Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Da wir uns das erste Mal in diesem Jahr sehen, wünsche ich Ihnen allen ein freundliches, gutes und friedliches neues Jahr.
({0})
Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass der ehemalige Kollege Gerhard Scheu aus dem Stiftungsrat der Stiftung „Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen“ ausscheidet. Als seine Nachfolgerin wird
die Kollegin Dorothee Mantel vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist die Kollegin Mantel für den Stiftungsrat der Stiftung „Humanitäre Hilfe“ benannt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung
der Bundesregierung zu ihren verschlechterten Prognosen
für das Wirtschaftswachstum in Deutschland im Jahr 2003
und der daraus geforderten Erhöhung der Neuverschuldung für den Bundeshaushalt
2. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({1}): Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dirk Fischer ({2}), Eduard Oswald, Georg Brunnhuber,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Bundesfernstraßenfinanzierungs- und Managementgesellschaft
({3}) - Drucksache 15/299 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4})
Haushaltsausschuss
3. Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Daniel
Bahr ({5}), Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Sechsten
Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
({6}) - Drucksache 15/313 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
4. Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Wahl der vom Deutschen
Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Kuratoriums
der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland“ - Drucksache 15/304 5. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Anrufung des Vermittlungsausschusses zu dem Zwölften Gesetz zur Änderung
des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ({7}) - Drucksachen 15/27,
15/74, 15/76, 15/120, 15/298 6. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Dienst des Bundes
- Drucksache 15/227 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({8})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Weiterhin wurde vereinbart, Tagesordnungspunkt 10
- internationales Insolvenzrecht - vor Tagesordnungspunkt 9 - GATS-Verhandlungen - aufzurufen und über
die bisher ohne Debatte vorgesehene Beschlussempfehlung zur Weitergeltung von Geschäftsordnungsrecht - Tagesordnungspunkt 19 b - heute als letzten Punkt der Tagesordnung zu beraten.
Darüber hinaus mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 16. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen
({9}), Dirk Fischer ({10}), Eduard
Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU: Seesicherheit optimieren - nationaler und europäischer Handlungsbedarf
nach Tankeruntergang der „Prestige“ - Drucksache 15/192 Präsident Wolfgang Thierse
überwiesen:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Der in der 12. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Rechtsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Abbau von
Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen
({12})
- Drucksache 15/119 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Aussschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:
a) Vereinbarte Debatte
40 Jahre Élysée-Vertrag - Zusammenarbeit
und gemeinsame Verantwortung für die Zu-
kunft Europas
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der FDP
Entwurf einer gemeinsamen Erklärung der
Französischen Nationalversammlung und des
Deutschen Bundestages zur interparlamentari-
schen Zusammenarbeit
- Drucksache 15/295 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Andreas Schockenhoff, Dr. Friedbert Pflüger,
Peter Hintze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
40 Jahre deutsch-französischer Freundschaftsvertrag - für eine neue Qualität und Dynamik
der deutsch-französischen Beziehungen
- Drucksache 15/200 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union ({14})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
40 Jahre Élysée-Vertrag - Die deutsch-französische Zusammenarbeit fortentwickeln und in
gemeinsamer Verantwortung für Europa die
Zukunft mitgestalten
- Drucksache 15/296 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union ({15})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Franz Müntefering, SPD-Fraktion, das Wort.
({16})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
22. Januar 1963, also vor fast genau 40 Jahren, unterzeichneten ein Franzose, Präsident Charles de Gaulle, und
ein Deutscher, Bundeskanzler Konrad Adenauer, den Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit, den
Élysée-Vertrag. Heute würdigen wir dieses Jubiläum in
einer Debatte im Deutschen Bundestag. Aus dem damaligen Vertrag der Aussöhnung und über Zusammenarbeit ist
ein Dokument der Freundschaft zwischen unseren Völkern geworden.
({0})
Am Jahrestag in der kommenden Woche werden der
Deutsche Bundestag und die Französische Nationalversammlung, also die frei gewählten Abgeordneten als Vertreter ihrer Völker, gemeinsam das Ereignis würdigen und
in Versailles beieinander sein. Wir werden gerne dort sein
und freuen uns darauf.
({1})
Dass sich die beiden Parlamente treffen, habe es noch
nie gegeben; das haben manche in Deutschland in großen
Buchstaben reklamiert. Richtig, das gab es noch nie. Gerade deshalb ist es so wichtig. Das sei vor allen Dingen
Symbolik, wurde geschrieben. Richtig, das ist ein Symbol, aber ein gutes.
({2})
Das koste viel Geld, wurde beanstandet. Richtig, das kostet viel Geld. Was für eine glückliche Zeit, in der sich
Menschen über die Kosten eines gemeinsamen freundschaftlichen Jubiläums Deutschlands und Frankreichs erregen können und nicht über die Milliarden klagen müssen, die für Kriege zwischen unseren Völkern ausgegeben
wurden!
({3})
Ich bin Jahrgang 1940. Ich habe noch als Kind gelernt,
dass Franzosen unsere Feinde seien. Sie standen im Krieg
meinem Vater gegenüber. Er kam Gott sei Dank heil
zurück. Meine Generation hat dann gelernt, dass Franzosen, Briten, Amerikaner und all die anderen, die im Zweiten Weltkrieg Nazideutschland gegenüberstanden, nicht
unsere Feinde sind, dass wir sogar Freunde werden können. Nun haben wir seit bald 58 Jahren Frieden an dieser
Stelle in Europa. Das gab es an dieser Stelle in Europa
noch nie, zumindest über Jahrhunderte nicht. Wenn es diesen Frieden seit 58 Jahren nicht gäbe, dann würden wir
heute nicht über Wohlstand und nicht über einen Sozialstaat auf hohem Niveau sprechen; wir hätten ganz andere
Sorgen.
Wir müssen uns daran erinnern, wie dieser Friede in
Europa und der Wohlstand in Europa möglich wurden,
und daran, dass diese Entwicklung kein Zufall ist, dass
kluge, weitsichtige Menschen, auch verantwortliche Politiker, dabei eine große Rolle spielten. Nicht Politik allein,
aber eben doch auch und im Wesentlichen Politik hat das
bewirkt.
Das gilt auch für die großen Herausforderungen, vor
denen wir in dieser Zeit stehen. Politik kann nicht alles und
es gelingt ihr nicht alles. Aber sie hat die Macht und die Kraft,
Weichen zu stellen, zum Beispiel was die gute Zukunft
Europas angeht, und daran wollen wir mitwirken.
({4})
Wir wissen, dass dieses Europa mehr als Deutschland
und Frankreich und deren Freundschaft ist, dass aber
diese Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich
der unverzichtbare Fokus für diese historische Entwicklung war und bleibt. Diese Freundschaft ist nichts Exklusives; aber sie ist exemplarisch. Die deutsch-französische
Zusammenarbeit bleibt für die Entwicklung Europas wesentlich.
Im Frühjahr 1961, noch vor dem Élysée-Vertrag, war ich
bei einem der ersten Bataillone der deutschen Bundeswehr,
die in Frankreich zu Gast sein durften, in Mourmelon. Viele
haben damals noch gezweifelt, ob das trägt und ob das geht:
Deutsche in Uniform in Frankreich. Manche, auch in
Frankreich, haben nicht klatschen mögen. Wir haben das
verstanden, besonders als wir an den riesigen Feldern mit
den vielen, vielen Kriegsgräbern der Opfer gedachten. Aber
die Zeichen standen überall auf Freundschaft.
Edith Piaf, Juliette Gréco, Jacques Brel faszinierten
uns, auch wenn wir ihre Sprache nicht verstanden. Existenzialismus war Mode, aber auch viel mehr. Albert Camus
und Jean-Paul Sartre beeindruckten und beeinflussten
uns. Camus‘ „Der Mensch in der Revolte“ und „Der
Mythos von Sisyphos“ haben eine ganze Generation deutscher Jugendlicher mit geprägt.
Die deutsche und die französische Jugend standen beieinander und nicht mehr gegeneinander. Das DeutschFranzösische Jugendwerk hat diese große Idee in feste
Form gebracht. Mehr als 7 Millionen Jugendliche haben
im Rahmen dieses Jugendwerks seitdem das jeweils andere Land kennen gelernt. Diese Idee braucht immer wieder neue Impulse. Jede Generation muss das neu lernen
und erleben: die anderen zu kennen und gute Nachbarn
nach innen und nach außen zu sein.
({5})
Am 23. Januar, nächste Woche, am Tag nach dem Zusammentreffen von Bundestag und Nationalversammlung
in Versailles, werden Bundeskanzler Gerhard Schröder
und Präsident Chirac hier in Berlin mit jungen Menschen
aus Frankreich und aus Deutschland über die gemeinsame
Zukunft diskutieren. Eine solche Veranstaltung ist längst
nicht mehr sensationell; aber sie ist ein gutes Zeichen
dafür, dass die Jugend und die Politik den Mut und die
Ausdauer haben, die Freundschaft zwischen unseren Völkern zu festigen und auszubauen.
({6})
Ich will für meine Fraktion ein Dankeschön sagen an
die vielen großen und kleinen Kommunen in Deutschland
und Frankreich, etwa 5 000 insgesamt, die lebendige
Städtepartnerschaften pflegen.
({7})
Da wird ganz unspektakulär Frieden, Freundschaft und
Wohlstand sicherer gemacht. Diese inzwischen gute Tradition darf nicht zur Routine werden. Dieses Jubiliäumsjahr des Élysée-Vertrages ist eine gute Gelegenheit, der
Idee der Städtepartnerschaften neue Impulse zu geben und
die enge Verflechtung der zivilen Gesellschaften und auch
der Wirtschaft zu stärken.
Wir würdigen heute einen Vertrag, der in vielem die
Ziele der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorweggenommen hat. 1963 verpflichteten sich beide Staaten auf die Koordinierung ihrer Außen-, Sicherheits-, Jugend- und Kulturpolitik. 1988 wurde diese Kooperation
auf die Wirtschafts- und Währungspolitik erweitert. Ganz
selbstverständlich haben sofort nach der deutschen Einheit Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl bekräftigt, dass der Élysée-Vertrag auch für das vereinte
Deutschland Gültigkeit und großes Gewicht hat.
Kernstück des Élysée-Vertrages war damals, eine gemeinsame Konzeption in der Außen- und Sicherheitspolitik
zu entwerfen. Heute haben wir längst ein deutsch-französisches Korps, in dem eng und regelmäßig zusammengearbeitet wird.
Wir sind darüber hinaus bei der gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorangekommen, auch wenn wir noch nicht am Ziel sind. Das gilt
auch für die Wirtschafts-, Innen- und Rechtspolitik sowie
für andere Politikbereiche.
Im Dezember 2002 hat der Europäische Rat in
Kopenhagen den Beitritt von zehn weiteren Ländern beschlossen - eine historische Entscheidung. Wir sind stolz,
dass die deutsche Bundesregierung unter Führung von
Bundeskanzler Gerhard Schröder einen so entscheidenden
Beitrag dazu geleistet hat.
({8})
Aber auch das große Engagement der EU-Kommission
und besonders des zuständigen Kommissars Günter
Verheugen hat eine besondere Anerkennung verdient. Es
ist gerade heute wichtig, daran zu erinnern, dass Günter
Verheugen wegen seiner Verdienste um die Erweiterung
am 9. Januar in Polen als Mann des Jahres ausgezeichnet
wurde. Das wurde in Deutschland kaum registriert. Wir
gratulieren ihm zu diesem außerordentlichen Ereignis
ganz herzlich.
({9})
Jetzt beginnt der Abschluss des großen europäischen
Projekts: die endgültige Überwindung der Teilung Europas.
Zusammen mit Frankreich wollen wir dafür sorgen, dass
das größer werdende Europa politisch erfolgreich geführt
werden kann. Wir wollen eine europäische Verfassung, die
Demokratie, Transparenz und Entscheidungsfähigkeit garantiert.
Der EU-Konvent ist mitten in der Arbeit. Vor wenigen
Tagen hat der Präsident des Konvents in der „Süddeutschen
Zeitung“ über die zukünftige Verfassung für Europa geschrieben und einen Vorschlag für den Art. 1 einer solchen
Verfassung gemacht:
... eine Union von Staaten und Völkern, die ihre Politiken eng miteinander abstimmen und auf föderale
Weise bestimmte gemeinsame Zuständigkeiten wahrnehmen.
Sie alle wissen: Vieles wird noch zu konkretisieren sein;
aber die Dinge kommen in Bewegung. Das gilt auch für die
Frage nach den neuen Führungsstrukturen der EU.
Bundeskanzler Schröder und Präsident Chirac haben
sich verständigt und gemeinsam ihren Vorschlag unterbreitet für die Wahl des Präsidenten des Europäischen Rates
durch den Rat und für die Wahl des Präsidenten der Kommission durch das Europäische Parlament. Es kann uns
Abgeordnete nur freuen, dass das Europäische Parlament
auch insofern an Kompetenz gewinnen soll.
({10})
Von herausragender Bedeutung wird auch sein, die
richtige und belastbare Lösung der mit der Bündelung der
außen- und sicherheitspolitischen Aufgaben verbundenen
Probleme zu finden. Auch dazu gibt es einen Vorschlag
Deutschlands und Frankreichs.
Europa, seine neue Dimension, seine neue Verfassung,
Europa als Voraussetzung für dauerhaften Frieden und für
Wohlstand, all das wird eines der großen Themen deutscher Politik in den kommenden Monaten und auch in den
kommenden Jahren sein und sein müssen.
Keines der europäischen Länder wird seinen Wohlstand allein dauerhaft sichern können. Auch die größeren Länder in Europa, zum Beispiel Frankreich und
Deutschland, werden dazu nicht in der Lage sein. Mit
anderen Worten: Dieses Europa mit seinen rund
500 Millionen Menschen, mit seinen großartigen Potenzialen ist eine gewaltige Chance für die Zukunftsfähigkeit dieses Teils der Welt und eine Hoffnung weit darüber hinaus. Die gute Erfahrung, die wir Deutschen und
die Franzosen mit dem Élysée-Vertrag gemacht haben,
soll dabei Ansporn sein.
Die bewährte Freundschaft zwischen Sozialdemokraten aus Deutschland und Sozialdemokraten und Sozialisten aus Frankreich wird dabei helfen. Die Spitzen unserer
Fraktionen haben gestern hier, in Berlin, konferiert und
noch einmal festgestellt: Keiner der beiden Staaten, keine
der verschiedenen Nationen Europas konnte vor 40 Jahren vor den Herausforderungen einer Welt, die dem Gebot
der damaligen Supermächte unterworfen war, im Alleingang bestehen. Das ist insgesamt auch heute so und es
wird auch in Zukunft so sein. Die vielfältigen Anforderungen einer von scharfem Wettbewerb und dem Verlust
politischer und ethischer Maßstäbe gekennzeichneten
Welt machen das freundschaftliche und enge Zusammenwirken von Deutschland und Frankreich und allen europäischen Nationen unverzichtbar.
Frieden und Demokratie zu bewahren, Wohlstand zu
entwickeln, das europäische Sozialstaatsmodell zu erhalten, Chancengerechtigkeit zu gewährleisten, den Ärmsten
der Welt zu helfen, das sind unsere gemeinsamen Aufgaben. Wir sehen die Europäische Union in einer Mitverantwortung für den Frieden in der Welt. Wir Abgeordneten verleihen unserer Hoffnung Ausdruck, dass es der
internationalen Gemeinschaft gelingt, den Irakkonflikt
friedlich zu lösen. Wir begrüßen die Aussagen, die Bundeskanzler Schröder dazu in diesen Tagen noch einmal
gemacht hat.
({11})
Am 22. Januar werden der Deutsche Bundestag und die
französische Nationalversammlung in Versailles gemeinsam und feierlich ihren Willen und ihre Entschlossenheit
bekunden, unsere beiden Länder miteinander in eine gute
Zukunft zu führen. Zwischen all den Sorgen und Aufgaben, die dort in Frankreich und hier in Deutschland auf der
politischen Tagesordnung stehen, ist das eine Nachricht,
die Anlass für viel Zuversicht gibt.
Vielen Dank.
({12})
Lieber Kollege Müntefering, da Sie uns das Vergnügen
bereitet haben, an Ihrem Geburtstag hier eine Rede zu halten, möchte ich Ihnen sehr herzlich, wie ich denke, auch
im Namen des Hauses, zu Ihrem Geburtstag gratulieren.
({0})
Ich erteile nun das Wort Kollegin Angela Merkel,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir feiern und debattieren heute über den 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages und werden aus diesem Anlass
auch in wenigen Tagen in Paris sein. Wir können feststellen: Er hat sich als das wichtigste Fundament der deutschfranzösischen Zusammenarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg und zugleich als eine der wichtigsten Grundlagen
für Versöhnung, Zusammenarbeit und Frieden auf dem
europäischen Kontinent erwiesen.
Fünf Seiten schlichten Papiers - dennoch war es ein
politisches Programm für die bilateralen Beziehungen
zwischen Deutschland und Frankreich. Wenn man sich
die einzelnen Punkte noch einmal anschaut, stellt man
vielleicht nichts Ungewöhnliches fest: Im ersten Teil geht
es um Abstimmung in den wichtigen Fragen der Außenpolitik einschließlich der Europapolitik, der Ost-West-Beziehungen, der NATO- und der UNO-Fragen - damals
schon alles so aufgeschlüsselt - sowie der Entwicklungspolitik, in einem zweiten Teil um gemeinsame Ziele auf
dem Gebiet der Verteidigungs-, der Rüstungspolitik und
des Zivilschutzes. Also insgesamt ein Programm, das
überschaubar ist.
Für mich war es sehr interessant, dass von Anfang an
als dritter Schwerpunkt auch die Förderung der deutschfranzösischen Jugendarbeit und einer entsprechenden
Zusammenarbeit beinhaltet war. Ich denke, der Jugendaustausch muss auch für die Zukunft der Kraftquell sein,
aus dem heraus sich jede Generation das deutsch-französische Verhältnis wieder neu erarbeiten kann.
({0})
Wichtiger vielleicht als die einzelnen Punkte erschienen Adenauer und de Gaulle damals schon die dahinter
stehenden politischen Überzeugungen zu sein, die in einer
gemeinsamen Erklärung zu dem Vertrag dann auch sichtbar wurden:
… in der Überzeugung, dass die Versöhnung zwischen dem deutschen und dem französischen Volk,
die eine Jahrhunderte alte Rivalität beendet, ein geschichtliches Ereignis darstellt, das das Verhältnis
der beiden Volker zueinander von Grund auf neu gestaltet …
Und weiter:
... in der Erkenntnis, dass die Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern einen
unerlässlichen Schritt auf dem Wege zu dem vereinigten Europa bedeutet, welches das Ziel beider Völker ist …
Auf der Basis dieser Grundüberzeugungen hat sich die
deutsch-französische Kooperation in allen Partei- und
Regierungsstrukturen der letzten Jahre bewährt und immer wieder entwickelt sowie alle Häme und alle Fragezeichen überwunden. Deshalb ist es unsere Aufgabe,
diesen Jahrhundertvertrag auch weiter am Leben zu erhalten.
({1})
Nun habe ich noch einmal nachgelesen: Damals war
die Debatte um diesen deutsch-französischen Vertrag, der
uns heute so einleuchtend erscheint, gar nicht so unkontrovers; denn eingebettet in eine konkrete weltpolitische
Lage wurde natürlich durchaus und von allen Fraktionen
gleichermaßen die Frage gestellt: Ist es richtig, dass wir in
einer solchen weltpolitischen Situation einen bilateralen
Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich abschließen, oder geben wir damit vielleicht dem Bilateralismus
zu viel Gewicht, sodass die atlantische Partnerschaft
zurücktreten könnte? - Das ist ein Thema, das auch in der
heutigen weltpolitischen Lage immer wieder eine Rolle
spielt.
Es war damals so, dass sich die französische Armee aus
der militärischen Zusammenarbeit in der NATO zurückgezogen hatte; außerdem gab es das französische Veto
gegen den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft - zwei Vorgänge, die die Parlamentarier in Deutschland mit Recht beunruhigten.
Adenauer mit seinem Sinn fürs Praktische ließ sich nicht
beirren. Er stellte dem Ratifikationsgesetz flugs eine
Präambel voraus, die die Dinge klarstellte - sehr zum
Missfallen von Charles de Gaulle.
Nun hatten diese historischen Kontroversen sicherlich
ihre Bedeutung; aber heute haben sie nur noch den Wert
einer Fußnote der Geschichte. Uns steht die Frage vor Augen: Welche Bedeutung hat dieser Vertrag für die Zukunft
und wie können wir ihn immer wieder mit Leben erfüllen?
Meine Damen und Herren, es ist unstrittig, dass es eine
Vielzahl interessanter deutsch-französischer Kooperationen gibt. Als Beispiel nenne ich das Jugendwerk. Ich verbinde das mit der Bitte, dass dieses Jugendwerk nicht finanziell ausgezehrt wird; denn jede Generation muss sich
die Kontakte neu erarbeiten.
({2})
- Das Klatschen von Herrn Müntefering stimmt mich
hoffnungsfroh; ich hoffe, dass wir das Gleiche darunter
verstehen. Dieses Deutsch-Französische Jugendwerk ist
nämlich außerordentlich wichtig, um immer wieder junge
Menschen zusammenzubringen. In einer Welt, die vielerlei Faszinationen, gerade kultureller Art, aus dem angloamerikanischen Raum bietet, ist es von Bedeutung, dass
wir sowohl in Bezug auf die Sprachfähigkeit als auch das
gegenseitige Verständnis, wie es Herr Müntefering eben
für seine Jugendzeit dargestellt hat, stets deutsch-französische Impulse setzen.
Wir haben den FernsehsenderArte, wir haben deutschfranzösische Hochschulen, wir haben die deutsch-französische Brigade. Es gibt also eine Vielzahl von Kooperationen. Unsere Volkswirtschaften sind stark miteinander
verflochten. Das ist allerdings mit der Aufgabe verbunden, dafür zu sorgen, dass die deutsch-französische Kooperation Motor und nicht Bremser der europäischen Entwicklung ist und dass das gemeinsame Grundbekenntnis
zur sozialen Marktwirtschaft nicht in schönen Vereinbarungen zur Verlangsamung von Privatisierungen und
Staatseinflüssen genutzt wird. Dafür gab es in der Vergangenheit ungute Beispiele.
({3})
Deshalb müssen wir, wenn wir lebendige Beziehungen
haben wollen, immer wieder kritisch schauen, ob die
deutsch-französischen Beziehungen in Ordnung sind. Der
französische Botschafter in Deutschland hat einmal gesagt, die Beziehungen hätten einen Teil ihres emotionalen
Charakters verloren. Es ist wichtig, dass wir diesen emotionalen Charakter stets deutlich machen und mit Leben
erfüllen.
Weil sich Charles de Gaulle damals bei der Unterzeichnung der Präambel außerordentlich geärgert hatte,
hat er, als er Deutschland im Juli 1963 besuchte, gesagt,
dass Verträge wie Rosen und junge Mädchen seien, sie
blühten nur einen Morgen und deshalb dürfe man an ihnen nicht herummachen.
({4})
- Ich dachte, als Frau kann ich mir leisten, das zu sagen.
({5})
Adenauer griff diese Worte auf und antwortete: „Rosen
und junge Mädchen, natürlich haben sie ihre Zeit; aber die
Rose - davon verstehe ich nun wirklich etwas - überdauert jeden Winter.“ Der deutsch-französische Vertrag hat
sich mehr als Rose denn als junges Mädchen erwiesen.
({6})
Meine Damen und Herren, inzwischen - auch das will
ich anmerken - ist es manchmal so, dass wir, gerade in
Europa, froh sind, dass wir die französische Regierung
haben. Als Beispiel aus jüngster Zeit will ich den Agrarkompromiss nennen. Er wäre sicher nicht so gut geworden, wenn nicht der französische Staatspräsident ein etwas besseres Herz für die Bauern hätte als der deutsche
Bundeskanzler.
({7})
Alfred Grosser hat auf die Frage, ob der Élysée-Vertrag
neu geschrieben werden sollte, geantwortet: Um Gottes
willen, nicht neu schreiben! Aber er hat auch gesagt, dass
er sich vorstellen könne, dass man einen Satz hinzufügt,
nämlich: Wir, der französische Präsident und der deutsche
Kanzler, erkennen an, dass unser hauptsächliches nationales Interesse die Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft ist. Ich glaube, dieser Satz ist von außerordentlicher
Bedeutung. Ich teile ihn uneingeschränkt.
Die Frage, wie es mit Europa weitergeht, hängt natürlich von Deutschland und Frankreich ab. Ich bin sehr
dafür, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister,
dass Sie immer wieder versuchen, gerade zusammen mit
Frankreich Motor der europäischen Einigung zu sein.
Da gab es schlechtere Zeiten. Im Augenblick haben wir
wieder etwas fruchtvollere Zeiten. Ich bitte Sie aber auch,
dass die Schicksalsfragen im Zusammenhang mit der Entwicklung der Europäischen Union wieder vorher im
überparteilichen Konsens geklärt werden. Diese Tradition
scheint in letzter Zeit verloren gegangen zu sein.
({8})
Wir sind bereit, diese Dinge im Vorfeld zu klären. Aber
man muss auch mit uns sprechen.
Ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie sich mit den
Konventmitgliedern der Bundesrepublik Deutschland
- natürlich gibt es keinen Zwang, sich zu einigen - einmal
darüber austauschen, in welcher Art und Weise wir ein
möglichst großes Stück des gemeinsamen Weges gehen
könnten, was die Konventvorschläge anbelangt. Dasselbe
hätte für die Frage der EU-Mitgliedschaft der Türkei gegolten. Da ist das Kind aber leider bereits in den Brunnen
gefallen.
({9})
Die Geschichte des deutsch-französischen Vertrages
ist die Geschichte von Charles de Gaulle und Konrad
Adenauer. Es ist die Geschichte von Helmut Schmidt und
Giscard d’Estaing. Es ist die Geschichte von Helmut Kohl
und François Mitterrand. Es ist die Geschichte, die immer
auf einem breiten Konsens in unseren beiden Völkern
beruht hat. Damit es auch weiterhin eine gute Geschichte
ist, sollte dieses Bemühen um eine gemeinsame, breite
Grundlage nicht verloren gehen.
({10})
Lassen Sie mich das, was Sie in Bezug auf den Konvent
vereinbart haben, von meiner Seite kurz kommentieren.
Erster Punkt. Es ist zu begrüßen, dass der zukünftige
Kommissionspräsident vom Parlament gewählt werden
soll. Das ist eine Forderung, die wir seit langem aufgestellt haben. Ich möchte an dieser Stelle nur die Anmerkung machen, dass man aufpassen muss, dass das
Quorum für die Wahl durch das Parlament nicht so hoch
gesetzt wird, dass letztendlich die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger bei der Europawahl, auf der die Zusammensetzung des Parlaments beruht, völlig nivelliert
wird; denn ein sehr hohes Quorum würde sozusagen eine
gemeinschaftliche Regelung bewirken.
Zweiter Punkt. Wir waren erstaunt, dass der Vorschlag,
nämlich einen ständigen Ratspräsidenten zu installieren, den Sie bisher mit relativ großer Skepsis betrachtet
haben, nun ein gemeinsamer Vorschlag ist. Ich will an dieser Stelle aber sagen, dass wir aufpassen müssen, dass ein
solcher ständiger Ratspräsident nicht der heimliche Herrscher über alle Institutionen Europas wird, und dass wir
dafür sorgen müssen, dass das Verhältnis zum Kommis1428
sionspräsidenten auf festgelegten Zuständigkeiten beruht.
Denn der Sinn des Konvents besteht darin - das darf bei
Diskussion über die Institutionen nicht vergessen werden -,
die Zuständigkeiten zwischen Europa und den Nationalstaaten insgesamt klar zu regeln. Es gilt also, die neuen
Überlegungen in das Gesamtkonzept für die Neuordnung
der EU-Institutionen einzubetten. Es darf deshalb nicht
sein, dass der ständige Ratspräsident Dinge außerhalb seiner Zuständigkeit entscheidet und so den Kommissionspräsidenten in seiner Arbeit behindert.
Es ist auch erfreulich, dass die Kommissare offensichtlich Weisungsrechte bezüglich ihrer Generaldirektion bekommen sollen. Ich begrüße das außerordentlich,
weil damit klarere Verhältnisse geschaffen werden. Aber
beim ständigen Ratspräsidenten stelle ich mir die praktische Umsetzung relativ schwierig vor, weil er natürlich
schnell sozusagen ein Herrscher ohne Unterbau sein
könnte. Man muss sich fragen, woher er diesen Unterbau
nimmt: entweder durch eine Aufblähung des Ratssekretariats, was ich nicht begrüßen würde, oder durch ein Hineinregieren in die Kommission, was ich für genauso
falsch hielte. Über diese Fragen sollten wir ehrlich sprechen, damit wir später sowohl geklärte Zuständigkeiten,
was die Sachaufgaben angeht, als auch geklärte Zuständigkeiten, was die Institutionen anbelangt, haben.
({11})
Wir begrüßen es, dass es nunmehr eine deutsch-französische Gemeinsamkeit in der Frage der Außenvertretungen der Europäischen Union gibt. Allerdings sage
ich auch: Bei allem intergouvernementalen Charakter der
Außen- und Sicherheitspolitik wird es wichtig sein, dass
die Persönlichkeit, die diese Funktion ausübt, auch die
Chance hat, in der Kommission Einfluss zu haben, dass
der Kommissionspräsident weiterhin die Außenvertretung der Europäischen Union übernimmt und dass diese
Zuständigkeit nicht klammheimlich Richtung Rat wandert. Auch das wird ganz wichtig sein.
Meine Damen und Herren, deshalb hoffen wir, dass
wir in die Diskussionen der deutschen und der französischen Regierungen in Zukunft besser mit einbezogen
werden. Ich glaube, es kann der Arbeit im Konvent nicht
schaden. Es ist in anderen Ländern Usus, dass man versucht, die nationalen Interessen durch gemeinschaftliche
Konsultationen vorher zu regeln. Deshalb möchte ich angesichts von 40 Jahren erfolgreicher deutsch-französischer Kooperation diesen Wunsch hier in aller Klarheit
anmelden.
Wir werden in der nächsten Woche nach Paris fahren.
Ich glaube, dass angesichts des besonderen Charakters
des deutsch-französischen Verhältnisses diese Reise des
Parlaments angemessen ist, wenngleich sie eine Ausnahme bleiben sollte. Darüber sind wir uns aber auch einig. Ich glaube, es ist gut, dass es gerade auch mit jungen
Menschen Diskussionen in unserem Land geben wird, die
daraus etwas über das deutsch-französische Verhältnis
lernen können.
Ich bin der festen Überzeugung, dass Deutschland
und Frankreich auch in Zukunft der Motor bleiben müssen, äußere allerdings einen allerletzten Wunsch: Mit der
Erweiterung der Europäischen Union wird es noch
wichtiger sein, dass Deutschland und Frankreich als Motor einer europäischen Einigung auch die Fähigkeit aufbringen, kleine Länder ernst zu nehmen. Deutsch-französische Kooperation darf woanders niemals so gesehen
werden, dass kleine Länder kein wirkliches Mitspracherecht mehr haben. Darauf müssen wir achten, auch bei den
weiteren Arbeiten im Konvent sowie in der sich anschließenden Regierungskonferenz.
Ich glaube, es ist richtig, dass unser Parlament diese
Debatte heute führt, und ich hoffe, sie ist zum Wohle des
deutsch-französischen Verhältnisses.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegin Krista Sager, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 81 Prozent
der Franzosen und 86 Prozent der Deutschen halten gute
deutsch-französische Beziehungen für wesentlich und
wichtig. Aber diese nüchternen Zahlen sagen kaum etwas
darüber aus, wie weit der Weg gewesen ist, den die ehemaligen Erbfeinde Deutschland und Frankreich erfolgreich hinter sich gebracht haben. Um die Bedeutung des
Élysée-Vertrages, der die deutsch-französische Zusammenarbeit auf eine neue, einzigartige Grundlage gestellt
hat, tatsächlich ermessen zu können, muss man schon einen Blick auf die Zeit vor 1963 werfen. Es ist aufschlussreich, was de Gaulle 1944 über Deutschland sagte:
Ein großes Volk, das aber ständig auf Krieg ausgerichtet ist, weil es nur davon träumt, zu herrschen,
das immer bereit ist, denen, die ihm Eroberungen
versprechen, bis zum Verbrechen zu folgen, das ist
das deutsche Volk.
Das ist hart, aber es macht auch den Ausgangspunkt für
die französische Annäherung deutlich. Es stellte sich die
Frage: Was tun mit Deutschland, in der Mitte Europas,
nach zwei verheerenden Weltkriegen und nach dem nationalsozialistischen Massenmord? Diese Frage stellten
sich nicht nur die französischen Nachbarn.
Es waren interessanterweise französische und deutsche
Opfer des Nationalsozialismus, aber auch Männer wie
Jean Monnet und Robert Schuman, die noch vor de Gaulle
und noch vor Adenauer erkannten, dass die Antwort auf
diese zentrale Frage nur in der europäischen Integration
liegen konnte. Als Voraussetzung für diese Integration
sollte die enge deutsch-französische Partnerschaft dienen.
Dass wir heute auf Jahre des Friedens, der Sicherheit und
des Wohlstands in Europa zurückblicken können, ist in
erster Linie dem strategischen Weitblick, aber auch dem
politischen Mut dieser Männer zu verdanken, vor allen
Dingen unseren französischen Nachbarn.
({0})
Dieser strategische Weitblick, diese Vision eines vereinten Europas ermöglichte erst das Hineinwachsen Deutschlands in die Gemeinschaft der demokratischen Staaten
und Völker. Die Vision von der Integration des großen
Deutschlands in eine noch größere Gemeinschaft machte
es überhaupt erst möglich, die Angst vor Deutschland zu
überwinden, und gab außerdem eine Antwort auf die
Frage: Wie können wir die jahrhundertealte Geißel des
Nationalismus in Europa überwinden?
Mit dieser Antwort konnte man sich auch davon befreien, Deutschland dauerhaft schwach oder geteilt halten
zu müssen. Man konnte Deutschland als starken Partner
für Sicherheit und Wohlstand in Europa akzeptieren. Die
Unterstützung dieses Integrationsprozesses durch Frankreich hat letztlich überhaupt erst den Weg für die deutsche
Wiedervereinigung geebnet. Auch dafür sollten wir
heute dankbar sein.
({1})
Nicht Nationalismus und Abschottung, sondern Versöhnung und Partnerschaft sind die Kernmotive der
deutsch-französischen Beziehung. Diese Kernmotive
sind auch heute noch Richtschnur dafür, wie wir mit den
osteuropäischen Staaten nach Überwindung der Blockkonfrontation umgehen. Sie liefern uns immer noch die
Hinweise auch dafür, wie wir mit den Konflikten auf dem
Balkan umgehen, wo erneut die europäische Geißel nationalistischer Auseinandersetzungen und ethnischer Verfolgungen mitten in Europa entflammt ist.
Frieden, Wohlstand und Sicherheit sind durch Annäherung und Partnerschaft tatsächlich erreichbar. Tiefe
Antagonismen und Nationalismen können tatsächlich
überwunden werden. Das durften wir durch die deutschfranzösische Partnerschaft lernen und diese Erkenntnis
können wir heute in Europa gemeinsam in die Bewältigung der anstehenden Aufgaben einbringen.
Für diese Ziele brauchen wir auch weiterhin die Vertiefung und die Erweiterung des europäischen Integrationsprozesses. Lassen Sie mich eines zum Thema der
Erweiterung sagen: Aus den Reihen der Opposition wird
gefordert, die Grenzen der Europäischen Union zu definieren. Ich behaupte: Niemand kann derzeit die Finalität
der EU definieren. Der Erweiterungsprozess ist nicht abgeschlossen. Prodi hat zu Recht in Athen formuliert: Die
Tore der EU sind offen für den Balkan. Ob der Kandidat
dann aufgenommen wird, hängt von der Erfüllung der
wirtschaftlichen Bedingungen und der politischen Grundwerte ab.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch sagen: Diese
Grundwerte, das, was die europäische Wertegemeinschaft ausmacht, und nicht nur Wohlstand und Sicherheit
sind für die Beitrittsländer und -kandidaten besonders attraktiv. Diese Werte sind entscheidend französisch geprägt. Sie beruhen auf den Werten der Französischen
Revolution, der Aufklärung, der Deklaration der Menschenrechte, der Tradition des französischen Geisteslebens und der Rechtsstaatlichkeit.
({2})
Dass Deutschland und Frankreich gemeinsam Motor
und Impulsgeber für diese Werte sein konnten, ist darauf
zurückzuführen, dass sie ihre Spaltung überwinden konnten. Deswegen müssen wir aufpassen, dass die Erweiterung der Gemeinschaft nicht eine neue politische Spaltung auf unserem Kontinent hervorruft. Das sage ich
besonders all denjenigen, die jetzt nach einer Definition
der Grenzen verlangen.
Frau Merkel, Sie haben das Stichwort Türkei angesprochen. Die CDU hat in ihrer Göttinger Erklärung eine
Beitrittsperspektive für die Türkei ausgeschlossen. Dazu
sage ich Ihnen: Der Geist des Élysée-Vertrages ist ein anderer. Der Geist des Élysée-Vertrages ist: Kooperation
und Integration statt Antagonismus. Das ist die Botschaft.
({3})
Natürlich geht es um die Erfüllung der Beitrittskriterien. Aber stellen wir uns einmal vor, wir hätten in den
frühen 60er-Jahren über den Vorschlag diskutiert, ob man
vor dem deutsch-französischen Vertrag nicht erst einmal
in Frankreich eine Abstimmung darüber durchführen
sollte, wie es die Franzosen mit den Deutschen halten.
Frau Merkel, ich bin froh, dass Sie dem Vorschlag eines
deutschen Referendums über den Beitritt der Türkei entgegengetreten sind. Aber Sie hatten dafür eine falsche Begründung. Sie wollen den Deutschen nicht das Recht geben, Volksentscheide und Volksbegehren durchzuführen.
Dies passt nicht in die Zeit; dies ist eine falsche Begründung. Sie hätten mit Blick auf das Jahr 1963 lernen können, wie de Gaulle und Adenauer Ressentiments entgegengetreten sind, sie nicht befördert haben und wie sie
ihre Völker auf dem Weg, Antagonismen zu überwinden,
den sie für richtig erkannt haben, mitgenommen haben.
({4})
Zu Recht ist hier auch das Deutsch-Französische Jugendwerk besonders hervorgehoben worden. Gerade
wenn man das als besonders vorbildlich sieht, dann
müsste man heute eigentlich eher darüber nachdenken,
wie man die deutsch-türkischen Austauschbeziehungen
vertieft, nicht aber, wie man in diesem Zusammenhang
Unüberbrückbarkeiten besonders betont.
({5})
Meine Damen und Herren, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit nach wie vor als Motor für den
europäischen Prozess funktioniert, haben wir gerade vorgestern durch die Vorschläge des deutschen Bundeskanzlers und des französischen Staatspräsidenten erlebt.
Natürlich geben diese Vorschläge nicht auf alle Fragen
eine Antwort - diese Fragen werden im Konvent auch
weiter diskutiert werden müssen -, aber sie sind ein Kompromiss, um Europa handlungsfähiger, demokratischer
und für die Bürgerinnen und Bürger transparenter zu machen.
({6})
Ich bin ganz sicher, dass wir diesen Weg weiter gehen
werden. Es gibt doch nichts Schöneres als die Vorstellung,
dass der europäische Konvent in dem Jahr, in dem wir das
40-jährige Jubiläum des deutsch-französischen Vertrages
feiern, eine Verfassung und eine Grundrechtscharta vorlegt. Das wäre doch wirklich die schönste Würdigung dieses deutsch-französischen Vertrages, die wir uns überhaupt vorstellen können.
({7})
Meine Damen und Herren, die Befürchtung de Gaulles,
der deutsch-französische Vertrag führe zu einem Widerspruch und Frankreich könne mit den gleichzeitigen transatlantischen Beziehungen nicht leben, hat sich zum Glück
nicht bewahrheitet. Alle Befürchtungen, der deutsch-französische Vertrag schlösse aufgrund seiner Besonderheit
weitere Partner aus dem Integrationsprozess aus, haben sich
schon gar nicht bewahrheitet. Ich finde es richtig und gut,
dass gerade vorgestern Frankreich und Deutschland ihre besondere Rolle auch mit Blick auf die gewachsene internationale Verantwortung Europas wahrgenommen haben.
Natürlich ist es wichtig gewesen, dass Bundeskanzler
und Staatspräsident hierbei deutlich gemacht haben, dass
wir auch eine besondere Verantwortung für den Frieden in der Welt haben. Dies heißt, dass die Arbeit der
Waffeninspekteure eine Chance haben muss und wir in
dieser Hinsicht jede Möglichkeit nutzen müssen, eine militärische Auseinandersetzung im Irak zu verhindern.
Auch das ist ein angemessener Beitrag Deutschlands und
Frankreichs zu einer größeren Verantwortung Europas für
den Frieden in der Welt.
({8})
Frau Merkel, Sie haben zu Recht auf den Satz von
de Gaulle hingewiesen, der deutsch-französische Vertrag
sei wie die jungen Mädchen und wie Rosen, die nur einen
Sommer blühen. Vielleicht sollte man, weil gerade die
Franzosen angeblich von Wein und Frauen besonders viel,
angeblich mehr als die Deutschen, verstehen,
({9})
den deutsch-französischen Vertrag eher mit gutem Wein
und gereiften Frauen vergleichen: Beide wachsen mit den
Jahren in ihrer Substanz, beide werden von Jahr zu Jahr
immer gehaltvoller und besser.
({10})
Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Gerhardt für die
FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht
nur ein nüchternes Vertragswerk, über dessen Zustandekommen man hier diskutieren kann. Der Élysée-Vertrag
ist eine historische Leistung ohne Beispiel.
({0})
Er erwuchs aus der unglückseligen Geschichte dieser beiden großen Völker mitten auf dem europäischen Kontinent. Diese Geschichte der unglückseligen Verkettung der
Erbfeindschaften hat Herr Müntefering sehr gut dargestellt; er hat dies zu Recht mit seinem persönlichen Beispiel verwoben. Er ist ein Jahrgang, gar nicht weit von mir
entfernt, der beim Aufwachsen in seiner Familie das
Glück erlebte, dass sein Vater zurückkam; mein Vater ist
in Frankreich beerdigt. Daraus können wir beide wohl
schätzen, was ein solches Vertragswerk bedeutet. Es hat
die größte Friedensperiode geschaffen, die heute viele
vergessen - über die Selbstverständlichkeiten wird ja
nicht mehr geredet -; es versetzt die beiden Völker und
deren Repräsentanten in die Lage, auf europäischer Ebene
Impulse zu geben und Schritte zu realisieren, die nach
Ende der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges niemand
erwartet hatte.
Natürlich gab es Rückschläge. Nicht jede Gipfelveranstaltung war ein großer Erfolg, aber bei den entscheidenden qualitativen Schritten der Europäischen Union sind
Frankreich und Deutschland die Impulsgeber gewesen.
Dabei gab es langwierige Verhandlungen, die zu schwierigen Kompromissen führten. Die Ergebnisse wurden
aber von anderen als akzeptabel empfunden, weil sie wussten, dass zwischen uns, zwischen den Deutschen und den
Franzosen, oft viele psychologische nationale Unterschiede bestehen. Die Verhaltensweisen, die Mentalitäten
sind oft anders, aber die Anstrengungen, zu einem Kompromiss zu kommen, werden so respektiert, dass sie auch
für andere akzeptabel sind.
Das ist das tiefe Geheimnis vieler gemeinsamer Vorschläge von Deutschland und Frankreich. Gerade in der
Unterschiedlichkeit liegt die Chance, dass erreichte Verständigungen für die anderen akzeptabel sind.
({1})
Ein Grundsatz soll für uns gelten: Wir dürfen uns dabei
gegenseitig nicht überfordern und wir müssen anderen gegenüber sensibel sein. Es ist gelungen, dass vielen das
deutsch-französische Vertragswerk und die deutsch-französische Freundschaft nicht nur als ein Stück diplomatischer Vernunft oder notwendiger Zusammenarbeit erscheinen. Es ist wahr, dass die Partnerschaften - die
Städtepartnerschaften, der Jugendaustausch und die vielfältigen Begegnungen - wirklich zu einem Fundament
unterhalb der Ebene der Begegnungen von Wirtschaft,
Verbänden und Politik geworden sind.
Trotzdem empfinden wir, dass wir einen neuen Anstoß
geben müssen. Mit Blick auf die europäischen Gipfel der
letzten Jahre muss ich für meine Fraktion und mich ohne
Vorwurf sagen, dass von ihnen schwächere Impulse als
von früheren Veranstaltungen ausgegangen sind.
Im Übrigen stehen wir nicht nur vor europäischen Herausforderungen: Es wird weiterhin kontrovers bleiben,
ob wir eine Ratspräsidentschaft über einen längeren Zeitraum wollen oder ob es nicht besser wäre, die Kommission, den Kommissionspräsidenten und das Europäische
Parlament zu stärken, um darin den entscheidenden Ansatzpunkt zu finden. Es ist natürlich auch eine Herausforderung, über Staatsanwaltschaften, Grenzpolizei, Verteidigungspolitik und vieles andere in Europa zu reden.
Ich will aber wegen der Kürze der Zeit gleich auf das
Wesentliche zu sprechen kommen: Die Bundesregierung
hat sich bisher im Hinblick auf die Resolution 1441 des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen betreffend den
Irakkonflikt und die Chance, Saddam Hussein durch Inspektoren zur Offenlegung und gegebenenfalls zur Vernichtung von Massenvernichtungswaffen zu bringen,
etwas missverständlich und in der Person des Bundesaußenministers reichlich sibyllinisch geäußert.
Der Bundeskanzler hat - wir nehmen Sie, Herr Bundeskanzler, gern beim Wort - in dieser Woche erklärt, dass
die europäischen Partner auf eine zweite Entschließung
hinarbeiten müssen und er das auch für vernünftig halte.
Die gesamte Bundestagsfraktion der Freien Demokraten
stimmt Ihnen in dieser Äußerung ausdrücklich zu.
({2})
Nach 40 Jahren Élysée-Vertrag, nach den geglückten
Erfahrungen deutsch-französischer Verständigung in bedeutsamen qualitativen europäischen Fragen und in der
Überzeugung, die Sie nun geäußert haben, dass eine europäische Abstimmung, zumindest aber eine gemeinsame
französisch-deutsche Bewertung des weiteren Vorgehens
in der Irakfrage nicht nur wünschenswert, sondern unverzichtbar ist, möchte ich Sie ausdrücklich auffordern, bei
dieser Position zu bleiben und eine enge, verantwortungsbewusste Abstimmung mit Frankreich herbeizuführen und - das füge ich ausdrücklich hinzu - beizubehalten.
({3})
Auch Helmut Schmidt hat das heute Morgen vorgeschlagen. Ich wiederhole das hier deshalb, damit wir uns
richtig öffentlich auseinander setzen und die Chance eines
solchen Freundschaftsvertrags mit Frankreich in der
Frage „Krieg oder Frieden“ - so stellen Sie es immer dar nutzen.
Dabei - das möchte ich ausdrücklich sagen - möchte
ich in dieser Debatte den großen Respekt aller Mitglieder
der Fraktion der Freien Demokraten hier im Bundestag
gegenüber dem französischen Staatspräsidenten erwähnen. Er hat nach unserer Überzeugung durch seine Verhaltensweise, sein Verhandeln, seine klare Aussprache,
aber auch durch sein transatlantisches Bewusstsein stark
persönlich dafür gesorgt, dass die Entscheidung eine Aufgabe des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen geworden ist und dort auch bleibt. Diese ausdrückliche Haltung
sollten wir respektieren.
({4})
Diese Haltung ist nicht daraus entstanden, dass man
beiseite stand, sondern daraus, dass man sich eingemischt
hat und im Dialog geblieben ist. Deshalb sage ich: Es gibt
nicht nur europäische Herausforderungen für die deutschfranzösische Freundschaft. Es gibt heute internationale
Herausforderungen mit für unser Land und für die beiden
Völker hervorragenden Wirkungen.
Angesichts einer solchen Debatte und angesichts des
wichtigsten Punktes, des Themas „Krieg oder Frieden“,
möchte ich die Chance nutzen, dem Bundeskanzler und
der gesamten Bundesregierung zu sagen: Es sollte nichts
unversucht gelassen werden, aus der deutsch-französischen Freundschaft die Kräfte zu bündeln, jetzt gemeinsame diplomatische Initiativen zu entwickeln und zu ergreifen sowie gemeinsame Verantwortung deutlich
werden zu lassen, bis hin zu der Bereitschaft, bei einer gemeinsamen Verständigung dann auch entsprechend gemeinsam abzustimmen. Freundschaft und Klugheit gebieten dies ganz einfach bei einem solchen Vertragswerk,
bei dessen Bedeutung und dessen Chancen.
Ich sage mit Dank für Ihre Aufmerksamkeit: Ich
glaube, beide Völker erwarten dies auch von uns. Damit
wäre für eine überzeugende Position der deutschen Bundesregierung in enger Abstimmung mit dem französischen Nachbarn ein Weg zu gehen, der akzeptabel und
chancenreich wäre, der immer den Krieg als letztes Mittel ansieht und vorher alles aus eigenen Kräften versucht,
ihn zu vermeiden. Sie sollten diesen Weg gehen. Dann
könnten Sie auf die Freien Demokraten hier in der Opposition bauen. Wir würden Sie dabei unterstützen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile nun dem Bundesminister Joseph Fischer,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stehen
vor dem 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages, eines Freundschaftsvertrages zwischen unserem Land und der Französischen Republik. Es ist ein Freundschaftsvertrag, kein
Friedensvertrag, aber dieser Vertrag hat wesentlich zur
Institutionalisierung eines dauerhaften Friedens in Europa
beigetragen.
({0})
Insofern stimme ich allen zu, die diesen Vertrag einen historischen Vertrag, einen Jahrhundertvertrag genannt
haben, denn dies war er tatsächlich.
Franz Müntefering hat aus seiner Biografie heraus
nochmals die frühere Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich benannt. Gerade als Außenminister
begegne ich oft Gesprächspartnern, die sich noch exakt in
einer solchen Situation befinden. Erst jüngst fiel mir dies
wieder ein, als ich mit dem armenischen Staatspräsidenten gesprochen habe. Dabei ging es um einen ähnlichen
Konflikt in Bergkarabach, um einen Konflikt, bei dem
zwei Völker, zwei Nachbarn um dasselbe Territorium
streiten, jeweils mit historischer Legitimität begründet.
Dabei fiel mir ein, welche Bedeutung die deutsch-französische Freundschaft, die deutsch-französische Aussöhnung für den Frieden auf unserem Kontinent tatsächlich
hat.
Wir dürfen nicht vergessen - Franz Müntefering hat es
genannt, ich kann es biografisch nur unterstreichen -: In
meiner Schulzeit wurden die Lehrer noch nach Erbfeind1432
schaften eingeteilt. Da gab es diejenigen, die die Russen,
diejenigen, die die Angloamerikaner, und natürlich immer
wieder diejenigen, die die Franzosen als Erbfeinde begriffen haben. Hierauf beruhte die Einteilung. Dies klingt
heute bereits wie eine Geschichte aus einer längst vergangenen Zeit. Auch dies ist eine der großen Leistungen, die
der deutsch-französische Freundschaftsvertrag, der Élysée-Vertrag, erbracht hat: die Selbstverständlichkeit.
({1})
Denken wir doch einmal daran, was gerade diese
Grenze im deutschen Südwesten an Unglück für die dortige Region, für Baden und für Rheinland-Pfalz und immer wieder auch für das Saarland bedeutet hat und mit
welcher Selbstverständlichkeit diese Grenze staatsrechtlich heute noch existiert, aber faktisch die Menschen nicht
mehr trennt, sondern in einem gemeinsamen Europa
längst durchlässig geworden ist. Hierfür hat der ÉlyséeVertrag Wesentliches geleistet.
Meine Damen und Herren, die deutsch-französische
Aussöhnung war auf dem Hintergrund der Selbstzerstörung des europäischen Staatensystems möglich. Das
Gleichgewicht der Mächte wurde in zwei großen Kriegen
im 20. Jahrhundert, die vor allen Dingen von Deutschland
und Frankreich geführt wurden, endgültig zerstört. Auf
dem Hintergrund dieser Erfahrung haben zwei großartige
Staatsmänner, nämlich Robert Schuman und Jean Monnet,
die Idee eines anderen Prinzips gehabt: gründend auf der
deutsch-französischen Aussöhnung die Integration der Interessen herbeizuführen.
Sie begannen mit der Wirtschaft, aber sie hatten natürlich auch die Kultur und vor allen Dingen die Politik im
Kopf. Das setzte voraus, dass Deutschland und Frankreich zusammenarbeiten, dass diese Erbfeinde gewissermaßen zu Erbfreunden werden. Das war und - ich unterstreiche das - das ist bis zum heutigen Tag die Grundlage,
auch in einer erweiterten Union. Das ist der eigentliche
Charakter des deutsch-französischen Vertrages.
({2})
Diese Vision in Politik umzusetzen war von Anfang an
die große Leistung von Konrad Adenauer, von Willy
Brandt, von Helmut Schmidt, auch von Helmut Kohl und
jetzt von Gerhard Schröder, aller Bundeskanzler und aller
französischen Premierminister und Staatspräsidenten seit
Charles de Gaulle. Diese Vision in konkrete politische
Realität und gelebte gesellschaftliche Realität umzusetzen und dieses gemeinsame Europa zu bauen ist das oberste Ziel und meines Erachtens auch das oberste Interesse
beider Völker, beider Staaten.
Dies gründet mit auf dem Élysée-Vertrag. Deswegen
ist es sehr wichtig - ich freue mich, dass diese Debatte zu
Ende gegangen ist; Frau Merkel, das soll keine Selbstverständlichkeit sein -, dass die beiden Parlamente sich treffen. Ich habe es gestern im Ausschuss gesagt: Vielleicht
haben wir, was die Symbolik betrifft, nicht die Sensibilität
unserer französischen Freunde. Aber für mich ist die Tatsache, dass beide Parlamente sich zum ersten Mal wirklich plenar treffen, ein ganz wichtiges symbolisches Faktum für die Versöhnung unserer beiden Völker. Insofern
wird diese Initiative von der Bundesregierung voll unterstützt.
({3})
Wir haben natürlich von Anfang an auch die kulturelle Dimension gehabt, die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit vor allem der Jugend. Das ist im deutschfranzösischen Freundschaftsvertrag, im Élysée-Vertrag,
von entscheidender Bedeutung gewesen. Wir sollten dieses Vertragswerk nicht nur rückblickend loben; hier
müssen wir uns für die Zukunft neue Initiativen vornehmen.
Mit einer gewissen Sorge sehe ich, dass die Sprachentwicklung, das heißt das Lernen der jeweils anderen Sprache, auf beiden Seiten eher rückläufig ist, um es ganz diplomatisch zu formulieren. Dafür gibt es Gründe: die
Globalisierung; die Tatsache, dass heute Englisch die Lingua franca, die universale, die Weltsprache ist - ohne jeden
Zweifel. Aber wir würden auch und gerade in einem zusammenwachsenden Europa viel an Zukunft im deutschfranzösischen Verhältnis verlieren, wenn wir nicht verstärkt Wert darauf legten, dass das Lernen der jeweils
anderen Sprache für die kommende Generation wieder
auf eine breitere Grundlage gestellt wird.
({4})
Hier müssen wir uns gemeinsam mit den Ländern - ich
denke, da gibt es überhaupt keinen Widerspruch - verstärkt in die Zukunft hinein engagieren. Ich weiß, wie
schwer das ist, aber ich halte das und gemeinsame kulturelle Initiativen für unverzichtbar.
Sie sprechen die Agrarpolitik an. Wenn das Geld da
wäre, würde ich darüber gar nicht so diskutieren. Aber wir
müssen uns schon die Frage stellen, ob wir es uns in der
Welt des 21. Jahrhunderts auf Dauer werden erlauben
können, mehr als 40 Prozent des gemeinsamen Budgets in
der Europäischen Union für Agrarpolitik und Agrarsubventionen auszugeben, während die gemeinsame Kulturentwicklung, Film etc., ziemlich Not leidend ist. Wenn Europa - und das heißt auch Deutschland und Frankreich - in
der Welt von morgen, im 21. Jahrhundert seine Rolle spielen soll, müssen wir die Ressourcen anders einsetzen. Das
wissen Sie, Frau Merkel. Das ist der entscheidende Punkt.
Ich denke, das ist von zentraler Bedeutung.
({5})
Lassen Sie mich hier nochmals klipp und klar sagen:
Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist der Kern
und das Schwungrad der europäischen Entwicklung gewesen und wird dies - so behaupte ich - auch unter den
Bedingungen der EU der 25 bleiben. Das ist die Erfahrung, die ich in den vergangenen vier Jahren gemacht
habe: Wenn Deutschland und Frankreich sich einig sind,
ist das nie exklusiv, gegen andere gerichtet gewesen, sondern hat immer als Schwungrad gewirkt.
Wir haben vorhin Adenauer und de Gaulle und die
Schwierigkeiten, die sich aus der Präambel ergeben haben, angesprochen. Das kam mir plötzlich bekannt vor.
Da hat sich im deutsch-französischen Verhältnis nicht
sehr viel geändert: Die Kompromisse sind schwierig; aber
wenn man sie einmal erreicht hat, treiben sie die europäische Entwicklung unglaublich kraftvoll voran.
({6})
Das ist das Faszinierende am deutsch-französischen Verhältnis.
So nah wir als direkte Nachbarn aufgrund unserer Historie in vielen Bereichen auch beieinander sind, so unterschiedlich - das ist in einer Familie oft so - sind wir. Dieses Spannungsverhältnis ist seit Adenauer und de Gaulle
produktiv. Die Aufgabe des deutsch-französischen Motors ist es, diese Kompromisse für Europa voranzutreiben.
Ich freue mich über Ihre positive Bewertung des vorgestern erreichten Kompromisses. Es war vor allen Dingen
auch eine große Leistung des Bundeskanzlers, die integrativen Elemente in einem europäischen Verfassungskompromiss voranzubringen. Dass die Kommission vom Europäischen Parlament gewählt wird, ist natürlich eine enorme
zusätzliche demokratische Legitimation für die Kommission im Rahmen einer zukünftigen Verfassung. Zugleich
handelt es sich dabei natürlich um einen gewaltigen
Kompetenzzuwachs sowohl für das Europäische Parlament als auch für die Bürgerinnen und Bürger, die dieses
Europäische Parlament aufgrund dieser verstärkten Kompetenz anders sehen und indirekt einen Einfluss auf die
Zusammensetzung der Kommission haben werden.
Gleichzeitig werden wir in der Frage der Ausweitung
der Rechte der Kommission einen entscheidenden Schritt
nach vorne tun. So soll zum Beispiel die Kontrolle der Generaldirektionen von der Politik - genauer gesagt: von der
Kommission - wahrgenommen werden. Das halte ich
ebenfalls für einen ganz entscheidenden Schritt nach
vorne. Wer die praktischen Verhältnisse kennt, wird mir
zustimmen. Die Ausdehnung des Mitentscheidungsverfahrens auf sämtliche Legislativakte der Union ist für die
zunehmenden Rechte des Europäischen Parlaments ebenfalls von sehr großer Bedeutung. Darüber hinaus haben
Sie die Frage der gemeinsamen Außenpolitik angesprochen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die gemeinsame institutionelle Vertretung der Außenpolitik in
Zukunft durch einen EU-Außenminister wahrgenommen
wird.
Frau Merkel, als genauso wichtig sehe ich es an, dass
es uns im gesamten Bereich der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik jetzt gelungen ist, Mehrheitsentscheidungen generell einzuführen. Auch darin sehe ich einen ganz wichtigen Schritt nach vorn. Das reiht sich in die
über Jahre hinweg andauernde Zusammenarbeit dieser
Regierung mit der französischen Regierung ein. Eines
möchte ich Ihnen noch sagen: An diesem Punkt freue ich
mich, dass Sie Ihre Kritik, die Sie in der Vergangenheit
immer geäußert haben, ein Stück weit zurückgenommen
haben. Sie kritisierten ständig, der Bundeskanzler würde
die deutsch-französischen Beziehungen, die europäischen
Angelegenheiten insgesamt, schleifen lassen. Ich kann
Ihnen nur sagen: Mit der Agenda 2000 haben wir unter
diesem Bundeskanzler einen fast nicht möglich erscheinenden Kompromiss erreicht.
({7})
Das war die Voraussetzung dafür, dass wir in praktischen
Verhandlungen weiterkommen konnten.
({8})
Unter der Vorgängerregierung wurde das Jahr 2000 als
Termin für den Beitritt Polens genannt. Ein halbes Jahr,
bevor wir die Regierung übernommen haben, waren die
Verhandlungsdossiers aufgeklappt worden. Unter der
deutschen Präsidentschaft hat der Verhandlungsprozess
Schwung bekommen. In Kopenhagen haben wir den historischen Prozess, nämlich die Verhandlungen mit zehn
neuen Mitgliedstaaten, abgeschlossen.
({9})
Darüber hinaus haben wir unter der deutschen Präsidentschaft den zweiten Teil - nicht nur die Erweiterung der
Union - begonnen. Zugleich - dies geschah, gründend auf
den Kompromiss von Berlin, immer gemeinsam mit Frankreich - war es aufgrund der deutschen Initiative möglich,
den Konvent zu beginnen. Es geht also nicht nur um die Erweiterung, sondern auch um die Verfassung Europas.
Ich stimme der Kollegin Sager völlig zu: Wenn es in
diesem Jahr, dem 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages, gelingt, im Konvent zugleich zu einer europäischen Verfassung zu kommen - die Arbeiten im Konvent laufen auch
dank der Führung von Präsident Giscard d‘Estaing sehr gut
-, dann hat sich das Vermächtnis des deutsch-französischen
Freundschaftsvertrages, des Élysée-Vertrages, 40 Jahre danach erfüllt. Das war und ist das politische Ziel dieser Bundesregierung. Das ist die Politik von Bundeskanzler
Schröder und - das füge ich hinzu - Staatspräsident Jacques Chirac. Ich finde, das ist eine beachtliche Leistung,
die im Interesse Europas liegt.
({10})
Das gilt auch für unsere Verpflichtung zum Frieden.
Ich bin gerne bereit, diese Debatte an anderer Stelle aufzunehmen. An einem Tag wie heute sollten wir aber keine
taktischen Debatten darüber führen, wie die Regierung irgendwohin geschoben werden kann.
({11})
- Es ist für Sie wichtig und völlig legitim. An einem solchen Tag sollten Sie das aber nicht tun. Jetzt ist nicht die
Stunde der Taktik.
({12})
Ich sage Ihnen: Der deutsch-französische Vertrag ist
ein Freundschaftsvertrag, der vor allen Dingen Frieden
geschaffen hat. Wenn sich diese Bundesregierung zu etwas verpflichtet fühlt - dabei sind wir nicht naiv -, dann
ist das die Verpflichtung zum Frieden.
An diesem Punkt ist für uns eines klar: Wir sind für die
Umsetzung der Resolution 1441. Das heißt, die Inspektoren sollen ihre Arbeit tun. Unserer Auffassung nach gibt es
keinen Grund, militärische Gewalt einzusetzen. Unsere
Sorge ist viel zu groß, dass ein Einsatz militärischer
Gewalt im Irak eine Folgekette auslöst, die fatale Wirkungen haben könnte. Aus diesem Grund haben wir uns
von Anfang an klar positioniert. Wir haben gesagt, dass wir
uns an einer militärischen Aktion im Irak nicht beteiligen
werden. Dabei bleibt es. Das ist konkrete Friedenspolitik.
({13})
Ich erteile dem Kollegen Michael Glos, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundesaußenminister, heute ist weniger die
Stunde des Selbstlobes als vielmehr die Zeit, darüber
nachzudenken, was uns der deutsch-französische Vertrag
gebracht hat und was wir aus diesem Geist, der damals die
Staatsmänner beflügelt hat, für unsere Zukunft mitnehmen können.
Wir sind sehr dankbar, dass wir heute auf 40 Jahre Élysée-Vertrag zurückblicken können und dass das erfolgreiche Werk der Gründerväter, die die Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich überwunden haben
und die sich die Hand zur Versöhnung gereicht haben,
auch in die Zukunft getragen werden kann. Ich glaube, das
war damals eine Leistung, die zu Recht den Namen „historisch“ verdient. Damals haben die Gründerväter europäische Geschichte geschrieben. Wir alle in diesem Haus
müssen uns heute bewusst sein, dass deren Handeln für
uns in Zukunft Auftrag und Verpflichtung ist.
({0})
Frieden auf dem alten Kontinent war damals nicht unbedingt selbstverständlich. Wir sind sehr dankbar, dass
dies heute gerade für unsere Kinder und für die nachfolgende Generation vollkommen selbstverständlich geworden ist. Das ist aber nicht immer automatisch so, sondern
an solchen Grundentscheidungen muss immer wieder
weitergearbeitet werden.
Die Bedeutung des Élysée-Vertrages im Einzelnen zu
würdigen hieße, Eulen nach Athen zu tragen. Es ist, wie
gesagt, viel wichtiger, das Ganze in der Zukunft fortzusetzen. Wir wissen, dass der Geist, der damals geherrscht
hat, auch heute notwendig bleibt, um viele Krisen in der
Welt zu überwinden. Wenn zwischen den Nachbarn Misstrauen herrscht, dann lassen sich Krisen nicht überwinden. Trotz der aktuellen Diskussion, trotz der drohenden
Kriegsgefahr im Nahen Osten, trotz der Tatsache, dass es
so aussieht, als ob manches in einem nicht zu stoppenden
Automatismus abläuft, dürfen wir nie vergessen, dass sich
der Einsatz um Frieden immer lohnt.
({1})
Dazu gehört immer auch das Überwinden von Misstrauen, weil nur dann, wenn man Misstrauen überwunden
hat, eine friedliche Nachbarschaft möglich ist. Darin liegt
der historische Kern des Élysée-Vertrages.
40 Jahre Élysée-Vertrag zeigen auch, dass sich
Deutschland Vertrauen bei seinen Nachbarn erworben
hat. Diese Nachbarn sind von Deutschland im letzten und
im vorletzten Jahrhundert nicht immer gut behandelt worden. Wir freuen uns, dass wir Deutschen heute ein anerkannter Partner sind, sowohl bei unseren europäischen
Verbündeten als auch in der Welt überhaupt. Dazu gehört
Verlässlichkeit. Dazu gehört, dass wir Deutschen keine
Sonderwege mehr gehen, sondern dass wir unser politisches Handeln für die Zukunft in diese Partnerschaft einbetten.
({2})
Wenn die deutsch-französische Partnerschaft für den
Fortgang der europäischen Einigung entscheidend geworden ist, dann liegt das an der aufrichtigen Bereitschaft der
Menschen zur Verständigung untereinander. Es ist bereits
gewürdigt worden, dass es sehr viele Städte- und Regionalpartnerschaften gibt, durch die die Menschen immer
wieder zusammenkommen. Der Herr Bundesaußenminister hat zu Recht beklagt, dass die französische Sprache
wie auch die deutsche Sprache in dem jeweils anderen
Land zu wenig gepflegt werden.
Es gibt auch heute noch sehr viele idealistisch gesinnte
Jugendliche, denen der europäische Einigungsgedanke
und die deutsch-französische Verständigung am Herzen
liegen. Ich könnte Ihnen aus meiner eigenen Familie sehr
viel darüber berichten. Mein Sohn hat in Frankreich studiert und dort ein juristisches Examen abgelegt. Insofern
kann ich auch einiges über die praktischen Erfahrungen
berichten, die die jungen Leute dort machen. Er ist sehr
idealistisch gesinnt dorthin gegangen und hat auch alles
gut bewältigt, aber es war ihm nicht verständlich zu machen, warum man sich in Frankreich ein Vierteljahr von
einer Behörde zur anderen anmelden muss, wenn man
dort als Deutscher in einem gemeinsamen Europa studieren will. Sicherlich gibt es immer noch viele praktische
Schwierigkeiten, die überwunden werden müssen. Aber
daran muss gearbeitet werden. Es hilft nicht, mit dem Finger aufeinander zu zeigen.
Entscheidend ist sicherlich auch - wie immer, wenn etwas vorangehen soll -, dass die handelnden Personen ein
gutes Verhältnis zueinander pflegen und dass zwischen
den Staatsmännern die Chemie stimmt, wie man so sagt.
Ich erinnere daran, dass zwischen Adenauer und de Gaulle
die Chemie gestimmt hat; sonst wäre der deutsch-französische Freundschaftsvertrag, über den wir heute reden,
nicht möglich gewesen. Ich erinnere daran, dass auch zwischen Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing die Chemie
gestimmt hat. Ich erinnere auch an das gute Verhältnis,
das zwei an sich so gegensätzlich erscheinende Personen
wie Helmut Kohl und François Mitterrand zueinander gefunden haben.
Die CSU, für die ich hier spreche, hat diesen Prozess
immer unterstützt und ihm auf wichtigen Etappen ihren
Stempel aufgedrückt. Ich erinnere daran, dass Dr. Josef
Müller, einer unserer Parteigründer, zu den Europäern der
ersten Stunde gezählt hat und dass aus der CSU bereits
1946, als es die D-Mark noch nicht gab, eine europäische
Währung gefordert wurde. Ich bin stolz darauf, dass der
damalige Vorsitzende meiner Partei, Theo Waigel, entscheidenden Anteil am Zustandekommen der Europäischen Währungsunion gehabt hat.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn man
den Blick nach vorne richtet, fallen einem viele aktuelle
Notwendigkeiten ein, zum Beispiel, dass Europa nur dann
stark werden und stark bleiben kann, wenn auch unsere
Wirtschaft gut funktioniert. Dabei haben wir Deutsche
eine besondere Verpflichtung. Ich will nicht alle Äußerungen des französischen Premierministers Raffarin über
die mangelnden Anstrengungen der Deutschen zitieren,
den europäischen Wirtschaftsmotor flott zu machen. Wir
müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass wir Deutsche in
Europa auch deswegen beliebt und geachtet sind, weil wir
immer der wirtschaftliche Motor waren. Dass dieser Motor stottert, ist bedauerlich. Es dient der deutsch-französischen Freundschaft und der europäischen Einigung, wenn
wir wieder gemeinsam daran arbeiten und wenn die Bundesregierung auf diesem Gebiet noch besser wird, als es
der Herr Bundesaußenminister dargestellt hat.
Der Verfassungskonvent tritt jetzt in eine entscheidende
Phase. Wir fühlen uns bisher nicht sonderlich eingebunden.
Überhaupt muss man sich nicht wundern, Herr Bundeskanzler, wenn vieles in unserer Gesellschaft nicht mehr zusammengeht, wenn Sie die politischen Eliten - dazu müssen immer noch die politischen Parteien gezählt werden -,
die vorher immer über das notwendige Vorgehen einig
waren, die Opposition nicht mehr einbinden. Früher ist es
nie vorgekommen, dass sich ein EU-Kommissar an die
Opposition gewandt hat. Auch entscheidende Erweiterungsschritte - vorhin ist bereits über die Türkei gesprochen worden - sind nicht diskutiert worden.
Ich meine, wir müssen bei dem, was wir künftig zu gestalten haben, darauf achten, dass wir die Menschen auf
unserem Weg mitnehmen. Wir können ihnen keine weiteren Entscheidungen überstülpen. Auch gibt es gegenwärtig keinen nationalen Konsens, der überhaupt eine Rechtfertigung dafür böte, etwas ohne weitere Diskussion und
ohne Mitentscheidung des Volkes durchzusetzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Menschen erwarten natürlich eine Antwort auf die Frage, wohin in Europa die Reise geht. Die Menschen wollen wissen, welche staatsrechtlichen Ergebnisse am Ende dieses
Prozesses zu erwarten sind, welches die Grenzen des gemeinsamen europäischen Hauses sind und über welches
Selbstverständnis das gemeinsame Europa verfügt. Nur
dann, wenn sich Europa am Schluss als Schicksalsgemeinschaft versteht, wird es sich dauerhaft behaupten
können.
({4})
Nach wie vor befürchtet die große Mehrheit unseres
Volkes infolge des Fehlens eines echten europäischen Bewusstseins, Nation und Region würden auf dem Altar der
europäischen Einigung geopfert. Unter den gegenwärtigen Voraussetzungen sehe ich keinen anderen Weg als
den, die Rolle der Nationalstaaten noch immer als sehr
wichtig zu erachten. Der Vorschlag des französischen
Staatspräsidenten und des deutschen Bundeskanzlers, den
wir prüfen werden, sagt dies ebenfalls aus: Auch in Zukunft wird Europa auf einem Verbund selbstständiger Nationalstaaten aufbauen, die Souveränität nur in einem begrenzten Ausmaß an Europa übertragen. Es ist somit
zwingend erforderlich, Föderalismus und Subsidiarität
nicht nur in Paragraphen, sondern auch in der konkreten
Politik Rechnung zu tragen. Auch darum wird es beim
Verfassungskonvent gehen.
Wir dürfen ferner nicht vergessen, dass Europa auf einem verbindenden historischen Erbe aufbaut. Die Europäer bekennen sich zu einer gemeinsamen Werteordnung auf den Grundlagen des Christentums und der
Aufklärung. Nur dann, wenn wir diese uns verbindenden
Werte aufrechterhalten, kann es zu einer eigenen gemeinsamen europäischen Identität kommen. Herr Bundeskanzler, Folgendes kann ich Ihnen in diesem Zusammenhang nicht ersparen: Dass die verbindenden europäischen
Werte, die man definiert, wie man es gerade braucht - als
es um die Türkei ging, ist darüber nicht diskutiert worden -,
ausgerechnet an Österreich ausprobiert werden sollten,
war ein schlimmes Bubenstück, das wir eigentlich vergessen machen sollten, an das wir als Opposition aber immer wieder erinnern müssen.
({5})
Aufgabe des gemeinsamen Europas muss es sein, die
globalen Probleme mit zu gestalten, Frieden und Freiheit
in der Welt zu erhalten und den Terrorismus zu bekämpfen, der natürlich auch Europa bedroht. Manche Diskussionen in unserem Land - auch in unseren Reihen - zeigen, dass das Bewusstsein der Menschen zu gering ist,
dass auch wir in der Bundesrepublik Deutschland mitten
im Herzen Europas vom internationalen Terrorismus bedroht sind und im eigenen Interesse gegen diesen Terrorismus vorgehen müssen.
({6})
Dazu brauchen wir ein handlungsfähiges Europa. Lassen
Sie uns auch in Zukunft daran bauen!
Danke schön.
({7})
Ich erteile Kollegin Angelica Schwall-Düren, SPDFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Einer meiner Großväter liegt auf dem Hartmannsweiler Kopf, einem Bergrücken der Vogesen, begraben,
gefallen in den letzten Monaten des mörderischen Ersten
Weltkrieges. Mein Vater geriet 1945 verwundet in französische Kriegsgefangenschaft. Meine Kindheit in Baden
war durch die französische Besatzung geprägt. Mein Vater verdiente nach 1945 das Brot für seine junge Familie
als Arbeiter im Dienst des französischen Militärs. Das
sind Einzelereignisse aus einer durch Feindschaft und
blutige Auseinandersetzungen geprägten deutsch-französischen Geschichte.
Und dann geschieht nach dieser leidvollen Geschichte
das Unglaubliche: Trotz brutaler Okkupation Frankreichs
durch die Deutschen und trotz Gestapo- und SS-Terror haben unsere Nachbarn uns nach der NS-Zeit die Hand zur
Versöhnung gereicht. Franzosen und Deutsche haben aus
Feinden Freunde gemacht. Die zwischen den beiden Zivilgesellschaften und Regierungen aufgebaute Partnerschaft wurde bereits vor 40 Jahren durch den Élysée-Vertrag feierlich besiegelt.
Heute fragen uns viele Menschen: Macht es denn noch
Sinn, wegen der notwendigen Versöhnung ein besonderes
Verhältnis zu Frankreich zu rechtfertigen und aufrechtzuerhalten? Die Versöhnung ist doch längst erledigt. Heute
geht es doch um andere Fragen in Europa. Heute muss
zum Beispiel die Aussöhnung mit Tschechien und Polen
vorangebracht bzw. vollendet werden. Heute muss die europäische Zukunft gestaltet werden.
In der Tat ist das, was noch unsere Eltern und Großeltern für undenkbar hielten, nämlich dass sie ohne jede
Schranke in das jeweils andere Land reisen und dass Franzosen und Deutsche in Freundschaft miteinander leben, für
die jüngere Generation zu einer solchen Selbstverständlichkeit geworden, dass sie den weiten Weg kaum ermessen kann, den unsere beiden Völker aufeinander zugegangen sind. Sie versteht auch kaum, dass auch noch heute
einzelne Vorfälle genügen, damit man sich bei unseren
Nachbarn des hässlichen Deutschen erinnert. Aussöhnung,
gute Nachbarschaft und Freundschaft müssen also auch
mit den Menschen unseres großen westlichen Nachbarlandes immer wieder neu gewonnen und gelebt werden.
Eine Bürgerin schrieb mir dieser Tage:
Ich wünsche uns, dass wir nicht ermatten in dieser
Tätigkeit, die heute vielleicht schwieriger ist, sich
mehr rechtfertigen muss als damals, wo man die Versöhnung als Glück und Fortschritt erlebt hat und
nicht als etwas Gewöhnliches.
Die deutsch-französische Zusammenarbeit hatte aber
von Anfang an eine weit über die Verarbeitung der Vergangenheit hinausweisende Bedeutung und Aufgabe. Aus
unterschiedlichen Motiven heraus - das ist schon angesprochen worden - wollten Deutschland und Frankreich
die Westintegration der Bundesrepublik. Es war klar, dass
dies nur über den europäischen Einigungsprozess möglich war. In den 50er-Jahren waren Deutschland und
Frankreich deshalb maßgeblich an der Gründung der Europäischen Gemeinschaft beteiligt. Dabei war die Verständigung weder selbstverständlich noch einfach zu bewerkstelligen. Es war und ist durchaus nicht so, dass sich
in Deutschland und Frankreich gesellschaftliche Entwicklungen in gleicher Weise vollzogen oder sich Traditionen und Wertvorstellungen völlig identisch herauskristallisierten. Daraus ergibt sich, dass unsere Länder auch
nicht von vornherein gleich gerichtete Interessen haben
und auch nicht hatten. Dafür lassen sich viele Beispiele
anführen. Eines davon ist der unterschiedliche Umgang
mit den Risiken der Nukleartechnologie.
Über den Versöhnungswillen, über den brennenden
Wunsch hinaus, unsere beiden Völker mögen aufhören,
im Generationenabstand ihre Jugend auf den Schlachtfeldern zu opfern, gab es drei Grundlagen für die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich:
Erstens: eine Balance zwischen Partnern mit unterschiedlichen Stärken. Deutschland, durch den Viermächtestatus gebunden und mit eingeschränkter Souveränität,
war politisch zunächst ein Zwerg. Das deutsche Wirtschaftswunder hatte es aber mit sich gebracht, dass die
Bundesrepublik zur bedeutendsten europäischen Wirtschaftsmacht geworden war. Frankreich tat sich dagegen
schwerer, den Weg von der alten Industrienation in das
hochtechnologische Zeitalter zu finden. Politisch war
Frankreich aber gleichberechtigtes Mitglied im Kreis der
ehemaligen alliierten Kriegsgegner Deutschlands.
Zweitens: der feste Wille, Gegensätze zu überwinden
und die anstehenden Herausforderungen im Konsens zu
meistern.
Drittens: die Arbeit an einem gemeinsamen Projekt,
wie es beispielsweise die Währungsunion darstellte, die
bereits von Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt als
Idee entwickelt und dann von François Mitterrand und
Helmut Kohl in die Tat umgesetzt wurde.
Trotz zeitweise auftretender Schwierigkeiten ist es immer wieder zu wegweisenden deutsch-französischen Initiativen gekommen. Dabei spielte im Übrigen die politische Farbe kaum eine Rolle. Ohne den gemeinsamen
deutsch-französischen Willen hätte es weder den Binnenmarkt noch das Verschwinden der Grenzkontrollen im
Schengen-Raum gegeben.
Nun ist viel darüber spekuliert worden, ob in den 90erJahren und erst recht mit Amtsantritt der rot-grünen
Regierung der deutsch-französische Motor ins Stocken
geraten sei.
({0})
Ich sehe das nicht so. Allerdings hatte sich die über Jahrzehnte existierende Balance zwischen den beiden Ländern nach dem 30. Geburtstag des Élysée-Vertrages verändert. Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten
hat Deutschland wieder seine volle Souveränität erhalten.
Das relative politische Gewicht des größer gewordenen
Deutschland als normaler Staat ist auch im Vergleich zu
Frankreich gestiegen. Dagegen haben der Zusammenbruch der ostdeutschen Industriestrukturen und die Notwendigkeit, die neuen Länder ökonomisch und sozial
zu integrieren, zu einer wirtschaftlichen Schwächung
Deutschlands geführt. Frankreich hat den Übergang ins
Zeitalter der Globalisierung etwas besser meistern können. Aber Frankreich sorgte sich, dass Deutschland mit
dem Fallen des Eisernen Vorhangs seine Energie nun darauf richten würde, wieder Sonderbeziehungen zu osteuropäischen Ländern aufzubauen und daraus besondere
Stärke zu beziehen.
Nicht zuletzt deshalb war es ein besonderer Glücksfall,
dass die Außenminister Polens, Frankreichs und Deutschlands, Skubiszewski, Dumas und Genscher, den Grundstein für das „Weimarer Dreieck“ gelegt haben, das nicht
nur für die Heranführung Polens an die EU nützlich war,
sondern auch Frankreich neben Deutschland eine wichtige Rolle bei dieser Heranführungsstrategie gab. Das ist
im Übrigen ein Beleg dafür, dass die deutsch-französische
Beziehung andere Partner nicht ausschließt, sondern auf
Integration gerichtet ist.
Zum Ende der 90er-Jahre war auch das gemeinsame
Projekt Euro erfolgreich abgeschlossen, sodass ein wichtiger Fixpunkt für die deutsch-französische Zusammenarbeit wegfiel. Dies alles machte es notwendig, dass die
Partner zu einer neuen Rolle und zu neuen Projekten fanden.
Doch lassen Sie mich zunächst noch auf einen anderen
Punkt eingehen. Über die gesamten 40 Jahre des Bestehens des Élysée-Vertrags hinweg haben Kontakte und
Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft das deutsch-französische Verhältnis wesentlich bestimmt; Frau Griefahn
wird darauf noch näher eingehen. Unzählig viele Arbeitsund Freundschaftsbeziehungen sind entstanden. Immer
mehr dauerhafte Beziehungen sind das Ergebnis.
Wo Menschen zusammenleben, entstehen auch neue
Konflikte und nicht immer können sie von den Beteiligten
selbst gelöst werden. Auch deutsch-französische Paare
trennen sich gelegentlich und manchmal schaffen es die
Menschen nicht, ihre Trennung so zu organisieren, dass
ihre Kinder weiter regelmäßigen Kontakt zu beiden Elternteilen behalten. Eine unterschiedliche Rechtspraxis in
unseren Ländern kann die Konflikte noch verschärfen.
Deshalb hatten die Justizministerinnen Frankreichs
und Deutschlands 1999 eine sechsköpfige deutsch-französische parlamentarische Mediatorengruppe ins Leben
gerufen, die zerstrittenen binationalen Paaren helfen
sollte, eine Regelung zugunsten ihrer Kinder zu finden.
Diese Einrichtung ist ein Beispiel für zahlreiche Aktivitäten, die durchaus unspektakulär dazu beitragen, deutschfranzösische Anliegen gemeinsam voranzubringen.
({1})
Bei den großen europäischen Projekten erweist sich
zum wiederholten Male die Stärke der deutsch-französischen Zusammenarbeit: Voraussetzungen für die
EU-Erweiterung mussten geschaffen werden. Mit einer
europäischen Verfassung soll in diesem Jubiläumsjahr die
Handlungsfähigkeit der EU angesichts größerer und
neuer Herausforderungen gestärkt werden.
