: arbeitsmarktpolitisch verheerend, familienpolitisch schlichtweg falsch und finanzpolitisch nicht einmal zu Ende gedacht. Erstens. Jede neue Wohnung schafft ein Jahr lang zwei neue Arbeitsplätze im regionalen Baugewerbe und zwei weitere in den vor- und nachgelagerten Bereichen. Zweitens. 10 000 neue Wohnungen führen über Steuern und Sozialabgaben zu Einnahmen von 1 Milliarde Euro im Eigenheimbau bzw. von rund 600 Millionen Euro im Mehrfamilienhausbau. Denn dort gilt, was für die Volkswirte das Wichtigste ist, der Multiplikatoreffekt. Auf 10 Euro, die vom Staat in die Hand genommen werden, legen die privaten Haushalte 100 Euro drauf. Diesen Effekt und nicht die Kürzung der Eigenheimzulage brauchen wir. ({1}) Drittens. Hausbau ist Vertrauenssache. Bauherren und Investoren müssen auf weitgehend stabile Rahmenbedingungen bauen können. Was Sie tun, ist das genaue Gegenteil davon und deshalb verheerend. Der Generalsekretär der SPD, Scholz, erklärt den Kompromiss, der im November gefunden wurde, sofort für sankrosankt. Bundesbauminister Stolpe spricht dagegen von einem Schnellschuss. Der Ministerpräsident auf Abruf, Gabriel, verweigert seine Zustimmung im Bundesrat und wendet sich, weil er ein mutiger Ministerpräsident ist, mit einer Prüfbitte an die Bundesregierung: Man möge prüfen, ob man den Kompromiss nicht noch ändern könnte. Der Bundesfinanzminister verschließt die Augen vor den finanz- und wirtschaftspolitischen Zusammenhängen und geht stattdessen einfach auf Tauchstation. Heute betritt der grüne Koalitionspartner in Person der Vorsitzenden des Finanzausschusses die Bühne und lässt uns über die Presse mitteilen, dass die Kürzung der Eigenheimzulage im Detail noch vollkommen offen ist. Meine Damen und Herren, worüber debattieren wir denn heute? ({2}) Spannend wird, was Sie heute Abend in Ihrer Koalitionsrunde zu diesem Thema sagen. Ich will Ihnen mit auf den Weg geben: Ich habe mir die Mühe gemacht, die Stellungnahmen von Verdi und DGB zum Thema Eigenheimzulage zu lesen. In Ihren Reihen ist das wohl unter den Tisch gefallen. Wir könnten uns über die vollkommen verquere Situation in der Regierung eigentlich freuen; angesichts der wirtschaftspolitischen Gesamtlage und der speziellen Situation im Bau- und Wohnungsbereich ist das aber nicht der Fall. Familien und Investoren bauen im besten Sinne des Wortes auf stabile Rahmenbedingungen. Sie brauchen für ihre Investitionsentscheidungen transparente und verlässliche Grundlagen. Ihr Hin und Her bezüglich der künftigen Konditionen ist verheerend für das Investitionsklima und Gift für die dringend notwendige Belebung der Konjunktur und des Arbeitsmarktes. Für den einstigen Beschäftigungsmotor Bauwirtschaft müssen die Rahmenbedingungen endlich verbessert werden: sie dürfen nicht erneut verschlechtert werden. ({3}) Meine Damen und Herren, das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung hat in seiner gestrigen Stellungnahme in der Anhörung des Finanzausschusses folgende Daten in die Debatte eingebracht. Stichwort Eigenheimbau: Bei Ihrer Kürzung kommt es zu einem Nachfrageausfall von 7,5 Milliarden Euro, verbunden mit einem Beschäftigungsabbau von 90 000 Arbeitsplätzen, davon 45 000 allein im Baugewerbe. Stichwort Mehrfamilienhausbau: Hier kommt es zu einem Nachfrageausfall von weiteren 4 Milliarden Euro, verbunden mit einem Beschäftigungsabbau von weiteren 50 000 Arbeitsplätzen, davon wiederum 25 000 im Baugewerbe. Den geplanten Einsparungen von 5,8 Milliarden Euro innerhalb der kommenden acht Jahre steht nach Schätzungen des Bundesverbandes Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen ein Rückgang des Investitionsvolumens um fast 29 Milliarden Euro gegenüber. Für den Fiskus - das ist der Teufelskreis - bedeutet das weniger Steuereinnahmen, steigende Sozialabgaben in Höhe von mehr als 10 Milliarden Euro und, nicht zu vergessen, Mehrbelastungen bei der Arbeitslosenunterstützung. Die Kürzung der Eigenheimzulage, wie Sie sie vorschlagen, ist ein Schuss in den Ofen - viel schlimmer: Sie ist ein Schuss ins eigene Knie. Die Kürzung ist aber nicht nur arbeitsmarkt- und finanzpolitisch fatal, sie ist auch familienpolitisch vollkommen falsch. Durch die Absenkung der Einkommensgrenzen und den Ausschluss kinderloser Haushalte in der Kerngruppe der 30- bis 39-jährigen halbiert sich der Anteil der grundsätzlich Anspruchsberechtigten von bisher 7,4 Millionen Haushalten auf 4,3 Millionen Haushalte. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, das ist keine Reform. Das ist ein familienpolitischer Kahlschlag. Gleichzeitig wird den so genannten Schwellenhaushalten, die mit ihrem Geld gerade so über die Runden kommen, der Einzug in die eigenen vier Wände erheblich erschwert; denn die Eigenheimzulage ist ein entscheiden1516 der Baustein des Eigenkapitals und wird direkt in den Finanzierungsplan der eigenen Wohnung oder des eigenen Hauses eingestellt. Bei einem nur 25-prozentigen Eigenkapitalanteil eines durchschnittlichen Familienhauses im Wert von 150 000 Euro fehlt dem kinderlosen Haushalt gegenüber dem bisherigen Recht in Zukunft mehr als die Hälfte und, wenn es nach Rot-Grün geht, einer Familie mit Kindern ein Drittel dieser Finanzierung. Es ist nicht zu vergessen, dass sich bei einem geringen Eigenkapital die Kreditkosten automatisch erhöhen. Bau- und Kaufwillige in Deutschland werden durch Ihren Vorschlag also doppelt belastet. Neben jedem Schlafzimmer der kinderlosen Familien tickt in Zukunft die Stoppuhr; denn nach vier Jahren muss sich der Nachwuchs einstellen, sonst bricht die gesamte Finanzierung zusammen und der Anspruch ist hinüber bzw. verringert sich. Es ist geschmacklos, so Familienpolitik zu machen. ({4}) Dem Bundesfinanzminister und auch Ihnen muss schon noch einmal mit auf den Weg gegeben werden, dass Sie einen zentralen sachlichen Denkfehler gemacht haben. Die sachliche Begründung zur Kürzung lautet aus der Sicht des BMF - ich zitiere aus dem offiziellen Pressedokument vom 17. November -: Wir können es uns nicht mehr leisten, flächendeckend, auch in Gebieten, in denen ein Wohnungsleerstand herrscht, den Neubau massiv zu fördern. Das ist deshalb falsch, weil Bundesfinanzminister Eichel einfach ignoriert, dass 70 Prozent der Bundesbürger keine Mietwohnung suchen, sondern ihre eigene Immobilie finden wollen. ({5}) Der Zusammenhang, den Sie hier herstellen, geht an der Realität vorbei. Herr Eichel, wachen Sie auf: Leere Mietwohnungen haben nichts mit Eigenheimen zu tun! Ich darf zusammenfassen und beziehe mich dabei ausdrücklich auf die dem Parlament vorliegenden Stellungnahmen des DGB und des Verdi-Bundesvorstandes: Die Kürzung der Eigenheimzulage zerschlägt die Zukunftspläne vieler Arbeitnehmerhaushalte. Die Kürzung hat negative Rückwirkungen auf die sowieso schon stark geschwächte Bauwirtschaft. Die Arbeitsplatzvernichtung in Deutschland wird sich weiter verstärken, weil als Folge der Zulagenkürzung weitere 50 000 Wohnungen nicht gebaut werden. Ausgerechnet in einer Phase, in der die Eigenversorgung aufgrund der demographischen Entwicklung immer mehr an Bedeutung gewinnt, schwächt Rot-Grün das selbst genutzte Wohnungseigentum. Wir dürfen erwarten, dass im Abschlussbericht der RürupKommission stehen wird, wir sollten das alte Gesetz wieder herstellen; denn Rot-Grün hat mit der Kürzung der Eigenheimzulage auch in diesem Bereich versagt. Last, but not least: Gerechnet für 25 000 Wohnungen übersteigen die Ausfälle an Steuer- und Abgabeneinnahmen sowie die Mehrbelastungen der öffentlichen Haushalte durch die erhöhten Aufwendungen bei Arbeitslosigkeit nach Zahlen des DGB die Einsparungen an Zulagen erheblich: Über acht Jahre hinweg stehen 2,5 Milliarden Euro an höheren Ausgaben 0,6 Milliarden Euro an Einsparungen gegenüber. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Koalition, mit der Kürzung der Eigenheimzulage sind Sie arbeitsmarktpolitisch, wirtschaftspolitisch und familienpolitisch auf dem Holzweg. Stoppen Sie Ihre Geisterfahrt so schnell wie möglich, am besten noch heute in Ihrem Koalitionsausschuss! Herzlichen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzte Rednerin in der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Gabriele Groneberg, SPD-Fraktion.

Gabriele Groneberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003540, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erst habe ich bei Ihren Reden, Herr Otto und Herr Minkel, noch gelacht. Es war sehr amüsant. Aber langsam ist mir das Lachen vergangen. Wenn ich in meinem Leben so viel gejammert und so viel mies gemacht hätte, dann hätte ich meine Chancen nicht wahren können. Ich wäre als Alleinerziehende mit zwei Kindern rettungslos untergegangen. ({0}) Und gnade Gott, ich bin froh, dass die Wähler uns das Votum gegeben haben und nicht Ihnen. Mit Ihrer Miesmacherei sind Sie es, die diesen Staat in den Ruin treiben, und nicht wir mit unserer vernünftigen Politik. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion, ich muss feststellen, dass Sie sich bei Ihrem Antrag nicht viel Mühe gemacht haben. Den Antrag kann man in zwei Punkte zusammenfassen. Erstens: Es bleibt alles so, wie es ist. Zweitens: Es bleibt sowieso alles so, wie es war. Für einen vernünftigen Antrag und für eine vernünftige Politik hätte ich mir bessere Vorschläge gewünscht, über die wir diskutieren, über die wir reden können. Das wäre für uns alle der vernünftigste Weg gewesen. Aber warum sollten Sie bessere Vorschläge machen? Sie sind schließlich nicht in der Regierungsverantwortung. Ich hätte es trotzdem gut gefunden. Sie hätten den allgemein herrschenden Rahmenbedingungen, an denen auch Sie nicht vorbeikommen, etwas mehr Aufmerksamkeit schenken können. Sie lassen nämlich außer Acht, dass sich der Wohnungsmarkt verändert hat und dass wir mit einer immer älter werdenden Gesellschaft zu rechnen haben. Damit haben wir es natürlich auch mit sich verändernden Bedingungen auf dem Wohnungsmarkt zu tun. Wir werden keine steigenden Bevölkerungszahlen mehr haben. Deshalb müssen wir auch im Wohnungsbau der demographischen Entwicklung Rechnung tragen. Mit Ihren Feststellungen im ersten Absatz sind Sie zu kurz gesprungen, obwohl ich mit der Kollegin EichstädtBohlig durchaus darin einig bin, dass man über die Einbeziehung von Eigentum in die Riester-Rente reden sollte. Das ist aber eine andere Geschichte. Wenn wir über die Situation auf dem Wohnungsmarkt sprechen, müssen wir uns folgende Tatsachen vergegenwärtigen. Wir haben im statistischen Durchschnitt in Deutschland eine Versorgung mit Wohnraum, die so gut ist wie noch nie zuvor. Das Problem dabei ist, dass sie nicht überall gleich gut ist. In einigen Ballungsräumen haben wir ein knappes Angebot; das ist richtig. In anderen Gebieten, übrigens nicht nur in den größeren Städten, gibt es gewaltige Leerstände. Dies trifft vor allen Dingen auf den Osten zu; ich kenne aber auch Beispiele aus Westdeutschland. Da wir nicht überall die gleichen Bedingungen haben, eignet sich die Eigenheimzulage nicht zum Ausgleich der regionalen Unterschiede, die wir auf dem Wohnungsmarkt haben. Im Übrigen muss ich generell feststellen: Die Eigenheimzulage ist nicht die einzige Maßnahme zur Förderung des Wohnungsbaus. Hinzu kommen noch andere Förderinstrumente. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die nun geplante Reform der Eigenheimzulage ist von uns nicht freiwillig in Angriff genommen worden. Sie ist letztendlich unter den finanzpolitischen Bedingungen, denen wir unterliegen, geboten. Es ist Ihnen durchaus bekannt - Sie können es nicht leugnen -, dass die Gestaltung der Eigenheimzulage schon seit einiger Zeit reformbedürftig ist. Herr Hilsberg hat dazu ausführlich ausgeführt. Generell ist es gar nicht mehr witzig, dass Sie den Subventionsabbau hier auch heute noch gefordert haben. Dieser soll grundsätzlich nur bei anderen und sowieso nur dort, wo es Ihnen gerade passt, vorgenommen werden. ({2}) Wir tun etwas anderes: Wir werden eine der größten Subventionen im Bundeshaushalt verändern. ({3}) Dadurch wird sie gleichzeitig eine andere wohnungspolitische Komponente erhalten. Das ist in Ihren Reden überhaupt nicht zum Tragen gekommen. Sie haben nicht erwähnt, wie sich die Eigenheimzulage auf die Wohnungsbau- und Städtepolitik auswirken wird. Sie haben nur auf einen bestimmten Fokus geschaut ({4}) und alles andere vollkommen außer Acht gelassen. Ich gebe zu, dass wir die ersten Überlegungen, die nach Abschluss des Koalitionsvertrages im Raum gestanden haben, auch nicht „pralle“ fanden. ({5}) In unseren Beratungen sind wir zu einem Kompromiss gekommen, den wir durchaus tragen können. Letztendlich haben wir damit den zuerst geplanten massiven Rückbau der Förderung verhindert. Die Konzentration der Förderung auf die Familien mit Kindern halte ich gerade auch in unserer haushaltspolitischen Situation für äußerst sinnvoll. ({6}) Eine Familie und Alleinerziehende mit zwei Kindern erhalten bei einem Bestandserwerb nahezu die gleiche Förderung wie zuvor. Ich denke, eine Einbuße von rund 17 Euro im Monat ist angesichts der schwierigen Lage der öffentlichen Haushalte durchaus zu verkraften. Herr Fahrenschon, die Kollegin von den Grünen hat zum Stichwort „Schwellenhaushalte“ schon einiges ausgeführt. Sie argumentieren damit, dass diese Haushalte geradeso über die Runden kommen. Ganz ehrlich, ich frage mich, was sie nach Ablauf des Förderzeitraums von acht Jahren machen. Dann greift ihnen die Eigenheimzulage nämlich nicht mehr unter die Arme. Dann muss die Belastung voll selbst getragen werden. ({7}) Ich kann Ihnen sagen, was dann passiert. Das weiß ich nämlich aufgrund meiner Erfahrungen im Landtag und aufgrund der Petitionen, die wir erhalten haben. Dann stehen diese Familien vor dem Problem, dass sie das Haus nicht mehr halten können. Bei den Schwellenhaushalten gibt es wirklich ein Problem. Das lösen Sie mit Ihrer Politik überhaupt nicht. ({8}) Ich habe nach der PISA-Studie immer gedacht, dass eher die jüngere Generation zu leiden hat. Herr Minkel, dass Sie bei den Berechnungen auf 48 Kinder kommen, kann ich ehrlich gesagt einfach nicht verstehen. ({9}) Ich weiß nicht, wie Sie auf diese Zahl gekommen sind. Vielleicht können Sie mir Nachhilfeunterricht geben. Diese Rechnung kann ich absolut nicht nachvollziehen. Mit der Gleichbehandlung von Alt- und Neubauförderung wollen wir den Anreiz erhöhen, in den Bestand zu investieren. Damit erreichen wir, dass der Erwerb in den Städten, in den Stadtvierteln, interessanter wird. Damit komme ich zu den wohnungsbaupolitischen Komponenten. Wenn es Ihnen auch schwer fällt: Seien Sie doch einmal ehrlich. ({10}) Wir können doch nicht gleichzeitig den zunehmenden Leerstand in vielen Regionen unseres Landes beklagen und gleichzeitig die Stadtflucht ins Umland auch noch mit einer besseren Förderung unterstützen. Das geht nicht, das kann man doch nicht machen. ({11}) Vor sechs, sieben Jahren gab es andere Bedingungen; es gab einen Bauboom. Wir müssen uns den veränderten Erfordernissen anpassen. ({12}) Wollen Sie daran, dass wir mit der Senkung der Einkommensgrenzen gleichzeitig Mitnahmeeffekte verhindern wollen, ernsthaft Kritik üben? Das kann doch wohl nicht wahr sein. ({13}) Schließlich kann und muss die Gesamtheit der Steuerzahler doch nicht die Menschen subventionieren, die es ganz gut aus eigener Kraft, also ohne staatliche Förderung, schaffen können, ein Haus zu bauen oder zu kaufen. An dieser Stelle will ich überhaupt nicht ausschließen, dass man sich noch weitere Maßnahmen vorstellen kann, um den Bestand intensiver zu fördern und damit das zu erreichen, was wir wirklich wollen, nämlich den Leerstand in den Städten zu verhindern. Im Übrigen kann der Familiengrundbetrag bei einem Neubau oder bei einer energetischen Sanierung des Altbaus durch eine Ökozulage um bis zum 300 Euro aufgestockt werden. Davon habe ich von Ihnen vorhin auch nichts gehört. ({14}) Ich denke, das ist eine gute umweltpolitische und städte- bauliche Komponente. Dazu haben wir von Ihnen wirk- lich nichts gehört. Wir wollen, dass es für die Familien in unserem Land einfach ist, Eigentum zu bilden. In dieser Haushaltssitua- tion werden wir aber nicht diejenigen unterstützen, die das auch alleine schaffen können. Es ist klar, dass man an der Rückführung der Förderung für Neubauten Kritik äußern kann. Das ist keine Frage. Unter den eben geschilderten finanzpolitischen Bedingungen müssen wir aber darüber reden. Wir haben unsere Konsequenzen gezogen. Dennoch hat auch die Verringerung der Förderung ei- nen städtebaulich nicht zu vernachlässigenden Aspekt, weil wir hoffen, damit die Tendenz, dass die Menschen von den Städten aufs Land ziehen und dort ihr Eigenheim bauen, zu stoppen. Selbstverständlich ist es interessant, aufs Land zu ziehen, wenn die Neubauförderung a) bes- ser ist, b) das Bauen auf dem Land billiger ist und c) dies die Kommunen gerne sehen. Diese Entwicklung führt aber dazu, dass in einigen Teilen unseres Landes die Innenstädte buchstäblich entvölkert werden. Deshalb muss man darüber nachdenken, ob man die weitere Zersiedlung der Landschaft wirklich will. Die Kommunen im ländlichen Raum setzen mit ihrem Angebot natürlich darauf, die Menschen aus den Städten aufs Land zu holen. Ich weiß, wie wünschenswert es ist, die Entwicklung vor Ort mit mehr Bürgern gestalten zu können. Dennoch führt es dazu, dass das Problem des Leerstandes in den Städten verschärft wird. Warum wird dadurch der Leerstand verschärft? Das ist ganz einfach. Ich habe zu Anfang über die demographische Entwicklung geredet. In diesem Land wird die Bevölkerung nicht wachsen. Daher werden wir darauf achten müssen, dass wir Wohnraum dort schaffen, wo die Menschen sind. Wir können nicht nur auf dem Land Neubauten anbieten, sondern wir müssen auch den Bestand in den Städten - dies gilt auch für kleine Städte, nicht nur für Großstädte - fördern. ({15}) Ich frage Sie allen Ernstes: Was soll es für eine Politik sein, die zusieht, wie am Rand der Städte und Gemeinden immer mehr gebaut wird und in den Innenstädten die Leerstandsquote steigt? Gehen Sie doch einmal durch die Quartiere. Oder waren Sie noch nie vor Ort gewesen? ({16}) Schauen Sie sich die leeren Fenster an. Hören Sie sich die Probleme der Wohnungsgesellschaften mit ihren hohen Leerstandsquoten an. Was passiert denn ansonsten noch in diesen Gebieten? Die Leute ziehen weg, die Läden folgen, womit auch die Infrastruktur zerstört wird. Auch die Mieten sinken, was manchmal ganz angenehm ist. Aber was passiert dann? Die Bausubstanz verkommt, weshalb wiederum immer mehr Leute wegziehen. ({17}) Neben der dann entstehenden Unattraktivität der Wohnstädte nehmen die sozialen Probleme zu. Das können Sie doch nicht ernsthaft wollen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Groneberg, bitte berücksichtigen Sie Ihre Redezeit.