Wegen der Notwendigkeit, den EU-Stabilitätspakt einzuhalten, und angesichts weltweiter Konjunkturschwäche
ist die Finanzierung der EU-Erweiterung mit Augenmaß
zu betreiben. Dabei - das ist schon angesprochen worden fällt der umfangreiche Agrarhaushalt besonders ins Gewicht. Hier sind die unterschiedlichen Interessen der Europäer auch sehr deutlich: Das Agrarland Polen als wichtigster Vertreter der Beitrittsländer wollte für seine Bauern
wie die Altmitglieder Direktzahlungen erhalten. Deutschland wollte als größter Nettozahler keine zusätzlichen
Mittel aufbringen. Frankreich mit seiner Agrarstruktur
wollte auf keinen Fall auf Mittel verzichten. Trotz
dieser schwierigen Ausgangslage haben es Deutschland
und Frankreich geschafft, auf dem Brüsseler Gipfel den
Agrarkompromiss zu schließen, dem sich die anderen
Mitglieder anschließen konnten und der die Erweiterung
möglich gemacht hat. Der deutsch-französische Motor hat
funktioniert.
Auch in Zukunft wird die Bewältigung dieser historischen Erweiterungsrunde hohe Anforderungen an das
deutsch-französische Tandem stellen. Das anstehende Zukunftsprojekt der Vollendung der Einigung Europas durch
die Erweiterung und die Vertiefung ist von historischer
Dimension. Das Ziel muss es sein, dass auch die erweiterte EU demokratisch, handlungsfähig, bürgernah, transparent und solidarisch ist.
Die dafür nötigen Weichenstellungen müssen im Europäischen Verfassungskonvent vorgenommen werden.
Deutschland und Frankreich - das zeigt sich wieder - werden sich gemeinsam für den Erfolg des Konvents und für
die weitere Vertiefung der Europäischen Union einsetzen.
Der Außenminister und unser Fraktionsvorsitzender Franz
Müntefering haben schon den Hinweis auf die verschiedenen konkreten Initiativen im Hinblick auf die Konventsarbeit, die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und den Raum der
Sicherheit, des Rechts und der Freiheit gegeben.
Die Bilanz des Élysée-Vertrages ist also nicht nur positiv, sie ist sogar hervorragend. Wir alle sollten dazu beitragen, dies deutlich zu machen und Impulse für die Fortsetzung der deutsch-französischen Zusammenarbeit zu
setzen.
({2})
Die Parlamente werden diese Initiativen über das Feiern
des Geburtstages hinaus durch konkrete Arbeit begleiten.
Es macht Sinn, kommende Woche zu unseren Kollegen
nach Versailles zu fahren. Ich darf Alfred Grosser zitieren,
der in Frankfurt am Main geboren wurde und nach Frankreich emigrieren musste - er ist ein großer Kenner
Deutschlands -:
Wunderbar ist, dass endlich einmal die Volksvertretungen spektakulär zusammenkommen; das hat
mehr Symbolkraft als jedes Treffen der Regierenden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 40 Jahre Élysée-Vertrag, das bedeutet Aufbau einer
tiefen und vor allem einer belastbaren Freundschaft zwischen den Menschen diesseits und jenseits des Rheins.
40 Jahre Élysée-Vertrag bedeutet auch eine intensive Kooperation mit vielen Mechanismen zwischen Regierungen und teilweise zwischen Parlamenten. Die Intensität
dieser Kooperation war nicht immer gleich. Man muss
schon feststellen: Mit Amtsantritt der Regierung Schröder/
Fischer ist dieser Motor ins Stottern geraten und er hat leider viel zu lange gestottert.
({0})
Die FDP-Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass die Zusammenarbeit in den vergangenen Monaten wieder besser
geworden ist. Wir begrüßen ausdrücklich, dass diese Zusammenarbeit, anknüpfend an vergangene Perioden, wieder Erfolge zeigt. Auch das soll hier ganz deutlich gesagt
werden. Wir mahnen aber auch an, dort, wo es Konflikte
gibt, diese auszusprechen. Wir veranstalten heute keine
Feierstunde - sie findet nächste Woche statt -, sondern
wir führen eine Parlamentsdebatte durch.
({1})
Es beunruhigt mich schon, zu sehen, dass die Franzosen heute - vor einigen Jahren hatten sie noch ein Stück
weit Angst vor der wirtschaftlichen Übermacht Deutschlands - eher Angst davor haben - ich erinnere an die Aussagen von Raffarin -, dass Deutschland Europa wirtschaftlich herunterzieht.
({2})
Herr Bundeskanzler, das beste Geburtstagsgeschenk, das
Sie nächste Woche nach Versailles mitnehmen könnten,
ist eine Änderung der Wirtschafts- und Finanzpolitik, damit in Deutschland endlich wieder Wachstum erfolgt, wodurch auch die Wirtschaft in Europa wieder angekurbelt
würde.
({3})
40 Jahre Élysée-Vertrag heißt enge Kooperation zwischen den Regierungen. Ich meine, es ist jetzt höchste
Zeit, diese durch eine enge Kooperation zwischen den
Parlamenten zu ergänzen. Gemeinsame Sitzungen der
Auswärtigen Ausschüsse, der Europaausschüsse, eine
enge Begleitung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik durch die Parlamente, aber auch ein regelmäßiger Austausch einzelner Abgeordneter, Hospitationsprogramme der Abgeordneten, das müssten wir viel mehr
initiieren; denn wir haben doch gelernt: Dort, wo Menschen zusammenkommen, funktioniert die Zusammenarbeit. Diesem Motto sollten wir auch in diesem Parlament
viel mehr folgen.
({4})
40 Jahre Élysée-Vertrag heißt, die Begegnungen und
die Freundschaft zwischen den Menschen zu stärken. Und
da hat sich, verehrte Frau Kollegin Schwall-Düren - da
stimme ich Ihnen zu -, etwas verändert. Die Generation
derer, die den Krieg noch erlebt hat, tritt nach und nach
von der politischen Bühne ab. Die jungen Leute haben
diesen besonderen Bezug nicht mehr. Es ist ja so, dass das,
was wir bisher erreicht haben, nämlich dass Kooperation
selbstverständlich ist und die Versöhnung erfolgt ist, die
Raison d’être des Vertrages ein Stück weit obsolet gemacht hat. Deshalb müssen wir die jungen Menschen davon überzeugen, wie wichtig das besondere Verhältnis
zwischen Deutschland und Frankreich ist.
({5})
Herr Außenminister, ich stimme Ihnen ausdrücklich
zu: Zentrale Bedeutung hat hier die Sprache. Es muss uns
schon mit Sorge erfüllen, wenn in Deutschland nur etwa
14 Prozent der jungen Menschen Französisch lernen und
in Frankreich weniger als 10 Prozent Deutsch lernen. Die
Zahl der Einschreibungen an germanistischen Instituten
in Frankreich ist in den Jahren 1999 und 2000 um mehr
als die Hälfte zurückgegangen.
({6})
Da dürfen wir nicht einfach untätig zusehen. Meine Damen und Herren, wir müssen hier agieren. Hier liegt für
unsere junge Generation eine riesengroße Chance.
Nach Schätzungen des deutschen Botschafters in Paris
können derzeit zwischen 20 000 und 40 000 Stellen in
Frankreich nicht besetzt werden, weil die Bewerber über
keine deutschen Sprachkenntnisse verfügen. Das französische Wirtschaftsministerium nennt sogar eine Zahl von
180 000. Hier muss etwas getan werden. Es dürfen nicht,
wie es in den letzten Jahren erfolgt ist, Kultureinrichtungen geschlossen werden, vielmehr müssen wir Kultureinrichtungen schaffen.
({7})
Wir müssen gemeinsame Projekte durchführen. Der in
Baden-Württemberg beschrittene Weg, Französisch in
Grundschulen in der Nähe zur französischen Grenze als
Pflichtfach einzuführen, ist richtig.
Ich möchte zum Schluss kommen: 40 Jahre Élysée-Vertrag impliziert auch, dass wir uns entsprechend verhalten.
Die Menschen schauen auch auf uns. Ich habe, ehrlich gesagt, manche kleinkrämerische Reaktion in der Partei
Konrad Adenauers in Bezug auf unser Treffen nächste Woche nicht verstanden. Die Freundschaft lebt von Symbolen.
Die Unterzeichnung des Vertrages war ein solches Symbol.
Das Treffen in Versailles in der nächsten Woche wird ein
weiteres Symbol sein und auch zu neuen Aufbrüchen
führen. Für die FDP-Fraktion sage ich: Wir sind stolz darauf, in Versailles an diesem Prozess mitwirken zu dürfen.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Blick
auf die deutsch-französischen Beziehungen hat für mich
als ostdeutsche Parlamentarierin noch mehr Aspekte, als
hier schon beschrieben wurden. Die Erfahrungen meiner
Generation sind noch durch das Frankreichbild geprägt,
das in der DDR vermittelt wurde. Dieses Bild war ambivalent: Auf der einen Seite wurde die Geschichte der Widersprüche und der Kriege zwischen beiden Völkern vermittelt, auf der anderen Seite gab es Hochachtung vor den
französischen Beiträgen zur Aufklärung und große Sympathien für die revolutionäre Tradition von 1789, für die
Tradition der Pariser Kommune und nicht zuletzt für die
Kämpfe der Résistance gegen Faschismus und Krieg. So
spiegelte sich unser Bild von Frankreich auch in den Erzählungen vieler Antifaschisten wider, die zusammen mit
Franzosen gegen die deutsche Invasion in der Résistance
gekämpft haben.
Der französische Botschafter in der Bundesrepublik erklärte 1995 gegenüber Deutschen, die in der Résistance
gegen Hitler gekämpft hatten, dass die Wurzeln der
deutsch-französischen Versöhnung in dem gemeinsamen
Kampf gegen den Faschismus liegen. Ich kenne viele
deutsche Kämpfer der Résistance, die in Frankreich mit
offenen Armen empfangen werden, aber in der Bundesrepublik, leider auch von dieser Regierung, bisher nicht die
entsprechende Aufmerksamkeit erfahren haben. Hier gibt
es, wie ich denke, noch Nachholbedarf.
Aus all meinen persönlichen Erfahrungen speiste sich
immer ein Gefühl der Achtung und des Respekts gegenüber dem französischen Volk, einem Volk, das sich zu Antifaschismus, Toleranz und gesellschaftlichem Fortschritt
bekannte. Ganz im Gegensatz zur Bundesrepublik der
60er- und 70er-Jahre, wo gegen solche Leute Berufsverbote verhängt wurden, spielten im politischen Leben
Frankreichs Linke und Kommunisten immer eine normale und geachtete Rolle. Viele Prominente und Intellektuelle schlossen sich der kommunistischen und der Gewerkschaftsbewegung an. So kam Frankreich bei vielen
Ostdeutschen oft besser weg als die damalige Bundesrepublik.
Ich verstehe daher auch den Beitrag der Ostdeutschen
als Träger von deutsch-französischen Beziehungen nicht
nur quantitativ, sondern auch als kulturelle Bereicherung,
die auf die Traditionen von Humanismus, Antifaschismus
und gesellschaftlicher Toleranz Bezug nimmt und die
dazu beitragen kann, die in der Geschichte entstandenen
und leider sicher auch heute noch in der einen oder anderen Form vorhandenen Vorbehalte zwischen beiden Völkern abzubauen und zu überwinden.
Ich möchte zum Abschluss noch einen Aspekt besonders hervorheben. Die große Lehre aus der deutsch-französischen und der europäischen Geschichte, die über
Jahrhunderte viele verheerende Kriege hervorbrachte, besteht in der Erkenntnis, dass sich Konflikte nicht mit
Gewalt lösen lassen. Umso mehr muss dieser Jahrestag
auch Anlass für ein gemeinsames Bekenntnis zu Frieden
und Zusammenarbeit sein. Angesichts der Gefahr eines
neuen Golfkrieges liegt es, so denke ich, auch in der besonderen Verantwortung der Bundesrepublik und Frankreichs, sich als Mitglieder des Sicherheitsrates aktiv für
einen friedlichen Weg einzusetzen und dies auch dann zu
tun und durchzuhalten, wenn es Gegenwind gibt, statt einer falschen Doktrin zu folgen. Denn der Krieg wird dieser Region keine Befriedung geben, sondern zu neuem
Terror aufwiegeln.
Möge sich hier die Achse Paris-Berlin als eine verlässliche Stütze der europäischen und internationalen Kriegsgegner erweisen. Ich denke, dabei haben die politisch Verantwortlichen das deutsche und das französische Volk auf
ihrer Seite.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jean
Monnet hat einmal gesagt: Europa ist ein Beitrag zu einer
besseren Welt. War das nicht eigentlich das Leitmotiv, das
dem Élysée-Vertrag seinen Sinn gegeben hat und für immer geben wird, nämlich - wie es darin heißt - eine alte
Rivalität zwischen den Deutschen und den Franzosen zu
beenden, damit sie solidarisch miteinander leben? Charles
de Gaulle und Konrad Adenauer haben damals als gemeinsames Ziel erklärt, „dass die Verstärkung der Zusammenarbeit ... einen unerlässlichen Schritt auf dem
Wege zu dem vereinigten Europa bedeutet“.
Die deutsch-französische Freundschaft also muss, seither jedenfalls, immer wieder neu erkämpft und erarbeitet
werden. Sie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie lebt, wenn
sie immerfort aufgebaut wird, getragen aus der Mitte unserer Gesellschaften, immerzu angetrieben von einem stetigen politischen Willen. Tausende von Städtepartnerschaften, von Gemeinden, die zueinander gefunden haben,
bilden das feste Netzwerk, das wir miteinander geschaffen
haben. Dieses Netzwerk der Zivilgesellschaften, der Menschen, die zusammenarbeiten, ist unzerreißbar. Durch die
Instrumente, die entwickelt worden sind, haben in diesen
40 Jahren beispielsweise 6,5 Millionen Jugendliche an
Austauschprogrammen teilgenommen. Es sind noch immer jährlich - Frau Merkel hat das Thema angesprochen 140 000 Jugendliche, die einander begegnen. Daran wollen wir festhalten, denn das ist das feste Fundament, auf
dem wir eine gemeinsame Zukunft aufbauen wollen.
({0})
Der Élysée-Vertrag war ein Meilenstein, der Deutschland einen Weg in die Europäisierung gezeigt hat. Vielleicht darf ich an die Kolleginnen und Kollegen von der
Union gewandt sagen - gerade als Deutscher, gerade als
Mitglied der Sozialdemokratie, die gegründet worden ist,
um die Enge des nationalen Denkens zu überwinden -: Es
war ein Glücksfall, dass Konrad Adenauer und Charles de
Gaulle, die beide aus einem eher konservativen Lager
stammten, zueinander gefunden haben. Es war auch für
die Sozialdemokratie ein glücklicher Umstand, weil damit die Zeit jahrzehntelanger Gegnerschaft und Rivalität
zwischen Deutschen und Franzosen beendet werden
konnte.
Denken Sie an 1871, als es im Reichstag Stimmen
- wenn auch nur wenige Stimmen, darunter die von
August Bebel - gegen den deutsch-französischen Krieg
gegeben hat. Das ist die Tradition, die die deutsche und
französische Sozialdemokratie miteinander verbindet: Es
gab den Versuch, den Ersten Weltkrieg abzuwenden. Ich
nenne ferner die Demonstrationen, an denen Léon Blum
und August Bebel in Basel teilgenommen hatten, um die
schreckliche Tragödie, die dann über Europa hereinbrach,
zu verhindern.
Denken Sie an 1925, als im Heidelberger Programm
der deutschen Sozialdemokratie gefordert wurde - dies ist
vielleicht ein verstaubter Begriff -: Wir wollen die Vereinigten Staaten von Europa schaffen. Was wäre geschehen,
wenn dieser Grundgedanke der Sozialdemokratie damals
Realität geworden wäre? Vielleicht wären diesem Kontinent die zwei Weltkriege, die ihn so zerrissen haben und
die ihn haben so bluten lassen, erspart geblieben. Dieser
Grundgedanke liegt in der Tradition der Sozialdemokratie beider Länder und der europäischen Sozialdemokratie.
({1})
Nicht vergessen werden darf: Der Élysée-Vertrag hat
schießlich die Möglichkeit geschaffen, dass Willy Brandt
seine Ostpolitik machen konnte. Nur aufgrund der festen
Verwurzelung Deutschlands in der atlantischen Allianz
und in der Europäischen Gemeinschaft sowie der festen
Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland war
es möglich, dass es eine nach Osten gewandte Politik der
Verständigung gab. Die Politik Willy Brandts war nur
möglich - er hat das immer wieder betont -, weil es diese
feste Bindung Deutschlands an Europa gegeben hat.
Darin liegt der unendlich große historische Gewinn, den
Konrad Adenauer und Charles de Gaulle für unsere beiden Nationen geschaffen haben. Auf diesem Fundament
stehen wir und auf diesem Fundament werden wir weiterarbeiten, damit - dieses Ziel wurde schon im Élysée-Vertrag formuliert - Europa ein Kontinent des Friedens wird.
Diesem Ziel bleiben wir verpflichtet und daran werden
wir weiterarbeiten.
({2})
Natürlich hat es - auch das ist heute schon angesprochen worden - in der Freundschaft zwischen Frankreich
und Deutschland immer wieder Verstimmungen gegeben.
Es gab auch manches Missverständnis. Vielleicht sollten
wir überlegen - Kollege Gerhardt hat es vorhin schon angesprochen -, woher ein Teil dieser Missverständnisse
kommt. Ein Teil rührt sicherlich daher, dass wir unterschiedliche historische Erfahrungen haben. Frankreich
achtet aus seiner großen Tradition der Aufklärung und der
bürgerlichen Revolution heraus natürlich darauf, dass der
Zentralstaat das wichtigste Element der nationalen
Identität ist und bleibt. In Deutschland ist der föderale
Gedanke der wichtigste Bestandteil unseres Selbstverständnisses. Die Föderation der Länder ist für uns unverzichtbar - aus ihr ziehen wir unsere Kraft - und wird
uns noch für lange Zeit prägen.
Aber gerade weil es diese Unterschiedlichkeiten zwischen föderalem Staat und Nationalstaat, zwischen lokaler Autonomie und zentraler Politik gibt, besteht für das
gemeinsame Duo Deutschland und Frankreich die große
Chance, den Kerngedanken der europäischen Integration
lebendig zu halten. Den Grund dafür nennt „Le Monde“
heute in einem wunderbaren Artikel über den Vorschlag
von Jaques Chirac und Gerhard Schröder: dass wir immer
dazu verdammt sind, den Zwang des Kompromisses
selbst zu erarbeiten, aus den Logiken, die auseinander fallen - oder, wie Verfassungsrechtler sagen, aus der doppelten Legitimation Europas -, eben aus dem Nationalen
und aus dem Regionalen heraus die Kraft zu schöpfen.
Dieses Spannungsverhältnis müssen wir produktiv nutzen
und in den gemeinsamen Prozess der Integration einbringen. Das ist das, was Europa lebendig macht und lebendig hält.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist vielleicht
auch der Grund dafür, dass die große Weltmacht unserer
Zeit, die Vereinigten Staaten von Amerika, nicht ganz versteht, was die europäische Integration bedeutet. Dieses
Spannungsverhältnis aus den Regionen und aus den Kommunen ist für die USA zwar etwas ganz Natürliches. Daraus leben die USA auch selbst. Doch die Vielfalt in den
Sprachen und in den unterschiedlichen Konzepten verwirrt manche innerhalb der USA. Es ist ja auch schwierig, damit umzugehen. Nur sage ich: Wenn diese unterschiedlichen kulturellen, sprachlichen und politischen
Herkünfte zueinander finden, wenn sie miteinander Kooperationsbedingungen eingehen, machen sie die wirkliche Modernität unserer Zeit aus - nicht die Hegemonialmacht, sondern das, was uns in Europa miteinander
verbindet, dass wir aufeinander hören, dass wir jeden,
auch den Kleinen, ernst nehmen und ihm Respekt zollen.
Diese unterschiedlichen Herkünfte müssen wir zusammenbinden und zusammenführen, um aus dieser produktiven Spannung heraus ein neues, integratives Europa zu
schaffen. Das ist die wirkliche Kraft Europas, das ist die
Modernität. Ich finde, in diesem Punkt hat das europäische Modell eine Faszination, die stärker ist als die Faszination der USA. Ich darf das so, jedenfalls für mich, sagen.
({3})
Ein letzter Aspekt, Herr Präsident, gerade auch aus Ihrer eigenen Vergangenheit und Geschichte heraus: Dieses
faszinierende Modell hat gerade im Osten Europas gewirkt. Gestern noch hat mir Kazimierz Wojcicky, einer
der großen Denker der polnischen Dissidenz, gesagt: In
den 70er-Jahren war dieses sich integrierende Europa, der
Westen, das große faszinierende Modell dafür, wie man
sich selber entwickeln kann, wie man eine zivile Gesellschaft vorantreiben und von unten entwickeln kann, um
zu versuchen, dass Polen, Deutschland und Frankreich
der Kern werden für ein sich vereinigendes Europa. Ein
Gedanke, der 30 Jahre alt ist, der auf dem Élysée-Vertrag
fußen kann und der im nächsten Jahr Realität wird. Ein
wunderbarer Gedanke von Charles de Gaulle und von
Konrad Adenauer ist Realität geworden und heute kann
Europa sagen: Das hat uns vorangebracht und daran werden wir festhalten.
({4})
Gert Weisskirchen ({5})
Ich erteile das Wort dem Ministerpräsidenten des Saarlandes, Peter Müller.
Peter Müller, Ministerpräsident ({0}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Élysée-Vertrag markierte weder den Beginn noch
den Endpunkt des Prozesses der deutsch-französischen
Aussöhnung. Aber er war sicherlich eine wichtige Wegmarke in diesem Prozess, denn er besiegelte nach Jahrhunderten blutiger Auseinandersetzungen den Frieden
zwischen Deutschen und Franzosen. Der Begriff der Erbfeindschaft, der sehr lange die Debatte geprägt hat, wurde
damit überwunden. Es ist gerade einmal 70 Jahre her, dass
ein vermeintlicher Philosoph wie Joseph Sieberger formulierte: Deutsche und Franzosen markieren die jeweils
äußerste Möglichkeit des Menschseins.
Vor diesem Hintergrund war der Élysée-Vertrag, den
Konrad Adenauer und Charles de Gaulle unterschrieben
haben, ein nicht unumstrittener Pakt, der darauf abzielte,
menschliche Begegnungen zu ermöglichen, der aber vor
allem darauf abzielte, in der Zukunft konstruktiv und
schöpferisch zusammenzuarbeiten. Er wurde Grundlage
der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Aus ihm hat
sich die Rolle Deutschlands und Frankreichs als Motor
der europäischen Integration entwickelt, ganz im Sinne
Robert Schumans, der gesagt hat: „L’Europe ne sera possible sans la France et sans l‘Allemagne.“
Gerade für ein Land wie dasjenige, aus dem ich komme,
das Saarland, das zwischen den Nationalstaaten Deutschland und Frankreich immer wieder hin- und hergeworfen
wurde, ist der Élysée-Vertrag ein Vertrag von unschätzbarem historischen Wert. Deshalb ist es richtig, den
40. Jahrestag zu feiern. Deshalb ist es richtig, dass sich die
nationalen Parlamente zu dieser Gelegenheit zu einer gemeinsamen Sitzung treffen. Deshalb ist es kleinkariert,
darüber ausschließlich unter Kostengesichtspunkten zu
diskutieren. Das wird der historischen Bedeutung des Vertrages nicht gerecht.
({1})
Ich freue mich, hier im Bundestag als Bevollmächtigter der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Vertrages einige Sätze sagen
zu dürfen. Diese Institution wurde vor dem Hintergrund
der Kulturhoheit der Länder und vor dem Hintergrund der
Erfahrung, dass in diesen Beziehungen gerade die Kultur
eine besondere Rolle spielt, in den Vertrag mit aufgenommen. Jean Monnet soll auf die Frage, was er mit Blick auf
den Prozess der europäischen Integration anders machen
würde, wenn er noch einmal von vorne anfangen könnte,
gesagt haben: Wenn ich noch einmal von vorne anfangen
könnte, dann würde ich mit der Kultur beginnen. Das
zeigt die Bedeutung der kulturellen Beziehungen, die Bedeutung der interkulturellen Kommunikation. Nur wenn
diese funktioniert, kann auch Freundschaft funktionieren.
Deshalb ist dies ein ganz wichtiger und zentraler Punkt.
({2})
Die vermeintliche Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich war nur vor dem Hintergrund der kulturellen Selbstüberschätzung der jeweils eigenen Nation
und vor dem Hintergrund der kulturellen Abwertung der
jeweils anderen möglich. Die deutsche Kultur und die
„civilisation française“ galten im Selbstverständnis beider
Nationen lange als unüberbrückbare Gegensätze. Die
Überwindung dieser Gegensätze, die kulturelle Aussöhnung und die kulturelle Wertschätzung des jeweils anderen, war die Basis für den Prozess der gesamten Aussöhnung. Nur auf der Basis einer Kultur der Toleranz, nur auf
der Basis gemeinsamer Werte und nur auf der Basis des
klaren Bekenntnisses zu Freiheit, Demokratie und universellen Menschenrechten konnte die deutsch-französische
Aussöhnung gedeihen. Nur auf dieser Basis und auf der
Grundlage des Élysée-Vertrages kann auch in Zukunft
weitergearbeitet werden. Ich glaube, dass gerade in diesem Zusammenhang auch in der heutigen Zeit der ÉlyséeVertrag Bedeutung und Aktualität hat.
({3})
Der Prozess der Aussöhnung ist sicher eine der größten
historischen Leistungen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Für unsere junge Generation, für
meinen 15-jährigen Sohn, ist die Aussöhnung keine große
Errungenschaft mehr. Für ihn ist die deutsch-französische
Freundschaft eine Selbstverständlichkeit geworden. Deshalb brauchen wir, wenn wir junge Menschen für dieses
Projekt gewinnen wollen, eine weitergehende, eine zusätzliche Begründung. Diese weitergehende Begründung
sollte das klare Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie und
Menschenrechten, das Eintreten für Frieden und Toleranz
überall auf der Welt sein. Auf dieser Grundlage können
wir die Rolle eines Motors in Bezug auf die europäische
Integration wahrnehmen. Mit diesem Inhalt können wir
junge Menschen für die Mitarbeit am Projekt der deutschfranzösischen Freundschaft gewinnen. Es gilt, genau an
diesem Punkt anzusetzen.
Die deutsch-französische Freundschaft kann nur gedeihen, wenn sie nicht nur in den Institutionen und in den
Köpfen der Politiker vorhanden ist, sondern auch in den
Herzen der Menschen verinnerlicht ist, insbesondere in
den Herzen der jungen Menschen.
({4})
In der kulturellen Zusammenarbeit sind in den 40 Jahren des Bestehens des Élysée-Vertrages viele Fortschritte
erzielt worden. Wir sollten diese Fortschritte nicht kleinreden. Das Deutsch-Französische Jugendwerk ist angesprochen worden. Fast 7 Millionen Menschen sind sich in
den zurückliegenden Jahren begegnet. Ich kenne keine
vergleichbare Institution, die so viele junge Menschen zueinander bringt, wie das Deutsch-Französische Jugendwerk es tut.
({5})
Wir sollten aber auch zur Kenntnis nehmen, dass sich
- ich habe dies selbst erfahren - junge Deutsche und junge
Franzosen auch bei Zusammenkünften unter dem Dach
des Deutsch-Französischen Jugendwerkes miteinander
weder deutsch noch französisch unterhalten, sondern in
Englisch.
({6})
Dies ist ein Punkt, der uns nachdenklich machen muss. Es
ist bereits angesprochen worden: Die deutschen Sprachkenntnisse in Frankreich gehen ebenso wie die französischen Sprachkenntnisse in Deutschland zurück. Ich
glaube, wir dürfen uns damit nicht abfinden. Wir sollten
uns vor falschen Frontstellungen hüten. Es ist klar, dass
Englisch in der heutigen Zeit unverzichtbar geworden ist.
Deshalb heißt die Herausforderung auch nicht Bilingualität, sondern Trilingualität.
Vielleicht sollten wir einmal darüber nachdenken, ob
nicht zumindest in den grenznahen Regionen die Vermittlung der Sprache des Nachbarn, die Vermittlung der französischen Sprache nicht nur eine Aufgabe für unsere
Schulen ist, sondern ob wir nicht verstärkt damit beginnen
müssen, diese Vermittlung bereits in die vorschulischen
Einrichtungen zu tragen. Die Erfahrungen, die wir mit
Kindergärten machen, in denen französische Muttersprachlerinnen und Muttersprachler beschäftigt sind, sind
höchst ermutigend. Das ist vielleicht ein Weg, um das
Zurückgehen der Französischkenntnisse in Deutschland
abzubremsen.
({7})
Es gibt viele andere Bereiche, in denen wir vorangekommen sind: mehr als 100 Schulen mit bilingualen Klassenzügen, 23 Gymnasien, die das Abi-Bac, also das deutsche und das französische Abitur gleichzeitig, anbieten,
das deutsch-französische Sekretariat, das jedes Jahr etwa
4 000 junge Auszubildende zusammenführt, die deutschfranzösische Hochschule mit Sitz in Saarbrücken, ein Erfolgsmodell mit mittlerweile mehr als 100 angeschlossenen Universitäten und mit inzwischen mehr als 4 000
Studenten.
Wenn aber die Aufgabe Deutschlands und Frankreichs
gerade darin besteht, weiterhin Motor der europäischen
Entwicklung und der Erweiterung der Europäischen
Union zu sein, dann sollten wir darüber nachdenken, diese
Hochschule weiterzuentwickeln, uns zwar nicht nur mit
Blick auf binationale, sondern mit Blick auf trinationale,
auf multinationale Studiengänge, dann sollten wir sie zu
einer europäischen Universität weiterentwickeln, die aus
dem binationalen Erfolgsmodell ein europäisches Erfolgsmodell macht.
({8})
Neben allem, was erreicht wurde, gibt es eine Vielzahl
von Dingen, die gerade auch im Bereich des kulturellen
Austauschs noch bewältigt werden müssen: Noch immer
ist es nicht vollständig gelungen, Diplome und Abschlüsse gegenseitig anzuerkennen. Die Zusammenarbeit
der Museen und der Rundfunkanstalten kann ausgebaut
werden. Über die Reichweite eines Senders wie Arte
sollte man noch einmal nachdenken. Grenzüberschreitende Kulturereignisse finden immer noch in relativ begrenztem Umfang statt. Die Problematik der Sprachkenntnisse habe ich bereits angesprochen.
Ich glaube deshalb, dass der Élysée-Vertrag ein Vertrag
ist, der vieles bewirkt hat, auf den wir mit Freude blicken
können, der uns aber unverändert auch nach 40 Jahren
noch viele Aufgaben für die Zukunft stellt. Auf der Grundlage des Élysée-Vertrages haben Deutsche und Franzosen
zur Versöhnung gefunden und sind zum Motor der europäischen Einigung geworden. Der Élysée-Vertrag ist
eine Erfolgsgeschichte, aber die letzten Kapitel sind noch
lange nicht geschrieben. Lassen Sie uns gemeinsam dafür
sorgen, dass auch die noch folgenden Kapitel zu erfolgreichen Kapiteln werden.
Vielen Dank.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Griefahn,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Freundschaft - das kennen Sie aus Ihren eigenen
Beziehungen - ist eben keine Selbstverständlichkeit, sondern muss immer wieder erarbeitet werden. Anderenfalls
hätten wir auch innerdeutsch nicht so viele Trennungen.
Das gilt auch dann, wenn der Titel einer jüngst erschienenen Studie unsere Länder als „Ganz normale Freunde“ beschreibt, und das nach Jahrhunderten von Krieg und
Feindschaft.
Mich berührt immer noch, wenn der Konzertchor von
Canteleu - das ist eine kleine Stadt in der Normandie - mit
seinem Partner aus Buchholz in der Nordheide ein gemeinsames Konzertwochenende organisiert, bei dem die
Mitglieder der Chöre in den Familien wohnen, gemeinsame Aufführungen machen und gemeinsam feiern. Das
wäre vor einem halben Jahrhundert so nicht möglich gewesen und zeigt mir, dass der Dialog nach Kriegen und
emotionale Nähe möglich sind. Ich glaube, das ist ein
ganz wichtiges Gut.
({0})
Aber auch die normalste Freundschaft braucht hin und
wieder einen Anstoß, um lebendig zu bleiben. Wir hatten
öfter Stillstand zu verzeichnen, das Erstarren in Ritualen
war und ist manchmal eine Gefahr. Auch das haben wir erlebt. Vor allen Dingen in den 90er-Jahren schien es, als ob
die Fähigkeiten und der Wille zu gemeinsamen europapolitischen Projekten abnähmen.
Das hatte viele Ursachen, eines aber wurde deutlich:
Erst ein Befreiungsschlag wie die Kompromisse von Brüssel Ende Oktober 2002 und - zu meinem Leidwesen als
Sozialdemokratin - das Ende der Kohabitation in Frankreich machten es möglich, neue Impulse für unsere Beziehungen zu geben.
Ministerpräsident ({1}) Peter Müller
Deutlich wird immer wieder: Nur gemeinsam können
wir europäische Integrationspolitik vorantreiben, keiner kommt am anderen vorbei. Das zeigt auch das Ergebnis des jüngsten Gespräches zwischen Kanzler Schröder
und Präsident Chirac.
Allerdings werden in einer erweiterten Union auch zusätzliche Führungsqualitäten gefragt sein. Die Fliehkräfte
in der EU werden größer und das bedeutet, dass wir eine
zusätzliche Verantwortung haben. Die Rolle unserer beiden Länder in Europa wird wachsen und wir müssen wieder Motor sein, damit Europa durch die zusätzlichen Mitglieder stärker und nicht schwächer wird.
Kurzfristig werden alle Blicke auf die Ausgestaltung
und Umsetzung der Arbeit im Verfassungskonvent gerichtet sein. Neben den Fragen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik sowie der europäischen Innenpolitik ist
ein Thema, das heute bereits mehrfach angesprochen
wurde, zentral: Wir müssen die Besonderheit der kulturellen Vielfalt in Europa erhalten und gleichzeitig die
Stärke der Bürger nutzen.
Jean Monnet hat gesagt - Herr Müller hat es ausgeführt -, dass er, wenn er das Projekt der europäischen Einigung noch einmal anfangen müsste, mit der Kultur beginnen würde. In der 1443Tat: Die Kultur schien schwach
beleuchtet zu sein, aber gerade hier liegt das größte und
interessanteste Potenzial der europäischen Einigung, wie
es schon der Kollege Weisskirchen gesagt hat.
Das Potenzial ist groß, weil es so viele unterschiedliche Kulturen bereits in einem Land gibt, wodurch schon
sichtbar wird, wie wichtig der Erhalt und die Förderung
der kulturellen Vielfalt in Europa ist. Interessant und
schwierig ist es deshalb, weil Fragen der Sprache, der Musik, der Literatur, des Films und damit auch des Selbstverständnisses herausragende Ansatzpunkte für produktive Auseinandersetzungen und kreative Lösungen bieten,
auf die andere Regionen der Welt schauen, um davon lernen zu können. Das ist gerade für unsere Arbeit in Krisenregionen wichtig.
({2})
Bei der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ländern geht es eben nicht um die Schaffung einer europäischen Kultur, im Gegenteil: Die Beteiligung der Bürger
und besonders der unterschiedlichen Gruppen in Europa
ist ein Schlüssel für die Akzeptanz und damit auch für den
Erfolg von Europa. Solange es heißt, das passiert da hinten in Brüssel, werden wir keinen Erfolg haben. Wir müssen alle beteiligen.
Alle Vorschläge zu vertieften bilateralen Beziehungen
auf parlamentarischer und Regierungsebene, so sehr ich
sie begrüße und fördere - ich glaube, dass wir in der letzten Legislaturperiode viele gemeinsame Schritte, auch
mit der Assemblée Nationale, gemacht haben -, reichen
nicht weit, wenn wir nicht darauf achten, das ungeheure
Interesse, das die Gesellschaften aneinander haben, wirklich zu fördern und weiterzuentwickeln.
Es gibt die Städtepartnerschaften, in deren Rahmen
sich Jugendgruppen, Sportler und Ratsmitglieder treffen
und eine andere Kultur und andere Denkstrukturen direkt
kennen lernen. Das Deutsch-Französische Jugendwerk
- es wurde schon mehrfach erwähnt - tauscht immer noch
wie im Jahr 1963 200 000 Jugendliche jährlich aus; ihm
stehen aber heute, nach Kaufkraft berechnet, nur noch 34
Prozent der Mittel, die es 1963 hatte, zur Verfügung. Daran müssen wir sicherlich etwas ändern, wenn wir von
dem wegkommen wollen, was eine Studie des DeutschFranzösischen Jugendwerkes vor zwei Tagen veröffentlicht hat: Obwohl die Jugendlichen die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich für gut halten, besteht
das Wissen übereinander immer noch aus Stereotypen,
wenn sie nicht an einem Austausch teilgenommen haben.
Diese Stereotypen lauten „Baguette“, „Eiffelturm“ und
„Käse“ auf deutscher Seite und „Zweiter Weltkrieg“,
„deutsche Automarken“ und „deutsche Küche“ auf französischer Seite. Dies kann eigentlich nicht das Ergebnis
sein, wenn man so eng miteinander arbeitet. Hier müssen
wir nacharbeiten.
Die Sprache ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir brauchen die Umsetzung des Vorschlages von Jack Lang, der
gesagt hat: Wir müssen in Europa zu einem System kommen, dass das Abitur mit mindestens zwei Sprachen abgeschlossen wird, dass wir also dadurch unsere Vielfalt
erhalten, dass jeder neben Englisch noch eine zweite
Sprache lernt. Dies muss vorangebracht werden.
({3})
Ich finde es interessant, dass die Zusammenarbeit der
Deutschen und der Franzosen auch auf dem kulturellen
Gebiet wirklich Früchte zeigt. Vor zwei oder drei Jahren
wurde die Diskussion darüber, ob man zum Beispiel eine
Quote für Film oder Musik einführen sollte, noch als vollkommen absurd abgetan. Heute wird dies von Musikproduzenten gefordert, weil sie das französische Modell gesehen haben. Sie haben zum Beispiel auch gesehen, dass
in der WTO und in den GATS-Verhandlungen die kulturelle Vielfalt in Europa leidet, wenn wir solche Dinge in
Europa nicht unterstützen. Hier gibt es viele Annäherungen und viel Zusammenarbeit.
Wir haben viel zu tun, wir haben viele gemeinsame
Projekte. Ich werde in diesem Sinne persönlich für die
deutsch-französischen Beziehungen weiterarbeiten und
mich dafür einsetzen, dass die Stärke von Europa, die kulturelle Diversität, erhalten bleibt.
Ich freue mich auch auf die Begegnung der Parlamente in Versailles. Dies wäre noch vor einem halben
Jahrhundert undenkbar gewesen. Wenn, dann gab es Regierungskontakte, aber keine Parlamentskontakte. Diese
sind etwas wirklich Neues. Das sollten wir auch als positiv beschreiben.
({4})
Unsere Möglichkeiten, neue Kontakte mit Parlamentariern auf der ganzen Welt zu knüpfen, werden gestärkt,
wenn wir sehen, dass die Parlamente auf deutsch-französischer Ebene zusammenarbeiten.
Ich denke, es liegen noch große Aufgaben vor uns. Wir
müssen weiter zusammenarbeiten. Dazu sind auch der
persönliche Kontakt und die emotionale Nähe notwendig.
Wir sollten dies auch als solches positiv begreifen.
({5})
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege
Dr. Andreas Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns in diesem Hause einig: Die Einigung
Europas bleibt auch in Zukunft auf das strategische
Bündnis zwischen Deutschland und Frankreich angewiesen. Seit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle
und Stahl über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft,
die Einheitliche Europäische Akte, das Schengen-Abkommen, die Wirtschafts- und Währungsunion gab es
keinen Integrationsfortschritt in der Europäischen Union,
dem nicht eine gemeinsame deutsch-französische Initiative vorausgegangen wäre.
Umgekehrt zeigten die Verhandlungen des Europäischen Rates in Berlin und Nizza, dass Europa nicht vorankommen kann, wenn Spannungen zwischen Frankreich
und Deutschland manifest werden.
({0})
Wir begrüßen es daher ausdrücklich, dass bei den Feierlichkeiten am 22. Januar 2003 der Aufbau einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion angestoßen werden soll.
Im „Spiegel“ dieser Woche war zu lesen:
In ihrer „Gemeinsamen Erklärung zum 40. Jahrestag
des Élysée-Vertrags“ kündigen Bundeskanzler
Gerhard Schröder ... und Staatspräsident Jacques
Chirac an, „in internationalen Gremien, einschließlich
des Sicherheitsrats, gemeinsame Standpunkte zu vertreten und abgestimmte Strategien gegenüber Drittländern festzulegen“.
Dies wäre ein echter Fortschritt. Wir unterstützen dies mit
Nachdruck.
({1})
Am Dienstag hat nun der Bundeskanzler auf einer
Pressekonferenz betont, der deutsche Vertreter im UN-Sicherheitsrat habe gegen ein militärisches Vorgehen gegen den Irak zu stimmen, sollte es dort zu einer Abstimmung kommen. Deshalb, Herr Bundeskanzler, fragen wir
Sie: Haben Sie dies so mit der französischen Seite abgestimmt oder nicht? Das müssen Sie spätestens am 22. Januar 2003 klipp und klar sagen. Aus Paris hören wir nämlich ganz andere Töne. Sie können nicht dort feierliche
Erklärungen abgeben, an die Sie sich zu Hause nicht halten.
In Fragen der Sicherheitspolitik kann sich keiner auf
unsere französischen Freunde berufen, der einen Sonderweg propagiert. Ganz im Gegenteil: Wenn es um den
Schutz der eigenen Bevölkerung geht - um nichts anderes
geht es ganz aktuell in der Irakkrise -, haben alle französischen Präsidenten, egal welcher Couleur, den engen
Schulterschluss mit Amerika gesucht. Ich erinnere an die
Rede von Präsident Mitterrand zum 20. Jahrestag des Élysée-Vertrages am 20. Januar 1983. In Deutschland tobte
der Streit um den NATO-Doppelbeschluss, die Linke
warnte vor amerikanischen Abenteuern und forderte einen
deutschen Sonderweg. Wie sich Geschichte doch wiederholt!
({2})
In dieser Situation hat der große französische Sozialist
Mitterrand vor dem Deutschen Bundestag seinen Genossen die Leviten gelesen.
({3})
Er forderte die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen, ohne die wir den Kalten Krieg nicht
überwunden hätten. Er sprach sich vehement gegen die
Abkopplung des europäischen Kontinents von den Vereinigten Staaten aus und für eine enge Solidarität unter
den NATO-Staaten.
({4})
Ich will eine Passage aus dieser Rede Mitterrands zitieren:
Es gibt kein vorbestimmtes Schicksal, und unsere
Völker wissen sehr wohl, dass sie heute im Frieden
das Wertvollste aller Güter haben, nachdem ihre Eltern, ihre Großeltern so häufig an der Front, in den
Schützengräben, im Widerstand, in den Lagern, in
den Befreiungsarmeen davon geträumt haben, dass
Frankreich und Deutschland sich irgendwann einmal
gegenseitig achten und zu einem guten Einvernehmen finden würden ...
Leider
- Herr Bundesaußenminister, gerade nach Ihren Einlassungen heute möchte ich Ihnen besonders folgenden Satz
Mitterrands in Erinnerung rufen hilft es nicht, den Frieden wie eine unsichtbare
Macht anzurufen. Man muss den Frieden aufbauen,
jeden Tag mit eigenen Kräften neu bauen, festigen,
absichern.
({5})
Dazu braucht man einen kühlen Kopf und einen
festen Willen.
Der Aufbau einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion ist eine zentrale Aufgabe der deutschfranzösischen Zusammenarbeit. Dazu brauchen wir keine
Stimmungsmache, sondern in der Tat einen kühlen Kopf
und einen festen Willen.
({6})
Unsere engen und freundschaftlichen Beziehungen
sind Aufgabe der Politik. Sie sind aber, so hat es bereits de
Gaulle 1962 bei seinem Deutschlandbesuch formuliert,
insbesondere das Werk der Jugend. Es ist von den Vorrednern auf die großartige Erfolgsbilanz des DeutschFranzösischen Jugendwerkes hingewiesen worden, an
dem bisher knapp 7 Millionen Jugendliche teilgenommen
haben; Herr Müller, Sie haben das gerade erwähnt. Wir
wünschen uns, dass in Zukunft nicht weniger, sondern
noch mehr junge Menschen Kultur und Sprache des
Partnerlandes kennen lernen. Es ist zu Recht gesagt worden: Während die wirtschaftlichen Verflechtungen immer
enger werden, sinkt die Zahl derer, die jeweils die Sprache des Partnerlandes lernen.
Ich will mit Nachdruck unterstreichen, was der Ministerpräsident des Saarlandes über die Wichtigkeit des Erlernens der Partnersprache als Drittsprache bereits in der
Vorschule, in der Schule, aber auch später in der Hochschule gesagt hat. Herr Müller, lassen Sie mich aber ergänzen: Angesichts der engen wirtschaftlichen Verbindungen zwischen unseren Ländern ist es auch für
Auszubildende und deren spätere berufliche Zukunft entscheidend, dass sie einen Teil ihrer dualen Ausbildung im
Partnerland absolvieren können.
({7})
Es ist meiner Ansicht nach auch überfällig, bei der Erarbeitung von Lehrplänen und Schulbüchern zusammenzuarbeiten, ganz besonders bei der Erarbeitung von
Schulbüchern für den Geschichtsunterricht.
Meine Damen und Herren, die Erklärung des
79. deutsch-französischen Gipfels in Schwerin verweist
völlig zu Recht auf die Bedeutung der Medien für die
Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit. Wir haben
seit Jahren den deutsch-französischen Fernsehsender
Arte. Ich habe überhaupt nichts gegen Arte. Allerdings
handelt es sich dabei nur um ein Programm für ein elitäres, intellektuelles Publikum. Wir brauchen deutsch-französische Medien und wir brauchen ein deutsch-französisches Fernsehprogramm für ein Massenpublikum,
({8})
in dem Nachrichtensendungen, die Übertragung gesellschaftlicher und sportlicher Ereignisse, regionale Schwerpunktprogramme und vor allem auch Unterhaltungsprogramme und Quiz-Shows, in denen die jeweilige
Lebensart und das kollektive gegenseitige Wissen zu einem Gemeinsamen werden, vorgesehen sind.
Herr Müller, ich freue mich, dass Sie als Vertreter des
Bundesrates heute an dieser Debatte über die deutschfranzösischen Beziehungen teilnehmen. Wir müssen in
den Grenzregionen der betroffenen Bundesländer noch
viel stärker zusammenarbeiten und zu modellhaften, starken binationalen Räumen kommen. Wir müssen gemeinsame Verwaltungseinheiten aufbauen, eine gemeinsame
Raumordnung und Verkehrsinfrastruktur schaffen und soziale Einrichtungen sowie Sportvereine grenzüberschreitend anlegen.
Vor 40 Jahren hat man sich im Élysée-Vertrag damals
kaum für möglich gehaltene ehrgeizige Ziele gesetzt, die
für uns heute selbstverständlich sind. Warum sollten wir
dann nicht auch über grenzüberschreitende politische Einheiten nachdenken und für die Europawahlen zum Beispiel grenzüberschreitende Wahlkreise errichten und binationale Wahllisten erstellen?
({9})
Frankreich bleibt für Deutschland und Deutschland
bleibt für Frankreich der größte Nachbar, der wichtigste
Handelspartner und der wichtigste Partner innerhalb der
Europäischen Union. Die Grenze zwischen Frankreich
und Deutschland ist die längste zwischen zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Beide haben keine Alternative zu dieser strategischen Partnerschaft.
Für uns sind die privilegierten Beziehungen zu Frankreich durch die Wiedervereinigung Deutschlands und die
Einigung Europas noch existenzieller geworden. In vielen
bilateralen Fragen haben wir noch große Aufgaben vor
uns. Wir können unser Verhältnis noch viel enger ausgestalten. Eine aktive deutsche Außenpolitik ist nur in einer
funktionsfähigen Europäischen Union denkbar. Die internationale Handlungsfähigkeit Europas ist auf das enge
und gleichberechtigte Zusammenwirken Deutschlands
mit Frankreich angewiesen.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/
Die Grünen und der FDP auf Drucksache 15/295 zum Entwurf einer gemeinsamen Erklärung der Französischen
Nationalversammlung und des Deutschen Bundestages
zur interparlamentarischen Zusammenarbeit. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.
({0})
Tagesordnungspunkte 3 c und 3 d: Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/200
und 15/296 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Allerdings sollen diese Vorlagen
- abweichend von den in der Tagesordnung gemachten
Angaben - federführend vom Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union beraten werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht 2002 der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit
- Drucksache 14/9950 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister Manfred Stolpe.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit ist
noch kein Thema, das Begeisterungsstürme auslösen kann;
denn harte Fakten fallen zuerst ins Auge: Die jüngsten Arbeitsmarktzahlen weisen im Osten eine Durchschnittsarbeitslosigkeit von 18,4 Prozent gegenüber 8,2 Prozent im
Westen aus. Die Abwanderung vor allem junger Leute dauert unvermindert an. Der Wohnungsleerstand beträgt an einigen Standorten mehr als 20 Prozent und er wächst weiter.
Diese Liste ließe sich fortsetzen.
Doch ist auch wahr: Die Wertschöpfung von Unternehmen, speziell im verarbeitenden Gewerbe, ist seit
1996 um 30 Prozent gestiegen. Die Zuwachsraten liegen
über denen Westdeutschlands. Große Unternehmen, zum
Beispiel der Autoindustrie und der chemischen Industrie,
haben mit strategischem Blick in Ostdeutschland erheblich investiert. Im Wissenschafts- und Forschungsbereich
sind neue und zukunftssichere Arbeitsplätze entstanden.
Die ostdeutschen Hochschulen und Institute haben weltweit einen guten Ruf. Wirtschaftliche Zentren entwickeln
sich in erfreulicher Weise. Alle Länder weisen mittlerweile starke industrielle Kerne auf.
Die Zahl der Existenzgründungen, zum Beispiel in
Sachsen und Brandenburg, liegt, auf die Bevölkerung bezogen, über der in Baden-Württemberg und NordrheinWestfalen. Die Angebote der Kinderbetreuung sind im
Osten des Landes hervorragend.
({0})
Der Kampf gegen die Flut und ihre Folgen hat einmal
mehr die Tatkraft, die Belastbarkeit und die Leistungsfähigkeit der Menschen in Ostdeutschland gezeigt.
({1})
Es ist eindeutig: Zwölf Jahre deutsch-deutscher Solidarität und tatkräftiger Aufbauarbeit in den neuen Bundesländern haben einen gewaltigen Fortschritt gebracht.
Weitaus mehr als die Hälfte des Rückstandes ist überwunden. Die Menschen wollen die Angleichung der Lebensverhältnisse durch eigene Leistung mitgestalten.
({2})
Wir im Osten Deutschlands wollen nicht mehr länger
Bremsklotz der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern
aktive Mitgestalter eines starken und zukunftssicheren
Deutschlands sein. Das muss unser gemeinsames Interesse sein.
Noch müssen wir Überbrückungs- und Stützungsmaßnahmen insbesondere für den Arbeitsmarkt leisten.
So werden wir bis auf weiteres Arbeitsförderungsmaßnahmen, Strukturanpassungsmaßnahmen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanzieren müssen; denn vorerst
ist die Zahl der Arbeitswilligen weitaus größer als die
Zahl der Arbeitsplätze.
({3})
Das gilt auch für Maßnahmen, die die Bundesregierung zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ergriffen hat. In den neuen Ländern sind im Jahr 2001 rund
165 000 junge Menschen unter 25 Jahren durch gesetzliche Maßnahmen gefördert worden. Entsprechend groß
muss unser Engagement auch sein, wenn es um die Schaffung von Ausbildungsplätzen geht. Trotz aller Anstrengungen sind wir weiterhin auf öffentlich finanzierte Ausbildungsplätze angewiesen. Im Jahr 2002 waren es fast
37 000. Auch das JUMP-Plus-Programm ist gegenwärtig
unverzichtbar.
All das reicht jedoch nicht. Zusätzlich werden wir uns
auch alle schon beschlossenen Maßnahmen vornehmen
müssen, die uns gerade in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik helfen können. Unsere Konzeption heißt, die
wichtigsten Hebel entschlossen und beharrlich ansetzen.
Diese Hebel kennen wir. Wir müssen sie nicht erst ratlos
suchen. Mit der Umsetzung des Hartz-Konzeptes und der
Neuordnung des Arbeitsmarktes haben wir einen wichtigen Schritt getan,
({4})
zum Beispiel werden „Kapital für Arbeit“ sowie steuerliche Erleichterungen für Existenzgründungen und Kleinstunternehmen auch im Osten Arbeitsplätze schaffen.
({5})
Ein wichtiger Hebel wird die Mittelstandsoffensive
sein; denn der Mittelstand ist das Herz der ostdeutschen
Wirtschaft. Die Mittelstandsoffensive schreibt die bisherigen Hilfen fest. Neue Fördermaßnahmen kommen
hinzu. Wir wollen, dass sich der Mittelstand im industriellen Dienstleistungsbereich noch besser entwickelt.
({6})
Die Gründung einer Mittelstandsbank wird für ganz neue
Impulse bei Existenzgründern und investitionsbereiten mittelständischen Unternehmen sorgen. Die Mittelstandsbank
wird Förderwege vereinfachen und beschleunigen. Sie
wird Möglichkeiten für die Stärkung des Eigenkapitals der
Unternehmen schaffen. Sie wird zusätzliche Beratungsaktivitäten entwickeln und Unternehmen unterstützen, die
bisher Schwierigkeiten hatten, eine Hausbank zu finden.
Wir wollen, dass sich der Mittelstand in den neuen
Ländern vor Ort entwickelt.
({7})
Aber natürlich wollen wir auch Unternehmensansiedlungen fördern.
Denn Ostdeutschland ist ein guter Investitionsstandort.
({8})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Die zentrale europäische Lage, die immer besser werdende Infrastruktur, qualifizierte Arbeitskräfte, in der Regel schnelle Verwaltungsverfahren und nicht zuletzt gute
Investitionsförderung sollten wir weltweit stärker herausstellen. Wie man das macht, zeigt das Industrial Investment Council, IIC. Dieses Promotionsbüro, dessen Name
im Ausland bekannter ist als hierzulande, wurde von Bund
und Ländern, Wirtschaftsvertretern und der Deutschen
Ausgleichsbank initiiert. Es dient der Investitionswerbung.
Seit 1997 hat das IIC 88 Projekte mit einem Investitionsvolumen von 4,1 Milliarden Euro und rund 19 000 Arbeitsplätzen angeworben. Es soll zunächst bis Ende 2004
weitergeführt werden. Der Kollege Clement und ich werben dafür, dass eine Weiterführung auch über diesen Termin hinaus möglich wird. Ich nutze die Gelegenheit, um
auch Sie um Ihre Unterstützung zu bitten.
({9})
Die Bundesregierung wird die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die neuen Länder durch eine Vielzahl von Maßnahmen weiter verbessern. Dazu zählt auch
der Neu- und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, eines
wichtigen Hebels der Standortentwicklung. Entsprechend
haben wir die Investitionspolitik in diesem Bereich von
Beginn an gestaltet. In den Jahren 1999 bis 2002 entfielen
mehr als die Hälfte der Mittel des Investitionsprogramms
auf die neuen Länder. So konnten dort 18 Milliarden Euro
in die Verkehrswege investiert werden. Damit haben wir
wichtige Projekte wie den Bau der Ostseeautobahn A 20
vorfristig gesichert. Auch in Zukunft werden die neuen
Länder bei den Verkehrsinvestitionen besondere Berücksichtigung finden.
({10})
Sie sollen einen Schwerpunkt im neuen Verkehrswegeplan bilden. Dabei wird es auch um den Neubau wichtiger
Verkehrsachsen gehen. Ich nenne in diesem Zusammenhang die A 14 zwischen Magdeburg und Schwerin, die
A 72 zwischen Leipzig und Chemnitz und die Hochgeschwindigkeitsstrecke der Bahn von Nürnberg über Erfurt
nach Berlin.
({11})
Lassen Sie mich an dieser Stelle einfügen: So, wie der
Aufbau Ost eine Aufgabe im Interesse von ganz Deutschland ist, werde ich mich auch für den Ausbau West einsetzen. Denn zum Beispiel sind überlastete und verstopfte
Verkehrswege in westlichen Entwicklungszentren auch
eine Behinderung wirtschaftlicher Entwicklung für das
gesamte Land.
In den neuen Bundesländern gibt es noch erhebliche
Rückstände in der kommunalen Infrastruktur. Straßen
und öffentliche Gebäude bedürfen dringend der Instandsetzung. Da gibt es noch viel Arbeit und die Attraktivität
der Städte könnte erheblich verbessert werden. Doch die
Finanzkraft der Kommunen ist gering. Oft sind sie nicht
in der Lage, die Kofinanzierung für Bundes- oder Landesprogramme aufzubringen. Ich setze hierbei dringend
auf die Kommission Kommunalfinanzen, damit hier Auswege aufgezeigt werden können. Wenn es aber keine
schnellen Möglichkeiten zur Verbesserung der Finanzlage
gibt, sollten Krediterleichterungen ernsthaft geprüft werden. Das ist jedoch bekanntlich nicht nur Aufgabe des
Bundes. Lassen Sie es mich noch einmal betonen: In der
Verbesserung der kommunalen Infrastruktur liegt ein sehr
wichtiger Hebel für den Aufbau Ost.
({12})
Wir haben uns vorgenommen, noch in diesem Jahr
Bauen in Deutschland schneller und einfacher zu machen.
Auch der Vorschlag, für ostdeutsche Länder entwicklungshemmende Regelungen auszusetzen, sollte ernsthaft
geprüft werden. Ich jedenfalls meine nicht, dass dieser
Weg verfassungsrechtlich unmöglich ist.
Meine Damen und Herren, Sie kennen das Programm
„Stadtumbau Ost“. Dabei geht es um die Schaffung attraktiver Wohn- und Lebensräume, die von Bürgern und
potenziellen Investoren gerne angenommen werden. Das
ist eine direkte Standortpolitik für die neuen Länder, die
wir massiv weiterführen werden. Die dabei gewonnen Erfahrungen fließen jetzt auch in das Pilotprogramm „West“
ein.
Meine Damen und Herren, wir wissen uns in der
Pflicht, gleichwertige Lebensbedingungen in Ost und
West zu schaffen. Das ist in vielen Bereichen gelungen.
Auch die schrittweise Tarifangleichung hat in diesem Zusammenhang große Bedeutung. Es muss Schluss sein mit
teilungsbedingten Benachteiligungen.
({13})
Heute wissen wir, dass die innere Einheit bedeutet,
nicht Ost und West gleichzumachen, sondern gemeinsam nach Perspektiven für unser Land zu suchen. In den
90er-Jahren überließen Ostdeutsche die großen gesellschaftlichen Diskussionen über die Rolle Deutschlands in
Europa und der Welt oft dem Westen. In Ostdeutschland
kümmerte man sich „um die wirklichen Probleme des Lebens“, wie es genannt wurde, nämlich Arbeitslosigkeit
und Wirtschaft.
Diese Sicht hat sich geändert; denn die Menschen in
den neuen Ländern haben sich verändert. Die Ostdeutschen haben begriffen, dass sie ein Teil dieses Landes sind
und Mitverantwortung tragen: ob es um das gesellschaftliche Zusammenleben in unserem Land geht - ich denke
dabei zum Beispiel an das Selbstbewusstsein unserer berufstätigen Frauen - oder ob es um die großen Fragen von
Globalisierung, Terrorismusbekämpfung oder Erhaltung
des Friedens geht. Die Menschen in Ostdeutschland mischen sich ein und werden gehört. Dabei ist es selbstverständlich, dass auch dort die Meinungen auseinander gehen und sich mitunter überraschende Allianzen quer
durch Deutschland bilden.
Bei anderen Fragen verläuft es entgegengesetzt. Haben
wir im Osten vor zehn Jahren zum Beispiel in der Bildungspolitik noch darüber gestritten, welche Westmodelle am besten zu übernehmen seien, gibt es heute ein
neues Selbstbewusstsein, das durch die Suche nach gemeinsamen Perspektiven gekennzeichnet ist.
({14})
Ostdeutschland ist auf einem guten Wege. Ich hoffe,
dass die große Herausforderung, aber auch die Chance der
Osterweiterung der Europäischen Union diesen Weg
verstärken und nicht gefährden wird. Große Wettbewerber wachsen heran. Georg Milbradt sprach unlängst von
einer möglichen Sandwichsituation des Ostens zwischen
den alten Ländern und den künftigen EU-Mitgliedern. Es
wird in der Tat darauf ankommen, dass wir im Osten besser, effektiver und schneller sind. Innovation, Flexibilität
und Qualität müssen Merkmale ostdeutscher Wirtschaft
und Gesellschaft sein.
({15})
Ich wünsche mir, dass wir im Osten viele gute Beispiele
für das ganze Deutschland hervorbringen können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich nutze die
Gelegenheit, Ihnen allen für Ihre Unterstützung auf unserem schwierigen, aber hoffnungsvollen Weg zu danken,
und bitte um Ihre weitere konstruktive und kritische Mitarbeit an dem großen Projekt deutsche Einheit.
Ich danke Ihnen.
({16})
Der nächste Redner ist der Kollege Arnold Vaatz,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das letzte Jahr war ein besonderes Jahr. Es ist sicherlich gerechtfertigt, von diesem Pult aus darauf einzugehen, wie es im Übrigen auch der Bericht tut. Es gab eine
Naturkatastrophe, wie wir sie zuvor noch nicht erlebt
hatten. Dabei haben wir nicht nur festgestellt, dass die
Flüsse Unmengen von Wasser und Schutt gebracht haben,
sondern auch eine Botschaft vernommen: Das vereinigte
Deutschland hat eine neue Belastungsprobe erfolgreich
überstanden; im Gegensatz zu dem, was diejenigen meinen, die immer von der Mauer in den Köpfen reden, ist
Deutschland zusammengewachsen.
({0})
Das ist ein Grund zur Freude. Es ist mir als sächsischem Abgeordneten ein Bedürfnis, mich von diesem Pult
aus für das Ausmaß der Hilfe zu bedanken, das uns zuteil geworden ist: 73 000 Einsatzkräfte von Bundeswehr,
Technischem Hilfswerk, Bundesgrenzschutz, freiwilligen
Feuerwehren usw. sowie unzählige freiwillige Helfer
standen uns zur Seite. Ferner gab es eine Lawine der
Hilfsbereitschaft der deutschen Öffentlichkeit. Auch viele
Abgeordnete aus diesem Hause haben sich um die Organisation von Hilfsgütern verdient gemacht. Auch die Medien haben dazu beigetragen. Ich möchte mich an dieser
Stelle ganz besonders herzlich dafür bedanken.
({1})
- Des Weiteren hat die Bundesregierung - das ist richtig an dieser Stelle mit den betroffenen Landesregierungen
erfolgreich zusammengearbeitet und im Wesentlichen,
wie ich meine, richtig gehandelt. Auch dafür kann man
Dank sagen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben uns sogar mit den Worten Mut gemacht, es werde niemandem nach der Flut
schlechter gehen. Ich weiß nicht genau, ob Sie das in
Kenntnis der wirklichen Sachlage gesagt haben; denn mit
der Flut ist für viele Menschen weit mehr verschwunden
als nur Hab und Gut. Aber wahlkampfwirksam war diese
Aussage. Das muss man Ihnen sicherlich zugestehen. Etliche Zeitungen haben damals insinuiert, dass es die Flut
gewesen sei, die diese Regierung gerettet habe.
({2})
Das ist ein Stück weit auch mein Eindruck. Es war in diesen Tagen leider so, dass die Frage nach der wirtschaftlichen und sozialen Zukunft Ostdeutschlands hinter den
schrecklichen Flutbildern für kurze Zeit zurückgetreten
ist. Wenn dies nicht geschehen wäre, dann wäre deutlich
geworden, dass Sie auf diese Frage damals - das gilt auch
heute - keine vernünftige und akzeptable Antwort gehabt
haben.
({3})
Das zeigt auch Ihr neuerlicher Bericht zum Stand der
deutschen Einheit. Wir warten eigentlich seit 1998, also
seitdem Sie regieren, auf eine in sich geschlossene Gesamtstrategie, die eine Perspektive eröffnet, wie und in welcher Zeit der Aufholprozess in Ostdeutschland vorangehen
kann. Dieser Aufholprozess könnte ein Argument dafür liefern, dass sich Firmen wieder in Ostdeutschland ansiedeln
und dass junge Menschen in Ostdeutschland bleiben. Aber
auf eine solche Gesamtstrategie warten wir bis heute vergeblich. Das zeigt auch wieder der neue Bericht.
({4})
- Herr Stiegler, lassen Sie Ihre Kommentare. Hören Sie
erst einmal zu! Bei Ihnen in Bayern stehen die Dinge
glücklicherweise noch etwas besser.
({5})
Wenn Sie aber so weitermachen, dann sieht es bei Ihnen
in Bayern bald genauso aus wie bei uns.
({6})
Das versichere ich Ihnen. Herr Stiegler, alles, was in
Berlin vergeigt wird, können die Bundesländer nicht herausreißen.
({7})
Diesmal liegen uns zum Glück zwei Schriftstücke vor,
über die wir diskutieren können. Das eine ist der Bericht
zum Stand der deutschen Einheit und das andere ist das
Sachverständigengutachten, das ungefähr zur selben Zeit
erschienen ist. Ein Unterschied ist festzustellen: Der
Bericht der Bundesregierung erschien am 9. September
2002, also vor den Bundestagswahlen, und das Sachverständigengutachten erschien am 13. Dezember 2002, also
nach den Wahlen. Wenn man den Bericht und das Gutachten vergleicht, dann fühlt man sich sehr stark an Herrn
Gabriel erinnert, der gesagt hat: Die Wahrheit vor der
Wahl - das hätten Sie wohl gern.
Das Sachverständigengutachten, das sich sehr eingehend mit Ostdeutschland beschäftigt und das in der nüchternen Sprache der Wissenschaftler geschrieben ist, ist
eigentlich - das stellt man nur fest, wenn man es genau
liest - eine vernichtende Kritik erstens an der Diagnosefähigkeit der Bundesregierung, zweitens an der Fähigkeit,
Bilanz zu ziehen, und drittens an der Fähigkeit, Rezepte
zu entwerfen. Der Kernsatz des Sachverständigengutachtens lautet: Der Konvergenzprozess der neuen Bundesländer ist nach einem schnellen Fortschreiten in den ersten Jahren der Wiedervereinigung deutlich ins Stocken
geraten. Deutlicher kann man Ihnen nicht sagen, was
Chefsache Aufbau Ost für Ostdeutschland wirklich bedeutet hat.
({8})
Die Sachverständigen fordern als Therapie ein spezielles Wachstumsprogramm für Ostdeutschland mit teilweise einschneidenden Konsequenzen. Im Übrigen ist das
derselbe Tenor, der zwar schon seit vielen Jahren von unserer Seite dieses Hauses vorgetragen wird, den Sie aber
Jahr für Jahr nicht befolgen.
Entsprechend nimmt das auch schon die Presse auf.
Vor kurzer Zeit war in einer deutschen Illustrierten vorn
eine Bildgeschichte abgedruckt - ich weiß nicht, ob Sie es
gesehen haben -, bei der Herr Minister Stolpe Herrn Ministerpräsidenten Steinbrück offenbar etwas Lustiges erzählt. Unter der Rubrik „Prominenten in den Mund geschoben“ schrieb der „Stern“ dazu wie folgt: Herr Stolpe
sagt Herrn Steinbrück, er habe dem Bundeskanzler erzählt, der Aufbau Ost komme in diesem Jahr zum Laufen.
Daraufhin lacht Herr Steinbrück schallend. - Wenn diese
Worte es wert sind, Prominenten in den Mund geschoben
zu werden, wenn sie ein Witz sind, wenn die Leute in der
Tat darüber lachen müssen, dann bedeutet das: Die Öffentlichkeit weiß schon sehr genau, was wirklich hinter
den schönfärberischen Berichten steht, die, seit Sie an der
Regierung sind, regelmäßig zum Stand der deutschen
Einheit erstattet werden.
Diese Berichte beinhalten seit 1999 etwa dasselbe, nur
mit einem Unterschied: Sie sind etwas unehrlicher geworden. 1999 hieß es im Bericht zum Stand der deutschen
Einheit noch, dass sich der gesamtwirtschaftliche Aufholprozess der neuen Länder vorerst nicht mehr fortgesetzt habe. Weiter haben Sie damals geschrieben: In den
letzten beiden Jahren hat sich die Schere in der wirtschaftlichen Leistung zwischen neuen und alten Ländern
sogar wieder leicht geöffnet.
Im Bericht 2000 hatte die Bundesregierung festgestellt
- ich muss auch das wieder zitieren, obwohl es eigentlich
bekannt ist, weil es mir darauf ankommt, diesen beschönigenden Sprachgebrauch aufzuzeigen -:
1998 erreichte das gesamtwirtschaftliche Wachstum
in den neuen Ländern 2,0 Prozent und lag damit erneut leicht unter der westdeutschen Wachstumsrate
von 2,8 Prozent.
Damit ist das Wachstum im Osten um fast 30 Prozent
niedriger gewesen als das im Westen. So weit hatte sich
die Schere mittlerweile geöffnet. Es spricht Bände, dass
das für diese Regierung kein Alarmsignal war.
Im Jahr 2000 betrug das ostdeutsche Wirtschaftswachstum nur noch 1,1 Prozent gegenüber 3,3 Prozent im
Westen. Im Jahr 2001 sind wir schließlich dahin gekommen, dass die ostdeutsche Wirtschaft geschrumpft ist: ein
Wachstum von minus 0,1 Prozent.
Herr Stolpe, Sie haben vorhin davon gesprochen, die
Menschen in Ostdeutschland wollten nicht mehr länger
Bremsklotz der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in
Deutschland sein. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Die
Menschen in Ostdeutschland waren niemals der Bremsklotz der Entwicklung.
({9})
Wenn es einen Bremsklotz der Entwicklung gab, dann
war er in Berlin, im Bundeskanzleramt und in den Ministerien.
Das zu der Bilanz der letzten vier Jahre Ihrer Regierung.
({10})
Während der ersten acht Jahre der deutschen Wiedervereinigung war dieser Prozess einmal anders. Da wies
die Tendenz in die andere Richtung. Es ist klar, dass es nur
ziemlich quälend und ziemlich langsam ging, aber es war
zumindest mit einer Perspektive versehen. Nicht hinzunehmen ist, wenn sich diese Tendenz jetzt umkehrt, wenn
alles darauf hinweist, dass wir es in Zukunft mit einer
größeren Lücke zwischen Ost und West zu tun haben werden als heute. Das werden die Menschen mit gutem Grund
nicht hinnehmen.
({11})
Kommen wir nun zu einigen Detailproblemen. Die
Sachverständigen erklären richtigerweise, das Hauptproblem in Ostdeutschland sei die unbefriedigende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Genauso empfindet es auch
die absolute Mehrzahl der Ostdeutschen. In Ihrem Bericht
müssen Sie offenbaren, dass sich die Anzahl der Arbeitsplätze in Ostdeutschland durch Ihre Politik in den vergangenen vier Jahren nicht erhöht, sondern reduziert hat. Das
können Sie auf der Seite 64 Ihres Berichts nachlesen. Die
Beschäftigung in Ostdeutschland ist während Ihrer gesamten Regierungszeit zurückgegangen - im ersten Jahr
ungefähr um 40 000, im zweiten Jahr um 110 000 und im
dritten Jahr um 180 000. Das ist kein kontinuierlicher, sondern ein progressiver Rückgang. Pro Jahr ist der Rückgang
der Arbeitsplätze gegenüber dem Vorjahr um 70 000 gestiegen. Stellen Sie sich diese Kurve bitte einmal weiter
für die nächsten zehn Jahre vor! Dann werden wir den
Punkt erreichen, dass es in Ostdeutschland überhaupt keine
Arbeitsplätze mehr gibt. Das ist die Situation; sie lässt
sich mit diesem Rückgang beschreiben.
({12})
- Das ist kein Grund, Witze zu reißen. Herr Stiegler, Sie
können zwar Witze reißen; aber an dieser Stelle sind sie
ausnahmsweise einmal am falschen Platz.
({13})
Dennoch schreiben Sie in diesem Bericht, dass sich die
Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern seit 1998 kaum
geändert hat. Das ist, wie man diesem Bericht entnehmen
kann, wieder nur die halbe Wahrheit und demzufolge eine
halbe Lüge. Die Arbeitslosenquote spiegelt das Dilemma
der Erwerbslosigkeit in Ostdeutschland schon längst nicht
mehr adäquat wider. Das ist das Problem.
Die Arbeitslosenquote schnellt nur deshalb nicht in die
Höhe, weil altersbedingt inzwischen mehr Personen den
Arbeitsmarkt verlassen als in ihn eintreten, weil die Regierung die Abwanderung gerade von jungen Leuten aus
Ostdeutschland fördert - wir haben vorhin vom JUMP-Programm gehört; die Abwanderung der jungen Leute ist
nämlich auch eine Folge dieses Programms ({14})
und weil Langzeitarbeitslose dann aus der Statistik fallen
- das ist besonders zynisch -, wenn sie nach der Teilnahme an einem Programm der aktiven Arbeitsmarktpolitik erneut arbeitslos werden. Das ist die Realität.
Sie müssen berücksichtigen, was gerade der letzte Fakt
bedeutet. Er ist deshalb so schwerwiegend, weil unter den
Arbeitslosen in Ostdeutschland die Anzahl der Langzeitarbeitslosen - Personen, die länger als ein Jahr ohne Arbeit
waren - gegenüber 1996 um fast ein Viertel gestiegen ist.
Was haben Sie denn eigentlich getan - wir haben das
lange Zeit beobachten können -, um diesen Zustand zu
verbessern? Ich muss Ihnen sagen: leider nahezu gar
nichts. Eine Reihe von Gesetzen, die Sie in diesem Hause
mit Ihrer Mehrheit gegen uns verabschiedet haben, wirken bis heute asymmetrisch zulasten Ostdeutschlands.
Im Sachverständigengutachten liest man, dass die Arbeitslosigkeit unter den Geringqualifizierten in Ostdeutschland von 31 Prozent in 1991 auf 50 Prozent in
2001 hochgeschnellt ist. In Ihrem Bericht halten Sie es
nicht einmal für nötig, wenigstens die Frage zu untersuchen, was Ihr 630-Mark-Gesetz in Bezug auf die Arbeitsplätze für Geringqualifizierte in Ostdeutschland bewirkt
hat. Eine solche Untersuchung kann man doch einmal in
Auftrag geben! Sie haben es nicht gemacht, weil Sie ganz
genau wissen, dass dieses Gesetz besonders den Arbeitsmarkt in Ostdeutschland erheblich beschädigt hat.
Auch auf die Frage, wie sich Ihr Scheinselbstständigengesetz und Ihr Betriebsverfassungsgesetz auf den Arbeitsmarkt in Ostdeutschland ausgewirkt haben, findet
man in Ihrem Bericht keinerlei Antwort. Wo, wenn nicht
in einem solchen Bericht, wollen Sie denn darauf überhaupt einmal eingehen? Ich kann daraus nur schlussfolgern, dass Sie darauf deshalb nicht eingehen, weil Sie etwas zu verbergen haben und weil Sie nicht zugeben
wollen, dass diese Gesetzesinitiativen kontraproduktiv
waren, dass sie die Perspektiven in Ostdeutschland weiter
beschädigt und den Menschen nicht geholfen haben.
({15})
Die Disproportionen zwischen Ost und West haben
sich in den letzten Jahren verschärft. Die Anzahl der Existenzgründungen in Ostdeutschland ist schon seit 1999
rückläufig. Im Jahr 2001 nahm die Anzahl der Neugründungen im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 9 Prozent
ab, während der Rückgang im Westen nur bei 5 Prozent
lag. Die Anzahl der Unternehmensneugründungen im
Handel ging im gleichen Zeitraum um 12 Prozent zurück,
während der Rückgang im Westen bei 5 Prozent lag. Ganz
besonders schlimm ist die Entwicklung bei den EDVDienstleistungen in Ostdeutschland. Dort ist die Quote
von 2000 zu 2001 um 18 Prozent gefallen. Das sind die
traurigen Realitäten der Wirtschaft in Ostdeutschland.
({16})
Gerade was die Wachstumsbranchen angeht, auf die wir
gesetzt haben - sie sind die einzige Hoffnung dafür, dass
es tatsächlich zu einer Annäherung kommen kann -, ist
das besonders traurig.
Die Sachverständigen weisen der Infrastruktur nach
wie vor eine Schlüsselstellung im Hinblick auf die Wachstumserwartung in Ostdeutschland zu. In der Tat ist es Ihnen im Infrastrukturbereich an vielen Stellen gelungen,
wenigstens die langfristigen Ansätze beizubehalten, die
bereits die Vorgängerregierung geschaffen hatte. Das verdient Respekt. Nur: Eine wirkliche Weiterentwicklung
des Infrastrukturprogrammes für Ostdeutschland ist leider
nicht zu sehen. Im Osten werden zwar technologische
Neuerungen eingeführt, aber eben in Schanghai und nicht
in Halle oder Leipzig.
({17})
- Das ist doch so.
Während noch an den überregionalen Netzen gearbeitet wird, kristallisieren sich inzwischen ganz andere
Knackpunkte bei der Infrastrukturentwicklung heraus, die
Sie in Ihrem Bericht nicht genügend zur Kenntnis nehmen. Das betrifft, wie es die Sachverständigen Ihnen in
ihrem Gutachten sehr deutlich sagen, das gesamte Thema
der öffentlichen Infrastruktur der Kommunen. Das sieht
folgendermaßen aus: Die Kommunen sind mittlerweile
durch Zahlungsverpflichtungen, die sie eigentlich nicht
mehr bewältigen können, durch Kosten, die auf sie zukommen, und jetzt mittlerweile auch noch durch Tarifabschlüsse, die sie nicht tragen können, an einem Punkt angelangt, wo sie ihre investiven Haushaltsanteile immer
weiter zurückfahren müssen; dabei ist absehbar, dass sie
nicht einmal mehr mit den Reparaturen der bestehenden
Straßennetze nachkommen werden. Das ist die Realität.
Sie sind in Ihrem Bericht gegenüber diesem Umstand leider völlig blind.
Meine Damen und Herren, ich könnte noch sehr viel zu
etlichen Einzelthemen sagen,
({18})
zum Beispiel auch dazu, dass Ihnen überhaupt nicht aufgefallen ist, dass die Themenbereiche Ärztemangel und
Wegbrechen der hausärztlichen Versorgung in Ihrem Bericht überhaupt nicht erwähnt werden. Die Ärzte schlagen
Alarm und beklagen, dass Sie dafür überhaupt keine Konzepte haben.
Ich möchte mit einer kurzen Bemerkung schließen.
Hier geht es nicht allein um das Thema Ostdeutschland.
Vielmehr müssen wir im Kopf haben, dass wir keine für
Ostdeutschland günstige Entwicklung erwarten können,
solange in der gesamtdeutschen Wirtschaftspolitik grundsätzlich falsche Weichen gestellt werden.
({19})
Hier bitte ich Sie, sich anzuschauen, was Ihnen die
Sachverständigen ins Stammbuch geschrieben haben,
nämlich dass Sie endlich einmal Nägel mit Köpfen machen sollten. Wenn Ihre Vorschläge sinnvoll sind, werden Sie die Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion bekommen.
({20})
Aber machen Sie sich eines klar: Unser Land Deutschland
- ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin - ist nicht
mehr so stark, dass es eine beliebige Zeit lang eine völlig
unfähige und neben der Mütze stehende Regierung vertragen könnte. Ostdeutschland ist noch nicht stark genug
und war noch nie stark genug, als dass es ihm, wenn es
dem gesamten Deutschland schlecht geht, nicht noch
schlechter ginge.
({21})
Bedenken Sie, dass die Dinge, die in Westdeutschland negativ zu Buche schlagen, in Ostdeutschland eine noch viel
verheerendere und möglicherweise sogar irreparable Wirkung hinterlassen.
({22})
Nächster Redner ist der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind
in den zwölf Jahren deutsche Einheit, über die wir Bilanz
ziehen, trotz aller Kritik, trotz aller Unkenrufe und trotz
aller Sorgen und noch bestehenden Probleme ({0})
einen Teil davon hat der Herr Minister Stolpe hier vorgestellt - ein gutes Stück vorangekommen.
Mich stört nicht, Arnold Vaatz, die schwierige Problemlage, in der wir uns befinden, sondern deren schizophrene Darstellung. Es geht nicht, wenn man in Sachsen
ein Loblied auf den Aufbau Ost singt und die Aufbauleistungen des eigenen Landes darstellt, aber die Rede hier in
Berlin damit nicht übereinstimmt. Das müsste sie aber,
denn der Aufbau Ost ist die Summe der Leistungen der
einzelnen Länder.
({1})
Wenn man dauernd von einer Erfolgsgeschichte in Sachsen hört, die mit Biedenkopf-Milbradt überschrieben
wird, dann muss ein gutes Stück dieses Erfolges auch Berlin gutgeschrieben werden.
Im Übrigen wissen das die Bürger dieses Landes
selbst; die Fortschritte sind zu sehen. Wir haben nicht nur
architektonische Schätze aus dem Grau geborgen, sondern man kann von Görlitz bis Usedom sehen, wie die
Leute ihre Regionen aufbauen, den Eigenwert ihrer Regionen wieder entdecken und beim Standortwettbewerb
mithalten. Es hat in Ostdeutschland ein einzigartiger
Strukturwandel stattgefunden. Ökonomen nennen das
Transformationsprozess. Wenn Sie das mit dem Steinkohlebergbau in Westdeutschland vergleichen - der ehemalige Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, unser
Wirtschaftsminister Clement, zitiert dieses Beispiel häufig -: Dort hat vor 30 Jahren der Strukturwandel begonnen und er hält noch immer an.
({2})
Darüber kann man kritisch diskutieren. Aber in Ostdeutschland hat man in den Bereichen Braunkohle, Textil
und Chemie nur ein Zehntel der Zeit gehabt. Dort ist in der
Industriegeschichte Europas ein wirklich einzigartiger
Wandlungsprozess erfolgt. Möglicherweise aber haben
die Lasten und die Probleme die Leistungen so verdeckt,
dass den Ostdeutschen nicht richtig bewusst werden
konnte, was sie Großes vollbracht haben. Das muss hier
deutlich gesagt werden.
({3})
Arnold Vaatz, Rot-Grün ist nicht durch die Flut gerettet
worden. Mir tat es manchmal Leid, wie rettungslos verloren der Spitzenkandidat der Union im Osten war.
({4})
Dieses Bild haben wir doch gesehen: ein taumelnder
Mann, der nach zwölf Jahren deutscher Einheit den Osten
entdeckt und sich vor Ort ein eigenes Bild macht. Ich habe
immer gescherzt, dass er, wenn er bei Günther Jauch eine
Ostfrage für 4 000 Euro gestellt bekäme, dann schon seine
drei Joker brauchen würde, einschließlich des Telefonjokers Lothar Späth.
({5})
Das war der Stand der Union zwölf Jahre nach der
deutschen Einheit: Sondergebiet Ost, neue Ostzone, obwohl man acht Jahre Zeit hatte, sich darauf einzustellen.
Viele unserer Probleme hängen doch auch mit einem
falschen Leitbild der Anfangsphase zusammen.
({6})
Das Leitbild hieß: blühende Landschaften. Aber eine florierende Wirtschaft kommt nicht von allein, sondern muss
gezielt angesteuert werden, nicht nach dem Gießkannenprinzip, um dieses floristische Bild zu bedienen. Wir haben die Förderstrategien neu ausgerichtet. Das Konzept,
das hier angemahnt worden ist, gibt es ja. Das Ziel der
Bundesregierung ist, Nachhaltigkeit auch beim Aufbau
Ost zu erreichen. Deswegen steht Solidarität bei uns nicht
nur auf dem Papier. Die Flutkatastrophe mag als eindrucksvolles Beispiel dafür dienen, wie aus der Einheit
Deutschlands die Einheit der Deutschen geworden ist, wie
das Zusammengehörigkeitsgefühl gewachsen ist, wie
Menschen in Notsituationen geholfen haben. Aber man
muss dann bitte schön auch erwähnen, dass wir in der letzten Legislaturperiode den Solidarpakt II geschaffen haben, der den ostdeutschen Ländern und Kommunen Finanzsicherheit und Planungssicherheit bis 2020 bringt. Es
werden über 150 Milliarden Euro fließen. Das ist kein
Pappenstiel.
({7})
Manche westdeutsche Kommune würde sich freuen,
wenn sie für zwei Jahrzehnte Planungssicherheit hätte.
Auch das muss erwähnt werden; denn das war ein finanzieller Kraftakt.
Wir haben uns im Unterschied zu der Pauschalförderung, die es vorher gab, vor allen Dingen auf die industriellen Wachstumskerne konzentriert. Wir versuchen,
durch Innovation, zum Beispiel durch die erfolgreichen
Inno-Regio-Programme und das Pro-Inno-Programm,
Wachstumsregionen zu fördern. Diese gibt es in Ostdeutschland mittlerweile, beispielsweise das Biocon Valley
in Mecklenburg-Vorpommern, wo sich Biotechnikunternehmen mit Medizintechnikunternehmen zusammengetan
haben, oder die Buna- und Leuna-Olefin-Region, wo wir
den Wiederaufbau, die Revitalisierung der Chemieindustrie erleben. Ein weiteres Beispiel ist der Solarverbund
Ost mit dem Kompetenzzentrum in Freiberg. Das alles
sind hervorragende Beispiele für die Entwicklung des
Ostens.
Der wirkliche Umbauprozess wird verdeckt, wenn man
sich nur die nackten Wachstumszahlen anschaut. Die
Schrumpfprozesse in der Bauindustrie sind notwendig.
Sie werden jetzt etwas gestreckt, weil die Bauindustrie
durch die nach der Flutkatastrophe nötige Wiederaufbauleistung Aufträge bekommen hat. Dennoch haben wir in
der Bauindustrie Überkapazitäten, die schrumpfen müssen. Zweistellige Wachstumsraten zu verzeichnen sind
hingegen in den Zukunftsbranchen, in der Medizintechnik, Biotechnik, Elektronik, Elektrotechnik. Wir haben
nach der Deindustrialisierung Ostdeutschlands eine Reindustrialisierung mit zweistelligen Wachstumsraten. Das
ist der eigentliche Aufholprozess.
Natürlich brauchen wir - das betone ich - eine Offensive gegen die Arbeitslosigkeit. Der Aufbau Ost kommt
voran, aber er kann nicht alle gebrauchen, nicht alle erreichen. Es sind nicht alle eingebunden.
({8})
Wenn man über die Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen spricht, gehört zur Wahrheit aber auch,
dass die Erwerbsquote in Ostdeutschland genauso hoch
ist wie in Westdeutschland und dass die Arbeitslosigkeit
Ostdeutschlands auch etwas mit der Übergangsphase zu
tun hat. Wenn aus einer Arbeitsgesellschaft plötzlich eine
postindustrielle Gesellschaft wird, dann sind solche hohen Arbeitslosenquoten nicht so schnell zu reduzieren.
Dennoch dürfen wir nicht nur an der technischen, sondern wir müssen auch an der sozialen Infrastruktur arbeiten. Wir müssen bessere Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder und Jugendliche schaffen. Von
wissenschaftlichen Einrichtungen, Kultur- und Freizeitangeboten hängt es ab, ob die Regionen so attraktiv sind,
dass die jungen Leute dort bleiben oder hinkommen. Deshalb haben wir den Wettbewerb „Jugend kommt und
bleibt“ ausgerufen, für den immerhin 2,5 Millionen Euro
im Einzelplan 17 enthalten sind. Damit machen wir bestimmte Regionen für Jugendliche attraktiv, steigern ihren
Wert und stärken das Bindungsgefühl.
Wir werden die Chancen der EU-Osterweiterung nutzen.
({9})
- 2004. Sie wissen doch auch, dass die EU-Osterweiterung 2004 stattfindet.
({10})
- Auch für die Grenzregionen gibt es spezielle Programme. Sie wissen, dass es dort eine höhere Investitionszulage gibt.
({11})
Werner Schulz ({12})
Werner Schulz ({13})
- Wahrscheinlich, weil diese Menschen Sie so schreien
hören.
({14})
Auch Frau Pieper hat einen großen Anteil daran, dass
die Menschen in Ostdeutschland enttäuscht sind.
({15})
- Selbstverständlich. Sie waren doch diejenige, die so
groß aufgetrumpft hat. Wenn man so auf die Pauke haut,
indem man sagt, man sorge in Sachsen-Anhalt demnächst
für den großen Aufschwung, aber im nächsten Moment,
in dem die Verantwortung übernommen werden könnte,
verschwindet, dann löst das Enttäuschung aus.
({16})
Es ließe sich sicherlich noch vieles auch zu dem, was
Arnold Vaatz ausgeführt hat, sagen. Ich will aber zum
Schluss kommen. Es lohnt sich, dass der Bericht zum
Stand der deutschen Einheit angesichts der Chancen, die
sich aus der Osterweiterung ergeben, in den nächsten Jahren in der vorliegenden Form fortgesetzt wird.
Ich danke Ihnen.
({17})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Pieper, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
dieser Argumentation zeigt sich die Schwäche der Regierungskoalition beim Aufbau Ost. Die Argumente, die Herr
Werner Schulz angeführt hat, waren einfach unsachlich
und nicht richtig.
Ich stelle klar, dass das Engagement der FDP für den
Aufbau Ost von Anfang an vorhanden gewesen ist. Wir
haben zu Beginn der 90er-Jahre ein Niedrigsteuergebiet
Ost eingefordert. Sie hätten diese Forderung unterstützen
können. Dann wäre der Osten Deutschlands in einer ganz
anderen Situation.
({0})
Aber was tun Sie? - Sie erhöhen die Steuern und Abgaben
zulasten des Mittelstandes und des Handwerks.
Ich zitiere Ihren Kollegen aus der SPD-Bundestagsfraktion, Stephan Hilsberg. Er kritisiert Ihre eigene Aufbau-Ost-Politik, indem er sagt, Sie hätten kein Konzept
für den wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland, es
herrsche tiefe Ratlosigkeit in Ihren Fraktionen und Ihre
Kollegen aus dem Osten seien immer mehr frustriert, weil
ihnen niemand mehr zuhöre, wenn sie die Probleme des
Ostens erwähnen.
Wenn Sie wirklich etwas für den Osten tun wollen,
dann sollten Sie aufhören, beim Aufbau Ost, gerade bei
den Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen in den
neuen Ländern - Stichwort: Leibniz-Gemeinschaft -, zu
kürzen. Die Hälfte der Institute liegt in den neuen Ländern. Trotz aller Versprechungen vor der Wahl kürzen Sie
hier massiv. Das bringt den Osten nicht voran, sondern belastet ihn. Tun Sie etwas! Sie haben es in der Hand! Sie regieren. Wir leider noch nicht.
Danke.
({1})
Herr Kollege Schulz, Sie haben die Möglichkeit zu
antworten.
Frau Pieper, Sie haben sich mit Ihrem Zettel gut für
diese Kurzintervention präpariert. Da Sie von Wahrheit
gesprochen haben, will ich Ihrem Wahrheitsverständnis
etwas nachhelfen.
Wahr ist zum Beispiel, dass Sie 1990 mit Ihrer Forderung nach einem Niedrigsteuergebiet Ost die Unterstützung von Bündnis 90/Die Grünen gefunden haben. Wahr
ist aber auch, dass Sie damals mit Graf Lambsdorff und
Hans-Dietrich Genscher regiert haben. Sie hatten acht
Jahre Zeit, ein Niedrigsteuergebiet Ostdeutschland einzuführen. Das ist die Wahrheit.
({0})
Wahr ist, dass Sie in Sachsen-Anhalt angetreten sind,
um ähnliche Versprechungen einzulösen. Wahr ist auch,
dass Sie aus diesem Land geflohen sind,
({1})
weil Sie sich nicht getraut haben, die Verantwortung für
die Bildungspolitik zu übernehmen. Das ist genauso wahr.
({2})
Ich finde es haarsträubend, wie Sie auf der einen Seite
diese Show „Wir helfen dem Osten“ abziehen und auf der
anderen Seite die anderen kritisieren. Sie sagen: Wir müssen erst einmal an die Regierung kommen.
({3})
Wahr ist aber, dass Sie den Soli, der Ostdeutschland zugute kommt, abschaffen wollten. Das sind die Forderungen der FDP.
Insofern ist es unverständlich, dass Sie ein so gutes Ergebnis in Sachsen-Anhalt erzielen konnten. Aber das
wurde zwischenzeitlich ins rechte Lot gerückt.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Günther,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zum wiederholten Male und richtigerweise behandeln wir heute den Jahresbericht der Bundesregierung
zum Stand der deutschen Einheit. Und zum wiederholten
Male stelle ich verblüfft fest, dass dieser Bericht überwiegend Positives darstellt, obwohl die Schere zwischen
Ost und West ständig weiter auseinander geht.
({0})
Das ist etwas unfair gegenüber den Bürgern in den neuen
Bundesländern, denn sie haben wesentlich schlechtere
wirtschaftliche Verhältnisse und fühlen sich durch solche
Berichte im Endeffekt verschaukelt.
Natürlich ist es legitim, positive Beispiele herauszustellen, aber obwohl der Osten Chefsache gewesen ist,
sind 18,4 Prozent Arbeitslosigkeit Realität. Die Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern und die Prognosen verheißen eindeutig eine Erhöhung der Arbeitslosigkeit im Osten Deutschlands.
({1})
Wie toll Sie das in Ihrem Bericht zum Ausdruck bringen, möchte ich mit einem Zitat beweisen:
Damit hat sich auch im Jahr 2001 die seit Beginn dieser Legislaturperiode zu verzeichnende positive Entwicklung auf dem Frauenarbeitsmarkt in den neuen
Ländern fortgesetzt. Die Arbeitslosenquote der
Frauen verringerte sich zwischen 1998 ({2}) und 2001 ({3}) kontinuierlich und
näherte sich der niedrigeren Arbeitslosenquote der
Männer an.
Das hört sich toll an und man denkt, die Arbeitslosigkeit
in den neuen Bundesländern geht zurück. Die Zahl sagt
eindeutig etwas anderes; Kollege Vaatz hat es in Jahresscheiben dargestellt. 1998 gab es im Osten 5 133 000 Beschäftigungsverhältnisse, nach drei Jahren Rot-Grün haben
wir noch 4 810 000. Das heißt, die Zahl der Arbeitsplätze
nimmt ständig ab.
Und was tun die Menschen? Sie wandern ab. Im Jahr
2001 verließen nach Angaben des Statistischen Landesamtes Sachsen 63 000 Bürger den Freistaat; das entspricht
einer mittleren Kleinstadt. Davon waren 53 Prozent jünger
als 30 Jahre und 44 Prozent verfügten über Fachhochschul- oder Hochschulabschluss. Genau diese Leute brauchen wir aber in ein paar Jahren. Sie sind einfach notwendig, um die Infrastruktur im Lande aufrechtzuerhalten.
({4})
Ich empfehle Ihnen, diese Wanderungsanalyse sehr genau zu betrachten. Das sind nicht nur die bösen schwarzen
Zahlen, das ist die Realität, mit der man sich auseinander
setzen muss und die zum Handeln mahnt.
Herr Minister, Sie haben heute das Job-AQTIV-Gesetz
und das JUMP-Programm angesprochen. Bisher wurden
über 1 Milliarde DM - das Programm läuft ja seit 1990 in dieses Programm eingebracht. In Ihrem Bericht heißt
es, es seien Erfolge erreicht worden. Sie wollen das
JUMP-Plus-Programm für den Osten auflegen. Ich frage
mich, wer dieses Programm überhaupt noch in Anspruch
nehmen kann, wenn die Abwanderung so weitergeht. Die
Jugendlichen wandern aus Ostdeutschland ab. Wenn es
nicht gelingt, Arbeitsplätze zu schaffen, werden wir in
Ostdeutschland auch keine Ausbildungsplätze haben. Das
ist das Grundproblem, an dem wir kranken.
({5})
Sie wissen alle sehr genau, dass ohne Wirtschaftswachstum keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir eine durchgreifende
Steuerreform mit einer Senkung der Tarife und eine Reform der Sozialsysteme mit einer Reduzierung der Beitragslast. Hierzu gibt es viele Ansatzpunkte. Besonders
wichtig wäre für den Osten gewesen, das Gesetz gegen
Scheinselbstständigkeit zurückzunehmen. Das haben Sie
aber nicht getan. Wenn Sie den Willen zu Reformen haben, fangen Sie doch bei Kleinigkeiten an, die auf dem
Tisch liegen. Hier kann man sofort etwas umsetzen.
({6})
Was tut die Bundesregierung stattdessen? Sie erschwert
den Menschen das Leben durch steigende Steuer- und Abgabenlasten, um ihren hoch verschuldeten Haushalt zu
konsolidieren. Von neuen Arbeitsplätzen weit und breit
keine Spur.
Ich bin der festen Überzeugung, dass für die neuen
Länder für eine Übergangszeit - ich finde es gut, Herr
Stolpe, dass Sie das angesprochen haben - neue Regelungen und Sonderregelungen erforderlich sind. Mit seinen
„Paukenschlägen für den Osten“ hat Altkanzler Schmidt
das bereits einmal eingefordert. Das war nichts anderes
als ein Paragraphenbeseitigungsprogramm. Lange hat
man nichts gehört. Jetzt kommt wieder so etwas wie eine
Sonderförderung Ost. Die Überlegungen, die von Herrn
Clement kommen, sind zu begrüßen.
Dazu kann man noch mehr Vorschläge unterbreiten.
Damit es im Osten vorangeht, müssen die vom Westen im
Verhältnis 1 : 1 übernommenen und fest zementierten
Strukturen auf dem Arbeitsmarkt aufgebrochen werden.
Die starren bundeseinheitlichen Regelungen im Arbeitsund im Baurecht erschweren den Aufholprozess aller wirtschaftsschwachen Regionen. Hier ist es Zeit zu handeln.
Wir als FDP treten für Experimentierklauseln in den
Ländern ein. Konkret wollen wir, dass der Landesgesetzgeber im Arbeitsrecht und bei Planungsverfahren im Baurecht sehr schnell mehr und umfassende Spielräume erhält.
Das kürzlich vom sächsischen Wirtschaftsminister Gillo
propagierte Modellprojekt Ost entspricht im Wesentlichen
Joachim Günther ({7})
den Positionen der FDP. Wir werden es dementsprechend
unterstützen.
Herrn Clement - auch wenn er nicht anwesend ist bitte ich, dass er die Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften und Verbänden nicht scheut. Denn wir wollen nicht gegen die Arbeitnehmer, sondern gegen die Arbeitslosigkeit kämpfen. Das muss das Grundanliegen sein.
({8})
Die Schaffung von Experimentierklauseln ermöglicht
einen föderalen Wettbewerb im Sinne von Millionen
Arbeitslosen. Dann kommt wieder Bewegung in den Reformstau. Dann kann sich zeigen, wo mehr Arbeitsdynamik entsteht und welcher Weg im Endeffekt erfolgversprechend ist.
Dem von der Bundesregierung angekündigten Masterplan Bürokratieabbau sehen wir mit großer Spannung entgegen. Ich hoffe, dass den Ankündigungen nun
auch Taten folgen.
({9})
Wie ernst es die Bundesregierung grundsätzlich mit dem
Bürokratieabbau nimmt, das können wir feststellen, wenn
der FDP-Antrag „Abbau von Bürokratie sofort einleiten“
im Bundestag zur Abstimmung steht.
({10})
Was mich im Zusammenhang mit der Entwicklung in
den neuen Ländern besonders beschäftigt, ist die Rolle der
Kommunen, die meines Erachtens bei der Bundesregierung viel zu kurz kommt. Die Kommunen haben es in
ganz Deutschland schwer; das wissen wir. Aber im Osten
Deutschlands stehen die meisten vor einem Kollaps. Dabei geht es nicht nur um die Orts- und Kreisstraßen, die
Sie, Herr Stolpe, vorhin angesprochen haben. Grund dafür
sind die ständig steigenden Soziallasten, die die Kommunen aufgrund Ihrer Arbeitsmarktpolitik zu verkraften haben, und die sinkenden Einnahmen bei der Gewerbesteuer, weil der Mittelstand vor dem Ruin steht. Die
Kommunen können die Möglichkeiten der bestehenden
Förderprogramme nicht mehr ausschöpfen, weil der dazu
notwendige Eigenkapitalanteil nicht mehr vorhanden ist.
Ein weiterer Grund ist nicht zuletzt der Tarifabschluss, der
im Endeffekt eine Kündigungswelle nach sich ziehen
wird. Herr Stolpe, die Bürgermeister im Osten Deutschlands wachen morgens mit Kopfschmerzen auf, weil sie
nicht mehr wissen, wie sie am nächsten Tag ihre Kommunen weiterführen können.
({11})
Ich könnte viele Einzelbeispiele nennen, die den miserablen Zustand in den Kommunen verdeutlichen würden;
aber dazu ist meine Redezeit zu kurz. Die Ursachen dafür
sehe ich nach wie vor darin, dass es beim Bund und in den
Ländern an einem konsequenten Abbau der überzogenen
Bürokratie fehlt und dass eine Gemeindefinanzreform
dringend erforderlich ist.
Die Kommunen werden gegenwärtig kaum entlastet,
aber ständig mit neuen Anforderungen konfrontiert.
({12})
Die rot-grüne Regierung hat eine Reihe von Lasten des
Bundes auf die Länder und die Kommunen verschoben.
Hierzu gehören zum Beispiel die von den Kommunen zu
erbringende Leistung für die Strukturanpassungsmaßnahme Ost, die Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge von Arbeitslosen oder die zu erbringenden Leistungen im Rahmen des Langzeitarbeitslosenprogramms.
Die damit auf die Kommunen zugekommenen Pflichtaufgaben strangulieren diese so, dass sie aufgrund ihrer leeren Kassen keinerlei andere Aufgaben mehr übernehmen
können.
Nicht nur Deutschland ist Schlusslicht in Europa. Auch
die Kommunen werden bald als Bittsteller am Ende stehen. Trotzdem handeln Sie weiter nach dem Motto: Lieber die rote Laterne als gar kein Licht in Deutschland!
({13})
Nach vier Jahren Stillstand der Chefsache Ost und seines dafür Beauftragten setzen wir unsere Hoffnungen nun
auf Sie, Herr Minister Stolpe.
({14})
Unsere konkreten Vorschläge im Hinblick auf einen Bürokratieabbau, auf Steuerreformen und Sozialprogramme
liegen vor. Handeln Sie, Herr Minister, bevor Sie stolpern! Handeln Sie, bevor im Osten Deutschlands der
Letzte das Licht ausmacht!
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Scheffler,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über Ihre Rede, lieber Kollege Günther, kann man meiner
Meinung nach nur den Kopf schütteln. Sie wie auch Kollege Vaatz müssen doch, wenn Sie durch die neuen Länder oder in Ihre Wahlkreise fahren, reinste Bretterwände
vor dem Kopf haben. Ich halte es nicht für angemessen,
den Menschen in Ost und West angesichts der Aufbauleistungen in den neuen Ländern und der Solidarität klarmachen zu wollen, dass in diesen zwölf Jahren nichts passiert
sei. Sie haben ja acht Jahre in Sachsen regiert, Herr Vaatz.
Das, was Sie heute hier vorgetragen haben, ist dem wirklich
nicht angemessen. Sie sprachen von vier Jahren Stillstand.
Kollege Günther, Sie dürften teilweise Einreiseverbot bekommen, wenn Sie in Regionen von Mecklenburg-Vorpommern bis nach Sachsen kommen, die durch innovative
Arbeitsplätze nicht nur zarte Blüten getrieben, sondern sich
wirklich hervorragend zu Technologie- und Hightechstandorten entwickelt haben.
Minister Stolpe hat vorhin die Programme Stadtumbau
Ost bzw. Soziale Stadt angesprochen. Es kann doch nicht
sein, dass einerseits die von Ihren Parteien gestellten Bürgermeister und Landräte und auch Ihre Länderminister
mit diesen Programmen arbeiten, hierzu Wettbewerbe
ausloben, tolle Veranstaltungen inszenieren und sich selber an die Brust klopfen, während andererseits Sie als
Bundestagsabgeordnete hier alles in Bausch und Bogen
verdammen. Das ist dieser Modernisierung und insbesondere dem Aufbauwillen und der Leistungskraft der Menschen in den neuen Ländern wirklich nicht angemessen.
({0})
Offensichtlich wollen Sie nicht sehen oder sehen Sie
nicht, dass wirklich Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze entstanden sind. Es ist das Problem von Statistiken,
dass ihre Zahlen nichts darüber aussagen, in welcher Weise
Arbeitsplätze umgewandelt wurden. Natürlich sind
Arbeitsplätze verloren gegangen, aber dies waren keine zukunftsfähigen Arbeitsplätze. Das erfahre ich nicht nur in
meinem Wahlkreis hier in Berlin oder in Brandenburg; das
müssen Sie doch auch feststellen. Hier sind Millionen innovativer neuer Arbeitsplätze bei kleinen und mittleren Unternehmen entstanden. Nur diese haben eine tragfähige
Substanz und sind letztendlich zukunftsfähig.
Hinzu kommt, dass im Technologiebereich 80 Prozent
aller betrieblichen Anlagen in diesen Unternehmen neuwertig sind. Das ist doch eine enorme Leistung, die sich
sowohl in den Haushalten der Kohl-Regierung, aber insbesondere seit 1998 in den Haushalten der rot-grünen Regierung niedergeschlagen hat und die Wirtschaftskraft
von Hightechregionen in den neuen Ländern von Nord
nach Süd widerspiegelt. Besonders erfreulich ist - das haben Sie überhaupt nicht erwähnt -, dass das verarbeitende
Gewerbe hier doppelt so schnell gewachsen ist wie in den
alten Bundesländern und teilweise wie in vergleichbaren
Ländern in der Europäischen Union. Weiterhin ist erfreulich - auch das haben Sie nicht erwähnt -, dass die Exportquote sich dabei mehr als verdoppelt hat.
({1})
Hiervon konnten wir zu Ihren Zeiten doch nur träumen.
({2})
Sie können doch erwähnen, dass wir mittlerweile die modernste technische Infrastruktur der Welt haben und dass
wir technische Infrastruktur und Technologie weltweit exportieren.
({3})
Auch das war Ihnen hier keine Silbe wert.
Mehr als die Hälfte des vorhandenen Wohnungsbestandes wurde modernisiert; Verbesserungen im Wohnumfeld schlossen sich an. Das waren Maßnahmen, die die
Bürgerinnen und Bürger zum Bleiben bewegt haben. Zudem hat sich die Wohneigentumsquote deutlich erhöht.
Sie sollten auch einmal darauf eingehen, dass sich der wesentlich höhere Stellenwert der natürlichen Lebensgrundlagen im Abbau von Umweltbelastungen manifestiert.
Auch das ist in den neuen Ländern festzustellen.
Es ist bitter und wir beschönigen es überhaupt nicht
- deshalb spreche ich es an -, dass aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit auch unter den Jugendlichen Wanderungsbewegungen stattgefunden haben und weiter stattfinden.
Aber wenn Sie seriös analysieren, dann können Sie daneben auch ein Nord-Süd-Gefälle bzw. Wanderungsbewegungen in den alten Bundesländern und Wanderungsbewegungen von den alten in die neuen Bundesländer
feststellen. Auch das gehört zur Wahrheit, die Sie darstellen müssen, wenn Sie hier redlich argumentieren wollen.
Anderenfalls könnte ich Ihnen detaillierte Zahlen aus
Bayern vortragen, der Region, die Sie als beispielhaft anführen.
({4})
Mehrere konkrete Ziele lassen sich aus der Problemanalyse herauskristallisieren und werden von der Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen prioritär verfolgt. Dazu gehören natürlich die Schaffung zusätzlicher
Arbeitsplätze und die Angleichung der Einkommen, die
aber nur - das sage ich ganz deutlich - in Abhängigkeit
von der wirtschaftlichen Entwicklung stattfinden kann.
Dazu gehören auch der Abbau der Transferabhängigkeit
- darauf ist Kollege Schulz schon eingegangen - und die
Stärkung der Wirtschaftskraft sowie die Angleichung der
Lebensverhältnisse in Ostdeutschland an das Westniveau.
Das ist ein Prozess, den wir seit Jahren fordern. Er stand
natürlich schon zu Ihren Zeiten immer wieder auf der
Agenda, aber mit den jetzigen Tarifabschlüssen wird
Licht am Ende des Tunnels sichtbar.
Herr Kollege Scheffler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kretschmer?
Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen.
Schon mit der Bundestagswahl wurden neue, in die Zukunft gerichtete Impulse gesetzt; auch das hat Kollege
Schulz bereits angesprochen. Wir setzen nicht auf kurzfristige Effekte - das haben Sie zu Ihrer Zeit mit der kurzfristigen Ausweitung der ABM getan -, uns geht es um
Nachhaltigkeit. Darauf sind die Programme der Bundesregierung ausgerichtet. Wir haben ein umfassendes Programm für den Aufbau und den Ausbau der neuen Bundesländer aufgelegt.
({0})
- Sie können das zusammen durcharbeiten.
({1})
Ich komme darauf noch detailliert zu sprechen, wenn ich
mich dem Bereich Bildung und Forschung zuwende, dessen Haushalt Ihr Superminister Rüttgers bis 1998 - ich
will es locker formulieren - in den Keller gefahren hat. Ihnen müssten jeden Tag die Ohren klingen.
Heute reden wir über innovative Arbeitsplätze und
Hightechstandorte für Technologien. Wir müssen Sie daran erinnern, dass Sie seit Beginn der deutschen Einheit
acht Jahre lang - bis 1998 - für diesen Prozess verantwortlich waren.
({2})
Sie könnten Ihre Reden hier halten, wenn wir 1998 am
Beginn der deutschen Einheit gestanden hätten. Aber Ihre
verkorkste Politik hat dazu geführt, dass Millionen von
Ausbildungsplätzen gefehlt haben. Selbst Ihr Kanzler
Kohl hat diese nicht schaffen können. Erst mit der rot-grünen Bundesregierung 1998
({3})
wurden entsprechende Programme zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt.
({4})
Das JUMP- und das JUMP-Plus-Programm wurden bereits angesprochen.
Herr Kollege Scheffler, der Kollege Kolbe würde gern
eine Zwischenfrage stellen.
Nein, die Kollegen hatten schon Gelegenheit, ihre
Standpunkte vorzutragen. Sie können ja nachher ein paar
Kurzinterventionen machen.
1998 waren die Jugendarbeitslosigkeit und die Situation der Ausbildungsplätze in den neuen Ländern katastrophal. Ich möchte Ihnen einige Programme, die wir zur
Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt haben, nennen: Förderung überbetrieblicher Berufsbildungsstätten, Zukunftsinitiative für Berufliche Schulen,
das Projekt „Schulen ans Netz“ und die Ausbildungsförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Wir hätten zu
Oppositionszeiten davon geträumt, dass diese Programme
aufgelegt und die Mittel im Haushalt für die Beseitigung
der Jugendarbeitslosigkeit und die Verbesserung der Ausbildungssituation der jungen Leute in den neuen Ländern
bereit gestellt würden.
Nichts von dem haben Sie vorgetragen und das ist das
Problem. Ich finde es perfide, dass Sie so tun, als hätte
1998 jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz gehabt.
Genau das Gegenteil war der Fall.
Wenn ich von einem Modernisierungsprozess spreche,
der eingeleitet wurde, muss ich auch die Programme InnoRegio und EXIST für Existenzgründer nennen. Wir haben
in den letzten Jahren Umgestaltungen vorgenommen, damit der Mittelstand durch die Förderprogramme finanzielle Unterstützung erhält und die Innovation auch in den
neuen Ländern greifen kann.
Vom Minister bzw. vom Kollegen Schulz wurden hier
schon einige Standorte angesprochen. Ich kann Ihnen
aber noch einige nennen, so zum Beispiel den Bereich
Jena. Hier hat sich aufgrund einer enormen Gründungsdynamik bei der Biotechnologie eine regelrechte Bioregion entwickelt.
({0})
Wenn Sie einmal nach Jena und zu Herrn Späth kommen
und Sie vor den Menschen und den Arbeitskräften dort
diese Jammerarie, die Sie hier vor dem Deutschen Bundestag halten, von sich geben würden,
({1})
würden Sie dort kein weiteres Mal Zugang bekommen.
({2})
Oder schauen Sie in die Region Leipzig/Halle/Bitterfeld: Hier hat sich eines der international führenden Zentren für Umwelttechnik etabliert. Gleiches gilt für die Region Thüringen/Sachsen in Bezug auf die Elektronik.
Sachsen-Anhalt und Sachsen machen sich zurzeit als Zulieferer für die Automobilindustrie unentbehrlich. In
Mecklenburg-Vorpommern bilden sich Allianzen für eine
innovative maritime Wirtschaft heraus.
Es kann doch nicht sein, dass uns auf der einen Seite
vor Ort - da ich hier den lieben Kollegen Werner Kuhn
sehe: zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern -,
({3})
die wunderbaren Aufbauleistungen vorgeführt werden,
die durch Programme der jetzigen Bundesregierung seit
1998 finanziert werden, man aber auf der anderen Seite
hier ein Zerrbild schafft und so tut,
({4})
als habe es diese Entwicklung in den neuen Bundesländern und Berlin überhaupt nicht gegeben.
Genau diese Innovationsnetzwerke müssen wir verstärkt fördern und finanzieren. Ich denke, mit dem Programm Inno-Regio, mit dem Programm Innovationskompetenz mittelständiger Unternehmen oder mit dem
Programm Inno-Net ist dies bereits jetzt erfolgreich eingeleitet. Ich behaupte gar nicht, dass dies alles vollkommen sei; ich denke, wir sind uns alle darüber einig - auch
der Herr Minister hat es vorgetragen -, dass wir erst die
Hälfte der Wegstrecke geschafft haben.
Wir können uns alle hier hinstellen und darüber lamentieren, ob das Glas halb leer oder halb voll ist. Ich
sage: Seit 1990 haben wir gemeinsam mit den Menschen
Gewaltiges vollbracht. Insofern ist das Glas halb voll.
({5})
Wir sind auch mit dem Kraftakt Solidarpakt II, den Sie
überhaupt nicht erwähnt haben und wahrscheinlich am
liebsten verschweigen würden, auf einem guten Weg. Ihre
Länderministerpräsidenten sind doch glücklich und zufrieden darüber, dass im Rahmen des Solidarpaktes II die
kommunalen Infrastrukturen, insbesondere die verkehrlichen Infrastrukturen, verbessert werden.
Ich freue mich jetzt schon darauf, mit Ihnen über den
Bundesverkehrswegeplan zu diskutieren, wo Sie alle
wieder die Wünsche aus Ihrem Wahlkreis vortragen, sei
es eine Ortsumgehung, eine Kommunalstraße, eine Bundesfernstraße oder eine Autobahn. Dann werden Sie nach
Hause kommen, sich hinstellen und sagen, Sie hätten dies
hier geschafft und mit Unterstützung des Bundes bei der
Finanzierung und der Sicherung im Haushalt würden Sie
dazu beitragen, dass vor Ort alles besser und schöner
wird.
Zu DDR-Zeiten gab es den Wettbewerb „Schöner unsere Städte und Gemeinden“. Nach diesem Slogan verfahren Sie vor Ort. Aber hier im Deutschen Bundestag
und für die Menschen vor den Bildschirmen tun Sie so, als
wenn alles grau in grau wäre. Ich denke, Sie werden der
Wirklichkeit damit überhaupt nicht gerecht.
({6})
Ich könnte noch weitere Programme vortragen. Von Ihnen, Frau Pieper, obwohl Sie ja im Bildungs- und Forschungsausschuss sind,
({7})
kam zum Beispiel kein Wort zum Programm EXIST, wodurch sich 430 Unternehmen aus Hochschulen - was bis
1998 überhaupt nicht der Fall war - ausgegründet haben
und das dazu beigetragen hat, dass sich die Zahl der Spinoffs auf einem Niveau von über 150 pro Jahr stabil etabliert hat.
({8})
Herr Kollege Scheffler, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?
Nein. - Dazu kam von Ihnen kein Wort. Dies gilt auch
für das Programm „Zentrum für Innovationskompetenz“,
das versucht, universitäres Wissen in die Wirtschaft zu
transferieren.
Auch ich möchte mich noch einmal an den Minister
wenden: Es steht jetzt in der Öffentlichkeit und hier im
Raume, dass für die neuen Bundesländer Bundesgesetze
teilweise außer Kraft gesetzt werden, damit wir gerade im
öffentlichen Bereich, bei PPP, beim Hochbau und in der
Verkehrsinfrastruktur, schneller vorankommen. Gepaart
mit der Entbürokratisierung sollte dies der Dynamik beim
Zurücklegen der nächsten Hälfte des Weges dienlich sein.
Ich denke, auch das sinnvolle Instrument des Bundesverkehrswegeplans, das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, wäre eine gute Möglichkeit, um deutschlandweit ein Zeichen zu setzen.
({0})
- Mein lieber Kollege Friedrich, das ist weder in den alten
noch in den neuen Bundesländern abgelehnt worden. Wir werden uns darüber im Rahmen der Diskussion um
den Bundesverkehrswegeplan unterhalten. Mit diesem Instrument werden wir, wie ich denke, in der Zukunft weiter vorankommen.
Wir sollten aufhören, hier nur herumzujammern; vielmehr sollten wir, vor allem hinsichtlich der EU-Osterweiterung, einmal zur Kenntnis nehmen, was erfolgreich entstanden ist. Herr Minister, Sie sprachen gerade von „Sandwich“. Das Beste bei einem Sandwich ist die Mitte. Es sind
die neuen Länder, die in der Mitte Europas liegen. Von den
neuen Ländern werden positive Signale ausgehen. Ich
denke, dass wir in einigen Jahren von starken Wachstumsregionen in den neuen Ländern sprechen können.
Vielen herzlichen Dank.
({1})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Kretschmer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Kollege, Ihre Rede passt in der Tat in die Zeit von
„Schöner unsere Städte und Gemeinden“. Es ist schofelig,
die Abwanderung aus den neuen Bundesländern mit Abwanderungsbewegungen in anderen Teilen Deutschlands
zu vergleichen. Ich weiß, wie die Leute darunter zu leiden
haben, wie es bei uns in Görlitz und in Dresden aussieht.
Es steht außer Frage, dass wir beim Aufbau Ost und bei
der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern Fortschritte gemacht haben. Aber das, was erreicht worden ist, sind höchstens kleine Pflänzchen.
Was wir heute kritisiert haben, ist, dass Sie keinen Weg
aufgezeigt haben. Ich hätte von Ihnen heute ein Konzept
erwartet: Wie schaffen wir den Anschluss an die alten
Bundesländer? Was ist Ihr Weg? Die Jugendarbeitslosigkeit steigt. Die Unternehmensdichte und die Forschungsintensität sind wesentlich geringer als in den alten Ländern. Beim Projekt Inno-Regio wie bei anderen Projekten
zur Wachstumsförderung wird gekürzt. Die Kaufkraft ist
geringer und sinkt. Die Frage ist, wie Ihr Konzept aussieht. Aussagen hierzu fehlen uns. Diese hätten wir von
Ihnen erwartet. Darauf haben Sie keine Antwort gegeben.
Es ist vollkommen richtig: Der Bericht, der vorliegt, ist
nicht das Papier wert, auf dem er steht. Er ist eine Beleidigung für die Menschen in den neuen Bundesländern.
({0})
Herr Kollege Scheffler, Sie haben die Möglichkeit zu
antworten.
Ja, ich möchte darauf antworten. Ich habe davon gesprochen, dass die Abwanderungsbewegungen sehr differenziert betrachtet werden müssen und nicht pauschalisiert werden dürfen.
({0})
Ich habe kritisch angesprochen, dass wir die Abwanderungsbewegung insbesondere der jungen Menschen stoppen müssen.
Was Sie überhaupt nicht beachten, ist Folgendes: Sehen Sie sich einmal den Forschungs- und Bildungshaushalt seit 1998 an. Jedes Jahr haben wir draufgesattelt. Die
Mittel weisen ungeahnte Höhen auf. Noch nie war der
Haushalt der Bundesrepublik Deutschland in diesem Bereich so groß wie im Jahr 2002 und er wird es auch im
Jahre 2003 sein.
({1})
Noch nie war er so hoch wie heute, obwohl Sie für die Bildung einen so genannten Superminister, nämlich Herrn
Rüttgers, hatten.
Sehen Sie sich einmal die Zahlen bei der Erstausbildung, beim Studium und bei der Weiterbildung, beim erwähnten BAföG und beim Meister-BAföG an! Sie alle
weisen ungeahnte Höhen auf. Zu Ihren Zeiten war das
Image von BAföG derart negativ, dass Sie davon nur träumen konnten. In den letzten beiden Jahren haben wir bei
der Zahl der Studienbeginner richtige Sprünge zu verzeichnen. Das Gleiche trifft übrigens auch auf das
Meister-BAföG zu.
Sehen Sie sich einmal den Verkehrshaushalt an! Wir
sprachen von Verkehrsinfrastruktur als Voraussetzung für
die wirtschaftliche Entwicklung. Die Verkehrsinfrastruktur wird in den neuen Ländern seit 1998 so berücksichtigt
wie noch nie. Auch dieser Einzelplan war in den Jahren
2000, 2001 und 2002 so hoch wie nie zuvor seit der Wiedervereinigung. Auch das müssen Sie anerkennen. Das ist
das Programm der Bundesregierung.
({2})
Ich frage mich, wo Sie bis 1998 waren. Dabei denke
ich gerade an diese zwei wichtigen Komplexe für die
neuen Länder: Bildung und Forschung sowie Auf- und
Ausbau der Verkehrsinfrastruktur als grundsätzliche Voraussetzung für Ansiedlungen des Gewerbes und für regionales, aber auch bundesweites Wachstum. Ihre Länderminister sind offensichtlich schon viel weiter; denn sie
loben die Bundesregierung immer wieder für die aufgelegten Programme
({3})
und deren Finanzierung. Sie bitten händeringend darum,
die Finanzierung so, wie wir sie mit dem Haushalt 2003
angedacht haben, zu sichern.
({4})
Der nächste Redner ist der Kollege Werner Kuhn,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich halte es nach wie vor für richtig und wichtig,
dass sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in
diesem Hohen Hause alljährlich zu einer Generaldebatte
über den Stand der deutschen Einheit versammeln.
Der diesbezügliche Bericht der Bundesregierung liegt
uns vor. Wir müssen gemeinsam um einen vernünftigen
Weg ringen.
({0})
Die jetzigen Koalitionsparteien dürfen dabei nicht behaupten, dass der Aufbau Ost erst seit 1998 richtig in Angriff genommen wurde.
({1})
Zuerst gab es die Chefsache Ost, dann gab es die ruhige
Hand und jetzt gibt es Herrn Stolpe, der alles regeln soll.
Verehrter Herr Kollege Stolpe, ich muss Ihnen sagen, dass
die Botschaften, die Sie uns vermitteln wollten, doch sehr
dürftig waren. Es reicht einfach nicht aus, dem Mittelstand nur mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Hier müssen konkrete Konzepte her.
({2})
In den neuen Bundesländern gibt es die schwierigste
Arbeitsmarktsituation seit der Wiedervereinigung. Die
Arbeitslosigkeit liegt im Jahresdurchschnitt bei 20 Prozent, wobei die verdeckte Arbeitslosigkeit noch gar nicht
berücksichtigt wurde. In strukturschwachen Gebieten
liegt sie bei 30, 40 oder gar 50 Prozent.
Ich komme zur Infrastrukturlücke. Ich finde es in Ordnung, dass die jetzige Bundesregierung um einen lückenlosen Übergang im Bereich der Infrastruktur, so wie wir ihn
im Bundesverkehrswegeplan mit den Verkehrsprojekten
„Deutsche Einheit“ seinerzeit angelegt haben, bemüht ist.
({3})
Es gibt aber immer noch eine Infrastrukturlücke in einer
Größenordnung von 150 Milliarden Euro. Dabei geht es
nicht nur um Schienen, Straßen und Wasserstraßen, sondern da müssen auch die weichen Standortfaktoren
berücksichtigt werden.
Der Städteumbau ist dabei ein ganz wichtiger Aspekt.
Durch den Städteumbau sollen unsere Städte und Gemeinden, die zu DDR-Zeiten mit einer völlig verfehlten
Wohnungsbaupolitik verschandelt worden sind, neu geordnet werden. Dazu gehört auch der Abriss der leer stehenden Wohnungen. Es gibt einen Wohnungsleerstand
von 1 Million Wohnungen. Verehrter Herr Minister
Stolpe, diese müssen abgerissen werden und es muss zu
einer Entschuldung kommen. Es kann nicht sein, dass
wirtschaftlich einigermaßen intakte Wohnungsbauunternehmen keine Entschuldung erhalten, während dies bei
denjenigen, die in Insolvenz geraten sind, der Fall ist. Ich
bitte Sie: Das ist doch der völlig falsche Weg.
({4})
Es könnte passieren, dass eine gesunde Wohnungsbaugenossenschaft Wohnungen nicht abreißt, sodass es sozusagen zu einem nicht vertretbaren Lückengefüge kommt.
({5})
Vonseiten der Bundesregierung muss hierzu unbedingt
ein vernünftiges Konzept vorgelegt werden.
Ich komme zur Unternehmens- und Unternehmerlücke. Wir haben gehört, dass die Zahl der Unternehmensgründungen in Ostdeutschland vergleichbar mit der
in Baden-Württemberg sei. Die allgemeine wirtschaftliche Situation zeigt etwas anderes. Wenn Sie den Ausführungen des Statistischen Bundesamtes heute richtig
zugehört haben, dann wissen Sie, dass das Wirtschaftswachstum im Jahre 2002 in ganz Deutschland nur 0,2 Prozent betrug. Das heißt, dass die Wirtschaft in Ostdeutschland geschrumpft ist.
Im ersten Halbjahr 2002 gab es 5 500 Unternehmenspleiten in Ostdeutschland. Damit gingen 30 Prozent der
Unternehmenszusammenbrüche auf das Konto der neuen
Bundesländer. Das sind die wahren Zahlen! Das ist die
wahre Situation! Das ist die wahre Beschreibung der
Wirtschaft in Ostdeutschland!
({6})
Obwohl dies nach meiner Auffassung das zentrale Thema
ist, enthält dieser Bericht gerade einmal eineinhalb Seiten
dazu, wie es mit der Wirtschaft weitergehen soll.
Ich komme nun zum Thema Schulen ans Netz. Herr
Kollege Scheffler, dies ist sicherlich eine interessante periphere Erscheinung für bessere Bildungsprogramme. Wir
müssen unsere Leute aber in Arbeit bringen, damit sie
wieder Zuversicht haben und die deutsche Einheit positiv
sehen. Diese Zuversicht haben die Menschen durch diese
Bundesregierung verloren.
({7})
Das zeigen auch die Abwanderungszahlen. Im letzten Jahr
sind 2,5 Prozent der 15- bis 30-Jährigen aus Mecklenburg-Vorpommern weggezogen und haben sich in den
Ballungsgebieten eine neue Existenz gesucht.
Sagen Sie mir: Mit wem wollen wir den Aufbau Ost realisieren? Wir brauchen die gut ausgebildeten und hoch
qualifizierten Facharbeiter. Diese werden am Markt gesucht, aber sie ziehen aus Ostdeutschland weg. Zurück
bleibt eine Bevölkerung mit einer demographischen Verwerfung. Diesem Problem müssen wir uns stellen. Dafür
müssen Konzepte her.
Die Wirtschaft in Ostdeutschland muss wieder in Gang
gebracht werden. Existenzgründerinitiativen, Small Business Act, Mittelstandsbank - all das haben wir von Herrn
Minister Stolpe gehört. Übrigens vermisse ich den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er hat gesagt: Der Aufbau Ost ist Chefsache, ich will der Kanzler
aller Deutschen sein. - Er ist heute bei der Debatte nicht
dabei. Das muss man einmal knallhart sagen.
({8})
Wir leben im wiedervereinigten Deutschland, zu dem wir
alle stehen.
Viel wichtiger ist, die Bestandspflege der noch bestehenden Unternehmen in Angriff zu nehmen.
({9})
Das heißt, dass wir potenzielle Auftraggeber finanziell in
die Lage versetzen müssen, einen Auftrag an ein Unternehmen zu vergeben, um zum Beispiel im Investitionsgüterbereich Maschinen und Anlagen zu bestellen. Dadurch würde die Binnenkonjunktur verbessert und die
Auftragslage günstiger. Aber von all dem ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt nichts zu spüren.
Die Privathaushalte sind mit Ökosteuerreform, Abgaben und Steuern derart stranguliert, dass sie beim Konsum
sehr zurückhaltend geworden sind. Der Einzelhandel dokumentiert das ebenfalls. Dort sind die Umsätze massiv
zurückgegangen. Hier würde eine Steuerentlastung helfen.
Die Flutkatastrophe - das haben wir gehört - war ein
schlimmes Ereignis. Sie hat einen Schaden von insgesamt
9,2 Milliarden Euro angerichtet, der finanziert werden
musste. Die Versicherungen übernehmen - bei denjenigen,
die gegen Elementarschäden versichert sind - 2 Milliarden
Euro. Der Bundeskanzler hat angekündigt, dass wir für
den Wiederaufbau in Ostdeutschland von der Europäischen Union 2,5 Milliarden Euro erhalten. Jetzt bleiben
noch etwa 4,5 Milliarden Euro übrig. Das sind, über drei
Jahre verteilt, jeweils 1,5 Milliarden Euro; denn mehr
kann man in einem Jahr kaum verbauen. Dafür haben Sie
die Steuerreform verschoben! In Wirklichkeit war das nur
das Stopfen von Finanzlöchern, weil Sie weder ein noch
aus wussten und vor der Bundestagswahl die wahren Zahlen verschleiert haben.
({10})
Die Binnenkonjunktur hätte auch in Ostdeutschland
schon längst angekurbelt werden können: Wenn die Menschen mehr Geld zwischen den Fingern hätten und damit
mehr einkaufen würden, hätte der Unternehmer Aufträge
und von diesen Investitionen würde dann auch die Industrie profitieren, sodass das Schwungrad der Wirtschaft
wieder in Gang käme. Es reicht nicht, Herr Schulz, in
feuilletonistischer Art eine Ist-Beschreibung vorzunehmen, sondern wir müssen dafür sorgen, dass die Auftraggeber wieder Geld in der Kasse haben.
({11})
Dazu gehören auch die Städte und Gemeinden. Ich
will, dass die Bürgermeister und Landräte im Osten endlich wieder eine kommunale Investitionspauschale bekommen, damit sie sich um ihre Schulen, Kindertagesstätten und Krankenhäuser kümmern können, die
streckenweise in einem noch sehr jämmerlichen Zustand sind. Dabei muss die Vergabepraxis - das hat damals schon Lothar Späth gesagt - so funktionieren, dass
die örtlichen Handwerksbetriebe davon profitieren;
denn nur so werden sie vor der Pleite bewahrt. Das ist
für die kommunale Infrastruktur ein ganz wichtiger
Punkt.
Herr Minister Stolpe, Sie haben einen Punkt angesprochen, in dem ich Ihnen Recht gebe - wir wollen schließlich konstruktiv zusammenarbeiten -: Teilung kann nur
durch Teilen überwunden werden. Über dieses große Wort
wird immer wieder gesprochen. Aber schauen wir uns einmal die öffentliche Auftragslage des Bundes bei der
Wehrtechnik an. Dort ist es zu großen Verwerfungen gekommen, die wir einfach nicht hinnehmen dürfen.
Werner Kuhn ({12})
Werner Kuhn ({13})
Ich erinnere an die Korvette K130 mit einem Investitionsvolumen von 1,2 Milliarden Euro. Es ist Usus gewesen, dass sich die fünf norddeutschen Küstenländer diesen
Auftrag mit allen Unteraufträgen so aufteilen, dass alle
gleichmäßig partizipieren: Jeder bekommt 20 Prozent.
Mecklenburg-Vorpommern - ich frage mich: Wo sind die
Kämpfer für Mecklenburg-Vorpommern auf der Bundesratsbank? - hat nur einen Anteil von 10 Prozent erhalten.
Dies kann ich weiterrechnen.
Eine weitere Anschaffung ist der große Transportflieger A400M mit einem Auftragsvolumen von 9 Milliarden
Euro. Welches Unternehmen in Ostdeutschland, zum Beispiel ein Metall verarbeitender Betrieb, ein GFK-Betrieb
oder ein Elektrobetrieb, ist überhaupt in der Lage, dort als
Zulieferer gelistet zu werden? Sie sind luftfahrttechnisch
überhaupt nicht zertifiziert. Herr Minister Stolpe, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Nehmen Sie Geld in die Hand
- diese Zertifizierung kostet vielleicht 60 000 Euro - und
legen Sie ein Programm auf, damit unsere Unternehmen
in Ostdeutschland an diesem Projekt partizipieren können. Das ist ein ganz konkreter Vorschlag.
({14})
Das Gleiche wird beim Schienenfahrzeugbau deutlich.
Es gibt nicht nur Bombardier in Halle, das kurz vor einer
Bundestagswahl sozusagen durch die schützende Hand
des Bundeskanzlers gerettet wurde, sondern in Pankow
zum Beispiel gibt es ein Unternehmen, das sich wie viele
andere Unternehmen auch um die Aufträge bewirbt. Wir
können durchaus alle Unternehmen, bei denen wir hundertprozentige Gesellschafter sind, fit machen, sodass
eine gleichmäßige Verteilung gewährleistet wird. Dann
gäbe es erst einmal eine Grundauslastung.
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen. Ich
freue mich sehr, Herr Minister Stolpe, dass Sie wieder Ihr
Herz für die Magnetschwebebahn zwischen Hamburg
und Berlin entdeckt haben. Ich hätte mich aber noch viel
mehr gefreut, wenn wir beide gemeinsam in zwei Jahren
in Perleberg das Wagenumlaufwerk für die Magnetschwebetechnik in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern hätten eröffnen und damit in dieser extrem
strukturschwachen Gegend 400 Menschen Arbeit hätten
bieten können. Sie aber haben die vier Jahre verstreichen
lassen und einen Stillstand produziert. Damit werden wir
uns als Opposition nicht abfinden!
({15})
Die Aufgabenverteilung zwischen Opposition und Regierungskoalition darf nicht einseitig erfolgen. Wir sind
durchaus bereit, unsere Ideen einzubringen - das ist auch
vonseiten der FDP eindeutig signalisiert worden - und
Lösungen und Strategien für die Umsetzung zu entwickeln. Es kann aber nicht sein, dass wir die Arbeit machen, während für den Verkauf die Bundesregierung zuständig ist, die sich darüber freut, dass sie eine Idee
kopieren kann.
Zum Beispiel erscheint mir die Idee, die Ministerien
für Wirtschaft und Arbeit in einem großen Ministerium
zusammenzufassen, vernünftig. Das haben wir im Wahlkampf immer wieder bestätigt; denn diese Ressorts
gehören nun einmal zusammen. Über die Minijobs haben wir im Vermittlungsausschuss vernünftig verhandelt.
Das sind erste Ansätze, die deutlich machen, dass wir
Deutschland gemeinsam fit machen können, wenn wir das
wollen. Aber es handelt sich dabei um unsere Ideen und
Aktivitäten, die wir als Oppositionspartei entwickelt haben.
Diese Ansätze können Sie weiterverfolgen. Unserer
Mitarbeit können Sie sich dabei sicher sein. Ich bin aber
nicht damit einverstanden, dass Sie immer weiter dazu
neigen, Investoren durch Regulierungen, Gesetze und
Durchführungsbestimmungen abzuschrecken. Was soll
ich einem potenziellen Investor aus Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg oder Berlin antworten, der sich
bei mir meldet und sagt: Sie haben im Bundestag eine interessante Rede gehalten, Herr Kuhn, ich möchte bei Ihnen investieren?
({16})
Wenn er mich fragt, wie denn die Investitionsförderung
im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur“, wie denn die Investitionszulage, der Mittelstandskredit und das Programm
Kapital für Arbeit funktionieren, muss ich ihm antworten:
Kommen Sie her; ich habe alle Fragebögen dabei - bis hin
zum Formblatt zur Offenlegung Ihrer persönlichen Verhältnisse, zu der Sie verpflichtet sind. Sie haben 135 Formulare auszufüllen. Der potenzielle Investor erwidert
dann sicherlich: Verehrter Herr Abgeordneter, ich wollte
nicht zum Ausfüllen von Fragebögen kommen,
({17})
sondern um mein Kerngeschäft zu erledigen, Leute einzustellen, mein Produkt zu verkaufen und Geld zu verdienen. - Dem müssen wir uns wieder annähern!
Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit?
Es geht nicht an, dass die Bundesregierung letztendlich
dazu neigt, jedem, der Geld verdienen will, im Prinzip nur
die Aufgabe in unserer Gesellschaft zuzuweisen, einen
Solidarbeitrag zu leisten. Wir müssen vielmehr dazu kommen, dass diejenigen, die Leistungen bringen, auch selber
etwas davon haben.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Deutschland wird es wirtschaftlich und gesamtgesellschaftlich nur
dann wieder aufwärts gehen, wenn der Osten auf die Beine
kommt. Das ist nicht nur die Überzeugung der CDU/CSUFraktion, sondern das sind Tatsachen. Der Osten hat eine
zu schwache Lobby und zu wenig Fürsprache in der Bundesregierung. Viele Menschen in Ostdeutschland wünschen sich wieder einen Kanzler aller Deutschen wie den,
mit dem dieser Sessel bis 1998 besetzt war.
({1})
Herr Kollege Kuhn, ich darf Sie noch einmal eindringlich an Ihre Redezeit erinnern.
Erlauben Sie mir einen letzten Satz. Wenn es in wenigen Wochen um die Entscheidung für die Olympiabewerbung Deutschlands geht, dann hätte die Stadt Leipzig, von
der 1989 der Funke der Freiheit auf ganz Deutschland
übergesprungen ist, einen prominenten Fürsprecher.
Herr Kollege Kuhn!
Das wäre der Altbundeskanzler!
({0})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Peter
Hettlich, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Trotz aller Redebeiträge, die ich heute von der
Opposition gehört habe, kann es sich sehen lassen, was
Rot-Grün in den vergangenen vier Jahren für die ostdeutschen Bundesländer geleistet hat; darauf können wir stolz
sein. Die Kollegen Scheffler und Schulz haben dies eindeutig klargestellt.
({0})
An diese Erfolge werden wir anknüpfen. Wir kämpfen
für eine Angleichung der Lebensbedingungen der Menschen in Ost und West. Deswegen sehe ich auch im jüngsten Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst ein deutliches Signal in diese Richtung.
({1})
Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die unteren Einkommensgruppen in den neuen Ländern bis 2007 an das Westniveau angeglichen werden - so haben wir es auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben -, denn nach so vielen
Jahren der deutschen Einheit ist gleicher Lohn für gleiche
Arbeit ein Gebot der Fairness.
({2})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unter den Punkten, die Kollege Kuhn eben angesprochen hat, waren auch
das Programm Stadtumbau Ost und die Altschuldenhilfe
für die Wohnungsunternehmen. Ich frage mich, ob er gestern nicht im Ausschuss gewesen ist. Wir haben gestern
über diese Themen gesprochen.
Das Erfolgsprogramm Stadtumbau Ost, das in den
letzten vier Jahren auf den Weg gebracht worden ist, kann
sich doch sehen lassen.
({3})
- 1,1 Milliarden Euro stellt allein der Bund bis 2009 dafür
zur Verfügung. Zusammen mit den Finanzmitteln von
Ländern und Kommunen summiert sich dies auf 2,7 Milliarden Euro. Diese riesige Summe beruht maßgeblich auf
den Initiativen der letzten Wahlperiode. Dass das Programm erfolgreich ist, zeigt sich auch daran, dass sich
über 250 ostdeutsche Kommunen an diesem Wettbewerb
beteiligt haben. Das Engagement ist deutlich höher, als
wir alle es erwartet haben.
Das Thema Altschuldenhilfe haben wir ebenfalls
angepackt. Hier hat der Bund seine Mittel um fast 50 Prozent aufgestockt; wir stellen dafür fast 700 Millionen Euro zur Verfügung. Das kann man nicht einfach unter den Tisch reden. Hier tun wir etwas, um das verfehlte
Förderprogramm der ersten acht Jahre zu korrigieren und
die großen Leerstände zu beseitigen.
({4})
Die Wohnungsunternehmen im Osten brauchen unsere
Unterstützung. Sie brauchen Bewegungsfreiheit; denn die
leer stehenden Wohnungen kosten nur Geld und bringen
keine Mieteinnahmen. Dadurch bedrohen sie letztendlich
die wirtschaftliche Existenz der Unternehmen.
Besonders stolz können wir auf das sein, was wir in der
Forschung geschafft haben. Ich freue mich sehr, dass
Kollege Scheffler dies noch einmal ausdrücklich aufgezeigt hat. Wir haben hier über 660 Millionen Euro in die
institutionelle Förderung gesteckt. Das ist zukunftsträchtig, das bezeichnen wir Grüne als nachhaltige Politik. Mit
diesen Forschungsstandorten schaffen wir die Arbeitsplätze von morgen. Diese attraktiven Standorte tragen
dazu bei, dass junge Leute im Osten bleiben bzw. wieder
in den Osten zurückkehren.
({5})
Ich weise hier nur auf die Schiene Thüringen - Sachsen hin,
wo mittlerweile einer der führenden Elektronikstandorte
entstanden ist. Auch dies ist ein Resultat unserer Arbeit.
Ich stimme mit Ihnen überein, dass die Arbeitslosigkeit das größte und belastendste Problem ist. Ich bin vor
zwölf Jahren nach Sachsen gezogen. Sie können mir glauben, es belastet mich genauso wie jemanden, der dort geboren ist. Allerdings ist es nicht sinnvoll, jetzt wieder mit
der Gießkanne über das Land zu gehen. Vielmehr müssen
unsere Programme den Unternehmen gezielt Rahmenbedingungen und Anreize bieten, Arbeitsplätze zu schaffen. Es ist besser ein Licht anzuzünden, als über die Dunkelheit zu klagen.
Neben der Beseitigung der Flutschäden, die immer
noch im Gang ist, stehen drei wichtige Punkte auf der
politischen Tagesordnung. Das eine ist der Bundesverkehrswegeplan. Ich halte es für sehr wichtig, dass die Infrastruktur in den neuen Bundesländern noch einmal sehr
stark gefördert wird. Wir werden von unserer Seite darauf
achten, dass der Nachhaltigkeitsaspekt berücksichtigt
wird und darüber nachgedacht wird, welches Verkehrsund Infrastruktursystem geeignet ist. Wir bemühen uns
intensiv darum, dass auf diesem Gebiet der Osten nicht
hinten herunterfällt.
Ganz wichtig ist für mich der Mittelstand. Im Osten
gibt es kaum noch große Unternehmen. Daher müssen die
kleinen und mittelständischen Unternehmen gefördert
werden. Ich stimme dem Kollegen Kuhn zu, dass es wichtiger, einfacher und mit geringeren finanziellen Mitteln
möglich ist, bestehende Arbeitsplätze zu sichern. In der
Bauindustrie wurde schon 1994/95 damit begonnen, die
Überkapazitäten abzubauen, die durch eine verfehlte Förderpolitik entstanden sind.
({6})
- Richtig, das war Steuersparpolitik. - Diese Konsequenzen müssen wir heute leider ausbaden.
Die neue Mittelstandsoffensive der Bundesregierung
ist hier der richtige Weg und gibt die richtigen Ziele vor.
So können neue Arbeitsplätze entstehen. Intelligente
Wirtschaftsförderung hilft auch, die Größennachteile der
ostdeutschen Unternehmen auszugleichen. Wir wollen
die Bildung von regionalen Netzwerken unterstützen.
({7})
Herr Kollege Hettlich, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ja, Frau Präsidentin. - Ich möchte zu guter Letzt nur
noch ganz kurz auf die Gemeindefinanzreform eingehen. Sie ist ein ganz wichtiger Meilenstein auf dem Weg
zur Gesundung der Finanzlage der ostdeutschen Kommunen. Sie wissen, dass die ostdeutschen Kommunen seit
1999 einen größeren Anteil für Zinsen und Tilgung ausgeben als die westdeutschen. Dieses Dilemma soll der
Vergangenheit angehören. Dafür werden wir uns unter besonderer Berücksichtigung der ostdeutschen Kommunen
in starkem Maße einsetzen.
Wir reklamieren als Politiker gern den Erfolg für uns.
Aber ich sage ganz deutlich - Werner Schulz und der
Minister haben das bereits in ihren Reden getan -: Den
großen Fortschritt, den die neuen Bundesländer in den
letzten Jahren erreicht haben, haben wir den dort lebenden
Menschen zu verdanken. Das sollte man an dieser Stelle
ganz ausdrücklich sagen. Den Transformationsprozess
müssen wir über die Fraktionsgrenzen hinweg mit aller
Kraft unterstützen.
Danke schön.
({0})
Nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Petra Pau, fraktionslos.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute über die Lage in den so genannten
neuen Bundesländern. Dazu liegt ein über 100-seitiger
Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen
Einheit vor. Ich möchte zwei Sätze aus diesem Bericht zitieren. Das erste Zitat:
Die nach der Wiedervereinigung weit verbreitete Annahme eines schnellen Aufbaus in den neuen Ländern hatte sich als Illusion erwiesen.
Das stimmt. Noch schlimmer: Wie zur Auszeit der DDR
suchen viel zu viele Jugendliche ihre Zukunft in der
Ferne. Sie verlassen also die neuen Bundesländer. Der
Berliner Schriftsteller Wolfgang Engler fasste seinen Befund so zusammen:
Weil der Hoffnung die Arbeit fehlte, kam die Arbeit
an der Hoffnung ({0}) zum Erliegen.
Die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern ist längst mehr
als ein massenhaftes Schicksal. Sie führt zum nachhaltigen Aderlass.
Vor diesem Hintergrund komme ich zum zweiten angekündigten Zitat aus dem Bericht der Bundesregierung:
Als eine weitere Fehlorientierung erwies sich die Vorstellung, der Aufbau Ost sei durch das bloße Übertragen westdeutscher Erfolgsmuster zu bewältigen.
Natürlich ist dieser Satz ein Seitenhieb auf die Kohl-Ära.
Aber er stimmt, zumal nicht nur die Erfolgsmuster, sondern auch die Misserfolgsmuster übertragen wurden, und
zwar koste es, was es wolle.
({1})
Wir könnten das jetzt im Bildungs- und im Gesundheitswesen, im Steuerrecht sowie in der Umwelt- und in der
Verkehrspolitik durchgehen. Allerdings, liebe Kolleginnen
und Kollegen von Rot-Grün, wer ein Hartz-Konzept heiligt und dieses ohne Rücksicht auf Verluste auch noch 1 : 1
auf die neuen Bundesländer überträgt, der ist kein Deut
klüger und auch kein Deut besser, der betreibt vielmehr die
Fortsetzung einer falschen Politik mit neuen Mitteln.
({2})
Zwei weitere aktuelle Beispiele: Sie verweigern die
Wiedereinführung einer Vermögensteuer und befürworten stattdessen einen Ablasshandel für Steuerflüchtlinge.
({3})
Das ist fatal, und zwar nicht nur, weil schon Luther, übrigens ein Ossi,
({4})
den erkauften Ablass als unmoralisch geächtet hat. Vor allem verweigern Sie damit jenen Entlastung, die finanziell
am meisten gebeutelt sind, nämlich den Ländern und
Kommunen im Osten.
Ähnlich verhält es sich mit den jüngsten Tarifvereinbarungen im öffentlichen Dienst. Man mag ja das Ergebnis so oder so bewerten. Nur, eines ist auffällig: Hintenherum wurde die Angleichung der Einkommen im
Osten an die im Westen um zwei weitere Jahre verschoben. Das halte ich nicht nur Innenminister Schily vor; das
ist offensichtlich auch Verdi-Politik. Ich sage, es ist
falsche Gewerkschaftspolitik.
({5})
Es straft aber auch die rot-grüne Regierung Lügen; denn
Sie haben im Wahlkampf und in der Koalitionsvereinbarung anderes versprochen.
Nun wurde ich in dieser Woche von Journalisten gefragt, warum ich zu Ihnen, Herr Minister Stolpe, so
garstig sei. Das bin ich mitnichten. Ich bin kritisch und
auch skeptisch. Ganz persönlich gesagt: Als Hoffnungsminister sind Sie nicht gestartet. Ich will nicht,
weder für Sie persönlich noch für die neuen Länder,
dass aus dem roten Adler irgendwann eine graue Maus
wird.
({6})
Es war der Kollege Schulz vom Bündnis 90/Die Grünen, der jüngst öffentlich bedauert hat, dass drängende
Ostthemen im Bundestag kaum noch eine Rolle spielen,
seit es die PDS hier nicht mehr als Fraktion gibt.
({7})
Das bedaure natürlich auch ich. Nur, Kollege Schulz - damit wende ich mich auch an den Kollegen Hilsberg -, es
gibt zuweilen so etwas wie eine Delegierungskultur. Ich
kenne das auch aus meiner eigenen Partei. Das Thema
„neue Bundesländer“ können Sie aber nicht delegieren.
Rot-Grün steht in der Verantwortung.
({8})
Sie können diese Verantwortung nur teilen, wenn Sie
nicht von oben, sondern mit den Betroffenen regieren.
Deshalb möchte ich Ihnen von Rot-Grün zum Abschluss auch noch einen Tipp geben. Bisher war der
Osten der Osten und für viele, für viele von Ihnen hier
im Hause, gar der ferne Osten. Mit der EU-Osterweiterung verschieben sich nun die Koordinaten. Die
neuen Bundesländer werden zur neuen Mitte. Wenigstens das sollte doch die SPD anspornen, den Osten
Deutschlands endlich neu zu begreifen und auch ernster zu nehmen.
Danke schön.
({9})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika
Krüger-Leißner von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
Herren! Die Diskussion um den Jahresbericht 2002 zeigt
wieder einmal ganz deutlich, wie die Opposition mit dem
erreichten Stand der deutschen Einheit umgeht. Es werden wieder Vorurteile bedient. Leistungen werden mies
gemacht oder sogar ignoriert. Sie merken gar nicht, dass
Sie den Handelnden in den neuen Ländern damit unrecht
tun und dass Sie durch Ihre Miesmacherei auch das Ansehen Ostdeutschlands schädigen.
({0})
Dabei möchte ich der Bundesregierung gerade für diesen aussagekräftigen Bericht danken.
({1})
Sie finden in diesem Bericht alle Maßnahmen. Sie können
sie klar erkennen. Sie können sie bewerten. Sie finden
dort unsere Zielrichtung und auch unsere Schwerpunktsetzung für den Aufbau Ost.
Zwei Ereignisse haben die Bemühungen der Regierungskoalition im letzten Jahr deutlich gehemmt und dazu
geführt, dass viele Programme, die aufgelegt worden waren, noch nicht richtig greifen konnten. Das eine - das ist
auch schon erwähnt worden - war die Hochwasserkatastrophe. Eine Reihe von Fortschritten bei der Infrastruktur und beim Wirtschaftsaufbau in den neuen Ländern
wurde durch diese Naturkatastrophe zunichte gemacht.
Das hat uns tief getroffen. Die Bundesregierung hat
schnell und auch politisch richtig gehandelt. Die Wiederaufbauhilfen wurden durch die Verschiebung der Steuerreform um ein Jahr finanziert. Ich möchte noch einmal betonen: Das war der richtige Weg.
({2})
Die von der Opposition damals geforderte Finanzierung
über Schulden hätte katastrophale Folgen für unser Ziel
der Konsolidierung des Haushalts, aber letztlich auch für
den Aufbau Ost bedeutet.
Es war imponierend und mitreißend, zu beobachten,
wie durch solidarisches Helfen bei der Flutkatastrophe
eine große Einigkeit der Bürgerinnen und Bürger gezeigt
wurde. Bei all den schlimmen Folgen für die Städte, für
die Gemeinden, aber auch für die einzelnen betroffenen
Menschen gab es doch eine gute Seite. Wir konnten nämlich erleben, dass es um die innere Einheit gar nicht so
schlecht bestellt ist.
Das zweite Ereignis war die Krise der Weltwirtschaft, die die neuen Länder besonders trifft. Es ist eine
Binsenwahrheit, aber es ist so: In einer Marktwirtschaft
hat die Politik nur begrenzt Einfluss auf die Konjunktur.
Wir können Rahmenbedingungen schaffen, wir können
sie verändern; den Hauptanteil an der konjunkturellen
Entwicklung hat die Wirtschaft aber selbst zu erbringen.
Was unsere Aufgabe angeht, so haben wir - das können Sie nachlesen - einiges auf den Weg gebracht. Der
Solidarpakt II gibt uns Planungssicherheit für 15 Jahre.
Die Programme zur Verbesserung der Infrastruktur vom
Stadtumbau bis hin zu den Verkehrsprojekten - Minister
Stolpe hat sie erwähnt - bringen uns voran.
Dennoch klaffen strukturelle Unterschiede in der Wirtschafts- und Infrastruktur zu den alten Bundesländern.
Das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes in Ostdeutschland liegt weiter hinter dem im Westen zurück.
Angesichts der Tatsache, dass das Wohlstandsniveau bei
nur 60 Prozent des Westniveaus liegt, erscheint dies dramatisch.
Wenn wir genauer hinschauen, dann stellen wir auch
fest, dass ein Hauptgrund für diese Tatsache die Krise der
Bauindustrie ist. Rechnet man die die Bauindustrie betreffenden Daten heraus, so zeigt sich, dass die Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes in den neuen Ländern immer noch doppelt so hoch wie im Westen sind.
({3})
Das beste Beispiel ist - das haben wir gehört - das verarbeitende Gewerbe. Zur Wahrheit gehört auch: Die Produktivität in den neuen Ländern wächst kontinuierlich.
Sie liegt jetzt bei 70 Prozent des Westniveaus. Auch die
Exportquote hat sich seit 1995 verdoppelt.
Die Krise der Bauindustrie macht aber diese - an sich
positiven - Werte zunichte. Gerade die Kollegen der Opposition müssten eigentlich wissen, dass dieses Problem
hausgemacht ist. Die einseitige Förderung der Bauindustrie durch die Regierung Kohl hat auf diesem Gebiet
enorme Überkapazitäten geschaffen. Meine Damen und
Herren auf der rechten Seite dieses Hauses, das geht auf
Ihr Konto.
({4})
Wie stark diese Auswirkung ist, belegen auch einige
Zahlen. Die Bruttowertschöpfung im ostdeutschen Baugewerbe sinkt seit 1996 jährlich um 8,5 Prozent. Auch die
Beschäftigungszahlen sind seit 1996 halbiert. Genau
diese Zahlen hat Herr Vaatz erwähnt, als er über die verlorenen Arbeitsplätze sprach. Die Auswirkungen auf die
Wirtschaftsentwicklung und auf den Arbeitsmarkt sind
deutlich sichtbar. Eines ist aber auch klar: Die Umstellung
der Förderung durch die Bundesregierung seit 1998 war
richtig und notwendig.
Abgesehen von den mit diesen Daten zum wirtschaftlichen Aufholprozess verbundenen Schwierigkeiten gibt
es ein ganz großes Problem im Osten, das wir angehen
müssen: den dramatischen Mangel an produktiven Arbeitsplätzen und die hohe Arbeitslosigkeit. Gerade in diesem Bereich ist das Erreichen des Westniveaus wichtiger
als irgendwo sonst. Nichts trägt zur Verwirklichung der
inneren Einheit mehr bei als Arbeitsplätze.
Das von der Opposition immer wieder gescholtene
Hartz-Konzept geht hierbei in die richtige Richtung.
Durch die Gesetze zur Umsetzung des Hartz-Konzeptes
und die Mittelstandsoffensive der Bundesregierung eröffnen sich in der Tat viele Chancen, die Arbeitslosigkeit zu
verringern. Ich denke dabei an die Kompetenzcenter, die
den Arbeitsmarkt und die Wirtschaftspolitik vernetzen
werden. Wir werden regional intelligente Strategien umsetzen können, um Arbeit und Beschäftigung zu schaffen.
Ich denke auch an den Aufbau von Clustern in strukturschwachen Regionen in Ostdeutschland.
Aber wir werden auch die Förderung von Existenzgründungen verstärken und damit neue Unternehmen
schaffen. Die Ich-AGs bieten Raum für Kleinstunternehmen und das Programm „Kapital für Arbeit“ verbindet Investitionsförderung mit Beschäftigungswirksamkeit. Das
wird auch in den neuen Ländern angenommen.
Darüber hinaus hat die Hartz-Kommission die eigentliche Misere des Ostens erkannt und auf ein kommunales
Infrastrukturprogramm gesetzt. Das schafft wichtige
Voraussetzungen für die Ansiedlung von Unternehmen und
fördert gezielt die Wirtschaft. Es wird auch in beschäftigungsintensiven Bereichen neue Arbeitsplätze bringen.
Die vorgeschlagene Finanzierung über Betreibermodelle und langfristige Kommunaldarlehen werden die
kommunalen Haushalte entlasten. Diese Vorschläge werden wir prüfen und deren Umsetzung werden wir ermöglichen.
Ich könnte noch eine Reihe anderer Punkte nennen.
Klar ist: Das Hartz-Konzept stellt auch einen wichtigen
Beitrag zum Aufbau Ost dar. Es schafft mittelfristig die
richtigen Impulse für den Arbeitsmarkt. Wir werden es
vollständig umsetzen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, der Prozess
des Aufbaus Ost schreitet weiter voran. Der Bericht hat es
deutlich belegt. Wir haben die richtigen Instrumente und
wir haben die Weichen in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik richtig gestellt.
({5})
Wie weit wir damit schon der Einheit von Ost und West,
der alten und neuen Bundesländer
({6})
nahe gekommen sind, weiß wohl keiner so genau zu sagen.
Aber ich sehe Ähnlichkeiten mit einem Marathonlauf: Wir
haben das Ziel vor Augen. Auch ein Läufer muss in der
zweiten Hälfte hart mit sich kämpfen und durchhalten.
({7})
Wir sind auf der zweiten Wegstrecke und wir alle müssen
mitziehen.
Danke.
({8})
Das Wort hat der Kollege Volkmar Uwe Vogel von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat ihren Jahresbericht 2002
vorgelegt. Richtigerweise hat sie in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass eine belastbare Infrastruktur die Grundlage für einen zukunftsfähigen Wirtschaftsstandort Deutschland ist. Die Grundlage jedoch, meine
sehr verehrten Damen und Herren, auf der Sie aufbauen,
ist der Bundesverkehrswegeplan, den die Regierung
Helmut Kohl erarbeitet hat. Bei Berichten und bei Ankündigungspolitik allein darf es nicht bleiben. Wir brauchen
keine Berichte. Wir brauchen Taten!
({0})
Dass der Aufbau Ost wegen Ihrer Wirtschaftspolitik ins
Stocken geraten ist, erwähnen Sie in Ihrem Bericht nicht.
Das erfahren wir von den Sachverständigen. Es ist dabei
eine Zumutung, dass die Bedingungen für eine vitale Infrastruktur der neuen Länder und dringend notwendige
Verbesserungen insgesamt auf nur zwei - ich wiederhole:
auf nur zwei - Seiten beschrieben worden sind. Für die
Landwirtschaft - das kam an dieser Stelle überhaupt
noch nicht zur Sprache - hatte man auch nur gerade vier
Seiten übrig. Hinweise auf die bestehenden Infrastrukturlücken fehlen in Ihrem Bericht ganz. Der Vorrang der
neuen Länder beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur
scheint Ihnen allein durch die prozentuale Zuordnung von
Haushaltsmitteln sichergestellt zu sein. Ob diese Mittel
aber auch tatsächlich zur Verfügung stehen,
({1})
bleibt wie vieles in Ihrem Bericht unklar.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Straßen,
Schienen, Leitungsnetze, also unsere gesamte Infrastruktur, machen nicht vor Verwaltungsgrenzen Halt. Mobilität
für alle Bürger ist notwendiger denn je, und das ganz besonders im Osten unseres Landes. Mobilität ist auch immer
ein Ausdruck von Freiheit - Freiheit, die den Menschen in
40 Jahren DDR verwehrt wurde. Durch Beschränkung der
Mobilität und Kontrolle der Kommunikation wurde die
Freiheit der Menschen bewusst begrenzt.
Wer zwölf Jahre nach der Einheit ehrlichen Herzens
die Angleichung der Lebens- und Lohnverhältnisse
zwischen den alten und neuen Bundesländern erreichen
will, muss Entscheidendes auch bei der Infrastruktur tun.
Gerade hier gibt es noch die größten Unterschiede zwischen Ost und West. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass
die Menschen in meiner Heimat genauso fleißig wie in anderen Teilen unseres Landes arbeiten. Die Unterschiede in
der Produktivität, die es ja leider immer noch gibt
({2})
- ich spreche hier nicht über Thüringen, sondern über den
gesamten Osten; aber auch in Thüringen besteht natürlich
noch ein enormer Nachholbedarf -,
({3})
sind vor allem auf schlechtere Standort- und natürlich Infrastrukturbedingungen in den neuen Ländern zurückzuführen. Diese Defizite führen zu erheblichen Zeit- und
Produktivitätsverlusten im Osten.
({4})
Das Gebiet zwischen Halle/Leipzig, Gera, Jena und
Chemnitz bezeichnet man als den mitteldeutschen Wirtschaftsraum, der vor dem Zweiten Weltkrieg zu den
stärksten Wirtschaftsregionen in Deutschland und in ganz
Europa zählte. Was Krieg und Sozialismus zerstörten, gilt
es wieder zu aktivieren und dabei in die gesamteuropäische Entwicklung einzubetten. Effektive, aber auch attraktive und moderne Verkehrsanbindungen sind standortentscheidend für Investoren und damit für Arbeitsplätze
in unserem Land. Daher plädiere ich für die Durchführung
aller wichtigen Verkehrsprojekte, so das Verkehrsprojekt
„Deutsche Einheit“ 8.1 und 8.2,
({5})
das Sie fortführen wollen. Allerdings fehlt jeglicher Hinweis, ob die gesamte Finanzierung gesichert ist und in
welchem Umfang die Deutsche Bahn an dieser Stelle Verantwortung übernehmen will und auch wirklich kann.
Ebenso wichtig ist es, die Vollendung der MitteDeutschland-Schienenverbindung in Angriff zu nehmen,
damit diese Strecke bis spätestens 2015 zweigleisig und
elektrifiziert zur Verfügung steht.
({6})
Ein weiteres wichtiges Verkehrsprojekt ist der Ausbau
der A 72, die wichtige Oberzentren in Mitteldeutschland
miteinander verbindet. Der Nutzen wird die Kosten um
das Elffache übersteigen. Im Hinblick auf die Fußball-WM 2006 in Leipzig, die Bundesgartenschau 2007,
die in Gera und Ronneburg stattfinden wird, und Leipzigs
Olympiabewerbung für 2012 - Kollege Kuhn hat das eindrucksvoll beschrieben - ist es dringend erforderlich,
dieses Projekt rasch in die Tat umzusetzen und in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans aufzunehmen.
Dies sind nur unvollständige Beispiele für wichtige
überregionale Projekte, die in den letzten vier Jahren nicht
vorankamen. Fatal ist, dass damit die begleitende kommunale Infrastruktur ins Stocken kam.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, ich bin gleich fertig. - Brücken, Autobahnanschlüsse, Umgehungsstraßen und Erschließungen blieben
liegen. Jetzt fehlt den Kommunen das Geld für deren Realisierung. Über den Ausbau der Bundesstraßen darf die
Ertüchtigung der kommunalen Infrastruktur in den nächsten Jahren auf keinen Fall vergessen werden.
({0})
Meine Damen und Herren, beleben Sie den stockenden
Ausbau der Infrastruktur im Osten unseres Landes! Machen Sie den Osten wirklich zur Chefsache - auch wenn
der Chef heute wieder nicht da ist! Bei allen finanziellen
Schwierigkeiten: Bedenken Sie die Langzeitfolgen! Sehen Sie diese Investitionen als Teil eines Generationenvertrages, als Investition auch für unsere Nachkommen,
so wie wir heute von vielen weitsichtigen Verkehrsplanungen früherer Zeiten profitieren.
Danke.
({1})
Herr Kollege Vogel, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Ich habe deshalb bei
der Redezeit beide Augen zugedrückt.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/9950 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Zusätzlich soll sie
aufgrund einer interfraktionellen Vereinbarung an den
Tourismusausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit
einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Strobl ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Deutschland wirksam vor Terroristen und Extremisten schützen
- Drucksache 15/218 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Wolfgang
Bosbach von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesminister Schily, Sie haben vor kurzem
gesagt:
Die Bedrohung durch den internationalen islamistisch-fundamentalistischen Terrorismus - das ist eine
realistische Einschätzung - hat zugenommen. Wir sehen die breite Blutspur des Terrors und wir müssen leider voraussehen, dass sich der Terror fortsetzen wird.
Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes sagt:
Wir sehen zurzeit keine Entwarnung. Wir sehen eher
ein Anwachsen dieser Aktivitäten ... Es finden Rekrutierungen statt.
Der renommierte Terrorismusforscher Tophoven
meint:
Trotz der Zerschlagung der al-Qaida-Basen in Afghanistan ist der Terror durch diese Gruppe noch
lange nicht gebannt. Im Gegenteil: Die Kommandos
formieren sich gerade neu und sind weltweit verstreut ...
Es gibt leider keinen Grund zu der Annahme, dass
diese Sicherheitsanalysen, die Darstellungen dieser Bedrohungsszenarien falsch sind. Gerade weil wir Grund zur
Annahme haben, dass die Bedrohungsanalysen zutreffend
sind, ist die standhafte Weigerung der rot-grünen Koalition, offensichtliche Schutzlücken zu schließen, unverantwortlich.
({0})
Vermutlich werden heute die Rednerinnen und Redner
der Koalition von dieser Stelle aus behaupten, man habe
ja alles getan, was nach den Ereignissen vom 11. September habe getan werden müssen. Diese Argumentation ist
ebenso richtig wie falsch. Es ist richtig, dass zwei Antiterrorpakete geschnürt worden sind und auch Maßnahmen - zum Teil längst überfällige - beschlossen wurden.
Wir haben diese Maßnahmen mitgetragen. Richtig ist aber
auch, dass Sie nur das beschlossen haben, worauf Sie sich
mit Mühe und Not einigen konnten, und nicht etwa das,
was im Interesse der Sicherheit unseres Landes dringend
hätte getan werden müssen.
({1})
Die Gefahren, die vom internationalen Terrorismus
ausgehen, kann man nicht mit halber Kraft und nicht mit
angezogener Handbremse bekämpfen. Was wir brauchen,
ist Entschlossenheit. Wir brauchen aber keine Kompromisse zulasten der Sicherheit unseres Landes. Aber genau
solche Kompromisse haben Sie geschlossen.
({2})
Unser Sicherheitsnetz hat nach wie vor eine ganze
Reihe von Lücken. Diese Lücken müssen wir schließen,
eher heute als morgen. Wir belassen es aber nicht bei dieser Kritik, sondern wir unterbreiten ganz konkrete Vorschläge.
Sie rühmen sich beispielsweise, eine Strafbarkeitslücke geschlossen zu haben. Seit einiger Zeit ist die in1468
ländische Unterstützung einer ausländischen Terrorgruppe nach § 129 b StGB strafbar. Das war aber nur Zug
um Zug gegen Erfüllung eines uralten Wunsches der Grünen möglich, nämlich die Sympathiewerbung für terroristische Vereinigungen endlich straflos zu stellen. Das
führt zu dem absurden Ergebnis, dass es zwar vor dem
11. September 2001 strafbar war, beispielsweise für das
Terrornetzwerk al-Qaida Werbung zu machen, dass es
aber nach den mörderischen Anschlägen straflos ist. Das
ist für uns ein unerträglicher Zustand, der geändert werden muss.
({3})
Wir dürfen niemanden einbürgern, von dem wir wissen, dass er extremistischen Organisationen angehört oder
gar terroristische Aktivitäten unterstützt. Ich möchte nur
ein einziges Zitat aus der Originalurteilsbegründung des
Oberlandesgerichts Düsseldorf im so genannten KaplanProzess anführen:
Was aber der besonderen Erwähnung bedarf, ist Folgendes: Nahezu mit Verblüffung musste der Senat
zur Kenntnis nehmen, dass eine Vielzahl von Zeugen
aus den Reihen des Kaplan-Verbandes, und davon
nicht wenige mit inzwischen deutscher Staatsangehörigkeit, mit einer kaum zu glaubenden Unverblümtheit oder besser Unverfrorenheit erklärten,
dass für sie auch hier in Deutschland nicht die deutschen Gesetze, ja nicht einmal die deutsche Verfassung, sondern das islamische Recht, die Scharia,
maßgeblich sei.