Gabriele Groneberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003540, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich komme zum Ende. - Unsere Politik ist das jedenfalls nicht. Wir setzen Neubau und Bestandsförderung auf dieselbe Stufe. Ein ganz kurzes Wort zur Bauwirtschaft. Es ist uns selbstverständlich nicht egal, was mit der Bauwirtschaft passiert. Wir wollen, dass die deutsche Bauwirtschaft weiterhin Marktführer in Europa bleibt. Wir werden der Bauwirtschaft mit unseren Instrumenten helfen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf unsere Offensive für den Mittelstand. ({0}) Meine Damen und Herren von der FDP, nach meinen Ausführungen können Sie wirklich nicht erwarten, dass wir Ihrem Antrag zustimmen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Groneberg, ich darf Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag herzlich gratulieren, verbunden mit allen guten Wünschen für die parlamentarische Arbeit. ({0}) Mit der eigenmächtigen Verlängerung Ihrer angemeldeten Redezeit haben Sie sich gegenüber dem Präsidium erfolgreich durchgesetzt. ({1}) Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/33 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich stelle dazu Einverständnis fest. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des internationalen Insolvenzrechts - Drucksache 15/16 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3}) - Drucksache 15/323 Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Tanja Gönner Jerzy Montag Dazu haben die Kollegen Dirk Manzewski, SPD, Tanja Gönner, CDU/CSU, Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen, Rainer Funke, FDP, sowie der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach Reden vorbereitet, die sie jeweils zu Protokoll geben wollen.1 - Ich stelle fest, dass darüber Einverständnis besteht. Ich eröffne damit die Aussprache und schließe sie gleich wieder. Damit kommen wir zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuregelung des internationalen Insolvenzrechts auf Drucksache 15/16. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/323, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Da ich nicht vermute, dass sich der größere Teil der Mitglieder des Bundestages enthalten will, weise ich noch einmal auf den Beschlussgegenstand hin. Wir stimmen jetzt über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ab, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer will diesem Vorschlag folgen und dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen? - Das ist eine spektakuläre Erhöhung der Zustimmungsrate. Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. ({4}) Stimmt jemand dagegen? ({5}) - Sie merken, Herr Hartenbach, wie klug es war, dass ich Sie nicht zum Aufstehen aufgefordert habe, weil sonst das Missverständnis entstanden wäre, dass Ihre Nachbarin gegen den Gesetzentwurf stimmt, was sie sofort dementieren würde. - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen. Ich rufe nun Zusatzpunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Anrufung des Vermittlungsausschusses zu dem Zwölften Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ({6}) - Drucksachen 15/27, 15/74, 15/76, 15/120, 15/298 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der Kollegin Dr. Marlies Volkmer, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesrat hat dem zustimmungspflichtigen Zwölften SGB-V-Änderungsgesetz seine Zustimmung verweigert. Dieses Gesetz ist Teil des Maßnahmekatalogs zur Stabilisierung der Ausgaben im Gesundheitswesen. Diese Zustimmungsverweigerung ist vollkommen unlogisch, da zu diesem Zeitpunkt schon klar war, dass die nicht zustimmungspflichtigen Teile des Maßnahmekatalogs zu Beginn des Jahres 2003 in Kraft treten würden. Ohne den zustimmungspflichtigen Teil des Kostenstoppgesetzes ergeben sich jetzt aber Chancenungleichheiten im Bereich der Krankenhäuser. Außerdem müssten wir auf ein Einsparpotenzial von etwa 700 Millionen Euro verzichten. Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bringen deshalb heute einen Antrag zur nochmaligen Anrufung des Vermittlungsausschusses ein. Worum geht es im Einzelnen? Ein wesentlicher Schritt zur notwendigen stärkeren Leistungsorientierung in den Krankenhäusern ist die Einführung eines neuen Vergütungssystems, des DRG-Systems, des Systems der Ver1520 1 Anlage 2 gütung nach Fallpauschalen. Das ist ein bedeutender Schritt in Richtung Wirtschaftlichkeit und Transparenz. ({0}) Es ist der endgültige Abschied von einer Bezahlung nach der bloßen Belegung eines Krankenhausbettes hin zur Bezahlung der erbrachten Leistung. Die Einführung des DRG-Systems erfolgt seit dem 1. Januar dieses Jahres auf freiwilliger Basis. Ab 2004 ist die Anwendung des neuen Vergütungssystems verpflichtend. Bis zum 31. Oktober vergangenen Jahres sollten sich die Krankenhäuser entscheiden, ob sie schon in diesem Jahr nach dem neuen Vergütungssystem abrechnen wollen. Immerhin hatten zu diesem Zeitpunkt 530 der insgesamt 2 200 deutschen Krankenhäuser dafür votiert. Diese Krankenhäuser, die sich zu dem leistungsgerechteren Vergütungssystem und einer größeren Transparenz bekennen, haben wir ausdrücklich von der so genannten Nullrunde ausgenommen. Für alle Krankenhäuser, die ab 2003 nach dem DRGSystem abrechnen, wird es eine volle Grundlohnanpassung ihrer verfügbaren Mittel geben. In den neuen Bundesländern bedeutet das eine Steigerung um 2,09 Prozent, in den alten Bundesländern von 0,81 Prozent. Die Meldefrist für die freiwillige Teilnahme am neuen Vergütungssystem wurde im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens bis zum 31. Dezember 2002 verlängert. Um genau diese Option geht es im vorliegenden Gesetz. Inzwischen hat sich eine größere Zahl von Krankenhäusern nachgemeldet, die ebenfalls freiwillig umsteigen wollen. ({1}) Allein in Sachsen sind es 34 Krankenhäuser. Damit nehmen 55 von 89 Krankenhäusern am neuen Vergütungssystem teil. ({2}) - Ich bin sehr gespannt, was Sie nachher zu sagen haben, und werde mich anschließend vielleicht noch einmal dazu äußern. Ich bin davon überzeugt, Herr Faust, dass diese Häuser auch über die notwendigen Voraussetzungen verfügen, nach DRGs abzurechnen. ({3}) Ich kann wirklich nicht nachvollziehen, warum sich der Bundesrat einer Verlängerung der Frist für die Meldung zur Teilnahme am Optionsmodell in den Weg gestellt hat. Noch Anfang letzten Jahres waren sich alle einig, dass wir von starren, grundlohngedeckelten Budgets abkommen und zu einer leistungsgerechten Vergütung gelangen müssen. Ich gehe davon aus, dass sich an der Haltung der Union im letzten Dreivierteljahr nichts geändert hat. Wir wollen den Verantwortlichen und Beschäftigten in den Krankenhäusern, die umsteigen wollen, Sicherheit geben und wir wollen Chancengleichheit herstellen. Deswegen muss die Fristverlängerung für das Optionsmodell bis zum 31. Dezember anerkannt werden. Auch deshalb rufen wir den Vermittlungsausschuss an. Blockieren Sie diese wichtige Maßnahme im Krankenhausbereich jetzt nicht! Eines der drängendsten Probleme in der gesetzlichen Krankenversicherung ist die verstärkte Verordnung von teuren Analogpräparaten mit nur geringem Zusatznutzen. Besonders diese Scheininnovationen haben zur überproportionalen Ausgabensteigerung im Arzneimittelsektor geführt. Die Arzneimittelausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung stiegen in den letzten zwei Jahren um rund 15 Prozent je Mitglied. Dieser erhebliche Ausgabenzuwachs ist allein medizinisch nicht zu begründen. Der Anstieg der Verordnung teurer, patentgeschützter Analogpräparate spielte dabei eine große Rolle. Zu Beginn des letzten Jahres haben die Krankenkassen und Ärzte vereinbart, die Arzneimittelausgaben im Jahr 2002 um 4,9 Prozent zu senken. Tatsache ist: Nach den ersten drei Quartalen hatten wir stattdessen ein Plus von 4,9 Prozent zu verzeichnen. Das sind fast 10 Prozent Unterschied. ({4}) Deshalb ist es völlig gerechtfertigt, wenn wir als Gesetzgeber hier eingreifen. ({5}) Niemand bezweifelt, dass Innovationen Mehrkosten verursachen. Aber nicht alles, was teuer ist, ist auch tatsächlich besser als die hergebrachten Produkte. Nicht alle Präparate, die mit großem Werbeaufwand auf den Markt gebracht werden, sind wirksamer als kostengünstigere Alternativen. Häufig ist sogar das Gegenteil der Fall. Damit das Geld für echte Innovationen auch in Zukunft vorhanden ist, beziehen wir Analogpräparate, die gegenüber vorhandenen Medikamenten nur einen geringen Zusatznutzen haben, in die Festbetragsregelung ein. Festbeträge für Arzneimittel sind ein wirkungsvolles Instrument zur Begrenzung der Ausgaben. Durch die Einbeziehung von nach dem 31. Dezember 1995 zugelassenen patentgeschützten Arzneimitteln in die Festbetragsregelung können schätzungsweise 400 Millionen Euro eingespart werden. Das Bundesverfassungsgericht hat vor Weihnachten festgestellt, dass die Selbstverwaltung legitimiert ist, eine wirtschaftliche Verordnung über Festbeträge durchzusetzen. Das war ein großer Erfolg für die rot-grüne Regierung. Diese Möglichkeit einer Festsetzung der Festbeträge muss im Interesse der Versicherten, der Beitragszahler, genutzt werden. ({6}) Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, deren Wirkungsweise neuartig ist und die zum Beispiel wegen geringerer Nebenwirkungen eine therapeutische Verbesserung mit sich bringen, bleiben weiterhin von der Festbetragsregelung ausgenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur defizitären Entwicklung innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung hat auch der überproportionale Anstieg der Verwaltungsausgaben der Krankenkassen beigetragen. In den letzten fünf Jahren lag der Zuwachs durchschnittlich bei gut 3 Prozent. 2001 waren es rund 5 Prozent, im ersten Halbjahr 2002 rund 4 Prozent. Zwar war die Ausgabenentwicklung der letzten Jahre auch durch verschiedene Sonderfaktoren, wie zum Beispiel Investitionen in verbesserte EDV-Ausstattungen und Einführung von Controllingsystemen, geprägt. Aber Rationalisierungsanstrengungen in anderen Verwaltungsbereichen waren unzureichend. Deshalb werden auch die Krankenkassen zu einem besonderen Solidarbeitrag herangezogen. Die Verwaltungsausgaben werden 2003 auf die Höhe des Jahres 2002 begrenzt. Damit ergibt sich für die gesetzliche Krankenversicherung im Jahr 2003 eine geschätzte finanzielle Entlastung von circa 200 Millionen bis 300 Millionen Euro. Mitgliederzuwächse können aber unabhängig davon berücksichtigt werden und für Disease-Management-Programme wird es Ausnahmen geben. Ich appelliere an Sie, der Anrufung des Vermittlungsausschusses zuzustimmen. Es ist in unser aller Interesse, die Verwaltungskosten der Krankenkassen und die Arzneimittelpreise zu begrenzen. Wir wollen den Beschäftigten der Krankenhäuser, die sich zwischen dem 31. Oktober und dem 31. Dezember 2002 für das neue leistungsorientierte Vergütungssystem entschieden haben, Sicherheit und Chancengleichheit geben. Deswegen wollen wir die Umstiegsoption bis zum 31. Dezember 2002 verlängern. Wer heute mit Tränen im Auge die so genannte Nullrunde in den Krankenhäusern beklagt, kann sich dieser Argumentation nicht verschließen; denn die Krankenhäuser, die nach DRGs abrechnen, sind von der Nullrunde ausgenommen. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, laufend äußern Sie Ihre Sorge um die Sozialkassen. Konsequenterweise müssen Sie deshalb der Anrufung des Vermittlungsausschusses zustimmen. Das sind Sie den Menschen im Land schuldig! ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich möchte auch Ihnen, Frau Kollegin Dr. Volkmer, zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag herzlich gratulieren und alles Gute für Ihre weitere Arbeit wünschen. ({0}) Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Michael Hennrich, CDU/CSU-Fraktion.

Michael Hennrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003551, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als neu gewählter Abgeordneter, der heute seine erste Rede im Deutschen Bundestag hält, gehe ich mit viel Idealismus und viel gutem Willen an meine Tätigkeit heran. Ich will etwas für die Menschen bewegen, die mich gewählt haben, und an Gesetzen mitarbeiten, die von Dauer sind und die unser Land in eine sichere Zukunft führen. Vielleicht kann ich meinen beiden Kindern in ein paar Jahren erzählen, an welchen wichtigen Gesetzen ich mitgearbeitet habe. Noch habe ich diese Hoffnung. Vom Zwölften Gesetz zur Änderung des SGB V werde ich meinen beiden Kindern sicherlich nichts erzählen. Oder beeindruckt es Sie, wenn von großen Reformen im Gesundheitswesen gesprochen wird, wir dann aber Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen in die Festbetragsregelung einbeziehen, festlegen, dass sich die Verwaltungsausgaben der einzelnen Krankenkassen im Jahr 2003 im Vergleich zum Jahr 2002 nicht erhöhen dürfen und eine Nullrunde für Krankenhäuser verordnen, von der es Ausnahmen gibt, die aber nicht für alle gelten sollen? Seit über vier Jahren ist Rot-Grün an der Regierung. Sie haben genügend Zeit gehabt, die Weichen für eine moderne, zukunftsorientierte Gesundheitspolitik zu stellen. ({0}) Stattdessen präsentieren Sie uns ein Gesetzeswerk, von dem Sie wissen, dass es die finanziellen Probleme im Gesundheitswesen nur noch weiter verschärft und in punkto Qualität der medizinischen Versorgung zu einem Risikofaktor wird. ({1}) Das Gesetz, mit dem Sie die Beiträge in der gesetzlichen Krankenkasse stabilisieren wollen, hat das Gegenteil bewirkt. Die Kassen mussten in den letzten Wochen die Beiträge teilweise massiv erhöhen und kündigen trotz Beitragserhöhungsstopp weitere Beitragserhöhungen an. Waren vor einigen Wochen Beitragssätze von 15 Prozent bei den gesetzlichen Krankenkassen so etwas wie ein schwer vorstellbares Schreckensszenario, so sind sie mittlerweile bittere Realität geworden. ({2}) Ich kann Ihnen versichern: Andere Krankenkassen werden in den nächsten Wochen folgen. Stabilisiert werden damit allenfalls Verunsicherung und Unmut all derjenigen, die im Gesundheitswesen tätig sind. Nehmen wir doch zum Beispiel die Änderungen des Krankenhausfinanzierungsgesetzes! Zunächst war eine Nullrunde vorgesehen, die angeblich Einsparungen in Höhe von 340 Millionen Euro erbringen sollte. Nach Verhandlungen, unter anderem mit dem Marburger Bund und Verdi, hat das Bundesgesundheitsministerium entschieden, dass die Frist zur Anmeldung zum DRG-Optionsmodell bis zum 31. Dezember 2002 verlängert wird. Damit sollen die Krankenhäuser, die an dem DRG-Modell teilnehmen, nicht von der Nullrunde betroffen sein. Allein mit einer Entscheidung haben Sie drei zusätzliche Probleme geschaffen: Zum Ersten erreichen Sie nicht die gewünschten Einsparungen. Ich verweise insoweit auf die Ausführungen der Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung. Zum Zweiten treiben Sie viele Krankenhäuser wegen finanzieller Not in ein System, auf welches sie sich nicht ausreichend vorbereiten konnten. Das stört interne Betriebsabläufe und führt zu Verschlechterungen in der Patientenversorgung. ({3}) Zum Dritten bleiben psychiatrische Krankenhäuser und Einrichtungen der neurologischen Frührehabilitation auf der Strecke. Sie haben keine Möglichkeit, der Nullrunde zu entgehen. Wie sollen Krankenhäuser, die nicht am DRG-Optionsmodell teilnehmen, die Mehrkosten, die zum Beispiel durch den Tarifabschluss im öffentlichen Dienst anfallen, auffangen? In der Konsequenz werden die Krankenhäuser gar nicht anders können, als auf Kosten der Patienten und der medizinischen Qualität zu sparen. Im Übrigen müsste Ihnen zu denken geben, dass sich bis zum 31. Oktober 2002 - das ist der Zeitpunkt, bis zu dem sich die Krankenhäuser ursprünglich entscheiden sollten - gerade einmal 55 Krankenhäuser für dieses Optionsmodell entschieden hatten. Wenn die Union heute zur Anrufung des Vermittlungsausschusses Nein sagt, so schützt sie damit die Krankenhäuser vor weiteren unabsehbaren Gefahren. ({4}) Aber das ist nicht der einzige Kritikpunkt. Nehmen Sie die Deckelung der Verwaltungsausgaben bei den Krankenkassen! Da gibt es Krankenkassen, die in den letzten Jahren sehr gut gewirtschaftet haben und bei denen der Anteil der Verwaltungskosten eher als gering einzustufen ist. Dies ist zum Beispiel bei den Betriebskrankenkassen der Fall. Die von der Regierung jetzt vorgesehene Regelung bestraft gerade die Krankenkassen, die in den letzten Jahren wirtschaftlich gearbeitet haben, während sich solche, die in der Vergangenheit aus dem Vollen geschöpft haben, keine größeren Sorgen machen müssen. Ist das gerecht? Dann zum Thema: Festbetragsregelung für Arzneimittel. Im Gesetzentwurf heißt es so schön: Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, deren Wirkungsweise neuartig ist und die eine therapeutische Verbesserung, auch wegen geringerer Nebenwirkungen, bedeuten, bleiben weiterhin von der Festbetragsregelung ausgenommen. Auch hier gilt der altbekannte Grundsatz: Eine Regelung schafft drei Probleme. Erstens. Die Pharmaunternehmen werden ihre Forschungsanstrengungen zurückschrauben. Wer garantiert denn schon, dass es sich um eine echte Innovation und nicht um eine Scheininnovation handelt? Zweitens. Es entsteht ein zusätzlicher bürokratischer Aufwand zur Prüfung von echten Innovationen. Wie wollen Sie das definieren und wo nehmen Sie die Abgrenzung vor? Drittens. Für die ohnehin überlastete Justiz haben Sie ein neues Betätigungsfeld gefunden. Frau Schmidt, Sie und die Bundesregierung haben es zu verantworten, wenn international tätige Pharmakonzerne nicht mehr in Deutschland investieren ({5}) und am Pharma- und Forschungsstandort Deutschland langsam die Lichter ausgehen. ({6}) Für ein solches Gesetz mit den geschilderten Unzulänglichkeiten können und wollen wir Ihnen nicht die Hand reichen. Dazu brauchen wir auch keinen Vermittlungsausschuss. Legen Sie uns ein tragfähiges und schlüssiges Konzept dazu vor, wie Sie das Gesundheitswesen reformieren wollen! Dann werden wir uns auch einigen und brauchen keinen Vermittlungsausschuss. Das Dilemma, in dem Sie von Rot-Grün stecken, ist doch, dass Sie keinerlei Ideen haben, wie Sie die Strukturprobleme im Gesundheitswesen in den Griff bekommen können. Da Sie keine Ideen haben, berufen Sie - ähnlich dem Modell der Hartz-Kommission - eine Kommission ein, die es richten soll. Während Sie, was die Vorschläge der Hartz-Kommission angeht, noch von einer Umsetzung im Verhältnis eins zu eins sprachen, demontieren Sie die neue Kommission, bevor sie ihre eigentliche Arbeit aufgenommen hat. Die einen sehen auf mehrere Jahre hinaus keinen Reformbedarf im Hinblick auf unsere sozialen Sicherungssysteme - Herr Scholz lässt grüßen -, während andere von „Professorengequatsche“ reden und mit vermeintlichen Lateinkenntnissen - Herr Stiegler lässt grüßen - glänzen. Wenn wir schon von Einsparungen reden: Die 1 Million Euro, die uns diese Kommission kostet, könnten wir uns wirklich sparen. ({7}) Sie dürfen sich nicht wundern, dass immer mehr Leistungserbringer aus dem Gesundheitswesen zu Protestaktionen rufen. Erstens die Ärzte. Wenn man sich die Ausgabenentwicklung im dritten Quartal 2002 anschaut, dann fällt einem auf, dass die höchsten Steigerungsraten nicht bei den Honoraren für Ärzte und Zahnärzte liegen, sondern bei den Arzneimittelausgaben, den Heilmittelausgaben und den Krankenhauskosten. Trotzdem verordnen Sie den Ärzten eine Nullrunde, und das, obwohl die Honorare der Ärzte ohnehin schon budgetiert sind. Zweitens die Apotheker. Sie werden gleich aus mehreren Richtungen angegriffen. Da droht der Versandhandel und jetzt sollen sie auch als Inkassounternehmen für die Krankenkassen arbeiten. Apotheker sollen nicht nur die eigenen Rabatte abführen, sondern auch die der Großunternehmen. Drittens die Zahntechniker. Deren Leistungen kürzen Sie um 5 Prozent. Gleichzeitig wird der Mehrwertsteuersatz aber von 7 Prozent auf 16 Prozent angehoben. Das führt zu keiner Entlastung der Kassen, sondern zu zusätzlichen Belastungen in Höhe von 150 Millionen Euro. Als Neuling im Deutschen Bundestag wäre es vermessen, Ihnen zu sagen, wie eine vernünftige Gesundheitsreform aussehen sollte. ({8}) In den ersten Monaten meiner Tätigkeit habe ich aber viel über Transparenz, über Wettbewerb und über Eigenverantwortung gelernt. Wenn Sie sich bei den nun anstehenden Reformen an diesen Maßstäben orientierten, dann wären wir ein gutes Stück weiter und dann könnten Sie auch mit unserer Unterstützung rechnen. Danke schön. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herzlichen Glückwunsch, Herr Kollege Hennrich, zu Ihrer ersten Rede. Ich verbinde damit den Dank des Präsidiums, dass Sie die vorhin großzügig eingeräumte zusätzliche Redezeit Ihrerseits eingespart haben, wodurch wir wieder im Zeitplan sind. ({0}) Ich hoffe, dass Ihnen das bei Ihren künftigen Reden in ähnlicher Weise gelingt. Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Selg, Bündnis 90/Die Grünen.