({4})
Der Kollege Beckstein hat gesagt, eine Regelanfrage
beim Verfassungsschutz ist zwingend notwendig. Wenn
dort Erkenntnisse vorliegen, dass jemand terroristische
Aktivitäten unterstützt, dann dürfen wir ihn nicht einbürgern. In der Sendung von Sabine Christiansen sagte Herr
Schily, dass in diesem Punkt Herr Beckstein völlig Recht
habe. Daraufhin fällt Claudia Roth in Ohnmacht und sagt:
Unmöglich!
Also sucht man nach einem Kompromiss. Wir fragen:
Wie steht es in Sachen Verhinderung der Einbürgerung
von Extremisten und Terroristen? Antwort der Bundesregierung - noch druckfrisch vom 9. Januar 2003 -:
Nach dem 11. September haben alle Innenminister
und alle Innensenatoren der Länder von sich aus obligatorische Regelanfragen eingeführt.
Rhabarber, Rhabarber, Rhabarber.
({5})
Diese Antwort ist in dreifacher Hinsicht interessant.
Erstens. Offensichtlich kennt die Bundesregierung die
Rechtslage, jedenfalls die Verwaltungspraxis der Länder,
selber nicht. Zweitens. Es gibt Länder - allesamt unionsregiert -, die bereits vor dem 11. September von sich aus
solche Regelanfragen eingeführt haben. Drittens. Es ergibt sich ein buntes Bild. Einige Länder gehen nur nach
bestimmten Staatenlisten vor; andere werden nur aktiv,
wenn sich ein Verdacht ergibt. Wiederum andere differenzieren bei der Einbürgerung zwischen Rechtsanspruch
und Ermessen. Die originellste Regelung hat das Land
Schleswig-Holstein. Dort gibt es Anfragen nämlich nur
dann, wenn der betroffene Einbürgerungsbewerber seine
Zustimmung erteilt.
({6})
Das ist doch absurd. Was wir brauchen, ist eine bundeseinheitliche Regelanfrage. Wenn nur ein einziges Land
eine Schutzlücke aufweist, dann wirkt sich das auf alle anderen Bundesländer aus, auch auf solche, die eine Regelanfrage haben. Denn wir können nicht verhindern, dass es
in unserem Land Wanderungsbewegungen gibt.
({7})
Nächster Punkt: Kronzeugenregelung. Gerade bei der
Bekämpfung von ethnisch geschlossenen Tätergruppen,
wo wir keine Erkenntnisse mit dem klassischen Instrumentarium verdeckter Ermittler gewinnen können, sind
wir nun einmal leider auf Aussagen von Täterzeugen angewiesen, um Straftaten aufzuklären und neue Straftaten
zu verhindern.
Otto Schily sagte an dieser Stelle am 15. November 2001
unter Bezugnahme auf diese Forderung von mir:
Ich stimme Ihnen aber insoweit zu, als wir dort etwas
zustande bringen müssen. Das ist ein Appell an die
Grünen, sich in dieser Frage etwas hurtiger zu bewegen, als dies bisher der Fall war.
Dann tut sich erst einmal ein Jahr lang nichts und dann
kommt es zu einem Koalitionsvertrag mit einer nebulösen Formulierung. In der Pressekonferenz wird der
Bundesinnenminister gefragt: Heißt das, es gibt eine
neue Kronzeugenregelung? - Antwort: Ja. - Dann wird
der Rechtsexperte der Grünen gefragt: Ist das die neue
Kronzeugenregelung? - Er sagt: Nein.
So kann man sich über Parteitage retten, aber so kann
man den Terrorismus nicht bekämpfen.
({8})
Wenn es Ihnen so unendlich schwer fällt, der Union
Recht zu geben, hören Sie doch wenigstens auf die Experten. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter: Islamisten
lachen über Rasterfahndung; Kronzeugenregelung gefordert. Bundeskriminalamt fordert neue Kronzeugenregelung. Kersten, der Präsident des BKA: So können wir Terrornetzwerke aufdecken.
Hören wir auf diejenigen, denen wir unsere Sicherheit
anvertrauen. Die Experten, die Praktiker werden am ehesten wissen, was sie brauchen, um Kriminellen und Terroristen das Handwerk zu legen.
Die so genannte Verdachtsausweisung ist auch ein
originelles Kapitel. Wir müssen im Ausländerrecht die
Voraussetzungen dafür schaffen, bei begründetem Terrorverdacht - wenn Tatsachen vorliegen, die die Annahme
rechtfertigen, dass jemand einer terroristischen Vereinigung angehört oder diese unterstützt - die Einreise zu verhindern und den weiteren Aufenthalt im Lande zu beenden, und zwar eher heute als morgen.
({9})
Sagen Sie bitte nicht: Genau das steht im Gesetz. Genau
das steht nämlich nicht im Gesetz. Ich zitiere aus einem
Antrag des Landes Niedersachsen, SPD-regiert, wenn
auch nur noch 17 Tage.
({10})
- Apropos Niedersachsen. Ich zitiere aus einer druckfrischen Pressemeldung der Niedersachsen-Kampa der SPD
vom 15. Januar:
Niemand soll uns vorwerfen, wie hätten nicht vor
Wulff gewarnt. Wulff ist nicht nur der blasse Leisetreter und Warmduscher, als der er gemeinhin im
Lande gilt, er ist ein strammer Konservativer, der das
Rad der Geschichte zurückdrehen will. Er will einen
Polizei- und Überwachungsstaat.
({11})
Wie verzweifelt und geistig verwirrt muss man eigentlich
sein, um einen solchen Text in der Bevölkerung zu verbreiten? Diese Frage müssen Sie mir einmal beantworten.
({12})
Ich zitiere aus der Bundesratsinitiative:
Ausweisung, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört, die den internationalen Terrorismus unterstützt.
Diesen Vorschlag haben Sie abgelehnt. Sie haben stattdessen in das Gesetz den Begriff „Beleg“ aufgenommen.
Ein Beleg ist nichts anderes als ein Beweis. Wir reden
nicht von Gerüchten, wir reden nicht von übler Nachrede,
sondern wir reden von Tatsachen. Wenn Tatsachen vorliegen,
({13})
die die Annahme rechtfertigen, dass jemand einer terroristischen Vereinigung angehört, dann muss das Interesse
des Landes an der Beendigung des Aufenthalts zum
Schutz der Bevölkerung Vorrang haben vor dem Aufenthaltsinteresse des betroffenen Ausländers.
({14})
Letzter Punkt: Einsatz der Bundeswehr im Innern.
Es geht uns nicht darum, die Bundeswehr zu einer Art
zweiter Bereitschaftspolizei zu machen. Wenn wir Defizite bei der Bekämpfung der Kriminalität haben, dann
müssen wir die Polizei des Bundes und der Länder personell und technisch in die Lage versetzen, die Gefahren abzuwehren. Es geht uns nur um die Fallkonstellation, bei
der erkennbar nur die Bundeswehr die technischen und
personellen Fähigkeiten hat, um eine Gefahr abzuwehren,
ganz gleich, ob sie auf dem Boden oder aus der Luft droht.
Das gilt nicht nur im Bereich des Luftangriffes, des Air Policing. Das kann auch bei der Abwehr von ABC-Gefahren
und dem Schutz ziviler Objekte, beispielsweise dem Schutz
von Flughäfen, Atomkraftwerken und Trinkwassertalsperren, gelten.
({15})
Wir können auf diesen Schutz nicht verzichten, wenn
wir eine besondere Gefährdungssituation haben, die weder einen Spannungsfall noch einen Verteidigungsfall
noch eine Naturkatastrophe darstellt. Wenn man sagt:
„Wir können ja die Regelung der Amtshilfe oder die des
übergesetzlichen Notstands heranziehen“, dann wird damit die Verfassung überdehnt, was nur so lange gut geht,
wie sich alle Beteiligten darüber einig sind, dass so verfahren werden soll. In dem Augenblick, in dem ein Schadensfall eintritt - möglicherweise in einer Dimension, die
wir uns alle weder wünschen noch vorstellen -, wird es zu
einer verfassungsrechtlichen Überprüfung kommen und
dann werden sich zig Juristen monatelang über diese
Frage beugen, die die Praktiker in wenigen Sekunden haben entscheiden müssen, ohne dass es hierfür irgendeine
rechtliche oder praktische Regelung gibt. Für uns ist das
ein unerträglicher Zustand.
({16})
Ich kann den Bundesminister der Verteidigung nur darum bitten, bei seiner Haltung zu bleiben. Denn er als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt muss in einer
Gefahrenlage in Bruchteilen von Sekunden entscheiden,
was zu geschehen hat. Die Entscheidung kann grausam
falsch sein, egal wie sie fällt, ob Abschuss ja oder nein. Es
kann richtig und unabwendbar sein; es kann aber auch
falsch sein. In diesem Fall hat man aber keine Zeit für lange
verfassungsrechtliche Erörterungen oder zur Regelung von
Verfahren. Dafür muss es ein klares Regelwerk geben.
Lieber Hans-Peter Kemper, du sagst: Wir wollen die
klassische Trennung von Polizei und Bundeswehr nicht
aufheben, es soll bei der derzeit im Grundgesetz festgelegten Trennung bleiben.
({17})
Hast du irgendeinen Grund zu der Annahme, dass sich die
Terroristen danach richten? Ich habe die große Befürchtung, dass diesen die Kompetenzverteilung im Grundgesetz egal ist.
({18})
Wir wissen, dass mit militärischen Mitteln im Inland angegriffen werden kann. Deswegen wollen wir die Bevölkerung nicht schutzlos lassen, wenn nur die Bundeswehr
einen Schutz bieten kann.
Danke.
({19})
Das Wort hat nun der Kollege Hans-Peter Kemper von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Wolfgang Bosbach, ich bin froh, dass ich bereits durch den Redner der Union angekündigt worden
bin. Das überbrückt aber nicht die Gegensätze, die wir in
dieser grundlegenden Frage haben. Die Gewährleistung
der inneren Sicherheit ist Aufgabe der Polizei und der
dafür in der Verfassung benannten Dienste - und nicht der
Bundeswehr. Die ist dafür nicht ausgerüstet. Die hat dafür
auch keine entsprechende Ausbildung und keinen Verfassungsauftrag.
({0})
Ich bin aber froh - deswegen möchte ich erst einmal
meinen Dank an die Opposition richten -, dass Sie und
Ihre Partei den vorliegenden Antrag gestellt haben - nicht,
weil er so gut ist. Mitnichten! Das ist klar. Aber Sie haben
endlich dafür gesorgt, dass das wichtige Thema der inneren Sicherheit, worüber wir in den vergangenen zehn Jahren immer nur in den Abend- und Nachtstunden diskutiert
haben, zur Kernzeit und damit öffentlich debattiert wird.
Sie haben dafür gesorgt, dass wir die Möglichkeit haben,
unsere gute Innenpolitik und besonders die gute Politik,
die wir seit Jahren im Bereich der inneren Sicherheit erfolgreich praktizieren, darzustellen.
({1})
Es ist gute sozialdemokratische Politik, dafür zu sorgen, dass die Menschen in unserem Land ohne Angst leben können. Denn ein Leben in Sicherheit, ein Leben
ohne Angst ist ein Stück Lebensqualität. Das ist die
Überzeugung der Sozialdemokraten und dafür stehen
dieser Innenminister, diese Regierung und diese Koalition.
({2})
Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik zeigen
eindeutig die Richtigkeit unserer Innen- und Sicherheitspolitik. Die Bundesrepublik gehört im internationalen
Vergleich zu den sichersten Staaten der Welt. Der Anteil
der Schwerstkriminalität geht zurück. Diese Debatte wird
deutlich machen, dass die innere Sicherheit bei der Koalition und der Regierung in guten Händen ist, auch wenn
die Opposition mit ihrem Antrag krampfhaft versucht, einen anderen Eindruck zu erwecken.
Wir haben engagierte und motivierte Sicherheitsdienste, angefangen von den Länderpolizeien über den Bundesgrenzschutz und die Verfassungsschutzorgane bis hin
zu den Katastrophenschutzeinrichtungen. Sie alle haben
in der Vergangenheit, besonders aber nach dem 11. September gezeigt, dass sie bereit sind, ein Höchstmaß an Sicherheit zu produzieren. Auf das gesamte Sicherheitspaket der Bundesregierung, das Herr Bosbach gerade
angesprochen hat, will ich nicht eingehen. Vielmehr will
ich mich, weil Sie mit Ihrem Antrag auf die Zeit nach dem
11. September abzielen, nur auf diesen Zeitraum beschränken.
Nach den fürchterlichen Anschlägen vom 11. September haben wir in mehreren Antiterrorgesetzen den rechtlichen und finanziellen Rahmen für zusätzliche und intensivere Maßnahmen zur Terrorbekämpfung geschaffen.
Ich will nur stichpunktartig darauf eingehen.
Unter strenger Beachtung der Rechtsstaatlichkeit haben
wir der Polizei, dem Bundesgrenzschutz, dem BKA, Europol, den Diensten und hier ganz besonders dem Verfassungsschutz in den Bereichen Post, Luftfahrtunternehmen,
Telekommunikationsunternehmen und Dienstleistungsunternehmen zusätzliche und bessere Kompetenzen gegeben.
Wir haben den rechtlichen Rahmen für bessere und sicherere Personenidentifizierungen geschaffen. Wir haben
die Bereitschaftspolizeien der Länder erheblich verstärkt.
Wir haben gerade im Bereich der Luftsicherheit viele
Dinge auf den Weg gebracht, die längst überfällig waren, so
die bessere Bestreifung der Flughäfen, bessere Zugangskontrollen und bessere Gepäckkontrollen. Seit dem 1. Januar sind diese besseren Kontrollen auch auf europäischer
Ebene bestätigt, denn nunmehr wird jedes Gepäckstück
lückenlos kontrolliert. Wir kontrollieren die Fluggäste
besser, aber auch das Personal, das auf den Flughäfen beschäftigt ist.
Wir haben eine Flugbegleitung organisiert, qualifiziert
und motiviert. Die so genannten Skymarshals gewährleisten auf bestimmten Flügen eine deutliche Steigerung der
Flugsicherheit. Wir haben - ebenfalls unter strenger Beachtung der Rechtsstaatlichkeit - den Datenaustausch zwischen den Behörden verbessert.
Das alles waren Maßnahmen, die längst überfällig waren.
Wir haben das Vereinsgesetz verändert; damit wurde
unter bestimmten Voraussetzungen auch das Religionsprivileg abgeschafft. Ich will gar nicht verhehlen, dass es
auch mich geärgert hat, wenn Kaplan oder andere auftraten und unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit oder
des Religionsprivilegs ihre Parolen verkündeten.
({3})
Aber wir haben Abhilfe geschaffen. Im Gegensatz zu Ihnen haben wir die Gesetze verändert; die Situation war in
den 16 Jahren zuvor nicht anders. Kaplan war vorher auch
da. Aber diese Regierung, dieser Innenminister hat es
geändert. Als Konsequenz aus dieser Maßnahme sind in
der Zwischenzeit entsprechende Vereinsverbote ergangen, auch im Hinblick auf Gruppen, die seit langem hier
tätig waren.
({4})
Wir haben Vorkehrungen getroffen, die die Einreise
von Terroristen in die Bundesrepublik verhindern bzw. die
es ermöglichen, solchen Gruppen zugehörige Personen
wieder auszuweisen, wenn sie denn schon hier sind.
Nun komme ich kurz auf den Antrag der CDU/CSU zu
sprechen. Sie fordern, die Einreise von Terroristen zu
verhindern. Da frage ich mich: Wer will das denn nicht?
Glauben Sie, Sie allein wollten das? Das, was Sie in dem
Antrag fordern, ist doch längst Realität.
({5})
Nach dem Ausländergesetz werden Personen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder die Sicherheit
der Bundesrepublik gefährden, sich an Gewalttätigkeiten
beteiligen, zu Gewaltanwendungen aufrufen, mit Gewaltanwendung drohen oder einer Vereinigung angehören, die
den internationalen Terrorismus oder derartige Vereinigungen unterstützt, gar nicht ins Land gelassen bzw. wieder ausgewiesen, wenn sie sich im Land befinden.
Ich führe ein anderes Beispiel an; Herr Bosbach hat die
Regelanfrage angesprochen. Die Regelanfrage wird in
den Bundesländern längst praktiziert,
({6})
und zwar von allen Bundesländern. Genauso ist es möglich, erkennungsdienstliche Behandlungen im Rahmen
des jetzt geltenden Ausländerrechts durchzuführen. Wir
hatten im Zuwanderungsgesetz einige Verstärkungen und
Verschärfungen vorgesehen, die auch in Ihrem Sinne gewesen wären. Sie haben dieses Zuwanderungsgesetz zu
Fall gebracht.
({7})
Die von Ihnen jetzt beklagte Situation - fehlende Integration, unkontrollierte und ungesteuerte Zuwanderung - ist
auf der Basis des alten Rechtszustandes, den Sie lange
Jahre zu vertreten hatten, entstanden.
({8})
Wir wollten das ändern, Sie haben es verhindert. Bejammern Sie also nicht die Ergebnisse Ihrer eigenen Politik!
({9})
Da ich mich nicht zu lange mit Ihrem Antrag aufhalten
will, nenne ich nur noch ein letztes Beispiel.
({10})
Die Union behauptet in ihrem Antrag, dass es Defizite im
Katastrophenschutz gibt. Ich will nicht bestreiten, dass
es da eine Menge zu verbessern gibt, aber es gehört auch
zur historischen Wahrheit, dass es die Vorgängerregierung
unter Ihrem Innenminister Kanther war, die den Katastrophenschutz massiv zurückgefahren hat.
({11})
Das war ein Innenminister, von dem Sie heute nicht mehr
so viel wissen wollen, weil er sich im Dunstkreis der organisierten Kriminalität bewegt hat.
({12})
Ich habe die Worte des Innenministers noch genau im
Ohr. Er hat gesagt: Wir haben nach der deutschen Einheit
und den Veränderungen in Europa eine veränderte Bedrohungslage, wir müssen den Katastrophenschutz zurückführen. Sie haben den BVS platt gemacht und hoch qualifizierte und engagierte Leute auf die Straße geschickt
bzw. völlig unsinnig im Langen Eugen Feuerstreife laufen
lassen. Sie haben den Sirenenalarm ohne adäquaten Ersatz abgeschafft. Sie haben das THW drastisch verringert.
({13})
Ich habe noch genau vor Augen, wie die Ortsverbände
des THW in Nordrhein-Westfalen um ihre Existenz
gekämpft und verloren haben, weil Sie und der Innenminister es nicht wollten. Wir sind diesen Weg - da haben Sie
Recht - zu großen Teilen mitgegangen. Das ist überhaupt
keine Frage,
({14})
aber wir stehen auch heute noch dazu, während Sie in
Ihrem Antrag den Eindruck erwecken, als ob wir das zu
verantworten hätten.
({15})
Sie bejammern die Früchte Ihrer eigenen Politik und Ihres eigenen Fehlverhaltens.
({16})
Wir haben die Notwendigkeit funktionierender Katastrophenschutzeinrichtungen erkannt und umgesteuert.
Wir haben in diesem Bereich dafür gesorgt, dass die finanzielle Ausstattung und die Akzeptanz der Katastrophenschutzeinrichtungen wieder so ist, wie es sich gehört.
Gestern haben wir im Innenausschuss den Einzelplan 06
beraten. Herr Bosbach, Sie waren nicht dabei, aber Sie
wissen das auch so.
Dabei müsste Ihnen aufgefallen sein, wie die Aufwüchse im Bereich der inneren Sicherheit sind.
({17})
Ich will Ihnen nur einige Beispiele nennen: Aufwuchs im
Bereich des THW gegenüber dem letzten Jahr 21,3 Prozent, Aufwuchs im Zivilschutz gegenüber dem letzten
Jahr 37,78 Prozent, Aufwuchs im Bundesgrenzschutz
12,31 Prozent, Aufwuchs beim Bundeskriminalamt
20 Prozent und beim Bundesamt für Verfassungsschutz
22 Prozent.
Ich kann mich nicht erinnern, dass Ihre Regierung jemals so viel für funktionierende Sicherheitseinrichtungen
und damit für die innere Sicherheit getan hat.
({18})
Ich behaupte nicht, dass wir ein Patentrezept haben.
Das hat keiner. Kein Gesetz dieser Welt und keine Verfassungsänderung hätten die Anschläge vom 11. September
verhindern können. Es gehört aber auch zur Ehrlichkeit,
den Menschen zu sagen, dass es eine absolute Sicherheit
und den absoluten Schutz vor Kriminalität nicht gibt.
Deswegen sage ich Ihnen, die CDU sollte ihren Antrag
zurückziehen. Er ist ein Sammelsurium von überholten
und populistischen Behauptungen und Einzelstücken. Sie
sollten mit uns zusammen den Weg weitergehen. Das ist
ein guter Weg für die innere Sicherheit und wir hätten gemeinsam Erfolg.
Schönen Dank.
({19})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Piltz von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Unionsfraktion will Deutschland wirksam vor Terroristen
und Extremisten schützen. Nach Auffassung der FDPFraktion bedarf es dazu keiner neuen Gesetze und schon
gar nicht der von Ihnen vorgeschlagenen.
({0})
Bevor sich die SPD zu früh freut: Herr Kemper, das wird
kein Lob für Sie.
Sicherheit ist der Schutzwall der Freiheit unserer Gesellschaft und jedes Einzelnen. Ohne Zweifel hat dieser
Wall Risse und Löcher, doch wird man diese nicht dadurch stopfen, dass immer neue Gesetze den Schutzwall
immer höher werden lassen. Wir müssen die bestehenden
Schutzmechanismen stärken, indem wir Vollzugsdefizite
abbauen und nicht die Freiheit in blindem Aktionismus
einmauern.
({1})
Unsere Aufgabe ist es, die Ängste und Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ernst zu nehmen und ihren berechtigten Anspruch auf Sicherheit einzulösen. Unredlich ist
es, vorzugaukeln - wie Sie dies tun -, dass die Sicherheit
allein durch neue und schärfere Gesetze gewährleistet
werden kann.
({2})
Schon das Sicherheitspaket II der Bundesregierung hat
die FDP-Fraktion abgelehnt,
({3})
weil die Verhältnismäßigkeit zwischen Freiheit und Sicherheit nicht gewahrt war.
({4})
Dass Sie von der CDU/CSU dies nicht nachvollziehen
können, ist mir völlig klar. Nun aber in gesetzgeberischen
Aktionismus zu verfallen, wie von Ihnen gefordert, ist der
falsche Weg.
Die Unionsfraktion stellt in ihrem Antrag jeden Ausländer, der die Grenzen Deutschlands zu überqueren
sucht, unter den Generalverdacht des Terrorismus und
des Extremismus,
({5})
insbesondere wenn der Ausländer muslimischen Glaubens ist. Die Religionszugehörigkeit allein ist kein potenzielles Gefahrenmerkmal. Die Sudanesin, die vor der
Scharia flieht, ist ebenso Muslimin wie die von der Steinigung bedrohte Nigerianerin. Gleiches gilt für den religionskritischen Schriftsteller aus einem arabischen Land.
Nicht die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft,
sondern die innere Gesinnung ist entscheidend für mögliche Gefahren.
({6})
Dies können Sie aber nicht durch eine einfache Abfrage
des Glaubens erfahren.
({7})
Daher wird mit der verpflichtenden Speicherung im Ausländerzentralregister - wie von Ihnen im Antrag gefordert - kein Plus an Sicherheit gewonnen.
({8})
Aber nach Ihrer Vorstellung, liebe Kollegen von der
CDU/CSU, soll der Staat ohnehin zum sammelwütigen
Datenjäger werden. Biometrische Daten sollen nicht nur
in den Ausweispapieren von Ausländern gespeichert werden - dies könnte noch eine sinnvolle Maßnahme sein -,
sondern Sie wollen auch noch biometrische Daten, die Sie
nicht näher spezifizieren, in verschlüsselter Form grundsätzlich in allen Ausweispapieren und für Behörden abrufbar speichern.
Heißt dies im Klartext, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wollen den verschlüsselten gläsernen Bürger,
auslesbar für die Behörden, unverständlich für den Bürger
selbst? Dies wird die FDP nicht mitmachen.
({9})
Folgt man dem hier vorgelegten Entwurf der CDU/CSU,
so soll der Staat auch nicht vor einer Ausweitung der
Wohnraumüberwachung Halt machen. Gerade hier, wo
es um einen besonders intensiven Eingriff in die Privatsphäre der Menschen geht, muss sehr sorgfältig abgewogen werden.
({10})
Eine verdachts- und gefahrunabhängige Überwachung
von Wohnräumen durch Sender oder Video darf es nicht
geben. Die Position der FDP-Fraktion ist und bleibt klar
und eindeutig: Es muss immer der begründete Verdacht
einer schweren Straftat vorliegen, wenn in den durch
Art. 13 des Grundgesetzes geschützten Raum eingegriffen wird.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die FDP-Fraktion teilt
allerdings die Kritik an der Bundesregierung bezüglich
einer verfehlten Europapolitik. Statt konsequent mit den
europäischen Partnern zusammenzuarbeiten, geht die
Bundesrepublik einen eigenen Weg. Weder wirkt die Bundesrepublik auf die Partner ein, sich an die eigenen Beschlüsse zu halten, zum Beispiel wenn es um die Schaffung eines einheitlichen digitalen Funknetzes für die
Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben
geht, noch kümmert sie sich aus unserer Sicht ausreichend
um die Umsetzung gemeinsamer europäischer Alarmpläne für Katastrophenfälle. Dies ist aus meiner Sicht der
falsche eigene deutsche Weg.
({12})
Weder Naturkatastrophen noch Terroristen machen an
nationalen Grenzen halt. Die Kleinstaaterei, die auch von
der deutschen Regierung in Europa betrieben wird, behindert eine effektive grenzüberschreitende Bekämpfung.
({13})
- Dass Sie das nicht so sehen, ist mir auch klar.
In den vergangenen Tagen hat uns der versuchte Flugzeugangriff auf die Frankfurter Banktürme beschäftigt.
Die dadurch aufgeworfenen Fragen des Umgangs mit einem möglichen Terrorangriff im Luftraum riefen bei
CDU/CSU, aber auch bei der SPD die reflexartige Forderung nach dem Einsatz der Bundeswehr im Innern hervor.
({14})
Die Bundeswehr soll nun nach dem vorgelegten Entwurf mehr Kompetenzen im Innern erhalten, um den Zivil- und Katastrophenschutz zu verstärken. Die Hürden,
die das Grundgesetz aufstellt, sollen nach Ihrer Forderung
fallen. Dies haben Sie vorhin hier auch selber gesagt. Die
Sicherungsmechanismen, die davor bewahren sollen, dass
eine deutsche Armee jemals wieder gegen ihre eigenen
Bürger eingesetzt wird, sollen einem gesetzgeberischen
Aktionismus weichen. Zu derartigen Plänen kann ich für
die FDP-Fraktion nur erklären: Nicht mit uns!
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen alles daran setzen, um unsere Freiheit zu bewahren, auch wenn
das in mancherlei Hinsicht verwundbar macht. Nach unserer Auffassung ist unsere Freiheit das aber wert. Neue
und schärfere Gesetze sind gerade in den vergangenen
Jahren zur Genüge in Kraft getreten. Sie strapazieren die
Freiheit unserer Gesellschaft und jedes Einzelnen aus unserer Sicht schon genug. Belassen wir es dabei! Setzen wir
konsequent um, was uns der Rechtsstaat an die Hand gibt,
und vergessen wir dabei nie, dass es die Freiheit ist, um
die wir kämpfen!
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wir
stimmen sicherlich Ihrer Überschrift zu, aber auf gar keinen Fall Ihrem Antrag.
Vielen Dank.
({16})
Frau Kollegin Piltz, ich darf Ihnen zu Ihrer ersten Rede
im Deutschen Bundestag herzlich gratulieren.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Piltz, ich
möchte Ihnen zu Ihrer ersten Rede gratulieren. Sie war,
zumindest im ersten Teil, sehr erfreulich. Ich bitte Sie aber
- vielleicht könnten die Gratulanten aus der eigenen Fraktion das Zuhören ermöglichen -, Ihren Redetext den Mitgliedern Ihrer Landesregierungen zuzuschicken.
({0})
Denn ich entsinne mich noch an die Beratungen des Sicherheitspaketes: Gerade die von CDU und FDP regierten
Länder haben Verschärfungsanträge in den Bundesrat eingebracht.
({1})
Die FDP im Bundestag vertritt die gegenteilige Linie. Mal
sehen, was Herr Bouffier, ein christlich-liberaler Innenminister, nachher zu diesen Fragen zu sagen hat.
Die rot-grüne Bundesregierung bekämpft den Terrorismus in Deutschland mit allen legitimen Mitteln und mit
großem Erfolg. Unser zügig umgesetztes Antiterrorgesetz
greift in der Praxis. Die Festnahmen der letzten Tage zeigen eindeutig: Deutschland ist kein Platz, an dem sich
mutmaßliche Terroristen sicher fühlen können.
({2})
Im Gegenteil: Sie müssen mit dem energischen Zugriff
unserer Sicherheitsbehörden rechnen. Das ist gut so; denn
auf diese Weise reduzieren wir die Gefährdung durch terroristische Aktivitäten in unserem Land enorm. Wir machen es also nicht mit halber Kraft, wie Sie behauptet haben, Herr Bosbach, wir machen es mit klarem Verstand.
({3})
Honoriert wird unser erfolgreicher Kampf gegen den
Terrorismus von unserem wichtigsten Bündnispartner,
den USA. Ich erinnere nur an die in den letzten Tagen
gefallene Äußerung des amerikanischen Innenministers
Ashcroft, der sich unmittelbar nach dem Zugriff auf die
al-Qaida-Mitglieder bei der Bundesregierung für die gute
Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus bedankt hat - zu Recht.
Lassen Sie sich gesagt sein und nehmen Sie endlich zur
Kenntnis, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU: Rot-Grün handelt im Kampf gegen den Terror erkennbar erfolgreich und verlässlich. Sie dagegen re1474
den nur und versuchen, mit Anträgen, teilweise unausgegorenem Zeug und mit Dingen, die mit der Sache überhaupt nichts zu tun haben, die Bevölkerung und die innenpolitische Debatte zu irritieren.
({4})
Wenn zu lesen ist, dass selbst der Doppelpass eines der
zentralen Sicherheitsrisiken beim Kampf gegen den Terrorismus ist,
({5})
dann sieht man, dass es dem Antrag wirklich an Ernsthaftigkeit fehlt. Sie versuchen nach alter Manier, so wie
immer zwei Wochen vor einer Landtagswahl, das Thema
innere Sicherheit zu instrumentalisieren. Herr Koch
wird diese Debatte bestellt haben. Sie wollen Ängste
schüren. Sie verunsichern die Bevölkerung und stellen
Bedrohungsszenarien auf, die es nicht gibt. Das ist Wahlkampf à la CDU/CSU, wie wir ihn schon lange kennen:
substanzlos, polemisch und gegen Minderheiten gerichtet.
({6})
Meine Kollegin von der FDP, es war richtig, dass die
Koalition in der letzten Wahlperiode die beiden Antiterrorpakete auf den Weg gebracht hat. Viele Instrumente
waren notwendig, um unser Land sicher zu machen. Wir
haben, um nur ein Beispiel zu nennen, von der alten Bundesregierung eine Visadatei übernommen, die reiner Datenschrott war. In ihr wurde noch nicht einmal verzeichnet, ob der Antragsteller ein Visum bekommen hatte oder
ob wir Erkenntnisse hatten, dass wir es ihm verweigern
mussten. Da das nicht festgehalten worden ist, konnte derjenige, dem das Visum verweigert worden ist, am nächsten Tag im nächsten Land zu einer anderen Botschaft gehen, es bestellen und einreisen. Das kann es doch wirklich
nicht sein. Solche Dinge mussten wir ändern und wir haben sie geändert. Damit haben wir unser Land sicherer gemacht, ohne die Freiheitsrechte in diesem Land zu beschädigen oder zu gefährden.
({7})
Wir haben dafür gesorgt - das wurde schon angesprochen -, dass sich Vereine nicht hinter dem Religionsprivileg verstecken können und dadurch gegen Minderheiten
hetzen, zu Gewalt aufrufen und Terroranschläge finanzieren oder selbst vorbereiten können. In der Vergangenheit
hat es schon zwei Verbote gegeben, nämlich das des
Aachener Vereins Al-Aqsa und das des radikal-islamischen Kalifatstaats. Das war richtig, vernünftig und gut.
Gestern hat der Bundesinnenminister Hizb ut-Tahrir, die
Partei der Befreiung, verboten.
Wenn man ins Internet schaut - weil die Internetseiten
aus dem Ausland kommen, gibt es sie noch -, findet man
grässliches Zeug. Trotzdem wird man dort in den nächsten Tagen - auch das habe ich auf einer Seite gelesen einen Brief finden können, in dem sie sich als brave und
unschuldige, gewaltfreie Lämmer gerieren. Unter der
Überschrift „Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt ...“
steht dort: „Ihr sollt das hässliche Judengebilde vernichten ...“ und dergleichen mehr. Selbstverständlich ist das
untragbar. Solche Leute dürfen in unserem Land nicht
agitieren, sich nicht organisieren und für ihre Ziele nicht
werben.
({8})
Herr Innenminister, meine Fraktion unterstützt Ihr energisches und entschlossenes Vorgehen ausdrücklich. Diese
Maßnahme war dringend überfällig. Es ist gut, dass wir
die Rechtsgrundlage für solche notwendigen Maßnahmen
geschaffen haben.
({9})
Der 11. September hat uns eine neue schreckliche Dimension des internationalen Terrorismus vor Augen geführt. Selbstverständlich hat sich der Kampf gegen diese
Strukturen mit unseren beiden Sicherheitspaketen nicht
erledigt. Im Bereich des Vollzugs und der Umsetzung gibt
es noch viel zu tun. Wir meinen - dies haben wir uns in
der Koalitionsvereinbarung auch vorgenommen -, dass
die Arbeit der Geheimdienste dringend auf ihre Effizienz
hin, auf die Effizienz der Kontrolle und auf die Effizienz
der Zusammenarbeit der verschiedenen Dienste von Bund
und Ländern, überprüft werden muss. Wenn wir dabei
feststellen werden, dass es bei der Zusammenarbeit Verbesserungsmöglichkeiten gibt, dann werden wir sie sicherlich genauso auf den Weg bringen wie bei den Verbesserungen der Kontrollmöglichkeiten. Hier wird Rot-Grün
das Notwendige tun.
({10})
Trotz der vielen Fortschritte, die wir in der letzten Wahlperiode bereits erreicht haben, werden wir ein ambitioniertes Programm vorlegen.
Schauen Sie sich einmal an, was wir in der letzten
Wahlperiode getan haben. Das Innenministerium hat die
Einzelmaßnahmen zum Kampf gegen den Terrorismus
auf vier eng beschriebenen Seiten mit Spiegelstrichen
aufgeschrieben. All diese Maßnahmen atmen den Hauch
der Verhältnismäßigkeit.
({11})
Dabei wurde zwischen dem, was notwendig ist, und dem,
was für die Bürgerrechte und die Rechtsstaatlichkeit unseres Landes verträglich ist, abgewogen.
Der heutige Antrag der Union ist das glatte Gegenteil;
er ist voller Ladenhüter. Auch wenn Sie die Debatte über
die Fragen der Kompetenzen der Bundeswehr hier erneut
aufflammen lassen, werden Sie bei uns nicht auf offene
Türen stoßen. Art. 35 des Grundgesetzes ermöglicht es
uns, immer dann, wenn wir zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit zwingend auf die Fähigkeiten der Bundeswehr zurückgreifen müssen, im Rahmen der Amtshilfe
das Notwendige zu tun. Dafür gibt es hinreichende verfassungsrechtliche Grundlagen.
Volker Beck ({12})
Volker Beck ({13})
Es mag aber sein, dass es auch unterhalb der Ebene der
Verfassungsänderung die Notwendigkeit gibt, Verfahrensabläufe zwischen Bund und Ländern zu klären. Das kann
man nicht erst tun, wenn die Gefahr vor der Tür steht.
({14})
Wir müssen schauen, ob wir im Gesetz eine Präzisierung
bezüglich der Anwendung des unmittelbaren Zwangs
brauchen, um Rechtsklarheit für die Soldatinnen und Soldaten zu schaffen. Der Verteidigungsminister hat völlig
Recht: Er engagiert sich als Anwalt für die Soldatinnen
und Soldaten, um Rechtsklarheit bezüglich der Grundlagen zu schaffen. Ich bin trotzdem froh, dass der Bundeskanzler gesagt hat, dass es hierzu keine Grundgesetzänderung geben wird,
({15})
weil es keine Lücken gibt. Sie wollen diese Fragen ja auch
nicht klären.
({16})
Sie wollen einen Schritt in Richtung Militarisierung der
Innenpolitik gehen.
({17})
Deshalb führen Sie hier diese ideologische Debatte. Um
das tun zu können, was wir tun wollen, brauchen wir sie
nicht.
Herr Bosbach, genauso abwegig
({18})
war vorhin Ihre Einlassung zum Thema Kronzeugenregelung. Selbstverständlich haben wir in unserem Koalitionsvertrag vereinbart, eine allgemeine Strafmilderungsvorschrift, unter anderem für Präventions- und
Aufklärungsgehilfen, unter bestimmten Voraussetzungen
zu ermöglichen.
(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Ist das eine
Kronzeugenregelung?
- Das ist nicht der Weg zurück zur alten Kronzeugenregelung, dem schmutzigen Deal des Rechtsstaats mit
Schwerverbrechern, bei dem Mörder straffrei ausgehen,
obwohl sie möglicherweise noch nicht einmal eine richtige Aussage gemacht und andere fälschlicherweise belastet haben. Diesen schmutzigen Deal wird es nicht geben. Sie werden sehen: Wir werden etwas Vernünftiges,
Praktikables
({19})
und rechtsstaatlich Verantwortbares vorlegen, auch wenn
es Ihnen nicht gefällt.
Herr Kollege Bosbach, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede
gesagt, man brauche unbedingt mehr Rasterfahndung,
was auch die Sicherheitsbehörden forderten.
({20})
- Ich habe zur Kenntnis genommen, dass Sie dabei einen Sicherheitspolitiker zitiert haben. Ich meine, die
Union sollte, wenn ein hessischer Innenminister anwesend ist, besonders ruhig sein. Es war die Rasterfahndung in Hessen, die von den entsprechenden Gerichtshöfen wegen ihrer Rechtswidrigkeit außer Kraft gesetzt
wurde.
Erledigen Sie erst einmal Ihre Hausaufgaben. Machen
Sie die Sicherheitspolitik vor allen Dingen genauso
rechtsstaatlich wie diese Bundesregierung. Dann sprechen wir uns wieder.
({21})
Am besten - da schließe ich mich Herrn Kemper völlig
an - packen Sie diesen Antrag am 3. Februar, wenn der
Wahlkampf vorbei ist und wir ihn für diese Auseinandersetzung nicht mehr brauchen, einfach wieder ein. Seriöse
Substanz ist darin einfach nicht zu finden. Schließen Sie
sich den Initiativen dieser Koalition an. Dann sind Sie vor
allem in der Innenpolitik gut beraten.
({22})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Koschyk von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Kollege Beck, die bisherigen Maßnahmen von Rot-Grün
bei der Terrorismusbekämpfung atmen nicht, wie Sie uns
einreden wollen, den Hauch der Verhältnismäßigkeit, sondern die kalte Brise rot-grüner Uneinigkeit und Handlungsunfähigkeit wird in jeder Zeile der bisherigen Sicherheitspakete deutlich. Im Gegensatz zur FDP haben
wir sie übrigens mitgetragen. Aber wir haben bei der Verabschiedung immer deutlich gemacht, dass wir sie für unzureichend halten.
Wir wissen - darüber dürfen wir unsere Bevölkerung
nicht im Unklaren lassen -: Absoluten Schutz vor terroristischer Bedrohung kann und wird es nicht geben.
Aber es ist und bleibt Aufgabe verantwortungsvoller
Politik, alle Vorkehrungen für einen bestmöglichen
Schutz unserer Bevölkerung vor terroristischen Angriffen zu treffen.
({0})
Welche Aktualität unser heute vorgelegter Antrag hat, hat
nicht zuletzt die Frankfurter Flugzeugentführung, aber
auch die Verhaftung mutmaßlich hochrangiger jemenitischer Mitglieder des Terrornetzes al-Qaida in Frankfurt
gezeigt. Beide Ereignisse belegen: Der Abwehrkampf gegen den Terrorismus in Deutschland hat gravierende Sicherheitslücken. Wir meinen, dass die Bundesregierung
bislang noch nicht alle notwendigen Konsequenzen aus
den Ereignissen des 11. September gezogen hat.
({1})
Die Frankfurter Flugzeugentführung belegt, dass
die Bundesregierung auf einen derartigen Fall äußerst
dürftig vorbereitet ist: Uneinigkeit und Kompetenzstreit
statt sicherer Handlungsgrundlagen. In einem so wichtigen Bereich geht das so nicht. Herr Bundesinnenminister,
die Innenministerkonferenz hat bereits im Dezember 2001
wegen des Gefährdungspotenzials von Kleinflugzeugen
die Bundesregierung zu Aktivitäten aufgefordert. Wenn
ich gestern bei dem, was Herr Staatssekretär Körper in der
Fragestunde gesagt hat, richtig zugehört habe, dann muss
ich feststellen, dass außer der Umsetzung der EU-Richtlinie in diesem Bereich bislang zu wenig passiert ist.
({2})
Der Streit zwischen Ihnen, Herr Minister Schily, und
Herrn Verteidigungsminister Struck zeigt, dass selbst eineinviertel Jahre nach den Anschlägen vom 11. September
keine klaren Regelungen für den Einsatz der Bundeswehr bei einer Gefahr im Innern getroffen worden sind,
wie wir sie in unserem vorliegenden Antrag fordern. Es
reicht nicht, dass die Bundesregierung nach dem 11. September über ein Jahr braucht, um zu diesem Sachverhalt
erst einmal eine Arbeitsgruppe einzusetzen.
Wir meinen, dass die rechtlichen Grauzonen beseitigt
werden müssen und dass Art. 35 des Grundgesetzes geändert werden muss. Denn letztlich muss klar sein, wer in einer Krisenlage die Entscheidungsbefugnis besitzt, notfalls auch ein gefährliches Flugziel abschießen lassen zu
können. Solche Entscheidungen können nicht erst in der
Stunde der Gefahr getroffen werden.
Herr Minister Struck, wir teilen mit Ihnen die Auffassung, dass Soldaten, die in solchen Fällen auf Ihren Befehl hin unter Umständen auch Flugzeuge abschießen
müssten, nach der derzeitigen Rechtslage weder vor Strafverfolgung wegen vorsätzlicher Tötung noch vor Schadensersatzklagen geschützt sind. In den Medien wurde
heute darüber berichtet, dass Sie sich in diesem Sinne
geäußert haben.
Wir teilen Ihre Auffassung voll und ganz, auch dahin
gehend, dass die Verantwortlichkeit geklärt werden muss.
Denn wenn etwa bei dem jüngsten Zwischenfall der hessische Ministerpräsident die Zuständigkeit des Verteidigungsministers nicht akzeptiert hätte, dann wäre diese
Frage rechtlich umstritten gewesen. Eine verantwortliche
politische Führung erfordert Einigkeit, um handlungsfähig zu sein. Deshalb bieten wir Ihnen an: Wir treten
gerne mit Ihnen in Gespräche über die Beseitigung dieser
rechtlichen Grauzone und darüber ein, wie wir auch in der
Verfassung einwandfreie rechtliche Grundlagen für solche Fälle - auf die wir uns einstellen müssen; das hat der
Vorfall in Frankfurt deutlich gezeigt - schaffen können,
um zu klären, wie wir in dieser Frage zu einem politischen
Konsens kommen können.
({3})
Ein Wort zu der Verhaftung der zwei mutmaßlichen
al-Qaida-Mitglieder aus dem Jemen. In der Presse wurde
der Eindruck von Schlagkraft erweckt. Dieser Eindruck
hält aber einer ernsten Prüfung nicht stand. Bislang wurde
der Innenausschuss des Bundestages noch nicht über alle
Zusammenhänge der Verhaftung informiert, aber schon
die Berichterstattung in den Medien macht deutlich, dass
der Zugriff nicht auf eigene Initiative hin erfolgte, sondern lediglich auf Ersuchen der Amerikaner.
({4})
Die verhafteten Männer waren von den Amerikanern als
hochrangige al-Qaida-Mitglieder identifiziert worden; die
deutschen Behörden hatten offensichtlich keine eigenen
Erkenntnisse über die beiden. Das heißt, ohne Warnung
und Ersuchen der Amerikaner hätten sich die beiden in
Deutschland aufgehalten. Sie haben auch von den deutschen Behörden problemlos ein Visum erhalten, und zwar
obwohl der Jemen ein so genannter Problemstaat ist, bei
dem nach einer durch das Sicherheitspaket II eigens geschaffenen Vorschrift besondere Sicherheitsschranken
gelten sollen.
Es muss auch zu denken geben, dass die Bundesregierung nach eigenen Angaben in der Fragestunde des Bundestags allein im vergangenen Jahr 300 000 Visa für Angehörige aus so genannten Problemstaaten erteilt hat.
Das alles zeugt nicht von Schlagkraft, sondern es
macht deutlich, dass es Sicherheitslücken gibt, die dringend und schnell geschlossen werden müssen. Weil wir in
der Analyse der Sicherheitslage einig sind, müsste es doch
möglich sein, auch einmal vorbehaltlos über unsere Vorschläge und Anregungen zu diskutieren. Die alte Spielregel „Die Konkurrenz hat immer Unrecht, auch wenn sie
Recht hat“ sollte bei einem so wichtigen Thema nicht gelten.
({5})
Wir wollen mit unserem Antrag zwei Ziele erreichen.
Zum einen wollen wir den notwendigen Sicherheitsgewinn ermöglichen. Die Schutzlücken müssen beseitigt
werden. Wir wollen aber zum anderen auch eine gesellschaftliche Debatte über die Grenzen von Toleranz anstoßen; denn wir sind überzeugt, dass der Kampf gegen
den Terrorismus nicht nur Angelegenheit von Polizei, Sicherheitsdiensten und schärferen Gesetzen ist, sondern
wir müssen auch über die gesellschaftspolitische Dimension dieses Themas diskutieren.
Ich will noch auf das eingehen, was Sie zum Thema
Regelanfrage beim Verfassungsschutz im Einbürgerungsverfahren ausgeführt haben, Herr Kemper. Sind Sie
nicht mit mir einer Meinung, dass es keinen Sinn macht,
wenn wie in Schleswig-Holstein eine solche Anfrage nur
mit Zustimmung des Betroffenen erfolgen kann? Das ist
doch weiße Salbe.
({6})
Weil die bisherigen Verbotsverfahren gezeigt haben, dass
es sich nicht mehr nur um ein Ausländer-, sondern auch
um ein Inländerproblem handelt, ist auch im Einbürgerungsverfahren die Regelanfrage notwendig, damit wir
doppelt hinsehen, wer aus einem solchen Bereich deutscher Staatsbürger wird.
Lieber Herr Bundesinnenminister, es fällt schon auf,
dass die Verbotsverfahren immer kurz vor Wahlen erfolgen. Wir begrüßen diese Verbotsverfahren. Aber die beiden ersten fanden kurz vor der Bundestagswahl statt.
Zwei Tage vor der Bundestagswahl haben Sie die Ausweisung von Kaplan zu einem großen Thema gemacht.
Jetzt, kurz vor den Wahlen Anfang Februar, erfolgt wieder ein Verbotsverfahren und wird das Thema Kaplan
wieder hochgezogen. Wir wollen, dass unabhängig von
Wahlterminen und möglichst in einem großen politischen
und gesellschaftlichen Konsens entschieden gegen terroristische Gefahren in unserem Land vorgegangen wird.
({7})
Lassen Sie mich noch einen Satz zur gesellschaftlichen
Dimension dieses Themas sagen. Wir müssen uns fragen,
wie viel Unterschiedlichkeit ein Land verträgt und wie
viel Gemeinsamkeit es braucht, um seine innere Bindungskraft und seine Widerstandsfähigkeit gegenüber extremistischen Strömungen zu behaupten. Wir wissen bzw.
müssen zur Kenntnis nehmen, dass es bei Zuwanderern
aus fremden Kulturkreisen eine deutliche Tendenz zu Parallelgesellschaften gibt, in denen sie sich von unserer
Werte- und Gesellschaftsordnung abschotten, ja, sie sogar
massiv bekämpfen.
({8})
Darin zeigt sich, Herr Kollege Veit, auch die ganze Problematik der rot-grünen Zuwanderungspolitik, die die Integration der bereits hier lebenden Ausländer vernachlässigt und die Zuwanderung trotzdem massiv ausweiten
will.
({9})
Deshalb müssen wir die neu eröffnete Zuwanderungsdebatte nicht nur unter dem Gesichtspunkt ökonomischer
und sozialer Verträglichkeit von Zuwanderung nach
Deutschland führen, sondern bei dieser Debatte auch dem
Sicherheitsaspekt und der Frage des inneren Friedens in
unserem Land eine zentrale Bedeutung beimessen. Im Interesse der Sicherheit unserer Bürger müssen wir dafür
Sorge tragen, dass unser Zuwanderungs- und Ausländerrecht nicht auch weiterhin dazu führt, dass Deutschland
Ruhe- und Aktionsraum für islamistische Terroristen ist.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelie SonntagWolgast von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass der vornehmlich islamistisch geprägte internationale Terrorismus auch
unser Land bedroht. Es gibt ebenso wenig Zweifel daran,
dass nicht nur die Sicherheitsdienste, sondern auch die
Parlamentarier zu äußerster Wachsamkeit aufgerufen
sind. Es ist richtig, dass sich die Lage seit dem 11. September 2001 nicht entspannt hat. Wir haben also keinen
Anlass, das Problem zu verharmlosen, aber, meine Damen
und Herren, auch keinen Anlass zu Panik und Psychose.
Diese Regierung und die sie tragenden Fraktionen haben umfassende Maßnahmen eingeleitet, um die Gefahren durch Gesetze sowie durch operative und organisatorische Vorkehrungen zu Lande, zu Wasser und in der Luft
einzudämmen. Personen, Gebäude und sensible Einrichtungen werden stärker bewacht, Kontrollen wurden
verschärft, BGS-Beamte als Sky Marshalls geschult,
mögliche Kommunikationswege des internationalen Verbrechens unter die Lupe genommen, das Vereinsrecht
wurde geändert und die Befugnisse der Sicherheitsbehörden mit ihren Kooperationsmöglichkeiten untereinander
haben wir erweitert. Der Haushalt des Bundesministeriums des Innern weist trotz der angespannten Finanzlage
deutliche Steigerungsraten auf; mein Kollege Kemper ist
darauf eingegangen. All dies und vieles mehr dient der
Wahrung und Stärkung der Sicherheit und insbesondere
dem Kampf gegen den Terrorismus.
Meine Damen und Herren, wenn man sich nun den umfangreichen Antrag der Unionsfraktion anschaut, muss
man streckenweise den Eindruck gewinnen, ihre Verfasser
lebten in einem anderen Staat. Offenbar wollen Sie, liebe
Kollegen und Kolleginnen, einfach nicht wahrhaben, was
alles geschehen ist, was weiter geschieht und was wir in
der zurückliegenden Legislaturperiode gemeinsam beschlossen haben. Sie wollen offensichtlich nicht eingestehen, dass diese Regierung entschlossen handelt.
({0})
Ich gebe gern zu, dass uns diese Art des Terrorismus
immer wieder vor unvorhergesehene Fragen stellt, mit denen wir nicht gerechnet haben. Freilich geht es zuweilen
auch um Themen mit ganz anderem Hintergrund, die aber
Assoziationen zu den schrecklichen Anschlägen auf das
World Trade Center und das Pentagon erwecken, wie wir
es kürzlich erlebten, als ein vermutlich geistesgestörter
Mann über das Frankfurter Bankenviertel flog. Abgesehen von der Frage nach der verfassungsrechtlichen Legitimation möglicher Bundeswehreinsätze, die ich durch
Art. 35 des Grundgesetzes gedeckt sehe, sollten wir uns
darüber einig sein, dass es eine schleichende Durchmischung bei der Zuständigkeit für die Gefahrenabwehr im
Inland nicht geben darf.
({1})
Kehren wir zum - leider - real existierenden Terrorismus zurück und halten wir fest: Die beiden Gesetzeswerke, die so genannten Antiterrorpakete I und II, die
wir beschlossen haben, bieten, Frau Kollegin Piltz, ein
breit gefächertes Instrumentarium und sie greifen - das
haben Sie richtig dargestellt - auch in sensible Bereiche
des Datenschutzes und der persönlichen Rechte ein. Sie
sind so umfassend, dass wir in Teilen eine Befristung beschlossen haben. Wir werden also nach einer gewissen
Zeit die Tauglichkeit und die Tragfähigkeit dieser Gesetze
überprüfen. Sie müssen jetzt ihre Wirkung entfalten, das
heißt, von den Sicherheitsorganen und ihren Mitarbeitern
ausgeschöpft werden. Das geschieht beispielsweise auch
mit den jüngst ergangenen Verboten.
Herr Kollege Koschyk, schade, dass Sie gerade telefonieren, aber ich muss in diesem Moment sagen: Sie können doch unseren Sicherheitskräften nicht unterstellen,
dass sie möglicherweise bis zu Wahlen oder zum Weihnachtsfest abwarteten oder nach irgendwelchen Erfolgen
bzw. nach irgendwelchem Applaus schielten, wenn sie sich
genötigt fühlten, eine Festnahme im Sinne dieser Gesetze
vorzunehmen. Das kann doch wohl nicht sein. Sie müssen
eine solche Behauptung bzw. Vermutung zurücknehmen.
Das hat nun wirklich nichts mit Wahlen zu tun.
({2})
Mir drängt sich der Eindruck auf, dass Sie bei Ihrem
Antrag auf der Suche nach möglichen Lücken oder Mängeln vorgegangen sind wie jemand, der sich in eine eigentlich gut gepflegte Grünanlage begibt und nun mühsam nach irgendwelchen Abfallresten Ausschau hält.
({3})
Der Wortreichtum, den Sie entfalten, ersetzt freilich nicht
die gebotene Überzeugungskraft und Stringenz. Was bezwecken Sie eigentlich mit Ihrer kampagnenartigen
Schelte der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, das
angeblich - ich betone das - kriminellen Ausländern den
Zugang in die Bundesrepublik ebnet? Gerade das reformierte Einbürgerungsrecht - Herr Grindel, das wissen Sie
ganz genau; jedenfalls sollten Sie es wissen - fordert ein
klares Bekenntnis zum Grundgesetz und zum friedfertigen Leben hier und verschließt sich denjenigen, die die
Normen unseres Rechtsstaates unterlaufen, und zwar klarer, als es die alten Vorschriften verlangten.
({4})
Sie ignorieren die integrationsfördernde und Frieden stiftende Wirkung des neuen Staatsangehörigkeitsrechts. Es
hat doch eine ganz andere Wirkung, als Sie es darstellen.
Des Weiteren fordern Sie die konsequente Abschiebung derer, die nach abgelehntem Asylantrag unseren
Schutz nicht brauchen, schärferes Vorgehen gegen solche,
die ihre Ausweisung mit Tricks und Täuschungen verhindern, sowie ein genaueres Hinsehen, wer in unser Land
kommt. All das enthält unser Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes, den Sie mit finsterer Entschlossenheit ablehnen und bekämpfen. Herr Kollege Koschyk, Sie haben
Ihre Kritik an den geplanten Regelungen - das wurde eben
in Ihrer Rede deutlich - mit einer pauschalen Fremdenfeindlichkeit verbunden.
({5})
Wir wenden uns konsequent dagegen.
({6})
So inkonsequent, wie Sie vorgehen, so bar jeder besseren
Einsicht - diese müssten Sie eigenlich haben; denn Sie
kennen ja die Gesetze - kann nur eine Partei handeln, die
sich vergeblich bemüht, die Kompetenz in Fragen der inneren Sicherheit zurückzugewinnen.
Sie verlangen die Aufnahme biometrischer Daten in
Legitimationspapiere. Ich möchte Ihnen dazu sagen
- Frau Piltz hat das bereits angesprochen -: Kaum eine andere Regierung bemüht sich so beharrlich um einheitliche
europäische Regelungen wie die Bundesregierung. Ein
weiteres Beispiel: Die Einführung eines bundesweit einheitlichen Digitalfunks für die Sicherheitsbehörden und
-verbände wird mit Nachdruck betrieben, muss aber technisch organisiert und gemeinsam mit den Ländern und
Kommunen auch in ihren finanziellen Auswirkungen bewältigt werden. Es sollte Ihrer Aufmerksamkeit ebenso
wenig entgangen sein, dass seit Jahresbeginn - Kollege
Kemper ist schon kurz darauf eingegangen - die Koffer in
den Verkehrsflughäfen vollständig und mit modernen
technischen Methoden kontrolliert werden. Auch das ist
ein wichtiger Schritt zur Vorbeugung krimineller Übergriffe auf Flugzeuge.
Der Kampf gegen den Terrorismus ist nun wahrhaftig
eine langwierige Aufgabe. Sie fordert Fantasie und den
Willen zur Verbesserung; das ist ganz klar. Er lebt auch
vom reibungslosen Zusammenspiel der Sicherheitskräfte.
Er verlangt engste Kooperation und Kommunikation.
Doch die strikte Aufgabenteilung zwischen den Diensten
und bei der Gefahrenabwehr hat sich im Wesentlichen bewährt. Die Menschen haben Anspruch auf bestmöglichen
Schutz und Vorsorge, aber auch auf ein Vorgehen unsererseits mit Augenmaß, mit Besonnenheit und mit Sachlichkeit. Verstörte, verschreckte und unsichere Menschen
handeln unkontrolliert. Sie büßen das ein, was wir ihnen
in unserem Rechtsstaat nun wirklich garantieren wollen:
die Freiheit von Angst. Deswegen gilt: Nachhilfestunden
in Wachsamkeit gegenüber dem Terrorismus haben wir
nun wahrhaftig nicht nötig.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Funke von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es
um Gesetzesvorhaben geht, die zur Bekämpfung des Terrorismus erforderlich sind, wird die FDP-Fraktion ihre
Zustimmung sicherlich nicht verweigern. Maßnahmen,
die zur Verbesserung der inneren Sicherheit wirklich geboten sind, werden von uns natürlich mitgetragen. Das
war in der Vergangenheit auch nie anders.
Beim Sicherheitspaket Schily II waren wir allerdings
kritisch. Bis heute ist die Effizienz der damals beschlossenen Maßnahmen nicht hinreichend belegt.
({0})
Meine Damen und Herren, Sie alle haben hoffentlich
ein gutes Gedächtnis. Das Verfahren bei Schily II
konnte auf keinen Fall rechtsstaatlichen Gesichtspunkten genügen.
Bevor man überhaupt über weitere Verschärfungen
nachdenken darf, müssen zunächst einmal die Auswirkungen der Sicherheitspakete I und II auf die Arbeit der
Sicherheitsbehörden richtig untersucht werden.
({1})
Vor der Ausweitung der Befugnisse von Sicherheitsbehörden im Bereich der Terrorismusbekämpfung muss
auch eine wissenschaftliche Bewertung der bestehenden
Kompetenzen und deren Auswirkungen auf die Grundrechte erfolgen. Hierzu - jetzt ist der Bundesinnenminister leider nicht hier ({2})
wäre ein Bericht der Bundesregierung sicherlich wünschenswert. Der Bundestag sollte einen solchen Bericht
auch einfordern.
({3})
Jeder, der neue gesetzliche Maßnahmen fordert, ist auch
in der Pflicht, deren Notwendigkeit zu beweisen.
Ein Staat, der die Freiheit seiner Bürger wirkungsvoll
schützen will, braucht leistungsfähige Instrumente im
Kampf gegen Terroristen, die sich mit ihren Aktivitäten ja
immer auch gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richten. Primat dabei hat aber immer die optimale Ausnutzung der bereits vorhandenen Möglichkeiten
und Mittel. Wir brauchen eine personell und technisch optimale Ausstattung von Polizei, Justiz und Nachrichtendiensten. Die Instrumente dürfen nicht aufgrund von finanziellen Erwägungen in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt
werden, wie dies unter dem Diktat der leeren Kassen ja leider allzu häufig passiert. Bezüglich der besseren Koordinierung der Polizeiarbeit besteht weiterhin Handlungsbedarf. In diesem Bereich müssen Doppelzuständigkeiten
vermieden und die Effizienz gesteigert werden, sowohl
auf nationaler Ebene als auch bei der Zusammenarbeit mit
unseren europäischen Partnern; darauf hat meine Kollegin Frau Piltz schon hingewiesen.
Wo es darum geht, bestehende Instrumente polizeilichen Vorgehens rechtsstaatlich auszugestalten, werden wir
uns einer konstruktiven Diskussion nicht verschließen.
Die Rasterfahndung beispielsweise kann als Mittel der
Terrorismusbekämpfung durchaus erforderlich sein. Aber
ohne richterliche Anordnung und ohne die Möglichkeit
nachträglicher gerichtlicher Kontrolle wird sie den Anforderungen eines rechtsstaatlichen Gemeinwesens nicht
gerecht.
({4})
Auch bei dem Einsatz verdeckter Ermittler besteht weiterer Handlungsbedarf.
Wir haben in Deutschland in erster Linie ein Vollzugsdefizit. Dies gilt nicht nur für die Polizei und die Ermittlungsbehörden, sondern auch hinsichtlich der Zügigkeit
von Verhandlungen und Ermittlungen. Natürlich soll unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten gegen Terrorismus
ermittelt werden. Es gibt jedoch ein altes deutsches
Sprichwort, das heißt: Wer schnell gibt, gibt doppelt. Das
gilt natürlich auch für unser Justizwesen. Das Vertrauen in
unseren Rechtsstaat wird beim Bürger nicht dadurch gestärkt, dass sich die Ermittlungen über Monate, manchmal
über Jahre erstrecken und sich die Gerichtsverfahren
ebenfalls über Monate und Jahre hinziehen.
Wir müssen die Justiz auch personell so ausstatten,
dass zur Bekämpfung des Terrorismus ausreichend
Staatsanwälte und Richter vorhanden sind. Dies darf aber
nicht in der Weise geschehen, dass man wieder irgendwelche Löcher dadurch stopft, dass man zum Beispiel
Richter in Terrorismusbekämpfungsabteilungen versetzt
und dadurch die Abteilungen, in denen sie bisher tätig waren, schwächt. Vielmehr sollte man zusätzliche Mittel zur
Bekämpfung des Terrorismus bereitstellen. Die innere
und äußere Sicherheit sind Kernaufgaben des Staates. Da
kann und darf nicht gespart werden.
Die hier von der CDU/CSU vorgeschlagenen Regelungen sind zum großen Teil bereits Gegenstand der Beratungen über das Sicherheitspaket II im Jahre 2001 gewesen. Bei einer Expertenanhörung im Innenausschuss im
Jahre 2001, Herr Bosbach, sind Ihre Vorschläge von fast
allen Experten verworfen worden.
Bei jeglichem Vorgehen gegen terroristische Aktivitäten steht für uns eine grundrechtsorientierte Politik im
Mittelpunkt. Das bedeutet, dass jedes staatliche Handeln
rechtsstaatlichen Anforderungen genügen muss. Ein
grundrechtssensibles Tun der Sicherheitsbehörden bedarf
dabei grundsätzlich der vorherigen richterlichen Genehmigung. Für den Betroffenen muss eine nachträgliche gerichtliche Kontrolle möglich sein. Das setzt eine Mitteilung an ihn voraus.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Silke
Stokar von Neuforn vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die spannendste Frage im bisherigen Verlauf dieser Debatte lautet:
Wo steht eigentlich die FDP? Viele FDP-Abgeordnete
sind ja nicht mehr anwesend. Der erste Redebeitrag hat
mir natürlich sehr gefallen. Herzlichen Glückwunsch! Ich
habe schon gedacht: Das ist ja fast meine Rede.
({0})
Vielleicht sollten Sie klären, in welche Richtung die FDPBundestagsfraktion gehen will.
({1})
Wir können und wollen mit der Bedrohung durch den
internationalen Terrorismus nicht dauerhaft leben. Unsere
Gesellschaft, unsere Demokratie können dies auf Dauer
nicht aushalten. Die Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus hat für uns in der Innen- und
Außenpolitik oberste Priorität. Ich setze diesen Satz bewusst an den Anfang, weil die Mitglieder der CDU/CSUFraktion hier immer wieder versuchen, den Eindruck zu
erwecken, sie seien die Einzigen, die sich darüber Gedanken machen, wie man für die Sicherheit der Bürgerinnen
und Bürger in unserem Lande sorgen kann.
Ich sage aber auch: Ich wünsche mir in dieser innenpolitischen Debatte genauso viel Nachdenklichkeit und
Verantwortungsbewusstsein wie in der Debatte über
Krieg und Frieden. Wir entscheiden über die Anwendung
staatlicher Gewalt, über den Bestand von Werten und
Normen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. In anderen Debatten erheben Sie auch immer wieder die Forderung nach Anwendung staatlicher Gewalt. Der Umgang
mit den höchsten Grundwerten unserer Verfassung ist mir
zu leichtfertig. Ich wünsche mir hier gerade von den
Volksparteien CDU und CSU etwas mehr Verfassungspatriotismus.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion,
Sie versuchen mit Ihrem Antrag den Eindruck zu erwecken,
man könne mit immer neuen Gesetzesverschärfungen den
Terrorismus ausrotten. Diese Suche nach Sicherheit im
Recht hat längst die Grenzen effektiver Wirksamkeit
überschritten.
({2})
Sie überfordert unsere Verfassung und gefährdet die
Werte, die Sie vorgeben verteidigen zu wollen.
Meine Damen und Herren, es ist in den vergangenen
Tagen im Zusammenhang mit dem Frankfurter Luftzwischenfall viel über formale Zuständigkeiten und über Befehlsketten diskutiert worden. Zu wenig wurde mir über
politische und persönliche Verantwortung in Grenzsituationen diskutiert. Mir war die offensichtliche Unsicherheit unseres Verteidigungsministers Peter Struck in dieser
Grenzsituation sympathisch. Die Frage, ob ein Flugzeug
über Deutschland abgeschossen werden darf oder nicht,
kann nicht durch eine Grundgesetzänderung beantwortet werden.
({3})
In so einer Lage muss abgewägt werden, wie viele unschuldige Menschen geopfert werden dürfen, um vielleicht eine noch höhere Anzahl von Opfern zu verhindern;
diese Güterabwägung wirft für mich erst einmal ethische
und moralische Fragen auf, die sich nicht durch eine formale Rechtsdiskussion beantworten lassen.
({4})
Eine Debatte nach dem Motto: „Schaff mir die Rechtsgrundlage, dann mache ich alles!“, ist für mich typisch
deutsch. Die legitimen Mittel eines demokratischen
Rechtsstaates sind begrenzt. Dies muss man gerade den
Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion immer wieder sagen.
Es war Gerhard Schröder - ich meine jetzt nicht unseren
hochgeschätzten Bundeskanzler, sondern den damaligen
CDU-Innenminister -, der 1958 den ersten Entwurf zum
Einsatz der Armee im Innern vorlegte. Danach war der
CDU völlig willkürlich jeder Anlass recht - seien es die
großen Streiks, die RAF oder sogar der angeblich für
Deutschland gefährliche Zustrom von Bürgerkriegsflüchtlingen -, um aus ihren Reihen den Einsatz der Bundeswehr im Innern zu fordern.
({5})
- Nein, das ist kein dummes Zeug. Ich habe diese Debatte
verfolgt. Schon damals, in der Auseinandersetzung um
die Notstandsgesetze, war das Kernpunkt Ihrer Politik.
Ihre Innenminister sagten: Wir wollen den Einsatz der
Bundeswehr im Innern.
Diese Grundgesetzbestimmung, die Trennung von Polizei und Militär, ist aus guten historischen Gründen eine
Grundlage unserer Verfassung.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bosbach?
Herr Präsident, ich erlaube keine Zwischenfrage, da
ich nur sieben Minuten Redezeit habe.
({0})
Meine Damen und Herren, Sie sprechen in Ihrem Antrag von einer neuen Sicherheitsarchitektur. Aber auf die
wirklichen Herausforderungen, die neu sind, gehen Sie
mit keinem Satz ein. Sie bringen wirklich nicht einen einzigen neuen Aspekt in die Debatte ein. In der Frage der
Einreise von Terroristen gehen Sie immer noch davon aus,
als ob Deutschland komplett von eigenen Außengrenzen
umgeben wäre. Wir leben in einem europäischen Rechtsraum und haben europäische Außengrenzen. Es ist völlig absurd, zu glauben, dass man mit dem Schließen der
vielen von Ihnen entdeckten - angeblichen - Gesetzeslücken die europäischen Grenzen dicht machen könnte.
Dies ist eine absurde Vorstellung.
Wir in Deutschland müssen Konzepte - ich sehe, dass
die rot-grüne Bundesregierung diese Aufgabe angepackt
hat - für diesen neuen europäischen Raum entwickeln.
Das heißt, wir müssen uns ganz konkret Gedanken darüber machen, wie eine europäische Grenzpolizei konzipiert sein könnte und welche weiteren Veränderungen in
diesem Zusammenhang auf den Bundesgrenzschutz zukommen. Über diese Dinge würde ich mit Ihnen ganz
gerne streiten.
({1})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie
schränken die Debatte unzulässig ein, wenn Sie glauben,
dass in einer permanenten Erweiterung der Eingriffsbefugnisse der Weg zu mehr Sicherheit bestehe. Wir sind
längst an einem Punkt, wo wir eine Strukturdebatte über
den Aufbau von Sicherheitsbehörden in Deutschland und
eine Debatte über Qualitäts- und Effektivitätsverbesserungen bei diesen brauchen. Es geht nicht mehr um eine
Erweiterung von Eingriffsbefugnissen.
Aber lassen Sie mich auch dies zum Schluss sagen,
meine Damen und Herren: Wir können Demokratie nicht
allein in Europa durchsetzen. Vielmehr müssen wir einen
Beitrag dazu leisten, dass unsere Werte wie Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat global und weltweit
Gültigkeit bekommen. Wir dürfen diese Grundwerte nicht
in unserem eigenen Land zerstören, sondern müssen ihnen weltweit Geltung verschaffen.
Ich denke - mein letzter Satz, Herr Präsident -, der
beste Beitrag, den Deutschland zu mehr Sicherheit leisten
kann, ist die Unterstützung von friedlichen Lösungen im
Irakkonflikt.
({2})
Hier wünsche ich mir die Geschlossenheit aller Fraktionen im Bundestag.
Danke schön.
({3})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Wolfgang Bosbach von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Ich mache diese Kurzintervention nur, weil die Kollegin - was ihr Recht ist - keine Zwischenfrage zugelassen
hat.
({0})
Sie haben in Ihrer Rede behauptet, Repräsentanten der
Union hätten in der Vergangenheit den Einsatz der Bundeswehr im Innern gefordert, um unter anderem den Zustrom von Bürgerkriegsflüchtlingen verhindern zu können. Das ist nicht nur frei erfunden und glatt erlogen,
sondern diese Behauptung ist auch infam.
({1})
Ich fordere Sie auf, Frau Kollegin, in Ihrer Replik entweder sofort den Beweis für diese Behauptung anzutreten
und zu sagen, wer wann wo was gefordert hat, oder sich
von dieser Behauptung zu distanzieren. Ich meine, da
wäre auch ein Ausdruck des Bedauerns angebracht.
Bei allem, was wir hier kontrovers austragen, sind zwei
Dinge immer wichtig: Erstens müssen Tatsachenbehauptungen, die aufgestellt werden, stimmen.
({2})
Zweitens sollte man sich, wenn man den politischen Gegner attackiert, zumindest darum bemühen, oberhalb der
Gürtellinie zu bleiben.
({3})
Frau Kollegin Stokar von Neuforn, Sie haben das
Recht zur Erwiderung.
Herr Kollege Bosbach, ich muss Sie sehr enttäuschen:
({0})
Ich bin nicht bereit, die Äußerung, die Sie im Protokoll
nachlesen können, zurückzunehmen. Ich habe in meiner
Rede gesagt, dass aus den Reihen der CDU/CSU-Innenpolitiker der Einsatz der Bundeswehr im Innern gefordert
wurde, auch im Zusammenhang mit der Debatte um den
Zuzug von Bürgerkriegsflüchtlingen.
({1})
- Herr Kollege Bosbach, Sie haben keinen Anspruch auf
einen Sofortbeweis.
({2})
Ich werde Ihnen das gerne aus dem Internet holen. Ich habe
gestern Abend dazu eine umfangreiche Recherche durchgeführt und bin gerne bereit, Ihnen das Material zu geben.
({3})
Aber stellen Sie sich nicht hier hin und machen solche
Äußerungen. Gehen Sie selbst einmal ins Internet und geben Sie in eine Suchmaschine - falls Sie damit umgehen
können - die Wörter „CDU“, „Einsatz der Bundeswehr
im Innern“ und „Notstandsgesetze“ ein und schauen Sie,
was seit 1958 vonseiten der CDU/CSU zu diesem Thema
gesagt wurde.
({4})
Sie werden überrascht sein, was Sie dort alles finden.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Herrmann von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt hat der Kollege
Herrmann das Wort.
Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Welt hat sich nach den Anschlägen
in den USA drastisch verändert. Die gestiegene Bedrohung der Bevölkerung durch extremistische und terroristische Aktionen hat alle Sicherheitsbehörden auf den Plan
gerufen. Eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen
wurde bereits verabschiedet und hat dazu beigetragen,
dass erste Fahndungserfolge erzielt werden konnten.
Für mich steht jedoch außer Frage, dass wir noch nicht
ausreichend auf die Bekämpfung bereits heute bestehender, aber auch künftiger Gefahren vorbereitet sind. Der
von der CDU/CSU eingebrachte Antrag zur Bekämpfung
von Terrorismus und Extremismus leistet hier einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung dieser Aufgabe. Kollege
Kemper und Kollegin Piltz, Sie haben über innere Sicherheit gesprochen. Aber wir, die CDU/CSU, sorgen dafür,
dass die rechtlichen Möglichkeiten dafür geschaffen
werden.
({0})
Zielorientiert, praxisnah und konsequent zeigt unser
Antrag auf, wie die globale Gefahr von Extremismus und
Terrorismus bekämpft werden kann. Insbesondere die Zusammenarbeit der verschiedenen Behörden wird angesprochen und gestärkt. Denn eines ist uns in den zurückliegenden Monaten sicherlich klar geworden: Innere und
äußere Sicherheit lassen sich nicht mehr voneinander getrennt betrachten. Die Handlungsfelder Inneres und
Äußeres sowie Verteidigung müssen jetzt und heute sinnvoll miteinander vernetzt werden.
({1})
Wir sind gefordert, eine neue Sicherheitsarchitektur
für Deutschland im internationalen Kontext zu entwerfen.
Dabei kommt es darauf an, den größtmöglichen Schutz
unserer Bevölkerung zu gewährleisten und gleichzeitig
allen staatlichen Organen entsprechende rechtliche Instrumente an die Hand zu geben. Ich begrüße es daher
ausdrücklich, dass mit den von uns eingebrachten Vorschlägen praxisnahe Lösungen ermöglicht werden. Herr
Kollege Bosbach hat dies in seiner Rede anschaulich dargestellt. Diese Vorschläge ermöglichen operative Maßnahmen, die sich am Erforderlichen orientieren. Die Wiedereinführung der Kronzeugenregelung in diesem
Zusammenhang ist zwingend erforderlich.
({2})
- Sie brauchen gar nicht darüber zu schimpfen. Sie sollten sich lieber einmal die Praxis anschauen. Der Einsatz
verdeckter Ermittler im terroristischen Bereich - das sage
ich hier ganz deutlich - bringt keinerlei Erfolg.
({3})
- Der verdeckte Ermittler im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung kann effektiv eingesetzt werden, Herr
Ströbele. Aber der Einsatz des verdeckten Ermittlers im
terroristischen Bereich ist nicht effektiv. Es wäre dasselbe, als wenn man versuchen würde, Sie unserer Fraktion unterzuschieben. Das würde sofort auffallen.
({4})
- Dem stimme ich zu. Außerdem würde es keinen Erfolg
zeigen.
Sicherlich ist es auch erforderlich, dass biometrische
Daten in Ausweispapieren verwendet werden. Außerdem
ist der verstärkte Austausch von Erkenntnissen zwischen
den Diensten sehr wichtig, damit es keine Reibungsverluste gibt. Falsch verstandener Liberalismus und inkonsequentes Vorgehen gegen Extremisten und Terroristen werden dazu beitragen, dass sich die so genannten Schläfer
auch weiterhin in Deutschland heimisch fühlen. Verbrecher wie Atta müssen aufgespürt, von unseren Polizeikräften verfolgt und durch die zuständigen Behörden ausgewiesen werden. In der Bevölkerung herrscht mittlerweile
der Eindruck vor, dass erst etwas Gravierendes passieren
muss, damit der Staat entschieden gegen Rechtsbrecher
vorgehen kann bzw. dazu in die Lage versetzt wird.
Gestern, Herr Innenminister, wurde die bundesweit
operierende Vereinigung „Hizb ut-Tahrir el Islami“ verboten. Das ist der richtige Weg. Aber damit ist nur ein Teil
der Arbeit getan. Bei begründetem Terrorismusverdacht
sollten die Täter sofort ausgewiesen werden. Das wäre
konsequent.
({5})
Ansonsten bildet sich im Anschluss an das Verbot eine
neue Gruppierung, die unter einem anderen Namen auftritt. Herr Ströbele, es ist aus der polizeilichen Praxis bekannt, dass sich Organisationen, die verboten werden, auf
anderen Feldern betätigen. Das Ausweisungsgebot auch
für einen Großteil der rund 60 000 in Deutschland lebenden Personen, die als Mitglieder extremistischer Organisationen bekannt sind, wäre letztendlich folgerichtig.
Die Ereignisse in Frankfurt, als ein geistig verwirrter
Mann die Metropole in Angst und Schrecken versetzte,
haben gezeigt, wie dringend erforderlich die enge Zusammenarbeit der verschiedenen staatlichen Institutionen
ist. Die Diskussion um den Einsatz der Bundeswehr im
Inland wird uns noch beschäftigen müssen, nicht nur aus
einsatztaktischer, sondern auch aus verfassungsrechtlicher Sicht. Es freut mich daher besonders, dass sich der
Verteidigungsminister in der Frage einer Grundgesetzänderung bezüglich eines Einsatzes der Bundeswehr im Inland der CDU/CSU-Position deutlich genähert hat.
Ziel der sich nun anschließenden Diskussion muss eine
klare gesetzliche Regelung sein, die den Verantwortlichen
uneingeschränkte Planentscheidungen ermöglicht. Es darf
keinen Kompetenzstreit oder keine zeitlichen Verzögerungen bei der Lagebewältigung geben. Wir dürfen Polizeiführer oder Kommandeure von Bundeswehreinheiten
bei ihren weitreichenden Entscheidungen nicht im Regen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
stehen lassen. Die Politik muss sich daher als zuverlässiger Partner an ihrer Seite befinden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bereits bei der Terrorismusbekämpfung in den vergangenen Jahrzehnten - ich
erinnere hier insbesondere an die Zerschlagung der RAF war Deutschland immer bemüht, konsequent und mit aller
Härte gegen die Urheber der Gewalt vorzugehen. Auch in
der heutigen Zeit ist dies der einzig gangbare Weg. Null
Toleranz gegen all diejenigen, die terroristische Aktivitäten unterstützen, die Menschen als „weiche Ziele“ für ihre
Anschläge auswählen oder extremistisches Gedankengut
verbreiten.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Meine Damen und Herren, wir sind es den Bürgern unseres Landes schuldig, rechtzeitig und umfassend gegen
die Geißel des Terrorismus und Extremismus vorzugehen.
Die CDU/CSU-Fraktion leistet ihren Beitrag dazu.
({0})
Herr Kollege Herrmann, ich gratuliere Ihnen herzlich
zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Lambrecht
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Reden
haben gezeigt, dass wir uns darin einig sind, dass wir die
Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft
durch Terrorismus, egal von welcher Seite er kommt, sehr
ernst nehmen und dass wir dafür alle Mittel, die unser
Rechtssystem bietet, auch ausschöpfen müssen. In der
Anwendung und in der Auslegung gehen dann die Meinungen etwas auseinander.
Ich möchte mir die Mühe machen, zu dem, was Sie in
Ihrem Antrag vorschlagen, en détail etwas zu sagen. Man
hat ja ein bisschen den Eindruck, als gäbe es all das, was
Sie vorschlagen, überhaupt nicht. Wir, die rot-grüne Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen, haben bei
der Terrorbekämpfung in Europa zum Teil sogar eine Vorreiterrolle übernommen. Das wird in Ihrem Antrag überhaupt nicht berücksichtigt, muss aber einmal deutlich gesagt werden.
Einen Punkt vermisse ich in Ihrem Antrag völlig. Es
wird gar nicht wahrgenommen, dass Deutschland als erster Staat in der Europäischen Union ein Gesetz zur konsequenten Bekämpfung von Geldwäsche und zur Aufdeckung von Finanzflüssen terroristischer Organisationen
in Kraft gesetzt hat. Damit haben wir einen Sumpf
trockengelegt, der die Grundlage für Terrorismus ist. Ich
kann mich noch an den Tanz in diesem Haus erinnern, bis
Sie sich dazu durchringen konnten, diesem Geldwäschebekämpfungsgesetz zuzustimmen. Das war ein ganz langer Kampf. Das Gesetz ist ein wirksames Mittel.
({0})
Es ist uns bei den Sicherheitspaketen I und II zur Terrorbekämpfung gelungen - das ist bereits angesprochen
worden -, einige Maßnahmen auch mit Teilen der Opposition zu beschließen. Ich denke, das Thema, um das es
hier geht, ist schlicht zu wichtig, als dass man es für
durchsichtige Wahlkampfmanöver missbrauchen sollte.
({1})
Wesentliche Teile Ihres Antrages, vor allem die zu justizpolitischen Themen, zu denen ich Stellung nehmen
möchte, beinhalten aber genau das.
Die rechtspolitischen Elemente Ihres Antrages enthalten - das muss man wirklich deutlich sagen - ein Sammelsurium von unnötigen und überflüssigen Regelungen.
({2})
So ist zum Beispiel der Vorschlag für eine Terrorismusverdachtslösung nicht nur von der rechtlichen Seite her
höchst fragwürdig, sondern im Kern auch völlig unnötig.
Selbst wenn die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen,
ist nach § 8 des Ausländergesetzes die Aufenthaltsgenehmigung zu versagen, falls der Antragsteller - es ist schon
ausgeführt worden - die freiheitliche Grundordnung oder
die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet.
Gleiches gilt, wenn sich die Person an politisch motivierten Gewalttätigkeiten beteiligt oder dazu aufruft oder entsprechende Vereinigungen unterstützt. Hier gilt der alte
Spruch, dass ein Blick ins Gesetz die Rechtskenntnis vertieft.
({3})
Genauso unnötig ist das Wiederaufwärmen der Regelanfrage beim Verfassungsschutz. Auch dazu ist hier einiges gesagt worden. Aus der Praxis nur noch einmal der
Hinweis: In der Regel wissen die Ausländerbehörden
durchaus mehr als das, was sie bei den Diensten in Erfahrung bringen können. Von daher ist das, was im Gesetz
steht, nicht immer zielführend.
Nun zu einigen konkreten Punkten. Sie wissen genau,
dass über die Aufnahme so genannter biometrischer
Merkmale zur Identitätssicherung, wie Sie sie fordern,
längst im internationalen Rahmen - das ist die Ebene, auf
der darüber gesprochen werden muss - diskutiert wird.
Antragsteller eines Visums aus Staaten wie zum Beispiel
dem Sudan oder Jemen müssen schon heute - das ist
längst der Fall - bei den deutschen Konsularbehörden einen Fingerabdruck abgeben. Auch in diesem Bereich haben Sie also das Rad nicht neu erfunden. Das ist nur ein
Beispiel für die alten Hüte, die Sie, passend zum Wahlkampf, aus der Mottenkiste holen.
Folgendes an Ihrem Antrag ruft wirklich Kopfschütteln hervor: Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken,
als würde auf Bundesebene nicht alles dafür getan, Si1484
cherheitslücken aufzuspüren und diese dann auch zu
schließen.
({4})
Das möchte ich an zwei Punkten deutlich machen.
Sie sind sich nicht zu schade, einen Zusammenhang
herzustellen, aus dem man folgern könnte, das neue Staatsbürgerschaftsrecht begünstige die Einbürgerung von
Terroristen.
({5})
Ich will das belegen. Schauen Sie sich einmal Ihren Antrag an! Da finden Sie die Überschrift „Kein deutscher
Pass für Extremisten und Terroristen“.
({6})
Völlig d’accord im ganzen Hause; darüber brauchen wir
nicht zu sprechen. Aber etwas unterhalb dieser Überschrift versuchen Sie, den Eindruck zu erwecken, als ob
Rot-Grün genau diese Politik unterstützen würde. Da
steht nämlich, „eine leichtfertige Einbürgerungspolitik“
- genau das machen wir nicht; es wird geprüft, bevor eingebürgert wird - sei ein Schritt in die falsche Richtung.
Dann listen Sie auf, dass es durch die Neuregelung des
Staatsangehörigkeitsrechts zu einer Zunahme der Zahl der
Einbürgerungen gekommen ist.
({7})
Das ist ganz geschickt, was ich aber eigentlich gar nicht
sagen möchte. Diesen Satz verquicken Sie mit der Überschrift. Die Überschrift und das, was folgt, müssen Sie im
Kontext sehen. Das Verwerfliche an diesem Antrag ist,
dass Sie so agieren.
({8})
Ähnlich unkonkret und ohne Zusammenhang ist Ihre
Forderung nach einer zwingenden Angabe der Religionszugehörigkeit. Hier findet man das gleiche Muster, wie
ich es soeben beschrieben habe. Die Überschrift lautet:
„Extremisten und Terroristen sicher und frühzeitig identifizieren“. Völlig d’accord hier im Hause. Eine weitere
Überschrift lautet: „Sicherheitslücken schließen“. Ebenfalls völlig d’accord in Bezug darauf, wo Sicherheitslücken bestehen. Jetzt fordern Sie aber, um diese angeblichen Sicherheitslücken zu schließen, eine lückenlose
Erfassung der Religionszugehörigkeit. Das steht in dem
Text unter diesen Überschriften. Das ist die von Ihnen soeben genannte „praxisnahe und zielorientierte Auslegung“, um das Schließen der Sicherheitslücken zu erreichen. Die Folge soll sein - auch das zitiere ich wörtlich
aus Ihrem Antrag -, dass „auf diese Weise ... das Risiko
bei der Einreise wesentlich besser abgeschätzt werden“
könne.
Jetzt stellen Sie sich das einmal vor: Sie fordern zwingend die Angabe der Religionszugehörigkeit, um so das
Risiko bei einer Einreise besser abschätzen zu können.
Was soll denn da das Risiko sein? Ist es ein Risiko, dass
jemand irgendein Glaubensbekenntnis abgegeben hat?
Besteht dadurch ein Verdacht? Haben Sie sich das gut
überlegt? Was haben Sie hier gemacht? Sie haben die Religionszugehörigkeit als Anknüpfungspunkt für Sicherheitsrisiken genannt. Haben Sie dieses Recht? Aus welchem anderen Grund haben Sie die Forderung erhoben,
die Angehörigen einer Religion im Zusammenhang mit
Sicherheitsrisiken zu nennen? Was ist mit denjenigen, die
kein Glaubensbekenntnis abgeben? Sind die per se kein
Sicherheitsrisiko? Schützt die Angabe der Religionszugehörigkeit vor irgendwelchen Risiken? Ich glaube, Sie
sind zu kurz gesprungen und haben Ihren Vorschlag nicht
zu Ende gedacht. Deswegen sollten Sie noch einmal in
Klausur gehen.
({9})
Genauso unterstellen Sie, dass das Zuwanderungsgesetz, das wir verabschiedet haben, eine Verschlechterung der Sicherheitssituation in Deutschland bewirken
würde.
({10})
Wann legen Sie endlich Ihre Scheuklappen ab? Lesen Sie
das Zuwanderungsgesetz zumindest einmal durch! Denn
dann würden Sie feststellen, dass es eine Reihe von Regelungen enthält, die es den zuständigen Behörden erstmals ermöglicht, zu kontrollieren, wer in unser Land
kommt und was er hier will. Das ist in diesem Zuwanderungsgesetz geregelt. Sie aber blockieren es mit Ihrer
Bundesratsmehrheit. Wenn Sie wirklich etwas für die innere Sicherheit tun wollen, dann stimmen Sie endlich dem
Zuwanderungsgesetz zu! Denn da ist das geregelt, was Sie
angeblich wollen.
({11})
Ihr Antrag - man muss es sagen - ist relativ geschickt
aufgebaut. Ich habe es deutlich gemacht: Es wird viel
Wahres und Unwahres miteinander vermischt. Er strotzt
aber vor Ideologie. Das wurde auch in einigen Redebeiträgen deutlich. Es werden Zusammenhänge in den
Raum gestellt, für die die Beweisführung nicht gelingt.
Da, wo es konkret wird, versagen Sie.
Meine Damen und Herren, verschonen Sie uns in Zukunft mit solchen Schaufensteranträgen kurz vor Wahlterminen.
({12})
Handeln Sie lieber, wo es nötig ist.
Ein Punkt, der zur Wahrheit gehört, muss hier auch einmal angesprochen werden: Absolute Sicherheit, wie Sie
sie mit solchen Anträgen suggerieren, kann es nicht geben,
({13})
schon gar nicht in einer offenen Gesellschaft wie der unseren, zu der wir uns alle bekennen. Denken Sie an den
Mann, der vor ein paar Tagen nicht nur Frankfurt, nicht
nur Hessen in Atem gehalten hat, sondern die ganze Republik. Der Mann war Deutscher, er hatte keine doppelte
Staatsangehörigkeit und hat vorher wahrscheinlich auch
nicht seine Religionszugehörigkeit angegeben. Dies zeigt,
dass es Sicherheitsrisiken gibt, die nicht ausgeschlossen
werden können.
({14})
Es geht nicht darum, den Menschen vermeintliche Sicherheit zu suggerieren, sondern darum, Strukturen zu
schaffen, die dann, wenn es zu einem solchen Fall kommt,
funktionieren. Sie haben im Zusammenspiel von Land
und Bund funktioniert. Das ist richtig so.
({15})
- Ich habe ja keine Scheuklappen auf, Herr von Klaeden.
({16})
Diese Zusammenarbeit hat über Jahre und Jahrzehnte
hinweg funktioniert; es wird sie auch in Zukunft geben.
Es wird keinen Landesminister geben - egal, welcher Partei er angehört -, der sich über Kompetenzen im Hinblick
auf so bedeutende Fragen der inneren Sicherheit streitet,
wie sie sich an diesem Tag stellten.
({17})
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten wollen Sicherheit für alle sowie
Recht und Gerechtigkeit für den Einzelnen. Wir wissen
aber auch - das muss man ganz deutlich sagen -, dass derjenige, der sich nur auf die Sicherheit konzentriert, am
Ende beides verliert, Freiheit und Sicherheit. Das sind
Grundlagen unserer Rechtspolitik. Darin werden wir uns
nicht beirren lassen, schon gar nicht von solchen Anträgen.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Röttgen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der
Terrorismus ist eine Herausforderung an den Rechtsstaat.
Terrorismus bedroht nicht nur einzelne Menschen, nicht
nur einzelne Rechtsgüter; vielmehr ist Terrorismus eine
Aggression gegen unsere Zivilisation, gegen ihre Werte
und gegen unsere Art zu leben. Das ist die Dimension des
Angriffs.
({0})
Daher ist es die Aufgabe des Staates und seine Pflicht, die
Bevölkerung so gut wie möglich zu schützen; kein
Mensch suggeriert doch absoluten Schutz.
In einem Rechtsstaat liegt das Besondere und die Herausforderung dieser Aufgabe darin, dass wir in der Art
und Weise der Bekämpfung des Terrorismus das verteidigen, was die Terroristen angreifen, nämlich die Freiheit
des Einzelnen und die Freiheitlichkeit der Gesellschaft.
Nicht auf Kosten der Freiheit, sondern um der Freiheit
willen bekämpfen wir den Terrorismus. Das ist der inhaltliche Maßstab unseres Antrags.
({1})
- Ich komme gleich zu den ganz konkreten Punkten.
Ein erstes Verdienst unseres Antrages liegt in der Wahl
des Zeitpunktes,
({2})
der keinen Zusammenhang mit einem aktuellen terroristischen Anschlag hat. Das hat zwei Vorteile.
Erstens können wir diese schwierigen Abwägungsfragen, die sich in einem Rechtsstaat im Hinblick auf die
Bekämpfung des Terrorismus stellen, am besten dann beantworten, wenn wir nicht durch Emotionalität und
Empörung aufgrund eines terroristischen Anschlags belastet sind. Es ist ein Verdienst, dass wir außerhalb einer
solchen Aktualität diskutieren.
Zweitens ist Terrorismusbekämpfung eine Daueraufgabe. Wahrscheinlich - so ist zu befürchten - werden wir
uns auf Jahre mit diesem Thema beschäftigen müssen.
Darum reicht es nicht aus, dass wir reaktiv-ereignishaft
handeln; darum reicht es nicht aus, dass Politiker und Regierungen immer erst am Tag nach dem Anschlag, aber
dann in Form eines Zehn-Punkte-Programms ganz genau
wissen, was zu tun ist. Wir brauchen eine Strategie und
planmäßiges Handeln. Wir geben eine Anleitung für eine
Strategie in der Auseinandersetzung mit Terrorismus;
nicht ereignishaft-reaktiv, sondern strategisch müssen wir
vorgehen.
({3})
Nun komme ich zu vier Punkten, die im Bundesjustizministerium ressortieren, denn innere Sicherheit ist
auch eine Aufgabe der Rechtspolitik. Das glaubt man
fast gar nicht mehr, wenn man das Handeln der Regierung auf diesem Gebiet sieht. Die innere Sicherheit ist
als Aufgabe und Thema der Rechtspolitik seit Jahren vakant und wird nicht wahrgenommen. Auch heute finden
wir leider wieder Gelegenheit, dies nachweisen zu können.
Ich nenne vier konkrete Punkte der Notwendigkeit abgewogenen rechtsstaatlichen Handelns. Ich wiederhole
den Vorschlag der unbedingten Notwendigkeit, Sympathie- und Unterstützungswerbung für terroristische
Vereinigungen wieder als Straftatbestand einzuführen.
Sie haben das geändert.
({4})
Ich habe im Bericht des Rechtsausschusses die Beratungen zur Abschaffung der Strafbarkeit nachgelesen. Der
Rechtsausschuss hat mit Ihren Stimmen festgestellt, wie
die Rechtslage vor der Abschaffung der Strafbarkeit war.
Ich zitiere:
Im Blick auf das Grundrecht aus Artikel 5 Abs. 1 GG
stellen die Gerichte hohe Anforderungen an die Annahme strafbarer Sympathie- oder Unterstützungswerbung; nur Äußerungen mit werbend auffordernder Tendenz, die eindeutig auf die Stärkung oder
auf die Unterstützung einer bestimmten Vereinigung
angelegt sind, sollen danach in den Bereich des Strafbaren fallen.
Es gab also immer hohe Hürden, aber auch das, was über
diese Hürden hinaus in den Bereich des Strafbaren gelangt
ist, haben Sie abgeschafft.
({5})
Bezüglich Ihrer Intention zitiere ich weiter:
Damit
- mit der Abschaffung der Strafbarkeit soll insbesondere verdeutlicht werden, dass die werbende Tätigkeit von sog. Solidaritätsbüros nicht vom
Merkmal des Werbens erfasst wird.
Ich frage Sie: Welches Interesse haben wir in Deutschland
an der Tätigkeit von Solidaritätsbüros terroristischer Vereinigungen? Welches Interesse haben wir daran?
({6})
Es kann doch kein Zweifel daran bestehen - das ist die
Abwägung von Freiheiten -, dass das Werben für
Terroristen und terroristische Vereinigungen nicht die
Wahrnehmung grundrechtlich geschützter Meinungsfreiheit ist. Es ist doch die Bekämpfung der Freiheit des anderen.
({7})
Es ist die Bekämpfung einer Rechtsordnung, die Grundrechte garantiert.
Die Abschaffung der Strafbarkeit terroristischer Sympathiewerbung ist die Legalisierung geistiger Brandstiftung, die Sie zu verantworten haben.
({8})
Bei einem zweiten konkreten Punkt ist rechtsstaatliches Handeln erforderlich. Wir brauchen die Ausweitung der Untersuchungshaft, die der Vorbeugung dient.
Diese gibt es schon im geltenden Recht. Es gibt die Untersuchungshaft, die der Durchführung und Sicherstellung der Hauptverhandlung dient. Wir brauchen sie aber
auch mit präventivem Charakter. Hier gibt es eine Lücke
in der Abwehr der Gefahr, die von so genannten terroristischen Schläfern ausgeht.
({9})
- Nein, ich möchte eine deutsche Regelung.
({10})
- Nein, ich sage Ihnen, was wir wollen. Sie haben es hier
mit den deutschen Christdemokraten und mit konkreten
Vorschlägen zu tun.
Ich nenne Ihnen einen konkreten Fall: Es gibt eine Person, die der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verdächtigt wird. Die Person ist dringend verdächtig und die Ermittlungen dauern an. Gleichzeitig besteht
die Gefahr, dass der Unterstützer, der noch schläft, erwacht und einen terroristischen Anschlag verübt. Wir haben den dringenden Tatverdacht der Unterstützung einer
terroristischen Vereinigung und gleichzeitig besteht die
konkrete Gefahr der Begehung terroristischer Taten.
Dem Staat sind bis heute die Hände gebunden. Wir als
Gesetzgeber binden ihm die Hände; er kann nicht einschreiten. Darum muss es die Untersuchungshaft auch zur
Abwehr von Straftaten geben; sie darf nicht erst möglich
sein, wenn Straftaten schon begangen worden sind.
Wir müssen die präventive Untersuchungshaft einführen, denn sonst bleibt die Lücke in der Abwehr.
Rechtspolitik muss auch präventiv und darf nicht nur repressiv arbeiten.
({11})
- Wenn Sie es bestreiten, müssen Sie den konkreten Nachweis liefern. Es ist eine unbestrittene Rechtslage in dem
Fall, den ich konstruiert habe.
({12})
Die beiden weiteren Vorschläge, die wir konkret machen, sehen vor, dass wir das Eindringen durch verdeckte
Ermittler in terroristische Strukturen und das Aufbrechen
terroristischer Organisationen durch Kronzeugen auf
eine sichere rechtsstaatliche Grundlage stellen. Das ist geradezu ein Rechtsstaatsgebot.
({13})
- Dann müssen Sie auch sagen, dass Sie die Instrumente
nicht wollen.
({14})
Dann müssen Sie als SPD sagen: Wir sind gegen den Einsatz verdeckter Ermittler.
({15})
Dann müssen Sie - anders als in der Koalitionsvereinbarung festgehalten - sagen: Wir sind gegen eine Kronzeugenregelung.
Sie können sich aber nicht im Rahmen Ihrer Imagewerbung als Sheriff der Republik dieser Instrumente rühmen, gleichzeitig aber die Schaffung der rechtsstaatlichen
Grundlage dieser Tätigkeit verweigern. Es ist unverantwortlich, wenn der Staat seine Beamten als verdeckte
Ermittler einsetzt, ihnen aber die rechtliche Grundlage
verwehrt.
({16})
Ihre politische Schwäche in der Koalition wird auf dem
Rücken der verdeckten Ermittler, der Polizisten, ausgetragen.
({17})
Verdeckte Ermittler und Kronzeugen sind keine
Wunschinstrumente des Rechtsstaates, es sind Kompromissentscheidungen. Sie sind aber im Interesse der
Prävention gerechtfertigt. Wir nehmen es hin, weil es um
die Abwehr schwerster Verbrechen, in ihren Dimensionen
möglicherweise nicht absehbarer Verbrechen und Angriffe auf unseren Rechtsstaat geht. Eine nüchterne
rechtsstaatliche Folgenabwägung stellt die Grundlage unserer Befürwortung der Instrumente verdeckter Ermittler
und Kronzeuge dar.
Ich habe hier nur vier konkrete Punkte aus dem Bereich
der Rechtspolitik, der Zuständigkeit der Bundesjustizministerin, dargestellt, vier konkrete Punkte, die Ergebnis
nüchterner rechtsstaatlicher Abwägung sind, die das Ziel
haben, die Bevölkerung zu schützen, die freiheitswahrend
sind, die Ausdruck rationaler rechtsstaatlicher Politik
sind. Verweigern Sie sich nicht mit pauschaler Zurückweisung und falschen Argumenten unserer nüchternen
Strategie zur Bekämpfung der Terrorismus. Wir haben
eine Strategie vorgestellt. Folgen Sie ihr, dann tun wir gemeinsam etwas gegen den Terrorismus. Es geht um die
Bedrohung unseres Landes, unseres Rechtsstaates. Entziehen Sie sich unseren Vorstößen nicht aus kleinem parteipolitischen Denken!
Herzlichen Dank.
({18})
Das Wort hat jetzt der Herr Minister des Innern und für
Sport des Landes Hessen, Volker Bouffier.
Volker Bouffier, Staatsminister ({0}):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte
gerne zuerst Ihnen, Herr Kollege Schily, zugehört. Jetzt
aber haben Sie darum gebeten, zuerst mir zuzuhören. Ich
habe dann gesagt: Lasst uns nicht darüber streiten, wer die
Debatte abräumt. Entscheidend ist, dass wir in der Sache
vorankommen.
({1})
- Ja, so großzügig sind wir.
Ich will mich auf einen Punkt konzentrieren, der mir
besonders am Herzen liegt. Ich verhehle nicht, dass mich
ein Teil der Debatte erstaunt hat. Es geht um die Frage:
Wie organisieren wir in unserem Land die Gefahrenabwehr so, dass wir alles tun, was wir können, was wir müssen, was rechtsstaatlich geboten ist, um den Bürgerinnen
und Bürgern in diesem Lande den Schutz zu geben, den
sie brauchen?
Damit bin ich bei dem Thema „Einsatz der Bundeswehr“. Ich spreche zu Ihnen als Innenminister eines Bundeslandes, also der staatlichen Einheit, die nach unserem
Verfassungsgefüge für die Polizei der Länder zuständig
ist und die Gefahrenabwehr organisiert. Ich spreche auch
zu Ihnen als der zuständige Innenminister, der mit dem
Frankfurter Flughafen den mit Abstand größten Flughafen mit den mit Abstand meisten Flugbewegungen auf
dem Kontinent zu betreuen hat. In der Summe sind dies
teilweise über 170 000 Passagiere am Tag.
Ich spreche zu Ihnen als derjenige, der für eine Hochhauskulisse und eine in Europa einmalige Skyline in
Frankfurt am Main zuständig ist. Man braucht kein Sicherheitsexperte zu sein, um zu verstehen, dass damit besondere Anforderungen verknüpft sind. Ich spreche vor
allen Dingen als einer zu Ihnen, den am 5. Januar 2003,
also am Sonntag vor acht Tagen, ein Mann, der nicht nur
die Stadt Frankfurt am Main, sondern auch das ganze
Land in Atem gehalten hat, als er ein Flugzeug entführte,
mit großem Schrecken, aber auch mit Handlungsaufgaben
versehen hat.
Wenn ich von besonderen Aufgaben spreche, spreche
ich nicht von Theorie, sondern von praktisch Erlebtem.
Ich habe das Geschehen an diesem Tag zu einem guten
Teil im Lagezentrum der Frankfurter Polizei miterlebt.
Bevor ich dazu einige Bemerkungen mache, halte ich es
für angebracht, auch heute noch einmal denjenigen Respekt und Anerkennung auszusprechen sowie Dank zu sagen, die bei der Polizei, bei der Feuerwehr, bei der Bundeswehr und bei all den anderen Organisationen, die dort
eingesetzt waren, so großartige Arbeit geleistet haben.
({2})
Wir verdanken es letztlich deren Können und deren Geschick, dass dieses Ereignis am Schluss glücklich ausgegangen ist.
Ich stelle mir vor, wie die Debatte heute verlaufen
würde, wenn es uns nicht gelungen wäre, diesen Täter von
seinem Vorhaben abzubringen: Wie hätten wir handeln
können und handeln müssen? Was hätten die Flieger der
Bundeswehr tun können und gegebenenfalls tun dürfen?
({3})
Angenommen, an diesem Sonntag Nachmittag hätte im
Waldstadion in Frankfurt am Main ein großes Spiel stattgefunden, dann hätten sich dort viele Tausend Menschen
aufgehalten und es hätte furchtbar viele Opfer geben können. Wenn denkbarerweise das Eingreifen der Bundeswehr zu einem Verlust von wesentlich weniger Menschenleben und zu wesentlich geringeren Schäden geführt
hätte - das kann ich nicht beweisen; ich bin auch kein Experte -, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass wir heute
völlig anders über die Frage diskutieren würden, wann ein
solcher Einsatz vernünftig und erforderlich ist. Wir hätten
anders über die Frage diskutiert - das Wort Vorbeugung
ist mehrfach genannt worden; ich komme später darauf
zurück -, wann die Bundeswehr im Rahmen eines integrierten Sicherheitskonzeptes auch in unserem Land
selbst eingesetzt werden kann, wenn die Polizei objektiv
nicht helfen kann, die Bürgerinnen und Bürger aber von
uns meines Erachtens völlig zu Recht erwarten, dass wir
alles tun, was wir können und was rechtsstaatlich geboten
ist, um Gefahren zu beseitigen.
Meine Damen und Herren, damit wir uns nicht missverstehen - der Kollege Bosbach hat schon darauf hingewiesen -: Niemand denkt daran, die Bundeswehr zu einer
Art zweiter Bereitschaftspolizei des Bundes zu machen.
Wenn aber, wie im konkreten Fall, die Polizei die Gefahr
nicht beseitigen kann, dann kann unsere Antwort doch
nicht sein, gar nichts zu tun.
({4})
Wir müssen dann etwas tun. 100-prozentige Sicherheit
gibt es nicht; das weiß jeder. Aber das kann doch nicht bedeuten, dass wir gar nichts tun.
({5})
- Wenn Sie sagen, das hätte niemand verlangt, dann frage
ich Sie, nach welchen Regeln wir in einer solchen Situation arbeiten. Es geht vor allem um die Gefahr aus der
Luft; darauf will ich mich konzentrieren. Wer weiß vorher, wer für was befugt ist und wie wir miteinander reden?
Ich kann Ihnen aus praktischem Erleben sagen: Dies ist
nicht geregelt. Das Grundgesetz bietet dafür nach meiner
Überzeugung auch keine eindeutige Regelung. Ich komme
auf diesen Punkt später zurück.
Ich will ins Gedächtnis zurückrufen: Es war in diesem
Fall kein terroristischer Angriff. Es war „bloß“ ein offenkundig geistig verwirrter Mensch. Den Opfern ist es aber
relativ gleichgültig, ob sie Opfer eines Terroristen oder eines geistig Verwirrten werden. Die Frage, die uns die
Menschen stellen, ist doch, was wir tun, wenn dort ein
Flugzeug kreist und der Täter ankündigt, was er vorhat.
Dann kann man es doch nicht dem Zufall überlassen, wer
in dieser Situation wen erreicht. Was wäre gewesen, wenn
an diesem Sonntag der hessische Ministerpräsident und
ich den Kollegen Struck nicht relativ schnell erreicht hätten, weil er irgendwo in der Welt unterwegs gewesen
wäre? Hätten wir die Entscheidung dann dem Polizeiführer vor Ort oder dem Piloten der Bundeswehr je nach deren Einschätzung und Gusto überlassen sollen?
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Veit? Wir stoppen auch Ihre Redezeit.
Volker Bouffier, Staatsminister ({0}):
Nein, ich will in der Redezeit bleiben. Ich bitte um
Nachsicht. Ich will im Zusammenhang vortragen.
({1})
- Herr Kollege Ströbele, dieser Fall ist kein schlechtes
Beispiel.
({2})
Er ist sogar im Gegensatz zu dem, was hier über weite
Strecken diskutiert worden ist, nicht Theorie, sondern
praktisch und wirklich.
({3})
Deshalb dürfen wir uns nicht in theoretischen Debatten
verlieren. Wir müssen eine Antwort geben, und zwar vorher.
({4})
Nach meiner Überzeugung ist es notwendig, ein klares
eindeutiges Regelwerk auszuarbeiten. Wir brauchen eine
klare Rechtsgrundlage.
({5})
Darüber hinaus brauchen wir klare Regelungen, wie wir
miteinander arbeiten. Da hilft mir mit Verlaub eine juristische Debatte, ob Art. 35 des Grundgesetzes und der Begriff des Unglücks das noch abdeckt, sehr wenig. Ich halte
das juristisch auch nicht für richtig. Selbst in der Literatur
habe ich wenig gefunden, was Ihre Position unterstützt,
Herr Kollege Schily. Aber selbst wenn, Sie könnten dann
vielleicht für den einzelnen Fall eine Rechtsgrundlage
schaffen; das nützt uns aber nichts. Wir brauchen vorher
verlässliche Grundlagen.
Damit es nicht so theoretisch ist, sage ich Folgendes:
Es liegt doch auf der Hand, dass ein Polizeiführer vor
Ort, der zur Beseitigung einer Gefahr auf die Bundeswehr zurückgreifen will - welche Einzelheiten dabei
auch immer zu beachten sind -, aufgrund eines geregelten Verfahrens wissen muss, wie lange sie braucht, bis
sie da ist. Er muss wissen, was die Piloten dürfen und
was nicht. Er muss wissen, welche Wege der Kommunikation es gibt. Er muss zum Beispiel wissen, wie er mit
dem Piloten kommunizieren kann. Dies alles gibt es
nicht.
In der Gefahrenabwehr gibt es - in diesem Punkt wird
mir niemand widersprechen - einen Grundsatz: Die Gefahrenabwehr funktioniert besonders gut, wenn man sie
vorher übt. Es ist notwendig, mit allen Stellen zu üben,
sich entsprechend abzustimmen und ein Konzept zu haben. Glauben Sie doch nicht im Ernst, dass man die Türme
in Frankfurt, ohne eine Panik auszulösen, in 20 Minuten
räumen kann, wenn man das vorher nicht übt.
({6})
- Ich trage ein Konzept vor. - Wenn die Gefahr auftritt, ist
es zu spät. Das haben alle gesagt. Man kann in einer Gefahrenlage nicht proben, ob alle rechtzeitig da sind und ob
man diese oder jene Maßnahme ergreift. Das muss vorher
klar sein.
({7})
Wer nicht bereit ist, hier eine klare Grundlage zu schaffen,
der lässt die Polizei, den Polizeiführer und den Piloten
schlussendlich allein.
({8})
Staatsminister Volker Bouffier ({9})
Staatsminister Volker Bouffier ({10})
Sie lassen die Leute im Stich. Eine solche Politik halte ich
für feige und verantwortungslos.
({11})
Meine Damen und Herren, jeder, der in der Praxis mit
Gefahrenabwehr zu tun hat, weiß, dass eine Abfolge
glücklicher Umstände wie an dem fraglichen Sonntag auf
Dauer nicht ausreichend ist, um Herausforderungen, die
eben nicht nur theoretisch sind, angemessen begegnen zu
können. Vor fast eineinhalb Jahren fand das Ereignis in
New York statt. Seit eineinhalb Jahren ist uns allen das
grundsätzliche Problem bekannt.
({12})
- Wir haben in der konkreten Situation in Hessen eine
Menge Gutes getan; ich habe vorhin nicht umsonst gedankt. Ich nehme den Dank nicht für mich in Anspruch,
aber eines möchte ich auch einmal sagen: Wenn Sie in
einem Lagezentrum sitzen und innerhalb weniger Minuten entscheiden müssen, ob Sie ganze Plätze räumen
und ob Sie die Menschen mit Gewaltanwendung irgendwo wegholen, damit der Täter kein Ziel hat, um
eine furchtbare Ernte halten zu können, dann wissen
Sie, dass diesen Polizeibeamten mit allgemeinen, theoretischen und vor allem polemischen Bemerkungen wenig gedient ist.
({13})
Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Schily, und dem Deutschen Bundestag ausdrücklich deshalb anbieten - das
Bundesland Hessen ist dazu bereit -, dass wir uns sehr
rasch zusammensetzen, um zu klären, wie wir diese eindeutige Grundlage und ein geregeltes Verfahren im Interesse aller erhalten können.
Herr Kollege Schily, ich bitte um Nachsicht: Sie sprechen nach mir, weshalb ich Sie persönlich ansprechen
will. Wir beide tragen in unserem Amt in besonderer
Weise Verantwortung - ich für Hessen und Sie für
Deutschland. Es kann doch eigentlich überhaupt keinen
Zweifel daran geben, dass wir uns darin einig sind, dass
wir alles tun müssen, um Gefahren abzuwenden. Wenn
die Polizei dies objektiv aber nicht kann, dann müssten
wir uns doch eigentlich auch darin einig sein, dass diese
Aufgabe eine Einrichtung wahrnehmen muss, die dies gegebenenfalls kann, die die Gefahr vielleicht beseitigen,
zumindest aber erheblich mindern kann. Wir dürfen dann
keinen Streit führen, der sich nach meinem Dafürhalten
sehr stark im Theoretischen bewegt.
Ich habe dafür wenig Verständnis und bitte darum, dass
wir möglichst bald zu einem Ergebnis kommen. Ein Streit
um diese Frage entlang den Mauern fester Ideologien
nützt niemandem. Das zu tun, was nötig und nach meiner
Überzeugung rechtsstaatlich auch möglich ist, um Gefahren von den Menschen abzuwenden, hilft uns allen.
Vielen Dank.
({14})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Veit das
Wort.
Da ich nicht Gelegenheit hatte, meine Einlassung in
Gestalt einer Zwischenfrage vorzubringen, will ich es nun
in einer Kurzintervention tun. Ihrem letzten Satz, lieber
Herr Kollege Bouffier, der wenigstens zum Teil diesen
langen Beifall provoziert hat, kann ich nur ausdrücklich
zustimmen.
({0})
Aber ich gebe zweierlei zu bedenken.
Erstens. Ist es nicht abwegig, zu glauben, der Abschuss
eines Motorseglers über dicht besiedeltem Frankfurter
Stadtgebiet,
({1})
zum Beispiel über der Zeil, beinhalte ein geringeres Gefährdungspotenzial, als wenn der Betreffende seine ursprüngliche Absicht wahr gemacht hätte?
({2})
Zweitens. Ist es nicht von Mogadischu bis zu dem Vorfall, über den wir jetzt reden, in dieser Republik immer
guter Brauch gewesen, dass bei Fällen dieser Art über Parteigrenzen und die Frage, wer wo wann in welcher Konstellation regiert hat, hinweg sowohl die Polizei als auch
der Bundesgrenzschutz als auch gegebenenfalls die Bundeswehr in beispielhafter Weise gut zusammengearbeitet
haben? Kann es nicht deswegen auch so bleiben, ohne
eine Verfassungsänderung vorzunehmen?
({3})
Herr Minister Bouffier, Sie haben drei Minuten Zeit,
darauf zu antworten.
Volker Bouffier, Staatsminister ({0}):
Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen.
Herr Kollege Veit, wir kennen uns seit vielen Jahren.
Es ging nicht nur um den Abschuss. Es ging konkret um
die Frage: Kann ein Fluggerät aus der Innenstadt abgedrängt werden? Das können Sie nicht entscheiden, wenn
Sie das erste Mal in einer solchen Situation sind. Das kann
man üben.
({1})
- Das ist eine Rechts- und Tatsachenfrage. Deshalb sage
ich Ihnen: Ihre Einlassung ist zu kurz gesprungen. Ich
biete Ihnen an, dass wir dieses Problem entre nous en
détail diskutieren.
Man darf nicht immer nur vom Abschuss reden. Das ist
die Ultima Ratio. Davor gibt es viele andere Möglichkeiten, was wir gemeinsam erörtern und tun können. Ob wir
es in der konkreten Gefahrenlage tun können, müssen die
Gefahrenexperten vor Ort entscheiden. Die müssen die
Gefahr beseitigen. Sie dürfen sich dabei aber nicht mit der
Frage herumquälen, ob ihr Handeln, egal ob sie etwas tun
oder unterlassen, danach Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen sein wird.
({2})
Ich will mit folgendem Satz abschließen: Ich empfinde
es als unbefriedigend - ich glaube, damit stehe ich nicht
alleine da -, wenn sonntags etwas passiert und am darauf
folgenden Montag inklusive der deutschen Bundesregierung alle darüber diskutieren, ob man die Bundeswehr
überhaupt hätte einsetzen dürfen und gegebenenfalls für
was. Gut wäre, wenn in der Frage der konkreten Gefahrenabwehr alle wüssten, dass wir am Sonntag schon genauso schlau sind wie am Montag.
Vielen Dank.
({3})
Es spricht jetzt der Herr Minister des Innern, Otto
Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen!
In der Beurteilung der Gefahrenlage sind wir uns einig.
Der Herr Kollege Bosbach hat einen Satz von mir zitiert,
der nach wie vor Gültigkeit hat.
({0})
- Herr Kollege, ich weiß nicht, was daran jetzt so komisch
ist. - Deshalb erfordert der internationale Terrorismus
weiterhin unsere anhaltende und konzentrierte Wachsamkeit.
Nach der zwischen den Sicherheitsbehörden, Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz, BND,
aber auch den Landesbehörden abgestimmten Lageeinschätzung besteht innerhalb wie auch außerhalb unseres
Landes eine unverändert hohe Gefährdung für bestimmte
Einrichtungen, insbesondere amerikanische, israelische,
jüdische und britische Einrichtungen.
In den Gesprächen, die ich vor einiger Zeit mit den
Chefs der CIA und des FBI geführt habe, sind wir gemeinsam zu der Überzeugung gelangt, dass sich die Bedrohungslage gegenüber der Situation vor dem 11. September eher noch verschärft hat. Wir werden diese
intensive und vertrauensvolle Abstimmung auch in Zukunft fortsetzen. Ich werde in Kürze noch einmal in die
Vereinigten Staaten von Amerika reisen, um gemeinsam
mit meinen Kollegen die Situation zu beurteilen.
Ich meine, wir sollten besonders beachten, dass die
Mehrzahl der Anschläge gegen so genannte weiche Ziele
gerichtet war. Das beweist die abscheuliche, menschenverachtende Brutalität der Terroristen und das Ausmaß der
Gefahr. Die sehr ernst zu nehmende globale Bedrohung
durch den islamistisch-fundamentalistischen Terrorismus nimmt uns daher gemeinsam - früher gab es den Begriff der Gemeinsamkeit der Demokraten; diese sollten wir
bekräftigen - in die Pflicht, alle nur denkbaren Anstrengungen zum Schutz der Menschen zu unternehmen.
Gleichzeitig will ich aber noch einmal deutlich vor Panikmache warnen; denn wenn wir Panik verbreiten, dann
haben die Terroristen schon gewonnen. Ich bin den Innenministern der Länder - dabei schließe ich Herrn Kollegen Bouffier ausdrücklich ein - dankbar dafür, dass sie
sich in gleicher Weise äußern. Das ist vielleicht auch das
Ergebnis der sehr guten Sitzung der Innenministerkonferenz vor einigen Wochen in Bremen, in der wir noch einmal gemeinsam die Sicherheitslage beurteilt und in der
Beurteilung Übereinstimmung erzielt haben.
In dem vorliegenden Antrag der CDU/CSU-Fraktion
ist folgender Satz enthalten:
Jeder Staat, der den Terror wirksam bekämpfen will,
hat ... zum Schutz aller seiner Bürgerinnen und Bürger die Verpflichtung, ein umfassendes rechtliches
und administratives Sicherheitsnetz zu schaffen, sodass Schritt für Schritt hieraus ein weltweites Sicherheitsnetz entsteht.
Diesem Satz kann ich mich anschließen. Wir haben das
darin formulierte Ziel bereits weitgehend verwirklicht.
Deutschland kann sich im internationalen Vergleich wahrlich sehen lassen. Wir haben sowohl auf nationaler wie
auch auf internationaler Ebene eine Vielzahl von Maßnahmen eingeleitet und durchgeführt, die wirksam und
sehr rasch den Schutz vor Aktionen des internationalen
Terrorismus verbessert haben und weiter stärken werden.
Das wird auch bei der bevorstehenden Konferenz der
Außenminister in New York erkennbar werden, in der auf
der Basis der Resolution 1373 des UN-Sicherheitsrats darüber zu sprechen sein wird, wer in der Zwischenzeit was
getan hat.
Besonders hervorheben will ich die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten
Staaten von Amerika und der Bundesrepublik
Deutschland. Diese Zusammenarbeit wird in kaum zu
übertreffender Form vom amerikanischen Präsidenten,
aber auch von dem amerikanischen Justizminister Ashcroft
und dem neuen Minister für Homeland Security besonders gelobt.
Herr Kollege Koschyk, auch die jüngsten Festnahmen
in Frankfurt sind Ausdruck dieser sehr guten Zusammenarbeit.
({1})
Herr Kollege Ashcroft hat mich deshalb angerufen und
gebeten, ich solle der deutschen Öffentlichkeit mitteilen,
Staatsminister Volker Bouffier ({2})
dass dies das Ergebnis einer besonders guten amerikanisch-deutschen Zusammenarbeit ist. Weil Sie, Herr
Koschyk, in diesem Zusammenhang einen bestimmten
Soupçon zum Ausdruck gebracht haben, gebe ich Ihnen
einen guten Rat oder verbinde damit eine Bitte, um es
freundlich auszudrücken: Seien Sie in der Beurteilung
dieses Vorgangs in der Öffentlichkeit vorsichtig! Alles
kann man über solche Ermittlungsverfahren in der Öffentlichkeit nicht darstellen.
({3})
Ich bin aber gern bereit, Ihnen in einem vertraulichen Gespräch etwas darüber zu sagen.
({4})
- Auch im Ausschuss, wenn Sie den Wunsch haben. Wenn
Sie allerdings glauben, wir könnten Ermittlungsverfahren
immer erst mit dem Innenausschuss absprechen, dann irren Sie sich gewaltig.
({5})
- Ich mache Ihnen doch ein freundliches Angebot. Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis und seien Sie lieber dankbar dafür, als schon wieder Ihre Stimme zu erheben. Herr Koschyk, ich habe diesen Vorgang jetzt sehr
höflich und freundlich kommentiert - ganz im Gegensatz
zu einigen demagogischen Äußerungen aus Ihren Kreisen.
({6})
- Ja, das sollten Sie ruhig einmal zur Kenntnis nehmen.
({7})
Meine Damen und Herren, deshalb ist die CDU/CSUForderung nach Vorlage eines ressortübergreifenden Terrorismusbekämpfungskonzeptes überholt, das „die Aspekte
von polizeilicher und sonstiger Gefahrenabwehr, Strafverfolgung und Vorfeldermittlung, Außen- und Sicherheitspolitik, Katastrophen- und Zivilschutz sowie Außenwirtschaft und Entwicklungshilfe miteinander verbindet“. Im
Rahmen der bestehenden Kompetenzordnung zwischen
Bund und Ländern wurde mit den Antiterrorpaketen I
und II das erforderliche Konzept bereits vor über einem
Jahr vorgelegt. Dieses Konzept bewährt sich. Sie kommen
also ein bisschen spät.
({8})
Die Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik Deutschland haben damit erheblich verbesserte Möglichkeiten zur
Früherkennung terroristischer Gefahren sowie zur Verbrechensbekämpfung gewonnen. Ihnen wurden umfangreiche Befugnisse eröffnet, die sie in enger nationaler und
internationaler Kooperation wahrnehmen. Die Erfolge
dieser Arbeit sind durch eine Reihe operativer Maßnahmen und Ermittlungsverfahren sichtbar geworden. Es ist
auch kein Zufall, dass sich viele ausländische Besucher
- heute war der kanadische Justizminister bei mir zu
Gast - immer wieder danach erkundigen, was wir gemacht
haben. Sie interessieren sich dafür, weil sie Ähnliches
zum Teil erst noch nachholen müssen.
Im Gegensatz zu dem verengten Blickwinkel der
CDU/CSU-Fraktion ist es auch Ziel des Konzeptes, nicht
nur weitere Anschläge durch polizeiliche und andere
Maßnahmen zu verhindern, sondern darüber hinaus die
Ursachen des internationalen Terrorismus im Rahmen einer langfristigen Bekämpfungsstrategie zu beseitigen. In
dieser umfassenden Sicherheitspolitik greifen polizeiliche, nachrichtendienstliche und militärische Elemente ineinander. Die Beispiele Afghanistan und Balkan belegen,
dass die Gefahren des internationalen Terrorismus nicht
zuletzt aus zerfallenden Staaten hervorgehen, in denen
sich der Terrorismus weitgehend ungestört und unbeobachtet entwickeln kann.
Deshalb leistet die Bundesregierung aktive Hilfe beim
Aufbau stabiler Staatswesen und bei der Lösung gesellschaftlicher Konflikte. Ein Beispiel für die herausragenden Leistungen der Bundesregierung und der Bundeswehr sowie anderer Organisationen sind die Erfolge beim
Wiederaufbau staatlicher Strukturen in Afghanistan.
({9})
Die Leistungen der deutschen Polizeiexperten beim Aufbau der afghanischen Polizei werden weltweit gelobt. Den
Polizeibeamtinnen und -beamten, die dort unter Hinnahme großer Gefahren diese Arbeit leisten, spreche ich
hier vor dem Hohen Hause meinen ganz besonderen Dank
aus.
({10})
Besonders hebe ich die Leistungen eines ehemaligen Abteilungsleiters aus meinem Hause, Herrn Rupprecht, hervor, der dort die erste Mission geleitet hat.
Die Bundesregierung hat sich im Übrigen vom Beginn
ihrer Amtszeit an mit großer Entschlossenheit der Verbesserung des Schutzes vor Terrorismus, Extremismus und
religiösem Fundamentalismus gewidmet. Aus der Erkenntnis, dass diese extreme Form der Intoleranz eine
neuartige Bedrohung für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung insgesamt darstellt, dürfen wir nicht
zögern, die neu geschaffenen rechtsstaatlichen Instrumente gegen verfassungsfeindliche und Gewalt verherrlichende Organisationen auch mit der gebotenen Härte einzusetzen. Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche
Bekämpfung des Terrorismus ist selbstverständlich eine
angemessene Ausstattung unserer Sicherheitsbehörden
mit Personal und Sachmitteln. Ich möchte den Hinweis
wiederholen: Der Bund hat trotz angespannter Haushaltslage für den angemessenen Ausbau der finanziellen, personellen und sachlichen Ausstattung der Sicherheitsbehörden umfassend Sorge getragen. So wurden in der
Zeit von 1998 bis 2002 die Ausgaben im Bereich der inneren Sicherheit um über 22 Prozent erhöht.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auf Folgendes hinweisen - das gehört zwar nicht unmittelbar zu unserem
Thema, aber zur aktuellen Diskussion -: Es wird ja sehr
kontrovers über die Tarife im öffentlichen Dienst gespro1492
chen. Eines muss man aber auch sagen: Wenn wir über die
Sicherheitspolitik reden, dann müssen wir auch den
Grundsatz befolgen, dass unsere Polizeibeamten genauso
eine Leistung erbringen wie die Beschäftigten im Bankensektor oder in anderen Branchen und deshalb einen
Anspruch auf angemessene Vergütung haben.
({11})
Die Unterstellung von Sicherheitslücken im Antrag der
CDU/CSU-Fraktion entbehrt jeder Grundlage.
({12})
Sie ist auch verantwortungslos, weil Sie mit ihr in der Öffentlichkeit für Verunsicherung sorgen wollen. Auch die
Forderungen, die in diesem Antrag gerade im Bereich des
Ausländer- und Asylrechts erhoben werden, sind in der
Sache nicht nachvollziehbar. Selbstverständlich hat die
Bundesregierung unmittelbar nach dem 11. September
2001 geprüft, mit welchen gesetzlichen Änderungen das
geltende Recht an die Bedrohungslage angepasst werden
kann. Eine Vielzahl wirkungsvoller Rechtsänderungen im
Ausländer- und Asylrecht sowie im Ausländerzentralregister wurden mit dem Terrorismusbekämpfungsgesetz zügig
in Kraft gesetzt.
({13})
Weiter gehende Rechtsänderungen, wie sie von der Opposition gefordert werden, sind nicht erforderlich und daher abzulehnen,
({14})
wobei ich anmerken möchte, dass es ein Widerspruch ist,
wenn Sie uns auf der einen Seite eine Gesetzesflut vorwerfen und auf der anderen Seite immer wieder neue Gesetze fordern.
Es beginnt schon mit der Behauptung in Ihrem Antrag,
dass das Ausländerrecht nicht ausreichend abschrecke.
Dieses Verständnis des Ausländerrechts ist ziemlich seltsam.
({15})
Das Ausländerrecht soll nämlich nicht generell abschrecken, sondern den zuständigen Behörden das notwendige
Instrumentarium bereitstellen, das es ihnen ermöglicht,
ihre Aufgaben differenziert und unter Berücksichtigung
der deutschen Sicherheitsinteressen wahrzunehmen.
Den Sicherheitsinteressen haben wir bei der Neufassung
der ausländerrechtlichen Vorschriften entsprochen. Leider muss ich aber beklagen - das hat eine Umfrage bei
den Ländern ergeben; dabei ist es egal, wer in den einzelnen Ländern gerade regiert -, dass beim Vollzug noch
erhebliche Lücken festzustellen sind. Die Defizite liegen
also eher im Vollzug als in den Formulierungen des Gesetzes.
Herr Kollege Bosbach, Sie weigern sich beharrlich
- wenn ich einen Moment Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen darf -, den Unterschied anzuerkennen, der
zwischen strafprozessualen Kriterien und polizeirechtlichen Bestimmungen besteht.
({16})
Beim Polizeirecht geht es um Gefahrenabwehr. Dort
müssen wir die Kriterien festlegen, die deutlich machen,
unter welchen Voraussetzungen eine Gefahrenlage besteht und welche Maßnahmen gegebenenfalls getroffen
werden können. Das hat auch seinen Platz im Ausländerrecht.
({17})
- Das ist der Hintergrund.
({18})
- Ja, im Gesetz steht: wenn Tatsachen belegen, dass eine
Gefahr besteht. Sie lesen leider das Gesetz nicht. Sie weigern sich beharrlich, das zu tun.
({19})
- Nein, Herr Bosbach, ich erlaube jetzt keine Zwischenfragen.
({20})
Das tun Sie ja auch nicht.
({21})
- Nein, auch der Kollege Bouffier hat keine Zwischenfragen zugelassen. Das wissen Sie doch. Ein so schlechtes
Gedächtnis sollten Sie nicht haben. Aber das haben Sie ja
auch bei anderen Fragen.
Sie wollen mit dem Begriff des Verdachts arbeiten.
Das ist aber Sache des Strafprozesses. In diesem Zusammenhang muss ich sagen: Herr Röttgen, ich war - Sie
können ja die Debatte noch einmal mit Frau Zypries
führen - über Ihre Ausführungen entsetzt, insbesondere
darüber, dass Sie sozusagen vorläufig vollstreckbare
Strafurteile fordern, also die Untersuchungshaft nutzen
wollen, um eine strafrechtliche Verurteilung vorwegzunehmen.
({22})
Da haben Sie sich aber wirklich vergaloppiert. Darüber
müssen Sie noch einmal nachdenken und dazu müssen Sie
die entsprechenden Kommentare nachlesen. Dann werden Sie selbst ins Grübeln kommen.
Die darüber hinausgehenden Forderungen der CDU/
CSU-Fraktion sind nicht geeignet, die Sicherheitslage zu
verbessern, und lassen leider auch die notwendige Sorgfalt, die bei derartigen Forderungen unerlässlich ist, weitgehend vermissen. Sonst wäre Ihnen ja zum Beispiel aufgefallen, dass Ihre Forderung nach Herabsetzung der
Strafhöhe von drei Jahren als Voraussetzung für die Regelausweisung völlig ins Leere geht. Die Regelausweisung nach § 47 Abs. 2 Nr. 1 des Ausländergesetzes setzt
nach geltendem Recht nur die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung voraus; eine Mindeststrafhöhe wird nicht gefordert. Jetzt muss ich die Frage an Sie
richten: Wollen Sie die Ausweisung von Straftätern wieder
erschweren? Die Frage müssen Sie beantworten, wenn
Sie so etwas in Ihren Antrag hineinschreiben.
({23})
Insbesondere im Bereich der Regelungen zur Ausweisung und Abschiebung hat das Terrorismusbekämpfungsgesetz erhebliche sachgerechte Änderungen des Ausländergesetzes bewirkt.
Des Weiteren wurden das Ausländergesetz um Regelungen zur Ermöglichung zusätzlicher identitätssichernder Maßnahmen erweitert und eine enge Zusammenarbeit
von Ausländerbehörden, Auslandsvertretungen und Sicherheitsbehörden durch Regelungen zum Datenaustausch sichergestellt.
Auch die im Terrorismusbekämpfungsgesetz vorgenommenen Änderungen des Ausländerzentralregistergesetzes, insbesondere der Aufbau der AZR-Visa-Datei
zu einer Visa-Entscheidungsdatei - sonst macht sie gar
keinen Sinn -, verbessern die Kontrolle der einreisenden
Ausländer und erleichtern eine rasche Feststellung in der
Frage, ob ein in Deutschland lebender Ausländer über ein
gültiges Aufenthaltsrecht verfügt.
Ich habe eine Bitte an die Präsidentschaft. Ich habe nur
noch relativ wenig Redezeit.
({24})
Ich werde von meinem Recht als Mitglied der Bundesregierung Gebrauch machen, meine Redezeit auszudehnen.
Es tut mir Leid. Aber nachdem hier so viel gesprochen
worden ist,
({25})
werde ich heute einmal ausnahmsweise davon Gebrauch
machen; ich hoffe, ich komme an der Stelle nicht mit meiner Fraktion in Konflikt.
({26})
- Sie sind einverstanden. Ich bedanke mich bei der Opposition.
({27})
- Ja, dann machen wir eine neue Runde.
({28})
Nicht nur unsere nationalen Maßnahmen entsprechen
den aktuellen Notwendigkeiten. Deutschland nimmt
auch innerhalb der Europäischen Union eine Vorreiterrolle bei der Sicherung gegen terroristische Gewalttäter
ein. So haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf Initiative Deutschlands hin verpflichtet, innerhalb der nächsten fünf Jahre einheitliche Lichtbildvisa einzuführen. Damit wird der schon heute hohe
Sicherheitsstandard des EU-Visums noch weiter verbessert.
Deutschland forciert darüber hinaus auf Ebene der EU
die Aufnahme weiterer biometrischer Merkmale von Fingern, Händen und Gesicht der Inhaber in Dokumenten.
Diese Merkmale sollen in verschlüsselter Form in die
Visa- und Aufenthaltstitel eingebracht werden.
({29})
- Wenn Sie es auch wollen, ist es ja gut; dann können Sie
mich ja unterstützen. - Erste Schritte zur Einrichtung einer EU-Visa-Datenbank, die Deutschland maßgeblich
vorangetrieben hat, sind von der EU bereits eingeleitet
worden.
Mit der Neuregelung des Asylverfahrens durch das
Terrorismusbekämpfungsgesetz erfüllt Deutschland seine
völkerrechtlichen Verpflichtungen aus den Resolutionen
des UN-Sicherheitsrats, ohne dabei den humanitären Charakter des Asylrechts zu beeinträchtigen. Durch die Normierung des automatisierten Abgleichs der Fingerabdrücke
von Asylbewerbern gegen polizeiliche Tatortspuren, aber
auch durch die Einführung der Nutzungsmöglichkeit der
identitätssichernden Sprachanalyse zur Bestimmung der
Herkunftsregion, auf die auch Sicherheitsbehörden bei
Bedarf zurückgreifen können, trägt Deutschland dem gesteigerten Sicherheitsbedürfnis auch beim Schutz politisch Verfolgter hinreichend Rechnung.
Die von der Union vorgeschlagene Modifizierung des
Abschiebungsschutzes ist ebenfalls weder erforderlich
noch geboten. Gewährung und Ausschluss des Abschiebungsschutzes für politisch Verfolgte stehen in Deutschland im Einklang mit den Vorgaben des internationalen
Rechts. Da die Resolution 1373 aus dem Jahr 2001 selbst
keinen über die Genfer Flüchtlingskonvention hinausgehenden Anschlusstatbestand zum Abschiebungsschutz
enthält, ist die von der CDU/CSU geforderte Implementierung in die entsprechende Vorschrift des Ausländergesetzes ein völlig ungeeigneter Vorschlag.
({30})
Weiterhin wird verkannt, dass die höchstrichterliche
Rechtsprechung die Verpflichtung aus der Genfer Flüchtlingskonvention keinesfalls infrage stellt. Die Anwendung des Ausschlusstatbestandes bei ausländischen Terroristen erfordert demnach stets eine Einzelfallprüfung
unter strenger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Auch und gerade bei der Terrorismusbekämpfung
sind die Rechte von politisch Verfolgten mit den legitimen
Sicherheitsinteressen des Staates sehr sorgfältig abzuwägen.
({31})
Die von der Union vorgeschlagenen pauschalen Wertungen bieten keinen Ansatz zu einer verantwortungsbewussten Politik und zu einer sachgerechten Lösung solcher Interessenkonflikte.
Ich will auch auf Ihre Vorhalte zum Staatsangehörigkeitsrecht eingehen. Alles das, was Sie da vorschlagen,
führt überhaupt nicht weiter. Wir sind es gewesen, die im
Staatsangehörigkeitsrecht - § 86 Abs. 1 Nr. 2 des Ausländergesetzes - erstmals eine Extremistenklausel eingeführt haben.
({32})
Herr Kollege Bosbach, Sie haben in diesem Zusammenhang aus dem Kaplan-Urteil zitiert und auf einige
eingebürgerte Personen verwiesen. Ich kann Sie nur darauf hinweisen: Diese Personen sind im Rahmen des
Rechts, das Sie zu vertreten haben, eingebürgert worden
und nicht im Rahmen des neuen Rechts.
({33})
- Deshalb machen wir es jetzt besser und deshalb werden
diese Überprüfungen selbstverständlich vorgenommen.
Sie haben Schleswig-Holstein erwähnt. Diesbezüglich
haben Sie in einem Punkt Recht: Man hatte dort eine
falsche Formulierung. Inzwischen hat man das aber behoben. Offenbar sind Sie da nicht auf dem neuesten Stand.
({34})
- Nein, das ist falsch. Sie haben hier behauptet, das sei nur
noch mit Zustimmung möglich. Das ist falsch. Ich habe
mich erkundigt: Das geht inzwischen anders, ohne Zustimmung. Da haben Sie auf das falsche Pferd gesetzt.
({35})
- Nein, gestern nicht. Erkundigen Sie sich! Ich teile Ihnen
jetzt gerne den neuesten Stand mit.
Ich will ferner auf einen anderen wichtigen Punkt zu
sprechen kommen, der in der Öffentlichkeit in der letzten
Zeit eine immer größere Rolle gespielt hat: das System
des Zivil- und Katastrophenschutzes. Die Union zeichnet in ihrem Antrag ein Bild, das den Eindruck nahe legt,
dass bei der - in der Tat notwendigen - Umstrukturierung
dieses Bereiches bei null begonnen werden müsse.
Richtig ist, dass schon seit den Anschlägen am 11. September offener als bisher - das müssen wir uns gegenseitig bestätigen - über mögliche Schwachstellen gesprochen wird, die das Ergebnis einer durch die veränderte
Sicherheitslage bedingten Rückführung des Zivilschutzes
zu Beginn der 90er-Jahre sind.
Der Kritik aus den Reihen der CDU/CSU könnte ich
jetzt mit dem Hinweis begegnen - darüber haben wir
schon gesprochen -, dass der massive Abbau der Zivilschutzkapazitäten unter ihrer Regierungsverantwortung
durchgeführt wurde. Aber der Hinweis auf Versäumnisse
in der Vergangenheit bringt uns alle nicht weiter, zumal
ich nicht bestreiten kann, dass auch wir diesen Duktus
nach der Regierungsübernahme eine Weile fortgesetzt haben. Lassen wir die Vorwürfe an beide Adressen einmal
beiseite und kümmern wir uns lieber um das, was jetzt zu
tun ist, und um die Zukunft. Das ist die vernünftigere Einstellung zu diesem Problem.
({36})
Ich halte es deshalb für angemessen, diese Frage nunmehr
sachlich zu diskutieren.
Derzeit stehen auf der einen Seite der drohende militärische Angriff als Grundlage für die Zivilschutzaufgabe in der Zuständigkeit des Bundes, auf der anderen
Seite die so genannte friedensmäßige Katastrophe in der
Zuständigkeit der Länder. Vor wenigen Jahren war diese
Regelung noch stimmig. Allerdings passt die asymmetrische Bedrohung durch den internationalen Terrorismus
nicht mehr ohne weiteres in die tradierte Zuständigkeitsverteilung. Auch mancher Ablauf bei der Bewältigung der
Flutkatastrophe stellt die herkömmlich sehr strenge Zweiteilung der Zuständigkeiten infrage.
Wir haben jetzt die Chance, eine neue Strategie zum
Schutz der Bevölkerung in Deutschland durchzusetzen.
Daran arbeiten wir bereits. Mit den Ländern habe ich mich
im vergangenen Jahr in der Ständigen Konferenz der Innenminister und Innensenatoren auf eine neue Rahmenkonzeption für den Zivil- und Katastrophenschutz verständigt. Lesen Sie das doch einfach einmal nach und
lesen Sie auch, was auf dem Gebiet in der Zwischenzeit
alles geschehen ist. Wegen der Kürze der Redezeit verzichte ich auf eine Aufzählung, welche Maßnahmen wir
- übrigens schon vor dem 11. September - in die Wege geleitet haben.
Eines möchte ich doch erwähnen: Wenn wir die sich in
diesem Zusammenhang stellenden Fragen ernst nehmen,
müssen wir uns auch für einen modernen Digitalfunk einsetzen; den braucht Deutschland dann nämlich dringend.
Daran sollten nun wahrlich alle mitwirken.
({37})
Ich bitte Sie aber auch, einmal im Land Hessen nachzufragen, warum es sich in dieser Frage so zögerlich verhält.
Sie sollten dann vielleicht noch einmal mit Herrn Ministerpräsidenten Koch sprechen. Ich wäre Ihnen, Herr
Koschyk, für jede Unterstützung in diesem Zusammenhang dankbar.
({38})
- Ja, auch bei der IMK; aber es geht ja leider nicht nur
diese an, sondern auch die Finanzminister. Da habe ich
auch einige Probleme mit sozialdemokratisch regierten
Ländern. Ich bin da ganz ehrlich.
({39})
- Ja, natürlich. Deshalb meine Bitte: Reden Sie mit Ihren
Leuten, ich rede mit unseren Leuten. Dann kommen wir
vielleicht gemeinsam ein Stückchen voran. Im Rahmen
unserer internationalen Aktivitäten haben wir uns auch
um diese Fragen gekümmert. Ich will es hier nur in dieser
gerafften Form vortragen.
Ich könnte jetzt noch über die Frage des Vereinsverbotes sprechen. Da ist Ihnen, Herr Koschyk, ein Lapsus
bezüglich des Zeitpunktes unterlaufen. Ich buche das einmal auf das Konto des Wahlkampfes. Ich kann mich nicht
an solchen Daten orientieren. Ich mache das dann, wenn
ich in Abstimmung mit Bund und Ländern den richtigen
Zeitpunkt für gekommen halte. Ich bin gerne bereit, Ihnen
in einem Vieraugengespräch die Hintergründe hierfür zu
erläutern. Was Sie dort als Soupçon untergebracht haben,
sollten Sie lieber lassen. Ich finde das nicht fair. Ich wäre
Ihnen wirklich dankbar, wenn wir uns nicht auf dieses Niveau begäben.
Ich könnte auch noch etwas zur Kronzeugenregelung
sagen, Herr Röttgen. Das, was wir vorhaben, stellt den
richtigen Ansatz dar. Sie haben da offensichtlich immer
noch die alte Formel im Kopf.
({40})
- Wenn Sie sie nicht mehr im Kopf haben, ist es ja gut;
dann sind wir uns ein Stückchen näher gekommen.
Wir können das auch etwas umständlich Aufklärungsgehilfe nennen, wie Herr Kollege Beck es vorschlägt vielleicht ist das sogar ein ganz guter Ausdruck, der der
Sache näher kommt als der Begriff Kronzeuge.
({41})
- Ich will Ihnen erklären, warum er der Sache näher
kommt: weil es nicht darum geht, einen Handel bezüglich
einer Aussage und einer Vergünstigung zu machen. Das
führt in die Irre. Das Modell der „pentiti“ in Italien - das
ist ja das Thema - hat übrigens auch in die Sackgasse geführt. Es kommt vielmehr darauf an, ein rechtliches Instrumentarium zu finden, das den Personen, die in objektiv
nachvollziehbarer Weise zur Aufklärung von schwersten
Verbrechen beitragen, Vergünstigungen in Aussicht stellt.
Das ist der eigentliche Punkt. Darüber können wir uns
verständigen, auch mit den Grünen, die da eine klare Linie verfolgen; da bin ich sicher.
({42})
- Doch, das ist der Punkt. Deshalb hoffe ich, dass hier die
Vernunft siegt.
Lassen Sie mich zum Schluss, weil das ja von Herrn
Kollegen Bouffier sehr ausführlich angesprochen worden
ist, auf den jüngsten Vorfall in Frankfurt und auf die
grundsätzliche Frage des Einsatzes der Bundeswehr im
Innern eingehen. Mein Standpunkt ist nach wie vor, dass
die verfassungsrechtlichen Grundlagen, wie sie im
Grundgesetz stehen, dafür ausreichen, dass das Militär da,
wo es als Ultima Ratio notwendig ist, eingreifen kann. Ich
habe aber auch Verständnis dafür, dass einige Fragen im
Zusammenhang mit dem Air Policing auftreten, wie es so
schön heißt. Deshalb hat das Innenministerium auch gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium und dem
Verkehrsministerium eine Arbeitsgruppe gegründet, die
sich mit diesen Fragen beschäftigt.
Lassen Sie uns doch diese Debatte ergebnisoffen
führen. Wenn jeder mit fliegenden Fahnen in die Debatte
hineingeht und dort sein fest gefügtes Urteil durchsetzen
will, kommen wir kein Stück weiter. Sie wissen, dass wir
eine strikte Trennung zwischen polizeilicher und militärischer Tätigkeit wollen. Darüber gibt es, wie ich glaube
- Herr Koschyk nickt -, im Grundsatz eigentlich keine
Meinungsunterschiede.
Bei dem konkreten Fall lag ein Abschuss völlig außerhalb dessen, was man in Betracht ziehen konnte. Übrigens
hat sich Herr Kollege Bouffier nicht rechtswidrig verhalten, sondern aufgrund der bestehenden Verfassungslage
völlig korrekt gehandelt, als er sich an Herrn Struck gewandt und um Hilfe der Bundeswehr gebeten hat. Auch
der Kollege Struck hat sich korrekt verhalten. In dieser Situation wäre ein Abschuss das Dümmste gewesen, was
man hätte tun können. Man hatte die Hochhäuser ja
geräumt und wenn der Pilot mit der entführten Maschine
in diese Häuser hineingeflogen wäre, hätte er nur sich
selbst umgebracht. Wenn der Motorsegler aber abgeschossen worden wäre, hätte das einen unabsehbaren
Schaden verursacht.
Der Abschuss wäre also nicht das geeignete Mittel gewesen, auch aus polizeilicher Sicht nicht.
({43})
In einer anderen Situation könnte er vielleicht das letzte
Mittel sein. Man müsste einmal sehr genau überlegen, ob
es eine solche Situation geben könnte. Aber wir müssen
- da wiederhole ich mich - eher versuchen, zu verhindern,
dass Maschinen entführt werden.
({44})
Da ist noch einiges zu tun, auch vonseiten der Länder.
Wer mir in diesem Zusammenhang Vorwürfe macht,
liegt falsch, lieber Herr Koschyk. Wir haben den Ländern
sogar im Vorgriff auf die EU-Luftsicherheitsverordnung
Empfehlungen gegeben, obwohl die Flugplätze der allgemeinen Luftfahrt in die Zuständigkeit der Länder fallen. Das sage ich Ihnen nur, damit Sie uns nicht immer
wieder den schwarzen Peter zuschieben.
Ich bin dafür, dass wir die Dinge nüchtern diskutieren.
Wenn Sie einen Gesprächswunsch haben, werde ich mich
dem nicht verweigern. Wir werden Sie auch in Kenntnis
darüber setzen, was die eingesetzte Arbeitsgruppe erarbeitet. Aber lassen Sie uns nicht an der falschen Stelle ansetzen und Bestrebungen wieder aufleben lassen, gegen
die sich seinerzeit interessanterweise auch der Kollege
Rühe zu Recht gewehrt hat.
({45})
Damals hat Herr Schäuble eine allgemeine Öffnung des
Militärs für die polizeiliche Arbeit gefordert. Herr Rühe
hat das zu Recht abgelehnt und gesagt: Die Bundeswehr
ist mit ihren militärischen Aufgaben voll ausgelastet. Sie
wird sich auch in Zukunft auf diese Aufgaben konzentrieren. Zwischen äußerer und innerer Sicherheit, zwischen
Armee und Polizei sollte auch in Zukunft unterschieden
werden. - Wie wahr, Herr Rühe! Dabei werden wir bleiben, meine Damen und Herren.
({46})
- Dem sage ich dasselbe. Ich habe Ihnen doch berichtet,
dass wir eine Arbeitsgruppe eingesetzt haben.
Es tut mir sehr Leid, dass ich meine Redezeit so ausgedehnt habe. Die Fraktionsgeschäftsführer sind inzwischen in heller Aufregung.
({47})
Ich gelobe Besserung und werde mir eine solche Überziehung der Redezeit nicht mehr erlauben, obwohl das
nach der Geschäftsordnung ja möglich ist.
Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen, meine
Damen und Herren: Dieses Thema ist viel zu ernst, als
dass es irgendeine Seite als taugliches Instrument für parteipolitische Profilierung ansehen sollte. Das ist meine
volle Überzeugung.
({48})
Ich bin absolut gesprächsoffen. Lassen Sie uns diese Fragen so behandeln, dass wieder etwas an gemeinsamer
Verantwortung der Demokraten für die Sicherheit der
Menschen in Deutschland und außerhalb unseres Landes
spürbar wird. Dann kommen wir einen Schritt voran. Wir
sollten auf diese Weise eine konstruktive Debatte führen.
Niemand sollte sich auf ein erhöhtes Podest stellen und
behaupten, er habe die Weisheit für alle Zeiten gepachtet.
Das ist erfahrungsgemäß nie der Fall. Meine Bitte ist
wirklich, dass wir konstruktiv diskutieren und diese Fragen nicht für Polemik instrumentalisieren. Dafür taugt
dieses Thema am allerwenigsten.
Ich bedanke mich für Ihre Geduld.
({49})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Röttgen
das Wort.
Herr Minister Schily, ich melde mich zu Wort, weil ich
den Appell, den Sie am Ende Ihrer Rede ausgesprochen
haben, sehr ernst nehme. Sie haben zu Beginn Ihrer Rede
an die Gemeinsamkeit der Demokraten appelliert. Dieser
Appell setzt sicherlich zunächst die Bereitschaft zur sachlichen Auseinandersetzung mit den Vorschlägen der politischen Gegenseite voraus.
Am Ende einer langen Debatte möchte ich einen Punkt
nennen, auf den Sie mich konkret angesprochen haben
und der leider beispielhaft für eine Reihe von Fällen steht,
in denen Sie sich nicht sachgerecht mit unseren Vorschlägen auseinander gesetzt haben. Ich will das am Beispiel
dieses Punktes ganz konkret nachweisen.
Wir haben vorgeschlagen - darauf haben Sie sich bezogen -, bei dringendem Tatverdacht zur Abwehr von terroristischen Taten eine präventive Untersuchungshaft
einzuführen. Sie haben sich generell gegen dieses Instrument gewandt und haben es der Sache nach als rechtsstaatswidrig bezeichnet, indem Sie von einer vorläufigen
Vollstreckung im Strafrecht gesprochen haben.
Ich möchte anregen, dass Sie sich § 112 a der Strafprozessordnung ansehen. Sie werden dann feststellen, dass es
dieses Instrument, das Sie als solches für rechtsstaatswidrig halten, im geltenden Strafprozessrecht etwa zur Abwehr von Sexualstraftaten und anderen schweren Verbrechen gibt. Dieses Instrument ist also geltendes Recht.
Wir sind der Auffassung, dass es bei konkretem Verdacht der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung
und der Begehung terroristischer Straftaten wegen der
möglicherweise nicht absehbaren Dimension der drohenden Verbrechen gerechtfertigt ist, die präventive Untersuchungshaft auch in diesem Fall anzuwenden. Wie gesagt,
in anderen Fällen gibt es sie bereits. Dieses Instrument ist
in unserem Strafprozessrecht bekannt.
Wenn Sie sich und wenn sich Ihr Haus ernsthaft mit unserem Vorschlag auseinander gesetzt hätten, hätten Sie
diesen Vorwurf uns gegenüber nicht erhoben. Die Bereitschaft der Mehrheit, die Gesetze beschließen kann, sich
mit Argumenten der Gegenseite, also der Minderheit, auseinander zu setzen, ist sicherlich geboten, wenn wir dieses Thema in der von Ihnen beschriebenen Art und Weise
gemeinsam behandeln wollen. Um dies zu verdeutlichen,
habe ich mich zu Wort gemeldet.
({0})
Herr Kollege Röttgen, es ist gut, dass wir in diesem
sachlichen Ton miteinander reden. Das begrüße ich.
({0})
- Sie müssen doch nicht gleich protestieren, wenn ich etwas Nettes sage, Herr Koschyk.
({1})
Wir müssen zwei Aspekte unterscheiden. Die Untersuchungshaft dient in erster Linie der Sicherung des Verfahrens. Dafür werden bestimmte Kriterien vorgegeben:
Wenn Fluchtgefahr, zum Beispiel wegen der Höhe der
drohenden Strafe, oder wenn Verdunklungsgefahr besteht, kann Untersuchungshaft angeordnet werden. Den
anderen Gesichtspunkt, die polizeiliche Gefahrenabwehr,
können Sie im Polizeirecht finden. In manchen Fällen soll
die Haft Menschen daran hindern, sich an Straftaten zu
beteiligen.
Herr Kollege Röttgen, diese Unterscheidung sollten
wir aufrechterhalten. Das ist geltendes Recht. Sie dürfen
die Dinge nicht durcheinander bringen. Bei einer drohenden Verurteilung liegt der Fall anders als beim Vorliegen
einer Wiederholungsgefahr. In diesem Fall spielt der Abwehrcharakter im Strafrecht eine Rolle. Natürlich gibt es
da eine Schnittstelle.
({2})
- Ja, aber nur an der Stelle. Wenn Sie eine Wiederholungsgefahr befürchten, dann können Sie auf Grundlage
der geltenden Vorschriften, wie Sie es selber gesagt haben, entsprechend eingreifen.
Ich biete Ihnen an, dass wir einmal ein gemeinsames
Gespräch darüber führen. Staatssekretär Hartenbach
scharrt schon mit den Hufen, weil auch er gerne in die Debatte eingreifen will. Ich mache Ihnen dieses Angebot, obwohl dieser Bereich mehr in die Zuständigkeit meiner
ehemaligen Staatssekretärin fällt. Sie ist eine sehr gute Juristin; auch sie wird in dieser Frage gerne ihre Meinung
mit Ihnen austauschen. Wenn wir das in dem Stil tun, in
dem Sie eben Ihre Kurzintervention gehalten haben, dann
kommen wir ein Stück weiter.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach § 35 Abs. 2 der
Geschäftsordnung kann die Fraktion, die eine abweichende Meinung vortragen lassen will, für einen ihrer
Redner eine entsprechende Redezeit verlangen, wenn ein
Mitglied der Bundesregierung länger als 20 Minuten gesprochen hat. Herr Kollege Binninger, Sie haben jetzt die
Möglichkeit, 16 Minuten - Sie müssen natürlich nicht so
lange reden - zu sprechen.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine spontane Rede von 16 Minuten wird Ihnen erspart bleiben. Ich möchte aber die Gelegenheit nutzen,
an das anzuknüpfen, was der Herr Innenminister zum
Schluss gesagt hat. Er hat gesagt, das Thema der terroristischen Bedrohung sei viel zu ernst, als dass es sich für
parteipolitische Polemik eignen würde, und an die Gemeinsamkeit der Demokraten appelliert. Das kann ich
nur unterstützen. Nur waren davor etwa 28 Minuten Ihrer
Rede - Herr Minister, die Kritik muss ich direkt anbringen - genau das Gegenteil von Gemeinsamkeit der Demokraten. Das war nur oberlehrerhaft. Auf unsere Position sind Sie mit keinem Wort eingegangen.
Sie hatten mit Herrn Minister Bouffier Ihr Rederecht
getauscht, weil Sie ihm zuhören wollten. Damit hatte ich
die Hoffnung verbunden, dass Sie auf diesen sehr sachlichen Vortrag von Herrn Bouffier - ({0})
- Ich unternehme einen weiteren Versuch. Herr Bouffier
hat, wie ich finde, das Problem des Bundeswehreinsatzes
bei einem entführten Flugzeug in sehr sachlicher Weise
beleuchtet. Dazu haben Sie so gut wie nichts gesagt, nur
am Schluss einige wenige Sätze.
Ich habe selber 23 Jahre im Sicherheitsbereich gearbeitet. Wenn Sie in der Diskussion sagen, es sei ja alles geregelt, lassen Sie die Menschen, die im konkreten Moment Verantwortung tragen, ganz allein, und das kann
nicht sein. Wir brauchen eine gesetzliche Regelung, damit
wir Handlungssicherheit für alle haben.
({1})
- Herr Schmidt, wir können uns nicht immer vorhalten,
was wir Ende der 80er- oder Anfang der 90er-Jahre entschieden und wie wir die Situation bewertet haben. Wir
sind uns doch einig - das wird aus den Beiträgen auch immer deutlich -, dass sich die Bedrohungslage nach dem
11. September 2001 verändert hat. Das heißt, wir können
die Bewertungen, die wir vorher vorgenommen haben,
nicht mehr als Beleg für irgendwelche Fehlentscheidungen heranziehen.
({2})
Wenn wir in diesen Tagen das Land darauf vorbereiten,
dass wir möglicherweise die ganze Bevölkerung gegen
Pocken impfen müssen, weil ein terroristischer Angriff
drohen könnte - ich formuliere es ganz vorsichtig, aber
Frau Schmidt bereitet ja die Bevölkerung darauf vor -,
kann man, glaube ich, nicht von Popanz sprechen. Wenn
wir damit rechnen müssen, dass leider auch Flugzeuge
entführt und in so genannte weiche Ziele gelenkt werden
können, ist das kein Popanz, Herr Schmidt. Damit müssen
wir uns auseinander setzen.
({3})
Ich will ganz konkret noch einmal auf die vier Punkte
eingehen, die der Kollege Bosbach in der ersten Rede zu
unserem Antrag angesprochen hat. Er hat etwas gesagt zur
Regelanfrage beim Verfassungsschutz vor der Einbürgerung, zur Kronzeugenregelung, zur Verdachtsausweisung
bei Terrorismusverdacht und zum Einsatz der Bundeswehr.
Herr Minister Schily, Sie haben gestern eine extremistische Organisation völlig zu Recht verboten und auch
ganz klar die Konsequenzen aufgezeigt. Das unterstützen
wir, wie wir ja auch vieles andere unterstützen. Man sollte
nicht vergessen, dass wir uns in vielen Bereichen einig
sind. Der Unterschied besteht darin, dass wir sagen: Wir
müssen noch mehr tun. An bestimmten Stellen hören Sie
zu früh auf.
Ich weiß nicht, meine Damen und Herren von der SPD
und von den Grünen, warum Sie sich so schwer tun, Personen auszuweisen, die nachweislich terroristische Bestrebungen unterstützen.
({4})
- Danke, Herr Ströbele. - Ich nehme das Beispiel von gestern. Die Organisation, die der Herr Innenminister verboten hat, führt - so war es zumindest gestern Abend den
Medien zu entnehmen und so ist es zu lesen - auf Ihrer
Website die Fatwa von Bin Laden und al-Quaida aus 1998
auf. Ich will sie gar nicht zitieren, weil sie wirklich widerwärtig ist. Gegen diese Gruppe gehört vorgegangen.
Die Vereinigung ist nun verboten, aber die Funktionäre
sitzen noch hier. Wir sagen, auch solche Funktionäre müssen abgeschoben werden. Warum tun Sie sich da so
schwer? Das verstehe ich nicht.
({5})
- Herr Schmidt, es wäre ja schon ein Ansatz, wenn es nur
an der Zeit liegt. Damit kommen Sie uns entgegen.
Wir müssen auch darüber sprechen, was wir mit den
Funktionären von solchen extremistischen Organisationen tun. Aus dem Verfassungsschutzbericht wissen wir
- auch das ist eine Zahl, die uns zu denken geben sollte -,
dass es in Deutschland etwa 60 000 ausländische Extremisten gibt. Die Mehrzahl davon sind islamistische
Extremisten. Erzählen Sie einmal der deutschen Bevölkerung, warum wir nicht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen diese Personen, die bereits hier
sind, vorgehen! Das können wir uns auf Dauer nicht leisten.
({6})
Herr Minister Schily, Sie haben eine sachliche Auseinandersetzung angemahnt. Genau das haben wir heute
versucht. Da es in der heutigen Debatte - warum auch immer - offensichtlich nicht möglich war, sich mit unseren
Punkten auseinander zu setzen, ist meine Bitte, dass wir
uns im Ausschuss ausführlich über dieses Thema unterhalten. Wir sollten einfach einmal das Pro und Kontra abwägen.
Wir sind uns doch einig darin, dass wir die deutsche
Bevölkerung vor terroristischen Anschlägen, wie sie am
11. September 2001 passiert sind, schützen müssen. Es
kann doch nicht so schwer sein, über all die Maßnahmen,
die in diesem Zusammenhang notwendig wären, zu diskutieren. Man sollte nicht immer von vornherein sagen
- genau das haben Sie heute getan -: All das, was die
CDU/CSU empfiehlt, kommt aus der Mottenkiste. Das
wollen wir nicht; das ist Wahlkampf. - Das ist keine
Auseinandersetzung, wie ich sie hier im Parlament erwarte.
({7})
Ich möchte mit einem Appell schließen.
({8})
- Vielen Dank.
({9})
Wir alle - Herr Beck, ich möchte Sie ausnahmsweise
kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten -, die wir hier sitzen,
tragen die Verantwortung für unser Land. Wir haben alles
dafür zu tun, dass sich bei uns keine Terroranschläge ereignen. Wir haben alles dafür zu tun, dass es gelingt, unsere Bevölkerung davor zu schützen. Wenn wir das ernst
meinen, dann sollten wir auch bereit sein, über das Pro
und Kontra eines jeden Vorschlages zu diskutieren. Wenn
Sie hinterher die besseren Argumente haben, dann
schließen wir uns Ihnen an. Das haben wir auch bei den
Sicherheitspaketen getan.
({10})
Wir haben uns Ihnen angeschlossen. Den Anspruch aber,
dass wir Ihnen immer Recht geben und dass all das, was
wir vorschlagen, falsch ist, sollten Sie nicht haben.
({11})
Eine entscheidende Weichenstellung wird sein: Die
Menschen in unserem Land zu schützen, das werden wir
nur dann erreichen, wenn wir vorbeugend handeln. Wollen Sie warten, bis wieder etwas passiert? Deshalb müssen wir über alle Eventualitäten nachdenken. - Herr
Schmidt, da brauchen Sie nicht den Kopf zu schütteln.
({12})
- Herr Schmidt, ich habe gerade gesagt, dass wir für alle
Menschen in unserem Land die Verantwortung haben, sie
vor terroristischen Anschlägen zu schützen. Wenn Sie das
als Unsinn bezeichnen, dann ist das zwar Ihre Meinung.
Aber die ist bedenklich.
({13})
Wenn Sie den Schutz der Bevölkerung als Unsinn bezeichnen, ist das bedenklich.
({14})
Wenn Sie jemandem vor dem 11. September
({15})
- zwei Sätze noch, dann haben Sie es überstanden ({16})
gesagt hätten, es passiere ein Terroranschlag in der Form,
dass Flugzeuge in das World Trade Center gelenkt werden, hätte jeder gesagt: Das ist Unsinn; das ist Popanz.
Heute wissen wir, dass wir leider jeden Anschlag für möglich halten müssen. Deshalb haben wir alle zusammen die
Pflicht, alles dafür zu tun, um solche Anschläge zu verhindern.
Vielen Dank.
({17})
Weitere Redemeldungen liegen nicht vor.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/218 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c sowie
die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
18. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau
von Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen ({0})
- Drucksachen 15/287, 15/312 Clemens Binninger
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({2}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({3})
Beratungskapazität Technikfolgenabschätzung
beim Deutschen Bundestag - ein Erfahrungsbericht
- Drucksache 14/9919 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Werner Hoyer, Günther Friedrich Nolting,
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Ulrich
Adam, Ilse Aigner, Dietrich Austermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Transatlantische Beziehungen stärken - Potsdam Center fördern
- Drucksache 15/194 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 2 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk
Fischer ({6}), Eduard Oswald, Georg
Brunnhuber, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Errichtung einer Bundesfernstraßenfinanzierungs- und Managementgesellschaft ({7})
- Drucksache 15/299 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Haushaltsausschuss
ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
Funke, Daniel Bahr ({9}), Rainer Brüderle,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
({10})
- Drucksache 15/313 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/287
soll - abweichend von der ursprünglichen Tagesordnung nicht an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit überwiesen werden. Zu dem Gesetzentwurf liegt inzwischen auf Drucksache 15/312 die Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme
des Bundesrates vor, die wie der Gesetzentwurf überwiesen werden soll. Sind Sie einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 a auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Februar 2002
zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Republik
Polen über die Zusammenarbeit der Polizeibehörden und der Grenzschutzbehörden in
den Grenzgebieten
- Drucksache 15/11 ({11})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses
({12})
- Drucksache 15/240 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Tobias Marhold
Günter Baumann
Dr. Max Stadler
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu einer Vor-
lage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Damit kommen wir zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Das ist nicht
der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit auch in der dritten
Lesung einstimmig angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
6. Wahlen zu Gremien
a) Programmbeirat ({13})
beim Bundesministerium der Finanzen
- Drucksache 15/206 -
b) Beirat nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
- Drucksache 15/303 ZP 4 Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Kuratoriums der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland“
- Drucksache 15/304 Ich weise darauf hin, dass diese Wahlen mittels Handzeichen durchgeführt werden.
Wir kommen zur Wahl der Mitglieder des Programmbeirats beim Bundesministerium der Finanzen. Dazu liegt
ein Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/
CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf
Drucksache 15/206 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen
worden.
Wir kommen zur Nachwahl von Mitgliedern des Beirats nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Dazu liegt
ein Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/303 vor.
Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen
der Regierungskoalition und der Fraktion der CDU/CSU
bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen worden.
Wir kommen zur Wahl der Mitglieder des Kuratoriums
der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland“. Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 15/304 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch dieser Wahlvorschlag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU
angenommen worden; die FDP hat sich enthalten.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Straßenbaubericht 2001
- Drucksache 14/8754 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({14})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch dagegen höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Petra Weis. Da es ihre erste Rede hier ist,
warten wir, bis Ruhe eingekehrt ist.
Sie haben das Wort, Frau Kollegin.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei
dem uns vorliegenden Straßenbaubericht 2001 handelt es
sich wie bei seinen Vorgängern um eine überaus umfassende Darstellung der aktuellen Entwicklungen und Rahmenbedingungen in Sachen Fernstraßenbau, der sicherlich eine ausführlichere Würdigung verdient hätte, als es
im Rahmen unserer heutigen Debatte oder schon gar im
Rahmen meines Beitrages möglich ist. Ich will deswegen
sofort zur Sache kommen.