Petra Selg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003635, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hennrich, natürlich gratuliere auch ich Ihnen recht herzlich. Ich muss Ihnen allerdings sagen: Wir haben mit unserer Gesundheitsreform in den vergangenen viereinhalb Jahren mehr als Sie in 16 Jahren bewegt. ({0}) Das von der schwarz-gelben Bundesratsmehrheit vor kurzem abgelehnte Zwölfte SGB-V-Änderungsgesetz beinhaltet drei Regelungen, denen Sie nicht zustimmen können: erstens die Einbeziehung von Analogpräparaten in die Festbetragsregelung; zweitens die Fristverlängerung für Krankenhäuser bei der Anmeldung zur DRG-Einführung; drittens die Festschreibung der Verwaltungskosten der Krankenkassen auf dem Niveau von 2002. Roland Koch hat diese Regelungen mit dem Argument abgelehnt, dass eine Deckelung der Finanzierung von patentgeschützten Medikamenten den Forschungsstandard massiv gefährden werde. ({1}) - Da hat er leider nicht Recht. Es geht nicht um eine Deckelung der Finanzierung aller patentgeschützten Medikamente, sondern nur um die Deckelung der Finanzierung der so genannten Analogpräparate. ({2}) Das sind Medikamente, die gegenüber bereits existierenden Medikamenten überhaupt keinen Zusatznutzen aufweisen. ({3}) Denn häufig werden nur bestimmte Molekülstrukturen geringfügig manipuliert - wahrscheinlich weiß das nicht jeder -, um dies patentieren zu lassen und das Patent für viel Geld verkaufen zu können. Es handelt sich sehr wohl um Scheininnovationen. Echte therapeutische Innovationen werden dagegen auch zukünftig nicht von der Festbetragsregelung erfasst. ({4}) Eine Schädigung des Forschungsstandorts Deutschland wollen auch wir von der Koalition nicht. Wir wollen aber, dass Forschung, die von den Versicherten über hohe Beitragssätze bezahlt werden muss, den Versicherten auch zusätzlichen Nutzen stiftet. Bei Scheininnovationen ist dies nicht der Fall. Sie nutzen lediglich der Pharmaindustrie, die auf diese Weise ihre Profite auf Kosten der Versicherten erhöht. Deshalb sagen wir zwar Ja zu innovativer Forschung, aber Nein zu nutzlosen Scheininnovationen auf Kosten der Versicherten. ({5}) Jetzt komme ich zu dem zweiten Punkt, zu dem Sie Nein sagten: Fristverlängerung für die DRG-Einführung. Ein Argument von Roland Koch hierfür im Bundesrat lautete, die Fristverlängerung sei nicht fair. Eine Begründung, warum dies der Fall sei, gab er nicht. Das ist auch kein Wunder, weil es nämlich keine gibt. Außerdem behauptete er, dass die Regelung zu einer Nachmeldung von Krankenhäusern führen würde, die für die DRG-Einführung noch nicht bereit seien. Auch hier stelle ich klar: Herr Koch liegt völlig falsch, wenn er die Fristverlängerung als unfair hinstellt. Das Gegenteil ist nämlich der Fall. Es wäre unfair gewesen, wenn wir die Frist nicht verlängert hätten. Die ursprüngliche Frist endete nämlich am 31. Oktober, also bevor die Regelungen des Beitragssatzsicherungsgesetzes bekannt wurden. Viele Kliniken hatten sich, obwohl sie dazu in der Lage gewesen wären, nicht angemeldet, da sie keinen unmittelbaren Anlass gesehen hatten. ({6}) Es war nämlich geplant, es 2003 nur freiwillig, ohne Vergünstigungen zu gewähren, einzuführen. Durch das Beitragssatzsicherungsgesetz wurde ein neuer Sachverhalt geschaffen, die Frist war aber bereits verstrichen. Deshalb war und ist eine Fristverlängerung gerade aus Fairnessgründen zwingend notwendig. Die Behauptung von Herrn Koch, nachmeldende Kliniken seien für die DRG-Einführung noch gar nicht bereit, beinhaltet eine Unterstellung, die durch nichts belegt ist. Wäre es den Kliniken möglich, völlig unvorbereitet diese Ausnahmeregelung in Anspruch zu nehmen, dann hätten sich doch alle deutschen Krankenhäuser gemeldet. Sie sagten vorhin, es hätten sich bis Oktober 50 angemeldet. Es waren aber 500. Die eine Null hätte ich da gerne noch angefügt. 800 Kliniken haben nachgemeldet, das heißt also, von 2 000 Krankenhäusern werden jetzt 1 300 an dieser wirklich innovativen und reformorientierten Umstellung teilnehmen. Das belegt, dass die Kliniken sehr wohl sorgfältig abgewägt haben, ob sie die DRG-Einführung 2003 bewältigen können oder nicht. ({7}) Bei den Verhandlungen über das Beitragssatzsicherungsgesetz war es ein wichtiges Ziel für uns, dass der von Rot-Grün auf den Weg gebrachte Strukturwandel im Krankenhausbereich nicht verhindert wird. Die Blockadehaltung der schwarz-gelben Mehrheit im Bundesrat be1524 wirkt genau das Gegenteil: Der für unser Gesundheitswesen so wichtige Strukturwandel im Krankenhausbereich wird blockiert, weil die Krankenhäuser nicht wissen, ob und wann ihnen die CDU/CSU-regierten Länder endlich die Möglichkeit eröffnen, die Ausnahmeregelung in Anspruch zu nehmen. Hier zeigt sich im Übrigen die ganze Schizophrenie der kochschen Argumentation: Einerseits wettert er gegen die Nullrunde, andererseits verhindert er aber, dass reformorientierte Krankenhäuser davon ausgenommen werden. Bezüglich des Einfrierens der Verwaltungskosten auf dem Stand von 2002 hat Herr Koch dagegen signalisiert, dass man über die Deckelung der Verwaltungskosten der Krankenkassen reden könne. Anscheinend sieht er durchaus Sinn in einer solchen Regelung. Zumindest hier scheint sich eine Einigkeit zwischen Bundestagsmehrheit und Bundesratsmehrheit abzuzeichnen. Bezüglich der zwei strittigen Punkte möchte ich aber noch einmal sagen: Hierbei handelt es sich um sinnvolle und zielführende Maßnahmen. Meine Befürchtung ist, dass Herr Koch und seine Konsorten dies genau wissen, aber diese aus wahlkampftaktischen Gründen weiterhin blockieren werden. ({8}) Mein Wunsch für die anstehenden Verhandlungen im Vermittlungsausschuss lautet deshalb: Möge die Vernunft über Ihr wahlkampftaktisches Kalkül siegen. Danke. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Dieter Thomae, FDP-Fraktion.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die rotgrüne Koalition befindet sich in einem großen Dilemma. Das stellt sie gegenwärtig fest; ({0}) denn sie versucht zum zweiten Mal, diesen Gesetzentwurf in den Vermittlungsausschuss einzubringen. Es war sicherlich ein großer Fehler von Ihnen, Ihre Vorhaben auf einen zustimmungsfreien und einen zustimmungspflichtigen Gesetzentwurf aufzuteilen, denn jetzt müssen Sie schauen, wie Sie vorankommen. Ich möchte Ihnen ehrlicherweise auch sehr deutlich sagen: Ich bin froh, dass Baden-Württemberg auf Initiative der FDP das Bundesverfassungsgericht angerufen hat, um prüfen zu lassen, ob der zustimmungsfreie Teil des Gesetzes tatsächlich zustimmungsfrei ist. ({1}) Wir sind der Auffassung, dass auch dieser zustimmungspflichtig ist. Dann werden wir sehen, was Sie dort fabriziert haben. ({2}) - Ich weiß besser Bescheid als Sie; da können Sie sicher sein. ({3}) In der Tat ist das eine schwierige Situation für die Krankenhäuser. Ich bin der Meinung, dass das DRG-System eingeführt werden muss, denn das benötigen wir für wettbewerbliche Strukturen im Krankenhaus. ({4}) Wir müssen dafür sorgen, dass mehr Krankenhäuser als diejenigen, die sich bisher dafür entschieden haben, diese Möglichkeit in Anspruch nehmen können. Sie sehen: Wir wollen ein Vermittlungsverfahren. ({5}) Der zweite wichtige Punkt. Sie wollen die Verwaltungskosten dämpfen. Sie dürfen aber nicht vergessen, dass Sie den Krankenkassen in den letzten vier Jahren so viel Bürokratie aufgeladen haben, dass man sich nicht wundern muss, wenn die Verwaltungskosten ansteigen. Es wäre besser, Sie würden die bürokratischen Regelungen abbauen. Dann hätten die Krankenkassen im Verwaltungsbereich sicherlich viel mehr Spielraum und könnten auf diese Weise Kosten sparen. ({6}) Diese Vielzahl von bürokratischen Regelungen war Ihr entscheidender Fehler bei der Reform. Sie wissen doch, ({7}) wie viel Stellen in den letzten Jahren bei den Krankenkassen zusätzlich geschaffen worden sind: mehr als 3 000 Stellen. Das bedeutet immense Personalkosten. Dafür haben Sie 15 000 Pflegekräfte abgebaut. Das muss einmal deutlich gesagt werden. ({8}) Das ist Ihr Fehler. Mit dieser Begrenzung, Budgetierung und Nullrunde werden Sie auf Dauer keine Gesundheitspolitik machen können. Das sind Instrumente aus der Mottenkiste; das ist Planwirtschaft bis zur höchsten Kompetenz. Hinzu kommt Ihre Vorstellung, Sie könnten bei den Me-too-Präparaten unterscheiden, welche Präparate auf Dauer innovationsfähig sind. Wir haben aus der Praxis viele Beispiele dafür, dass Präparate, die auf den Markt gekommen sind, zunächst nicht den großen Durchbruch erlebten und erst später festgestellt wurde, dass diese Arzneimittel für schwierige Indikationen eingesetzt werden können. Ich weiß nicht, woher Sie den Mut nehmen, zu entscheiden, was Me-too-Präparate sind und was nicht. ({9}) - Halten Sie doch den Mund! - Das sollten Sie den Fachleuten vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte bei der Zulassung überlassen; denn die sind in der Lage, zu entscheiden, welche innovativen Präparate auf den Markt gebracht werden sollen. ({10}) Dafür sollten nicht neue bürokratische Strukturen geschaffen werden. Mit dieser Konzeption werden Sie bei uns keine Zustimmung finden. Dennoch sind wir der Meinung: Der Vermittlungsausschuss soll noch einmal versuchen, gerade im Krankenhausbereich einen Kompromiss zu erzielen. Dazu sind wir als Liberale bereit. Ich hoffe, dass wir dann eine vernünftige Basis finden. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Anrufung des Vermittlungsausschusses zum Zwölften Gesetz zur Änderung des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches auf Drucksache 15/298. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt gegen diesen Antrag? - Enthaltungen? - Dann ist der Antrag mit den Stimmen der SPDFraktion, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der CDU/CSUFraktion angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Burchardt, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck ({0}), Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN GATS-Verhandlungen - Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern - Drucksache 15/224 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Zeit von 45 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Ulla Burchardt, SPD-Fraktion.

Ulla Burchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000306, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Verhandlungen über die Weiterentwicklung des 1995 geschlossenen Abkommens über den internationalen Handel mit Dienstleistungen gewinnen an Dynamik und kommen in eine entscheidende Phase. Die Forderungen der anderen Mitgliedstaaten liegen vor. In den nächsten Tagen wird die Vorlage des Verhandlungsangebotes seitens der EU erwartet. Bis Ende März dieses Jahres soll die Abstimmung darüber erfolgt sein. Zu den zwölf Dienstleistungssektoren, über die verhandelt wird, gehören auch kulturelle und audiovisuelle sowie Bildungsdienstleistungen. Grundsätzlich - lassen Sie mich das sagen - ist für uns die Ausweitung des Handels mit Dienstleistungen eine große Chance für die export- und dienstleistungsstarke deutsche Wirtschaft. Doch geht es bei Bildung und Kultur um etwas grundsätzlich anderes als zum Beispiel bei Telekommunikations- und Transportdienstleistungen. ({0}) Schon vor Monaten haben alle relevanten Institutionen und Verbände, die Hochschulrektorenkonferenz, die Bund-Länder-Kommission und - das muss man sagen als Erste die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, ({1}) über Implikationen beraten, Forderungen formuliert und Positionen beschlossen. Angesichts des vorliegenden Zeitplans halten wir es für überfällig, dass sich auch der Deutsche Bundestag positioniert. ({2}) Wir wollen mit unserem Antrag der Bundesregierung einen klaren Verhandlungsauftrag für die Formulierung der gemeinsamen Position der EU geben. Alle Bildungsexperten, und zwar ausnahmslos, äußern die Sorge, dass weitere Liberalisierungszugeständnisse im Ergebnis zu einer Kommerzialisierung des Bildungssektors, einer Erosion des öffentlichen Bildungswesens und der staatlichen Verantwortung - sprich: der von Bund und Ländern - und somit zu Qualitätsdumping führen könnten. Die SPD-Bundestagsfraktion - ich kann sagen, auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung - teilt die Grundsatzposition von HRK, BLK und GEW. Diese sind erstens: Öffentlich verantwortete Bildung und somit auch Hochschulbildung sind kein gewöhnliches Handelsgut wie sonstige Waren oder Dienstleistungen. Bildungspolitik darf nicht dem Primat der Handelspolitik untergeordnet werden. ({3}) Zweitens. Die Gewährleistung von Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung und Wissen und die Sicherstellung hoher Qualitätsstandards im Bildungswesen gehören zum Kernbereich staatlicher Daseinsvorsorge. Qualitätssicherung darf sich dabei nicht allein auf die staatlichen Angebote beschränken, sondern muss alle in- und ausländischen privaten einbeziehen. Drittens. Es besteht kein Anlass, über die 1995 eingegangenen und im Vergleich zu anderen international im Bildungsbereich aktiven Staaten wie den USA, Australien oder Japan relativ weitgehenden Verpflichtungen hinauszugehen. Sind die vielfach geäußerten Befürchtungen und Sorgen gerechtfertigt? Angesichts der teilweise diffusen Vorbehalte gegenüber internationalen Institutionen und Abkommen, insbesondere wenn es um Handelsfragen geht, ist es für mich wichtig, Folgendes klarzustellen. Das GATS lässt den einzelnen Mitgliedstaaten erhebliche Freiheiten bei der Übernahme von Verpflichtungen zur Marktöffnung. Jeder Staat entscheidet selbst, welche bilateral für welche Dienstleistungssektoren übernommen werden. Es liegt also allein in der Hand der WTO-Mitglieder, welche Zugeständnisse gemacht und welche konkreten Verpflichtungen übernommen werden. Ich hatte im Dezember des letzten Jahres die Gelegenheit genutzt, mich in Genf bei der WTO mit dem Generaldirektor Dr. Supachai und den Mitarbeitern des Sekretariats, insbesondere mit denen, die den Bereich Bildung betreuen, über den Sachstand, über Hintergründe und über Abläufe zu informieren. Ich habe von dort den Eindruck mitgenommen, dass in Genf nicht erwartet wird, dass vonseiten anderer Staaten, zum Beispiel von den USA, erheblicher Druck ausgeübt wird, den Bildungsbereich weiter zu liberalisieren; denn gerade die USA müssten im Gegenzug ihren Bildungsmarkt sehr viel weiter öffnen. Man hat in Genf den Eindruck, dass die USA gerade daran kein Interesse haben. Aber ich habe von dort auch eine bemerkenswerte Erkenntnis mitgebracht. Die WTO hat nämlich die Erfahrung gemacht, dass seitens der Europäischen Union, wenn es um die Verhandlungsführerschaft durch die Handelspolitik geht, diese Kompetenz genutzt wird, um auf und in andere Fachbereiche - sprich: Fachpolitiken - Zugriff zu haben. Das macht hellhörig und vor diesem Hintergrund scheinen Sorgen nicht ganz unberechtigt zu sein. Die Erfahrungen vergangener Verhandlungsrunden zeigen, dass in wichtigen Streitfällen zwischen den Handelspartnern Vereinbarungen erst in letzter Minute erzielt wurden, und zwar als Paketlösungen. Bildungsdienstleistungen könnten so - das ist zumindest theoretisch denkbar - als Tauschobjekt einbezogen werden für Zugeständnisse seitens der EU, die in anderen Bereichen nicht gemacht werden, also verweigert werden. Vor diesem Hintergrund fordern wir die Bundesregierung auf, gegenüber der EU bei der Formulierung von Angeboten sicherzustellen, dass der bestehende Regulierungsvorbehalt und damit die öffentliche Aufsicht über das Bildungswesen inklusive aller Fragen, die die Qualitätssicherung betreffen, beibehalten wird. Wir fordern sie auf, auch den Subventionsvorbehalt beizubehalten, damit die staatliche Finanzierung von Bildungseinrichtungen keine Rechtsansprüche für ausländische Bildungsanbieter auslöst. ({4}) Wir sind allerdings der Auffassung, dass die Verhandlungen zu einer Klarstellung des Begriffs der Governmental Services genutzt werden sollten, der hoheitlich erbrachten Dienstleistungen, die von den Bestimmungen des GATS ausgenommen sind. Wir fordern Klarstellungen dahin gehend, dass sich der Begriff des Wettbewerbs in Art. I des Abkommens allein auf den Wettbewerb zwischen überwiegend privat finanzierten Anbietern bezieht. Was den Bereich der audiovisuellen und kulturellen Dienstleistungen angeht sind wir der Auffassung, dass auf Liberalisierungsforderungen gegenüber Drittstaaten verzichtet werden sollte. Dies alles schließt im Übrigen den internationalen Austausch und Wettbewerb im Bildungsbereich überhaupt nicht aus. Ich sage ganz deutlich: Der ist uns wichtig. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat auch in dieser Beziehung vieles auf den Weg gebracht. Aus Zeitgründen ist es nicht möglich, auf Einzelheiten einzugehen. Alle, die es interessiert, verweise ich auf die sehr aufschlussreiche Dokumentation „Bildung und Forschung weltoffen“, die seit dem Sommer letzten Jahres vorliegt und allgemein zugänglich ist. ({5}) Schließlich ist unsere Forderung nach regelmäßiger und detaillierter Einbeziehung der Fachausschüsse bzw. der Berichterstatter so selbstverständlich, wie sie überfällig war. Mit der Einladung der Fachberichterstatter zu einem Gespräch am Montag hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit den Ball aufgegriffen. Das halte ich für einen guten Anfang, der allerdings ausbaufähig ist. Wir sollten das noch viel nachdrücklicher fordern. Wenn dort gesagt worden ist, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages seien mit Abstand die wichtigsten Gesprächspartner, dann gehe ich auch davon aus, dass die Abgeordneten in Zukunft eher und detaillierter über den Verhandlungsstand informiert werden als beispielsweise Nichtregierungsorganisationen, wie das leider in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Aber ich sehe uns insgesamt auf einem guten Wege. ({6}) Mit Freude habe ich in dem Gespräch am Montag gehört - einige Kollegen, die heute Abend anwesend sind, waren dabei -, dass im Bereich Bildung die deutsche Position sattelfest vertreten wird und die Bundesregierung auf eine uneingeschränkte Beibehaltung der bisherigen Position hinarbeitet. ({7}) Unter dem Strich ist mein Eindruck, dass es hinsichtlich der stärkeren Parlamentsbeteiligung einen fraktionsübergreifenden Konsens gibt und dass es einen großen gesellschaftlichen Konsens gibt in Bezug auf den besonderen Ulla Burchard Ulla Burchard Charakter von Bildungs- und Kulturdienstleistungen. Deshalb werbe ich hoffentlich nicht vergebens, sondern mit großem Optimismus um die Zustimmung des gesamten Hauses zu unserem Antrag, auch um der deutschen Position international und innerhalb Europas den entsprechenden Nachdruck zu verleihen. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat der Kollege Thomas Rachel, CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! 1995 ist das so genannte GATS-Abkommen in Kraft getreten. Deutschland und die Europäische Union haben sich verpflichtet, weitere Liberalisierungen des Dienstleistungssektors voranzutreiben. Wir begrüßen diese Liberalisierung des Welthandels, der nun auch im Bereich des Handels mit Dienstleistungen konkrete Formen annimmt. Die Bildungsdienstleistungen sind in das GATS-Abkommen als einer von zwölf Dienstleistungssektoren einbezogen worden. Bildung und der Handel mit Bildung können ein bedeutsamer volkswirtschaftlicher Faktor sein. ({0}) Dies zeigen die Vereinigten Staaten von Amerika. Die USA erwirtschaften auf dem internationalen Bildungsmarkt pro Jahr einen Erlös von 12 bis 18 Milliarden USDollar und damit mehr als die ganze amerikanische Filmindustrie. Was hat uns der internationale Vergleich im Rahmen der PISA-Studie gelehrt? - Die Lehre von PISA ist, dass wir von anderen Ländern auch in der Schul- und Bildungspolitik lernen können. ({1}) Der rot-grüne Antrag zum Thema GATS-Verhandlungen offenbart dagegen in manchen Teilen Ängstlichkeit vor privater und ausländischer Konkurrenz. ({2}) Wir dagegen begrüßen die Liberalisierung im Dienstleistungsbereich. Sie trägt zu Wettbewerb zwischen den Bildungsanbietern und damit zu mehr Leistungsorientierung und Qualitätssteigerung bei. ({3}) Allerdings gilt es, bei den konkreten GATS-Verhandlungen einige Aspekte zu berücksichtigen. Bildung ist in seinem Grundangebot in Deutschland ein öffentliches Gut. Die Struktur des öffentlich finanzierten Bildungssystems in Deutschland darf deshalb nicht generell zur Disposition gestellt werden. ({4}) Aber ergänzende private ausländische Bildungsangebote sollten sehr wohl möglich sein, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllen, vor allem vom Staat überprüfte Qualitätsstandards. ({5}) Die Sicherstellung eines solchen Qualitätsstandards bei in- und ausländischen Anbietern im Bildungswesen gehört zum Kernbereich der staatlichen Daseinsvorsorge, übrigens auch in der globalisierten Wissensgesellschaft. ({6}) Wir als Unionsfraktion unterstützen die Stellungnahme, die der Ausschuss für Bildungsplanung der BLK als gemeinsame Position von Bund und Ländern erarbeitet hat. Folgende Gesichtspunkte müssen berücksichtigt werden: Erstens. Die von den Ländern und dem Bund in Deutschland wahrgenommene öffentliche Aufsicht über das Bildungswesen muss erhalten bleiben. Zweitens. Die Setzung und Sicherung von Qualitätsstandards sowie die Akkreditierung und die Anerkennung von Hochschulabschlüssen müssen weiterhin in der Regelungsbefugnis des Staates bleiben. Drittens. Die Gleichbehandlung ausländischer Anbieter darf nicht zu weit gehen. Die Regeln zur Inländerbehandlung gemäß Art. XII des GATS-Vertrages dürfen keineswegs so ausgelegt werden, dass eine generelle Verpflichtung zur staatlichen Subventionierung auch privater Anbieter entsteht. Anders formuliert: Die staatliche Finanzierung von Bildungseinrichtungen in Deutschland darf keine Subventionsansprüche ausländischer privater Bildungsanbieter auslösen. ({7}) - Auch dann sollen sie keine Subventionen bekommen. Sie sollen sich auf dem privaten Markt selber beweisen. Viertens. Die rot-grüne Koalition fordert in ihrem Antrag, „dass Deutschland und die EU ... keine weiteren Liberalisierungsverpflichtungen für den Bereich der Bildungsdienstleistungen übernehmen, die über die bereits bei Aushandlung des GATS-Abkommens 1994 eingegangenen Verpflichtungen hinausreichen“. Diese Auffassung teilt die Unionsfraktion nicht. Der Antrag zeigt, dass die rot-grünen Koalitionsfraktionen die GATS-Liberalisierungsverhandlungen mit angezogener Handbremse führen wollen. ({8}) Wir Christdemokraten sind nicht grundsätzlich gegen eine weitere Liberalisierung. Wir machen sie allerdings von Bedingungen abhängig. So reichen die bisherigen Verpflichtungen der EU und ihrer Mitglieder erheblich weiter als die anderer Mitgliedstaaten der WTO, insbesondere die der USA und Australiens. Deshalb ist es nach Meinung der CDU/CSU-Fraktion wichtig, dass vor weiteren Liberalisierungszugeständnis1528 sen der europäischen Seite eine Angleichung im Verpflichtungsniveau der wichtigsten Verhandlungspartner angestrebt wird. Wir befürworten die weitere Liberalisierung; sie muss aber auf Gegenseitigkeit beruhen. ({9}) Eine Liberalisierung und Öffnung des deutschen Bildungsmarktes, ohne dass umgekehrt die anderen Länder ihren Bildungsmarkt gleichzeitig, in gleicher Weise und in gleicher Intensität öffnen, kann es mit uns nicht geben. ({10}) Die GATS-Verhandlungen sind eine vernünftige Sache. Dass Griechenland die griechische Staatsangehörigkeit als Erfordernis für Lehrer postuliert, ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Das Erfordernis der dänischen Staatsangehörigkeit für Professoren in Dänemark ist ein Anachronismus. ({11}) Das passt nicht in eine internationale Wissensgesellschaft. Abschließend nenne ich ein anderes Beispiel: In Frankreich ist die Gründung von Privatschulen grundsätzlich französischen Staatsbürgern vorbehalten. Diese alten Zöpfe gehören abgeschnitten. Sie passen nicht in das 21. Jahrhundert. Dies wollen wir ändern. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile der Kollegin Grietje Bettin, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Globalisierung der Weltwirtschaft und die weltweit zunehmende Privatisierung von Dienstleistungen führen dazu, dass wir uns mit völlig neuen Fragestellungen internationaler Bildungspolitik beschäftigen müssen. So lautet zum Beispiel eine Frage, die im Hinblick auf die Verteilung von Wissen beantwortet werden muss: Wem gehört das Wissen? Eine weitere, gerade hinsichtlich der zunehmenden Kommerzialisierung des Bildungssektors zentrale Fragestellung lautet: Wem gehört die Bildung? Mit In-Kraft-Treten des so genannten GATS-Abkommens im Jahre 1995 hat die EU weitreichende Verpflichtungen zur Liberalisierung des Dienstleistungssektors übernommen. Seit Anfang 2000 wird nun im Rahmen der WTO über eine Weiterentwicklung des GATS verhandelt. Ziel der Beratungen ist es, ein höheres Liberalisierungsniveau aller WTO-Mitglieder beim Welthandel mit Dienstleistungen zu erreichen. Diese Verhandlungen erstrecken sich, wie von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern bereits dargelegt, auf alle von GATS erfassten Dienstleistungssektoren. Darunter fallen natürlich auch die weltweiten Bildungsdienstleistungen. Im Mittelpunkt dieser Verhandlungen stehen Forderungen, die die staatlichen Subventionen zur Unterstützung öffentlicher und privater Bildungsträger infrage stellen. Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger sind mit der berechtigten Sorge an uns herangetreten, die Verhandlungen könnten im Endergebnis zu einer umfassenden Kommerzialisierung des Bildungssektors führen. Ebenso wird befürchtet, dass es zu einer Aushöhlung des öffentlichen Bildungswesens und der staatlichen Aufsicht über das Bildungswesen kommt. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Entwicklung darf nicht eintreten. Die Rolle des Staates als Wächter über die Chancengleichheit und die Qualität im Bildungswesen darf zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt werden. ({1}) Die Herstellung von Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung und Wissen und die Sicherstellung eines hohen Qualitätsstandards im Bildungswesen gehören zum Kernbereich staatlicher Aufgaben. Dies gilt auch und gerade in einer globalisierten Wissensgesellschaft. Qualitätssicherung darf sich dabei nicht allein auf die staatlichen Angebote beschränken, sondern muss auch alle inund ausländischen privaten Angebote einbeziehen. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich die Bemühungen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, bildungspolitischen Interessen und Standpunkten in den GATS-Verhandlungen den notwendigen Stellenwert zu geben. ({2}) Aber wir wissen auch: Die Bundesregierung ist kein direkter Verhandlungspartner. Sie kann ihren Einfluss nur mittelbar geltend machen. Verhandlungspartner ist die EU insgesamt. ({3}) Umso wichtiger ist es, die deutschen Interessen zu bündeln. Um der Sache willen sollten wir dabei alle an einem Strang ziehen. Es gibt immer noch Politikerinnen und Politiker, die ernsthaft glauben, Bildung stehe jenseits wirtschaftlicher Einflussnahme und nur im Dienste der Bevölkerung. Dabei tobt in der Bildungspolitik schon seit geraumer Zeit ein heftiges weltweites Ringen nicht etwa um Inhalte oder Didaktik, sondern um Marktanteile der weltweiten Bildungsdienstleister. Unsere Verhandlungspartner jenseits des Atlantiks haben es bereits deutlich formuliert. Die amerikanischen Bildungskonzerne erhoffen sich beispielsweise die Aufnahme einer neuen Kategorie namens Training in die Liste der frei handelbaren Bildungsangebote. Gemeint ist damit nichts anderes als der lukrative Markt der unternehmensbezogenen Weiterbildungen. Bildung wird zum weltweiten Exportschlager. Schon jetzt nimmt der amerikanische Bildungssektor mit rund 10 Milliarden Dollar den fünften Rang in der US-Exportwirtschaft ein. Aber auch wir wollen keinen abgeschotteten Bildungsmarkt und sehen durchaus die positiven Effekte einer Internationalisierung von Bildung ({4}) wie zum Beispiel die Öffnung der Bildungseinrichtungen für ausländische Studierende und die Erschließung neuer Märkte und neuer Kooperationschancen für inländische Dienstleister. Dies darf allerdings nicht dazu führen, dass ein globaler Bildungsmarkt entsteht, der sich nur noch über die Profitmaximierung definiert. Eine Privatisierung des Bildungswesens durch immer mehr Gebühren und einen damit verbundenen Rückzug aus der öffentlichen Verantwortung wird es unter Rot-Grün nicht geben. Grundsätzlich teilen wir Grünen die Bedenken der Globalisierungskritikerinnen und -kritiker. Die Verhandlungen werden bis jetzt viel zu wenig transparent geführt. Weder das Parlament noch die betroffene Öffentlichkeit wurden ausreichend informiert. Dies muss sich schnellstens ändern. Unsere Forderungen sind daher eindeutig: Im Rahmen der nächsten Freihandelsrunde darf Bildung nicht unter „ferner liefen“ verhandelt werden. Bildung ist nun einmal keine Ware wie jede andere, sondern muss gesondert verund auch behandelt werden. Wir setzen zur Verbesserung des Gesamtangebots auf dem Bildungssektor auch auf neue internationale Angebote und Ansätze. Deshalb treten wir grundsätzlich für die Öffnung des Bildungssektors für private Anbieter ein, um zusätzliche Innovationen im deutschen Bildungssystem zu ermöglichen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen ein qualitativ hochwertiges Bildungssystem erreichen, zu dem alle Bürgerinnen und Bürger gleichen Zugang erhalten, unabhängig von ihrer sozialen, kulturellen oder geschlechtlichen Zugehörigkeit. Dafür brauchen wir eine international offene und vielfältige Bildungslandschaft genauso wie eine staatliche Qualitätskontrolle. Staat und Politik setzen die Ziele und garantieren die Qualität. Den Weg und die Umsetzung bestimmen die Einrichtungen und Anbieter selbst. Zusammenfassend muss für GATS gelten, was wir auch für das deutsche Bildungssystem insgesamt wollen: die Freiheit der Bildungswege bei staatlicher Qualitätsgarantie und die Festlegung von Bildungszielen durch politische Beteiligung der Öffentlichkeit. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu Unrecht hat das Thema „GATS plus Bildung“ bislang kaum öffentliche Beachtung gefunden. Dabei ist der Bildungsmarkt, wie dies Herr Rachel eben so plastisch dargestellt hat, im Augenblick einer der am schnellsten wachsenden Märkte. Es geht darum, wie ausländische Bildungsanbieter zukünftig in Deutschland auftreten können, aber auch darum, wie wir in Zukunft auf ausländischen Märkten präsent sein werden. Frau Burchardt, Ihr Antrag fokussiert vor allen Dingen auf den ersten Bereich. Mir fehlen - das sage ich für die Liberalen ganz klar - Aussagen dazu, wie wir die Möglichkeiten, für unsere Bildungsträger Zugang zu Märkten zu bekommen, nutzen wollen. Mir fehlen Aussagen darüber, was Liberalisierung für die Verbesserung der Qualität von Bildung in Deutschland bedeutet. ({0}) Warum sollten wir zum Beispiel nicht bereit sein, den Bereich Testing in den internationalen Wettbewerb zu stellen? Warum soll nicht ein ausländischer Anbieter die Überprüfung der Qualität deutscher Bildungseinrichtungen übernehmen, wenn er sich an staatliche Qualitätsvorgaben hält? ({1}) Wer das Protokoll der Expertenanhörung vom 24. Januar 2002 liest, der findet darin den bezeichnenden Satz des BMBF-Vertreters, dass Deutschland im Rahmen des WTO-Prozesses die Chance verpasst habe, Forderungen für den Bildungsbereich zu benennen. Warum? - Ich zitiere aus dem Protokoll: Weil wir eine mangelnde Koordination zwischen der federführenden Wirtschaftsseite und der für Bildungswesen zuständigen Seite hatten. Meine Damen und Herren, dies prägt dieses Thema, dies prägt „GATS plus Bildung“: kleinliche Rivalitäten zwischen den Ministerien und - ganz offensichtlich damit verbunden - öffentliche Missachtung. Ich weiß, dass es im Rahmen der BLK eine Verständigung gegeben hat und dass viele Punkte daraus in Ihren Antrag eingeflossen sind. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen atmet der Antrag deutliche Angst und nicht Zuversicht. ({2}) Die FDP sagt nicht: Liberalisierung auf Teufel komm raus. Den Gefallen tun wir Ihnen nicht. Vielmehr muss das Niveau der Marktöffnung - da stimme ich Ihnen zu, Herr Rachel - gleichmäßig ansteigen. Die EU ist hier weiter als andere Regionen. Wir sagen aber auch: Wir wollen keinen Closedshop. ({3}) Dies sagen wir auch vor den Vertretern der entsprechenden Organisationen. Unsere oberste Priorität ist eben nicht die Bestandsgarantie für die heutigen Strukturen. Unser Maßstab ist Qualitätsverbesserung, nicht Artenschutz. ({4}) Gerade vor dem Hintergrund der Diskussionen gestern im Ausschuss möchte ich Sie fragen: Wie setzen Sie sich denn im Augenblick hinsichtlich der Ausgaben für Bildung in diesem Lande durch? Was für Prügel bekommen Sie denn von den eigenen Leuten? Gerade vor diesem Hintergrund müssen wir aufpassen, dass wir unseren Markt durch ausländische Konkurrenz verbessern, und dürfen keine Angst haben. ({5}) Dennoch sind wir uns der wichtigen Fragen durchaus bewusst: Können wir bei einer weiteren Marktöffnung wichtige Initiativen, wie zum Beispiel GATE, weiter staatlich finanzieren? Wir müssen bei GATS den Grundsatz beachten: Was wir von den anderen fordern, müssen wir natürlich auch uns selbst abverlangen. Wenn wir staatliche Subventionen vornehmen, können wir sie anderen auf unserem Markt nicht verbieten - das ist uns klar. ({6}) Nur ein Beispiel: Wir müssen Klarheit darüber haben, wie es mit der Hochschulbauförderung für ausländische Anbieter aussieht, die sich in Deutschland niederlassen. ({7}) Meine Damen und Herren, ich habe Verständnis dafür, dass diejenigen, mit denen Sie sich offensichtlich intensiv unterhalten haben, Angst haben, dass der staatliche Kuchen eben auch unter anderen Mitessern aufgeteilt wird, ({8}) zumal die Kuchenstücke zurzeit nicht größer werden. Aber das ist eben nicht die einhellige Meinung. So spricht sich zum Beispiel der Generalsekretär des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft durchaus dafür aus, auch ausländischen Hochschulen im Wettbewerb um staatliche Fördermittel eine Chance zu geben. Das soll allerdings unter drei Bedingungen geschehen: Studiengänge müssen akkreditiert sein, die Hochschule muss nach § 70 HRG anerkannt sein und es muss eine Evaluierung der Qualität, zum Beispiel durch den Wissenschaftsrat, stattfinden. Wenn diese Bedingungen erfüllt werden, warum sollten wir dann Angst haben? Wir sind für den internationalen Wettbewerb bisher unzureichend gerüstet, das stimmt. Das liegt aber nicht an der Opposition in diesem Hause, ({9}) sondern das liegt an Ihnen, die Sie gerade in der Vergangenheit nicht dafür gesorgt haben, das wir für Wettbewerb offen sind. Wo ist denn das Verbot von Studiengebühren? Mit den jetzigen Bedingungen machen Sie es unseren Universitäten natürlich schwer. ({10}) Wo sind denn die Möglichkeiten, Studenten auszusuchen? Diese Möglichkeiten haben wir zurzeit nicht. Die Regierung hat die Universitäten hier entsprechend beschränkt und dafür gesorgt, dass wir international nicht wettbewerbsfähig sind. ({11}) Wir können aber den deutschen Bildungsmarkt nicht abschotten. Bei dieser Gelegenheit möchte ich doch einmal sagen: Gerade weil wir Schwierigkeiten bezüglich des Etats haben, können wir das nicht tun. Zusätzliche Anbieter werden Kapital, Qualität und Wettbewerbsdruck in unseren geschlossenen Markt bringen. Die FDP steht dafür. Frau Burchardt, die FDP wird im Ausschuss einen Antrag einbringen, damit Sie sich mit unseren Forderungen im Detail auseinander setzen können. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marion Seib.

Marion Seib (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003011, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch die heutige Aussprache wird deutlich: Die Fragen der Bildungspolitik haben nichts von ihrer Brisanz verloren. Letzes Jahr hielten uns die Ergebnisse der PISA-Studie in Atem. 2003 wird die Nachfolgekonferenz des Bologna-Prozesses hier in Berlin stattfinden und sicherlich zu einer weiteren kontroversen Debatte führen. In diesem Zusammenhang ist es natürlich gut, dass wir schon zu Beginn des Jahres über den Antrag der SPD und der Grünen zu den GATS-Verhandlungen diskutieren. Verehrte Kollegen, um es vorwegzunehmen: In der Grundaussage stimme ich dem Antrag in weiten Teilen zu. Bewährte Strukturen der öffentlichen Bildungs- und Kulturförderung in Deutschland sollten eben nicht durch GATS infrage gestellt werden. Ich denke aber, wir dürfen es uns nicht zu einfach machen. In Deutschland ist es Mode geworden, sich gegen die Globalisierung in toto zu wenden. Man hört immer die gleichen Schlagworte: gegen Kommerzialisierung; kontra Neoliberalisierung. Aus der Globalisierung heraus ergeben sich zweifelsohne Risiken, die beachtet werden müssen. Auch für die Bildungs- und Kultureinrichtungen können sich aus den geplanten GATS-Vereinbarungen zahlreiche Gefahren ergeben. Die meisten Szenarien sind in Ihrem Antrag - wie ich finde zu Recht - bereits angesprochen worden. Auch wir wollen nicht - lassen Sie mich das übertrieben darstellen -, dass ein US-amerikanischer Testing Service über ein Kontingent an Hochschulplätzen in Deutschland verfügen kann oder dass ein australischer Bildungskonzern hier ein mit Steuermitteln bezuschusstes Privatgymnasium betreibt, das mit ausländischem Lehrmaterial arbeitet und zu einer Studienberechtigung an deutschen Universitäten führen kann. Auch wenn diese Beispiele sicherlich spekulativ sind: Wir Christlich-Sozialen sorgen uns um die kulturelle Vielfalt und ihre Bewahrung. Die Subventionierung ausländischer Bildungsanbieter oder der Wegfall der staatlichen Aufsicht über das Bildungssystem wäre in der Tat eine gefährliche Entwicklung, die dem föderalen Bildungssystem in Deutschland schweren Schaden zufügen könnte. ({0}) Doch trotz aller Risiken dürfen wir uns nicht dazu verleiten lassen, alle Entwicklungen der GATS-Runde im Bereich der Bildung zu blockieren. Hinter GATS verbergen sich für die Bildungseinrichtungen nämlich nicht nur Risiken, sondern auch erhebliche Chancen im In- und Ausland. Gerade in den letzten Jahren haben mehrere deutsche Universitäten den Schritt ins Ausland gewagt und haben dort alleine oder mit Kooperationspartnern neue Hochschuleinrichtungen gegründet. In Bayern haben alleine die Schulen 60 000 internationale Kontakte gepflegt. 15 000 Kooperationsvereinbarungen zwischen deutschen Hochschulen und ausländischen Einrichtungen wurden abgeschlossen, so unter anderem das „German Institute of Science and Technology“ der TU München in Singapur. ({1}) Die Fakultät für Chemie der TU München bietet dort den Studiengang „Industrial Chemistry“ an. In einem staatlichen Programm wurde die TU München neben weiteren zehn Top-Universitäten der Welt ausgewählt. Ich bin zuversichtlich, dass diese Entwicklung in den nächsten Jahren anhalten und sich noch verstärken wird. ({2}) Durch den Bologna-Prozess entsteht ein europäischer Hochschulraum, der sich vor der Konkurrenz in den Vereinigten Staaten, in Australien oder in Neuseeland nicht zu verstecken braucht. In der Zukunft wird es zudem durch die Zunahme der weltweiten elektronischen Vernetzung ein verstärktes Angebot an virtuellen Ausbildungsmöglichkeiten geben. Deutsche Hochschulen können sich mit eigenen Angeboten dem internationalen Wettbewerb erfolgreich stellen. Das müssen wir sehen. ({3}) Die EU-Länder haben bereits große Vorleistungen erbracht, andere Länder müssen mit weiteren Verpflichtungen erst noch nachziehen. Grundkonsens muss sein, dass Bildung und Kultur zu den Kernaufgaben einer demokratischen Gesellschaft zählen. Sie dürfen nicht einfach kommerziellen Gesichtspunkten untergeordnet werden. Ausländische Anbieter können die staatlichen Systeme ergänzen, dürfen diese aber nicht unterminieren. Unter diesem Blickwinkel müssen die GATS-Verhandlungen aufmerksam verfolgt und Verbesserungen angeregt werden. Ich möchte nun auf den Antrag direkt eingehen. In diesem Antrag hätten die Länder etwas mehr Aufmerksamkeit verdient. ({4}) Bildung ist und bleibt überwiegend Ländersache. ({5}) Nicht nur Frau Bulmahn, sondern auch die europäischen Regionalminister für Kultur und Bildung haben mit der Brixener Erklärung vom 18. Oktober 2002 europaweit auf die Risiken der geplanten GATS-Vereinbarungen hingewiesen. ({6}) In Ihrem Antrag ist weiter die Rede davon, dass die neuen GATS-Vereinbarungen im Ergebnis zu einer Aushöhlung des öffentlichen Bildungswesens führen würden. Mit Blick auf PISA und einige Bundesländer könnte man meinen, die Aushöhlung schreitet auch ohne GATS schnell voran. Hinsichtlich der audiovisuellen und kulturellen Dienstleistungen möchte ich darauf aufmerksam machen, dass gerade auch in Frankreich - wir haben heute Morgen zu diesem Punkt debattiert - die Diskussion darüber im Gange ist, wie den Besonderheiten der kulturellen Dienstleistungen in den jeweiligen Ländern bei den GATS-Verhandlungen am besten Rechnung getragen werden kann. Vielleicht ergibt sich ja für Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungsseite, in der nächsten Woche bei der Feier zum 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages die Möglichkeit des Gedankenaustausches hierüber mit den französischen Parlamentskollegen. ({7}) Es ist zu begrüßen, dass die einzelnen Bundestagsausschüsse umfassend informiert werden sollen. Denn in der Öffentlichkeit wird häufig die fehlende Transparenz beklagt. Sicherlich hängt das auch damit zusammen, dass die EU-Kommission für alle Mitglieder die Verhandlungen führt und die Positionen nur in einem gesonderten Ausschuss auf europäischer Ebene abgestimmt werden. Regelmäßige und umfassende Informationen der Ausschüsse und Absprachen mit den Ländern bieten Möglichkeiten, mit entsprechenden Anträgen in den Ausschüssen auf Fehlentwicklungen hinzuweisen. Damit könnte dem Unverständnis in der Öffentlichkeit entgegengewirkt werden. Wir können uns der Globalisierung unserer Welt nicht entziehen. Unsere Aufgabe ist es, unsere kulturellen und bildungspolitischen Besonderheiten in diese Entwicklung einzubringen und abzusichern. Lassen Sie uns diese Aufgabe gemeinsam gestalten. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sigrid Skarpelis-Sperk.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das allgemeine Handelsab1532 kommen GATS ist ohne Zweifel eine der wichtigsten internationalen Verpflichtungen, die die Europäische Union und damit auch die Bundesrepublik Deutschland eingegangen ist. Allgemeine Dienstleistungen, nicht Bildungsdienstleistungen, sind der weltweit dynamischste Bereich des Handels. Allein 1999 erwirtschaftete der Dienstleistungssektor 1,34 Billionen Dollar - mit steigender Tendenz und damit ein Fünftel des Welthandels. Dienstleistungen tragen in den großen Industrieländern mittlerweile 60 bis 70 Prozent zum jeweiligen Bruttosozialprodukt bei. 64 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind in diesem Bereich beschäftigt. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns bei internationalen Vereinbarungen über Dienstleistungen mit großer Sorgfalt mit diesem Bereich befassen und uns genau überlegen, welche Auswirkungen sie haben. ({0}) Dienstleistungen sind nicht nur im Rahmen der staatlichen Organisation und öffentlichen Daseinsvorsorge wichtig. Sie begleiten uns im wahrsten Sinne des Wortes von der Wiege bis zur Bahre. Sie sind unverzichtbar und der wichtigste und aussichtsreichste Wachstumsbereich. Für wen, in welchem Umfang, in welcher Qualität und zu welchem Preis sie zur Verfügung stehen, bestimmt in hohem Maße über Wohlstand und Lebensqualität, Leben und Gesundheit, aber auch über Chancengleichheit, sozialen Zusammenhalt und zu einem nicht geringen Teil, Frau Flach, über das, was wir als nationale Identität, aber auch als Heimat definieren. ({1}) Daher ist es unverständlich, wie wenig wir bisher in Deutschland und Europa in der Öffentlichkeit und im Parlament über das GATS diskutiert haben. Ist es uns wirklich gleichgültig, dass über eine Weiterentwicklung des GATS weitgehend hinter verschlossenen Türen der EU-Kommission und der Welthandelsorganisation verhandelt wird? ({2}) Herr Kollege Fritz, Sie erinnern sich: Sie haben das schöne Beispiel gebracht, dass die Angebote und Überlegungen der EU eher mit einem Krabbelsack zu vergleichen seien, dessen Inhalt man vorsichtig abtaste, um festzustellen, was wohl darin sei. Gegenüber einem Abkommen, das wir ratifizieren sollen, müssen wir uns wohl anders verhalten als gegenüber einem Krabbelsack; denn, Frau Kollegin Flach, es geht nicht nur um den öffentlichen Bereich, sondern auch um wirtschaftsnahe Dienstleistungen wie freie Berufe, Datenverarbeitung und Kommunikation, Post und Telekom, Werbung, Bau, Montageleistungen und vieles mehr. ({3}) Es geht aber auch um Bildung, um medizinische und soziale Dienstleistungen vom Krankenhaus bis zur Altenpflege, um Umweltdienste vom Wasser und Abwasser bis zur Müllabfuhr, um Erholung, Kultur und Sport. Dies war noch keine vollständige Aufzählung all dessen, was in diesem GATS in 16 Bereichen geklärt werden soll. ({4}) Nur die in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbrachten Dienstleistungen sind ausgenommen. Aber auch dies besagt nicht viel, weil dieser hoheitliche Bereich nicht genau definiert ist. Sie wissen, dass es Länder gibt, in denen selbst Gefängnisse und Sicherheitsdienstleistungen privat organisiert und nach Profitprinzipien geleitet werden. Deswegen geht es bei den Leistungen entscheidend darum, welche Leistungen künftig öffentlich erbracht werden bzw. öffentlich erbracht werden dürfen und nach welchen Kriterien - außer denen der Gewinnerzielung - dies geschieht. Gerade in der Daseinsvorsorge, die von unseren Städten und Gemeinden erbracht wird, sind folgende Fragen existenziell: Wie viel Gestaltungsspielraum wird die öffentliche Hand noch haben? Wie viele Zuschüsse sind noch erlaubt? Hat jeder private und ausländische Anbieter ebenso Anspruch auf öffentliche Subventionen wie gemeinnützige Organisationen? ({5}) Es geht nicht darum, dass diese Anbieter keinen Zutritt zum deutschen Markt bekommen. Das ist in dieser Debatte nicht der Punkt. Diesen Unternehmen geht es darum, dieselben Subventionen zu bekommen. Das heißt, sie sind Nachfrager um knappe öffentliche Ressourcen und Mittel. ({6}) Es geht beim GATS nicht nur um eine neue internationale Marktordnung für Dienstleistungen, nicht nur um eine neue Ordnung des globalen Arbeitsmarktes. Es wird eine neue globale und soziale Ordnung vorgezeichnet, die tief in die bisher vorhandenen politischen, sozialen und kulturellen Wertvorstellungen und Ordnungssysteme der meisten Nationalstaaten eingreift und ihre Handlungsspielräume für politische Gestaltung erheblich einschränken kann. Das ist für Parlamente wichtig. Schließen wir auch internationale Abkommen ab, die künftig die Entscheidungsspielräume der Parlamente dramatisch einengen, oder haben wir künftig noch Möglichkeiten, eine andere Generation nach neuen Erfahrungen etwas anderes entscheiden zu lassen? ({7}) Über diese tiefen Einschnitte und Strukturveränderungen soll es in unseren Ländern keine umfassende öffentliche Diskussion geben, geschweige denn einen auf Mehrheitsbeschlüssen fußenden Konsens in den demokratischen Gremien, im Europäischen Parlament und im Deutschen Bundestag. Dies ist eigentlich unerträglich. Die