Der Bericht konfrontiert uns gleich auf der zweiten
Textseite mit der politischen Herausforderung, vor der wir
bei diesem Thema stehen. Die Zahlen zur Verkehrsentwicklung auf den Bundesfernstraßen zeigen nämlich - ich
zitiere den Bericht - „erstmalig eine Stagnation der mittleren Verkehrsstärken auf den Bundesautobahnen sowie
leichte Abnahmen auf den Bundesstraßen, ein Effekt, der
sich auch dämpfend auf die Entwicklung der Jahresfahrleistungen ... ausgewirkt hat“.
Wer daraus voreilig den Schluss ziehen wollte, dass es
im Hinblick auf dieses Thema Zeit zur Entspannung oder
zum Durchatmen sei, wird allerdings noch im selben Absatz aller Illusionen beraubt; denn es heißt dort weiter:
Die seit langem beobachtete Konzentration des
Straßenverkehrs auf den Autobahnen blieb davon
unberührt.
Weiter heißt es sinngemäß: Die verkehrliche Bedeutung
der Bundesfernstraßen besteht nach wie vor in ihren überproportional hohen Anteilen an den Verkehrsleistungen
im Straßenverkehr. Ich füge hinzu: Das gilt vor allem im
Hinblick auf den Güterverkehr.
Ungeachtet des Realitätsgehalts aller Prognosen und
Szenarien werden wir uns also auch in Zukunft darauf
einstellen müssen, unser Augenmerk darauf zu richten,
das Fernstraßennetz - zumindest bis auf Weiteres - als
Rückgrat der Verkehrsinfrastruktur in der Bundesrepublik
zu begreifen und dafür zu sorgen, dass es in den kommenden Jahren nachhaltig funktionsfähig bleibt und - so
füge ich hinzu - dort wieder funktionsfähig wird, wo es in
den letzten Jahrzehnten - ich sage bewusst „Jahrzehnte“
und nicht „Jahre“ - gelitten hat.
({0})
Obwohl wir in der Verkehrspolitik über den nach wie
vor größten Investitionshaushalt reden, gehört es meines
Erachtens zur Wahrheit und zur Klarheit, festzuhalten, dass
die Bäume auch hier nicht in den Himmel wachsen. Neubau,
Betrieb, Erhaltung und Modernisierung unserer Straßen
konkurrieren um begrenzte Haushaltsmittel. Insofern ist es
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
von ganz besonderer Bedeutung, welche politischen
Schwerpunkte wir setzen.
Es ist zweifellos eine Binsenweisheit, dass wir den
Straßenbau nicht unbegrenzt ausdehnen können, sondern
alles daran setzen müssen, die Verkehrsprobleme unseres
Landes zu lösen, und zwar am besten dadurch, dass wir
die bestehenden Systeme effizienter und sicherer machen.
Die Erhaltung und die Modernisierung des bestehenden
Straßennetzes ist - das möchte ich an dieser Stelle ganz
ausdrücklich betonen - für uns weit mehr als eine Verwaltungsaufgabe, die allein deshalb nicht mit mehr Herzblut betrieben werde, weil sie den politisch Verantwortlichen so wenig Möglichkeiten biete, Spatenstiche oder
andere publikumswirksame Eröffnungen zu zelebrieren,
wie es der BUND neulich in einem Text vermutet hat. Das
Gegenteil ist der Fall: Neben den notwendigen Mitteln für
Neubau und Erweiterung der Bundesfernstraßen müssen
wir die ebenso notwendigen Mittel für die Erhaltung und
Modernisierung des bestehenden Netzes aufbringen.
Der Straßenbaubericht 2001 erfüllt im Grunde genommen zwei Funktionen: Er markiert auf der einen Seite eine
Leistungsbilanz der Bundesregierung im Straßenbau und
ist auf der anderen Seite gewissermaßen unser Lehrplan
für das laufende Jahr und die kommenden Jahre. So erläutert er beispielsweise die Grundlagen für die im Gang
befindliche Überarbeitung des Bundesverkehrswegeplans, der uns in der kommenden Zeit noch ausführlich
beschäftigen wird. Er beschreibt nachdrücklich die Notwendigkeit und die Vorzüge der Einführung der streckenbezogenen LKW-Maut. Beide Themen bieten uns in der
Folgezeit, wie ich denke, noch ausreichend Gelegenheit
zum Austausch von Meinungen oder auch zu Kontroversen. Daher will ich es an dieser Stelle bei zwei ganz kurzen Anmerkungen bewenden lassen.
Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan werden wir
den Straßenbau auf drei Schwerpunkte konzentrieren: erstens auf die gezielte Engpassbeseitigung sowie die notwendige Sanierung des bestehenden Straßennetzes, zweitens auf den beschleunigten Bau von Ortsumgehungen,
um die Sicherheit und die Lebensqualität der Anwohnerinnen und Anwohner zu erhöhen und den Verkehrsfluss
auf den Bundesstraßen zu verbessern, und drittens, aber
nicht zuletzt, auf den weiteren gezielten Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern.
Mit der LKW-Maut und dem daraus zu finanzierenden
Anti-Stau-Programm werden wir noch in diesem Jahr
weitere Akzente zur Entlastung vor allem der Bundesautobahnen setzen. Diese Entlastung muss in Zukunft eines
unserer vordringlichsten Ziele sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundesfernstraßenbau in der Bundesrepublik ist kein Stiefkind der
Verkehrspolitik dieser Koalition, wie gelegentlich behauptet wird.
({1})
Gegen diese Annahme spricht nicht nur die Tatsache, dass
die Bundesregierung in den letzten vier Jahren die Ausgaben im Straßenbau auf ein bis dahin nicht erreichtes Niveau geschraubt hat, sondern auch der Realisierungsgrad
der einzelnen Projekte, die der Straßenbaubericht anführt.
Ich will nur einige wenige Beispiele nennen: Bei der
Autobahnerweiterung auf sechs und mehr Fahrspuren
wurde das Längenziel vollständig erreicht. Dass hieran
vorrangig finanzierte Abschnitte der Verkehrsprojekte
„Deutsche Einheit“ einen außerordentlich hohen Anteil
haben, ist weit mehr als nur ein politisches Symbol.
({2})
Beim Autobahn- und Bundesstraßenneubau spricht der
Straßenbaubericht von, wie ich meine, beachtlichen Fertigstellungsgraden von 90 bzw. 87 Prozent. Schließlich
wurde beim Bau von Ortsumgehungen im Zuge von Bundesstraßen ein Erfüllungsgrad von 82 Prozent erreicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundesfernstraßenbau ordnet sich in ein verkehrspolitisches Gesamtkonzept ein, das vom Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung als der sicherlich wichtigsten Antwort auf die
gegenwärtigen Herausforderungen bestimmt wird und
- das ist mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig das die Bedeutung der Mobilität für nahezu alle Bereiche
unserer Gesellschaft anerkennt. Es sucht nach Wegen, unser aller Mobilitätsbedürfnis, das sich im privaten wie im
öffentlichen Straßenverkehr auf letztlich unverändert hohem Niveau ausdrückt, mit einem verantwortungsvollen
Ressourcenumgang zu kombinieren.
Ich möchte in diesem Zusammenhang kurz auf ein Detail des Straßenbauberichts eingehen, indem ich auf das
„verkehrstechnische Konzept der Zuflussregelung zur
Verbesserung des Verkehrsablaufes auf ausgewählten
Bundesautobahnabschnitten“ zu sprechen komme. Ich
gebe zu, dieser Titel ist auch mir ein wenig lang und kompliziert, deswegen habe ich ihn abgelesen. Es handelt sich
hierbei um eine der intelligentesten Problemlösungen hinsichtlich der Verkehrslenkung in Ballungsgebieten
überhaupt. Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung versichern, dass die dargestellten erheblichen Verbesserungen
auf der A 40, also dem Ruhrschnellweg zwischen Duisburg und Dortmund, auf der ganzen Linie eingetroffen
sind und - lassen Sie mich dies durchaus eingestehen dass ich es mir als regelmäßige Nutzerin dieser wirklich
viel befahrenen Autobahnstrecke im Leben nicht hätte
träumen lassen, dass es mir eines Tages wieder Spaß machen wird, diese Strecke zu befahren, die ich jahrzehntelang gemieden habe wie der Teufel das Weihwasser.
Zum Schluss lassen Sie mich noch auf ein Thema des
Berichtes zu sprechen kommen, das die Verkehrspolitik
im Allgemeinen und die Straßenverkehrspolitik im Besonderen in den kommenden Jahren erheblich beeinflussen dürfte: Durch die Osterweiterung der Europäischen
Union wird sich der Verkehr auf der Ost-West-Relation
verstärken. Angesichts der historischen Größe dieses
Schrittes bin ich allerdings geneigt zu sagen: Dies ist sicherlich auch gut so. Dieser Prozess muss allerdings für
Deutschland als Transitland weit reichende Konsequenzen nach sich ziehen. Angesichts der Kürze der Zeit
möchte ich es aber bei dem allgemeinen Appell bewenden
lassen, dass wir uns weiterhin mit großer Intensität am
Prozess des Auf- und Ausbaus einer passgenauen Verkehrsinfrastruktur in der Europäischen Union beteiligen
müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird Sie nicht
wundern, wenn ich sage, dass auch der Straßenbaubericht 2001 eine zuverlässige und wertvolle Grundlage für
die Verkehrsplanung ist, denn er vermittelt uns eine ehrliche und realistische Bestandsaufnahme der vor uns liegenden Probleme, die zu lösen wir in der Lage sein müssen, wenn wir den Lebens- und Wirtschaftsstandort
Deutschland zukunftsgerecht weiterentwickeln wollen.
Aus meiner Sicht macht der Bericht eines ganz deutlich: Wir sind auf dem Weg zu einer integrierten Gesamtverkehrsplanung, die dazu beitragen kann, ja, dazu
beitragen muss, ein zukunftsfähiges Mobilitätssystem
aufzubauen, das den vielfältigen Ansprüchen in ökonomischer, ökologischer, sozialer und soziokultureller Hinsicht gerecht wird. Ich weiß, dass dies ein hoher Anspruch
ist, aber wer sagt denn, dass wir uns - auch in der Straßenbaupolitik - keine ehrgeizigen Ziel mehr setzen können
und sollen?
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({3})
Liebe Frau Kollegin Weis, ich möchte Ihnen im Namen
des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede gratulieren. Sie
zeigten nicht nur große Kompetenz, sondern Sie sind auch
auf die Sekunde genau in der Zeit geblieben. Dies schaffen die allerwenigsten.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Renate Blank.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollegin
Weis, lassen Sie mich einige Worte zu Ihrer Rede sagen:
Natürlich kann Straßenbau nicht unbegrenzt stattfinden,
aber wir unterhalten uns eigentlich über den Anbau von
dritten Streifen auf den Autobahnen. Für die neuen Bundesländer geht es vor allen Dingen darum, überhaupt erst
Verkehrswege zu schaffen. Diese brauchen nämlich den
Verkehrswegebau dringend,
({0})
auch damit dort Arbeitsplätze entstehen können und es zu
Wirtschaftswachstum kommen kann.
Natürlich kritisieren wir den falschen Einsatz der
Mittel durch die LKW-Maut. Sie können nicht auf der
einen Seite den LKW im Straßenverkehr so belasten,
dass viele Speditionen ausflaggen und sich in anderen
Ländern niederlassen, auf der anderen Seite aber die
Mittel aus der LKW-Maut nicht in den Straßenverkehr
fließen lassen. Sie verteilen diese Mittel auf Straße,
Schiene und Wasser. Dies ist aus unserer Sicht der
falsche Weg.
({1})
Noch ein Wort zu Ihren Ausführungen bezüglich der
Mittel im Straßenbau: Ich kann Ihnen nachweisen - die
Zahlen belegen dies -, dass die Ausgaben für den
Straßenbau bis zum Jahr 2000 kontinuierlich gesenkt
wurden. Noch in den Jahren 1998 und 1999 beliefen sich
die Mittel für den Straßenbau auf etwa 8,6 Milliarden DM.
Ich habe das jetzt aus dem Gedächtnis genannt, weil ich
den Zettel, auf dem die Zahlen stehen, an meinem Platz
liegen gelassen habe; ich kann Ihnen die genauen Zahlen
aber gerne nachreichen. Sie haben diese Mittel im
Jahr 2000 - wir unterhalten uns ja über den Straßenbaubericht 2001, dessen Berichtszeitraum das Jahr 2000 ist auf 8,1 Milliarden DM reduziert. Es ist also effektiv weniger Geld für den Straßenbau ausgegeben worden als zu
unseren Zeiten.
({2})
Ich bedauere sehr, dass Minister Stolpe heute nicht
anwesend ist. Ihn persönlich kann ich natürlich nicht für
die miserable Verkehrspolitik der letzten vier Jahre verantwortlich machen. Kollegin Mertens, Sie aber kann
ich nicht aus der Verantwortung hierfür entlassen. Das
gilt auch für die drei Vorgänger des Ministers, nämlich
für Herrn Müntefering, Herrn Klimmt und Herrn
Bodewig, die Verwirrung in die Infrastrukturplanung gebracht haben, aber leider keinen Pfennig - damals gab es
ja noch den Pfennig - mehr für den Straßenbau erwirkt
haben.
Ich spreche auch deshalb von Verwirrung, Frau Staatssekretärin, weil uns weder der Bundesverkehrswegeplan,
der für das Jahr 1999 versprochen worden ist, noch ein
Fernstraßenausbaugesetz noch ein Fünfjahresplan vorgelegt wurde; es gab nur Programme über Programme, mit
denen die Kürzung der Straßenbaumittel verschleiert werden sollte.
Das Investitionsprogramm, das Planungssicherheit
bringen sollte, ist Ende 2002 ausgelaufen. Erst bis weit
über das Jahr 2010 hinaus hätten alle darin enthaltenen
Maßnahmen abgearbeitet werden können. Alleine dies
zeigt, dass das Investitionsprogramm falsch angelegt
war.
Das Anti-Stau-Programm aus dem Jahr 2000 war eigentlich eine Wahlkampfhilfe für Nordrhein-Westfalen,
({3})
vor allen Dingen, da jeder wusste, dass es erst ab dem
Jahr 2003 gültig werden konnte. Mit diesem Anti-StauProgramm, das auf die Einnahmen aus der LKW-Maut angewiesen ist, konnte bisher noch kein Meter Straße realisiert werden; denn Sie waren nicht in der Lage, die
LKW-Maut rechtzeitig einzuführen.
({4})
- Auch die Umstellung von der zeit- auf die streckenbezogene LKW-Maut, Frau Kollegin Weis, lässt auf sich
warten. Wahrscheinlich wäre es schneller gegangen
- vielleicht sind wir uns darin einig -, wenn das Parlament
beteiligt worden wäre. So trägt alleine die Bundesregierung die Verantwortung für die Verzögerung.
({5})
Man hätte das Parlament damit befassen können. Ich
glaube, wir hätten das schneller und geschickter gelöst.
({6})
Die Gelder aus dem Zukunftsinvestitionsprogramm,
gültig für die Jahre 2001 bis 2003, sollten insbesondere
für den Bau von Ortsumgehungen eingesetzt werden.
Wie wichtig das ist - Frau Kollegin Weis, auch Sie haben
das erwähnt -, zeigt der Straßenbaubericht auf. Darin
steht, dass bei Ortsumgehungen der geringste Erfüllungsgrad erreicht wurde. Es ist also wichtig, Ortsumgehungen
zu bauen. Ich bin froh, dass auch Sie heute darauf hingewiesen haben; denn unsere ständigen Hinweise, dass Ortsumgehungen Menschen- und Umweltschutz sind, fruchten jetzt hoffentlich und werden hoffentlich von Ihnen
ernst genommen.
Das Maßnahmenpaket „Bauen jetzt - Investitionen beschleunigen“ versucht, private Finanzmittel für den
Straßenbau zu aktivieren. Früher wurde diese Art der Finanzierung zwar massiv bekämpft, doch grundsätzlich
wäre das ein richtiger und wichtiger Schritt. Denn dem
Straßenbaubericht ist eindeutig zu entnehmen - das können
Sie alle nachlesen -, dass die privaten Vorfinanzierungsmodelle, immerhin 27 Projekte, rasch verwirklicht werden
konnten. Planung und Bau gingen sehr rasch vonstatten.
({7})
Ob allerdings Ihr Konzept der geplanten Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft richtig ist, wird sich
zeigen. Wir jedenfalls stellen uns diese Gesellschaft anders vor und werden dazu einen eigenen Antrag einbringen.
Kollege Schmidt, Sie haben in den Anträgen bis 1998
immer gefordert - ich hoffe, Sie haben ein gutes Gedächtnis und erinnern sich daran -, die Refinanzierungskosten für Konzessionsmodelle aus dem allgemeinen
Haushalt und nicht aus dem Verkehrshaushalt zu finanzieren, damit der Verkehrshaushalt auf Dauer nicht belastet wird. Sie haben Ihre Meinung anscheinend geändert;
denn als wir Ihren Antrag im Jahre 1999 übernommen haben, um den Verkehrshaushalt zu entlasten und die Refinanzierungskosten im allgemeinen Haushalt zu veranschlagen, haben Sie unseren Antrag abgelehnt. Ich bitte
Sie, einmal darüber nachzudenken, ob nicht die Möglichkeit besteht, dass das Geld aus dem allgemeinen Haushalt
genommen wird. Ihre Idee war ja gar nicht so schlecht. Sie
sehen, wir haben sie aufgegriffen. Eine schnelle Realisierung von Verkehrsprojekten bedeutet auch einen volkswirtschaftlichen Nutzen.
({8})
Das ist eine wichtige Angelegenheit. Sie dürfen also auf
Ihre früheren Ideen und Vorschläge zurückgreifen.
({9})
Meine Damen und Herren, im Straßenbaubericht wird
auch über die neuen Bewertungskriterien zum Bundesverkehrswegeplan berichtet. Was nützt uns aber das Wissen, dass bei den Verkehrsprognosen ein Schwerpunkt auf
das so genannte Integrationsszenario gelegt werden soll?
Dabei handelt es sich um den Versuch, die ökonomischen,
ökologischen und sozialen Anforderungen in Übereinstimmung zu bringen und monetäre und nicht monetäre Bewertungsverfahren zukünftig zusammenzuführen. Ich wiederhole: Was nützt uns das Wissen, wenn uns kein vom
Kabinett beschlossener Bundesverkehrswegeplan vorliegt?
Auf die Kosten-Nutzen-Analyse der einzelnen Projekte sind wir schon sehr gespannt, genauso wie darauf
- Kollege Schmidt, ich schaue ganz besonders Sie an -,
wie Sie den Konflikt zwischen dem notwendigen Straßenbau, der ja auch von den rot-grün regierten Bundesländern
gefordert wird, und grüner Ideologie lösen werden.
({10})
Eine neue Bewertungsmethode ist aus unserer Sicht
falsch, nämlich jene, die lediglich die volkswirtschaftlichen und ökologischen Schäden, die durch den Verkehr
entstehen, betrachtet. Der Verkehr bringt aber auch einen
volkswirtschaftlichen Nutzen. Seriöse Zahlen aus der
Wissenschaft beziffern diesen Nutzen auf das Doppelte
der Kosten. Vor Jahren wurde ein verkehrlich bedingter
volkswirtschaftlicher Schaden von 200 Milliarden DM
genannt. Der Nutzen aus dem Straßenverkehr lag aber
beim Doppelten, also bei 400 Milliarden DM. Eine Bewertungsmethode sollte also auch den volkswirtschaftlichen Nutzen berücksichtigen.
({11})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige Anmerkungen zum Zustand der Bundesfernstraßen machen. Die volle Gebrauchsfähigkeit nimmt insbesondere
in den alten Bundesländern immer mehr ab. Die Schlaglöcher werden immer zahlreicher. Dabei denke ich vor allen Dingen an das Land Baden-Württemberg und an eine
ganz bekannte und viel befahrene Strecke um Mannheim.
Dort wird es sehr kritisch, wenn man mit mehr als
60 Stundenkilometern fährt.
Was ist zu tun? Die Bundesregierung muss für die Instandhaltung mehr Geld zur Verfügung stellen, damit wir
nicht eines Tages vor einem total maroden Straßensystem
stehen; denn der Substanzverlust schreitet immer mehr
voran. Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel, Mittel, die
die Bahn nicht verbauen kann, zu nutzen. Es wurde
von einem Betrag in Höhe von 2 Milliarden DM gesprochen; im vergangenen Jahr waren es offiziell 151 Millionen Euro, wobei einige Mittel noch im Haushalt versteckt waren. Wir gehen davon aus, dass die Deutsche
Bahn AG im vergangenen Jahr rund 600 Millionen Euro
nicht verbauen konnte.
({12})
- Sitzen Sie noch im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn
AG, Kollege Schmidt? Dann könnten Sie das nachher ja
schriftlich belegen.
({13})
Eine Möglichkeit bestünde also darin, Mittel, die die
Bahn nicht verbauen kann, für Instandhaltungsmaßnahmen zu verwenden und nicht im Topf des Finanzministers
verschwinden zu lassen.
({14})
- Sie dürfen das nachher aufklären. - Auf jeden Fall sollten die künftig anfallenden Mittel aus der LKW-Maut in
den Straßenbau fließen, da sie ja auch aus dem Straßenverkehr stammen, und nicht auf weitere Verkehrsträger
aufgeteilt werden.
Leistungsfähige Verkehrswege sind die Grundvoraussetzung für Wirtschaftswachstum. Deshalb ist eine leistungsfähige Infrastruktur für den Standort Deutschland
und auch für die Mobilität unserer Bürger ungemein wichtig.
Ich darf aus einem Interview zitieren, bei dem Minister Stolpe ausgeführt hat:
Nach meiner festen Überzeugung ist Mobilität eine
Haupttriebkraft für gesellschaftliche Entwicklung
und Fortschritt. Sie ist außerdem Ausdruck von Freiheit! Mobilität ist ja auch ein Element der Revolution
im Osten gewesen.
({15})
Ich kann ihm nur zustimmen. Aufgrund dieser Aussage
fordern wir Sie auf, mehr Geld für den Straßenbau zur
Verfügung zu stellen. Es gibt in Deutschland baureife Projekte mit einem Volumen von mehr als 2 Milliarden Euro,
die Mehrzahl davon in Baden-Württemberg und Bayern,
die mit höheren Finanzmitteln sofort in Angriff genommen werden könnten. Frau Staatssekretärin, ich bitte Sie,
Herrn Minister Stolpe Folgendes auszurichten: Er wird
sich an seiner Aussage, neben dem Aufbau Ost den Ausbau West nicht zu vergessen, messen lassen müssen. Wir
werden ihn nach einiger Zeit daran erinnern.
({16})
Minister Stolpe hat mit seinem Amtsantritt eine gute
Chance, von allen verwirrenden Programmen Abstand zu
nehmen und zur Klarheit und Wahrheit in der Verkehrspolitik zurückzukehren. Er soll uns baldmöglichst einen
neuen stimmigen Bundesverkehrswegeplan vorlegen, der
als Bedarfsplan die dringend notwendigen Projekte enthält. Ich erinnere auch an die Verkehrsprojekte Deutsche
Einheit, die zügig umgesetzt werden müssen. Der Bundesverkehrswegeplan muss auch das Thema EU-Osterweiterung berücksichtigen; denn - das habe ich vorher
schon ausgeführt - die neuen Bundesländer brauchen
dringend Verkehrswege, damit dort Wirtschaftswachstum
entsteht.
({17})
Ich möchte jetzt speziell an die Staatssekretärin und
Minister Stolpe ein paar Worte richten: Nehmen Sie Abschied von Programmen; denn diese haben nur eine begrenzte Wirksamkeit und ermöglichen keine gesicherte,
solide und langfristige Finanzplanung. Erteilen Sie der
einseitigen Verteilung der Mittel eine Absage. Kehren Sie
zur bewährten Aufteilung der Mittel im Rahmen der Länderquoten zurück, wodurch eine Benachteiligung Bayerns oder anderer Bundesländer vermieden wird. Legen
Sie auch in Zukunft Wert auf die Mitsprache der Länder
bei Festlegung einzelner Maßnahmen! Bisher wurde über
die Maßnahmen in den Programmen über die Köpfe der
Länder hinweg entschieden. Es kann nicht sein, dass die
Länder in einem Programm mit einer Maßnahme konfrontiert werden, die für sie nicht erste Priorität hat.
({18})
Am 6. August 1932 wurde mit der Kraftwagenstraße
Köln-Bonn die erste Autobahn Europas eingeweiht.
Diese Anfänge des Autobahnbaus in Deutschland waren
für die damalige Zeit hoch visionär. Gleiches gilt für den
Plan von 1927 für den Bau eines 22 500 Kilometer langen
Fernstraßennetzes. Heute gibt es in Deutschland rund
11 000 Kilometer Autobahn und 41 000 Kilometer Bundesstraßen. Übrigens begann der Autobahnbau in Deutschland bereits in einer Zeit, in der das Auto in der Gesellschaft als individuelles Fortbewegungsmittel kaum
verbreitet war. Heute haben wir circa 44 Millionen PKW.
Sie sehen daran, wie visionär die Entscheidung aus dem
Jahr 1927 damals war.
Aus diesen Anfängen entwickelten sich die heutigen
Hauptschlagadern der Verkehrsinfrastruktur in Deutschland. Auch heute sind wieder Visionen gefragt und Ideen
gefordert, um eine weiträumige Mobilität sicherzustellen
und Deutschland aus dem Stau herauszuführen. Wir, die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, helfen dem neuen Verkehrsminister sehr gerne dabei, damit wieder Ordnung in
die deutsche Verkehrspolitik kommt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Albert Schmidt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Frau Kollegin Blank, es freut mich zwar sehr,
dass Sie sich so genau an unsere Anträge aus der Zeit vor
1998 erinnern,
({0})
aber Ihre Darstellung des Themas Privatfinanzierung hat
den Punkt nicht ganz getroffen.
Ich will Ihnen noch einmal präzise in Erinnerung rufen,
was wir an der privaten Vorfinanzierung von Straßenbau immer wieder kritisiert haben und vor welchen Folgen wir gewarnt haben. Das ist in dem Straßenbaubericht 2001 zu finden.
Albert Schmidt ({1})
Wir haben Folgendes kritisiert: Weil die damalige Bundesregierung nicht die Mittel hatte, noch mehr Straßen zu
bauen, hat sie diese Straßen privat vorfinanziert. Dabei
weiß jedes Kind - nur der damalige Bundesfinanzminister
wollte es nicht wissen -, dass Straßen, die auf Pump gekauft werden - wie alles, was auf Pump gekauft wird -,
letztlich teurer werden. Ein Rückkauf dieser Straßen zulasten der jetzigen Bundeshaushalte ist sehr viel teurer, als
es bei einer Haushaltsfinanzierung der Fall gewesen wäre.
Darauf bezog sich unsere Kritik. Deswegen haben wir
1998 mit dem Beginn der rot-grünen Koalition dieses
unmögliche Modell der privaten Vorfinanzierung von
Straßenbau gestoppt. Das ist auch gut so.
({2})
Ein Blick nach Baden-Württemberg - dort ist nämlich
die Hinterlassenschaft von Waigel und Wissmann am
deutlichsten zu besichtigen - zeigt, dass die Hauptbauquote Baden-Württembergs zu einem großen Teil von
Rückzahlungen für Straßen aufgefressen wird, die schon
längst in Betrieb sind. Dort rührt sich keine Schaufel und
fährt kein einziger Bagger mehr. Damit wird kein einziger
Arbeitsplatz gesichert. Obwohl die Straßen bereits vorhanden sind, verursachen sie immer höhere Kosten. Diesen Fehler haben Sie gemacht.
({3})
Dieses Modell haben wir gestoppt und wir werden es auch
in Zukunft nicht wieder beleben. Darin sind wir uns völlig treu geblieben: Was vor 1998 richtig war, haben wir
nach 1998 umgesetzt.
Es gibt übrigens noch eine zweite Hinterlassenschaft,
verehrte Frau Kollegin, die Sie auch angesprochen haben;
auch dafür ist Baden-Württemberg ein Musterbeispiel:
die Vorratsplanung. Sie haben nämlich im Bundesverkehrswegeplan Straßen noch und noch in den vordringlichen Bedarf hineingeschrieben.
({4})
Damit haben Sie eine Planungstätigkeit der Straßenbaubehörden ausgelöst, die wie die Weltmeister planen. Aber
Sie haben nicht die erforderlichen Mittel zur Verfügung
gestellt, sodass derzeit baureife Projekte in Milliardenhöhe in den Schubladen vergammeln. Planfeststellungsbeschlüsse verfallen und können nicht umgesetzt werden,
weil Sie eine unsittliche Vorratsplanung betrieben haben.
({5})
Auch dies werden wir mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan stoppen.
({6})
Lassen Sie mich nun aber zum Straßenbaubericht 2001
im engeren Sinne kommen. Er weist aus, dass für die Bundesfernstraßen im Jahr 2000 9,9 Milliarden DM aufgewendet wurden, davon 8,2 Milliarden DM investiv. Sie
können zwar einwenden, dass dieser Betrag um irgendeine Zahl hinter dem Komma niedriger war als vielleicht
ein oder zwei Jahre vorher.
({7})
Aber der Unterschied zu Ihrer Investitionspolitik liegt
darin, dass wir nicht nur die Straße nicht vernachlässigt
haben, sondern parallel dazu von Jahr zu Jahr schrittweise
die Schieneninvestitionen angehoben haben, die inzwischen auf demselben Niveau wie beim Straßenbau liegen.
Das ist der Unterschied zwischen unserer und Ihrer Politik: Wir behandeln alle Verkehrsträger von der Straße bis
zur Schiene gleich. Auch das war überfällig.
({8})
- Dieses Märchen wird nicht wahrer, wenn Sie es immer
wieder wiederholen. Hätten Sie gestern den Parlamentarischen Abend der Parlamentsgruppe Schiene besucht,
dann hätten Sie aus dem Munde des Vorstandsvorsitzenden zum wiederholten Male gehört,
({9})
dass im vergangenen Jahr bis auf einen Rest von unter
3 Prozent alle Mittel verausgabt worden sind.
({10})
Erzählen Sie deshalb nicht immer wieder dieses Märchen!
Interessant ist es aber, einen Blick auf die Verteilung
der Straßenbauinvestitionen zu werfen. Dabei ist festzustellen, dass die Erhaltungsinvestitionen, also die Aufwendungen für den schieren Erhalt der Substanz, 4,4 Milliarden DM - das ist die Zahl für 2000 - und damit mehr
als die Hälfte der Investitionen ausmachen. Das heißt,
dass wir auch in Zukunft unser Augenmerk viel stärker
darauf werden richten müssen, den Bestand eines derart
dichten Netzes zu sichern und immer wieder zu erneuern
und zu modernisieren. Das bedeutet im Klartext, dass
nicht alle Wünsche nach Neu- und Ausbau in Erfüllung
gehen können. Vielmehr müssen wir im Straßennetz, in
dem insbesondere die Ingenieurbauwerke, die Brücken
und Tunnels, in ein kritisches Alter gekommen sind, viel
höhere Mittel für die Sanierung aufwenden. Auch das ist
ein Stück Haushaltswahrheit und Planungsehrlichkeit, die
wir mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan herstellen
müssen.
Wir werden uns des Weiteren darauf einzustellen haben, in viel stärkerem Maße auch Kompromisse und
Zwischenlösungen, zum Beispiel reduzierte Querschnitte, in den Blick zu nehmen. Es müssen nicht immer vier Spuren sein, sondern es kommen durchaus auch
zwei Spuren mit einer Überholspur am Berg infrage. Wir
müssen wirtschaftlich darstellbare und bezahlbare Lösungen suchen. Wir müssen sogar Zwischenlösungen ins
Auge fassen, zum Beispiel die Freigabe eines Stückes
Standspur, wenn es aus Sicherheitsgründen möglich erscheint, weil wir den Bau einer dritten Spur nicht sofort
bezahlen können.
({11})
Interessant ist es aber auch, in dem Straßenbaubericht
nachzulesen, wie viel Geld wir inzwischen für den Schutz
der Bevölkerung vor Verkehrslärm aufwenden. Die wenigsten wissen, dass die Straßenbautitel nicht nur den reinen Straßenbau, sondern auch eine Menge Lärmvorsorge
und -sanierung enthalten. Im Jahr 2000 waren es 244 Millionen DM. Für Naturschutz und Landschaftspflege, für
Grünflächen- und Biotoppflege sind im Zusammenhang
mit Straßenbaumaßnahmen 440 Millionen DM aufgewendet worden.
Des Weiteren sind 74 Ortsumfahrungen ganz oder teilweise in Betrieb genommen worden. Hier hat es sicherlich im Einzelfall Konflikte vor Ort gegeben. Aber in vielen Fällen bringen Ortsumfahrungen Entlastung für die
Ortskerne.
Ich mache zum Schluss noch auf eine weitere interessante Zahl aufmerksam: Der Straßenbaubericht referiert,
dass erstmals im Jahr 2000 die Verkehrsleistung auf
Deutschlands Straßen stagnierend bis leicht rückläufig
war. Bezogen auf das gesamte Straßennetz waren es minus 2,5 Prozent; Kollegin Petra Weis hat bereits darauf
hingewiesen. Dies bedeutet, dass wir mit unseren Prognosen eines immer währenden Verkehrswachstums vorsichtig sein müssen. Im Gegenteil, wir haben zu registrieren, dass verkehrspolitische Rahmenbedingungen - zu
ihnen gehört beispielsweise die Ökosteuer - und die wirtschaftliche Entwicklung das Verkehrsverhalten beeinflussen. Im selben Zeitraum ist nämlich die Leistung des öffentlichen Verkehrs in etwa derselben Größenordnung
gewachsen.
({12})
Im Klartext heißt dies, dass Themen wie Verkehrsverlagerung und -vermeidung zu einer vorausschauenden
Verkehrspolitik gehören. Sie können sicher sein, dass wir
in Zukunft beides tun werden: das Verkehrsnetz verkehrsträgerübergreifend erneuern, modernisieren und in der
Substanz erhalten und zugleich die verkehrspolitischen
Rahmenbedingungen so setzen, dass der Verkehr umweltverträglich wird bzw. bleibt, die Menschen nicht mit Lärm
und sonstigen Belastungen überzieht und auch die öffentlichen Kassen schont; denn das Geld ist nicht beliebig vermehrbar, auch dann nicht, wenn die LKW-Maut kommen
wird.
({13})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nur ein Satz zum Kollegen Schmidt: Die von ihm viel kritisierte Vorratsplanung im Straßenbau hat immerhin dazu
geführt, dass im Gegensatz zur Schiene bei der Straße
noch nie Investitionsmittel an den Finanzminister zurückgegeben werden mussten. Das Geld, das der Straßenbauabteilung zur Verfügung stand, ist immer ausgegeben
worden.
({0})
Im Hinblick auf den Straßenbaubericht 2001, der im
Wesentlichen die Bauleistungen des Jahres 2000 dokumentiert, kann man nun trefflich darüber streiten, wer
mehr und wer weniger Recht gehabt hat. Damit die vorliegenden 130 Seiten wirklich Sinn machen, sollte man
sich mit zwei Aussagen befassen, die heute nur begrenzt
oder noch gar nicht angesprochen worden sind, aus meiner Sicht aber auf längere Sicht wichtig sind: der Zustand
des Straßennetzes und insbesondere der Brücken.
Erstens. Wir werden uns langsam damit anfreunden
müssen, dass wir bei der Infrastruktur zu einer Zwei Drittel-ein Drittel-Gesellschaft werden. Schaut man sich auf
Seite 9 den Gebrauchswert der Bundesstraßen an, wird
man feststellen, dass in Deutschland nur knapp 69 Prozent
aller Fernstraßen uneingeschränkt gebrauchsfähig sind,
während der Rest leicht eingeschränkt oder sogar schwer
eingeschränkt zu nutzen ist, was sich wahrscheinlich irgendwann einmal in der Verkehrssicherheit niederschlagen wird.
Der zweite kritische Punkt, den man ansprechen muss,
ist der Zustand der Brücken. Nur knapp 34 Prozent aller
Brückenbauwerke in Deutschland sind von ihrer Klassifizierung her noch in sehr gutem oder gutem Bauzustand.
Der Rest ist in einem maximal befriedigendem Zustand;
knapp 3 Prozent sind bereits in einem ungenügenden Bauzustand.
({1})
Wer mit offenen Augen auf Deutschlands Fernstraßen unterwegs ist, sieht vor Autobahnbrücken Geschwindigkeitsbegrenzungen, Abstandsvorschriften für LKWs und
Ähnliches.
Welche politischen Konsequenzen sind für die Zukunft
daraus zu ziehen? Über eine Konsequenz werden wir sicherlich politisch streiten: In einer Zeit, in der der Autofahrer in Deutschland Abgaben in absoluter Rekordhöhe
zu tragen hat, ist es aus meiner Sicht nicht hinzunehmen,
dass regelmäßig erklärt wird, dass etwas nicht mehr gebaut werden könne, oder auf mangelnden Bauzustand von
Brücken oder Straßen ausschließlich damit reagiert wird,
dass ein Verkehrsschild mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung wegen schlechten Fahrbahnzustandes aufgestellt wird. Das kann, wie gesagt, auf Dauer nicht mehr
hingenommen werden. Das ist der erste Punkt. Man muss
sich also Gedanken darüber machen, ob und wie man Finanzierungsmechanismen konsequent umstellen kann.
Das, was wir bisher über den Entwurf eines Gesetzes zur so
genannten Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft
von Rot-Grün gehört haben - darüber werden wir ja demnächst diskutieren -, ist nichts weiter als ein Deckmantel
einer ausgelagerten Abteilung des Verkehrsministeriums,
Albert Schmidt ({2})
Horst Friedrich ({3})
bei der GmbH dahinter steht. Im Endeffekt wird aber nur
das Geld verteilt, das der Finanzminister vorher freigegeben hat. Wir müssen aber eine echte Finanzierungsumstellung mit einer Zweckbindung der Mittel vornehmen, damit wir dem Autofahrer nichts mehr erklären
müssen.
Der Kollege Schmidt hat in seiner Rede auf einen Vortrag von Herrn Mehdorn hingewiesen, den dieser gestern
Abend bei der Parlamentsgruppe „Schienenverkehr“ gehalten hat. Ich möchte das Thema „Verlagerung von der
Schiene auf die Straße“ vor dem Hintergrund der EUOsterweiterung nur kurz streifen. Die Kommission geht
davon aus, dass der Verkehr insgesamt um 64 Prozent und
auf der Straße sogar um 80 Prozent zunehmen wird. Die
Antwort darauf lautet: Der Verkehr muss auf die Schiene!
Herr Mehdorn hat gestern Abend relativ unverblümt erklärt: Vergessen Sie die Schiene! Niemand im Osten denkt
daran, auch nur einen Güterwagen zu beladen. Das
kommt alles über die Straße. - Wenn das zu den Belastungen dazukommt, die wir bereits haben, dann können
Sie zwar jetzt konstatieren, dass im Jahr 2000 die Verkehrsleistungen zurückgegangen seien. Aber diese werden spätestens im Jahr 2004 in einem Umfang zunehmen,
dem wir dann nicht mehr gewachsen sein werden und mit
dem wir mit dem Geld, das derzeit im Haushalt zur Verfügung steht, überhaupt nicht mehr klarkommen werden.
Das heißt, dass auch hier umgedacht werden muss. Das
erfordert aus Ihrer Sicht unpopuläre Maßnahmen.
Man muss darüber nachdenken, wie man die Einnahmeströme aus dem Verkehr, die schätzungsweise 120 Milliarden Euro betragen, besser in die Ausgabenströme umlenken kann; denn bestenfalls 30 Milliarden bis
35 Milliarden Euro bekommt man auf dieser Ebene aus
den einzelnen Haushalten zurück. Das ist, glaube ich, auf
Dauer nicht ausreichend. Wenn das die Konsequenz ist,
die wir aus dem Straßenbaubericht 2001 ziehen, dann haben seine 130 Seiten Sinn gehabt. Ansonsten sollten wir
ihn zur Kenntnis nehmen; denn die Bauleistungen sind ja
bereits erbracht.
Danke sehr.
({4})
Das Wort hat nun die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Blank, ich bin noch ein bisschen ratlos, wie ich
auf Sie reagieren soll; denn Ihre Art der selektiven Wahrnehmung ist sehr schwer zu kommentieren. Wenn es um
Ihre Vergangenheit als Verkehrspolitikerin geht, fallen Sie
praktisch immer jungfräulich vom Himmel.
({0})
Ich möchte mich auf zwei Dinge beschränken. Das
eine ist der Bundesverkehrswegeplan. Ich weiß nicht,
wer Ihnen diesen für 1999 versprochen hat. Wir sind zwar
ziemlich gut, aber zaubern können wir nicht. Das andere
ist Folgendes: Sie wissen ganz genau, dass der alte Bundesverkehrswegeplan gilt, bis der neue da ist. Wenn Sie
behaupten, wir hätten eine Straße bauen lassen, die das
betreffende Land gar nicht haben wollte, dann kann ich
nur darauf hinweisen, dass sich dieses Land durchaus
hätte melden und sagen können: Diese Straße wollen wir
nicht. Bitte nehmt sie zurück! Das ist aber nicht geschehen.
({1})
Eine Infrastruktur, zumal eine Verkehrsinfrastruktur,
ist die Voraussetzung für das Funktionieren einer Volkswirtschaft. Quantität und Qualität sagen einiges über den
Erfolg einer Volkswirtschaft aus. Obwohl wir heute über
den Straßenbaubericht 2001 beraten, möchte ich deutlich machen: Wer eine erfolgreiche Verkehrspolitik machen will, muss eine integrierte Verkehrspolitik betreiben.
Alle anderen Forderungen sind Anachronismen.
({2})
Forderungen nach außerordentlichen Verstärkungen
eines Verkehrsträgers - das gilt übrigens gleichermaßen
für die Schienen- wie für die Straßenfreunde - sind verkehrspolitisches Mittelalter, um das einmal deutlich zu sagen. Mittelfristiges Ziel unserer Verkehrspolitik kann also
nur sein, die Stärken der einzelnen Verkehrsträger zu optimieren, die Schwächen zu minimieren und eine Vernetzung aller Verkehrsträger zu forcieren.
Wir haben - um auf den Straßenbaubericht 2001
zurückzukommen - seit 1971 den Auftrag, jedes Jahr Bilanz zu ziehen. Ich will die Aufmerksamkeit noch einmal
auf die Seite 9 - Gebrauchswert der Fahrbahnen - und
auf die Seite 10 - Zustandsbewertung der Brückenbauwerke - lenken. Herr Friedrich hat das schon sehr eindrucksvoll geschildert und damit auch auf die Versäumnisse der Vergangenheit hingewiesen, an denen er
vielleicht gar nicht so unbeteiligt war.
({3})
Beide Abbildungen zeigen uns einen Handlungsbedarf
im Bestand auf, dem wir in Zukunft nachkommen müssen. Allein die Bundesfernstraßen stellen ein Anlagevermögen von - in altem Geld - 340 bis 350 Milliarden DM
dar. Wer die Substanz bewahren will, muss kräftig in die
Tasche greifen. Die Ausgabennotwendigkeit - das wissen
wir schon heute - wird mit den Jahren stetig größer. Ich
werbe wirklich sehr dafür, dass wir das stärker als bisher
nach draußen vermitteln. Straßenbau ist eben nicht nur
Neubau. Wir müssen den Gebrauchswert unserer Straßen
steigern. Auch das zeigt die Abbildung auf Seite 9 sehr
deutlich.
Herr Friedrich, ich will die Versäumnisse der Vergangenheit überhaupt nicht groß kommentieren.
({4})
Jeder steht in der Situation, die Mark oder jetzt den Euro
nur einmal ausgeben zu können. Das war in Ihrer Zeit so
und das ist auch in unserer Zeit so.
An dieser Abbildung können wir die Probleme der
neuen Länder sehr deutlich ablesen. Ein Straßennetz besteht eben nicht nur aus Autobahnen. Deshalb - die Kollegin Weis hat das auch schon gesagt - ist eine Konzentration der Mittel auf die Bereiche mit dem größten
Nutzen, vor allem mit dem größten volkswirtschaftlichen
Nutzen, sehr hilfreich. Die Kollegin Weis hat die Engpassbeseitigung und die Ortsumgehung genannt. Ich will einen dritten Schwerpunkt hinzufügen: die Zulaufstrecken
zu den maritimen Standorten. Die Küstenländer sind in
unserem Land traditionell strukturschwach. Die Häfen
stellen deshalb einen wichtigen Wirtschaftszweig dar.
({5})
Was noch wichtiger ist und was viele Binnenländer
einfach immer wieder vergessen, ist, dass die Wertschöpfungsketten letztlich bis nach Passau, Stuttgart oder Ingolstadt reichen. Sicherlich ist wichtig, wo ein Container
umgeschlagen wird; noch wichtiger ist, wo er beladen
wird. Das Wichtigste ist, wie er von dort an die Nordsee
oder an die Ostsee kommt. Ich denke da natürlich an die
Häfen in Mecklenburg-Vorpommern, in Schleswig-Holstein, in Niedersachsen, aber auch an Bremen, Bremerhaven und natürlich nicht zuletzt an Hamburg. Die Anbindung muss besser werden als bisher. Auf der maritimen
Konferenz in Rostock haben wir das ja auch beschlossen.
Wir werden die Hinterlandanbindung für die Seehäfen
realisieren.
Über die neuen Bundesländer ist bereits gesprochen
worden. Die vordergründig gute Ausstattung mit neuen
Autobahnen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir
in vielen Bereichen einen Zustand vorfinden, wie er schon
vor der Vereinigung bestanden hat. Das gilt besonders für
die Ortsumgehungen.
Frau Weis hat schon etwas zu den Verkehrsbeeinflussungsanlagen gesagt. Ich werbe dafür, dass wir uns das
noch einmal genauer ansehen. Wir haben in der Vergangenheit eigentlich vornehmlich mit dem Sicherheitsaspekt argumentiert. Jetzt nutzen wir diese Verkehrsbeeinflussungsanlagen immer häufiger dazu, eine
Verkehrslenkung und eine bessere Ausnutzung der Infrastruktur zu erzielen.
Das hat zum Beispiel bei der A 40 dazu geführt, dass
die Zahl der Staus und Unfälle um 50 Prozent zurückgegangen und die mittlere Geschwindigkeit um 10 km/h gestiegen ist, dass es eine bessere Ausnutzung der Autobahnkapazität und keine Verschlechterung im nachgeordneten
Netz sowie - das finde ich sehr erstaunlich, weil es dort
auch Ampelregelungen gibt - eine hohe Akzeptanz bei
den Verkehrsteilnehmern gibt.
Ein Fazit aus dem Straßenbaubericht ist, dass wir uns
mit dem so genannten A-Modell, dem Betreibermodell,
auf einen neuen Weg begeben haben, was, wie ich finde,
fast überfällig war. Das gibt der Bauindustrie und den vielen mittelständischen Betrieben die Möglichkeit, ihr Können zu beweisen und zu zeigen, dass sie so etwas bauen
können. Es gibt uns die Möglichkeit, schneller und preiswerter an Infrastruktur zu kommen. Das ist eine klassische Win-Win-Situation.
Von den Vorrednern, gerade aus der Koalition, ist
schon sehr viel gesagt worden. Ich will deshalb mit einem
Wort an die Opposition schließen - Sie haben dieses Verhalten auch heute wieder gezeigt -: Opposition ist die
Kunst, etwas zu versprechen, was die Regierung nicht
halten kann. Das ist schon richtig. Die große Frage lautet
allerdings: Was ist Kunst? Das Leben ist kurz, die Kunst
ist lang, die Gelegenheit ist flüchtig, der Versuch ist gefährlich und die Entscheidung ist schwer.
({6})
Ich schließe die Aussprache, die mit dem zutreffenden
Hinweis auf die Zusammenhänge zwischen Politik und
Kunst nicht zugunsten einer weiteren Aussprache über
das Kunstverständnis des Deutschen Bundestages verlängert wird.
({0})
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8754 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist ganz offenkundig der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart,
Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP:
Eigenheimerwerb nicht erschweren - weitere
Belastungen für Beschäftigte und Betriebe der
Bauwirtschaft und für Familien vermeiden
- Drucksache 15/33 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
FDP sechs Minuten erhalten soll. - Auch dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen Eberhard
Otto, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Aktuellen Stunde am 7. November des vergangenen Jahres
Eberhard Otto ({0})
hat sich der Deutsche Bundestag schon einmal mit der
Thematik Eigenheimzulage befasst. Die FDP hat seinerzeit die verheerenden Auswirkungen für die Bau- und
Volkswirtschaft dargelegt. Mehrere Wochen sind seitdem
vergangen; aber die Bundesregierung hält trotz umfangreicher Kritiken bezüglich der negativen Auswirkungen
an ihren Vorhaben, die von der Baubranche als „Giftliste“
bezeichnet werden, ungerührt fest.
Allen hier Anwesenden dürfte bekannt sein, dass
Wohneigentum einer der wichtigsten Faktoren zur Stabilisierung von Staat und Gesellschaft ist. Es sichert und
verbessert eine möglichst breite Streuung des Vermögens
in privaten Händen, es sorgt für einen sicheren und wertbeständigen Vermögensstamm, es deckt einen Teil der
notwendigen privaten Altersvorsorge ab und es sichert ein
vielfältiges und marktgerechtes Wohnraumangebot.
Selbst genutztes Wohneigentum ist eines der bedeutendsten gesellschafts- und familienpolitischen Instrumente.
Die rot-grüne Regierung ist jedoch weiter auf gutem
Wege, sowohl die letzten konjunkturellen Säulen in der
Bauwirtschaft systematisch zu zerstören als auch diese
wichtige gesellschaftliche Aufgabe des Wohneigentums
zu demontieren.
({1})
Die inzwischen in Kraft getretenen Gesetze waren die
ersten Schritte in diese schlimme Richtung. Sie bedeuten
für die privaten Haushalte neben steigenden Rentenversicherungsbeiträgen weitere Belastungen, unter anderem
wegen der Erhöhung der Mietnebenkosten, und für die
Bauwirtschaft Investitionsausfälle, was den Abbau von
Arbeitsplätzen mit sich bringt.
Was die sich ständig verschlechternden Rahmenbedingungen und die daraus resultierende ständig schlechter
werdende Auftragslage für die Bau- und Wohnungswirtschaft, insbesondere für den Sanierungsbereich, bedeuten, kann ich am eigenen Beispiel aufzeigen. Ich habe auf
diesem Gebiet in den 90er-Jahren, insbesondere bis 1997,
in Mecklenburg-Vorpommern bis zu 250 Arbeitsplätze gesichert. Leider habe ich aus den genannten Gründen die
Anzahl der Arbeitsplätze bis heute auf durchschnittlich 50
- so viel sind es immerhin noch, wie ich betonen muss reduzieren müssen.
Die öffentliche und private Nachfrage nach Bauleistungen geht zurück, insbesondere in den ostdeutschen
Ländern. Die verheerenden Auswirkungen auf die Betriebe der Bau- und Wohnungswirtschaft und ihre Arbeitnehmer sind absehbar. Die Pläne der Koalition werden
durch sinkende Umsätze, ein geringeres Steueraufkommen sowie durch die Zunahme der Arbeitslosigkeit weniger Sozialversicherungsbeiträge und höhere staatliche
Transferleistungen zur Folge haben.
Meine Damen und Herren, im Oktober 1995 wurde die
Eigenheimzulage beschlossen, damals auch unter Zustimmung der SPD. Ich möchte zitieren:
Heute erleben wir ein kleines Wunder: …
Und weiter:
Die starke Benachteiligung der Menschen in den
neuen Bundesländern ist ab heute beendet; denn die
einkommensunabhängige Förderung wird dazu
führen, dass viele Menschen, die von Eigentum bisher nur träumen konnten, diesen Traum verwirklichen können.
Wissen Sie, wer das gesagt hat? Herr Großmann am
27. Oktober 1995; und heute ist das alles nicht mehr wahr.
({2})
Ich muss Ihnen sagen: Wer mittelfristig eine negative
Entwicklung im Haus- und Wohnungsbereich herbeiführt,
wird eines Tages ein böses Erwachen erleben. Die Einschränkung bei der Eigenheimzulage bzw. der für die
Eigentumswohnung und die Senkung der Einkommensgrenzen sind keineswegs - wie von der Bundesregierung
behauptet - kinder- und familienfreundliche Maßnahmen.
Fast alle Familien werden erheblich schlechter gestellt.
Im Neubaubereich wären nur Familien mit sechs Kindern
und im Altbaubereich nur Familien mit mehr als drei Kindern nicht benachteiligt. Die Beschränkung der Förderung auf Familien mit Kindern blendet zudem kinderlose
Ehepaare und Singles aus. Dem stadtentwicklungspolitisch erwünschten Bestandserwerb durch die Mieter, insbesondere in den Innenstädten, vor allen Dingen im Zuge
des Stadtumbaus Ost, droht dadurch das generelle Aus.
Ich komme deshalb zu dem Schluss, dass die Kürzung der
Eigenheimzulage allein fiskalisch bedingt und keine
Maßnahme zugunsten von Familien ist.
({3})
Ich will, damit keine Missverständnisse entstehen, klar
sagen, dass sich die FDP grundsätzlich auch für den Abbau von Subventionen einsetzt. Diese müssen aber mit
einer deutlichen steuerlichen Gesamtentlastung und Vereinfachung des Steuersystems einhergehen.
({4})
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Der Abbau von Förderinstrumenten ohne gleichzeitige
Steuerentlastung ist faktisch eine Steuererhöhung, die in
diesem Fall die Familien hart trifft.
Ich fordere Sie auf: Helfen Sie unseren Menschen!
Helfen Sie unseren Familien! Helfen Sie der Bau- und
Wohnungswirtschaft!
Ich danke Ihnen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Hilsberg,
SPD-Fraktion.
({0})
Eine absolut leichte Aufgabe ist es, meine Damen und
Herren, sehr geehrter Herr Präsident, auf diesen FDP-Antrag zu reagieren. Nachdem ich der Rede meines verehrten
Vorredners, Herrn Otto, aufmerksam zugehört habe, muss
ich sagen, dass sie vielleicht auf vieles einging, aber mit
der Reformbedürftigkeit der Eigenheimzulage - vor
dieser Situation stehen wir - nichts zu tun hatte. Dieser Antrag ist das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben ist.
Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, wie reformbedürftig die Eigenheimzulage inzwischen ist. Sie lachen,
Herr Fischer, aber Sie waren selber an der Diskussion darüber beteiligt. Wir haben darüber in der letzten Legislaturperiode intensiv im Verkehrs- und Bauausschuss diskutiert.
({0})
- Auch nicht schlecht. Es ist ja gut, wenn man freundlich
miteinander umgeht, aber hier muss man einmal Tacheles
reden. Dieser Antrag spricht vielleicht Bände hinsichtlich
der Situation und des Zustandes der FDP; ein Beitrag zur
Reform der Eigenheimzulage ist er sicher nicht.
({1})
Die FDP nennt sich ja eine liberale Partei. Liberal hat
etwas mit Freiheit, Beweglichkeit und Verantwortung zu
tun; es bedeutet, auf veränderte gesellschaftliche Verhältnisse einzugehen. Aber das finden wir in diesem Antrag
nicht. Plötzlich wird das Alte bewahrt. Das zeugt nicht
von Liberalität, sondern von Orthodoxie,
({2})
vom reinen Festhalten am Alten, und das nicht einmal,
weil es sich bewährt hat, sondern wider besseres Wissen
und bessere Einsicht. Bezüglich der Forderungen in Ihrem
Antrag waren Sie beispielsweise in den Petersberger Be-
schlüssen zur Steuerreform schon viel weiter. Auch das
muss man einmal festhalten.
Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Da war die
FDP doch überhaupt nicht dabei! Das haben wir
doch gemacht!)
Ist das Populismus? Ist das einer dieser Anträge, in denen die FDP aus dem Füllhorn schüttet? Ich frage mich
immer: Wie passt das in ein Gesamtkonzept? Wir haben
in diesem Hohen Hause schon viele Anträge von der FDP
auf den Tisch bekommen, bei denen ich den Eindruck
hatte, dass jedem alles geschenkt werden soll.
({3})
Gleichzeitig tut man so, als könnten die Steuersätze gesenkt und auf 15, 25 und 35 Prozent festgesetzt werden.
Wie soll das zusammenpassen? Der Staat, dem man auf
der einen Seite die Einnahmen so maßlos kürzt, dass er
weder aus noch ein weiß, soll auf der anderen Seite ein unerschöpfliches Füllhorn ausgießen. Das hat mit einem
Konzept nichts zu tun.
Aber der Antrag spricht in der Tat Bände, weil er den
eigentlichen Charakter Ihrer Partei zeigt, die noch nie so
weit davon entfernt war, eine Volkspartei zu werden, wie
Herr Westerwelle es wünscht, sondern im Grunde genommen doch die Partei der Besserverdienenden ist. Um
nichts anderes geht es an dieser Stelle.
({4})
Sie als FDP sind ja nicht ganz unbeteiligt an der bestehenden Konstruktion der Eigenheimzulage, die wir jetzt
nur reformieren und anpassen, weil das notwendig ist,
weil die Bedingungen unserer Zeit und die schwierige
Haushaltslage es erfordern.
Ihr eigentliches Projekt, meine Damen und Herren von
der FDP, war seinerzeit doch der reine Freibetrag. Sie
wussten ganz genau, dass ein solcher Freibetrag nur den
Besserverdienenden zugute kommt. Nur diejenigen, die
viel Steuern zahlen, konnten auf diese Art und Weise sparen. Die Leute mit geringeren Einkommen haben nie etwas davon gehabt. Das war Ihr eigentliches Projekt. Die
Eigenheimzulage hat an dieser Stelle soziale Gerechtigkeit geschaffen und mehr Menschen die Möglichkeit geboten zu bauen, als das vorher der Fall war.
Es ist gelungen, und zwar wesentlich unter der Federführung der SPD, auch mithilfe des damaligen Bundesrats, mithilfe des Landes Rheinland-Pfalz und mit der persönlichen Hilfe unseres jetzigen Staatssekretärs, der
damals Sprecher der Bauarbeitsgruppe meiner Fraktion
war, diesen völlig neuen Typ der Eigenheimzulage zu installieren. Plötzlich ging es nicht mehr um das Sparen von
Steuern, sondern um eine echte Zulage, wie das Kindergeld. Die Folge war, dass die Zahl der Anträge enorm in
die Höhe geschnellt ist; es hat, Herr Otto, einen echten
Bauboom gegeben. Viele Familien, die bauen wollten, es
bis dahin aber nicht konnten, waren plötzlich dazu in der
Lage. Diese Bugwelle ist inzwischen abgeklungen.
Herr Kollege Hilsberg, würden Sie freundlicherweise
eine Zwischenfrage des Kollegen Meister gestatten?
Ja. Wir wollen ihn nicht länger warten lassen.
Vielen Dank, Herr Kollege Hilsberg. Ich frage Sie, da
Sie die Notwendigkeit der Reform der Eigenheimzulage
hier so massiv vertreten, wie Sie das in Einklang bringen
mit dem Interview des Bundeskanzlers Gerhard Schröder
im August letzten Jahres in der Zeitschrift „Familie und
Garten“, in dem er ausdrücklich dargelegt hat, dass er der
Meinung sei, dass die Eigenheimzulage in der laufenden
Wahlperiode so bleiben solle, wie sie ausgestaltet sei.
({0})
Unter der Voraussetzung, dass Sie ihn richtig zitieren
- ich will aber nicht in seinem Namen sprechen -, hat er
gesagt: in der laufenden Legislaturperiode. Das war ja
auch der Fall. Es war übrigens von Anfang an klar - auch
im Ausschuss, dem Sie damals angehört haben -, dass Reformen an dieser Stelle bitter notwendig sind. Ich erinnere
daran, dass die Leerstandskommission seinerzeit beispielsweise die komplette Streichung der Eigenheimzulage gefordert hat, weil wir in den ostdeutschen Städten
einen Leerstand von bis zu 40 Prozent haben. Das können
Sie doch nicht übersehen. Wenn Sie jetzt über dieses
Thema lamentieren, dann zeigt das, dass Sie die ostdeutschen Probleme in keiner Weise zur Kenntnis nehmen und
dazu auch nicht gewillt sind.
Wir haben ähnliche Probleme in den alten Ländern. Ich
denke beispielsweise an die Frage der Zersiedelung. In
den Grünbüchern der Europäischen Kommission zur Verkehrspolitik steht beispielsweise, dass nicht weiterhin
eine Politik betrieben werden dürfe, durch die täglich über
100 Hektar an Naturbestand gewissermaßen zersiedelt
werden. An dieser Stelle muss man ansetzen. Aber das ist
nur ein Punkt.
Es gibt noch einen anderen, der meines Erachtens noch
wichtiger ist. Die Eigenheimzulage hat gewiss etwas mit
sozialer Gerechtigkeit zu tun. Aber sie muss an die realen
Bedingungen angepasst sein. Das Wichtigste ist: Eine Eigenheimzulage schafft nur dann soziale Sicherheit für die
Menschen, wenn sie gleichzeitig unter den Bedingungen
gesunder Staatsfinanzen leben können. Generationengerechtigkeit und Eigenheimzulage gehören zusammen.
Wenn Sie das eine zulasten des anderen verändern, kann
es nicht funktionieren. Deswegen war es notwendig, auch
an dieser Stelle zu sparen.
Ich sage ganz ernsthaft: Wir wissen, dass wir Opfer
verlangen. Wir wissen, dass der bisherige Besitzstand,
was die öffentliche Förderung angeht, durch die Reform
der Eigenheimzulage eingeschränkt wird. Wir haben die
verschiedenen Varianten geprüft. Die Reform der Eigenheimzulage kann nicht isoliert, sondern sie muss in
einem Gesamtkonzept betrachtet werden. Auch eine gesunde Volkswirtschaft, die Sie zu Recht einfordern, kann
nur funktionieren, wenn die Staatsfinanzen intakt sind.
Deshalb kann man das eine nicht von dem anderen trennen.
Ich glaube, es war richtig, die Eigenheimzulage zu reformieren. Wir konzentrieren Sie in Zukunft auf Familien
mit Kindern. Der Kinderanteil bei der Eigenheimzulage
wird sogar erhöht. Es ist doch überhaupt nicht der Fall,
dass an dieser Stelle eingespart wird. Der Familiengrundbetrag wird zwar in Zukunft niedriger sein, aber die Förderung für Kinder wird erhöht, was angesichts des demographischen Wandels wichtig ist.
({0})
Wir müssen eine Politik machen, die den demographischen Wandel im Blick hat und ein Signal an Familien mit
Kindern ist. Auch Sie kommen nicht darum herum, diese
Punkte zu beachten.
Ich möchte noch an Folgendes erinnern: Es gibt keinen
Zusammenhang mit der Baukonjunktur; denn die Zahl
der Anträge ist bereits unter den Bedingungen des alten
Rechts zurückgegangen, obwohl die ausgeschüttete
Summe gestiegen ist. Das hängt aber mit dem achtjährigen Förderzeitraum zusammen. Eine Baufirma wird in
den nächsten Jahren nicht merken, dass wir an dieser
Stelle etwas geändert haben, weil es in den letzten Monaten noch einen Boom gegeben hat, was man an der Zahl
der abgegebenen Anträge erkennen kann.
({1})
Die Baukonjunktur ist also nicht abhängig von der Eigenheimzulage.
Ich komme zum Schluss. Es wird sicherlich noch
einige Diskussionen über diese Frage geben. Sie wird Gegenstand im Bundesrat und mit Sicherheit auch im Vermittlungsausschuss sein. Es müssen hierzu sehr differenzierte Diskussionen geführt werden. Aber man muss
aufpassen. Ab und zu wird der Vorwurf gemacht, dass die
Bemessungsgrundlage zu hoch gewählt sei, obwohl wir
sie von 80 000 auf 70 000 Euro - das sind 140 000 Euro
für ein Ehepaar - gesenkt haben. Es gibt aber einen einfachen Grund, weshalb die Bemessungsgrundlage in dieser
Höhe gewählt wurde. Wenn man nämlich, wie von einigen Ländern gefordert, noch weiter heruntergehen würde,
könnte es sein, dass auf diese Art und Weise Alleinerziehende so benachteiligt würden, dass sie nicht mehr in den
Genuss des Bauens kämen. Das kann nicht im Sinne des
Erfinders sein. Deshalb muss man an dieser Stelle vorsichtig und differenziert an die Sache herangehen.
Wir erwarten spannende Diskussionen. Die Eigenheimzulage muss im Interesse der Aufrechterhaltung unseres Sozialstaates reformiert werden. Wer den Sozialstaat und soziale Gerechtigkeit auch in Zukunft will, der
kann nicht, wie die FDP es tut, aus dem Füllhorn schütten.
Er muss an das Gesamtwohl denken und er braucht ein
Gesamtkonzept; denn ohne ein solches werden wir keine
der Aufgaben lösen können, für deren Erledigung wir gewählt wurden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Minkel,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Hilsberg, Sie haben mich mit Ihrem Beitrag sehr
enttäuscht. Wenn man bei der Eigenheimzulage den Fa1512
milien ohne Kindern 100 Prozent und den Familien mit
Kindern über 60 Prozent wegnimmt, dann ist das keine
Reform und verdient diese Bezeichnung auch nicht. Es ist
vielmehr eine verzweifelte Geldbeschaffungsmaßnahme
und nichts anderes.
({0})
Es war nicht allein der Bundeskanzler, der sich im letzten Jahr mit salbungsvollen Worten für die Eigenheimzulage eingesetzt hat. Es waren auch die Fraktionen von
SPD und Grünen. Ich zitiere aus einem rot-grünen Antrag
im Bundestag im Juni:
Die Förderung des selbst genutzten Wohneigentums
hat gesellschaftpolitisch einen hohen Stellenwert.
Wir messen der Eigenheimzulage einen hohen Stellenwert zu.
Es heißt weiter:
Deshalb ist klar, dass die SPD keinesfalls an die
Streichung der Eigenheimzulage denkt. Aus wohnungspolitischer Sicht halten wir auch die derzeitige
Höhe des Fördervolumens für sinnvoll.
Oder die Grünen:
Wir werden uns in der nächsten Legislaturperiode
aktiv dafür einsetzen, dass der Erwerb von Wohneigentum weiter erleichtert wird.
So die wohnungspolitische Sprecherin der Grünen, Frau
Eichstädt-Bohlig.
({1})
Wenn das, was Sie vor der Wahl erklärt haben, wahr gewesen sein soll, dann sind alle Hilfs- und Stützargumente,
die Sie jetzt anbringen, um die Streichungen zu rechtfertigen, nicht wahrhaft. Die einzige Verbesserung, die Sie
anführen können, ist die bescheidene Erhöhung des Kinderzuschlages um 33 Euro pro Kind und Jahr. Dem muss
man die Kürzung des Grundbetrages von 1 556 Euro entgegenhalten. Nach Adam Riese bedeutet das immer noch,
dass man 48 Kinder in die Welt setzen muss, um die Kürzungen beim Grundbetrag ausgleichen zu können.
({2})
Herr Hilsberg, Sie werden also mit dieser Reform niemanden in diesem Lande glücklich machen können.
({3})
In diesem Zusammenhang ist mir einzig August der
Starke mit seinen 360 Kindern eingefallen. Aber der ist
schon 250 Jahre tot.
Er hat auch, glaube ich, keine Eigenheimzulage bekommen, Herr Kollege.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung ist bekanntlich an nichts schuld. Wenn die
Wirtschaft in diesem Jahr genauso schlecht wie im letzten Jahr läuft, dann liegt das wie immer an der Weltwirtschaft. Wir sehen das freilich ganz anders, denn es lahmt
die Binnenkonjunktur. Diese Bundesregierung hat
durch ihre Politik die Binnenkonjunktur im Allgemeinen
und die Bauwirtschaft im Besonderen auf ihrem Gewissen.
({0})
Es fing schon 1998 mit der Ökosteuer an. Aus dieser
6-Pfennig-Steuer sind mit EEG-Abgabe und KWK-Abgabe inzwischen Mehrbelastungen für unsere Bevölkerung von über 20 Milliarden Euro entstanden. Diese
Geldbeschaffungsmaßnahmen werden durch Ihren unseligen Gesetzentwurf vom 2. Dezember fortgesetzt, über
den wir hier heute zu reden haben. Durch diesen Gesetzentwurf sollen unserer Bevölkerung jedes Jahr weitere
17 Milliarden Euro aus der Tasche gezogen werden. Sie
nehmen der Bevölkerung die Kaufkraft, die Umsätze brechen weg. Sie produzieren dadurch mehr Arbeitslosigkeit,
die anschließend von der Allgemeinheit teuer finanziert
werden muss, wofür Sie dann wiederum tiefer in das
Fleisch des deutschen Volkes schneiden werden.
({1})
Die deutsche Bauwirtschaft ist sterbenskrank. In dieser
Lage traktieren Sie die Bauwirtschaft in ihrem Überlebenskampf prozyklisch. Die Bauwirtschaft ruft SOS und
Sie starten durch Ihren jüngsten Gesetzesvorschlag einen
Fächerangriff auf die deutsche Bauwirtschaft, als ob es
um ein fröhliches Schiffeversenken ginge.
({2})
Die Begrenzung der Verlustverrechnung betrifft insbesondere die Bauwirtschaft, weil die Bauwirtschaft bei
ihren Arbeitsgemeinschaften und Projektgesellschaften
auf die Verlustverrechnung angewiesen ist. Die gestrige
Anhörung hat zweifelsfrei erwiesen, dass die Bauwirtschaft künftig bei dieser Verlustbegrenzung Scheingewinne wird versteuern müssen. Das ist unredlich. Zu solchen Maßnahmen greift nur ein Räuberstaat.
({3})
Aus gutem Grund gibt es seit Jahrzehnten in diesem
Lande die degressive Abschreibung. Sie soll Investitionen anregen und erleichtern. Wenn die degressive Abschreibung künftig wegfallen soll, dann bedeutet das für
den privaten Wohnungsbau, dass eine Finanzierungslücke von 8 Prozent entsteht, die durch mehr Zinsen bedient werden muss, was unmittelbar zu höheren Mieten
führen wird.
({4})
Wenn sich diese höheren Mieten nicht am Markt durchsetzen lassen, dann bedeutet das, dass noch mehr auf privaten Wohnungsbau verzichtet wird. Aber auch das führt
zu höheren Mieten. Als Draufgabe werden Sie zusätzliche
Arbeitslose geschenkt bekommen.
({5})
Am schlimmsten sind Ihre Eingriffe bei der Eigenheimzulage; das habe ich schon zu Beginn meiner Ausführungen geschildert. Hier werden insbesondere die
Schwellenhaushalte geschädigt, nicht die Reichen.
({6})
Das betrifft die jungen Familien, die einkommens- und
kapitalschwach sind und die auf diese Starthilfe angewiesen sind. Sie helfen mit dieser Kürzung niemandem. Sie
helfen vor allen Dingen sich selbst und dem Finanzminister nicht. Die Eigenheimzulage hat bei den Neubauten einen enormen Hebeleffekt, weil sie erhebliche private Investitionen auslöst.
Wenn diese privaten Investitionen künftig wegfallen,
dann bedeutet das, dass die öffentliche Hand in Höhe von
etwa 50 Prozent dieser Wertschöpfung über weniger Einnahmen bei Steuern und der Sozialversicherung verfügen
wird. Zusätzlich kommen für jede Wohneinheit, die nicht
gebaut wird, einige Arbeitslose hinzu, die wir alle dann
wieder zu finanzieren haben.
Es ist äußerst unredlich gewesen, wie Sie dieses Thema
vor der Bundestagswahl behandelt haben. Wenn die Bauarbeiter, die Handwerker, die ihr Brot hart verdienen müssen, gewusst hätten, was ihnen nach der Wahl blüht, dann
wäre das Wahlergebnis mit Sicherheit anders ausgefallen.
({7})
Das gilt ebenso für die jungen Familien, die sich auf diese
Regierung verlassen haben.
Das Eigentum verschafft unserer Bevölkerung Freiheit. Es steht auf der Wunschliste unserer Bevölkerung
nach Essen und Trinken ganz weit oben. Die Eigentumsquote in unserem Land ist sowieso die niedrigste in der
ganzen Europäischen Union.
({8})
- Die Schweiz ist bekanntlich kein Mitglied der Europäischen Union, verehrte Kollegin.
({9})
Die Eigentumsquote ist in den neuen Bundesländern
besonders niedrig. Dort besteht ein hoher Nachholbedarf.
Sie nehmen den Menschen in den neuen Bundesländern
die Chance, diesen Bedarf zu befriedigen.
Ich möchte mit einem Wort von Tucholsky schließen,
das besonders den Vertretern der SPD zu denken geben
sollte.
({10})
Tucholsky hat gesagt: Man kann mit einer Wohnung einen
Menschen genauso erschlagen wie mit einer Axt.
({11})
Wir haben in diesem Lande immer noch Wohnungen, die
nicht marktgerecht sind und nicht den Bedürfnissen unserer Bevölkerung entsprechen. Besinnen Sie sich auf eine
moderne Wohnungsbaupolitik und betreiben Sie endlich
wieder eine Politik für und nicht gegen die Menschen!
Vielen Dank.
({12})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
verehrter Herr Kollege Minkel, als Erstes muss ich feststellen: Wenn die Eigenheimzulage den Effekt hat, dass
unsere jungen Leute pro Haushalt und Familie 48 Kinder
in die Welt setzen, dann brauchen wir hier nicht mehr über
den demographischen Wandel und über bestimmte
Wachstumsprobleme zu diskutieren. Dann hätten wir
wirklich den Joker getroffen.
({0})
Aber ich glaube, das hat auch die bisherige Eigenheimzulage nicht geschafft.
Als Zweites ein sehr ernstes Wort: Sie haben Ihren Beitrag mit dem großen Satz angefangen, das wäre eine verzweifelte Geldbeschaffungsmaßnahme und nichts anderes.
({1})
Dazu kann ich nur sagen: Sie sprechen mit gespaltener
Zunge, vielleicht nicht Sie persönlich, aber Ihre Fraktion
ebenso wie die FDP. Auf der einen Seite beantragen Sie
einen Lügenausschuss, weil Sie uns vorwerfen,
({2})
wir sagten der Bevölkerung nicht deutlich genug, dass wir
dann, wenn wir Steuermindereinnahmen in großem Umfang haben, ernsthaft sparen müssen. Wenn wir dieses
Sparen dann ernsthaft in Angriff nehmen und prüfen, wo
und an welcher Stelle wir das verantwortlich machen können, dann beschweren Sie sich auf der anderen Seite, das
sei eine verzweifelte Geldbeschaffungsmaßnahme.
Sie haben einfach noch nicht kapiert, was die Stunde
geschlagen hat. Sie haben noch nicht einmal die aktuelle
Vorausschau auf die Entwicklung unseres Bruttoinlandsproduktes verinnerlicht; sonst müssten Sie endlich verstehen, dass auch Sie sich der Verantwortung des Sparens
endlich stellen müssen.
({3})
Das gilt sowohl für die FDP, die es überhaupt nicht kapiert
hat und immer Steuersenkungen und sämtliche Ge1514
schenke gleichzeitig verspricht. Sie hat gerade eben im
Haushaltsausschuss so viel versprochen, dass man eigentlich überhaupt niemandem erzählen darf, wo sie überall
draufsatteln wollen; gleichzeitig aber rufen Sie immer
nach dem schlanken Staat.
({4})
Kommen wir konkret zu dem gesamten Antrag. - Kollege Brunnhuber, stellen Sie gegebenenfalls eine Frage!
Jetzt will ich erst einmal meine Gedanken äußern.
({5})
- Nein, wir geben zu, dass wir vor der Wahl
({6})
gesagt haben, wir müssen sparen, und nach der Wahl gelernt haben, dass wir noch mehr sparen müssen, Herr Kollege Brunnhuber. Das machen wir auch, weil wir die Aufgaben im Interesse unseres Landes lösen, nicht aber
dumme Sprüche machen wollen.
({7})
Als ersten wichtigen Satz zu dem Antrag der FDP muss
man wirklich sagen: Es geht um zwei grundsätzliche Probleme. In den Zeiten, in denen wir inzwischen in weiten
Teilen Deutschlands eine auskömmliche Versorgung mit
Wohnraum haben, kann man der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft, die jahrzehntelang direkt und indirekt
gut subventioniert worden ist, Subventionskürzungen eindeutig zumuten. Das sage ich mit großer Deutlichkeit; das
habe ich übrigens auch vor der Wahl gesagt, Herr Kollege
Minkel.
Zweitens bin ich schon der Meinung, dass die Wohnungswirtschaft, die wirklich über Jahre gutes Geld bekommen hat, in diesen Zeiten ihren Beitrag zum Subventionsabbau, das heißt zum Sparen leisten muss. Das
gilt beispielsweise für die AfA. Übrigens muss man in Bezug auf die Spekulationsfrist deutlich sagen: Die jetzt von
uns in das Steuervergünstigungsabbaugesetz aufgenommene Besteuerung für die Veräußerung von Immobilien
stellt diejenigen, die von der 10-jährigen Spekulationsfrist
betroffen sind, eigentlich sogar günstiger als bisher, aber
offenbar begreifen Sie so etwas noch nicht einmal.
({8})
Nun konkret zur Eigenheimzulage: Kollege Minkel,
hier muss ich Sie aufklären. Eine aktuelle Untersuchung,
die so genannte Färber-Studie, kommt zu einem genau
entgegengesetzten Ergebnis. Danach profitieren bislang
nicht die Schwellenhaushalte von der Eigenheimförderung, sondern fast ausschließlich die Bezieher mittlerer
und höherer Einkommen. Etwa die Hälfte aller Bezieher
von Eigenheimzulage gehört zu den 20 Prozent der reichsten Haushalte, während lediglich 3 Prozent der Bezieher
von Eigenheimzulage zu den 20 Prozent der ärmsten
Haushalte gehören. Die Förderung erreicht also überwiegend Haushalte, die aus eigener Kraft Eigentum bilden können. Mitnahmeeffekte sind eines der großen
Probleme der bisherigen Eigenheimzulage. Das sollte
man endlich ernst nehmen, insbesondere in diesen Zeiten.
({9})
Ich frage Sie konkret: Wieso wollen Sie einem wenig
verdienenden Mieterhaushalt zumuten, dass er die von
ihm erwirtschafteten Steuergelder dafür bereitstellt, dass
ein anderer, besser verdienender Haushalt Eigentum bildet? Das ist vielen Schichten unserer Bevölkerung in diesen Zeiten eindeutig nicht vermittelbar.
Zum zweiten Ziel, zur Förderung der Altersvorsorge, sage ich ganz deutlich: Ich werde mich weiterhin
nachdrücklich dafür einsetzen, dass wir eine bessere Verzahnung der von uns neu umgestalteten Form der Eigenheimzulage mit der Altersvorsorge nach der Riester-Rente
erreichen. Diese wichtige Aufgabe werden wir Grünen
weiterhin aktiv unterstützen.
({10})
Der dritte Punkt - es geht nicht nur um die Bauwirtschaft -: das Ziel Wohnversorgung. SPD und Grüne haben von hier aus Ihren beiden Fraktionen oft genug gesagt, dass Wohnungsengpässe in München, Stuttgart und
Frankfurt bestehen, also in den Ländern, die Wachstum
haben und vergleichsweise gut betucht und reich sind.
Diese Länder sollten sich für eine Lösung der Wohnversorgungsprobleme in ihren wirtschaftsstarken Städten
und Ballungsräumen engagieren und nicht ihrerseits Subventionen abbauen, sondern ihr Geld in die Hand nehmen
und da aufsatteln. In einer Gesellschaft, die für gleichwertige Lebensverhältnisse eintritt, erwarte ich, dass die
Länder, die es sich leisten können, die Subventionen leisten, die sie für notwendig halten.
({11})
Vorletzter Punkt: Städtebauförderung. Wir Grüne werden uns immer dafür einsetzen, dass diese Förderung so
gestaltet wird, dass auch die Kernstädte davon einen Vorteil haben.
Herr Präsident, lassen Sie mich bitte einen letzten Satz
zur Bauwirtschaft sagen. Wir sind sehr für die Förderung
der Bauwirtschaft, aber da, wo es inhaltlich sinnvoll ist.
({12})
Deswegen fördern wir die Bauwirtschaft mit Programmen zur CO2-Minderung und Altbausanierung. Wir haben
bereits ein Altbausanierungsprogramm mit jährlich
200 Millionen Euro auf den Weg gebracht. Wir satteln im
aktuellen Haushaltsverfahren und mit der Verabschiedung
des letzten Ökosteuergesetzes noch einmal 150 Millionen
Euro im Jahr auf. Da sollten Sie einmal sehen, was Sie bisher geleistet haben.
Insofern fördern wir die Bauwirtschaft, wo es nötig
und sinnvoll ist. Wir fördern nicht einfach den Bau von
Eigenheimen, die aufgrund der demographischen Entwicklung im Osten und auch in Teilen des Westens eventuell schon in 20 Jahren nicht mehr verwertbar sein
könnten. Von daher betreiben wir Wirtschaftsförderung
mit Sinn.
({13})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Georg Fahrenschon,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hilsberg! Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig! Die Wahrheit ist: Sie haben ein falsches Instrument gewählt. Wir
haben in Deutschland tatsächlich ein Finanzierungsproblem. Der Staatshaushalt ist in einer Schieflage. Aber das
Instrument, das Sie gewählt haben, nämlich die Kürzung
der Eigenheimzulage, ist schlicht und einfach das falsche
Instrument zur Lösung unserer Finanzprobleme.
({0})
Das zeigen auch die Überschriften der Kommentare: arbeitsmarktpolitisch verheerend, familienpolitisch schlichtweg falsch und finanzpolitisch nicht einmal zu Ende gedacht.
Erstens. Jede neue Wohnung schafft ein Jahr lang
zwei neue Arbeitsplätze im regionalen Baugewerbe und
zwei weitere in den vor- und nachgelagerten Bereichen.
Zweitens. 10 000 neue Wohnungen führen über Steuern und Sozialabgaben zu Einnahmen von 1 Milliarde Euro
im Eigenheimbau bzw. von rund 600 Millionen Euro im
Mehrfamilienhausbau. Denn dort gilt, was für die Volkswirte das Wichtigste ist, der Multiplikatoreffekt. Auf
10 Euro, die vom Staat in die Hand genommen werden,
legen die privaten Haushalte 100 Euro drauf. Diesen Effekt und nicht die Kürzung der Eigenheimzulage brauchen wir.
({1})
Drittens. Hausbau ist Vertrauenssache. Bauherren und
Investoren müssen auf weitgehend stabile Rahmenbedingungen bauen können. Was Sie tun, ist das genaue
Gegenteil davon und deshalb verheerend. Der Generalsekretär der SPD, Scholz, erklärt den Kompromiss, der im
November gefunden wurde, sofort für sankrosankt.
Bundesbauminister Stolpe spricht dagegen von einem
Schnellschuss. Der Ministerpräsident auf Abruf, Gabriel,
verweigert seine Zustimmung im Bundesrat und wendet
sich, weil er ein mutiger Ministerpräsident ist, mit einer
Prüfbitte an die Bundesregierung: Man möge prüfen, ob
man den Kompromiss nicht noch ändern könnte. Der
Bundesfinanzminister verschließt die Augen vor den finanz- und wirtschaftspolitischen Zusammenhängen und
geht stattdessen einfach auf Tauchstation. Heute betritt
der grüne Koalitionspartner in Person der Vorsitzenden
des Finanzausschusses die Bühne und lässt uns über die
Presse mitteilen, dass die Kürzung der Eigenheimzulage
im Detail noch vollkommen offen ist. Meine Damen und
Herren, worüber debattieren wir denn heute?
({2})
Spannend wird, was Sie heute Abend in Ihrer Koalitionsrunde zu diesem Thema sagen. Ich will Ihnen mit auf den
Weg geben: Ich habe mir die Mühe gemacht, die Stellungnahmen von Verdi und DGB zum Thema Eigenheimzulage zu lesen. In Ihren Reihen ist das wohl unter den Tisch
gefallen.
Wir könnten uns über die vollkommen verquere Situation in der Regierung eigentlich freuen; angesichts der
wirtschaftspolitischen Gesamtlage und der speziellen Situation im Bau- und Wohnungsbereich ist das aber nicht
der Fall. Familien und Investoren bauen im besten Sinne
des Wortes auf stabile Rahmenbedingungen. Sie brauchen
für ihre Investitionsentscheidungen transparente und verlässliche Grundlagen. Ihr Hin und Her bezüglich der künftigen Konditionen ist verheerend für das Investitionsklima und Gift für die dringend notwendige Belebung der
Konjunktur und des Arbeitsmarktes. Für den einstigen
Beschäftigungsmotor Bauwirtschaft müssen die Rahmenbedingungen endlich verbessert werden: sie dürfen nicht
erneut verschlechtert werden.
({3})
Meine Damen und Herren, das Rheinisch-Westfälische
Institut für Wirtschaftsforschung hat in seiner gestrigen
Stellungnahme in der Anhörung des Finanzausschusses
folgende Daten in die Debatte eingebracht. Stichwort Eigenheimbau: Bei Ihrer Kürzung kommt es zu einem
Nachfrageausfall von 7,5 Milliarden Euro, verbunden
mit einem Beschäftigungsabbau von 90 000 Arbeitsplätzen, davon 45 000 allein im Baugewerbe. Stichwort
Mehrfamilienhausbau: Hier kommt es zu einem Nachfrageausfall von weiteren 4 Milliarden Euro, verbunden mit
einem Beschäftigungsabbau von weiteren 50 000 Arbeitsplätzen, davon wiederum 25 000 im Baugewerbe. Den geplanten Einsparungen von 5,8 Milliarden Euro innerhalb
der kommenden acht Jahre steht nach Schätzungen des
Bundesverbandes Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen ein Rückgang des Investitionsvolumens um
fast 29 Milliarden Euro gegenüber. Für den Fiskus - das
ist der Teufelskreis - bedeutet das weniger Steuereinnahmen, steigende Sozialabgaben in Höhe von mehr als
10 Milliarden Euro und, nicht zu vergessen, Mehrbelastungen bei der Arbeitslosenunterstützung.
Die Kürzung der Eigenheimzulage, wie Sie sie vorschlagen, ist ein Schuss in den Ofen - viel schlimmer: Sie
ist ein Schuss ins eigene Knie. Die Kürzung ist aber nicht
nur arbeitsmarkt- und finanzpolitisch fatal, sie ist auch familienpolitisch vollkommen falsch. Durch die Absenkung
der Einkommensgrenzen und den Ausschluss kinderloser
Haushalte in der Kerngruppe der 30- bis 39-jährigen halbiert sich der Anteil der grundsätzlich Anspruchsberechtigten von bisher 7,4 Millionen Haushalten auf 4,3 Millionen Haushalte. Meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition, das ist keine Reform. Das ist ein familienpolitischer Kahlschlag.
Gleichzeitig wird den so genannten Schwellenhaushalten, die mit ihrem Geld gerade so über die Runden
kommen, der Einzug in die eigenen vier Wände erheblich
erschwert; denn die Eigenheimzulage ist ein entscheiden1516
der Baustein des Eigenkapitals und wird direkt in den Finanzierungsplan der eigenen Wohnung oder des eigenen
Hauses eingestellt. Bei einem nur 25-prozentigen Eigenkapitalanteil eines durchschnittlichen Familienhauses im
Wert von 150 000 Euro fehlt dem kinderlosen Haushalt
gegenüber dem bisherigen Recht in Zukunft mehr als die
Hälfte und, wenn es nach Rot-Grün geht, einer Familie
mit Kindern ein Drittel dieser Finanzierung. Es ist nicht
zu vergessen, dass sich bei einem geringen Eigenkapital
die Kreditkosten automatisch erhöhen.
Bau- und Kaufwillige in Deutschland werden durch
Ihren Vorschlag also doppelt belastet. Neben jedem
Schlafzimmer der kinderlosen Familien tickt in Zukunft
die Stoppuhr; denn nach vier Jahren muss sich der Nachwuchs einstellen, sonst bricht die gesamte Finanzierung
zusammen und der Anspruch ist hinüber bzw. verringert
sich. Es ist geschmacklos, so Familienpolitik zu machen.
({4})
Dem Bundesfinanzminister und auch Ihnen muss
schon noch einmal mit auf den Weg gegeben werden, dass
Sie einen zentralen sachlichen Denkfehler gemacht haben. Die sachliche Begründung zur Kürzung lautet aus der
Sicht des BMF - ich zitiere aus dem offiziellen Pressedokument vom 17. November -:
Wir können es uns nicht mehr leisten, flächendeckend, auch in Gebieten, in denen ein Wohnungsleerstand herrscht, den Neubau massiv zu fördern.
Das ist deshalb falsch, weil Bundesfinanzminister Eichel
einfach ignoriert, dass 70 Prozent der Bundesbürger keine
Mietwohnung suchen, sondern ihre eigene Immobilie finden wollen.
({5})
Der Zusammenhang, den Sie hier herstellen, geht an der
Realität vorbei. Herr Eichel, wachen Sie auf: Leere Mietwohnungen haben nichts mit Eigenheimen zu tun!
Ich darf zusammenfassen und beziehe mich dabei ausdrücklich auf die dem Parlament vorliegenden Stellungnahmen des DGB und des Verdi-Bundesvorstandes: Die
Kürzung der Eigenheimzulage zerschlägt die Zukunftspläne vieler Arbeitnehmerhaushalte. Die Kürzung hat negative Rückwirkungen auf die sowieso schon stark geschwächte Bauwirtschaft. Die Arbeitsplatzvernichtung in
Deutschland wird sich weiter verstärken, weil als Folge
der Zulagenkürzung weitere 50 000 Wohnungen nicht gebaut werden. Ausgerechnet in einer Phase, in der die Eigenversorgung aufgrund der demographischen Entwicklung immer mehr an Bedeutung gewinnt, schwächt
Rot-Grün das selbst genutzte Wohnungseigentum. Wir
dürfen erwarten, dass im Abschlussbericht der RürupKommission stehen wird, wir sollten das alte Gesetz wieder herstellen; denn Rot-Grün hat mit der Kürzung der Eigenheimzulage auch in diesem Bereich versagt.
Last, but not least: Gerechnet für 25 000 Wohnungen
übersteigen die Ausfälle an Steuer- und Abgabeneinnahmen sowie die Mehrbelastungen der öffentlichen
Haushalte durch die erhöhten Aufwendungen bei Arbeitslosigkeit nach Zahlen des DGB die Einsparungen an Zulagen erheblich: Über acht Jahre hinweg stehen 2,5 Milliarden Euro an höheren Ausgaben 0,6 Milliarden Euro an
Einsparungen gegenüber.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Koalition, mit der Kürzung der Eigenheimzulage sind Sie arbeitsmarktpolitisch, wirtschaftspolitisch und familienpolitisch auf dem Holzweg. Stoppen Sie Ihre Geisterfahrt
so schnell wie möglich, am besten noch heute in Ihrem
Koalitionsausschuss!
Herzlichen Dank.
({6})
Letzte Rednerin in der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Gabriele Groneberg,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erst habe
ich bei Ihren Reden, Herr Otto und Herr Minkel, noch gelacht. Es war sehr amüsant. Aber langsam ist mir das Lachen vergangen. Wenn ich in meinem Leben so viel gejammert und so viel mies gemacht hätte, dann hätte ich
meine Chancen nicht wahren können. Ich wäre als Alleinerziehende mit zwei Kindern rettungslos untergegangen.
({0})
Und gnade Gott, ich bin froh, dass die Wähler uns das Votum gegeben haben und nicht Ihnen. Mit Ihrer Miesmacherei sind Sie es, die diesen Staat in den Ruin treiben,
und nicht wir mit unserer vernünftigen Politik.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion, ich muss feststellen, dass Sie sich bei Ihrem Antrag
nicht viel Mühe gemacht haben. Den Antrag kann man in
zwei Punkte zusammenfassen. Erstens: Es bleibt alles so,
wie es ist. Zweitens: Es bleibt sowieso alles so, wie es
war. Für einen vernünftigen Antrag und für eine vernünftige Politik hätte ich mir bessere Vorschläge gewünscht,
über die wir diskutieren, über die wir reden können. Das
wäre für uns alle der vernünftigste Weg gewesen. Aber
warum sollten Sie bessere Vorschläge machen? Sie sind
schließlich nicht in der Regierungsverantwortung. Ich
hätte es trotzdem gut gefunden.
Sie hätten den allgemein herrschenden Rahmenbedingungen, an denen auch Sie nicht vorbeikommen, etwas
mehr Aufmerksamkeit schenken können. Sie lassen nämlich
außer Acht, dass sich der Wohnungsmarkt verändert hat und
dass wir mit einer immer älter werdenden Gesellschaft zu
rechnen haben. Damit haben wir es natürlich auch mit sich
verändernden Bedingungen auf dem Wohnungsmarkt zu
tun. Wir werden keine steigenden Bevölkerungszahlen
mehr haben. Deshalb müssen wir auch im Wohnungsbau
der demographischen Entwicklung Rechnung tragen.
Mit Ihren Feststellungen im ersten Absatz sind Sie zu
kurz gesprungen, obwohl ich mit der Kollegin EichstädtBohlig durchaus darin einig bin, dass man über die Einbeziehung von Eigentum in die Riester-Rente reden
sollte. Das ist aber eine andere Geschichte.
Wenn wir über die Situation auf dem Wohnungsmarkt
sprechen, müssen wir uns folgende Tatsachen vergegenwärtigen. Wir haben im statistischen Durchschnitt in
Deutschland eine Versorgung mit Wohnraum, die so gut
ist wie noch nie zuvor. Das Problem dabei ist, dass sie
nicht überall gleich gut ist. In einigen Ballungsräumen haben wir ein knappes Angebot; das ist richtig. In anderen
Gebieten, übrigens nicht nur in den größeren Städten, gibt
es gewaltige Leerstände. Dies trifft vor allen Dingen auf
den Osten zu; ich kenne aber auch Beispiele aus Westdeutschland. Da wir nicht überall die gleichen Bedingungen haben, eignet sich die Eigenheimzulage nicht zum
Ausgleich der regionalen Unterschiede, die wir auf dem
Wohnungsmarkt haben. Im Übrigen muss ich generell
feststellen: Die Eigenheimzulage ist nicht die einzige
Maßnahme zur Förderung des Wohnungsbaus. Hinzu
kommen noch andere Förderinstrumente.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die nun geplante Reform der Eigenheimzulage ist von uns nicht freiwillig in
Angriff genommen worden. Sie ist letztendlich unter den
finanzpolitischen Bedingungen, denen wir unterliegen,
geboten. Es ist Ihnen durchaus bekannt - Sie können es
nicht leugnen -, dass die Gestaltung der Eigenheimzulage
schon seit einiger Zeit reformbedürftig ist. Herr Hilsberg
hat dazu ausführlich ausgeführt.
Generell ist es gar nicht mehr witzig, dass Sie den Subventionsabbau hier auch heute noch gefordert haben. Dieser soll grundsätzlich nur bei anderen und sowieso nur
dort, wo es Ihnen gerade passt, vorgenommen werden.
({2})
Wir tun etwas anderes: Wir werden eine der größten Subventionen im Bundeshaushalt verändern.
({3})
Dadurch wird sie gleichzeitig eine andere wohnungspolitische Komponente erhalten. Das ist in Ihren Reden überhaupt nicht zum Tragen gekommen. Sie haben nicht
erwähnt, wie sich die Eigenheimzulage auf die Wohnungsbau- und Städtepolitik auswirken wird. Sie haben
nur auf einen bestimmten Fokus geschaut
({4})
und alles andere vollkommen außer Acht gelassen.
Ich gebe zu, dass wir die ersten Überlegungen, die nach
Abschluss des Koalitionsvertrages im Raum gestanden
haben, auch nicht „pralle“ fanden.
({5})
In unseren Beratungen sind wir zu einem Kompromiss
gekommen, den wir durchaus tragen können. Letztendlich haben wir damit den zuerst geplanten massiven Rückbau der Förderung verhindert. Die Konzentration der Förderung auf die Familien mit Kindern halte ich gerade auch
in unserer haushaltspolitischen Situation für äußerst sinnvoll.
({6})
Eine Familie und Alleinerziehende mit zwei Kindern erhalten bei einem Bestandserwerb nahezu die gleiche Förderung wie zuvor. Ich denke, eine Einbuße von rund
17 Euro im Monat ist angesichts der schwierigen Lage der
öffentlichen Haushalte durchaus zu verkraften.
Herr Fahrenschon, die Kollegin von den Grünen hat
zum Stichwort „Schwellenhaushalte“ schon einiges ausgeführt. Sie argumentieren damit, dass diese Haushalte
geradeso über die Runden kommen. Ganz ehrlich, ich
frage mich, was sie nach Ablauf des Förderzeitraums von
acht Jahren machen. Dann greift ihnen die Eigenheimzulage nämlich nicht mehr unter die Arme. Dann muss die
Belastung voll selbst getragen werden.
({7})
Ich kann Ihnen sagen, was dann passiert. Das weiß ich
nämlich aufgrund meiner Erfahrungen im Landtag und
aufgrund der Petitionen, die wir erhalten haben. Dann stehen diese Familien vor dem Problem, dass sie das Haus
nicht mehr halten können. Bei den Schwellenhaushalten
gibt es wirklich ein Problem. Das lösen Sie mit Ihrer Politik überhaupt nicht.
({8})
Ich habe nach der PISA-Studie immer gedacht, dass
eher die jüngere Generation zu leiden hat. Herr Minkel,
dass Sie bei den Berechnungen auf 48 Kinder kommen,
kann ich ehrlich gesagt einfach nicht verstehen.
({9})
Ich weiß nicht, wie Sie auf diese Zahl gekommen sind.
Vielleicht können Sie mir Nachhilfeunterricht geben.
Diese Rechnung kann ich absolut nicht nachvollziehen.
Mit der Gleichbehandlung von Alt- und Neubauförderung wollen wir den Anreiz erhöhen, in den Bestand zu
investieren. Damit erreichen wir, dass der Erwerb in den
Städten, in den Stadtvierteln, interessanter wird. Damit
komme ich zu den wohnungsbaupolitischen Komponenten. Wenn es Ihnen auch schwer fällt: Seien Sie doch einmal ehrlich.
({10})
Wir können doch nicht gleichzeitig den zunehmenden
Leerstand in vielen Regionen unseres Landes beklagen
und gleichzeitig die Stadtflucht ins Umland auch noch mit
einer besseren Förderung unterstützen. Das geht nicht,
das kann man doch nicht machen.
({11})
Vor sechs, sieben Jahren gab es andere Bedingungen; es
gab einen Bauboom. Wir müssen uns den veränderten Erfordernissen anpassen.
({12})
Wollen Sie daran, dass wir mit der Senkung der Einkommensgrenzen gleichzeitig Mitnahmeeffekte verhindern wollen, ernsthaft Kritik üben? Das kann doch wohl
nicht wahr sein.
({13})
Schließlich kann und muss die Gesamtheit der Steuerzahler doch nicht die Menschen subventionieren, die es ganz
gut aus eigener Kraft, also ohne staatliche Förderung,
schaffen können, ein Haus zu bauen oder zu kaufen.
An dieser Stelle will ich überhaupt nicht ausschließen,
dass man sich noch weitere Maßnahmen vorstellen kann,
um den Bestand intensiver zu fördern und damit das zu erreichen, was wir wirklich wollen, nämlich den Leerstand
in den Städten zu verhindern. Im Übrigen kann der Familiengrundbetrag bei einem Neubau oder bei einer energetischen Sanierung des Altbaus durch eine Ökozulage um
bis zum 300 Euro aufgestockt werden. Davon habe ich
von Ihnen vorhin auch nichts gehört.
({14})
Ich denke, das ist eine gute umweltpolitische und städte-
bauliche Komponente. Dazu haben wir von Ihnen wirk-
lich nichts gehört.
Wir wollen, dass es für die Familien in unserem Land
einfach ist, Eigentum zu bilden. In dieser Haushaltssitua-
tion werden wir aber nicht diejenigen unterstützen, die das
auch alleine schaffen können. Es ist klar, dass man an der
Rückführung der Förderung für Neubauten Kritik äußern
kann. Das ist keine Frage. Unter den eben geschilderten
finanzpolitischen Bedingungen müssen wir aber darüber
reden. Wir haben unsere Konsequenzen gezogen.
Dennoch hat auch die Verringerung der Förderung ei-
nen städtebaulich nicht zu vernachlässigenden Aspekt,
weil wir hoffen, damit die Tendenz, dass die Menschen
von den Städten aufs Land ziehen und dort ihr Eigenheim
bauen, zu stoppen. Selbstverständlich ist es interessant,
aufs Land zu ziehen, wenn die Neubauförderung a) bes-
ser ist, b) das Bauen auf dem Land billiger ist und c) dies
die Kommunen gerne sehen.
Diese Entwicklung führt aber dazu, dass in einigen Teilen unseres Landes die Innenstädte buchstäblich entvölkert werden. Deshalb muss man darüber nachdenken, ob
man die weitere Zersiedlung der Landschaft wirklich will.
Die Kommunen im ländlichen Raum setzen mit ihrem
Angebot natürlich darauf, die Menschen aus den Städten
aufs Land zu holen. Ich weiß, wie wünschenswert es ist,
die Entwicklung vor Ort mit mehr Bürgern gestalten zu
können. Dennoch führt es dazu, dass das Problem des
Leerstandes in den Städten verschärft wird.
Warum wird dadurch der Leerstand verschärft? Das
ist ganz einfach. Ich habe zu Anfang über die demographische Entwicklung geredet. In diesem Land wird die
Bevölkerung nicht wachsen. Daher werden wir darauf
achten müssen, dass wir Wohnraum dort schaffen, wo die
Menschen sind. Wir können nicht nur auf dem Land Neubauten anbieten, sondern wir müssen auch den Bestand in
den Städten - dies gilt auch für kleine Städte, nicht nur für
Großstädte - fördern.
({15})
Ich frage Sie allen Ernstes: Was soll es für eine Politik sein, die zusieht, wie am Rand der Städte und Gemeinden immer mehr gebaut wird und in den Innenstädten die Leerstandsquote steigt? Gehen Sie doch einmal
durch die Quartiere. Oder waren Sie noch nie vor Ort gewesen?
({16})
Schauen Sie sich die leeren Fenster an. Hören Sie sich die
Probleme der Wohnungsgesellschaften mit ihren hohen
Leerstandsquoten an. Was passiert denn ansonsten noch in
diesen Gebieten? Die Leute ziehen weg, die Läden folgen,
womit auch die Infrastruktur zerstört wird. Auch die Mieten sinken, was manchmal ganz angenehm ist. Aber was
passiert dann? Die Bausubstanz verkommt, weshalb wiederum immer mehr Leute wegziehen.
({17})
Neben der dann entstehenden Unattraktivität der Wohnstädte nehmen die sozialen Probleme zu. Das können Sie
doch nicht ernsthaft wollen.
Frau Kollegin Groneberg, bitte berücksichtigen Sie
Ihre Redezeit.
Ja, ich komme zum Ende. - Unsere Politik ist das jedenfalls nicht. Wir setzen Neubau und Bestandsförderung
auf dieselbe Stufe.
Ein ganz kurzes Wort zur Bauwirtschaft. Es ist uns
selbstverständlich nicht egal, was mit der Bauwirtschaft
passiert. Wir wollen, dass die deutsche Bauwirtschaft
weiterhin Marktführer in Europa bleibt. Wir werden der
Bauwirtschaft mit unseren Instrumenten helfen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf unsere Offensive für
den Mittelstand.
({0})
Meine Damen und Herren von der FDP, nach meinen
Ausführungen können Sie wirklich nicht erwarten, dass
wir Ihrem Antrag zustimmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Frau Kollegin Groneberg, ich darf Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag herzlich gratulieren,
verbunden mit allen guten Wünschen für die parlamentarische Arbeit.
({0})
Mit der eigenmächtigen Verlängerung Ihrer angemeldeten
Redezeit haben Sie sich gegenüber dem Präsidium erfolgreich durchgesetzt.
({1})
Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/33 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich stelle dazu Einverständnis fest. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung des internationalen Insolvenzrechts
- Drucksache 15/16 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3})
- Drucksache 15/323 Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Tanja Gönner
Jerzy Montag
Dazu haben die Kollegen Dirk Manzewski, SPD, Tanja
Gönner, CDU/CSU, Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen, Rainer Funke, FDP, sowie der Parlamentarische
Staatssekretär Alfred Hartenbach Reden vorbereitet, die
sie jeweils zu Protokoll geben wollen.1 - Ich stelle fest,
dass darüber Einverständnis besteht. Ich eröffne damit die
Aussprache und schließe sie gleich wieder.
Damit kommen wir zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuregelung des internationalen Insolvenzrechts auf Drucksache 15/16. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/323, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Da ich
nicht vermute, dass sich der größere Teil der Mitglieder
des Bundestages enthalten will, weise ich noch einmal auf
den Beschlussgegenstand hin.
Wir stimmen jetzt über die Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses ab, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer will diesem Vorschlag
folgen und dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen? - Das ist eine spektakuläre Erhöhung der Zustimmungsrate. Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. ({4})
Stimmt jemand dagegen? ({5})
- Sie merken, Herr Hartenbach, wie klug es war, dass ich
Sie nicht zum Aufstehen aufgefordert habe, weil sonst das
Missverständnis entstanden wäre, dass Ihre Nachbarin gegen den Gesetzentwurf stimmt, was sie sofort dementieren würde. - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Ich rufe nun Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Anrufung des Vermittlungsausschusses zu dem
Zwölften Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ({6})
- Drucksachen 15/27, 15/74, 15/76, 15/120,
15/298 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Kollegin Dr. Marlies Volkmer, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesrat hat dem zustimmungspflichtigen
Zwölften SGB-V-Änderungsgesetz seine Zustimmung
verweigert. Dieses Gesetz ist Teil des Maßnahmekatalogs
zur Stabilisierung der Ausgaben im Gesundheitswesen.
Diese Zustimmungsverweigerung ist vollkommen unlogisch, da zu diesem Zeitpunkt schon klar war, dass die
nicht zustimmungspflichtigen Teile des Maßnahmekatalogs zu Beginn des Jahres 2003 in Kraft treten würden.
Ohne den zustimmungspflichtigen Teil des Kostenstoppgesetzes ergeben sich jetzt aber Chancenungleichheiten im Bereich der Krankenhäuser. Außerdem müssten
wir auf ein Einsparpotenzial von etwa 700 Millionen Euro
verzichten. Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen bringen deshalb heute einen Antrag zur nochmaligen Anrufung des Vermittlungsausschusses ein.
Worum geht es im Einzelnen? Ein wesentlicher Schritt
zur notwendigen stärkeren Leistungsorientierung in den
Krankenhäusern ist die Einführung eines neuen Vergütungssystems, des DRG-Systems, des Systems der Ver1520
1 Anlage 2
gütung nach Fallpauschalen. Das ist ein bedeutender
Schritt in Richtung Wirtschaftlichkeit und Transparenz.
({0})
Es ist der endgültige Abschied von einer Bezahlung nach
der bloßen Belegung eines Krankenhausbettes hin zur Bezahlung der erbrachten Leistung.
Die Einführung des DRG-Systems erfolgt seit dem
1. Januar dieses Jahres auf freiwilliger Basis. Ab 2004 ist
die Anwendung des neuen Vergütungssystems verpflichtend. Bis zum 31. Oktober vergangenen Jahres sollten
sich die Krankenhäuser entscheiden, ob sie schon in diesem Jahr nach dem neuen Vergütungssystem abrechnen
wollen. Immerhin hatten zu diesem Zeitpunkt 530 der
insgesamt 2 200 deutschen Krankenhäuser dafür votiert.
Diese Krankenhäuser, die sich zu dem leistungsgerechteren Vergütungssystem und einer größeren Transparenz
bekennen, haben wir ausdrücklich von der so genannten
Nullrunde ausgenommen.
Für alle Krankenhäuser, die ab 2003 nach dem DRGSystem abrechnen, wird es eine volle Grundlohnanpassung ihrer verfügbaren Mittel geben. In den neuen Bundesländern bedeutet das eine Steigerung um 2,09 Prozent,
in den alten Bundesländern von 0,81 Prozent.
Die Meldefrist für die freiwillige Teilnahme am neuen
Vergütungssystem wurde im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens bis zum 31. Dezember 2002 verlängert. Um
genau diese Option geht es im vorliegenden Gesetz. Inzwischen hat sich eine größere Zahl von Krankenhäusern
nachgemeldet, die ebenfalls freiwillig umsteigen wollen.
({1})
Allein in Sachsen sind es 34 Krankenhäuser. Damit nehmen 55 von 89 Krankenhäusern am neuen Vergütungssystem teil.
({2})
- Ich bin sehr gespannt, was Sie nachher zu sagen haben,
und werde mich anschließend vielleicht noch einmal dazu
äußern. Ich bin davon überzeugt, Herr Faust, dass diese
Häuser auch über die notwendigen Voraussetzungen verfügen, nach DRGs abzurechnen.
({3})
Ich kann wirklich nicht nachvollziehen, warum sich der
Bundesrat einer Verlängerung der Frist für die Meldung
zur Teilnahme am Optionsmodell in den Weg gestellt hat.
Noch Anfang letzten Jahres waren sich alle einig, dass wir
von starren, grundlohngedeckelten Budgets abkommen
und zu einer leistungsgerechten Vergütung gelangen müssen. Ich gehe davon aus, dass sich an der Haltung der
Union im letzten Dreivierteljahr nichts geändert hat.
Wir wollen den Verantwortlichen und Beschäftigten in
den Krankenhäusern, die umsteigen wollen, Sicherheit
geben und wir wollen Chancengleichheit herstellen. Deswegen muss die Fristverlängerung für das Optionsmodell
bis zum 31. Dezember anerkannt werden. Auch deshalb
rufen wir den Vermittlungsausschuss an. Blockieren Sie
diese wichtige Maßnahme im Krankenhausbereich jetzt
nicht!
Eines der drängendsten Probleme in der gesetzlichen
Krankenversicherung ist die verstärkte Verordnung von
teuren Analogpräparaten mit nur geringem Zusatznutzen. Besonders diese Scheininnovationen haben zur überproportionalen Ausgabensteigerung im Arzneimittelsektor geführt. Die Arzneimittelausgaben in der gesetzlichen
Krankenversicherung stiegen in den letzten zwei Jahren
um rund 15 Prozent je Mitglied. Dieser erhebliche Ausgabenzuwachs ist allein medizinisch nicht zu begründen.
Der Anstieg der Verordnung teurer, patentgeschützter
Analogpräparate spielte dabei eine große Rolle.
Zu Beginn des letzten Jahres haben die Krankenkassen
und Ärzte vereinbart, die Arzneimittelausgaben im Jahr
2002 um 4,9 Prozent zu senken. Tatsache ist: Nach den
ersten drei Quartalen hatten wir stattdessen ein Plus von
4,9 Prozent zu verzeichnen. Das sind fast 10 Prozent Unterschied.
({4})
Deshalb ist es völlig gerechtfertigt, wenn wir als Gesetzgeber hier eingreifen.
({5})
Niemand bezweifelt, dass Innovationen Mehrkosten
verursachen. Aber nicht alles, was teuer ist, ist auch
tatsächlich besser als die hergebrachten Produkte. Nicht
alle Präparate, die mit großem Werbeaufwand auf den
Markt gebracht werden, sind wirksamer als kostengünstigere Alternativen. Häufig ist sogar das Gegenteil der Fall.
Damit das Geld für echte Innovationen auch in Zukunft
vorhanden ist, beziehen wir Analogpräparate, die gegenüber vorhandenen Medikamenten nur einen geringen Zusatznutzen haben, in die Festbetragsregelung ein. Festbeträge für Arzneimittel sind ein wirkungsvolles Instrument
zur Begrenzung der Ausgaben. Durch die Einbeziehung
von nach dem 31. Dezember 1995 zugelassenen patentgeschützten Arzneimitteln in die Festbetragsregelung können
schätzungsweise 400 Millionen Euro eingespart werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat vor Weihnachten
festgestellt, dass die Selbstverwaltung legitimiert ist, eine
wirtschaftliche Verordnung über Festbeträge durchzusetzen. Das war ein großer Erfolg für die rot-grüne Regierung. Diese Möglichkeit einer Festsetzung der Festbeträge
muss im Interesse der Versicherten, der Beitragszahler, genutzt werden.
({6})
Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, deren
Wirkungsweise neuartig ist und die zum Beispiel wegen
geringerer Nebenwirkungen eine therapeutische Verbesserung mit sich bringen, bleiben weiterhin von der Festbetragsregelung ausgenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur defizitären Entwicklung innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung hat auch der überproportionale Anstieg der Verwaltungsausgaben der Krankenkassen beigetragen. In den
letzten fünf Jahren lag der Zuwachs durchschnittlich bei
gut 3 Prozent. 2001 waren es rund 5 Prozent, im ersten
Halbjahr 2002 rund 4 Prozent. Zwar war die Ausgabenentwicklung der letzten Jahre auch durch verschiedene
Sonderfaktoren, wie zum Beispiel Investitionen in verbesserte EDV-Ausstattungen und Einführung von Controllingsystemen, geprägt. Aber Rationalisierungsanstrengungen in anderen Verwaltungsbereichen waren
unzureichend. Deshalb werden auch die Krankenkassen
zu einem besonderen Solidarbeitrag herangezogen. Die
Verwaltungsausgaben werden 2003 auf die Höhe des Jahres 2002 begrenzt. Damit ergibt sich für die gesetzliche
Krankenversicherung im Jahr 2003 eine geschätzte finanzielle Entlastung von circa 200 Millionen bis 300 Millionen Euro. Mitgliederzuwächse können aber unabhängig
davon berücksichtigt werden und für Disease-Management-Programme wird es Ausnahmen geben.
Ich appelliere an Sie, der Anrufung des Vermittlungsausschusses zuzustimmen. Es ist in unser aller Interesse,
die Verwaltungskosten der Krankenkassen und die Arzneimittelpreise zu begrenzen. Wir wollen den Beschäftigten der Krankenhäuser, die sich zwischen dem 31. Oktober
und dem 31. Dezember 2002 für das neue leistungsorientierte Vergütungssystem entschieden haben, Sicherheit
und Chancengleichheit geben. Deswegen wollen wir die
Umstiegsoption bis zum 31. Dezember 2002 verlängern.
Wer heute mit Tränen im Auge die so genannte Nullrunde
in den Krankenhäusern beklagt, kann sich dieser Argumentation nicht verschließen; denn die Krankenhäuser,
die nach DRGs abrechnen, sind von der Nullrunde ausgenommen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP, laufend äußern Sie Ihre Sorge um die Sozialkassen.
Konsequenterweise müssen Sie deshalb der Anrufung des
Vermittlungsausschusses zustimmen. Das sind Sie den
Menschen im Land schuldig!
({8})
Ich möchte auch Ihnen, Frau Kollegin Dr. Volkmer, zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag herzlich gratulieren und alles Gute für Ihre weitere Arbeit wünschen.
({0})
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Michael Hennrich, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als neu gewählter Abgeordneter, der heute seine erste
Rede im Deutschen Bundestag hält, gehe ich mit viel Idealismus und viel gutem Willen an meine Tätigkeit heran.
Ich will etwas für die Menschen bewegen, die mich gewählt haben, und an Gesetzen mitarbeiten, die von Dauer
sind und die unser Land in eine sichere Zukunft führen.
Vielleicht kann ich meinen beiden Kindern in ein paar
Jahren erzählen, an welchen wichtigen Gesetzen ich mitgearbeitet habe. Noch habe ich diese Hoffnung.
Vom Zwölften Gesetz zur Änderung des SGB V werde
ich meinen beiden Kindern sicherlich nichts erzählen.
Oder beeindruckt es Sie, wenn von großen Reformen im
Gesundheitswesen gesprochen wird, wir dann aber Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen in die Festbetragsregelung einbeziehen, festlegen, dass sich die Verwaltungsausgaben der einzelnen Krankenkassen im Jahr
2003 im Vergleich zum Jahr 2002 nicht erhöhen dürfen
und eine Nullrunde für Krankenhäuser verordnen, von der
es Ausnahmen gibt, die aber nicht für alle gelten sollen?
Seit über vier Jahren ist Rot-Grün an der Regierung. Sie
haben genügend Zeit gehabt, die Weichen für eine moderne, zukunftsorientierte Gesundheitspolitik zu stellen.
({0})
Stattdessen präsentieren Sie uns ein Gesetzeswerk, von
dem Sie wissen, dass es die finanziellen Probleme im Gesundheitswesen nur noch weiter verschärft und in punkto
Qualität der medizinischen Versorgung zu einem Risikofaktor wird.
({1})
Das Gesetz, mit dem Sie die Beiträge in der gesetzlichen Krankenkasse stabilisieren wollen, hat das Gegenteil
bewirkt. Die Kassen mussten in den letzten Wochen die
Beiträge teilweise massiv erhöhen und kündigen trotz
Beitragserhöhungsstopp weitere Beitragserhöhungen
an. Waren vor einigen Wochen Beitragssätze von 15 Prozent bei den gesetzlichen Krankenkassen so etwas wie ein
schwer vorstellbares Schreckensszenario, so sind sie mittlerweile bittere Realität geworden.
({2})
Ich kann Ihnen versichern: Andere Krankenkassen werden in den nächsten Wochen folgen. Stabilisiert werden
damit allenfalls Verunsicherung und Unmut all derjenigen, die im Gesundheitswesen tätig sind.
Nehmen wir doch zum Beispiel die Änderungen des
Krankenhausfinanzierungsgesetzes! Zunächst war eine
Nullrunde vorgesehen, die angeblich Einsparungen in
Höhe von 340 Millionen Euro erbringen sollte. Nach Verhandlungen, unter anderem mit dem Marburger Bund und
Verdi, hat das Bundesgesundheitsministerium entschieden, dass die Frist zur Anmeldung zum DRG-Optionsmodell bis zum 31. Dezember 2002 verlängert wird. Damit
sollen die Krankenhäuser, die an dem DRG-Modell teilnehmen, nicht von der Nullrunde betroffen sein.
Allein mit einer Entscheidung haben Sie drei zusätzliche Probleme geschaffen: Zum Ersten erreichen Sie nicht
die gewünschten Einsparungen. Ich verweise insoweit auf
die Ausführungen der Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für
Gesundheit und Soziale Sicherung. Zum Zweiten treiben
Sie viele Krankenhäuser wegen finanzieller Not in ein
System, auf welches sie sich nicht ausreichend vorbereiten konnten. Das stört interne Betriebsabläufe und führt
zu Verschlechterungen in der Patientenversorgung.
({3})
Zum Dritten bleiben psychiatrische Krankenhäuser und
Einrichtungen der neurologischen Frührehabilitation auf
der Strecke. Sie haben keine Möglichkeit, der Nullrunde
zu entgehen.
Wie sollen Krankenhäuser, die nicht am DRG-Optionsmodell teilnehmen, die Mehrkosten, die zum Beispiel
durch den Tarifabschluss im öffentlichen Dienst anfallen,
auffangen? In der Konsequenz werden die Krankenhäuser
gar nicht anders können, als auf Kosten der Patienten und
der medizinischen Qualität zu sparen.
Im Übrigen müsste Ihnen zu denken geben, dass sich
bis zum 31. Oktober 2002 - das ist der Zeitpunkt, bis zu
dem sich die Krankenhäuser ursprünglich entscheiden
sollten - gerade einmal 55 Krankenhäuser für dieses Optionsmodell entschieden hatten. Wenn die Union heute zur
Anrufung des Vermittlungsausschusses Nein sagt, so
schützt sie damit die Krankenhäuser vor weiteren unabsehbaren Gefahren.
({4})
Aber das ist nicht der einzige Kritikpunkt. Nehmen Sie
die Deckelung der Verwaltungsausgaben bei den Krankenkassen! Da gibt es Krankenkassen, die in den letzten
Jahren sehr gut gewirtschaftet haben und bei denen der
Anteil der Verwaltungskosten eher als gering einzustufen
ist. Dies ist zum Beispiel bei den Betriebskrankenkassen
der Fall. Die von der Regierung jetzt vorgesehene Regelung bestraft gerade die Krankenkassen, die in den letzten
Jahren wirtschaftlich gearbeitet haben, während sich solche, die in der Vergangenheit aus dem Vollen geschöpft
haben, keine größeren Sorgen machen müssen. Ist das gerecht?
Dann zum Thema: Festbetragsregelung für Arzneimittel. Im Gesetzentwurf heißt es so schön:
Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, deren Wirkungsweise neuartig ist und die eine therapeutische Verbesserung, auch wegen geringerer Nebenwirkungen, bedeuten, bleiben weiterhin von der
Festbetragsregelung ausgenommen.
Auch hier gilt der altbekannte Grundsatz: Eine Regelung schafft drei Probleme. Erstens. Die Pharmaunternehmen werden ihre Forschungsanstrengungen zurückschrauben. Wer garantiert denn schon, dass es sich um
eine echte Innovation und nicht um eine Scheininnovation handelt? Zweitens. Es entsteht ein zusätzlicher bürokratischer Aufwand zur Prüfung von echten Innovationen. Wie wollen Sie das definieren und wo nehmen Sie
die Abgrenzung vor? Drittens. Für die ohnehin überlastete Justiz haben Sie ein neues Betätigungsfeld gefunden.
Frau Schmidt, Sie und die Bundesregierung haben es
zu verantworten, wenn international tätige Pharmakonzerne nicht mehr in Deutschland investieren
({5})
und am Pharma- und Forschungsstandort Deutschland
langsam die Lichter ausgehen.
({6})
Für ein solches Gesetz mit den geschilderten Unzulänglichkeiten können und wollen wir Ihnen nicht die
Hand reichen. Dazu brauchen wir auch keinen Vermittlungsausschuss. Legen Sie uns ein tragfähiges und schlüssiges Konzept dazu vor, wie Sie das Gesundheitswesen
reformieren wollen! Dann werden wir uns auch einigen
und brauchen keinen Vermittlungsausschuss.
Das Dilemma, in dem Sie von Rot-Grün stecken, ist
doch, dass Sie keinerlei Ideen haben, wie Sie die Strukturprobleme im Gesundheitswesen in den Griff bekommen
können. Da Sie keine Ideen haben, berufen Sie - ähnlich
dem Modell der Hartz-Kommission - eine Kommission
ein, die es richten soll. Während Sie, was die Vorschläge
der Hartz-Kommission angeht, noch von einer Umsetzung im Verhältnis eins zu eins sprachen, demontieren Sie
die neue Kommission, bevor sie ihre eigentliche Arbeit
aufgenommen hat. Die einen sehen auf mehrere Jahre hinaus keinen Reformbedarf im Hinblick auf unsere sozialen Sicherungssysteme - Herr Scholz lässt grüßen -,
während andere von „Professorengequatsche“ reden und
mit vermeintlichen Lateinkenntnissen - Herr Stiegler
lässt grüßen - glänzen. Wenn wir schon von Einsparungen
reden: Die 1 Million Euro, die uns diese Kommission kostet, könnten wir uns wirklich sparen.
({7})
Sie dürfen sich nicht wundern, dass immer mehr Leistungserbringer aus dem Gesundheitswesen zu Protestaktionen rufen. Erstens die Ärzte. Wenn man sich die Ausgabenentwicklung im dritten Quartal 2002 anschaut, dann
fällt einem auf, dass die höchsten Steigerungsraten nicht
bei den Honoraren für Ärzte und Zahnärzte liegen, sondern bei den Arzneimittelausgaben, den Heilmittelausgaben und den Krankenhauskosten. Trotzdem verordnen Sie
den Ärzten eine Nullrunde, und das, obwohl die Honorare
der Ärzte ohnehin schon budgetiert sind.
Zweitens die Apotheker. Sie werden gleich aus mehreren Richtungen angegriffen. Da droht der Versandhandel und jetzt sollen sie auch als Inkassounternehmen für
die Krankenkassen arbeiten. Apotheker sollen nicht nur
die eigenen Rabatte abführen, sondern auch die der
Großunternehmen.
Drittens die Zahntechniker. Deren Leistungen kürzen
Sie um 5 Prozent. Gleichzeitig wird der Mehrwertsteuersatz aber von 7 Prozent auf 16 Prozent angehoben. Das
führt zu keiner Entlastung der Kassen, sondern zu zusätzlichen Belastungen in Höhe von 150 Millionen Euro.
Als Neuling im Deutschen Bundestag wäre es vermessen, Ihnen zu sagen, wie eine vernünftige Gesundheitsreform aussehen sollte.
({8})
In den ersten Monaten meiner Tätigkeit habe ich aber viel
über Transparenz, über Wettbewerb und über Eigenverantwortung gelernt. Wenn Sie sich bei den nun anstehenden Reformen an diesen Maßstäben orientierten, dann
wären wir ein gutes Stück weiter und dann könnten Sie
auch mit unserer Unterstützung rechnen.
Danke schön.
({9})
Herzlichen Glückwunsch, Herr Kollege Hennrich, zu
Ihrer ersten Rede. Ich verbinde damit den Dank des Präsidiums, dass Sie die vorhin großzügig eingeräumte zusätzliche Redezeit Ihrerseits eingespart haben, wodurch
wir wieder im Zeitplan sind.
({0})
Ich hoffe, dass Ihnen das bei Ihren künftigen Reden in
ähnlicher Weise gelingt.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Selg, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Herr Hennrich, natürlich gratuliere auch ich Ihnen recht herzlich. Ich muss Ihnen allerdings sagen: Wir
haben mit unserer Gesundheitsreform in den vergangenen viereinhalb Jahren mehr als Sie in 16 Jahren bewegt.
({0})
Das von der schwarz-gelben Bundesratsmehrheit vor
kurzem abgelehnte Zwölfte SGB-V-Änderungsgesetz beinhaltet drei Regelungen, denen Sie nicht zustimmen können: erstens die Einbeziehung von Analogpräparaten in
die Festbetragsregelung; zweitens die Fristverlängerung
für Krankenhäuser bei der Anmeldung zur DRG-Einführung; drittens die Festschreibung der Verwaltungskosten der Krankenkassen auf dem Niveau von 2002.
Roland Koch hat diese Regelungen mit dem Argument
abgelehnt, dass eine Deckelung der Finanzierung von
patentgeschützten Medikamenten den Forschungsstandard massiv gefährden werde.
({1})
- Da hat er leider nicht Recht. Es geht nicht um eine
Deckelung der Finanzierung aller patentgeschützten Medikamente, sondern nur um die Deckelung der Finanzierung der so genannten Analogpräparate.
({2})
Das sind Medikamente, die gegenüber bereits existierenden Medikamenten überhaupt keinen Zusatznutzen aufweisen.
({3})
Denn häufig werden nur bestimmte Molekülstrukturen
geringfügig manipuliert - wahrscheinlich weiß das nicht
jeder -, um dies patentieren zu lassen und das Patent für
viel Geld verkaufen zu können. Es handelt sich sehr wohl
um Scheininnovationen. Echte therapeutische Innovationen werden dagegen auch zukünftig nicht von der Festbetragsregelung erfasst.
({4})
Eine Schädigung des Forschungsstandorts Deutschland wollen auch wir von der Koalition nicht. Wir wollen
aber, dass Forschung, die von den Versicherten über hohe
Beitragssätze bezahlt werden muss, den Versicherten
auch zusätzlichen Nutzen stiftet. Bei Scheininnovationen
ist dies nicht der Fall. Sie nutzen lediglich der Pharmaindustrie, die auf diese Weise ihre Profite auf Kosten der
Versicherten erhöht. Deshalb sagen wir zwar Ja zu innovativer Forschung, aber Nein zu nutzlosen Scheininnovationen auf Kosten der Versicherten.
({5})
Jetzt komme ich zu dem zweiten Punkt, zu dem Sie
Nein sagten: Fristverlängerung für die DRG-Einführung. Ein Argument von Roland Koch hierfür im Bundesrat lautete, die Fristverlängerung sei nicht fair. Eine
Begründung, warum dies der Fall sei, gab er nicht. Das ist
auch kein Wunder, weil es nämlich keine gibt.
Außerdem behauptete er, dass die Regelung zu einer
Nachmeldung von Krankenhäusern führen würde, die für
die DRG-Einführung noch nicht bereit seien. Auch hier
stelle ich klar: Herr Koch liegt völlig falsch, wenn er die
Fristverlängerung als unfair hinstellt. Das Gegenteil ist
nämlich der Fall. Es wäre unfair gewesen, wenn wir die
Frist nicht verlängert hätten. Die ursprüngliche Frist endete nämlich am 31. Oktober, also bevor die Regelungen
des Beitragssatzsicherungsgesetzes bekannt wurden.
Viele Kliniken hatten sich, obwohl sie dazu in der Lage
gewesen wären, nicht angemeldet, da sie keinen unmittelbaren Anlass gesehen hatten.
({6})
Es war nämlich geplant, es 2003 nur freiwillig, ohne Vergünstigungen zu gewähren, einzuführen. Durch das Beitragssatzsicherungsgesetz wurde ein neuer Sachverhalt
geschaffen, die Frist war aber bereits verstrichen. Deshalb
war und ist eine Fristverlängerung gerade aus Fairnessgründen zwingend notwendig.
Die Behauptung von Herrn Koch, nachmeldende Kliniken seien für die DRG-Einführung noch gar nicht bereit,
beinhaltet eine Unterstellung, die durch nichts belegt ist.
Wäre es den Kliniken möglich, völlig unvorbereitet diese
Ausnahmeregelung in Anspruch zu nehmen, dann hätten
sich doch alle deutschen Krankenhäuser gemeldet. Sie
sagten vorhin, es hätten sich bis Oktober 50 angemeldet.
Es waren aber 500. Die eine Null hätte ich da gerne noch
angefügt. 800 Kliniken haben nachgemeldet, das heißt
also, von 2 000 Krankenhäusern werden jetzt 1 300 an
dieser wirklich innovativen und reformorientierten Umstellung teilnehmen. Das belegt, dass die Kliniken sehr
wohl sorgfältig abgewägt haben, ob sie die DRG-Einführung 2003 bewältigen können oder nicht.
({7})
Bei den Verhandlungen über das Beitragssatzsicherungsgesetz war es ein wichtiges Ziel für uns, dass der von
Rot-Grün auf den Weg gebrachte Strukturwandel im
Krankenhausbereich nicht verhindert wird. Die Blockadehaltung der schwarz-gelben Mehrheit im Bundesrat be1524
wirkt genau das Gegenteil: Der für unser Gesundheitswesen so wichtige Strukturwandel im Krankenhausbereich
wird blockiert, weil die Krankenhäuser nicht wissen, ob
und wann ihnen die CDU/CSU-regierten Länder endlich
die Möglichkeit eröffnen, die Ausnahmeregelung in Anspruch zu nehmen. Hier zeigt sich im Übrigen die ganze
Schizophrenie der kochschen Argumentation: Einerseits
wettert er gegen die Nullrunde, andererseits verhindert er
aber, dass reformorientierte Krankenhäuser davon ausgenommen werden.
Bezüglich des Einfrierens der Verwaltungskosten auf
dem Stand von 2002 hat Herr Koch dagegen signalisiert,
dass man über die Deckelung der Verwaltungskosten der
Krankenkassen reden könne. Anscheinend sieht er durchaus Sinn in einer solchen Regelung. Zumindest hier
scheint sich eine Einigkeit zwischen Bundestagsmehrheit
und Bundesratsmehrheit abzuzeichnen.
Bezüglich der zwei strittigen Punkte möchte ich aber
noch einmal sagen: Hierbei handelt es sich um sinnvolle
und zielführende Maßnahmen. Meine Befürchtung ist,
dass Herr Koch und seine Konsorten dies genau wissen,
aber diese aus wahlkampftaktischen Gründen weiterhin
blockieren werden.
({8})
Mein Wunsch für die anstehenden Verhandlungen im
Vermittlungsausschuss lautet deshalb: Möge die Vernunft
über Ihr wahlkampftaktisches Kalkül siegen.
Danke.
({9})
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Dieter
Thomae, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die rotgrüne Koalition befindet sich in einem großen Dilemma.
Das stellt sie gegenwärtig fest;
({0})
denn sie versucht zum zweiten Mal, diesen Gesetzentwurf
in den Vermittlungsausschuss einzubringen. Es war sicherlich ein großer Fehler von Ihnen, Ihre Vorhaben auf
einen zustimmungsfreien und einen zustimmungspflichtigen Gesetzentwurf aufzuteilen, denn jetzt müssen Sie
schauen, wie Sie vorankommen.
Ich möchte Ihnen ehrlicherweise auch sehr deutlich sagen: Ich bin froh, dass Baden-Württemberg auf Initiative
der FDP das Bundesverfassungsgericht angerufen hat, um
prüfen zu lassen, ob der zustimmungsfreie Teil des Gesetzes tatsächlich zustimmungsfrei ist.
({1})
Wir sind der Auffassung, dass auch dieser zustimmungspflichtig ist. Dann werden wir sehen, was Sie dort
fabriziert haben.
({2})
- Ich weiß besser Bescheid als Sie; da können Sie sicher
sein.
({3})
In der Tat ist das eine schwierige Situation für die
Krankenhäuser. Ich bin der Meinung, dass das DRG-System eingeführt werden muss, denn das benötigen wir für
wettbewerbliche Strukturen im Krankenhaus.
({4})
Wir müssen dafür sorgen, dass mehr Krankenhäuser als
diejenigen, die sich bisher dafür entschieden haben, diese
Möglichkeit in Anspruch nehmen können. Sie sehen: Wir
wollen ein Vermittlungsverfahren.
({5})
Der zweite wichtige Punkt. Sie wollen die Verwaltungskosten dämpfen. Sie dürfen aber nicht vergessen,
dass Sie den Krankenkassen in den letzten vier Jahren so
viel Bürokratie aufgeladen haben, dass man sich nicht
wundern muss, wenn die Verwaltungskosten ansteigen.
Es wäre besser, Sie würden die bürokratischen Regelungen abbauen. Dann hätten die Krankenkassen im Verwaltungsbereich sicherlich viel mehr Spielraum und könnten
auf diese Weise Kosten sparen.
({6})
Diese Vielzahl von bürokratischen Regelungen war Ihr
entscheidender Fehler bei der Reform.
Sie wissen doch,
({7})
wie viel Stellen in den letzten Jahren bei den Krankenkassen zusätzlich geschaffen worden sind: mehr als
3 000 Stellen. Das bedeutet immense Personalkosten.
Dafür haben Sie 15 000 Pflegekräfte abgebaut. Das muss
einmal deutlich gesagt werden.
({8})
Das ist Ihr Fehler. Mit dieser Begrenzung, Budgetierung
und Nullrunde werden Sie auf Dauer keine Gesundheitspolitik machen können. Das sind Instrumente aus der
Mottenkiste; das ist Planwirtschaft bis zur höchsten Kompetenz.
Hinzu kommt Ihre Vorstellung, Sie könnten bei den
Me-too-Präparaten unterscheiden, welche Präparate auf
Dauer innovationsfähig sind. Wir haben aus der Praxis
viele Beispiele dafür, dass Präparate, die auf den Markt
gekommen sind, zunächst nicht den großen Durchbruch
erlebten und erst später festgestellt wurde, dass diese
Arzneimittel für schwierige Indikationen eingesetzt werden können. Ich weiß nicht, woher Sie den Mut nehmen,
zu entscheiden, was Me-too-Präparate sind und was
nicht.
({9})
- Halten Sie doch den Mund! - Das sollten Sie den Fachleuten vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte bei der Zulassung überlassen; denn die sind in
der Lage, zu entscheiden, welche innovativen Präparate
auf den Markt gebracht werden sollen.
({10})
Dafür sollten nicht neue bürokratische Strukturen geschaffen werden.
Mit dieser Konzeption werden Sie bei uns keine Zustimmung finden. Dennoch sind wir der Meinung: Der
Vermittlungsausschuss soll noch einmal versuchen, gerade im Krankenhausbereich einen Kompromiss zu erzielen. Dazu sind wir als Liberale bereit. Ich hoffe, dass wir
dann eine vernünftige Basis finden.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Anrufung des Vermittlungsausschusses zum Zwölften
Gesetz zur Änderung des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches auf Drucksache 15/298. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt gegen diesen Antrag? - Enthaltungen? - Dann ist der Antrag mit den Stimmen der SPDFraktion, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und
der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der CDU/CSUFraktion angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Jörg Tauss,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker
Beck ({0}), Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
GATS-Verhandlungen - Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern
- Drucksache 15/224 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Zeit von 45 Minuten vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
zunächst der Kollegin Ulla Burchardt, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Verhandlungen über die Weiterentwicklung des
1995 geschlossenen Abkommens über den internationalen Handel mit Dienstleistungen gewinnen an Dynamik
und kommen in eine entscheidende Phase. Die Forderungen der anderen Mitgliedstaaten liegen vor. In den nächsten Tagen wird die Vorlage des Verhandlungsangebotes
seitens der EU erwartet. Bis Ende März dieses Jahres soll
die Abstimmung darüber erfolgt sein.
Zu den zwölf Dienstleistungssektoren, über die verhandelt wird, gehören auch kulturelle und audiovisuelle
sowie Bildungsdienstleistungen. Grundsätzlich - lassen
Sie mich das sagen - ist für uns die Ausweitung des Handels mit Dienstleistungen eine große Chance für die export- und dienstleistungsstarke deutsche Wirtschaft. Doch
geht es bei Bildung und Kultur um etwas grundsätzlich
anderes als zum Beispiel bei Telekommunikations- und
Transportdienstleistungen.
({0})
Schon vor Monaten haben alle relevanten Institutionen
und Verbände, die Hochschulrektorenkonferenz, die
Bund-Länder-Kommission und - das muss man sagen als Erste die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft,
({1})
über Implikationen beraten, Forderungen formuliert und
Positionen beschlossen. Angesichts des vorliegenden
Zeitplans halten wir es für überfällig, dass sich auch der
Deutsche Bundestag positioniert.
({2})
Wir wollen mit unserem Antrag der Bundesregierung einen klaren Verhandlungsauftrag für die Formulierung der
gemeinsamen Position der EU geben.
Alle Bildungsexperten, und zwar ausnahmslos, äußern
die Sorge, dass weitere Liberalisierungszugeständnisse
im Ergebnis zu einer Kommerzialisierung des Bildungssektors, einer Erosion des öffentlichen Bildungswesens
und der staatlichen Verantwortung - sprich: der von Bund
und Ländern - und somit zu Qualitätsdumping führen
könnten.
Die SPD-Bundestagsfraktion - ich kann sagen, auch
das Bundesministerium für Bildung und Forschung - teilt
die Grundsatzposition von HRK, BLK und GEW. Diese
sind erstens: Öffentlich verantwortete Bildung und somit
auch Hochschulbildung sind kein gewöhnliches Handelsgut wie sonstige Waren oder Dienstleistungen. Bildungspolitik darf nicht dem Primat der Handelspolitik untergeordnet werden.
({3})
Zweitens. Die Gewährleistung von Chancengleichheit
beim Zugang zu Bildung und Wissen und die Sicherstellung hoher Qualitätsstandards im Bildungswesen gehören
zum Kernbereich staatlicher Daseinsvorsorge. Qualitätssicherung darf sich dabei nicht allein auf die staatlichen
Angebote beschränken, sondern muss alle in- und ausländischen privaten einbeziehen.
Drittens. Es besteht kein Anlass, über die 1995 eingegangenen und im Vergleich zu anderen international im
Bildungsbereich aktiven Staaten wie den USA, Australien
oder Japan relativ weitgehenden Verpflichtungen hinauszugehen.
Sind die vielfach geäußerten Befürchtungen und Sorgen gerechtfertigt? Angesichts der teilweise diffusen Vorbehalte gegenüber internationalen Institutionen und Abkommen, insbesondere wenn es um Handelsfragen geht,
ist es für mich wichtig, Folgendes klarzustellen. Das
GATS lässt den einzelnen Mitgliedstaaten erhebliche
Freiheiten bei der Übernahme von Verpflichtungen zur
Marktöffnung. Jeder Staat entscheidet selbst, welche bilateral für welche Dienstleistungssektoren übernommen
werden. Es liegt also allein in der Hand der WTO-Mitglieder, welche Zugeständnisse gemacht und welche konkreten Verpflichtungen übernommen werden.
Ich hatte im Dezember des letzten Jahres die Gelegenheit genutzt, mich in Genf bei der WTO mit dem Generaldirektor Dr. Supachai und den Mitarbeitern des Sekretariats, insbesondere mit denen, die den Bereich Bildung
betreuen, über den Sachstand, über Hintergründe und über
Abläufe zu informieren. Ich habe von dort den Eindruck
mitgenommen, dass in Genf nicht erwartet wird, dass
vonseiten anderer Staaten, zum Beispiel von den USA, erheblicher Druck ausgeübt wird, den Bildungsbereich weiter zu liberalisieren; denn gerade die USA müssten im Gegenzug ihren Bildungsmarkt sehr viel weiter öffnen. Man
hat in Genf den Eindruck, dass die USA gerade daran kein
Interesse haben.
Aber ich habe von dort auch eine bemerkenswerte Erkenntnis mitgebracht. Die WTO hat nämlich die Erfahrung gemacht, dass seitens der Europäischen Union, wenn
es um die Verhandlungsführerschaft durch die Handelspolitik geht, diese Kompetenz genutzt wird, um auf und in
andere Fachbereiche - sprich: Fachpolitiken - Zugriff zu
haben. Das macht hellhörig und vor diesem Hintergrund
scheinen Sorgen nicht ganz unberechtigt zu sein.
Die Erfahrungen vergangener Verhandlungsrunden
zeigen, dass in wichtigen Streitfällen zwischen den Handelspartnern Vereinbarungen erst in letzter Minute erzielt
wurden, und zwar als Paketlösungen. Bildungsdienstleistungen könnten so - das ist zumindest theoretisch denkbar - als Tauschobjekt einbezogen werden für Zugeständnisse seitens der EU, die in anderen Bereichen nicht
gemacht werden, also verweigert werden.
Vor diesem Hintergrund fordern wir die Bundesregierung auf, gegenüber der EU bei der Formulierung von Angeboten sicherzustellen, dass der bestehende Regulierungsvorbehalt und damit die öffentliche Aufsicht über
das Bildungswesen inklusive aller Fragen, die die Qualitätssicherung betreffen, beibehalten wird. Wir fordern
sie auf, auch den Subventionsvorbehalt beizubehalten,
damit die staatliche Finanzierung von Bildungseinrichtungen keine Rechtsansprüche für ausländische Bildungsanbieter auslöst.
({4})
Wir sind allerdings der Auffassung, dass die Verhandlungen zu einer Klarstellung des Begriffs der Governmental Services genutzt werden sollten, der hoheitlich
erbrachten Dienstleistungen, die von den Bestimmungen
des GATS ausgenommen sind. Wir fordern Klarstellungen dahin gehend, dass sich der Begriff des Wettbewerbs
in Art. I des Abkommens allein auf den Wettbewerb zwischen überwiegend privat finanzierten Anbietern bezieht.
Was den Bereich der audiovisuellen und kulturellen
Dienstleistungen angeht sind wir der Auffassung, dass auf
Liberalisierungsforderungen gegenüber Drittstaaten verzichtet werden sollte.
Dies alles schließt im Übrigen den internationalen Austausch und Wettbewerb im Bildungsbereich überhaupt
nicht aus. Ich sage ganz deutlich: Der ist uns wichtig. Das
Bundesministerium für Bildung und Forschung hat auch
in dieser Beziehung vieles auf den Weg gebracht. Aus
Zeitgründen ist es nicht möglich, auf Einzelheiten einzugehen. Alle, die es interessiert, verweise ich auf die sehr
aufschlussreiche Dokumentation „Bildung und Forschung weltoffen“, die seit dem Sommer letzten Jahres
vorliegt und allgemein zugänglich ist.
({5})
Schließlich ist unsere Forderung nach regelmäßiger
und detaillierter Einbeziehung der Fachausschüsse bzw.
der Berichterstatter so selbstverständlich, wie sie überfällig war. Mit der Einladung der Fachberichterstatter zu einem Gespräch am Montag hat das Bundesministerium für
Wirtschaft und Arbeit den Ball aufgegriffen. Das halte ich
für einen guten Anfang, der allerdings ausbaufähig ist.
Wir sollten das noch viel nachdrücklicher fordern. Wenn
dort gesagt worden ist, die Abgeordneten des Deutschen
Bundestages seien mit Abstand die wichtigsten Gesprächspartner, dann gehe ich auch davon aus, dass die
Abgeordneten in Zukunft eher und detaillierter über den
Verhandlungsstand informiert werden als beispielsweise
Nichtregierungsorganisationen, wie das leider in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Aber ich sehe uns insgesamt auf einem guten Wege.
({6})
Mit Freude habe ich in dem Gespräch am Montag
gehört - einige Kollegen, die heute Abend anwesend sind,
waren dabei -, dass im Bereich Bildung die deutsche Position sattelfest vertreten wird und die Bundesregierung
auf eine uneingeschränkte Beibehaltung der bisherigen
Position hinarbeitet.
({7})
Unter dem Strich ist mein Eindruck, dass es hinsichtlich
der stärkeren Parlamentsbeteiligung einen fraktionsübergreifenden Konsens gibt und dass es einen großen gesellschaftlichen Konsens gibt in Bezug auf den besonderen
Ulla Burchard
Ulla Burchard
Charakter von Bildungs- und Kulturdienstleistungen.
Deshalb werbe ich hoffentlich nicht vergebens, sondern
mit großem Optimismus um die Zustimmung des gesamten Hauses zu unserem Antrag, auch um der deutschen Position international und innerhalb Europas den entsprechenden Nachdruck zu verleihen.
({8})
Das Wort hat der Kollege Thomas Rachel, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! 1995
ist das so genannte GATS-Abkommen in Kraft getreten.
Deutschland und die Europäische Union haben sich verpflichtet, weitere Liberalisierungen des Dienstleistungssektors voranzutreiben. Wir begrüßen diese Liberalisierung des Welthandels, der nun auch im Bereich des
Handels mit Dienstleistungen konkrete Formen annimmt.
Die Bildungsdienstleistungen sind in das GATS-Abkommen als einer von zwölf Dienstleistungssektoren einbezogen worden. Bildung und der Handel mit Bildung
können ein bedeutsamer volkswirtschaftlicher Faktor sein.
({0})
Dies zeigen die Vereinigten Staaten von Amerika. Die
USA erwirtschaften auf dem internationalen Bildungsmarkt pro Jahr einen Erlös von 12 bis 18 Milliarden USDollar und damit mehr als die ganze amerikanische Filmindustrie.
Was hat uns der internationale Vergleich im Rahmen
der PISA-Studie gelehrt? - Die Lehre von PISA ist, dass
wir von anderen Ländern auch in der Schul- und Bildungspolitik lernen können.
({1})
Der rot-grüne Antrag zum Thema GATS-Verhandlungen
offenbart dagegen in manchen Teilen Ängstlichkeit vor
privater und ausländischer Konkurrenz.
({2})
Wir dagegen begrüßen die Liberalisierung im Dienstleistungsbereich. Sie trägt zu Wettbewerb zwischen den Bildungsanbietern und damit zu mehr Leistungsorientierung
und Qualitätssteigerung bei.
({3})
Allerdings gilt es, bei den konkreten GATS-Verhandlungen einige Aspekte zu berücksichtigen. Bildung ist in
seinem Grundangebot in Deutschland ein öffentliches
Gut. Die Struktur des öffentlich finanzierten Bildungssystems in Deutschland darf deshalb nicht generell zur Disposition gestellt werden.
({4})
Aber ergänzende private ausländische Bildungsangebote
sollten sehr wohl möglich sein, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllen, vor allem vom Staat überprüfte Qualitätsstandards.
({5})
Die Sicherstellung eines solchen Qualitätsstandards bei
in- und ausländischen Anbietern im Bildungswesen
gehört zum Kernbereich der staatlichen Daseinsvorsorge,
übrigens auch in der globalisierten Wissensgesellschaft.
({6})
Wir als Unionsfraktion unterstützen die Stellungnahme, die der Ausschuss für Bildungsplanung der BLK
als gemeinsame Position von Bund und Ländern erarbeitet hat. Folgende Gesichtspunkte müssen berücksichtigt
werden:
Erstens. Die von den Ländern und dem Bund in
Deutschland wahrgenommene öffentliche Aufsicht über
das Bildungswesen muss erhalten bleiben.
Zweitens. Die Setzung und Sicherung von Qualitätsstandards sowie die Akkreditierung und die Anerkennung
von Hochschulabschlüssen müssen weiterhin in der Regelungsbefugnis des Staates bleiben.
Drittens. Die Gleichbehandlung ausländischer Anbieter darf nicht zu weit gehen. Die Regeln zur Inländerbehandlung gemäß Art. XII des GATS-Vertrages dürfen
keineswegs so ausgelegt werden, dass eine generelle Verpflichtung zur staatlichen Subventionierung auch privater
Anbieter entsteht. Anders formuliert: Die staatliche Finanzierung von Bildungseinrichtungen in Deutschland
darf keine Subventionsansprüche ausländischer privater
Bildungsanbieter auslösen.
({7})
- Auch dann sollen sie keine Subventionen bekommen.
Sie sollen sich auf dem privaten Markt selber beweisen.
Viertens. Die rot-grüne Koalition fordert in ihrem Antrag, „dass Deutschland und die EU ... keine weiteren Liberalisierungsverpflichtungen für den Bereich der Bildungsdienstleistungen übernehmen, die über die bereits
bei Aushandlung des GATS-Abkommens 1994 eingegangenen Verpflichtungen hinausreichen“. Diese Auffassung
teilt die Unionsfraktion nicht. Der Antrag zeigt, dass die
rot-grünen Koalitionsfraktionen die GATS-Liberalisierungsverhandlungen mit angezogener Handbremse
führen wollen.
({8})
Wir Christdemokraten sind nicht grundsätzlich gegen
eine weitere Liberalisierung. Wir machen sie allerdings
von Bedingungen abhängig. So reichen die bisherigen
Verpflichtungen der EU und ihrer Mitglieder erheblich
weiter als die anderer Mitgliedstaaten der WTO, insbesondere die der USA und Australiens.
Deshalb ist es nach Meinung der CDU/CSU-Fraktion
wichtig, dass vor weiteren Liberalisierungszugeständnis1528
sen der europäischen Seite eine Angleichung im Verpflichtungsniveau der wichtigsten Verhandlungspartner
angestrebt wird. Wir befürworten die weitere Liberalisierung; sie muss aber auf Gegenseitigkeit beruhen.
({9})
Eine Liberalisierung und Öffnung des deutschen Bildungsmarktes, ohne dass umgekehrt die anderen Länder
ihren Bildungsmarkt gleichzeitig, in gleicher Weise und
in gleicher Intensität öffnen, kann es mit uns nicht geben.
({10})
Die GATS-Verhandlungen sind eine vernünftige Sache. Dass Griechenland die griechische Staatsangehörigkeit als Erfordernis für Lehrer postuliert, ist einfach nicht
mehr zeitgemäß. Das Erfordernis der dänischen Staatsangehörigkeit für Professoren in Dänemark ist ein Anachronismus.
({11})
Das passt nicht in eine internationale Wissensgesellschaft.
Abschließend nenne ich ein anderes Beispiel: In Frankreich ist die Gründung von Privatschulen grundsätzlich
französischen Staatsbürgern vorbehalten.
Diese alten Zöpfe gehören abgeschnitten. Sie passen
nicht in das 21. Jahrhundert. Dies wollen wir ändern.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich erteile der Kollegin Grietje Bettin, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Globalisierung der Weltwirtschaft und die weltweit zunehmende Privatisierung von Dienstleistungen
führen dazu, dass wir uns mit völlig neuen Fragestellungen internationaler Bildungspolitik beschäftigen müssen. So lautet zum Beispiel eine Frage, die im Hinblick
auf die Verteilung von Wissen beantwortet werden muss:
Wem gehört das Wissen? Eine weitere, gerade hinsichtlich der zunehmenden Kommerzialisierung des Bildungssektors zentrale Fragestellung lautet: Wem gehört die Bildung?
Mit In-Kraft-Treten des so genannten GATS-Abkommens im Jahre 1995 hat die EU weitreichende Verpflichtungen zur Liberalisierung des Dienstleistungssektors
übernommen. Seit Anfang 2000 wird nun im Rahmen der
WTO über eine Weiterentwicklung des GATS verhandelt. Ziel der Beratungen ist es, ein höheres Liberalisierungsniveau aller WTO-Mitglieder beim Welthandel mit
Dienstleistungen zu erreichen. Diese Verhandlungen erstrecken sich, wie von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern bereits dargelegt, auf alle von GATS erfassten
Dienstleistungssektoren. Darunter fallen natürlich auch
die weltweiten Bildungsdienstleistungen. Im Mittelpunkt
dieser Verhandlungen stehen Forderungen, die die staatlichen Subventionen zur Unterstützung öffentlicher und
privater Bildungsträger infrage stellen.
Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger sind mit der berechtigten Sorge an uns herangetreten, die Verhandlungen
könnten im Endergebnis zu einer umfassenden Kommerzialisierung des Bildungssektors führen. Ebenso wird
befürchtet, dass es zu einer Aushöhlung des öffentlichen
Bildungswesens und der staatlichen Aufsicht über das
Bildungswesen kommt.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Entwicklung
darf nicht eintreten. Die Rolle des Staates als Wächter
über die Chancengleichheit und die Qualität im Bildungswesen darf zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt werden.
({1})
Die Herstellung von Chancengleichheit beim Zugang
zu Bildung und Wissen und die Sicherstellung eines hohen Qualitätsstandards im Bildungswesen gehören
zum Kernbereich staatlicher Aufgaben. Dies gilt auch und
gerade in einer globalisierten Wissensgesellschaft. Qualitätssicherung darf sich dabei nicht allein auf die staatlichen Angebote beschränken, sondern muss auch alle inund ausländischen privaten Angebote einbeziehen.
Wir begrüßen deshalb ausdrücklich die Bemühungen
des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, bildungspolitischen Interessen und Standpunkten in den
GATS-Verhandlungen den notwendigen Stellenwert zu
geben.
({2})
Aber wir wissen auch: Die Bundesregierung ist kein direkter Verhandlungspartner. Sie kann ihren Einfluss nur
mittelbar geltend machen. Verhandlungspartner ist die EU
insgesamt.
({3})
Umso wichtiger ist es, die deutschen Interessen zu bündeln. Um der Sache willen sollten wir dabei alle an einem
Strang ziehen.
Es gibt immer noch Politikerinnen und Politiker, die
ernsthaft glauben, Bildung stehe jenseits wirtschaftlicher
Einflussnahme und nur im Dienste der Bevölkerung. Dabei tobt in der Bildungspolitik schon seit geraumer Zeit
ein heftiges weltweites Ringen nicht etwa um Inhalte oder
Didaktik, sondern um Marktanteile der weltweiten Bildungsdienstleister.
Unsere Verhandlungspartner jenseits des Atlantiks haben es bereits deutlich formuliert. Die amerikanischen
Bildungskonzerne erhoffen sich beispielsweise die Aufnahme einer neuen Kategorie namens Training in die
Liste der frei handelbaren Bildungsangebote. Gemeint
ist damit nichts anderes als der lukrative Markt der unternehmensbezogenen Weiterbildungen. Bildung wird
zum weltweiten Exportschlager. Schon jetzt nimmt der
amerikanische Bildungssektor mit rund 10 Milliarden
Dollar den fünften Rang in der US-Exportwirtschaft ein.
Aber auch wir wollen keinen abgeschotteten Bildungsmarkt und sehen durchaus die positiven Effekte einer
Internationalisierung von Bildung
({4})
wie zum Beispiel die Öffnung der Bildungseinrichtungen
für ausländische Studierende und die Erschließung neuer
Märkte und neuer Kooperationschancen für inländische
Dienstleister.
Dies darf allerdings nicht dazu führen, dass ein globaler Bildungsmarkt entsteht, der sich nur noch über die
Profitmaximierung definiert. Eine Privatisierung des Bildungswesens durch immer mehr Gebühren und einen damit verbundenen Rückzug aus der öffentlichen Verantwortung wird es unter Rot-Grün nicht geben.
Grundsätzlich teilen wir Grünen die Bedenken der
Globalisierungskritikerinnen und -kritiker. Die Verhandlungen werden bis jetzt viel zu wenig transparent geführt.
Weder das Parlament noch die betroffene Öffentlichkeit
wurden ausreichend informiert. Dies muss sich schnellstens ändern.
Unsere Forderungen sind daher eindeutig: Im Rahmen
der nächsten Freihandelsrunde darf Bildung nicht unter
„ferner liefen“ verhandelt werden. Bildung ist nun einmal
keine Ware wie jede andere, sondern muss gesondert verund auch behandelt werden. Wir setzen zur Verbesserung
des Gesamtangebots auf dem Bildungssektor auch auf
neue internationale Angebote und Ansätze. Deshalb treten
wir grundsätzlich für die Öffnung des Bildungssektors für
private Anbieter ein, um zusätzliche Innovationen im deutschen Bildungssystem zu ermöglichen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen ein qualitativ hochwertiges Bildungssystem erreichen, zu dem
alle Bürgerinnen und Bürger gleichen Zugang erhalten,
unabhängig von ihrer sozialen, kulturellen oder geschlechtlichen Zugehörigkeit. Dafür brauchen wir eine international offene und vielfältige Bildungslandschaft genauso wie eine staatliche Qualitätskontrolle. Staat und
Politik setzen die Ziele und garantieren die Qualität. Den
Weg und die Umsetzung bestimmen die Einrichtungen
und Anbieter selbst.
Zusammenfassend muss für GATS gelten, was wir
auch für das deutsche Bildungssystem insgesamt wollen:
die Freiheit der Bildungswege bei staatlicher Qualitätsgarantie und die Festlegung von Bildungszielen durch politische Beteiligung der Öffentlichkeit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu Unrecht hat das Thema „GATS plus Bildung“ bislang kaum
öffentliche Beachtung gefunden. Dabei ist der Bildungsmarkt, wie dies Herr Rachel eben so plastisch dargestellt
hat, im Augenblick einer der am schnellsten wachsenden
Märkte. Es geht darum, wie ausländische Bildungsanbieter zukünftig in Deutschland auftreten können, aber auch
darum, wie wir in Zukunft auf ausländischen Märkten
präsent sein werden.
Frau Burchardt, Ihr Antrag fokussiert vor allen Dingen auf den ersten Bereich. Mir fehlen - das sage ich
für die Liberalen ganz klar - Aussagen dazu, wie wir
die Möglichkeiten, für unsere Bildungsträger Zugang
zu Märkten zu bekommen, nutzen wollen. Mir fehlen
Aussagen darüber, was Liberalisierung für die Verbesserung der Qualität von Bildung in Deutschland bedeutet.
({0})
Warum sollten wir zum Beispiel nicht bereit sein, den
Bereich Testing in den internationalen Wettbewerb zu
stellen? Warum soll nicht ein ausländischer Anbieter die
Überprüfung der Qualität deutscher Bildungseinrichtungen übernehmen, wenn er sich an staatliche Qualitätsvorgaben hält?
({1})
Wer das Protokoll der Expertenanhörung vom
24. Januar 2002 liest, der findet darin den bezeichnenden
Satz des BMBF-Vertreters, dass Deutschland im Rahmen
des WTO-Prozesses die Chance verpasst habe, Forderungen für den Bildungsbereich zu benennen. Warum? - Ich
zitiere aus dem Protokoll:
Weil wir eine mangelnde Koordination zwischen der
federführenden Wirtschaftsseite und der für Bildungswesen zuständigen Seite hatten.
Meine Damen und Herren, dies prägt dieses Thema, dies
prägt „GATS plus Bildung“: kleinliche Rivalitäten zwischen den Ministerien und - ganz offensichtlich damit
verbunden - öffentliche Missachtung.
Ich weiß, dass es im Rahmen der BLK eine Verständigung gegeben hat und dass viele Punkte daraus in Ihren
Antrag eingeflossen sind. Trotzdem oder vielleicht gerade
deswegen atmet der Antrag deutliche Angst und nicht Zuversicht.
({2})
Die FDP sagt nicht: Liberalisierung auf Teufel komm
raus. Den Gefallen tun wir Ihnen nicht. Vielmehr muss
das Niveau der Marktöffnung - da stimme ich Ihnen zu,
Herr Rachel - gleichmäßig ansteigen. Die EU ist hier weiter als andere Regionen. Wir sagen aber auch: Wir wollen
keinen Closedshop.
({3})
Dies sagen wir auch vor den Vertretern der entsprechenden Organisationen. Unsere oberste Priorität ist eben
nicht die Bestandsgarantie für die heutigen Strukturen.
Unser Maßstab ist Qualitätsverbesserung, nicht Artenschutz.
({4})
Gerade vor dem Hintergrund der Diskussionen gestern
im Ausschuss möchte ich Sie fragen: Wie setzen Sie sich
denn im Augenblick hinsichtlich der Ausgaben für Bildung in diesem Lande durch? Was für Prügel bekommen
Sie denn von den eigenen Leuten? Gerade vor diesem
Hintergrund müssen wir aufpassen, dass wir unseren
Markt durch ausländische Konkurrenz verbessern, und
dürfen keine Angst haben.
({5})
Dennoch sind wir uns der wichtigen Fragen durchaus
bewusst: Können wir bei einer weiteren Marktöffnung
wichtige Initiativen, wie zum Beispiel GATE, weiter
staatlich finanzieren? Wir müssen bei GATS den Grundsatz beachten: Was wir von den anderen fordern, müssen
wir natürlich auch uns selbst abverlangen. Wenn wir staatliche Subventionen vornehmen, können wir sie anderen
auf unserem Markt nicht verbieten - das ist uns klar.
({6})
Nur ein Beispiel: Wir müssen Klarheit darüber haben, wie
es mit der Hochschulbauförderung für ausländische Anbieter aussieht, die sich in Deutschland niederlassen.
({7})
Meine Damen und Herren, ich habe Verständnis dafür,
dass diejenigen, mit denen Sie sich offensichtlich intensiv
unterhalten haben, Angst haben, dass der staatliche Kuchen eben auch unter anderen Mitessern aufgeteilt wird,
({8})
zumal die Kuchenstücke zurzeit nicht größer werden.
Aber das ist eben nicht die einhellige Meinung. So spricht
sich zum Beispiel der Generalsekretär des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft durchaus dafür aus,
auch ausländischen Hochschulen im Wettbewerb um
staatliche Fördermittel eine Chance zu geben. Das soll allerdings unter drei Bedingungen geschehen: Studiengänge müssen akkreditiert sein, die Hochschule muss
nach § 70 HRG anerkannt sein und es muss eine Evaluierung der Qualität, zum Beispiel durch den Wissenschaftsrat, stattfinden. Wenn diese Bedingungen erfüllt
werden, warum sollten wir dann Angst haben?
Wir sind für den internationalen Wettbewerb bisher
unzureichend gerüstet, das stimmt. Das liegt aber nicht an
der Opposition in diesem Hause,
({9})
sondern das liegt an Ihnen, die Sie gerade in der Vergangenheit nicht dafür gesorgt haben, das wir für Wettbewerb
offen sind. Wo ist denn das Verbot von Studiengebühren?
Mit den jetzigen Bedingungen machen Sie es unseren
Universitäten natürlich schwer.
({10})
Wo sind denn die Möglichkeiten, Studenten auszusuchen?
Diese Möglichkeiten haben wir zurzeit nicht. Die Regierung hat die Universitäten hier entsprechend beschränkt
und dafür gesorgt, dass wir international nicht wettbewerbsfähig sind.
({11})
Wir können aber den deutschen Bildungsmarkt nicht
abschotten. Bei dieser Gelegenheit möchte ich doch einmal sagen: Gerade weil wir Schwierigkeiten bezüglich
des Etats haben, können wir das nicht tun. Zusätzliche Anbieter werden Kapital, Qualität und Wettbewerbsdruck in
unseren geschlossenen Markt bringen. Die FDP steht
dafür. Frau Burchardt, die FDP wird im Ausschuss einen
Antrag einbringen, damit Sie sich mit unseren Forderungen im Detail auseinander setzen können.
({12})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marion Seib.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Durch die heutige Aussprache wird deutlich:
Die Fragen der Bildungspolitik haben nichts von ihrer
Brisanz verloren. Letzes Jahr hielten uns die Ergebnisse
der PISA-Studie in Atem. 2003 wird die Nachfolgekonferenz des Bologna-Prozesses hier in Berlin stattfinden und
sicherlich zu einer weiteren kontroversen Debatte führen.
In diesem Zusammenhang ist es natürlich gut, dass wir
schon zu Beginn des Jahres über den Antrag der SPD und
der Grünen zu den GATS-Verhandlungen diskutieren.
Verehrte Kollegen, um es vorwegzunehmen: In der
Grundaussage stimme ich dem Antrag in weiten Teilen zu.
Bewährte Strukturen der öffentlichen Bildungs- und Kulturförderung in Deutschland sollten eben nicht durch
GATS infrage gestellt werden. Ich denke aber, wir dürfen
es uns nicht zu einfach machen.
In Deutschland ist es Mode geworden, sich gegen die
Globalisierung in toto zu wenden. Man hört immer die
gleichen Schlagworte: gegen Kommerzialisierung; kontra
Neoliberalisierung. Aus der Globalisierung heraus ergeben
sich zweifelsohne Risiken, die beachtet werden müssen.
Auch für die Bildungs- und Kultureinrichtungen können
sich aus den geplanten GATS-Vereinbarungen zahlreiche
Gefahren ergeben.
Die meisten Szenarien sind in Ihrem Antrag - wie ich
finde zu Recht - bereits angesprochen worden. Auch wir
wollen nicht - lassen Sie mich das übertrieben darstellen -,
dass ein US-amerikanischer Testing Service über ein
Kontingent an Hochschulplätzen in Deutschland verfügen
kann oder dass ein australischer Bildungskonzern hier ein
mit Steuermitteln bezuschusstes Privatgymnasium betreibt, das mit ausländischem Lehrmaterial arbeitet und zu
einer Studienberechtigung an deutschen Universitäten
führen kann.
Auch wenn diese Beispiele sicherlich spekulativ sind:
Wir Christlich-Sozialen sorgen uns um die kulturelle
Vielfalt und ihre Bewahrung. Die Subventionierung ausländischer Bildungsanbieter oder der Wegfall der
staatlichen Aufsicht über das Bildungssystem wäre in
der Tat eine gefährliche Entwicklung, die dem föderalen
Bildungssystem in Deutschland schweren Schaden zufügen könnte.
({0})
Doch trotz aller Risiken dürfen wir uns nicht dazu verleiten lassen, alle Entwicklungen der GATS-Runde im
Bereich der Bildung zu blockieren. Hinter GATS verbergen sich für die Bildungseinrichtungen nämlich nicht nur
Risiken, sondern auch erhebliche Chancen im In- und
Ausland. Gerade in den letzten Jahren haben mehrere
deutsche Universitäten den Schritt ins Ausland gewagt
und haben dort alleine oder mit Kooperationspartnern
neue Hochschuleinrichtungen gegründet. In Bayern haben alleine die Schulen 60 000 internationale Kontakte
gepflegt. 15 000 Kooperationsvereinbarungen zwischen
deutschen Hochschulen und ausländischen Einrichtungen
wurden abgeschlossen, so unter anderem das „German
Institute of Science and Technology“ der TU München in
Singapur.
({1})
Die Fakultät für Chemie der TU München bietet dort den
Studiengang „Industrial Chemistry“ an. In einem staatlichen Programm wurde die TU München neben weiteren
zehn Top-Universitäten der Welt ausgewählt. Ich bin zuversichtlich, dass diese Entwicklung in den nächsten Jahren anhalten und sich noch verstärken wird.
({2})
Durch den Bologna-Prozess entsteht ein europäischer Hochschulraum, der sich vor der Konkurrenz in
den Vereinigten Staaten, in Australien oder in Neuseeland nicht zu verstecken braucht. In der Zukunft wird es
zudem durch die Zunahme der weltweiten elektronischen Vernetzung ein verstärktes Angebot an virtuellen
Ausbildungsmöglichkeiten geben. Deutsche Hochschulen können sich mit eigenen Angeboten dem internationalen Wettbewerb erfolgreich stellen. Das müssen wir
sehen.
({3})
Die EU-Länder haben bereits große Vorleistungen erbracht, andere Länder müssen mit weiteren Verpflichtungen erst noch nachziehen. Grundkonsens muss sein, dass
Bildung und Kultur zu den Kernaufgaben einer demokratischen Gesellschaft zählen. Sie dürfen nicht einfach
kommerziellen Gesichtspunkten untergeordnet werden.
Ausländische Anbieter können die staatlichen Systeme
ergänzen, dürfen diese aber nicht unterminieren. Unter
diesem Blickwinkel müssen die GATS-Verhandlungen
aufmerksam verfolgt und Verbesserungen angeregt werden.