Kommission in Brüssel sollte zur Kenntnis nehmen, dass das am 12. November 2000 auf der Website der Generaldirektion Handel vorliegende Konsultationspapier - ich sage es einmal so - in seiner kryptischen Erhabenheit keine ausreichende Information von Öffentlichkeit und Parlament bietet. ({8}) Wir haben uns den Text gemeinsam mit Ihnen mehrfach durchgelesen und sind nicht darauf gekommen, was damit nun konkret gemeint ist. Wenn eine Reihe von klugen Abgeordneten des deutschen Volkes, die intensiv mit dieser Sache befasst sind und Mitglieder der EnqueteKommission oder Vorsitzende des Unterausschusses Globalisierung waren, nicht ersehen kann, welche Forderungen real gestellt werden, welche Auswirkungen das auf die einzelnen Sektoren hat, was das für die Staatshaushalte bedeutet, welche Handlungsspielräume wir noch haben werden, dann ist die Information von Öffentlichkeit und Parlament unzureichend. ({9}) Noch haben wir als Staat ein Entscheidungsrecht in der Europäischen Union. Diesen Entscheidungsspielraum sollten wir uns ohne genaue Information und Kenntnis nicht nehmen lassen. ({10}) - Wir müssen der Europäischen Union gemeinsam Dampf machen. Da haben Sie Recht, Herr Rachel. Wir werden uns freuen, wenn wir in Brüssel sagen können: Dies ist eine gemeinsame Haltung der Bundesrepublik Deutschland und des gesamten deutschen Parlaments. ({11}) Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der mich beim GATS besonders irritiert. Im Rahmen der Welthandelsordnung ist es bisher so, dass bei der Herstellung von Gütern die Art und Weise, auf die sie produziert werden, völlig unwichtig ist. Dies soll beim GATS genauso gelten. Wir als Sozialdemokraten haben auch bisher schon dagegen gekämpft, dass es egal ist, ob ein Gut unter Schädigung der Umwelt, unter Ausbeutung von Kindern, unter Lohnsklaverei oder gesundheitsgefährdenden Umständen erstellt wird. ({12}) Auch beim GATS wird nicht darüber diskutiert, unter welchen Bedingungen die Dienstleistungen, die möglicherweise in unser Land geliefert werden, erbracht werden. ({13}) Die Frage ist, warum wir - das sage ich sehr nachdrücklich - und die Europäische Kommission nicht verlangen, dass im GATS zumindest die ILO-Kernarbeitsnormen verankert werden. Bei dieser Frage wünschen wir uns wirklich die Unterstützung der CDU/CSU. ({14}) Wir müssen - das möchte ich betonen - deutlich machen, dass sich die EU bei einer Neuordnung der grenzüberschreitenden Dienstleistungen im GATS das Recht vorbehalten muss, den Marktzugang im Bereich öffentlicher Aufgaben einzuschränken. Ich sehe, dass - mit Ausnahme der FDP - alle Mitglieder dieses Hauses unserer Meinung sind. Ferner muss gesichert sein, dass bei den horizontalen Verpflichtungen das Fortbestehen der öffentlichen Daseinsvorsorge in den Kommunen und anderwärts nicht eingeschränkt oder gefährdet wird. Zielsetzungen wie die Sicherung einer sauberen Umwelt, der Gesundheit der Bevölkerung, der Chancengleichheit, des sozialen Zusammenhalts und des Erhalts der traditionellen kulturellen Werte sind zentrale Fragen unserer Gesellschaft und können nicht im Vorbeigehen über ein internationales Abkommen mit einem neuen Rahmen oder neuen Einschränkungen der künftigen politischen Gestaltungsfreiheit versehen werden. Wir sind schließlich Gesetzgeber und nicht politische Notare für Vorhaben, die auf einer anderen Ebene, in internationalen Abkommen, beschlossen werden. ({15}) Lassen Sie mich deswegen zum Abschluss eines anmerken: Die Europäische Union führt derzeit mit der europäischen Dienstleistungsrichtlinie ein kühnes und weltweit einmaliges Unternehmen durch: qualifiziert, systematisch, verbunden mit dem Aufbau eines europäischen Binnenmarktes für Dienstleistungen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, jetzt müssen Sie wirklich zum Schluss kommen.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir sollten versuchen, die einzelnen Schritte dieses Unternehmens sorgfältig zu erarbeiten und sie auf das GATS zu übertragen. Das wäre lohnend und sicherlich besser als eine Übereilung. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Erich Fritz.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Debatte freut mich deshalb, weil ich mich über jede Debatte zur WTO freue. Denn ich bin der Meinung, dass sich das Parlament häufiger und frühzeitiger mit diesen Fragen befassen muss, als wir es tun ({0}) und - das muss ich hinzufügen - auch tun können, weil die Prozedur nun einmal bekanntermaßen wie folgt abläuft: abgestuft Richtung Brüssel und dann multilateral. Bei dieser Debatte beschleicht mich noch ein Verdacht, den die Redebeiträge der Regierungskoalition bestärkt haben, nämlich dass es bei dem vorliegenden Antrag im Wesentlichen darum geht, „gutes Wetter“ gegenüber der von Venro, Attac und dem DGB gestarteten Kampagne zu machen. ({1}) Das kann man durchaus tun. In der Kampagne werden Forderungen formuliert und der WTO wird vorgeworfen, dass mit dem GATS die Privatisierung der öffentlichen Wasserversorgung oder der Hochschulausbildung vorangetrieben werden soll und dass in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Umwelt und Wasser unmittelbar bevorstehe, öffentliche Monopole durch private Monopole zu ersetzen. ({2}) Wenn Sie diese Argumente in Ihrer Rede wiederholen, Frau Burchardt, wie Sie es eingangs getan haben ({3}) - natürlich haben Sie das eingangs so dargestellt -, müssen Sie auch im weiteren Verlauf Ihrer Rede festhalten, dass sie nicht zutreffen. Ich meine, dass wir uns sachlich damit auseinander setzen müssen. ({4}) - Das habe ich getan. Das hat mich ja veranlasst, das zu erwähnen. Die von zahlreichen Kritikern im Lager der Nichtregierungsorganisationen angestellte Vermutung, dass mithilfe von GATS die nationale Gesetzgebung der Parlamente ausgehebelt wird, trifft nicht zu. Denn entgegen den Befürchtungen der NGOs hat die EU die Daseinsvorsorge nicht in die GATS-Verhandlungen mit aufgenommen. Vielmehr wird in den EU-Forderungen ausdrücklich klargestellt, dass sie weder auf eine Beeinträchtigung von Dienstleistungen der Daseinsvorsorge noch auf Privatisierung zielen. Es gibt nur eine Ausnahme, und zwar die an die USA gerichtete Forderung nach privat finanzierten Dienstleistungen der höheren Bildung. Ansonsten sind Bildungsdienstleistungen von den EU-Forderungen nicht umfasst, genauso wenig wie Gesundheits- und soziale Dienstleistungen, Kultur und audiovisuelle Dienstleistungen. Zwar gibt es Forderungen an die EU, aber sie muss ihnen schließlich nicht nachkommen. Vielmehr kann sie nach eigenen Vorstellungen prüfen, worauf sie eingeht. Dabei gibt es, soweit ich sehe, keine großen Diskrepanzen zwischen der Bundesregierung und dem Parlament. Auch die Sorge vieler NGOs, die EU gelange bei den laufenden Dienstleistungsverhandlungen unter Druck, ihre bisherigen horizontalen Ausnahmen aufzugeben oder einzuschränken, ist unbegründet. Die bei der Europäischen Union eingegangenen Forderungen in dem zur Rede stehenden Bereich richten sich nicht in erster Linie an Deutschland, sondern an diejenigen, die die von der Europäischen Union im Bereich der Dienstleistungen bereits gefassten Liberalisierungsbeschlüsse nicht umsetzen. ({5}) Das ist das Entscheidende. Deshalb sind die Befürchtungen in Deutschland überhaupt nicht gerechtfertigt. Im Gegenteil, wir dürfen bei dieser Diskussion nicht vergessen, welche Chancen bei Dienstleistungen für deutsche Unternehmen bestehen. Hier müssen wir uns an das durchgängige WTO-Prinzip halten: Wenn wir uns dazu entschließen, bestimmte Bereiche in Deutschland oder in der Europäischen Union privat zu organisieren, dann müssen für diese Bereiche gleiche Bedingungen für alle gelten. Nichtdiskriminierung bedeutet, alle gleich zu behandeln, ob Inländer oder Ausländer. ({6}) Meine Damen und Herren, nichts deutet darauf hin, dass Deutschland nach dieser Runde der Dienstleistungsverhandlungen bei der Sicherung der Qualitätsstandards etwas aufgeben müsste. Deshalb tun wir alle gut daran, in unseren öffentlichen Diskussionen und Darstellungen deutlich zu machen, dass es sehr wohl darum geht, genau zu prüfen, wo es Chancen für die private Erbringung von Dienstleistungen gibt, und dass es überhaupt keinen Grund für Ängste gibt, hier stünden dramatische Veränderungen bevor. Wir sollten diese Debatte nicht vorbeigehen lassen, ohne Wert darauf zu legen, dass die Bundesregierung all das, was sie in den nächsten Wochen mit Blick auf die GATS-Verhandlungen tut, auch gegenüber Parlament und Bevölkerung transparent macht. Deshalb wiederhole ich an dieser Stelle den Vorschlag, den ich am Montag im Berichterstattergespräch gemacht habe: Wenn die Europäische Union, die hinsichtlich der GATS-Verhandlungen bisher nur die Anforderungen an sie selbst kennt, aber noch nicht beschlossen hat, was sie ihrerseits verlangt, Ende Februar ihre Forderungen beschlossen haben wird und die Bundesregierung ihren Beitrag dazu geleistet haben wird, dann sollte die Bundesregierung in diesem Hause sofort eine Regierungserklärung abgeben und dem Parlament Gelegenheit geben, zu den dann feststehenden Vorstellungen Stellung zu nehmen. ({7}) Das wäre ein wesentlicher Beitrag zu der Transparenz, die nicht nur das Parlament verlangen kann, sondern die auch die Öffentlichkeit mit Recht erwartet. Nichts wäre bei diesen Verhandlungen schlimmer, als würden Vermutungen ins Kraut schießen, irgendjemand hecke mit finsterer Absicht in dunklen Sälen etwas aus, was in Wirklichkeit gegen die Bevölkerung gerichtet sei. Vielen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich danke auch. - Ich schließe damit die Aussprache. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/224 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vierzehntes Hauptgutachten der Monopolkommission 2000/2001 - Drucksachen 14/9903, 14/9904 ({0}) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Hubertus Heil.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bundeswirtschaftsminister Clement hat gestern beim Jahresempfang des BDI deutlich gemacht, was wir in diesem Jahr vorhaben. 2003 wird das Jahr der nachhaltigen Wirtschaftsreformen in Deutschland. Unser Ziel ist klar: Wir wollen trotz der schwierigen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen unseren Beitrag zu mehr wirtschaftlicher Dynamik und zu einem beschäftigungswirksameren Wachstum in Deutschland leisten. Das Vierzehnte Hauptgutachten der Monopolkommission gibt uns Gelegenheit, heute einen Blick auf die aktuelle Wettbewerbspolitik zu werfen. Ich möchte anhand von drei Schwerpunkten, die wir uns in der Wettbewerbspolitik für dieses Jahr gesetzt haben, verdeutlichen, wie wir den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Wettbewerbspolitik sehen. Unser erster Schwerpunkt: Wir werden das deutsche Kartellrecht modernisieren. Wir sind uns dabei der Tatsache bewusst, dass das deutsche GWB so etwas wie das Grundgesetz unserer Marktwirtschaft ist, das wir fortentwickeln müssen. Wir wollen das deutsche Kartellrecht erstens entbürokratisieren, zweitens dezentralisieren und drittens vor allen Dingen europatauglich und europakompatibel machen. Unser zweiter Schwerpunkt: Wir werden den eingeschlagenen Weg zur Auflösung früherer Monopole hin zu funktionierendem Wettbewerb konsequent und mit Augenmaß fortsetzen. ({0}) Dies gilt vor allem für die netzgebundenen Bereiche in den Sektoren Strom, Gas, Schiene und Telekommunikation. Hier gilt es, im Prozess der Liberalisierung dafür zu sorgen, dass sich durch geeignete Formen der Regulierung Wettbewerb entfalten kann. In diesen netzgebundenen Bereichen ist es dabei besonders wichtig, für einen diskriminierungsfreien Netzzugang zu sorgen und/oder dort, wo dies möglich und sinnvoll erscheint, den Aufbau einer alternativen Infrastruktur zu unterstützen. Uns ist bewusst, dass jeder dieser Exmonopolsektoren aufgrund seiner spezifischen Bedingungen beim Prozess hin zu funktionierendem Wettbewerb seine ihm angemessene Form der Regulierung benötigt. Das ist ganz unabhängig davon - lassen Sie mich das deutlich sagen -, ob das Ganze auf Basis wirtschaftlicher Selbstregulierung wie bei der Verbändevereinbarung im Energiebereich oder mittels einer Regulierungsbehörde wie im Telekommunikationsbereich organisiert wird. Es geht in jedem Fall nicht um Regulierungen, die gegen den Markt gerichtet sind, sondern um Regulierungen für einen begrenzten Zeitraum, damit funktionierende Märkte entstehen können. Mit diesem Ansatz waren und sind wir auf dem richtigen Weg, gar keine Frage. Heute müssen wir uns allerdings fragen, was wir erreicht haben und in welchen Bereichen noch Handlungsbedarf besteht. Die Monopolkommission hat in ihrem Vierzehnten Hauptgutachten festgestellt, dass weitere Schritte zu einem noch intensiveren Wettbewerb notwendig seien. Lassen Sie mich aufgrund der knappen Zeit an dieser Stelle lediglich auf den Telekommunikationssektor zu sprechen kommen. In diesem Bereich sind wir mit dem Telekommunikationsgesetz seit 1998 weit gekommen. Trotzdem besteht weiterhin großer Handlungsbedarf. Dieser leitet sich nicht nur aus den Vorgaben aus Brüssel ab. Das Telekommunikationsgesetz, das sich grundsätzlich durchaus bewährt hat, muss und wird auch fortentwickelt werden. Dafür werden wir in diesem Jahr mit der großen TKG-Reform sorgen. Ich möchte im Folgenden einige Elemente nennen, die wir in diesem Zusammenhang als wichtig erachten: Erstens. Wir werden selbstverständlich die europäischen Vorgaben in diesem Bereich umsetzen. Wir werden uns darauf aber nicht beschränken, sondern unseren Spielraum für unsere eigenen Wettbewerbsvorstellungen nutzen. Zweitens. Wir werden den vorhandenen Rechtsrahmen verbessern. Dazu gehört auch, dass wir überflüssige Regulierungen abbauen. Drittens. Wir werden einen Ordnungsrahmen entwickeln, der die Entfaltung neuer und innovativer Kommunikationstechnologien fördert. Viertens. Dort, wo Regulierung im Telekommunikationsbereich nach wie vor notwendig ist, darf sie auf keinen Fall zu früh zurückgeführt werden. Im Gegenteil: Wir werden vor allem dafür sorgen, dass sie wirksamer wird. Es geht darum, die Effektivität der Regulierung zu verbessern sowie die Verwaltungs- und Gerichtswege so stark wie möglich zu straffen. Ich möchte Ihnen den dritten wettbewerbspolitischen Schwerpunkt nennen, den wir noch in diesem Jahr auf den Weg bringen und in dem wir für Dynamik sorgen werden: den Abbau wettbewerbsbehindernder Regulierungen, also die Beseitigung von Regulierungen, die gegen den Markt gerichtet sind. Hiermit haben wir bereits im vergangenen Jahr mit der Abschaffung des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung begonnen. Wir werden diesen Weg in Bezug auf Sonderverkaufsveranstaltungen fortsetzen. Noch in diesem Jahr werden wir dafür sorgen, dass § 7 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, der im Moment Sonderverkaufsveranstaltungen verbietet - wir haben das ja bei der Diskussion über C & A erlebt -, komplett gestrichen wird. Wir werden zukünftig in diesem Bereich stärker auf den mündigen Verbraucher setzen. Die Monopolkommission unterstützt uns dabei. Weder befürchtet sie, dass der Handel die Preise in diesem Fall künstlich hochsetzen wird, noch verstoßen nach Auffassung der Monopolkommission diese Maßnahmen des Preiswettbewerbs gegen die guten Sitten. Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir brauchen mehr Wettbewerb in Deutschland, weil Wettbewerb der effizienteste wirtschaftliche Mechanismus ist. Vernünftig entwickelt, steigert er die Wohlfahrt und dient dem Gemeinwohl. Wettbewerb ist für uns Sozialdemokraten - das unterscheidet uns vielleicht von einigen in diesem Haus jedoch kein Selbstzweck, sondern ein notwendiges und vernünftiges Mittel, Verbraucherinteressen zu vertreten und Wachstum zu entfalten. Zugleich gilt: Ebenso wie es in bestimmten Bereichen einleuchtende Gründe für mehr Wettbewerb gibt, so tragen wir auch die soziale Verantwortung, gewisse Bereiche vom totalen Wettbewerb auszunehmen. Das folgt aus dem Sozialstaatsgebot unseres Grundgesetzes. Bei der solidarischen Absicherung der großen Lebensrisiken setzen wir im Gegensatz zur FDP und zu Teilen der CDU nicht auf den totalen Markt. Wir unterstützen den Bundespräsidenten, wenn er formuliert: Wir wollen soziale Marktwirtschaft. Was wir nicht wollen, ist eine Marktgesellschaft, in der jeder von allem den Preis, aber von nichts mehr den Wert kennt. Allerdings werden wir uns innerhalb der sozialen und solidarischen Sicherungssysteme verstärkt auch wettbewerblicher Elemente bedienen. Es gilt, dadurch für mehr Effizienz zu sorgen, um damit einen Beitrag zur Begrenzung der Lohnnebenkosten zu leisten. So brauchen wir beispielsweise im Gesundheitswesen nicht nur den Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen, sondern auch mehr Wettbewerb zwischen den Anbietern medizinischer Leistungen. Ich finde es ganz interessant, dass die Opposition zu diesem Bereich immer relativ wenig sagt. Das mag etwas mit Klientelinteressen zu tun haben. ({1}) Funktionierender Wettbewerb ist eine gemeinsame Aufgabe, die von allen getragen werden muss - nicht nur vom Staat. Soziale Marktwirtschaft heißt immer auch Eigenverantwortung und Mitverantwortung, übrigens auch der Unternehmen. Das beinhaltet die Pflicht zur Anstrengung und nicht die Flucht in Räume der Protektion. Wenn jeder nur seine eigenen Pfründe sichert, werden wir in Deutschland in diesem Bereich in jedem Fall nicht vorankommen. Wir werden in diesem Jahr - ich habe es mit den drei Punkten angedeutet -vorankommen, sowohl bei der Modernisierung des GWB als auch bei den in den letzten Jahren angestoßenen Liberalisierungsprozessen als auch dort, wo es darum geht, gegen Regulierungen anzugehen, die gegen den Markt gerichtet sind. Wir werden für mehr Wettbewerb sorgen - mit Augenmaß und Vernunft. Ich bin mir sicher, dass wir damit einen wichtigen Beitrag zur Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland leisten werden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Schauerte.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute den Monopolbericht. Zu dem habe ich von Ihnen, Herr Heil, kein einziges Wort gehört. ({0}) Sie haben darüber gesprochen, was Sie tun wollen, aber zum Thema selbst haben Sie nichts gesagt. Ich kann das auch verstehen; denn dieser Monopolbericht ist heftig. ({1}) Er legt den Finger in die Wunde und zieht eine sehr negative Bilanz zur Lage des Wettbewerbs und zur Konzentration bzw. zur Monopolbildung in der deutschen Wirtschaft. In dieser Deutlichkeit habe ich das noch bei keinem Monopolbericht gesehen. ({2}) Ich will das an einem Zitat verdeutlichen. Es geht um die Konzentration. Darüber wissen wir immer noch zu wenig. Die statistischen Daten sind nicht da. Die Mitarbeit ist nicht geregelt. Die Stellen, die das erfassen sollen, sind nicht bereitgestellt worden. Seit zwei Jahren warten wir auf das, was das Gesetz vorsieht und vorschreibt. Wir wissen jetzt nur, dass 450 000 Unternehmen von der Konzentration im weitesten Sinne betroffen sind. Das sind 15 Prozent. Das ist nicht sehr viel, aber gemessen an der Bruttowertschöpfung der deutschen Volkswirtschaft sind es 30 bis 40 Prozent. Dazu darf ich Ihnen jetzt ein Zitat vorhalten: In der Gesamtschau - so die Monopolkommission ist im Berichtszeitraum hinsichtlich der verschiedenen untersuchten Größenmerkmale ein weiterer Anstieg der Konzentration zu verzeichnen. Schon das ist nicht gut. Aber jetzt kommt noch der Grund dafür, dass das schlecht ist: Lediglich die Anzahl der von den betrachteten Großunternehmen zur Verfügung gestellten Arbeitsplätze hat sich im Vergleich zum gesamtwirtschaftlichen Trend unterproportional entwickelt. ({3}) Das ist bittere Ironie. Oder wie soll man das sonst beschreiben? Wir wissen es. Die Monopolkommission schreibt es. Der Konzentrationsprozess ist für die Arbeitsplätze schädlich. Sie haben zu diesem Prozess kein einziges Wort gesagt. Er ist nicht nur wettbewerbsrechtlich und ordnungspolitisch schädlich, sondern er wirkt sich auch hinsichtlich der Erreichung unseres Hauptziels, Arbeitsplätze zu schaffen, absolut negativ aus. ({4}) Das ist vornehm und zurückhaltend, doch auch deutlich formuliert. Tendenziell rückläufig sind hingegen - da kommt noch ein anderer Gesichtspunkt ins Spiel die personellen Verflechtungen sowie die Beteiligungsverflechtungen unter den „100 Größten“. Dies ist jedoch weniger auf Entflechtungsvorgänge als auf Fusionen ... der „100 Größten“ ... zurückzuführen. ({5}) Auch das ist voller Ironie. Es geht da um „Machtwirtschaft“ und nicht um Marktwirtschaft. Es geht da um eine Verschiebung der Gewichte, die zulasten von Arbeitsplatzpotenzialen geht. Das ist ein Vorgang, der uns große Sorgen bereiten muss. Durch den ganzen Bericht zieht sich wie ein roter Faden die kritische Frage: Sind wir im Hinblick auf die Ziele „mehr Wettbewerb“, „weniger Konzentration“ und „Abbau von Monopolen“ weitergekommen? Die Antwort lautet: Nein, wir haben in den letzten Jahren Rückschritte gemacht. Wirtschaftsminister Müller war ein Monopolminister. Übrigens, es ist erstaunlich, wie wenig man noch von ihm spricht. ({6}) Ich kenne ihn gar nicht mehr. ({7}) Er ist im Nebel der Großkonzerne der Ruhrschiene verschwunden. Er ist nicht mehr zu sehen. Wo sind wir denn in der Bedrouille? - Ich nenne die Liberalisierung der Energiemärkte. Es ist doch ein Jammer, was wir da erleben. Die Konzentration nimmt zu, die „Machtwirtschaft“ explodiert und die Verbraucher zahlen hohe Zechen. Man konnte vor kurzem in einer Zeitung lesen, dass ein Vorstand eines großen Energieunternehmens - ohne sich bewusst zu sein, was er da sagt - erklärte, man sei zu Beginn dieses Jahres - obwohl der Gewinn gegenüber dem Vorjahr schon um etwa 50 Prozent gestiegen war - wieder in der Lage, die Preise deutlich zu erhöhen, weil der Wettbewerbsdruck nachlasse. ({8}) Das muss man sich einmal vorstellen: Aufgrund der Politik nimmt der Wettbewerbsdruck ab. Als Reaktion machen die Unternehmen natürlich das, was möglich ist: Sie erhöhen die Preise. Obwohl diese Unternehmen dies öffentlich sagen, ist von Ihnen kein Wort dazu zu hören. ({9}) Sie sagen: Der gesamte Wettbewerb in Deutschland ist gut; wir wollen uns noch ein bisschen modernisieren; aber grundsätzliche Probleme haben wir nicht. Also: Was eine Verbesserung der Situation auf den Energiemärkten angeht - Fehlanzeige. Die Monopolkommission schreibt, dass die vertikalen Verflechtungen zunehmen. Die vom Kartellamt festgelegte Grenze sah bisher so aus: Alle Beteiligungen über 20 Prozent sind kritisch; alle Beteiligungen unter 20 Prozent sind ungefährlich. Die Anzahl der Beteiligungen unter 20 Prozent steigt explosionsartig an. Wer schaut denn in die Verträge hinein? Wir erleben im Moment eine „Vermachtung“ der Energiemärkte, die unerträglich ist. Nichts davon können Sie bestreiten, nichts davon können Sie erklären und nichts davon wollen Sie ändern. Was ist bei der Telekommunikation passiert? - Man macht eine Regulierungspolitik im Interesse des Großaktionärs, aber keine Regulierungspolitik im Interesse der Unternehmen, ({10}) die sich - das wollten wir so - in die Telekommunikationsmärkte hineinbegeben haben. Diese Unternehmen sterben im Moment reihenweise. Sie haben dazu kein einziges Wort gesagt. Von einer wirklichen Verbesserung der Wettbewerbslage sind wir weit entfernt. Was machen wir im Hinblick auf die Fusion von Eon und Ruhrgas? Ich darf an diese ganz unglückliche Geschichte erinnern. Einem Unternehmen mit einem Marktanteil von 60 Prozent bescheinigt man zu Beginn der Debatte über die Liberalisierung des Gasmarktes, es sei zu klein. Deswegen hilft man ihm mit einer Ministererlaubnis und das verkündet man ihm schon zu einem Zeitpunkt, zu dem die Auswirkungen seines Vorhabens vom Kartellamt noch nicht einmal überprüft worden sind. Ich bin dankbar dafür, dass wir Gerichte haben, die einen solchen Vorgang nicht durchgehen lassen. Das war Machtpolitik pur, ohne jedes ernsthafte Bemühen, Markt herzustellen. Das ist unerträglich, wen immer es betrifft. Ich vermute, die Sache wird scheitern. Ich hoffe, man findet dann neue Ansätze, um positive Dinge, die mit diesem Vorhaben verbunden sind, organisieren zu können. Die Wirtschaftspolitik, die Sie zu vertreten haben, hinterlässt eigentlich nur Verletzte auf dem Schlachtfeld: Der Markt hat verloren, die beteiligten Unternehmen haben verloren, ({11}) Zeit ging verloren, Geld wurde verbraten - nichts ist in diesem Bereich gelungen. Was Erfolge angeht, nichts als Fehlanzeige. ({12}) Um einen weiteren Punkt der Energiepolitik anzusprechen, über den wir noch einmal nachdenken und reden müssen, möchte ich auf die Verbändevereinbarungen zu sprechen kommen. Verbändevereinbarungen dürfen nicht zu rechtsfreien Räumen führen. Auch Verbändevereinbarungen müssen mit dem Kartellrecht und mit Wettbewerbsregeln in Einklang stehen. Das ist durch die von Ihnen gutgeheißene Verbändevereinbarung nicht mehr gesichert. Es gibt rechtsfreie Räume. Sie kennen die ärgerliche Reaktion des Kartellamts auf das, was da passiert. Das Kartellamt hat in dieser Frage genauso Recht wie bei der Beurteilung des EonRuhrgas-Vorgangs. Sie werden es erleben. Ich sage Ihnen: Wenn die Verbändevereinbarung so etwas wie ein Selbstbedienungsladen der Beteiligten wird, die ohne Rücksicht auf Außenstehende und ohne Rücksicht auf die Verbraucher nur ihr Eigeninteresse intelligent verfolgen können, und zwar möglichst unauffällig, dann hat man etwas falsch verstanden. Wenn in diese Verbändevereinbarungen nicht Verantwortung für eine wirkliche Marktöffnung hineinkommt, dann werden wir die Politik der Verbändevereinbarungen nicht fortsetzen können. Das ist bedauerlich. Ich möchte eigentlich an der Politik der Verbändevereinbarungen festhalten, weil es immer besser ist, wenn sich die Beteiligten selber organisieren, als wenn der Staat eingreift. So, wie es läuft, mit den negativen Ergebnissen, die es zeitigt, mit den Verzögerungen und den Behinderungen beim Netzzugang, kann es nicht weitergehen. Entweder bekommen wir eine Verbändevereinbarung, die wirklich zur Marktöffnung beiträgt, oder auch wir in der CDU müssen unsere Position überdenken und sagen - andere werden das dann auch tun -: Wir müssen es einer Regulierungsbehörde übertragen. ({13}) Das können Sie nicht weiter auf die lange Bank schieben. Die Dinge sind nun wirklich reif. Das, was die Koalitionsregierung in der Moderation der Verbändevereinbarung geleistet hat, war ein Trauerspiel. ({14}) Ich komme zum Schluss: Es steht schlecht um den Wettbewerb und gut um Monopole in unserem Land. Helfen wir mit, auch in den anstehenden Haushaltsberatungen, dass die Behörden, die wir dafür eingerichtet haben, nämlich das Kartellamt und die Monopolkommission, so ausgestattet werden, dass sie ihre Wächterfunktion wirksam wahrnehmen können. Es gibt genug zu tun. Ich habe mich gewundert, dass Ihnen dazu nichts eingefallen ist. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Monopolkommission hat aus meiner Sicht ein sehr interessantes Gutachten mit sehr vielfältigen Anregungen vorgelegt. Dafür möchte ich der Monopolkommission ganz ausdrücklich von dieser Stelle aus Dank sagen. Angesichts der Kürze der Redezeit muss ich mich auf den Hauptteil beschränken. Da geht es um die Einführung und die Stärkung von funktionierendem Wettbewerb in den ehemaligen Monopolmärkten Post, Telekommunikation, Strom, Gas und auch Bahn. Bezüglich des Postbereiches wird kritisiert, dass wir nur mit Trippelschritten vorankommen. Ich teile diese Auffassung. Das hat auch mit der EU zu tun. Dass aber das Porto in Deutschland erst auf Druck der EU-Kommission gesenkt wurde, ist schon kritikwürdig; diesen Schuh müssen wir uns anziehen. ({0}) Besser sieht es im Bereich der Telekommunikation aus. Die Monopolkommission sagt ausdrücklich, dass der Wettbewerb hier in weiten Teilen funktioniert. Zugleich warnt sie davor - über diesen Punkt müssen wir, Hubertus Heil, nachdenken -, jetzt schon bei der anstehenden großen Novelle des Telekommunikationsrechts Regulierungen zurückzunehmen. Die These ist, dass die Marktteilnehmer eine gewisse Stetigkeit des regulativen Rahmens brauchen und sich auch erst einmal eine verlässliche Rechtspraxis entwickeln muss. Deswegen sollte man die Regulierungen in diesem Bereich noch nicht zurückschrauben. Zugleich wird ja auch zugestanden, dass in bestimmten Bereichen tatsächlich eine Wettbewerbssituation hergestellt wurde. Ich finde, wir sollten das mit bedenken, wenn wir an die große Novelle herangehen. Ganz problematisch sieht die Monopolkommission die Bereiche Energie und Bahn. Zuerst zum Energiesektor: Die Kritik am Energiewirtschaftsgesetz, das wir jetzt auf den Weg gebracht haben, kann man relativieren, weil die Verrechtlichung der Verbändevereinbarung auf 2003 befristet ist, aber der Sofortvollzug des Kartellamtes, der hier ausdrücklich gelobt wird, in dieser neuen Novelle ohne Fristsetzung festgeschrieben wurde. Unterm Strich ist das also wirklich ein Fortschritt. Allerdings muss man die Kritik an der Ministererlaubnis schon deswegen ernst nehmen, weil sie sich in der Praxis tatsächlich als Problem herausstellt. In dem Verfahren, das jetzt bezüglich des bekannten Fusionsvorhabens anhängig ist, wird genau dieser Punkt aufgegriffen, dass Minister Müller die Verantwortung nicht auf Staatssekretär Tacke hätte übertragen dürfen, sondern sie auf Finanzminister Eichel hätte übertragen müssen. Das ist ein Grund, warum diese Fusion jetzt hängt. Ich persönlich bin, wie Sie wissen, kein Freund dieser Fusion. Man muss aber sehr bedauern, dass für RAG, Ruhrgas und Degussa dadurch eine sehr problematische Situation entstanden ist: Sie hängen nämlich völlig handlungsunfähig zwischen Baum und Borke, und das seit Monaten. Ich glaube, dass diese Situation entscheidend dadurch verursacht wurde, dass Eon ungeheuer arrogant auf die Ministererlaubnis gesetzt hat und das Kartellamt, aber auch die Monopolkommission damit vor den Kopf gestoßen hat. ({1}) Die Monopolkommission warnt in dem Gutachten deutlich vor Konzentrationsprozessen in diesem Bereich. Hinter der Aufkaufpraxis der Stadtwerke - schon eine Beteiligung von unter 20 Prozent wird als problematisch angesehen - vermutet die Monopolkommission eine Strategie der großen Verbundunternehmen, um Wettbewerber abzuschrecken, wodurch wir im Energiebereich im Endeffekt bei einem Duopol landen werden. Dass so kein Wettbewerb entsteht, ist klar. Wir müssen diese Entwicklung sehr aufmerksam betrachten. Wir brauchen eigenständige, aktive, selbstständige, unabhängige Stadtwerke im Markt. Ganz spannend wird das Gutachten an dem Punkt, an dem die Monopolkommission selbst ihre Meinung ändert: beim Thema Regulierung. Die Monopolkommission meint, dass sie früher sehr wohl für den verhandelten Netzzugang gewesen sei, dass sie aber im Lichte der Erfahrung, ob sich unter diesen Bedingungen Wettbewerb entwickelt, ihre Position ändern müsse. Das gilt für Strom, Gas und die Bahn. Sie sagt, eine gemeinsame Regulierungsbehörde für alle Bereiche würde die Kosten für die Regulierung durch die Synergieeffekte senken, auch im Telekommunikationsbereich, und dadurch gleichzeitig ein gutes Maß an Branchendistanz schaffen, also einen unabhängigen Regulierer. Das wäre aus Sicht der Monopolkommission neuerdings das richtige Instrument. Bei der Bahn schlägt sie allerdings - das ist eine alte grüne Forderung - als besseres Instrument die Trennung von Netz und Betrieb vor. ({2}) Wenn wir das noch wollen, drängt jedoch die Zeit - auch darauf weist die Monopolkommission hin -; denn nach der Privatisierung ist uns dieser Weg versperrt. Das muss vor dem Börsengang der Bahn, der ja ansteht, geschehen. Hier müssen wir schnell zu einer Entscheidung kommen. Die Monopolkommission bemängelt, dass die Netznutzungsentgelte im Strom- und Gasbereich noch immer zu hoch seien und die Konkurrenten beim Netzzugang behindert würden. - Das Kartellamt hat gestern auf der „Handelsblatt“-Tagung, bei der wir vertreten waren, sehr deutlich bestätigt, dass es diese Problematik sieht. - Sie sagt, bei Verbändevereinbarungen bestehe das Problem, dass sich die Verbände, die gemeinsam am Tisch sitzen, häufig zulasten Dritter einigten. Am Tisch sitzen nicht die mittelständische Industrie, die neuen, unabhängigen Anbieter und die Verbraucher, sodass die Einigung zu deren Lasten geht. Deswegen meint die Monopolkommission - das finde ich interessant und das müssen sich vor allen Dingen die FDP und die CDU/CSU mit ihrem teilweise ideologischen Marktbild hinter die Ohren schreiben -: Insofern führt die vielfach verwendete Gegensatzbildung zwischen Liberalisierung und Regulierung in diesem Zusammenhang in die Irre! Diese Position teile ich. Regulierung kann unter Umständen erst zu einem funktionierenden Wettbewerb führen. Wir sollten in der nächsten Zeit sehr aufmerksam verfolgen, was die neuen Verbändevereinbarungen bringen. Wenn sie nicht deutliche - ich betone: deutliche Fortschritte bringen und wenn nicht zu erwarten ist, dass der rückläufige Wettbewerb wieder dynamischer wird

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Denken Sie bitte an die Zeit.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- ich bin beim letzten Satz -, dann müssen wir die Argumente der Monopolkommission sehr ernst nehmen und eine neue Debatte darüber beginnen, ob wir für diese Bereiche nicht doch eine Regulierungsbehörde brauchen. Danke schön. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat die Abgeordnete Gudrun Kopp.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! In der Tat: Dieses Hauptgutachten der Monopolkommission macht uns alle sehr nachdenklich. Es ist ein Werk, das wir im Ausschuss sicher sehr detailliert diskutieren müssen; denn es gibt eine große Ansammlung von Kritikpunkten. Ich nenne zum Beispiel - das hat niemand meiner Vorredner erwähnt, aber das ist ein sehr wichtiger Punkt - den Beitrag der Monopolkommission zum Thema Tariftreuegesetz. Auch hier erhält Rot-Grün eine schallende Ohrfeige. ({0}) Weiterhin nenne ich das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb. Ich finde es schlimm, dass Äußerungen von Ministern dieser Regierung am Standort Deutschland wiederum für Verwirrung sorgen. Ich sage Ihnen gleich, warum ich dieser Meinung bin. Bundesjustizministerin Zypries hat vor wenigen Tagen verkündet, es werde in aller Kürze einen Gesetzentwurf zur Änderung des UWG geben - das betrifft die §§ 7 und 8 -, damit Sonderverkäufe und Rabattaktionen künftig zugelassen werden können. Heute nimmt Verbraucherschutzministerin Künast zu diesem von ihr entdeckten angeblichen Preisdumping Stellung und verkündet, sie werde dafür sorgen, dass es künftig wieder mehr Beschränkungen und weniger Freiheit geben werde. Das ist ein Dissens innerhalb des Kabinetts. Dieses Signal finde ich verheerend. ({1}) Sie sollten sich dringend einmal intern darüber verständigen, was Sie nun wirklich wollen. Ich bringe noch ein Beispiel: Das Gutachten der Monopolkommission sagt, dass wir einen sehr großen Bedarf an Förderung von Wettbewerb - das ist von meinen Kollegen mehrfach gesagt worden - bei Post und Telekommunikation haben. Aber auch bei der Abfall- und Wasserwirtschaft sind Deregulierung und Privatisierung dringend erforderlich. Ich unterstütze ausdrücklich - das hat auch die Kollegin Hustedt eben gesagt - die von der FDP seit langem geforderte Trennung von Netz und Betrieb bei der Bahn AG . Es ist in der Tat dringend erforderlich, in diesem Bereich weiterzukommen. Wir sehen doch, was bei der Bahn passiert: Transparenz beim Preis- und Tarifsystem und die Servicebereitschaft nehmen doch immer weiter ab. Die Kundenfreundlichkeit ist beschämend gering. Das beste Rezept dagegen ist die Schaffung von mehr Wettbewerb. ({2}) Ein Thema ist in diesem Zusammenhang auch die Liberalisierung der Energiemärkte. Ich gehe einmal auf die Energierechtsnovelle von 1998 ein. Es war die frühere Bundesregierung unter Beteiligung der FDP, die die Voraussetzungen zur Liberalisierung und Deregulierung der deutschen Energiemärkte geschaffen hat. Wir haben damit erstmals Monopolmärkte geknackt und im Gegenzug Monopolrenditen abgeschafft. Wir waren nicht rundum erfolgreich. Aber es war ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung. Für die Verbraucher und insbesondere für die Wirtschaft als Sondertarifkunden hatte sich eine Kostenreduzierung von 7,5 Milliarden Euro ergeben. Das war ein hervorragender Erfolg. Inzwischen ist durch die zunehmende Reregulierung durch das EEG und das KWK-Gesetz, von Rot-Grün initiiert, dieser Milliardenvorteil schon fast wieder verfrühstückt. Das ist sehr traurig. ({3}) Ich komme zu dem wirklich spannenden Punkt Verbändevereinbarungen Strom I und II sowie Verbändevereinbarung Gas. Es ist eben gesagt worden, wir bräuchten eine Regulierungsbehörde. Wir als FDP-Bundestagsfraktion sind ausdrücklich nicht dieser Meinung. Wir setzen hier nicht auf staatliche Regulierung. ({4}) Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen einen zweiten Dissens zwischen ihnen und einem Minister darstellen. Bundeswirtschaftsminister Clement hat vorgestern bei der „Handelsblatt“-Tagung ausdrücklich gesagt, dass auch er sich gegen eine Regulierungsbehörde in dem Bereich ausspricht. Vielleicht sollten Sie sich darüber einmal austauschen. Er hat ferner gesagt, er ziehe eine freiwillige Verbändevereinbarung vor. Wir wollen - das ist der Knackpunkt, Frau Kollegin Hustedt - die freiwillige Verbändevereinbarung mit einer Stärkung des Kartellamts koppeln. Das heißt, dort muss es mehr Personal geben. Dieses Personal muss in der Lage sein, den Mangel an Wettbewerb zu beseitigen. Wenn Sie diese Kombination ins Auge fassen, kommen Sie sehr schnell zu dem Schluss, dass die freiwillige Vereinbarung plus Kontrolle durch das Kartellamt ausreichen. Auf diese Weise kann mehr Wettbewerb auf dem Markt geschaffen werden. Unter dem Strich können wir dann sagen, dass eine weitere Deregulierung und Liberalisierung zu mehr Wettbewerb und damit zu mehr Chancen für Wirtschaft und Verbraucher in unserem Land führen werden. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt.

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin in einer etwas schwierigen Situation vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Bundesregierung ihre Stellungnahme zum 14. Hauptgutachten der Monopolkommission, wie angekündigt, erst im April/Mai vorlegen wird. Das heißt, ich sehe mich außerstande, zu den einzelnen hier aufgeworfenen Fragen im Detail die Position der Bundesregierung wiederzugeben. ({0}) In einigen sehr sachlichen Beiträgen ist freundlicherweise darauf hingewiesen worden, dass dieses Gutachten, für das wir der Monopolkommission ausdrücklich danken, sehr differenziert und sehr breit angelegt ist. Ich denke, die Monopolkommission hat es verdient, dass die Bundesregierung dieses Gutachten wirklich durcharbeitet und erst danach eine umfassende Stellungnahme abgibt und ihre Position dazu vorträgt. Darüber werden wir dann im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit und gegebenenfalls auch hier im Plenum noch einmal gesondert diskutieren müssen. ({1}) Meine Damen und Herren, eines steht sicherlich fest: Da, wo wir weniger Staat benötigen, werden wir auf staatliche Regelungen verzichten. Der Kurs der Bundesregierung ist auf den Abbau von Bürokratie angelegt. Im Übrigen möchte ich feststellen, weil einige ja immer behaupten, das sei alles nur an einer ganz bestimmten politischen Stelle gewachsen, dass Bürokratie über die letzten Jahrzehnte überall im Lande fröhlich gewachsen ist, im Norden wie im Süden, im Westen wie im Osten dieser Republik. Wir sind gehalten, sie in einer gemeinschaftlichen Anstrengung überall, wo nur irgend möglich, abzubauen. Wir brauchen also einen leistungsfähigen Ordnungsrahmen für alle Wirtschaftssektoren. Wir brauchen die Offenheit für funktionierenden Wettbewerb. Das ist der Ansatz der Bundesregierung. Ein solcher Ordnungsrahmen hat überragende Bedeutung für die Unternehmen und für die Verbraucher. Nur ein solcher Ordnungsrahmen garantiert am Ende Wettbewerbsfähigkeit und damit auch Sicherheit für Arbeitsplätze in Deutschland. Ein solcher Ordnungsrahmen ist die Voraussetzung für eine funktionierende soziale Marktwirtschaft. Ich sage hier ganz ausdrücklich: Aus der Sicht der Bundesregierung heißt das nicht blinde Privatisierung. Es heißt nicht die Verehrung des Wettbewerbs an sich. Es geht nicht um den Abbau von staatlichem Schutz, wo er erforderlich ist, sei es zugunsten der Umwelt, sei es zugunsten der Arbeitnehmer eines einzelnen Betriebes, und nicht um die Auslieferung der Schwachen an die Starken. Im Gegenteil, funktionierender Wettbewerb ist das natürliche Instrument zur Begrenzung privater Macht. Wo Wettbewerb nicht funktionieren kann, bedarf es selbstverständlich intelligenter, flexibler staatlicher Rahmenbedingungen. Die Bundesregierung hat in der vergangenen Wahlperiode auf diesem Felde einiges vorzuweisen. Auf das Energiewirtschaftsgesetz, das wir erneut eingebracht haben, wurde bereits hingewiesen. In diesem Sinne werden wir das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, das Grundgesetz der Marktwirtschaft, reformieren. Das GWB diente zahlreichen ausländischen Staaten und dem EWG-Vertrag als Vorbild. Heute müssen wir es dem unlängst reformierten Kartellverfahrensrecht der Europäischen Union anpassen und das werden wir tun. Kartelle sind nach EU-Wettbewerbsrecht jetzt kraft Gesetzes und ohne eine behördliche Entscheidung erlaubt, wenn ein Freistellungstatbestand erfüllt ist. Für die Unternehmen bedeutet dies mehr Verantwortung, auf der anderen Seite aber auch mehr Freiheit. Sie müssen selbst sicherstellen, dass ihre Kooperationen kartellrechtskonform sind. Nach Auffassung der Bundesregierung ist es gerade im Interesse der deutschen mittelständischen Wirtschaft erforderlich, auch das GWB im Sinne des europäischen Modells zukunftsfähig zu machen. Noch in diesem Jahr - Sie haben zu Recht darauf verwiesen - wird ein entsprechender Referentenentwurf vorgelegt werden. Eine umfassende Reform ist auch im Recht des unlauteren Wettbewerbs geplant. Der Kollege Heil hat auf das Dilemma des Falles C & A, das vor einigen Monaten aktuell war, hingewiesen. Die Bundesregierung wird im Lauterkeitsrecht noch wesentlich mehr tun. Sie setzt sich auf europäischer Ebene für eine Harmonisierung dieses Rechtsgebietes ein und erfüllt damit eine langjährige Forderung dieses Parlaments. ({2}) Ziel ist ein europäisches Lauterkeitsrecht, das sowohl die Interessen der Unternehmen als auch die Interessen der Verbraucher zu schützen in der Lage ist. Erfolg werden wir aber nur haben, wenn wir unser UWG insgesamt so reformieren, dass wir mit ihm in Europa für unsere Vorstellungen werben können. Dieser Gesetzentwurf wird noch in diesem Monat vorgelegt werden. Lassen Sie mich noch ein Beispiel anführen: das Telekommunikationsgesetz. Wir werden natürlich die entsprechenden EU-Richtlinien umsetzen und sind in unserer Politik zu folgenden Leitsätzen verpflichtet: zur Optimierung und Konkretisierung des vorhandenen Rechtsrahmens, zur Rückführung überflüssiger Regulierung und zur Optimierung der im Telekommunikationsgesetz definierten Rahmenbedingungen dergestalt, dass sie der Entwicklung von Zukunftstechnologien Raum geben. Hauptziel bleibt die Herstellung und Gewährleistung eines funktionierenden Wettbewerbs auf den Telekommunikationsmärkten. Ich will hier ganz ausdrücklich feststellen, dass ich den Beschreibungen, die hier zum Teil im Hinblick auf die Telekommunikationsmärkte abgegeben worden sind, in keiner Form folgen kann. ({3}) Die Regulierungsbehörde hat gemeinsam mit der Bundesregierung sehr viel dafür getan, dass in diesem Lande zahlreiche kleine Unternehmen auf den Feldern der Telekommunikation eine Chance erhalten haben und sich als Wettbewerber der großen Telekom entpuppt haben. Vergessen Sie das bitte nicht! Die Gründe dafür, dass Telekommunikationsunternehmen heute in eine Schieflage geraten sind, liegen nicht in der bestehenden Ordnungspolitik. ({4}) - Wir sind hier im Parlament, um gediegen und gepflegt miteinander zu streiten und den bestmöglichen Lösungen zum Durchbruch zu verhelfen. ({5}) Meine Damen und Herren, diese Tour d’Horizon zeigt: Wir haben in der Wettbewerbspolitik auch in dieser Wahlperiode einiges vor. Ich möchte an dieser Stelle sagen, dass ich, auch was die Energiepolitik betrifft, ganz d’accord mit der Auffassung bin, sich nicht auf Regulierungsbehörden zu konzentrieren. ({6}) An einer Stelle bin ich ganz entschieden anderer Auffassung als die Monopolkommission, und zwar, wenn sie vorschlägt, über das ganze Land hinweg in allen leitungsgebundenen Bereichen mit Regulierungsbehörden zu arbeiten. Nein, wir wollen ausdrücklich auch die Verantwortung der Unternehmen abrufen. Nur dann, wenn sich herausstellen sollte, dass solche Unternehmen offensichtlich nicht bereit sind, diese Verantwortung zu übernehmen, würden wir mit einer Regulierungsbehörde arbeiten. ({7}) Ich finde, dass auch dies ein Teil politischen Handelns ist, das sich sehr wohl und sehr gut in ein marktwirtschaftliches Gefüge einbinden lässt, dem wir uns als Bundesregierung ganz ausdrücklich verpflichtet fühlen. ({8}) Wir sehen sehr wohl - lassen Sie mich das als letzten Gedanken sagen -, dass wir alle auf der Hut sein müssen, um Konzentrationen dort, wo sie den Markt und den Wettbewerb beschädigen, zu vermeiden. - Im Übrigen müssen Sie, Herr Schauerte, zugeben: Die Meinungen in Ihrer Fraktion zu den von Ihnen angesprochenen Themen waren sehr unterschiedlich und sehr breit gefächert. - Wir sehen aber auch, dass wir einer europäischen Herausforderung gegenüberstehen, die bestimmte Fusionen und Unternehmenskonzentrationen zur Grundlage für weiteres wirtschaftliches Bestehen am Markt macht. Dies ist ein Spannungsfeld, mit dem wir uns auseinander setzen müssen. Ich glaube, wir sind uns in Folgendem einig: Diese Auseinandersetzung muss sich am Interesse der Unternehmen, also an der Marktfähigkeit und an der Wettbewerbsfähigkeit, daneben aber immer auch am Verbraucher orientieren. In diesem Sinne bedanke ich mich. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Viel Richtungweisendes wurde von den Vorrednern schon gesagt. Am meisten konnte ich den von Kollegen Schauerte und Frau Kollegin Kopp hier vorgetragenen Ausführungen abgewinnen. Sie haben nämlich den Kern der Sache getroffen, ({0}) was ich in Bezug auf die anderen nicht hinsichtlich aller angesprochenen Bereiche sagen kann. Wir behandeln heute das 744 Seiten starke 14. Hauptgutachten der Monopolkommission 2000/2001. Als wichtigste Erkenntnis aus diesem Monopolgutachten stelle ich fest, dass die Monopolkommission der Bundesregierung zu Recht ins Stammbuch geschrieben hat: Die Konzentrationsprozesse nehmen in allen Branchen zu. Die Großen werden immer größer und die Kleinen, also Mittelstand und Handwerk, verschwinden nach und nach. Konkursverwalter haben Hochkonjunktur. Für das, was hier zu Recht festgestellt wurde, gab die EU-Kommission der Bundesregierung eine schallende Ohrfeige. Deutliche Mängel bei der Wirtschaftspolitik, so lautet das vernichtende Urteil, Herr Kollege Stiegler. ({1}) Ich bedaure sehr, dass Sie heute nicht sprechen konnten, aber Ihre Genossen werden schon wissen, warum Sie heute nicht nochmals reden dürfen. ({2}) Das Statistische Bundesamt hat bekannt gegeben, dass das Wirtschaftswachstum im vierten Quartal 2002 völlig zum Erliegen gekommen ist. Im gesamten Jahr ist die Wirtschaft nur um 0,2 Prozent gewachsen. ({3}) Das ist der niedrigste Wert seit 1993, also seit zehn Jahren, verehrter Kollege Stiegler. Dass dieses geringe Wachstum nicht noch schlechter ist, liegt ausschließlich daran, dass der Export noch mit 1,5 Prozent Zuwachs läuft; die Binnenkonjunktur liegt im Argen. Diese Zahlen sind ein Schlag ins Gesicht der Bundesregierung, die seit Jahr und Tag durch die Lande zieht und den Bürgern den Bären aufbinden will, unsere schwierige Lage sei rein weltwirtschaftlich bedingt. ({4}) - Herr Kollege Stiegler, Ihnen empfehle ich, einmal genau aufzupassen, um Zusammenhänge zu kapieren, sie dann auch global herüberzubringen und mit fundierten Zahlen Rede und Antwort stehen zu können. Anderenfalls muss ich Sie genauso falscher Zahlen bezichtigen, wie ich das bei meiner letzten Rede vor drei Wochen bei der Einbringung des Haushalts bereits tun musste. ({5}) Meine Damen und Herren, es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die wichtigste Ursache für die Wachstumsschwäche eine falsche Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ist. Sie hat zu diesem katastrophalen Ergebnis geführt, dass wir zurzeit vier Millionen Arbeitslose zu verzeichnen haben. ({6}) Die SPD und die Grünen, die sich im Würgegriff der Gewerkschaften befinden, hatten leider nur die großen Unternehmen im Blick. Die so genannte Jahrhundertsteuerreform von Hans Eichel hat die Großen noch reicher gemacht und dem Mittelstand alle Lasten aufgebürdet. Ich verweise auch hier auf das Monopolgutachten. Darin kann man nämlich lesen, dass die hundert größten Unternehmen in Deutschland im Jahr 2000 eine Wertschöpfung von 274 Milliarden Euro aufweisen; das ist gegenüber 1998 eine Steigerung von 11,58 Prozent. ({7}) Die Wertschöpfung aller Unternehmen erhöhte sich dagegen nur um 4,19 Prozent. Der Anteil der hundert größten Unternehmen an der Wertschöpfung aller Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland überschritt somit erstmals ein Fünftel und lag bei 20,01 Prozent. 1998 waren es noch 18,6 Prozent. Wenn solche Zahlen nicht zur Beunruhigung Anlass geben, dann weiß ich es wirklich nicht. Wir sollten uns der Sache wegen mit diesem Monopolgutachten intensiv auseinander setzen und die notwendigen Schlüsse ziehen. Niemand will die Großunternehmen, die für den Standort Deutschland unverzichtbar sind, benachteiligen. Der Staat darf deren Wachstum aber nicht auf Kosten des Mittelstandes beschleunigen; denn sonst lässt sich die Arbeitslosigkeit nicht abbauen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Hinsken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich. Bitte schön.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hinsken, meine Frage geht in folgende Richtung: Wenn ich es richtig sehe, werfen Sie uns vor, wir nähmen das Monopolgutachten nicht ernst. Wir haben vorhin deutlich gemacht, dass wir es in vielen Bereichen sehr ernst nehmen. Aber geben Sie mir Recht, dass man nicht immer alles genauso sehen muss wie die Monopolkommission? Wenn das nämlich so wäre, dann müssten Sie, die Sie das 13. Gutachten gelesen haben, beispielsweise die Liberalisierung der Handwerksordnung fordern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das wollen.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme auf die Handwerksordnung selbstverständlich noch zu sprechen. Das habe ich mir fest vorgenommen. Es muss Ihnen aber zu denken geben, wenn im Monopolgutachten steht, dass die Bundesregierung eine Politik nur für die großen und nicht für die kleinen und die mittleren Betriebe gemacht hat. Lesen Sie das einmal genau nach! Ich darf bei dieser Gelegenheit darauf verweisen, dass nur über eine Förderung des Mittelstandes und der kleinen Betriebe Arbeitsplätze geschaffen werden können. Es kann doch nicht von der Hand gewiesen werden, dass allein von 1980 bis 2000 hier in der Bundesrepublik Deutschland über 1 Million Stellen in der Großwirtschaft abgebaut wurden, während im Mittelstand über 2,9 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen worden sind. Das steht auch im Gutachten. ({0}) Deshalb meine ich sagen zu müssen, dass hier vieles getan werden muss. Frau Präsidentin, der Kollege hat mich gefragt. Nun setzt er sich nieder und Sie lassen einfach die Uhr weiter laufen. Da kann ich doch keine Frage mehr zulassen. ({1}) - Ich bin noch dabei, die Frage zu beantworten. ({2}) Ich bitte um Verständnis dafür. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Lieber Herr Kollege, ich habe die Frage als beantwortet angesehen, der Kollege auch. Es ist vielleicht auch im Interesse aller, heute Abend einmal die Redezeiten einzuhalten. Wir sind schon weit über eine Stunde über die geplante Zeit hinaus. Ich bitte um Verständnis.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich gehe davon aus, dass viele Kolleginnen und Kollegen, die heute Abend hier sitzen, das Monopolgutachten nicht einmal quer gelesen haben. Zu denen gehört sicherlich auch der Kollege Stiegler. ({0}) Ansonsten hätte er zur Kenntnis nehmen müssen, dass die 100 größten Unternehmen im Jahr 2000 circa 3,8 Millionen Mitarbeiter beschäftigt haben, wobei es zwei Jahre vorher noch 40 000 mehr waren. Das Hauptgutachten weist auch aus, dass die nach Beschäftigen zehn größten Unternehmen im Jahr 2000 die folgenden waren: Deutsche Post mit 270 000, Deutsche Bahn mit 220 000, Daimler-Chrysler mit 202 000, Siemens mit 180 000, Deutsche Telekom mit 179 000, Volkswagen mit 164 000, Metro mit 114 000, RWE mit 109 000, Thyssen-Krupp mit 107 000 und Karstadt-Quelle mit 104 000 Beschäftigten. Das sind 1,65 Millionen Arbeitsplätze. Meine Damen und Herren, Ihnen ist ins Stammbuch zu schreiben: Wenn der Bundeskanzler oder führende Leute Ihrer Regierung nur rennen, wenn Firmen wie Holzmann, Babcock oder Mobilcom in Schwierigkeiten kommen, dann ist das falsche Politik. Man muss auch den Inhaber eines kleinen oder mittleren Betriebes mit seinen Sorgen und Nöten sehen und ihn in die Lage versetzen, weiterhin existieren zu können. ({1}) Wenn die 5 000 Großunternehmen in der Bundesrepublik Deutschland jeweils 100 Arbeitsplätze neu schaffen, dann steht das in jeder Zeitung, wie sie auch heißt. Wenn aber von den 3 Millionen Kleinunternehmern, die wir haben, nur die Hälfte in die Lage versetzt werden würde, jeweils einen einzigen Arbeitsplatz zu schaffen, dann ergäben sich nicht, wie im Beispiel mit den Großunternehmen, 500 000 zusätzliche Arbeitsplätze, sondern 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze. ({2}) Darum meine ich, dass es nötig ist, gerade denen besonders das Wort zu reden. Ich darf deshalb nochmals darauf verweisen, dass es meines Erachtens ein Irrweg ist, wenn die Monopolkommission - jetzt komme ich zu Ihrer Frage - einer Abschaffung des großen Befähigungsnachweises im Handwerk das Wort redet. So kommen wir wirtschaftlich gesehen in Deutschland nicht voran. Wenn Sie von Rot-Grün meinen, durch die Abschaffung des Meisterbriefes zu Mehrbeschäftigung zu kommen, dann irren Sie sich. ({3}) - Aber sicher. Lesen Sie einmal die Koalitionsvereinbarung durch! ({4}) Beschäftigung entsteht nur, wenn die Rahmenbedingungen bei Steuern und Abgaben, wenn Aufträge und Inves1544 titionen für die Unternehmen stimmen, und nicht, wenn der Meisterbrief wegfällt. ({5}) Ein Wegfall des Meisterbriefes führt zu Qualitätseinbußen und zu einem erheblichen Nachlassen der Ausbildungsleistung. Daran kann doch nun wirklich niemand Interesse haben. ({6}) Darum möchte ich das, was in diesem Monopolgutachten steht, zurückweisen. Fortentwicklung der Handwerksordnung? - Ja. Modernisieren? - Ebenfalls ja. Eine derartige Behandlung des Ganzen aber bedeutete, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Das wäre ein völlig falscher Weg. ({7}) Deshalb meine ich, dass es gilt, alles zu tun und die Grundlage dafür zu schaffen - ob das die Eigenkapitalausstattung ist, ob das die Betriebsnachfolge ist oder ob das verschiedene andere Dinge sind, die auf den Nägeln brennen -, dass, wie es in diesem Monopolgutachten angemahnt wird, eine bessere Aussage bezüglich der Erwartungshaltung an die Zukunft gemacht werden kann.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, das war ein schöner Schlusssatz.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. - Wir ziehen die notwendigen Schlüsse aus diesem Monopolgutachten. Wir nehmen uns das, was wir für richtig empfinden, auch gerne zu Herzen und sind bereit, dies in die parlamentarische Diskussion einzubringen. Wir hoffen und setzen auf die Vernunft, die anscheinend auf der linken Seite dieses Hauses leider noch nicht vorhanden ist. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 14/9903 und 14/9904 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung Hier: TA-Projekt: Tourismus in Großschutzgebieten - Wechselwirkungen und Kooperationsmöglichkeiten zwischen Naturschutz und regionalem Tourismus - Drucksache 14/9952 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir auch so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schön, dass Sie hier sind - wir haben noch einen wichtigen Tagesordnungspunkt abzuarbeiten. Der vorliegende Bericht zum Thema Tourismus in Großschutzgebieten wurde von der SPD-Fraktion im Tourismusausschuss in der letzen Legislaturperiode auf den Weg gebracht. Ich bedanke mich bei den Verfassern für ihre aufschlussreichen Arbeitsergebnisse. Der Bericht gibt uns nicht nur eine umfassende Sachstandsbeschreibung, sondern zeigt auch konkrete Handlungsstrategien auf. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Dimension, über die wir hier reden, uns allen eigentlich deutlich ist. Oder wussten Sie, dass die deutschen Großschutzgebiete - das sind Nationalparke, Naturparke und Biosphärenreservate zusammen eine Fläche von fast 9 Millionen Hektar und damit etwa ein Viertel der Gesamtfläche der Bundesrepublik einnehmen? Das hohe Ansehen der Großschutzgebiete in der deutschen Öffentlichkeit bildet eine gute Grundlage für die sensible Erschließung durch den Tourismus. Laut einer Befragung des WWF halten 95 Prozent der Bevölkerung die Einrichtung von Schutzgebieten für wichtig, 70 Prozent sprechen sich sogar für eine Ausweitung der geschützten Fläche aus. Im Reiseverhalten schlägt sich das positive Image ebenfalls nieder: 72 Prozent der Bundesbürger legen bei der Wahl ihres Urlaubszieles wert auf konsequenten Naturschutz in der Zielregion. Folgerichtig haben sich die erschlossenen Schutzgebiete inzwischen zu Publikumsmagneten entwickelt. Bereits Mitte der 90er-Jahre fanden, wenn man den Städtetourismus ausklammert, rund 80 Prozent aller Übernachtungen in Deutschland in oder am Rande dieser Gebiete statt. Millionen von Menschen strömen jedes Jahr in die Parke und Reservate. So verzeichnete der Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer - darüber bin ich als Schleswig-Holsteinerin besonders glücklich - Ende der 90er-Jahre mehr als 15 Millionen Übernachtungen. ({0}) Die beiden Nationalparke des Harzes wurden von über 20 Millionen Tagesgästen besucht. Mehr als die Hälfte der Verantwortlichen der Schutzgebiete gaben an, dass der Übernachtungstourismus bei ihnen von großer Wichtigkeit sei. Vom Tagesausflugsverkehr sagten das sogar 85 Prozent. Eine Erkenntnis ist inzwischen unumstritten: Der Tourismus profitiert von der Attraktivität einer intakten Naturlandschaft. ({1}) Deshalb sollten die touristisch bislang noch nicht in dem Maße erschlossenen Großschutzgebiete als wirtschaftliche Chance begriffen und natürlich auch genutzt werden. Wie müssen unsere Strategien zur Förderung des Tourismus aussehen? - Was wir brauchen, sind Strategien, die tragfähig und zukunftsweisend sind; denn Naturschutz und Tourismus sind zwei Komponenten, die aus sich heraus nicht leicht miteinander in Einklang zu bringen sind. In der Vergangenheit wurden durch einseitige Gewichtung schwerste Fehler begangen. Wirtschaftliche Interessen rangierten ganz klar vor Naturschutzbelangen. Durch den Massentourismus des aufblühenden Wirtschaftswunderlandes Deutschland und seiner europäischen Nachbarn wurden nicht nur in den südlichen Ländern Europas, sondern auch hier bei uns in Deutschland katastrophale Fehlentscheidungen getroffen, die zur Folge hatten, dass Naturräume rücksichtslos und unwiederbringlich zerstört wurden. Wir müssen nicht erst an die Küsten Italiens oder Spaniens fahren - ich denke auch an die Ferieninsel Mallorca -, um die Auswirkungen zu sehen. Bei uns in Deutschland wurden ganze Hänge des damals westdeutschen Harzes und der Alpen dem Massentourismus geopfert. Auch an Nord- und Ostsee stößt man auf Sünden eines einseitig ausgelegten Tourismusverständnisses. Zum Glück haben sich die Einstellungen zum Naturschutz und auch das Freizeit- und Urlaubsverhalten der Menschen in den letzten Jahren verändert. Zwar streben noch immer viele Menschen Mallorca-Urlaub mit Ballermann-Romantik an, die Zahl der Urlauber, die Erholung in intakter Natur wünschen, wächst jedoch beständig, ({2}) wie wir am Beispiel der Großschutzgebiete Wattenmeer und Harz, den Rennern unter den Großschutzgebieten, erkennen können. Hier liegt die große Chance, Ökologie und Ökonomie im Tourismus zusammenzubringen. Was wir brauchen, meine Damen und Herren, ist ein auf Nachhaltigkeit ausgerichteter Tourismus, ein Tourismus mit Konzepten, die Naturräume nicht als störende und profitmindernde Drangsal begreifen. ({3}) Die touristische Nutzung von Naturräumen erfordert grundlegende verkehrspolitische Weichenstellungen. Denn wie gelangen wir in die Erholungsparadiese? Die Bewältigung der Verkehrsprobleme, die sich aus touristischen Wachstumsraten in diesen Gebieten ergeben, stellen alle Akteure oft vor geradezu unlösbare Probleme. Wir setzen auf die umweltverträglicheren, auf die öffentlichen Verkehrsträger. Vor allem die Bahn ist gefordert, akzeptable Strategien für Touristen zu erarbeiten, die zum Beispiel auch dem Fahrradurlauber einen angemessenen Platz bieten. ({4}) Der Rückzug der öffentlichen Verkehrsmittel aus den ländlichen Räumen muss gestoppt werden, damit sich Tourismus gerade dort entfalten kann. ({5}) Die Chancen für die regionale Wirtschaftsentwicklung, die sich durch die Großschutzgebieten mit ihrer intakten Natur bieten, müssen in Deutschland weiter ausgebaut werden. Dieser Schritt ist vor allem auch aus arbeitsmarktpolitischen Überlegungen unverzichtbar; denn gerade im Dienstleistungsbereich können neue Arbeitsplätze geschaffen werden, die ländlichen Räumen mit hohen Arbeitslosenzahlen zugute kommen. Wir setzen uns dafür ein, dass auch in Zukunft ausreichende Fördermittel zur Schaffung neuer Arbeitsplätze in die Schutzgebietsregionen fließen. Durch ihren Bekanntheitsgrad und ihre Anziehungskraft eröffnen die Schutzgebiete für Kommunen und Regionen die Möglichkeit, sich im nationalen, aber vor allem auch im internationalen Wettbewerb als unverwechselbares Reiseziel zu präsentieren. Schutzgebiete sind keine isolierten Inseln, sondern immer auch in die Region eingebettet. Damit die umliegenden Gemeinden und die Regionen von ihren geschützten Arealen stärker als bisher profitieren können, sind künftig eine verstärkte Vernetzung zwischen touristischen Angeboten, Marketing und Akteuren in und außerhalb des jeweiligen Schutzgebietes sowie eine kontinuierliche Beteiligung aller Betroffenen unverzichtbar. Von großer Bedeutung für den nachhaltigen Tourismus ist das neue Umweltmarkenzeichen Viabono, das auf Initiative der SPD-Bundestagsfraktion im Jahre 2001 eingeführt wurde. Dafür gilt an dieser Stelle mein Dank. ({6}) Es dient nicht nur der Förderung des umweltfreundlichen Reisens, sondern auch der Vereinheitlichung des noch unübersichtlichen Marktes der Ökosiegel. Für die Großschutzgebiete, die die Kriterien des Markenzeichens erfüllen, wurde auf den Seiten der Deutschen Zentrale für Tourismus eine gemeinsame Vermarktungsplattform geschaffen. Auch das ist übrigens auf die Initiative der SPD zurückzuführen. ({7}) Es ist unbestreitbar, dass wir in Deutschland wirtschaftliches Wachstum brauchen. ({8}) Durch den vorliegenden Bericht wird deutlich, dass die Potenziale des Tourismus als wichtiger Wirtschaftsfaktor in und um Großschutzgebiete noch lange nicht ausgeschöpft sind. Was also ist zu tun? ({9}) Eine bundesweite Vernetzung und gemeinsame Vermarktung der Schutzgebiete stärkt ihre Chancen auf dem internationalen Markt. Wir werden uns deshalb dafür einsetzen, dass die Netzwerkbildung vorangetrieben wird. ({10}) Die Großschutzgebiete übernehmen eine Vorreiterrolle für den nachhaltigen Umbau der Reisebranche. Die Erfahrungen, die dort gesammelt werden, müssen deshalb sorgfältig ausgewertet und den Akteuren des Fremdenverkehrs zur Verfügung gestellt werden. ({11}) Naturverträglicher Tourismus schließt eine umweltschonende Verkehrsinfrastruktur ein. Hier sind die SPD-Fraktion und die Regierung mit ihrem Bekenntnis zur Verkehrswende auf dem richtigen Weg. ({12}) Rot-Grün steht auch in den kommenden Jahren für den Umbau hin zu einer Gesellschaft, die den Schutz unserer Lebensgrundlagen und den Schutz einer sozialen Gesellschaft zum Ziel hat. Dieses Ziel werden wir auch in unserer Tourismuspolitik stets fest im Auge behalten. Übrigens: Nichts spricht dagegen, dass sich auch die Opposition dieser sinnvollen Zielsetzung anschließt. Vielen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich bekomme gerade signalisiert, dass dies die erste Rede der Kollegin war. Ist das richtig? ({0}) - Das war eine Information aus Ihren Reihen. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Auftrag zur Erstellung des vorliegenden Berichtes haben wir als Tourismusausschuss des Deutschen Bundestag in der 14. Legislaturperiode ein Thema weiterbearbeitet, welches in den nächsten Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnen wird. Der heute diskutierte Bericht war nicht der erste und - das kann ich Ihnen versichern wird auch nicht der letzte sein, der sich mit dem Thema beschäftigt. ({0}) Der Nationalparkgedanke ist weit über 100 Jahre alt und dennoch aktuell und attraktiv wie nie zuvor. In den USA ins Leben gerufen, gab es auch in Deutschland, wie in meiner Heimat, dem Elbsandsteingebirge, in den 30erJahren des letzten Jahrhunderts erste Überlegungen, diesen einzigartigen Landschaftsraum mit seiner charakteristischen Tier- und Pflanzenwelt zu einem Nationalpark zu erklären. Leider hat der Zweite Weltkrieg verhindert, dass dieser Gedanke in die Realität umgesetzt werden konnte. Nach Ende des Krieges und der Teilung unseres Vaterlandes gab es in den 50er-Jahren erneut Bestrebungen, das Elbsandsteingebirge zum Nationalpark zu erklären. Jedoch war der Begriff „national“ den SED-Ideologen ein Dorn im Auge. Deshalb wurde das Projekt „Landschaftsschutzgebiete in Mitteldeutschland“ initiiert. Mit der deutschen Einheit kamen dann zu den bestehenden fünf westdeutschen Nationalparks fünf weitere in den neuen Bundesländern sowie eine Vielzahl von Naturparks und anderen Großschutzgebieten hinzu. Nicht umsonst sprach Klaus Töpfer vom Tafelsilber der deutschen Wiedervereinigung und meinte die Nationalparks, Städte und Kulturvielfalt im größer gewordenen Deutschland. Diese Aussage galt vor 13 Jahren und sie hat auch noch heute ihre Gültigkeit. Durch die Nationalparks sind wichtige Grundlagen für die nachhaltige touristische Entwicklung in ganz Deutschland gelegt worden. Naturerlebnis wird ein immer wichtigeres Reisemotiv und deshalb ist eine verstärkte touristische Nutzung und Vermarktung von Nationalparks eine große Chance für den Tourismusstandort Deutschland. Das Forschungsinstitut BAT hat vor einiger Zeit ermittelt, welche Gründe den Urlauber animieren, eine Reise anzutreten. Und siehe da! Immerhin 71 Prozent - das ist in den Angaben der führende Platz - verweisen auf schöne Landschaften. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der erste deutsche Nationalpark im Jahre 1970 im Bayerischen Wald vom bayerischen CSU-Ministerpräsidenten Dr. Alfons Goppel und seinem Landwirtschaftsminister Dr. Hans Eisenmann und als Folge der zweite im Berchtesgadener Land gegründet wurden. Kein Geringerer als der heutige bayerische Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber hat den Mut gehabt, den Nationalpark Bayerischer Wald - unser Kollege Ernst Hinsken hat dort seinen Wahlkreis - gegen den Widerstand vieler lokaler Kritiker flächenmäßig erheblich zu vergrößern. ({1}) - Ich wusste nicht, dass der Kollege Stiegler seinen Wahlkreis ebenfalls im Bayerischen Wald hat. Sie sehen: Umwelt, Natur und Landschaftsschutz waren bei CDU und CSU schon lange in guten Händen, und zwar bevor ideologisch geprägte Umweltdebatten stattfanden. Bei uns in Sachsen steht die Staatsregierung zu ihrem Nationalpark. Allein in diesem Jahr sind 20 Ranger von der Forstverwaltung für die neuen Aufgaben der Besucherführung, Information und Landschaftspflege freigestellt worden. Mit der richtigen Landesregierung kann auch der Osten Deutschlands Vorreiter sein. Ich habe mich ganz besonders gefreut, dass Frau Staatssekretärin Probst - auch jetzt ist sie anwesend persönlich mit mir und vielen anderen im vergangenen Jahr bei einer Veranstaltung des Nationalparks zugegen war und dadurch auch ihrem Einsatz für die Bewahrung des Elbflusslaufes in meiner Heimat, der Sächsischen und der Böhmischen Schweiz, Nachdruck verliehen hat. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken. ({2}) Das sowohl für den nationalen wie für den internationalen Markt touristische Vermarktungspotenzial hat auf Initiative der CDU/CSU-Fraktion nun auch die Deutsche Zentrale für Tourismus erkannt und bezieht dies in ihre Publikationen ein. Das ist der richtige Weg. Warum sollen wir nicht mit Pfunden wuchern, die uns die Natur geschenkt hat? Trotz dieser positiven Entwicklung gibt es allerdings Defizite, die die Politik in den nächsten Jahren beherzt angehen muss. In der Bundesrepublik Deutschland haben wir in der Zuständigkeit für Nationalparks und Großschutzgebiete eine Besonderheit. Die Zuständigkeit liegt nicht beim Bund, sondern bei den Ländern. Damit nehmen wir weltweit eine Sonderstellung ein. So hat zum Beispiel unser Nachbar Österreich trotz seines ebenfalls föderalen Aufbaus die Dachmarke „Nationalparks Austria“ ins Leben gerufen, die vom Bund finanziert und zentral beworben wird. Daran könnten wir anknüpfen. Ich habe ein Exemplar der Broschüre mitgebracht. Ich würde mich freuen, wenn die Kollegen, vor allem der SPD und der Grünen, unseren Antrag, den wir in einer der nächsten Sitzungen einbringen werden und in dem es um die Erhöhung der Mittel für die Deutsche Zentrale für Tourismus geht, unterstützen würden, damit auch solche intelligenten Projekte zur Vermarktung des Wirtschaftsstandorts Deutschland gefördert werden können. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der festen Überzeugung, dass wir zur Stärkung der Nationalparks eine Nationalparkstiftung gründen sollten, in der sich Bund, Länder und Parks organisatorisch neu ausrichten. Eine einheitliche Ausbildung und Ausstattung des Personals, eine gemeinsame nationale und internationale Vermarktung, die Entwicklung eines gemeinsamen touristischen Leitbildes und eine gemeinsam abgestimmte Investitionsplanung sollten meiner Auffassung nach die Zukunft des Nationalparkgedankens bestimmen. Dann können wir den Naturschutzgedanken besser im Bewusstsein unserer Bevölkerung verankern und gleichzeitig den Tourismusstandort Deutschland stärken. Lassen Sie uns hierfür gemeinsame Anstrengungen unternehmen! Vielen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat eine Abgeordnete zu Ihrer ersten Rede das Wort, nämlich die Abgeordnete Undine Kurth.

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu dieser zugegebenermaßen etwas späten Stunde und in einem doch ziemlich intimen Kreis möchte ich zuerst, auch im Namen meiner Fraktion, den Autoren dieses Berichts danken, weil sie uns konkrete Aussagen zu dem liefern, was wir alle, zumindest diejenigen, die sich intensiver mit diesem Thema befassen, schon lange vermutet haben. Der Umfang der Nutzung touristischer Angebote im Zusammenhang mit Großschutzgebieten, also Nationalparken, Biosphärenreservaten und Naturparken, ist bereits jetzt beachtlich und liefert einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Schutz der Natur auf der einen Seite, aber auch zur Stärkung des Binnentourismus auf der anderen Seite. Den Kommunen und Regionen bietet sich die Chance, sich im Wettbewerb als unverwechselbare Destination für spezifische Zielgruppen attraktiv zu positionieren und damit Grundlagen für eine solide wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen. Wichtig ist uns auch der Aspekt, dass der Tourismus in Großschutzgebieten eine Alternative zu flächen- und infrastrukturintensiven Freizeitnutzungen, zum Beispiel Freizeitparks, darstellt. Das ist angesichts des fortschreitenden Flächenverbrauchs in unserem Land, den wir alle zu Recht wahrnehmen und mit Sorge sehen, von nicht zu unterschätzender Bedeutung. ({0}) Um die genannten positiven Effekte zu erreichen, müssen Tourismus und Naturschutz allerdings eine Partnerschaft eingehen. Die Perspektive einer solchen produktiven Partnerschaft gründet auf der Möglichkeit so genannter Win-win-Effekte, um es auf Neudeutsch zu sagen. Man kann es auch viel simpler ausdrücken: Es müssen schlicht beide etwas davon haben; der Naturschutz auf der einen Seite, die Tourismuswirtschaft auf der anderen Seite. Diese Effekte ergeben sich nicht von selbst. Ein Interessenausgleich kann nur durch sorgfältige Planung, die Einbeziehung aller Betroffenen und durch flankierende Maßnahmen erreicht werden. ({1}) Es wird sich aber mit Sicherheit lohnen - davon sind wir fest überzeugt -, die Praxis eines Zusammenwirkens von Tourismus, Naturschutz und Regionalentwicklung im Kontext von Großschutzgebieten als ein sowohl ökolo1548 gisch als auch ökonomisch attraktives Konzept weiterzuverfolgen und auszubauen. ({2}) Die vorliegende TAB-Studie bestärkt uns in dieser Haltung. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen: Für den Nationalpark Bayerischer Wald hat der von der Kommission in Brüssel herausgegebene „Euro-Brief“ für Ende der 90erJahre eine tourismusinduzierte wirtschaftliche Wertschöpfung von immerhin 4 460 DM je Hektar und Jahr errechnet. Das ist eine beachtliche Zahl, die man manchen immer wieder vorhalten sollte. Hinter dem Tourismus in oder mit Großschutzgebieten steht also ein nennenswerter wirtschaftlicher Wert, und zwar bundesweit wie auch weltweit. ({3}) Bedacht werden muss dabei in jedem Fall, dass die Verbindung zwischen Naturschutz und Tourismus sowohl durch gegensätzliche als auch durch übereinstimmende Interessen gekennzeichnet ist. So profitiert der Tourismus zwar einerseits von der intakten Natur; andererseits kann er aber durch einen unbedachten Umgang mit dieser intakten Natur seine eigenen Grundlagen zerstören. Leider gilt der Naturschutz - das ist immer noch so und stellt keine ideologische Sichtweise dar - als vermeintliche Bremse für eine touristische Entwicklung; andererseits soll er aber die für den Tourismus so wichtigen intakten landschaftsbezogenen Grundlagen sichern. Hier kann man eigentlich nur von angewandtem Spaltungsirresein reden. Man muss in jedem Fall beide Aspekte gleichzeitig beachten. Für die Lösung dieser Konflikte ist die Akzeptanz durch die lokale Bevölkerung wesentlich, die zumeist von Nutzungseinschränkungen am ehesten und unmittelbar betroffen ist. Es gelingt zwar immer besser, Gäste, Touristen und Ausflügler in die naturgeschützte Region zu holen. Aber wir müssen wesentlich mehr Anstrengungen darauf verwenden, bei der Bevölkerung vor Ort Akzeptanz zu wecken. ({4}) Die Kunst besteht also darin, die vor Ort lebenden Menschen für die Naturschutzidee zu gewinnen. Bei Planung, Erweiterung und Veränderungen von Naturschutzgebieten, die auch zu Veränderungen im unmittelbaren Umfeld der betroffenen Bevölkerung führen, muss diese einbezogen, frühzeitig informiert und nach ihrer Meinung gefragt werden. Ansonsten fühlen sich diese Menschen wie Besucher. Sie sind dann auf dem gleichen Informationsstand wie Gäste, was verständlicherweise zu Unbehagen führt. In der Wirtschaft gibt es viele hochinteressante Monitoringprogramme, um Vertreter gegensätzlicher Interessenlagen miteinander ins Gespräch zu bringen und zwischen ihnen einen Ausgleich herzustellen. Wir sollten sehr darauf drängen, dass Monitoring auch hier systematisch eingesetzt wird, damit man dort zu besseren Ergebnissen kommt. ({5}) Aufgeräumt werden muss mit dem Irrglauben, dass Nationalparke und Biosphärenreservate oder sogar Naturparke nur mit Einschränkungen und Verboten verbunden seien. Bei Beachtung aller Dimensionen des Tourismus in Großschutzgebieten kann die ganze Region, wie wir alle wissen, nachweislich von dieser Verbindung profitieren. Es entstehen neue Wirtschaftszweige, alte Wirtschaftszweige werden wiederbelebt. Es gibt viele Effekte, die die Region voranbringen. Mit bislang 13 Gebieten - ich hoffe, dass es mehr werden - sind Nationalparke in unserem Land ein knappes wirtschaftliches Gut. 95 Prozent der deutschen Bevölkerung - das wurde vorhin schon erwähnt - halten die Einrichtung von National- und Naturparken für richtig. 70 Prozent meinen, es sollten sogar noch mehr Flächen unter Naturschutz gestellt werden. Das können nicht nur grüne Wählerinnen und Wähler sein; das muss darüber hinausgehen. Hier sollten sich in den Ländern noch mehr parteienübergreifende Bündnisse für die Einrichtung von Großschutzgebieten bilden. Das ist ein wunderbares Angebot für eine gute Zusammenarbeit auf diesem Gebiet, die in unser aller Interesse liegen muss. ({6}) - Ich sagte, dass wir Naturparke auf den Weg bringen wollen. Es war eine gute Entscheidung, dass auf Initiative meiner Fraktion das TA-Projekt „Tourismus in Großschutzgebieten“ beschlossen wurde; denn der vorgelegte Endbericht zeigt auf, dass die Konflikte zwischen Naturschutz und Tourismus zum Nutzen für beide Seiten gestaltbar sind. Wenn wir diese berücksichtigen, werden wir auf diesem Gebiet auch zu guten Ergebnissen kommen. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer erste Rede in diesem Hohen Haus. ({0}) Seine erste Rede hält jetzt auch der Abgeordnete Jürgen Klimke. ({1})

Jürgen Klimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben jetzt vieles zu dem Bericht gehört, insbesondere von Rot-Grün. Meine lieben Kolleginnen, der Worte habe ich viele gehört, allein mir fehlt der Glaube. Lasst jetzt Taten Undine Kurth ({0}) folgen! Wir wollen jetzt den Bericht nicht lange prüfen, wir wollen nicht fordern und nicht appellieren, sondern wir müssen die Chancen aufgreifen, die uns dieser Bericht gibt. Es geht darum - das ist hier gesagt worden -, zwei Komponenten miteinander zu verbinden: wirtschaftliches Wachstum und Naturbewusstsein. ({1}) Meine Damen und Herren, wir sollten die Konsequenzen rasch ziehen und nicht so lange warten, wie die Erstellung des Berichts gedauert hat, nämlich drei Jahre. Wenn wir rasch Konsequenzen ziehen, werden Sie uns an Ihrer Seite haben. Schließlich sind wir schon seit langem an der Seite der Natur: CDU und CSU als Gralshüter der Natur, als diejenigen, die der Bundesrepublik den grünen Daumen gebracht haben! ({2}) Wir haben hierfür zwei Beispiele gehört. 1985 wurde der Nationalpark Wattenmeer von der CDU-Regierung in Schleswig-Holstein initiiert. Der Nationalpark Bayerischer Wald wurde 1970 ins Leben gerufen. Zu dieser Zeit wusste die SPD noch nicht einmal, wie man Naturschutz schreibt. Der Naturbezug der Grünen bestand im Steinewerfen. ({3}) Meine Damen und Herren, nachhaltiger Tourismus wird also schon sehr lange und nicht erst seit Rot-Grün praktiziert - das muss man noch einmal betonen -, ({4}) weil wir schon frühzeitig erkannt haben, dass er das notwendige Vitamin B für strukturschwache Regionen ist, um wirtschaftliche Prosperität zu stärken und die regionale Kultur und Identität zu schützen. Es geht also um die friedliche Koexistenz von Krabbenfischer und Wattwurm, von Almbauer und Alpenveilchen. Wir wissen, dass der Bericht - auch das ist schon gesagt worden - das Rad nicht neu erfindet und dass Juist und Amrum nicht erst seit Rot-Grün autofrei sind. Wir wissen auch, dass das Konzept des nachhaltigen Tourismus inzwischen von Flensburg bis Garmisch und von Duisburg bis Bitterfeld umgesetzt wird. Wenn aber von der SPD-Kollegin „Viabono“ sozusagen als ein Paradepferd genannt wird, dann kann ich nur warnen. Statt dieses zu bejubeln, sollten Sie lieber aufpassen, dass es nicht floppt. „Viabono“ hatte zum Ziel, bis Mitte dieses Jahres 1 000 Hotels und 100 Gemeinden unter seinem Label zu vereinen. Wo sind wir jetzt? Gerade bei 10 Prozent! Strengen Sie sich also ein bisschen an, wenn Sie sich mit diesem Punkt weiter identifizieren wollen. ({5}) Wie soll ein Konzept für einen - nennen wir es ruhig so - Naturtourismus im Jahre 2010 aussehen? Die doppelte Zielsetzung sind die Sicherung des Natur- und Umweltschutzes in den ausgewiesenen Gebieten und die Möglichkeit der regionalen Wertschöpfung durch touristische Nutzung. Die betroffenen Regionen - darauf wird auch im Bericht hingewiesen - brauchen Umweltmanagementsysteme, um den Spagat zwischen Wirtschaft und Naturschutz zu schaffen. Wir brauchen vor allen Dingen einen sanften Urlaubstourismus mit Kultur, Sport und Bewegung, Urlaub auf dem Bauernhof sowie mit Angeboten für Familien, sozial Schwache und die Jugend. Gerade diese Konkretisierung liegt uns am Herzen. Nachhaltiger Tourismus - das ist ganz wichtig; das darf ich Ihnen vielleicht noch einmal sagen - muss aus unserer Sicht auch eine soziale Funktion haben. ({6}) Intakte Natur darf nicht ein Gut sein, das sich nur Vermögende leisten können. Natur hat auch eine gesellschaftliche Funktion über alle Grenzen hinweg. Das müssen wir immer wieder deutlich machen. ({7}) Wie kann die Politik hier helfen? Es gibt sicherlich die Möglichkeit gesetzlicher Steuerungsmaßnahmen. Es sollte aber nicht zu viel Dirigismus geben; denn das Miteinander ist hier das Entscheidende. Wir können sicherlich auch über Steuererleichterungen sprechen; das werden wir im Ausschuss auch tun. Aber eines ist mir ganz besonders wichtig: Wir müssen bedenken, dass Naturschutz nicht an unseren Grenzen Halt macht. Der Nationalpark Wattenmeer erstreckt sich auch über die Grenzen Deutschlands hinweg nach Dänemark. Die Boddengewässer hören nicht vor Polen auf und die Alpen, Herr Kollege Hinsken, enden nicht an der Zugspitze. Was will ich damit sagen? Wir müssen versuchen, unsere europäischen Nachbarn einzubinden und das Konzept des nachhaltigen Tourismus zu exportieren. Wir sollten darüber hinaus auch versuchen, zumindest diese Idee in die Entwicklungsländer zu exportieren; denn dort ist der Tourismus eine dynamische Wachstumsbranche und ein Wirtschaftsfaktor mit großem Entwicklungspotenzial. Hier müssen wir, die politisch Verantwortlichen, den Unternehmen und der Reisebranche deutlich machen, dass eine ungebremste touristische Entwicklung irreversible Schäden und dauerhaften Verlust von Ökosystemen nach sich zieht. Wir sollten den Tourismus nicht nur konsumieren, sondern auch versuchen, mit dem Tourismus, wie wir ihn definieren, etwas zu lehren. Wir müssen national das vorleben, was wir von anderen einfordern. ({8}) Albert Schweitzer hat einmal gesagt: Wir leben in einem gefährlichen Zeitalter. Der Mensch beherrscht die Natur, bevor er gelernt hat, sich selbst zu beherrschen. Wir sollten zeigen, dass wir dies als Hoffnung und Herausforderung und nicht als Risiko begreifen. Mit dem vorliegenden Bericht haben wir die entsprechenden Werkzeuge in die Hand bekommen. Nutzen wir sie gemeinsam! Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. Auch Ihnen herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede in diesem Haus. ({0}) Der Abgeordnete Christian Eberl hat darum gebeten, seine Rede zu Protokoll geben zu dürfen1). Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind wir damit am Schluss der Redeliste zu diesem Punkt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache14/9952 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 b auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({1}) zu dem Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP Weitergeltung von Geschäftsordnungsrecht - Drucksachen 15/1, 15/2, 15/178 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Uwe Küster Eckart von Klaeden Ekin Deligöz Interfraktionell ist eine Aussprache vereinbart worden. Der Abgeordnete Küster soll für die Darstellung des Standpunktes aller Fraktionen fünf Minuten Redezeit erhalten. Die Abgeordnete Lötzsch soll ebenfalls fünf Minuten Redezeit erhalten. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Uwe Küster.

Dr. Uwe Küster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Wählerinnen und Wähler haben am 22. September vergangenen Jahres einen neuen Deutschen Bundestag gewählt. Die PDS verfehlte damals die 5-ProzentHürde und konnte auch keine drei Direktmandate in den Wahlkreisen gewinnen. Die Zweitstimmen der PDS konnten damit gemäß unserem Wahlrecht bei der Konstituierung des Deutschen Bundestages nicht berücksichtigt werden. Die fraktionslosen Kolleginnen Pau und Dr. Lötzsch schafften als PDS-Direktkandidatinnen in ihren Wahlkreisen den Direkteinzug in den Deutschen Bundestag. Auf Frau Pau kamen gut 53 000 und auf Frau Dr. Lötzsch rund 57 000 Wählerstimmen. Die Abgeordneten Pau und Dr. Lötzsch haben eine Änderung der Geschäftsordnung beantragt. Ich zitiere: Mitglieder des Bundestages, die sich zusammenschließen, ohne Fraktionsmindeststärke zu erreichen, sind eine Gruppe. Aufgrund dieses Änderungsantrags könnten sich zwei Abgeordnete automatisch zu einer Gruppe zusammenschließen. Durch diesen Automatismus würde ein Beschluss des Parlaments über seine eigene innere Organisation in dieser Frage unmöglich werden. Laut erstem PDS-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1991 ist eine Anerkennung als Gruppe nur zwingend, falls der Zusammenschluss von Abgeordneten der gleichen Partei oder einem Wahlbündnis so mitgliederstark ist, dass auf ihn unter Berücksichtigung der Größe der Ausschüsse und des angewandten Berechnungsschlüssels, des Zählverfahrens, ein Ausschusssitz oder mehrere Ausschusssitze entfallen würden. Das dürfte in der 15., also der jetzigen, Wahlperiode mindestens acht Mitglieder voraussetzen. Dieses Quorum wird von den beiden fraktionslosen Abgeordneten deutlich verfehlt. Insbesondere aus diesem Grund hat der 1. Ausschuss den Änderungsantrag der beiden Kolleginnen einstimmig abgelehnt. Alle Fraktionen sind der gemeinsamen Auffassung, dass dem Plenum auch zukünftig die ausdrückliche Entscheidungskompetenz in dieser Frage vorbehalten bleiben muss. Nur so kann die Funktionsfähigkeit des Bundestages als Arbeitsparlament sichergestellt werden. Nach der geltenden Geschäftsordnung ist auch nur das Plenum legitimiert, einer neu gebildeten Gruppe bestimmte Rechte zuzuerkennen. Das betrifft unter anderem Art und Umfang an Ausstattung in finanzieller und sächlicher Hinsicht. Die Fraktionen lehnen den vorgeschlagenen Automatismus bei der Gruppenbildung ab. Abgeordnete könnten sonst Zweckbündnisse eingehen, um in einer Gruppe die ihnen dann zustehenden Rechte zu nutzen. Kleine Gruppen könnten die parlamentarische Arbeit unseres Plenums allerdings deutlich behindern. Nach der geltenden Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages stehen fraktionslosen Abgeordneten eine beratende Mitwirkung und Rederecht in einem Bundestagsausschuss zu. Darüber hinaus haben sie Zutritts- und Informationsrecht in allen anderen Ausschüssen des Deutschen Bundestages. Fraktionslose Abgeordnete sind zudem bei der Möglichkeit, im Plenum zu Wort zu kommen, deutlich besser gestellt als Abgeordnete der Fraktionen. Letztlich ist den fraktionslosen Abgeordneten eine Nutzung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages möglich. Die Kolleginnen Pau und Dr. Lötzsch können also an der politischen Willensbildung im Parlament und an der Entscheidungsfindung des Bundestages teilnehmen. Ihre parlamentarischen Mitwirkungsrechte sind vollauf gewährleistet. Aus diesem Grunde lehnen die Fraktionen den Änderungsantrag der Kolleginnen Pau und Lötzsch ab. Vielen Dank. ({0})1) Anlage 3

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erst einmal möchte ich eine Bemerkung in eigener Sache machen. Ich heiße Gesine Lötzsch. Ich bitte darum, meinen Namen mit einem langen ö auszusprechen. Auch wenn sich das bei drei Phonemen und sieben Graphemen nicht zwingend ergibt und ein gewisser Widerspruch zu sein scheint, ist es ein langes ö. Es hat sich eine ganz große Koalition aller Fraktionen gegen unseren Antrag zusammengefunden. Das ist wirklich bemerkenswert. Wenn es Schule macht, dass bei jedem Tagesordnungspunkt nur noch ein Vertreter für alle Fraktionen spricht und dann eine PDS-Abgeordnete das Wort bekommt, dann werden unsere Bundestagsdebatten übersichtlicher und Sie müssen hier nicht mehr so lange sitzen. ({0}) Wie ist die Einheit und Geschlossenheit aller Fraktionen zu erklären? Es geht in dieser zehnminütigen Debatte um die Stellung von direkt gewählten Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Frau Pau und ich - das wurde hier bereits anhand von Zahlen ausgeführt - wurden in unseren beiden Wahlkreisen direkt in den Deutschen Bundestag gewählt. Damit verbindet sich ein Wählerauftrag, den wir gern erfüllen wollen. Doch die ersten 100 Tage hier, im Bundestag, haben gezeigt, dass alles unternommen wird, um gerade das zu verhindern. Wie schon ausgeführt wurde, besteht eine große Einmütigkeit in diesem Haus darüber, dass wir keine weiteren Rechte erhalten sollen. Allerdings ist völlig klar, dass wir mit den Rechten, die wir haben, die Bundesregierung nur sehr eingeschränkt kontrollieren können. In der Kontrolle der Regierung aber - das schreibt die Verfassung so vor - besteht eine wesentliche Aufgabe von Volksvertretern. Wir haben als fraktionslose Abgeordnete nicht das Recht, Kleine Anfragen an die Bundesregierung zu stellen. Jeder andere Abgeordnete, ob direkt oder über die Liste gewählt, hat dieses Recht. Einmal im Monat ist es uns gestattet, maximal vier Fragen an die Bundesregierung zu stellen. Das Antragsrecht ist auf Anträge in zweiter oder dritter Lesung beschränkt und damit so gut wie wertlos; denn die Diskussionen sind abgeschlossen und die Anträge erleiden das Schicksal der Ablehnung. Warum fordern wir in unserem Antrag also den Gruppenstatus? Wir wollen nicht mehr, sondern nur die gleichen Rechte, die alle anderen Abgeordneten im Deutschen Bundestag haben. Das betrifft das Fragerecht und das Antragsrecht. Aber es geht auch um die konkreten Arbeitsbedingungen. Die unendliche Geschichte mit dem fehlenden Tisch und dem abgeklemmten Telefon kennt mittlerweile fast jedes Kind in dieser Republik. Der Bundestagspräsident muss einen guten Teil seiner Arbeitszeit darauf verwenden, Bürgerinnen und Bürgern zu erklären, warum wir im Parlament keinen Tisch bekommen. Auch der Petitionsausschuss ist mit dieser Angelegenheit befasst. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die materielle und finanzielle Ausstattung eines Abgeordneten in einer Fraktion ist um ein Vielfaches besser als die Ausstattung eines Einzelabgeordneten. Nun hat Herr Thierse, der leider nicht anwesend ist ({1}) - gleiches Recht für alle -, zu seiner Verteidigung erklärt, dass die Wählerinnen und Wähler nun einmal so entschieden haben; die PDS sei vom Wähler, nicht vom Bundestag abgestraft worden. Doch bei den Wahlen wurde meiner Meinung nach nicht darüber entschieden, dass es Abgeordnete erster und zweiter Klasse geben soll. Es wurde auch nicht darüber entschieden, ob man die Rechte direkt gewählter Abgeordneter einschränken soll. Auf meinem Wahlzettel stand das jedenfalls nicht. Ich denke, es stand auch nicht auf Ihrem. Wir würden auf den Gruppenstatus verzichten, wenn sich die anderen Parteien darauf einigen könnten, die Rechte der Abgeordneten zu stärken. Damit würden sie auch die Demokratie in diesem Lande stärken. Doch daran haben die Spitzen aller Fraktionen kein Interesse. Die Stellung der Fraktionsvorsitzenden ist im Gegensatz zu der der Abgeordneten nicht im Grundgesetz verankert; doch sie haben mit der Geschäftsordnung und vielen Gremien die Macht auf sich konzentriert und sie haben auch dafür gesorgt, dass einzelne Abgeordnete häufig zu Kleindarstellern in ihren Fraktionen verkommen. In diesem Sinne ist unser Antrag ein Antrag für alle Abgeordneten, die ständig unter Fraktionszwängen zu leiden haben und deren Kompetenzen immer mehr eingeschränkt werden. Ich empfehle Ihnen also dringend, diesen Antrag anzunehmen; denn Sie würden dadurch mehr gewinnen als verlieren. Vielen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich danke auch und schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Änderungsantrag der Abgeordneten Gesine Lötzsch und Petra Pau zu dem interfraktionellen Antrag zur Weitergeltung von Geschäftsordnungsrecht. Der Ausschuss empfiehlt, den Änderungsantrag auf Drucksache 15/2 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der beiden Abgeordneten Lötzsch und Pau angenommen worden. Der Antrag zur Änderung der Geschäftsordnung ist damit abgelehnt. Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 17. Januar, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.