Ich möchte nun auf den Antrag direkt eingehen. In diesem Antrag hätten die Länder etwas mehr Aufmerksamkeit verdient.
({4})
Bildung ist und bleibt überwiegend Ländersache.
({5})
Nicht nur Frau Bulmahn, sondern auch die europäischen
Regionalminister für Kultur und Bildung haben mit der
Brixener Erklärung vom 18. Oktober 2002 europaweit auf
die Risiken der geplanten GATS-Vereinbarungen hingewiesen.
({6})
In Ihrem Antrag ist weiter die Rede davon, dass die
neuen GATS-Vereinbarungen im Ergebnis zu einer Aushöhlung des öffentlichen Bildungswesens führen würden.
Mit Blick auf PISA und einige Bundesländer könnte man
meinen, die Aushöhlung schreitet auch ohne GATS
schnell voran.
Hinsichtlich der audiovisuellen und kulturellen
Dienstleistungen möchte ich darauf aufmerksam machen, dass gerade auch in Frankreich - wir haben heute
Morgen zu diesem Punkt debattiert - die Diskussion darüber im Gange ist, wie den Besonderheiten der kulturellen Dienstleistungen in den jeweiligen Ländern bei den
GATS-Verhandlungen am besten Rechnung getragen
werden kann. Vielleicht ergibt sich ja für Sie, verehrte
Kolleginnen und Kollegen von der Regierungsseite, in
der nächsten Woche bei der Feier zum 40. Jahrestag des
Élysée-Vertrages die Möglichkeit des Gedankenaustausches hierüber mit den französischen Parlamentskollegen.
({7})
Es ist zu begrüßen, dass die einzelnen Bundestagsausschüsse umfassend informiert werden sollen. Denn in der
Öffentlichkeit wird häufig die fehlende Transparenz beklagt. Sicherlich hängt das auch damit zusammen, dass
die EU-Kommission für alle Mitglieder die Verhandlungen führt und die Positionen nur in einem gesonderten
Ausschuss auf europäischer Ebene abgestimmt werden.
Regelmäßige und umfassende Informationen der Ausschüsse und Absprachen mit den Ländern bieten Möglichkeiten, mit entsprechenden Anträgen in den Ausschüssen auf Fehlentwicklungen hinzuweisen. Damit
könnte dem Unverständnis in der Öffentlichkeit entgegengewirkt werden.
Wir können uns der Globalisierung unserer Welt
nicht entziehen. Unsere Aufgabe ist es, unsere kulturellen
und bildungspolitischen Besonderheiten in diese Entwicklung einzubringen und abzusichern. Lassen Sie uns
diese Aufgabe gemeinsam gestalten.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sigrid Skarpelis-Sperk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das allgemeine Handelsab1532
kommen GATS ist ohne Zweifel eine der wichtigsten internationalen Verpflichtungen, die die Europäische Union
und damit auch die Bundesrepublik Deutschland eingegangen ist.
Allgemeine Dienstleistungen, nicht Bildungsdienstleistungen, sind der weltweit dynamischste Bereich des
Handels. Allein 1999 erwirtschaftete der Dienstleistungssektor 1,34 Billionen Dollar - mit steigender Tendenz und damit ein Fünftel des Welthandels. Dienstleistungen
tragen in den großen Industrieländern mittlerweile 60 bis
70 Prozent zum jeweiligen Bruttosozialprodukt bei.
64 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind
in diesem Bereich beschäftigt. Deswegen ist es wichtig,
dass wir uns bei internationalen Vereinbarungen über
Dienstleistungen mit großer Sorgfalt mit diesem Bereich
befassen und uns genau überlegen, welche Auswirkungen
sie haben.
({0})
Dienstleistungen sind nicht nur im Rahmen der staatlichen Organisation und öffentlichen Daseinsvorsorge
wichtig. Sie begleiten uns im wahrsten Sinne des Wortes
von der Wiege bis zur Bahre. Sie sind unverzichtbar und
der wichtigste und aussichtsreichste Wachstumsbereich.
Für wen, in welchem Umfang, in welcher Qualität und zu
welchem Preis sie zur Verfügung stehen, bestimmt in hohem Maße über Wohlstand und Lebensqualität, Leben
und Gesundheit, aber auch über Chancengleichheit, sozialen Zusammenhalt und zu einem nicht geringen Teil,
Frau Flach, über das, was wir als nationale Identität, aber
auch als Heimat definieren.
({1})
Daher ist es unverständlich, wie wenig wir bisher in
Deutschland und Europa in der Öffentlichkeit und im Parlament über das GATS diskutiert haben. Ist es uns wirklich gleichgültig, dass über eine Weiterentwicklung
des GATS weitgehend hinter verschlossenen Türen der
EU-Kommission und der Welthandelsorganisation verhandelt wird?
({2})
Herr Kollege Fritz, Sie erinnern sich: Sie haben das
schöne Beispiel gebracht, dass die Angebote und Überlegungen der EU eher mit einem Krabbelsack zu vergleichen seien, dessen Inhalt man vorsichtig abtaste, um
festzustellen, was wohl darin sei. Gegenüber einem Abkommen, das wir ratifizieren sollen, müssen wir uns wohl
anders verhalten als gegenüber einem Krabbelsack; denn,
Frau Kollegin Flach, es geht nicht nur um den öffentlichen
Bereich, sondern auch um wirtschaftsnahe Dienstleistungen wie freie Berufe, Datenverarbeitung und Kommunikation, Post und Telekom, Werbung, Bau, Montageleistungen und vieles mehr.
({3})
Es geht aber auch um Bildung, um medizinische und soziale Dienstleistungen vom Krankenhaus bis zur Altenpflege, um Umweltdienste vom Wasser und Abwasser bis
zur Müllabfuhr, um Erholung, Kultur und Sport. Dies war
noch keine vollständige Aufzählung all dessen, was in
diesem GATS in 16 Bereichen geklärt werden soll.
({4})
Nur die in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbrachten
Dienstleistungen sind ausgenommen. Aber auch dies besagt nicht viel, weil dieser hoheitliche Bereich nicht genau definiert ist. Sie wissen, dass es Länder gibt, in denen
selbst Gefängnisse und Sicherheitsdienstleistungen privat
organisiert und nach Profitprinzipien geleitet werden.
Deswegen geht es bei den Leistungen entscheidend darum, welche Leistungen künftig öffentlich erbracht werden bzw. öffentlich erbracht werden dürfen und nach welchen Kriterien - außer denen der Gewinnerzielung - dies
geschieht.
Gerade in der Daseinsvorsorge, die von unseren Städten und Gemeinden erbracht wird, sind folgende Fragen
existenziell: Wie viel Gestaltungsspielraum wird die öffentliche Hand noch haben? Wie viele Zuschüsse sind
noch erlaubt? Hat jeder private und ausländische Anbieter ebenso Anspruch auf öffentliche Subventionen wie gemeinnützige Organisationen?
({5})
Es geht nicht darum, dass diese Anbieter keinen Zutritt
zum deutschen Markt bekommen. Das ist in dieser Debatte nicht der Punkt. Diesen Unternehmen geht es darum,
dieselben Subventionen zu bekommen. Das heißt, sie sind
Nachfrager um knappe öffentliche Ressourcen und Mittel.
({6})
Es geht beim GATS nicht nur um eine neue internationale Marktordnung für Dienstleistungen, nicht nur um
eine neue Ordnung des globalen Arbeitsmarktes. Es wird
eine neue globale und soziale Ordnung vorgezeichnet,
die tief in die bisher vorhandenen politischen, sozialen
und kulturellen Wertvorstellungen und Ordnungssysteme
der meisten Nationalstaaten eingreift und ihre Handlungsspielräume für politische Gestaltung erheblich einschränken kann. Das ist für Parlamente wichtig. Schließen
wir auch internationale Abkommen ab, die künftig die
Entscheidungsspielräume der Parlamente dramatisch einengen, oder haben wir künftig noch Möglichkeiten, eine
andere Generation nach neuen Erfahrungen etwas anderes
entscheiden zu lassen?
({7})
Über diese tiefen Einschnitte und Strukturveränderungen soll es in unseren Ländern keine umfassende öffentliche Diskussion geben, geschweige denn einen auf
Mehrheitsbeschlüssen fußenden Konsens in den demokratischen Gremien, im Europäischen Parlament und im
Deutschen Bundestag. Dies ist eigentlich unerträglich.
Die Kommission in Brüssel sollte zur Kenntnis nehmen,
dass das am 12. November 2000 auf der Website der Generaldirektion Handel vorliegende Konsultationspapier
- ich sage es einmal so - in seiner kryptischen Erhabenheit keine ausreichende Information von Öffentlichkeit und Parlament bietet.
({8})
Wir haben uns den Text gemeinsam mit Ihnen mehrfach durchgelesen und sind nicht darauf gekommen, was
damit nun konkret gemeint ist. Wenn eine Reihe von klugen Abgeordneten des deutschen Volkes, die intensiv mit
dieser Sache befasst sind und Mitglieder der EnqueteKommission oder Vorsitzende des Unterausschusses Globalisierung waren, nicht ersehen kann, welche Forderungen real gestellt werden, welche Auswirkungen das auf
die einzelnen Sektoren hat, was das für die Staatshaushalte bedeutet, welche Handlungsspielräume wir noch haben werden, dann ist die Information von Öffentlichkeit
und Parlament unzureichend.
({9})
Noch haben wir als Staat ein Entscheidungsrecht in
der Europäischen Union. Diesen Entscheidungsspielraum
sollten wir uns ohne genaue Information und Kenntnis
nicht nehmen lassen.
({10})
- Wir müssen der Europäischen Union gemeinsam Dampf
machen. Da haben Sie Recht, Herr Rachel. Wir werden
uns freuen, wenn wir in Brüssel sagen können: Dies ist
eine gemeinsame Haltung der Bundesrepublik Deutschland und des gesamten deutschen Parlaments.
({11})
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der mich
beim GATS besonders irritiert. Im Rahmen der Welthandelsordnung ist es bisher so, dass bei der Herstellung von
Gütern die Art und Weise, auf die sie produziert werden,
völlig unwichtig ist. Dies soll beim GATS genauso gelten.
Wir als Sozialdemokraten haben auch bisher schon dagegen gekämpft, dass es egal ist, ob ein Gut unter Schädigung der Umwelt, unter Ausbeutung von Kindern, unter
Lohnsklaverei oder gesundheitsgefährdenden Umständen
erstellt wird.
({12})
Auch beim GATS wird nicht darüber diskutiert, unter
welchen Bedingungen die Dienstleistungen, die möglicherweise in unser Land geliefert werden, erbracht werden.
({13})
Die Frage ist, warum wir - das sage ich sehr nachdrücklich - und die Europäische Kommission nicht verlangen,
dass im GATS zumindest die ILO-Kernarbeitsnormen
verankert werden. Bei dieser Frage wünschen wir uns
wirklich die Unterstützung der CDU/CSU.
({14})
Wir müssen - das möchte ich betonen - deutlich machen, dass sich die EU bei einer Neuordnung der grenzüberschreitenden Dienstleistungen im GATS das Recht
vorbehalten muss, den Marktzugang im Bereich öffentlicher Aufgaben einzuschränken. Ich sehe, dass - mit
Ausnahme der FDP - alle Mitglieder dieses Hauses unserer Meinung sind. Ferner muss gesichert sein, dass bei
den horizontalen Verpflichtungen das Fortbestehen der
öffentlichen Daseinsvorsorge in den Kommunen und anderwärts nicht eingeschränkt oder gefährdet wird.
Zielsetzungen wie die Sicherung einer sauberen Umwelt, der Gesundheit der Bevölkerung, der Chancengleichheit, des sozialen Zusammenhalts und des Erhalts
der traditionellen kulturellen Werte sind zentrale Fragen
unserer Gesellschaft und können nicht im Vorbeigehen
über ein internationales Abkommen mit einem neuen
Rahmen oder neuen Einschränkungen der künftigen politischen Gestaltungsfreiheit versehen werden. Wir sind
schließlich Gesetzgeber und nicht politische Notare für
Vorhaben, die auf einer anderen Ebene, in internationalen
Abkommen, beschlossen werden.
({15})
Lassen Sie mich deswegen zum Abschluss eines anmerken: Die Europäische Union führt derzeit mit der europäischen Dienstleistungsrichtlinie ein kühnes und weltweit
einmaliges Unternehmen durch: qualifiziert, systematisch,
verbunden mit dem Aufbau eines europäischen Binnenmarktes für Dienstleistungen.
Frau Kollegin, jetzt müssen Sie wirklich zum Schluss
kommen.
Wir sollten versuchen, die einzelnen Schritte dieses
Unternehmens sorgfältig zu erarbeiten und sie auf das
GATS zu übertragen. Das wäre lohnend und sicherlich
besser als eine Übereilung.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Erich Fritz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese
Debatte freut mich deshalb, weil ich mich über jede Debatte zur WTO freue. Denn ich bin der Meinung, dass sich
das Parlament häufiger und frühzeitiger mit diesen Fragen
befassen muss, als wir es tun
({0})
und - das muss ich hinzufügen - auch tun können, weil
die Prozedur nun einmal bekanntermaßen wie folgt abläuft: abgestuft Richtung Brüssel und dann multilateral.
Bei dieser Debatte beschleicht mich noch ein Verdacht,
den die Redebeiträge der Regierungskoalition bestärkt
haben, nämlich dass es bei dem vorliegenden Antrag im
Wesentlichen darum geht, „gutes Wetter“ gegenüber der
von Venro, Attac und dem DGB gestarteten Kampagne zu
machen.
({1})
Das kann man durchaus tun. In der Kampagne werden Forderungen formuliert und der WTO wird vorgeworfen, dass
mit dem GATS die Privatisierung der öffentlichen Wasserversorgung oder der Hochschulausbildung vorangetrieben
werden soll und dass in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Umwelt und Wasser unmittelbar bevorstehe, öffentliche Monopole durch private Monopole zu ersetzen.
({2})
Wenn Sie diese Argumente in Ihrer Rede wiederholen,
Frau Burchardt, wie Sie es eingangs getan haben
({3})
- natürlich haben Sie das eingangs so dargestellt -, müssen Sie auch im weiteren Verlauf Ihrer Rede festhalten,
dass sie nicht zutreffen. Ich meine, dass wir uns sachlich
damit auseinander setzen müssen.
({4})
- Das habe ich getan. Das hat mich ja veranlasst, das zu
erwähnen.
Die von zahlreichen Kritikern im Lager der Nichtregierungsorganisationen angestellte Vermutung, dass mithilfe
von GATS die nationale Gesetzgebung der Parlamente
ausgehebelt wird, trifft nicht zu. Denn entgegen den Befürchtungen der NGOs hat die EU die Daseinsvorsorge
nicht in die GATS-Verhandlungen mit aufgenommen.
Vielmehr wird in den EU-Forderungen ausdrücklich klargestellt, dass sie weder auf eine Beeinträchtigung von
Dienstleistungen der Daseinsvorsorge noch auf Privatisierung zielen. Es gibt nur eine Ausnahme, und zwar die
an die USA gerichtete Forderung nach privat finanzierten
Dienstleistungen der höheren Bildung. Ansonsten sind
Bildungsdienstleistungen von den EU-Forderungen nicht
umfasst, genauso wenig wie Gesundheits- und soziale
Dienstleistungen, Kultur und audiovisuelle Dienstleistungen.
Zwar gibt es Forderungen an die EU, aber sie muss ihnen schließlich nicht nachkommen. Vielmehr kann sie
nach eigenen Vorstellungen prüfen, worauf sie eingeht.
Dabei gibt es, soweit ich sehe, keine großen Diskrepanzen
zwischen der Bundesregierung und dem Parlament.
Auch die Sorge vieler NGOs, die EU gelange bei den
laufenden Dienstleistungsverhandlungen unter Druck,
ihre bisherigen horizontalen Ausnahmen aufzugeben oder
einzuschränken, ist unbegründet.
Die bei der Europäischen Union eingegangenen Forderungen in dem zur Rede stehenden Bereich richten sich
nicht in erster Linie an Deutschland, sondern an diejenigen, die die von der Europäischen Union im Bereich der
Dienstleistungen bereits gefassten Liberalisierungsbeschlüsse nicht umsetzen.
({5})
Das ist das Entscheidende. Deshalb sind die Befürchtungen in Deutschland überhaupt nicht gerechtfertigt. Im Gegenteil, wir dürfen bei dieser Diskussion nicht vergessen,
welche Chancen bei Dienstleistungen für deutsche Unternehmen bestehen. Hier müssen wir uns an das durchgängige WTO-Prinzip halten: Wenn wir uns dazu entschließen, bestimmte Bereiche in Deutschland oder in der
Europäischen Union privat zu organisieren, dann müssen
für diese Bereiche gleiche Bedingungen für alle gelten.
Nichtdiskriminierung bedeutet, alle gleich zu behandeln,
ob Inländer oder Ausländer.
({6})
Meine Damen und Herren, nichts deutet darauf hin, dass
Deutschland nach dieser Runde der Dienstleistungsverhandlungen bei der Sicherung der Qualitätsstandards etwas
aufgeben müsste. Deshalb tun wir alle gut daran, in unseren öffentlichen Diskussionen und Darstellungen deutlich
zu machen, dass es sehr wohl darum geht, genau zu prüfen,
wo es Chancen für die private Erbringung von Dienstleistungen gibt, und dass es überhaupt keinen Grund für Ängste gibt, hier stünden dramatische Veränderungen bevor.
Wir sollten diese Debatte nicht vorbeigehen lassen,
ohne Wert darauf zu legen, dass die Bundesregierung all
das, was sie in den nächsten Wochen mit Blick auf die
GATS-Verhandlungen tut, auch gegenüber Parlament und
Bevölkerung transparent macht. Deshalb wiederhole ich
an dieser Stelle den Vorschlag, den ich am Montag im Berichterstattergespräch gemacht habe: Wenn die Europäische Union, die hinsichtlich der GATS-Verhandlungen
bisher nur die Anforderungen an sie selbst kennt, aber
noch nicht beschlossen hat, was sie ihrerseits verlangt,
Ende Februar ihre Forderungen beschlossen haben wird
und die Bundesregierung ihren Beitrag dazu geleistet haben wird, dann sollte die Bundesregierung in diesem
Hause sofort eine Regierungserklärung abgeben und dem
Parlament Gelegenheit geben, zu den dann feststehenden
Vorstellungen Stellung zu nehmen.
({7})
Das wäre ein wesentlicher Beitrag zu der Transparenz,
die nicht nur das Parlament verlangen kann, sondern die
auch die Öffentlichkeit mit Recht erwartet. Nichts wäre
bei diesen Verhandlungen schlimmer, als würden Vermutungen ins Kraut schießen, irgendjemand hecke mit finsterer Absicht in dunklen Sälen etwas aus, was in Wirklichkeit gegen die Bevölkerung gerichtet sei.
Vielen Dank.
({8})
Ich danke auch. - Ich schließe damit die Aussprache.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/224 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vierzehntes Hauptgutachten der Monopolkommission 2000/2001
- Drucksachen 14/9903, 14/9904 ({0}) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Hubertus Heil.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bundeswirtschaftsminister Clement hat gestern beim Jahresempfang des BDI deutlich gemacht, was wir in diesem Jahr
vorhaben. 2003 wird das Jahr der nachhaltigen Wirtschaftsreformen in Deutschland. Unser Ziel ist klar: Wir
wollen trotz der schwierigen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen unseren Beitrag zu mehr wirtschaftlicher Dynamik und zu einem beschäftigungswirksameren
Wachstum in Deutschland leisten.
Das Vierzehnte Hauptgutachten der Monopolkommission gibt uns Gelegenheit, heute einen Blick auf die aktuelle Wettbewerbspolitik zu werfen. Ich möchte anhand
von drei Schwerpunkten, die wir uns in der Wettbewerbspolitik für dieses Jahr gesetzt haben, verdeutlichen, wie
wir den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem
Wachstum und Wettbewerbspolitik sehen.
Unser erster Schwerpunkt: Wir werden das deutsche
Kartellrecht modernisieren. Wir sind uns dabei der Tatsache bewusst, dass das deutsche GWB so etwas wie das
Grundgesetz unserer Marktwirtschaft ist, das wir fortentwickeln müssen. Wir wollen das deutsche Kartellrecht
erstens entbürokratisieren, zweitens dezentralisieren und
drittens vor allen Dingen europatauglich und europakompatibel machen.
Unser zweiter Schwerpunkt: Wir werden den eingeschlagenen Weg zur Auflösung früherer Monopole hin
zu funktionierendem Wettbewerb konsequent und mit Augenmaß fortsetzen.
({0})
Dies gilt vor allem für die netzgebundenen Bereiche in
den Sektoren Strom, Gas, Schiene und Telekommunikation. Hier gilt es, im Prozess der Liberalisierung dafür zu
sorgen, dass sich durch geeignete Formen der Regulierung Wettbewerb entfalten kann. In diesen netzgebundenen Bereichen ist es dabei besonders wichtig, für einen
diskriminierungsfreien Netzzugang zu sorgen und/oder
dort, wo dies möglich und sinnvoll erscheint, den Aufbau
einer alternativen Infrastruktur zu unterstützen. Uns ist
bewusst, dass jeder dieser Exmonopolsektoren aufgrund
seiner spezifischen Bedingungen beim Prozess hin zu
funktionierendem Wettbewerb seine ihm angemessene
Form der Regulierung benötigt. Das ist ganz unabhängig
davon - lassen Sie mich das deutlich sagen -, ob das
Ganze auf Basis wirtschaftlicher Selbstregulierung wie
bei der Verbändevereinbarung im Energiebereich oder
mittels einer Regulierungsbehörde wie im Telekommunikationsbereich organisiert wird. Es geht in jedem Fall
nicht um Regulierungen, die gegen den Markt gerichtet
sind, sondern um Regulierungen für einen begrenzten
Zeitraum, damit funktionierende Märkte entstehen können.
Mit diesem Ansatz waren und sind wir auf dem richtigen Weg, gar keine Frage. Heute müssen wir uns allerdings
fragen, was wir erreicht haben und in welchen Bereichen
noch Handlungsbedarf besteht. Die Monopolkommission
hat in ihrem Vierzehnten Hauptgutachten festgestellt, dass
weitere Schritte zu einem noch intensiveren Wettbewerb
notwendig seien. Lassen Sie mich aufgrund der knappen
Zeit an dieser Stelle lediglich auf den Telekommunikationssektor zu sprechen kommen. In diesem Bereich sind
wir mit dem Telekommunikationsgesetz seit 1998 weit
gekommen. Trotzdem besteht weiterhin großer Handlungsbedarf. Dieser leitet sich nicht nur aus den Vorgaben
aus Brüssel ab. Das Telekommunikationsgesetz, das sich
grundsätzlich durchaus bewährt hat, muss und wird auch
fortentwickelt werden. Dafür werden wir in diesem Jahr
mit der großen TKG-Reform sorgen.
Ich möchte im Folgenden einige Elemente nennen, die
wir in diesem Zusammenhang als wichtig erachten:
Erstens. Wir werden selbstverständlich die europäischen Vorgaben in diesem Bereich umsetzen. Wir werden
uns darauf aber nicht beschränken, sondern unseren Spielraum für unsere eigenen Wettbewerbsvorstellungen nutzen.
Zweitens. Wir werden den vorhandenen Rechtsrahmen
verbessern. Dazu gehört auch, dass wir überflüssige Regulierungen abbauen.
Drittens. Wir werden einen Ordnungsrahmen entwickeln, der die Entfaltung neuer und innovativer Kommunikationstechnologien fördert.
Viertens. Dort, wo Regulierung im Telekommunikationsbereich nach wie vor notwendig ist, darf sie auf keinen Fall zu früh zurückgeführt werden. Im Gegenteil: Wir
werden vor allem dafür sorgen, dass sie wirksamer wird.
Es geht darum, die Effektivität der Regulierung zu verbessern sowie die Verwaltungs- und Gerichtswege so
stark wie möglich zu straffen.
Ich möchte Ihnen den dritten wettbewerbspolitischen
Schwerpunkt nennen, den wir noch in diesem Jahr auf den
Weg bringen und in dem wir für Dynamik sorgen werden:
den Abbau wettbewerbsbehindernder Regulierungen,
also die Beseitigung von Regulierungen, die gegen den
Markt gerichtet sind. Hiermit haben wir bereits im vergangenen Jahr mit der Abschaffung des Rabattgesetzes
und der Zugabeverordnung begonnen. Wir werden diesen
Weg in Bezug auf Sonderverkaufsveranstaltungen fortsetzen. Noch in diesem Jahr werden wir dafür sorgen, dass
§ 7 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, der
im Moment Sonderverkaufsveranstaltungen verbietet
- wir haben das ja bei der Diskussion über C & A erlebt -,
komplett gestrichen wird. Wir werden zukünftig in diesem Bereich stärker auf den mündigen Verbraucher setzen. Die Monopolkommission unterstützt uns dabei. Weder befürchtet sie, dass der Handel die Preise in diesem
Fall künstlich hochsetzen wird, noch verstoßen nach Auffassung der Monopolkommission diese Maßnahmen des
Preiswettbewerbs gegen die guten Sitten.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir brauchen mehr
Wettbewerb in Deutschland, weil Wettbewerb der effizienteste wirtschaftliche Mechanismus ist. Vernünftig entwickelt, steigert er die Wohlfahrt und dient dem Gemeinwohl. Wettbewerb ist für uns Sozialdemokraten - das
unterscheidet uns vielleicht von einigen in diesem Haus jedoch kein Selbstzweck, sondern ein notwendiges und
vernünftiges Mittel, Verbraucherinteressen zu vertreten
und Wachstum zu entfalten. Zugleich gilt: Ebenso wie es
in bestimmten Bereichen einleuchtende Gründe für mehr
Wettbewerb gibt, so tragen wir auch die soziale Verantwortung, gewisse Bereiche vom totalen Wettbewerb auszunehmen. Das folgt aus dem Sozialstaatsgebot unseres
Grundgesetzes. Bei der solidarischen Absicherung der
großen Lebensrisiken setzen wir im Gegensatz zur FDP
und zu Teilen der CDU nicht auf den totalen Markt. Wir
unterstützen den Bundespräsidenten, wenn er formuliert:
Wir wollen soziale Marktwirtschaft. Was wir nicht wollen, ist eine Marktgesellschaft, in der jeder von allem den
Preis, aber von nichts mehr den Wert kennt.
Allerdings werden wir uns innerhalb der sozialen und
solidarischen Sicherungssysteme verstärkt auch wettbewerblicher Elemente bedienen. Es gilt, dadurch für mehr
Effizienz zu sorgen, um damit einen Beitrag zur Begrenzung der Lohnnebenkosten zu leisten. So brauchen wir
beispielsweise im Gesundheitswesen nicht nur den Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen, sondern auch mehr Wettbewerb zwischen den Anbietern medizinischer Leistungen. Ich finde es ganz interessant,
dass die Opposition zu diesem Bereich immer relativ wenig sagt. Das mag etwas mit Klientelinteressen zu tun haben.
({1})
Funktionierender Wettbewerb ist eine gemeinsame
Aufgabe, die von allen getragen werden muss - nicht nur
vom Staat. Soziale Marktwirtschaft heißt immer auch
Eigenverantwortung und Mitverantwortung, übrigens
auch der Unternehmen. Das beinhaltet die Pflicht zur Anstrengung und nicht die Flucht in Räume der Protektion.
Wenn jeder nur seine eigenen Pfründe sichert, werden wir
in Deutschland in diesem Bereich in jedem Fall nicht vorankommen.
Wir werden in diesem Jahr - ich habe es mit den drei
Punkten angedeutet -vorankommen, sowohl bei der Modernisierung des GWB als auch bei den in den letzten Jahren angestoßenen Liberalisierungsprozessen als auch
dort, wo es darum geht, gegen Regulierungen anzugehen,
die gegen den Markt gerichtet sind. Wir werden für mehr
Wettbewerb sorgen - mit Augenmaß und Vernunft. Ich bin
mir sicher, dass wir damit einen wichtigen Beitrag zur Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland
leisten werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Schauerte.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir diskutieren heute den Monopolbericht.
Zu dem habe ich von Ihnen, Herr Heil, kein einziges Wort
gehört.
({0})
Sie haben darüber gesprochen, was Sie tun wollen, aber
zum Thema selbst haben Sie nichts gesagt. Ich kann das
auch verstehen; denn dieser Monopolbericht ist heftig.
({1})
Er legt den Finger in die Wunde und zieht eine sehr negative Bilanz zur Lage des Wettbewerbs und zur Konzentration bzw. zur Monopolbildung in der deutschen Wirtschaft. In dieser Deutlichkeit habe ich das noch bei
keinem Monopolbericht gesehen.
({2})
Ich will das an einem Zitat verdeutlichen. Es geht um
die Konzentration. Darüber wissen wir immer noch zu
wenig. Die statistischen Daten sind nicht da. Die Mitarbeit ist nicht geregelt. Die Stellen, die das erfassen sollen,
sind nicht bereitgestellt worden. Seit zwei Jahren warten
wir auf das, was das Gesetz vorsieht und vorschreibt. Wir
wissen jetzt nur, dass 450 000 Unternehmen von der Konzentration im weitesten Sinne betroffen sind. Das sind
15 Prozent. Das ist nicht sehr viel, aber gemessen an der
Bruttowertschöpfung der deutschen Volkswirtschaft sind
es 30 bis 40 Prozent.
Dazu darf ich Ihnen jetzt ein Zitat vorhalten:
In der Gesamtschau
- so die Monopolkommission ist im Berichtszeitraum hinsichtlich der verschiedenen untersuchten Größenmerkmale ein weiterer Anstieg der Konzentration zu verzeichnen.
Schon das ist nicht gut. Aber jetzt kommt noch der Grund
dafür, dass das schlecht ist:
Lediglich die Anzahl der von den betrachteten Großunternehmen zur Verfügung gestellten Arbeitsplätze
hat sich im Vergleich zum gesamtwirtschaftlichen
Trend unterproportional entwickelt.
({3})
Das ist bittere Ironie. Oder wie soll man das sonst beschreiben?
Wir wissen es. Die Monopolkommission schreibt es.
Der Konzentrationsprozess ist für die Arbeitsplätze
schädlich. Sie haben zu diesem Prozess kein einziges
Wort gesagt. Er ist nicht nur wettbewerbsrechtlich und
ordnungspolitisch schädlich, sondern er wirkt sich auch
hinsichtlich der Erreichung unseres Hauptziels, Arbeitsplätze zu schaffen, absolut negativ aus.
({4})
Das ist vornehm und zurückhaltend, doch auch deutlich
formuliert.
Tendenziell rückläufig sind hingegen
- da kommt noch ein anderer Gesichtspunkt ins Spiel die personellen Verflechtungen sowie die Beteiligungsverflechtungen unter den „100 Größten“. Dies
ist jedoch weniger auf Entflechtungsvorgänge als auf
Fusionen ... der „100 Größten“ ... zurückzuführen.
({5})
Auch das ist voller Ironie. Es geht da um „Machtwirtschaft“ und nicht um Marktwirtschaft. Es geht da um eine
Verschiebung der Gewichte, die zulasten von Arbeitsplatzpotenzialen geht. Das ist ein Vorgang, der uns große
Sorgen bereiten muss.
Durch den ganzen Bericht zieht sich wie ein roter Faden die kritische Frage: Sind wir im Hinblick auf die Ziele
„mehr Wettbewerb“, „weniger Konzentration“ und „Abbau von Monopolen“ weitergekommen? Die Antwort lautet: Nein, wir haben in den letzten Jahren Rückschritte gemacht.
Wirtschaftsminister Müller war ein Monopolminister.
Übrigens, es ist erstaunlich, wie wenig man noch von ihm
spricht.
({6})
Ich kenne ihn gar nicht mehr.
({7})
Er ist im Nebel der Großkonzerne der Ruhrschiene verschwunden. Er ist nicht mehr zu sehen.
Wo sind wir denn in der Bedrouille? - Ich nenne die
Liberalisierung der Energiemärkte. Es ist doch ein
Jammer, was wir da erleben. Die Konzentration nimmt zu,
die „Machtwirtschaft“ explodiert und die Verbraucher
zahlen hohe Zechen. Man konnte vor kurzem in einer Zeitung lesen, dass ein Vorstand eines großen Energieunternehmens - ohne sich bewusst zu sein, was er da sagt - erklärte, man sei zu Beginn dieses Jahres - obwohl der
Gewinn gegenüber dem Vorjahr schon um etwa 50 Prozent gestiegen war - wieder in der Lage, die Preise deutlich zu erhöhen, weil der Wettbewerbsdruck nachlasse.
({8})
Das muss man sich einmal vorstellen: Aufgrund der
Politik nimmt der Wettbewerbsdruck ab. Als Reaktion
machen die Unternehmen natürlich das, was möglich ist:
Sie erhöhen die Preise. Obwohl diese Unternehmen dies
öffentlich sagen, ist von Ihnen kein Wort dazu zu hören.
({9})
Sie sagen: Der gesamte Wettbewerb in Deutschland ist
gut; wir wollen uns noch ein bisschen modernisieren; aber
grundsätzliche Probleme haben wir nicht. Also: Was eine
Verbesserung der Situation auf den Energiemärkten angeht - Fehlanzeige.
Die Monopolkommission schreibt, dass die vertikalen
Verflechtungen zunehmen. Die vom Kartellamt festgelegte Grenze sah bisher so aus: Alle Beteiligungen über
20 Prozent sind kritisch; alle Beteiligungen unter 20 Prozent sind ungefährlich. Die Anzahl der Beteiligungen unter 20 Prozent steigt explosionsartig an. Wer schaut denn
in die Verträge hinein? Wir erleben im Moment eine „Vermachtung“ der Energiemärkte, die unerträglich ist. Nichts
davon können Sie bestreiten, nichts davon können Sie erklären und nichts davon wollen Sie ändern.
Was ist bei der Telekommunikation passiert? - Man
macht eine Regulierungspolitik im Interesse des Großaktionärs, aber keine Regulierungspolitik im Interesse der
Unternehmen,
({10})
die sich - das wollten wir so - in die Telekommunikationsmärkte hineinbegeben haben. Diese Unternehmen
sterben im Moment reihenweise. Sie haben dazu kein einziges Wort gesagt. Von einer wirklichen Verbesserung der
Wettbewerbslage sind wir weit entfernt.
Was machen wir im Hinblick auf die Fusion von Eon
und Ruhrgas? Ich darf an diese ganz unglückliche Geschichte erinnern. Einem Unternehmen mit einem Marktanteil von 60 Prozent bescheinigt man zu Beginn der Debatte über die Liberalisierung des Gasmarktes, es sei zu
klein. Deswegen hilft man ihm mit einer Ministererlaubnis und das verkündet man ihm schon zu einem Zeitpunkt,
zu dem die Auswirkungen seines Vorhabens vom Kartellamt noch nicht einmal überprüft worden sind.
Ich bin dankbar dafür, dass wir Gerichte haben, die einen solchen Vorgang nicht durchgehen lassen. Das war
Machtpolitik pur, ohne jedes ernsthafte Bemühen, Markt
herzustellen. Das ist unerträglich, wen immer es betrifft.
Ich vermute, die Sache wird scheitern. Ich hoffe, man findet dann neue Ansätze, um positive Dinge, die mit diesem
Vorhaben verbunden sind, organisieren zu können.
Die Wirtschaftspolitik, die Sie zu vertreten haben, hinterlässt eigentlich nur Verletzte auf dem Schlachtfeld: Der
Markt hat verloren, die beteiligten Unternehmen haben
verloren,
({11})
Zeit ging verloren, Geld wurde verbraten - nichts ist in
diesem Bereich gelungen. Was Erfolge angeht, nichts als
Fehlanzeige.
({12})
Um einen weiteren Punkt der Energiepolitik anzusprechen, über den wir noch einmal nachdenken und reden müssen, möchte ich auf die Verbändevereinbarungen zu sprechen kommen. Verbändevereinbarungen dürfen nicht zu
rechtsfreien Räumen führen. Auch Verbändevereinbarungen müssen mit dem Kartellrecht und mit Wettbewerbsregeln in Einklang stehen. Das ist durch die von Ihnen gutgeheißene Verbändevereinbarung nicht mehr gesichert. Es gibt
rechtsfreie Räume. Sie kennen die ärgerliche Reaktion des
Kartellamts auf das, was da passiert. Das Kartellamt hat in
dieser Frage genauso Recht wie bei der Beurteilung des EonRuhrgas-Vorgangs. Sie werden es erleben.
Ich sage Ihnen: Wenn die Verbändevereinbarung so etwas wie ein Selbstbedienungsladen der Beteiligten wird,
die ohne Rücksicht auf Außenstehende und ohne Rücksicht auf die Verbraucher nur ihr Eigeninteresse intelligent
verfolgen können, und zwar möglichst unauffällig, dann
hat man etwas falsch verstanden. Wenn in diese Verbändevereinbarungen nicht Verantwortung für eine wirkliche
Marktöffnung hineinkommt, dann werden wir die Politik
der Verbändevereinbarungen nicht fortsetzen können. Das
ist bedauerlich. Ich möchte eigentlich an der Politik der
Verbändevereinbarungen festhalten, weil es immer besser
ist, wenn sich die Beteiligten selber organisieren, als wenn
der Staat eingreift. So, wie es läuft, mit den negativen Ergebnissen, die es zeitigt, mit den Verzögerungen und den
Behinderungen beim Netzzugang, kann es nicht weitergehen. Entweder bekommen wir eine Verbändevereinbarung, die wirklich zur Marktöffnung beiträgt, oder auch
wir in der CDU müssen unsere Position überdenken und
sagen - andere werden das dann auch tun -: Wir müssen
es einer Regulierungsbehörde übertragen.
({13})
Das können Sie nicht weiter auf die lange Bank schieben.
Die Dinge sind nun wirklich reif. Das, was die Koalitionsregierung in der Moderation der Verbändevereinbarung
geleistet hat, war ein Trauerspiel.
({14})
Ich komme zum Schluss: Es steht schlecht um den
Wettbewerb und gut um Monopole in unserem Land. Helfen wir mit, auch in den anstehenden Haushaltsberatungen, dass die Behörden, die wir dafür eingerichtet haben,
nämlich das Kartellamt und die Monopolkommission, so
ausgestattet werden, dass sie ihre Wächterfunktion wirksam wahrnehmen können. Es gibt genug zu tun. Ich habe
mich gewundert, dass Ihnen dazu nichts eingefallen ist.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Monopolkommission hat aus meiner Sicht ein
sehr interessantes Gutachten mit sehr vielfältigen Anregungen vorgelegt. Dafür möchte ich der Monopolkommission ganz ausdrücklich von dieser Stelle aus Dank sagen.
Angesichts der Kürze der Redezeit muss ich mich auf
den Hauptteil beschränken. Da geht es um die Einführung
und die Stärkung von funktionierendem Wettbewerb in
den ehemaligen Monopolmärkten Post, Telekommunikation, Strom, Gas und auch Bahn.
Bezüglich des Postbereiches wird kritisiert, dass wir
nur mit Trippelschritten vorankommen. Ich teile diese
Auffassung. Das hat auch mit der EU zu tun. Dass aber
das Porto in Deutschland erst auf Druck der EU-Kommission gesenkt wurde, ist schon kritikwürdig; diesen
Schuh müssen wir uns anziehen.
({0})
Besser sieht es im Bereich der Telekommunikation
aus. Die Monopolkommission sagt ausdrücklich, dass der
Wettbewerb hier in weiten Teilen funktioniert. Zugleich
warnt sie davor - über diesen Punkt müssen wir, Hubertus
Heil, nachdenken -, jetzt schon bei der anstehenden
großen Novelle des Telekommunikationsrechts Regulierungen zurückzunehmen. Die These ist, dass die Marktteilnehmer eine gewisse Stetigkeit des regulativen Rahmens brauchen und sich auch erst einmal eine verlässliche
Rechtspraxis entwickeln muss. Deswegen sollte man die
Regulierungen in diesem Bereich noch nicht zurückschrauben. Zugleich wird ja auch zugestanden, dass in bestimmten Bereichen tatsächlich eine Wettbewerbssituation hergestellt wurde. Ich finde, wir sollten das mit
bedenken, wenn wir an die große Novelle herangehen.
Ganz problematisch sieht die Monopolkommission die
Bereiche Energie und Bahn. Zuerst zum Energiesektor:
Die Kritik am Energiewirtschaftsgesetz, das wir jetzt auf
den Weg gebracht haben, kann man relativieren, weil die
Verrechtlichung der Verbändevereinbarung auf 2003 befristet ist, aber der Sofortvollzug des Kartellamtes, der
hier ausdrücklich gelobt wird, in dieser neuen Novelle
ohne Fristsetzung festgeschrieben wurde. Unterm Strich
ist das also wirklich ein Fortschritt.
Allerdings muss man die Kritik an der Ministererlaubnis schon deswegen ernst nehmen, weil sie sich in der Praxis tatsächlich als Problem herausstellt. In dem Verfahren,
das jetzt bezüglich des bekannten Fusionsvorhabens anhängig ist, wird genau dieser Punkt aufgegriffen, dass
Minister Müller die Verantwortung nicht auf Staatssekretär Tacke hätte übertragen dürfen, sondern sie auf Finanzminister Eichel hätte übertragen müssen. Das ist ein
Grund, warum diese Fusion jetzt hängt. Ich persönlich
bin, wie Sie wissen, kein Freund dieser Fusion. Man muss
aber sehr bedauern, dass für RAG, Ruhrgas und Degussa
dadurch eine sehr problematische Situation entstanden
ist: Sie hängen nämlich völlig handlungsunfähig zwischen Baum und Borke, und das seit Monaten.
Ich glaube, dass diese Situation entscheidend dadurch
verursacht wurde, dass Eon ungeheuer arrogant auf die
Ministererlaubnis gesetzt hat und das Kartellamt, aber
auch die Monopolkommission damit vor den Kopf gestoßen hat.
({1})
Die Monopolkommission warnt in dem Gutachten
deutlich vor Konzentrationsprozessen in diesem Bereich.
Hinter der Aufkaufpraxis der Stadtwerke - schon eine Beteiligung von unter 20 Prozent wird als problematisch angesehen - vermutet die Monopolkommission eine Strategie der großen Verbundunternehmen, um Wettbewerber
abzuschrecken, wodurch wir im Energiebereich im Endeffekt bei einem Duopol landen werden. Dass so kein
Wettbewerb entsteht, ist klar. Wir müssen diese Entwicklung sehr aufmerksam betrachten. Wir brauchen eigenständige, aktive, selbstständige, unabhängige Stadtwerke
im Markt.
Ganz spannend wird das Gutachten an dem Punkt, an
dem die Monopolkommission selbst ihre Meinung ändert:
beim Thema Regulierung. Die Monopolkommission
meint, dass sie früher sehr wohl für den verhandelten
Netzzugang gewesen sei, dass sie aber im Lichte der Erfahrung, ob sich unter diesen Bedingungen Wettbewerb
entwickelt, ihre Position ändern müsse. Das gilt für
Strom, Gas und die Bahn. Sie sagt, eine gemeinsame Regulierungsbehörde für alle Bereiche würde die Kosten für
die Regulierung durch die Synergieeffekte senken, auch
im Telekommunikationsbereich, und dadurch gleichzeitig
ein gutes Maß an Branchendistanz schaffen, also einen
unabhängigen Regulierer. Das wäre aus Sicht der Monopolkommission neuerdings das richtige Instrument.
Bei der Bahn schlägt sie allerdings - das ist eine alte
grüne Forderung - als besseres Instrument die Trennung
von Netz und Betrieb vor.
({2})
Wenn wir das noch wollen, drängt jedoch die Zeit - auch
darauf weist die Monopolkommission hin -; denn nach
der Privatisierung ist uns dieser Weg versperrt. Das muss
vor dem Börsengang der Bahn, der ja ansteht, geschehen.
Hier müssen wir schnell zu einer Entscheidung kommen.
Die Monopolkommission bemängelt, dass die Netznutzungsentgelte im Strom- und Gasbereich noch immer
zu hoch seien und die Konkurrenten beim Netzzugang behindert würden. - Das Kartellamt hat gestern auf der
„Handelsblatt“-Tagung, bei der wir vertreten waren, sehr
deutlich bestätigt, dass es diese Problematik sieht. - Sie
sagt, bei Verbändevereinbarungen bestehe das Problem,
dass sich die Verbände, die gemeinsam am Tisch sitzen,
häufig zulasten Dritter einigten. Am Tisch sitzen nicht die
mittelständische Industrie, die neuen, unabhängigen Anbieter und die Verbraucher, sodass die Einigung zu deren
Lasten geht.
Deswegen meint die Monopolkommission - das finde
ich interessant und das müssen sich vor allen Dingen die
FDP und die CDU/CSU mit ihrem teilweise ideologischen Marktbild hinter die Ohren schreiben -:
Insofern führt die vielfach verwendete Gegensatzbildung zwischen Liberalisierung und Regulierung in
diesem Zusammenhang in die Irre!
Diese Position teile ich. Regulierung kann unter Umständen erst zu einem funktionierenden Wettbewerb führen.
Wir sollten in der nächsten Zeit sehr aufmerksam verfolgen, was die neuen Verbändevereinbarungen bringen. Wenn sie nicht deutliche - ich betone: deutliche Fortschritte bringen und wenn nicht zu erwarten ist, dass
der rückläufige Wettbewerb wieder dynamischer wird
Denken Sie bitte an die Zeit.
- ich bin beim letzten Satz -, dann müssen wir die Argumente der Monopolkommission sehr ernst nehmen und
eine neue Debatte darüber beginnen, ob wir für diese Bereiche nicht doch eine Regulierungsbehörde brauchen.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat die Abgeordnete Gudrun Kopp.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! In
der Tat: Dieses Hauptgutachten der Monopolkommission
macht uns alle sehr nachdenklich. Es ist ein Werk, das wir
im Ausschuss sicher sehr detailliert diskutieren müssen;
denn es gibt eine große Ansammlung von Kritikpunkten.
Ich nenne zum Beispiel - das hat niemand meiner Vorredner erwähnt, aber das ist ein sehr wichtiger Punkt - den
Beitrag der Monopolkommission zum Thema Tariftreuegesetz. Auch hier erhält Rot-Grün eine schallende Ohrfeige.
({0})
Weiterhin nenne ich das Gesetz gegen den unlauteren
Wettbewerb. Ich finde es schlimm, dass Äußerungen von
Ministern dieser Regierung am Standort Deutschland
wiederum für Verwirrung sorgen. Ich sage Ihnen gleich,
warum ich dieser Meinung bin.
Bundesjustizministerin Zypries hat vor wenigen Tagen
verkündet, es werde in aller Kürze einen Gesetzentwurf zur
Änderung des UWG geben - das betrifft die §§ 7 und 8 -,
damit Sonderverkäufe und Rabattaktionen künftig zugelassen werden können. Heute nimmt Verbraucherschutzministerin Künast zu diesem von ihr entdeckten angeblichen Preisdumping Stellung und verkündet, sie werde
dafür sorgen, dass es künftig wieder mehr Beschränkungen und weniger Freiheit geben werde. Das ist ein Dissens
innerhalb des Kabinetts. Dieses Signal finde ich verheerend.
({1})
Sie sollten sich dringend einmal intern darüber verständigen, was Sie nun wirklich wollen.
Ich bringe noch ein Beispiel: Das Gutachten der Monopolkommission sagt, dass wir einen sehr großen Bedarf
an Förderung von Wettbewerb - das ist von meinen Kollegen mehrfach gesagt worden - bei Post und Telekommunikation haben. Aber auch bei der Abfall- und Wasserwirtschaft sind Deregulierung und Privatisierung dringend
erforderlich. Ich unterstütze ausdrücklich - das hat auch
die Kollegin Hustedt eben gesagt - die von der FDP seit
langem geforderte Trennung von Netz und Betrieb bei
der Bahn AG . Es ist in der Tat dringend erforderlich, in
diesem Bereich weiterzukommen. Wir sehen doch, was
bei der Bahn passiert: Transparenz beim Preis- und Tarifsystem und die Servicebereitschaft nehmen doch immer
weiter ab. Die Kundenfreundlichkeit ist beschämend gering. Das beste Rezept dagegen ist die Schaffung von
mehr Wettbewerb.
({2})
Ein Thema ist in diesem Zusammenhang auch die Liberalisierung der Energiemärkte. Ich gehe einmal auf
die Energierechtsnovelle von 1998 ein. Es war die frühere
Bundesregierung unter Beteiligung der FDP, die die Voraussetzungen zur Liberalisierung und Deregulierung der
deutschen Energiemärkte geschaffen hat. Wir haben damit erstmals Monopolmärkte geknackt und im Gegenzug
Monopolrenditen abgeschafft. Wir waren nicht rundum
erfolgreich. Aber es war ein erster wichtiger Schritt in
diese Richtung.
Für die Verbraucher und insbesondere für die Wirtschaft als Sondertarifkunden hatte sich eine Kostenreduzierung von 7,5 Milliarden Euro ergeben. Das war ein hervorragender Erfolg. Inzwischen ist durch die zunehmende
Reregulierung durch das EEG und das KWK-Gesetz, von
Rot-Grün initiiert, dieser Milliardenvorteil schon fast
wieder verfrühstückt. Das ist sehr traurig.
({3})
Ich komme zu dem wirklich spannenden Punkt
Verbändevereinbarungen Strom I und II sowie Verbändevereinbarung Gas. Es ist eben gesagt worden, wir
bräuchten eine Regulierungsbehörde. Wir als FDP-Bundestagsfraktion sind ausdrücklich nicht dieser Meinung.
Wir setzen hier nicht auf staatliche Regulierung.
({4})
Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen einen zweiten Dissens zwischen ihnen und einem Minister darstellen. Bundeswirtschaftsminister Clement hat vorgestern bei der „Handelsblatt“-Tagung ausdrücklich gesagt, dass auch er sich
gegen eine Regulierungsbehörde in dem Bereich ausspricht. Vielleicht sollten Sie sich darüber einmal austauschen. Er hat ferner gesagt, er ziehe eine freiwillige Verbändevereinbarung vor.
Wir wollen - das ist der Knackpunkt, Frau Kollegin
Hustedt - die freiwillige Verbändevereinbarung mit einer
Stärkung des Kartellamts koppeln. Das heißt, dort muss
es mehr Personal geben. Dieses Personal muss in der Lage
sein, den Mangel an Wettbewerb zu beseitigen. Wenn Sie
diese Kombination ins Auge fassen, kommen Sie sehr
schnell zu dem Schluss, dass die freiwillige Vereinbarung
plus Kontrolle durch das Kartellamt ausreichen. Auf diese
Weise kann mehr Wettbewerb auf dem Markt geschaffen
werden. Unter dem Strich können wir dann sagen, dass
eine weitere Deregulierung und Liberalisierung zu mehr
Wettbewerb und damit zu mehr Chancen für Wirtschaft
und Verbraucher in unserem Land führen werden.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Ditmar Staffelt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich bin in einer etwas schwierigen Situation vor
dem Hintergrund der Tatsache, dass die Bundesregierung
ihre Stellungnahme zum 14. Hauptgutachten der Monopolkommission, wie angekündigt, erst im April/Mai vorlegen wird. Das heißt, ich sehe mich außerstande, zu den
einzelnen hier aufgeworfenen Fragen im Detail die Position der Bundesregierung wiederzugeben.
({0})
In einigen sehr sachlichen Beiträgen ist freundlicherweise
darauf hingewiesen worden, dass dieses Gutachten, für
das wir der Monopolkommission ausdrücklich danken,
sehr differenziert und sehr breit angelegt ist. Ich denke,
die Monopolkommission hat es verdient, dass die Bundesregierung dieses Gutachten wirklich durcharbeitet und
erst danach eine umfassende Stellungnahme abgibt und
ihre Position dazu vorträgt. Darüber werden wir dann im
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit und gegebenenfalls
auch hier im Plenum noch einmal gesondert diskutieren
müssen.
({1})
Meine Damen und Herren, eines steht sicherlich fest:
Da, wo wir weniger Staat benötigen, werden wir auf staatliche Regelungen verzichten. Der Kurs der Bundesregierung ist auf den Abbau von Bürokratie angelegt. Im
Übrigen möchte ich feststellen, weil einige ja immer behaupten, das sei alles nur an einer ganz bestimmten politischen Stelle gewachsen, dass Bürokratie über die letzten
Jahrzehnte überall im Lande fröhlich gewachsen ist, im
Norden wie im Süden, im Westen wie im Osten dieser Republik. Wir sind gehalten, sie in einer gemeinschaftlichen
Anstrengung überall, wo nur irgend möglich, abzubauen.
Wir brauchen also einen leistungsfähigen Ordnungsrahmen für alle Wirtschaftssektoren. Wir brauchen die
Offenheit für funktionierenden Wettbewerb. Das ist der
Ansatz der Bundesregierung. Ein solcher Ordnungsrahmen hat überragende Bedeutung für die Unternehmen und
für die Verbraucher. Nur ein solcher Ordnungsrahmen garantiert am Ende Wettbewerbsfähigkeit und damit auch
Sicherheit für Arbeitsplätze in Deutschland. Ein solcher
Ordnungsrahmen ist die Voraussetzung für eine funktionierende soziale Marktwirtschaft.
Ich sage hier ganz ausdrücklich: Aus der Sicht der
Bundesregierung heißt das nicht blinde Privatisierung. Es
heißt nicht die Verehrung des Wettbewerbs an sich. Es
geht nicht um den Abbau von staatlichem Schutz, wo er
erforderlich ist, sei es zugunsten der Umwelt, sei es zugunsten der Arbeitnehmer eines einzelnen Betriebes, und
nicht um die Auslieferung der Schwachen an die Starken.
Im Gegenteil, funktionierender Wettbewerb ist das natürliche Instrument zur Begrenzung privater Macht. Wo
Wettbewerb nicht funktionieren kann, bedarf es selbstverständlich intelligenter, flexibler staatlicher Rahmenbedingungen.
Die Bundesregierung hat in der vergangenen Wahlperiode auf diesem Felde einiges vorzuweisen. Auf das
Energiewirtschaftsgesetz, das wir erneut eingebracht haben, wurde bereits hingewiesen. In diesem Sinne werden
wir das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen,
das Grundgesetz der Marktwirtschaft, reformieren. Das
GWB diente zahlreichen ausländischen Staaten und dem
EWG-Vertrag als Vorbild. Heute müssen wir es dem unlängst reformierten Kartellverfahrensrecht der Europäischen Union anpassen und das werden wir tun.
Kartelle sind nach EU-Wettbewerbsrecht jetzt kraft
Gesetzes und ohne eine behördliche Entscheidung erlaubt, wenn ein Freistellungstatbestand erfüllt ist. Für die
Unternehmen bedeutet dies mehr Verantwortung, auf der
anderen Seite aber auch mehr Freiheit. Sie müssen selbst
sicherstellen, dass ihre Kooperationen kartellrechtskonform sind.
Nach Auffassung der Bundesregierung ist es gerade im
Interesse der deutschen mittelständischen Wirtschaft erforderlich, auch das GWB im Sinne des europäischen Modells zukunftsfähig zu machen. Noch in diesem Jahr
- Sie haben zu Recht darauf verwiesen - wird ein entsprechender Referentenentwurf vorgelegt werden.
Eine umfassende Reform ist auch im Recht des unlauteren Wettbewerbs geplant. Der Kollege Heil hat auf
das Dilemma des Falles C & A, das vor einigen Monaten
aktuell war, hingewiesen. Die Bundesregierung wird im
Lauterkeitsrecht noch wesentlich mehr tun. Sie setzt sich
auf europäischer Ebene für eine Harmonisierung dieses
Rechtsgebietes ein und erfüllt damit eine langjährige Forderung dieses Parlaments.
({2})
Ziel ist ein europäisches Lauterkeitsrecht, das sowohl die
Interessen der Unternehmen als auch die Interessen der
Verbraucher zu schützen in der Lage ist. Erfolg werden
wir aber nur haben, wenn wir unser UWG insgesamt so
reformieren, dass wir mit ihm in Europa für unsere Vorstellungen werben können. Dieser Gesetzentwurf wird
noch in diesem Monat vorgelegt werden.
Lassen Sie mich noch ein Beispiel anführen: das Telekommunikationsgesetz. Wir werden natürlich die entsprechenden EU-Richtlinien umsetzen und sind in unserer Politik zu folgenden Leitsätzen verpflichtet: zur
Optimierung und Konkretisierung des vorhandenen
Rechtsrahmens, zur Rückführung überflüssiger Regulierung und zur Optimierung der im Telekommunikationsgesetz definierten Rahmenbedingungen dergestalt, dass
sie der Entwicklung von Zukunftstechnologien Raum geben.
Hauptziel bleibt die Herstellung und Gewährleistung
eines funktionierenden Wettbewerbs auf den Telekommunikationsmärkten. Ich will hier ganz ausdrücklich feststellen, dass ich den Beschreibungen, die hier zum Teil im
Hinblick auf die Telekommunikationsmärkte abgegeben
worden sind, in keiner Form folgen kann.
({3})
Die Regulierungsbehörde hat gemeinsam mit der Bundesregierung sehr viel dafür getan, dass in diesem Lande zahlreiche kleine Unternehmen auf den Feldern der Telekommunikation eine Chance erhalten haben und sich als
Wettbewerber der großen Telekom entpuppt haben. Vergessen Sie das bitte nicht! Die Gründe dafür, dass Telekommunikationsunternehmen heute in eine Schieflage geraten sind, liegen nicht in der bestehenden Ordnungspolitik.
({4})
- Wir sind hier im Parlament, um gediegen und gepflegt
miteinander zu streiten und den bestmöglichen Lösungen
zum Durchbruch zu verhelfen.
({5})
Meine Damen und Herren, diese Tour d’Horizon zeigt:
Wir haben in der Wettbewerbspolitik auch in dieser Wahlperiode einiges vor. Ich möchte an dieser Stelle sagen,
dass ich, auch was die Energiepolitik betrifft, ganz d’accord mit der Auffassung bin, sich nicht auf Regulierungsbehörden zu konzentrieren.
({6})
An einer Stelle bin ich ganz entschieden anderer Auffassung als die Monopolkommission, und zwar, wenn sie
vorschlägt, über das ganze Land hinweg in allen leitungsgebundenen Bereichen mit Regulierungsbehörden zu
arbeiten. Nein, wir wollen ausdrücklich auch die Verantwortung der Unternehmen abrufen. Nur dann, wenn sich
herausstellen sollte, dass solche Unternehmen offensichtlich nicht bereit sind, diese Verantwortung zu übernehmen, würden wir mit einer Regulierungsbehörde arbeiten.
({7})
Ich finde, dass auch dies ein Teil politischen Handelns ist,
das sich sehr wohl und sehr gut in ein marktwirtschaftliches Gefüge einbinden lässt, dem wir uns als Bundesregierung ganz ausdrücklich verpflichtet fühlen.
({8})
Wir sehen sehr wohl - lassen Sie mich das als letzten
Gedanken sagen -, dass wir alle auf der Hut sein müssen,
um Konzentrationen dort, wo sie den Markt und den Wettbewerb beschädigen, zu vermeiden. - Im Übrigen müssen
Sie, Herr Schauerte, zugeben: Die Meinungen in Ihrer
Fraktion zu den von Ihnen angesprochenen Themen waren sehr unterschiedlich und sehr breit gefächert. - Wir sehen aber auch, dass wir einer europäischen Herausforderung gegenüberstehen, die bestimmte Fusionen und
Unternehmenskonzentrationen zur Grundlage für weiteres wirtschaftliches Bestehen am Markt macht. Dies ist
ein Spannungsfeld, mit dem wir uns auseinander setzen
müssen. Ich glaube, wir sind uns in Folgendem einig:
Diese Auseinandersetzung muss sich am Interesse der
Unternehmen, also an der Marktfähigkeit und an der
Wettbewerbsfähigkeit, daneben aber immer auch am Verbraucher orientieren.
In diesem Sinne bedanke ich mich.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Hinsken.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Viel Richtungweisendes wurde von den Vorrednern schon
gesagt. Am meisten konnte ich den von Kollegen
Schauerte und Frau Kollegin Kopp hier vorgetragenen
Ausführungen abgewinnen. Sie haben nämlich den Kern
der Sache getroffen,
({0})
was ich in Bezug auf die anderen nicht hinsichtlich aller
angesprochenen Bereiche sagen kann.
Wir behandeln heute das 744 Seiten starke 14. Hauptgutachten der Monopolkommission 2000/2001. Als wichtigste Erkenntnis aus diesem Monopolgutachten stelle ich
fest, dass die Monopolkommission der Bundesregierung
zu Recht ins Stammbuch geschrieben hat: Die Konzentrationsprozesse nehmen in allen Branchen zu. Die Großen werden immer größer und die Kleinen, also Mittelstand und Handwerk, verschwinden nach und nach.
Konkursverwalter haben Hochkonjunktur. Für das, was
hier zu Recht festgestellt wurde, gab die EU-Kommission
der Bundesregierung eine schallende Ohrfeige. Deutliche
Mängel bei der Wirtschaftspolitik, so lautet das vernichtende Urteil, Herr Kollege Stiegler.
({1})
Ich bedaure sehr, dass Sie heute nicht sprechen konnten,
aber Ihre Genossen werden schon wissen, warum Sie
heute nicht nochmals reden dürfen.
({2})
Das Statistische Bundesamt hat bekannt gegeben, dass
das Wirtschaftswachstum im vierten Quartal 2002 völlig zum Erliegen gekommen ist. Im gesamten Jahr ist die
Wirtschaft nur um 0,2 Prozent gewachsen.
({3})
Das ist der niedrigste Wert seit 1993, also seit zehn Jahren, verehrter Kollege Stiegler.
Dass dieses geringe Wachstum nicht noch schlechter
ist, liegt ausschließlich daran, dass der Export noch mit
1,5 Prozent Zuwachs läuft; die Binnenkonjunktur liegt im
Argen. Diese Zahlen sind ein Schlag ins Gesicht der Bundesregierung, die seit Jahr und Tag durch die Lande zieht
und den Bürgern den Bären aufbinden will, unsere
schwierige Lage sei rein weltwirtschaftlich bedingt.
({4})
- Herr Kollege Stiegler, Ihnen empfehle ich, einmal genau aufzupassen, um Zusammenhänge zu kapieren, sie
dann auch global herüberzubringen und mit fundierten
Zahlen Rede und Antwort stehen zu können. Anderenfalls
muss ich Sie genauso falscher Zahlen bezichtigen, wie ich
das bei meiner letzten Rede vor drei Wochen bei der Einbringung des Haushalts bereits tun musste.
({5})
Meine Damen und Herren, es ist nicht von der Hand zu
weisen, dass die wichtigste Ursache für die Wachstumsschwäche eine falsche Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ist. Sie hat zu diesem katastrophalen Ergebnis geführt, dass wir zurzeit vier Millionen Arbeitslose zu
verzeichnen haben.
({6})
Die SPD und die Grünen, die sich im Würgegriff der
Gewerkschaften befinden, hatten leider nur die großen
Unternehmen im Blick. Die so genannte Jahrhundertsteuerreform von Hans Eichel hat die Großen noch reicher gemacht und dem Mittelstand alle Lasten aufgebürdet. Ich
verweise auch hier auf das Monopolgutachten. Darin
kann man nämlich lesen, dass die hundert größten Unternehmen in Deutschland im Jahr 2000 eine Wertschöpfung
von 274 Milliarden Euro aufweisen; das ist gegenüber
1998 eine Steigerung von 11,58 Prozent.
({7})
Die Wertschöpfung aller Unternehmen erhöhte sich dagegen nur um 4,19 Prozent. Der Anteil der hundert größten
Unternehmen an der Wertschöpfung aller Unternehmen in
der Bundesrepublik Deutschland überschritt somit erstmals ein Fünftel und lag bei 20,01 Prozent. 1998 waren es
noch 18,6 Prozent. Wenn solche Zahlen nicht zur Beunruhigung Anlass geben, dann weiß ich es wirklich nicht.
Wir sollten uns der Sache wegen mit diesem Monopolgutachten intensiv auseinander setzen und die notwendigen Schlüsse ziehen.
Niemand will die Großunternehmen, die für den Standort Deutschland unverzichtbar sind, benachteiligen. Der
Staat darf deren Wachstum aber nicht auf Kosten des Mittelstandes beschleunigen; denn sonst lässt sich die Arbeitslosigkeit nicht abbauen.
Herr Kollege Hinsken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?
Ja, selbstverständlich. Bitte schön.
Herr Kollege Hinsken, meine Frage geht in folgende
Richtung: Wenn ich es richtig sehe, werfen Sie uns vor,
wir nähmen das Monopolgutachten nicht ernst. Wir haben
vorhin deutlich gemacht, dass wir es in vielen Bereichen
sehr ernst nehmen. Aber geben Sie mir Recht, dass man
nicht immer alles genauso sehen muss wie die Monopolkommission? Wenn das nämlich so wäre, dann müssten
Sie, die Sie das 13. Gutachten gelesen haben, beispielsweise die Liberalisierung der Handwerksordnung
fordern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das wollen.
Ich komme auf die Handwerksordnung selbstverständlich noch zu sprechen. Das habe ich mir fest vorgenommen. Es muss Ihnen aber zu denken geben, wenn im Monopolgutachten steht, dass die Bundesregierung eine
Politik nur für die großen und nicht für die kleinen und die
mittleren Betriebe gemacht hat. Lesen Sie das einmal genau nach!
Ich darf bei dieser Gelegenheit darauf verweisen, dass
nur über eine Förderung des Mittelstandes und der kleinen Betriebe Arbeitsplätze geschaffen werden können.
Es kann doch nicht von der Hand gewiesen werden, dass
allein von 1980 bis 2000 hier in der Bundesrepublik
Deutschland über 1 Million Stellen in der Großwirtschaft
abgebaut wurden, während im Mittelstand über 2,9 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen worden sind. Das
steht auch im Gutachten.
({0})
Deshalb meine ich sagen zu müssen, dass hier vieles getan werden muss.
Frau Präsidentin, der Kollege hat mich gefragt. Nun
setzt er sich nieder und Sie lassen einfach die Uhr weiter
laufen. Da kann ich doch keine Frage mehr zulassen.
({1})
- Ich bin noch dabei, die Frage zu beantworten.
({2})
Ich bitte um Verständnis dafür.
({3})
Lieber Herr Kollege, ich habe die Frage als beantwortet angesehen, der Kollege auch. Es ist vielleicht auch im
Interesse aller, heute Abend einmal die Redezeiten einzuhalten. Wir sind schon weit über eine Stunde über die geplante Zeit hinaus. Ich bitte um Verständnis.
Ich gehe davon aus, dass viele Kolleginnen und Kollegen, die heute Abend hier sitzen, das Monopolgutachten
nicht einmal quer gelesen haben. Zu denen gehört sicherlich auch der Kollege Stiegler.
({0})
Ansonsten hätte er zur Kenntnis nehmen müssen, dass die
100 größten Unternehmen im Jahr 2000 circa 3,8 Millionen Mitarbeiter beschäftigt haben, wobei es zwei Jahre
vorher noch 40 000 mehr waren. Das Hauptgutachten
weist auch aus, dass die nach Beschäftigen zehn größten
Unternehmen im Jahr 2000 die folgenden waren: Deutsche Post mit 270 000, Deutsche Bahn mit 220 000, Daimler-Chrysler mit 202 000, Siemens mit 180 000, Deutsche
Telekom mit 179 000, Volkswagen mit 164 000, Metro mit
114 000, RWE mit 109 000, Thyssen-Krupp mit 107 000
und Karstadt-Quelle mit 104 000 Beschäftigten. Das sind
1,65 Millionen Arbeitsplätze.
Meine Damen und Herren, Ihnen ist ins Stammbuch zu
schreiben: Wenn der Bundeskanzler oder führende Leute
Ihrer Regierung nur rennen, wenn Firmen wie Holzmann,
Babcock oder Mobilcom in Schwierigkeiten kommen,
dann ist das falsche Politik. Man muss auch den Inhaber
eines kleinen oder mittleren Betriebes mit seinen Sorgen
und Nöten sehen und ihn in die Lage versetzen, weiterhin
existieren zu können.
({1})
Wenn die 5 000 Großunternehmen in der Bundesrepublik Deutschland jeweils 100 Arbeitsplätze neu schaffen,
dann steht das in jeder Zeitung, wie sie auch heißt. Wenn
aber von den 3 Millionen Kleinunternehmern, die wir haben, nur die Hälfte in die Lage versetzt werden würde, jeweils einen einzigen Arbeitsplatz zu schaffen, dann ergäben sich nicht, wie im Beispiel mit den Großunternehmen,
500 000 zusätzliche Arbeitsplätze, sondern 1,5 Millionen
neue Arbeitsplätze.
({2})
Darum meine ich, dass es nötig ist, gerade denen besonders das Wort zu reden. Ich darf deshalb nochmals darauf
verweisen, dass es meines Erachtens ein Irrweg ist, wenn die
Monopolkommission - jetzt komme ich zu Ihrer Frage - einer Abschaffung des großen Befähigungsnachweises im
Handwerk das Wort redet. So kommen wir wirtschaftlich
gesehen in Deutschland nicht voran.
Wenn Sie von Rot-Grün meinen, durch die Abschaffung des Meisterbriefes zu Mehrbeschäftigung zu kommen, dann irren Sie sich.
({3})
- Aber sicher. Lesen Sie einmal die Koalitionsvereinbarung durch! ({4})
Beschäftigung entsteht nur, wenn die Rahmenbedingungen bei Steuern und Abgaben, wenn Aufträge und Inves1544
titionen für die Unternehmen stimmen, und nicht, wenn
der Meisterbrief wegfällt.
({5})
Ein Wegfall des Meisterbriefes führt zu Qualitätseinbußen und zu einem erheblichen Nachlassen der Ausbildungsleistung. Daran kann doch nun wirklich niemand
Interesse haben.
({6})
Darum möchte ich das, was in diesem Monopolgutachten steht, zurückweisen. Fortentwicklung der Handwerksordnung? - Ja. Modernisieren? - Ebenfalls ja. Eine
derartige Behandlung des Ganzen aber bedeutete, das
Kind mit dem Bade auszuschütten. Das wäre ein völlig
falscher Weg.
({7})
Deshalb meine ich, dass es gilt, alles zu tun und die
Grundlage dafür zu schaffen - ob das die Eigenkapitalausstattung ist, ob das die Betriebsnachfolge ist oder ob
das verschiedene andere Dinge sind, die auf den Nägeln
brennen -, dass, wie es in diesem Monopolgutachten
angemahnt wird, eine bessere Aussage bezüglich der
Erwartungshaltung an die Zukunft gemacht werden
kann.
Herr Kollege, das war ein schöner Schlusssatz.
Ja. - Wir ziehen die notwendigen Schlüsse aus diesem
Monopolgutachten. Wir nehmen uns das, was wir für richtig empfinden, auch gerne zu Herzen und sind bereit, dies
in die parlamentarische Diskussion einzubringen. Wir
hoffen und setzen auf die Vernunft, die anscheinend auf
der linken Seite dieses Hauses leider noch nicht vorhanden ist.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell
wird die Überweisung der Vorlagen auf Drucksache
14/9903 und 14/9904 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
Hier: TA-Projekt: Tourismus in Großschutzgebieten - Wechselwirkungen und Kooperationsmöglichkeiten zwischen Naturschutz und regionalem Tourismus - Drucksache 14/9952 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir auch so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Schön, dass Sie hier sind - wir haben noch einen wichtigen Tagesordnungspunkt abzuarbeiten.
Der vorliegende Bericht zum Thema Tourismus in
Großschutzgebieten wurde von der SPD-Fraktion im Tourismusausschuss in der letzen Legislaturperiode auf den
Weg gebracht. Ich bedanke mich bei den Verfassern für
ihre aufschlussreichen Arbeitsergebnisse. Der Bericht
gibt uns nicht nur eine umfassende Sachstandsbeschreibung, sondern zeigt auch konkrete Handlungsstrategien
auf.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Dimension, über
die wir hier reden, uns allen eigentlich deutlich ist. Oder
wussten Sie, dass die deutschen Großschutzgebiete - das
sind Nationalparke, Naturparke und Biosphärenreservate zusammen eine Fläche von fast 9 Millionen Hektar und
damit etwa ein Viertel der Gesamtfläche der Bundesrepublik einnehmen? Das hohe Ansehen der Großschutzgebiete in der deutschen Öffentlichkeit bildet eine gute
Grundlage für die sensible Erschließung durch den Tourismus. Laut einer Befragung des WWF halten 95 Prozent
der Bevölkerung die Einrichtung von Schutzgebieten für
wichtig, 70 Prozent sprechen sich sogar für eine Ausweitung der geschützten Fläche aus. Im Reiseverhalten
schlägt sich das positive Image ebenfalls nieder: 72 Prozent der Bundesbürger legen bei der Wahl ihres Urlaubszieles wert auf konsequenten Naturschutz in der
Zielregion.
Folgerichtig haben sich die erschlossenen Schutzgebiete inzwischen zu Publikumsmagneten entwickelt.
Bereits Mitte der 90er-Jahre fanden, wenn man den Städtetourismus ausklammert, rund 80 Prozent aller Übernachtungen in Deutschland in oder am Rande dieser Gebiete statt. Millionen von Menschen strömen jedes Jahr in
die Parke und Reservate. So verzeichnete der Nationalpark
Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer - darüber bin ich
als Schleswig-Holsteinerin besonders glücklich - Ende
der 90er-Jahre mehr als 15 Millionen Übernachtungen.
({0})
Die beiden Nationalparke des Harzes wurden von über
20 Millionen Tagesgästen besucht. Mehr als die Hälfte der
Verantwortlichen der Schutzgebiete gaben an, dass der
Übernachtungstourismus bei ihnen von großer Wichtigkeit sei. Vom Tagesausflugsverkehr sagten das sogar
85 Prozent.
Eine Erkenntnis ist inzwischen unumstritten: Der Tourismus profitiert von der Attraktivität einer intakten Naturlandschaft.
({1})
Deshalb sollten die touristisch bislang noch nicht in dem
Maße erschlossenen Großschutzgebiete als wirtschaftliche Chance begriffen und natürlich auch genutzt werden.
Wie müssen unsere Strategien zur Förderung des
Tourismus aussehen? - Was wir brauchen, sind Strategien, die tragfähig und zukunftsweisend sind; denn Naturschutz und Tourismus sind zwei Komponenten, die aus
sich heraus nicht leicht miteinander in Einklang zu bringen sind.
In der Vergangenheit wurden durch einseitige Gewichtung schwerste Fehler begangen. Wirtschaftliche Interessen rangierten ganz klar vor Naturschutzbelangen. Durch
den Massentourismus des aufblühenden Wirtschaftswunderlandes Deutschland und seiner europäischen Nachbarn
wurden nicht nur in den südlichen Ländern Europas, sondern auch hier bei uns in Deutschland katastrophale Fehlentscheidungen getroffen, die zur Folge hatten, dass Naturräume rücksichtslos und unwiederbringlich zerstört
wurden. Wir müssen nicht erst an die Küsten Italiens oder
Spaniens fahren - ich denke auch an die Ferieninsel Mallorca -, um die Auswirkungen zu sehen. Bei uns in
Deutschland wurden ganze Hänge des damals westdeutschen Harzes und der Alpen dem Massentourismus geopfert. Auch an Nord- und Ostsee stößt man auf Sünden eines einseitig ausgelegten Tourismusverständnisses.
Zum Glück haben sich die Einstellungen zum Naturschutz und auch das Freizeit- und Urlaubsverhalten der
Menschen in den letzten Jahren verändert. Zwar streben
noch immer viele Menschen Mallorca-Urlaub mit Ballermann-Romantik an, die Zahl der Urlauber, die Erholung in intakter Natur wünschen, wächst jedoch beständig,
({2})
wie wir am Beispiel der Großschutzgebiete Wattenmeer
und Harz, den Rennern unter den Großschutzgebieten, erkennen können. Hier liegt die große Chance, Ökologie
und Ökonomie im Tourismus zusammenzubringen. Was
wir brauchen, meine Damen und Herren, ist ein auf Nachhaltigkeit ausgerichteter Tourismus, ein Tourismus mit
Konzepten, die Naturräume nicht als störende und profitmindernde Drangsal begreifen.
({3})
Die touristische Nutzung von Naturräumen erfordert
grundlegende verkehrspolitische Weichenstellungen.
Denn wie gelangen wir in die Erholungsparadiese? Die
Bewältigung der Verkehrsprobleme, die sich aus touristischen Wachstumsraten in diesen Gebieten ergeben, stellen alle Akteure oft vor geradezu unlösbare Probleme.
Wir setzen auf die umweltverträglicheren, auf die öffentlichen Verkehrsträger. Vor allem die Bahn ist gefordert, akzeptable Strategien für Touristen zu erarbeiten, die
zum Beispiel auch dem Fahrradurlauber einen angemessenen Platz bieten.
({4})
Der Rückzug der öffentlichen Verkehrsmittel aus den
ländlichen Räumen muss gestoppt werden, damit sich
Tourismus gerade dort entfalten kann.
({5})
Die Chancen für die regionale Wirtschaftsentwicklung,
die sich durch die Großschutzgebieten mit ihrer intakten
Natur bieten, müssen in Deutschland weiter ausgebaut
werden. Dieser Schritt ist vor allem auch aus arbeitsmarktpolitischen Überlegungen unverzichtbar; denn gerade im Dienstleistungsbereich können neue Arbeitsplätze geschaffen werden, die ländlichen Räumen mit
hohen Arbeitslosenzahlen zugute kommen.
Wir setzen uns dafür ein, dass auch in Zukunft ausreichende Fördermittel zur Schaffung neuer Arbeitsplätze
in die Schutzgebietsregionen fließen. Durch ihren Bekanntheitsgrad und ihre Anziehungskraft eröffnen die
Schutzgebiete für Kommunen und Regionen die Möglichkeit, sich im nationalen, aber vor allem auch im internationalen Wettbewerb als unverwechselbares Reiseziel
zu präsentieren. Schutzgebiete sind keine isolierten Inseln, sondern immer auch in die Region eingebettet. Damit die umliegenden Gemeinden und die Regionen von
ihren geschützten Arealen stärker als bisher profitieren
können, sind künftig eine verstärkte Vernetzung zwischen
touristischen Angeboten, Marketing und Akteuren in und
außerhalb des jeweiligen Schutzgebietes sowie eine kontinuierliche Beteiligung aller Betroffenen unverzichtbar.
Von großer Bedeutung für den nachhaltigen Tourismus
ist das neue Umweltmarkenzeichen Viabono, das auf
Initiative der SPD-Bundestagsfraktion im Jahre 2001 eingeführt wurde. Dafür gilt an dieser Stelle mein Dank.
({6})
Es dient nicht nur der Förderung des umweltfreundlichen
Reisens, sondern auch der Vereinheitlichung des noch
unübersichtlichen Marktes der Ökosiegel. Für die Großschutzgebiete, die die Kriterien des Markenzeichens erfüllen, wurde auf den Seiten der Deutschen Zentrale für
Tourismus eine gemeinsame Vermarktungsplattform geschaffen. Auch das ist übrigens auf die Initiative der SPD
zurückzuführen.
({7})
Es ist unbestreitbar, dass wir in Deutschland wirtschaftliches Wachstum brauchen.
({8})
Durch den vorliegenden Bericht wird deutlich, dass die
Potenziale des Tourismus als wichtiger Wirtschaftsfaktor
in und um Großschutzgebiete noch lange nicht ausgeschöpft sind.
Was also ist zu tun?
({9})
Eine bundesweite Vernetzung und gemeinsame Vermarktung der Schutzgebiete stärkt ihre Chancen auf dem internationalen Markt. Wir werden uns deshalb dafür einsetzen, dass die Netzwerkbildung vorangetrieben wird.
({10})
Die Großschutzgebiete übernehmen eine Vorreiterrolle
für den nachhaltigen Umbau der Reisebranche. Die Erfahrungen, die dort gesammelt werden, müssen deshalb
sorgfältig ausgewertet und den Akteuren des Fremdenverkehrs zur Verfügung gestellt werden.
({11})
Naturverträglicher Tourismus schließt eine umweltschonende Verkehrsinfrastruktur ein. Hier sind die SPD-Fraktion und die Regierung mit ihrem Bekenntnis zur Verkehrswende auf dem richtigen Weg.
({12})
Rot-Grün steht auch in den kommenden Jahren für
den Umbau hin zu einer Gesellschaft, die den Schutz
unserer Lebensgrundlagen und den Schutz einer sozialen Gesellschaft zum Ziel hat. Dieses Ziel werden wir
auch in unserer Tourismuspolitik stets fest im Auge behalten.
Übrigens: Nichts spricht dagegen, dass sich auch die
Opposition dieser sinnvollen Zielsetzung anschließt.
Vielen Dank.
({13})
Ich bekomme gerade signalisiert, dass dies die erste
Rede der Kollegin war. Ist das richtig?
({0})
- Das war eine Information aus Ihren Reihen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem Auftrag zur Erstellung des vorliegenden Berichtes haben wir als Tourismusausschuss des Deutschen
Bundestag in der 14. Legislaturperiode ein Thema weiterbearbeitet, welches in den nächsten Jahren zunehmend an
Bedeutung gewinnen wird. Der heute diskutierte Bericht
war nicht der erste und - das kann ich Ihnen versichern wird auch nicht der letzte sein, der sich mit dem Thema
beschäftigt.
({0})
Der Nationalparkgedanke ist weit über 100 Jahre alt
und dennoch aktuell und attraktiv wie nie zuvor. In den
USA ins Leben gerufen, gab es auch in Deutschland, wie
in meiner Heimat, dem Elbsandsteingebirge, in den 30erJahren des letzten Jahrhunderts erste Überlegungen, diesen einzigartigen Landschaftsraum mit seiner charakteristischen Tier- und Pflanzenwelt zu einem Nationalpark zu
erklären. Leider hat der Zweite Weltkrieg verhindert, dass
dieser Gedanke in die Realität umgesetzt werden konnte.
Nach Ende des Krieges und der Teilung unseres Vaterlandes gab es in den 50er-Jahren erneut Bestrebungen, das
Elbsandsteingebirge zum Nationalpark zu erklären. Jedoch war der Begriff „national“ den SED-Ideologen ein
Dorn im Auge. Deshalb wurde das Projekt „Landschaftsschutzgebiete in Mitteldeutschland“ initiiert.
Mit der deutschen Einheit kamen dann zu den bestehenden fünf westdeutschen Nationalparks fünf weitere in
den neuen Bundesländern sowie eine Vielzahl von Naturparks und anderen Großschutzgebieten hinzu. Nicht umsonst sprach Klaus Töpfer vom Tafelsilber der deutschen
Wiedervereinigung und meinte die Nationalparks, Städte
und Kulturvielfalt im größer gewordenen Deutschland.
Diese Aussage galt vor 13 Jahren und sie hat auch noch
heute ihre Gültigkeit.
Durch die Nationalparks sind wichtige Grundlagen für
die nachhaltige touristische Entwicklung in ganz
Deutschland gelegt worden. Naturerlebnis wird ein immer wichtigeres Reisemotiv und deshalb ist eine verstärkte touristische Nutzung und Vermarktung von Nationalparks eine große Chance für den Tourismusstandort
Deutschland. Das Forschungsinstitut BAT hat vor einiger
Zeit ermittelt, welche Gründe den Urlauber animieren,
eine Reise anzutreten. Und siehe da! Immerhin 71 Prozent - das ist in den Angaben der führende Platz - verweisen auf schöne Landschaften.
Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der
erste deutsche Nationalpark im Jahre 1970 im Bayerischen Wald vom bayerischen CSU-Ministerpräsidenten
Dr. Alfons Goppel und seinem Landwirtschaftsminister
Dr. Hans Eisenmann und als Folge der zweite im Berchtesgadener Land gegründet wurden. Kein Geringerer als
der heutige bayerische Ministerpräsident Dr. Edmund
Stoiber hat den Mut gehabt, den Nationalpark Bayerischer
Wald - unser Kollege Ernst Hinsken hat dort seinen Wahlkreis - gegen den Widerstand vieler lokaler Kritiker
flächenmäßig erheblich zu vergrößern.
({1})
- Ich wusste nicht, dass der Kollege Stiegler seinen Wahlkreis ebenfalls im Bayerischen Wald hat.
Sie sehen: Umwelt, Natur und Landschaftsschutz waren bei CDU und CSU schon lange in guten Händen, und
zwar bevor ideologisch geprägte Umweltdebatten stattfanden. Bei uns in Sachsen steht die Staatsregierung zu
ihrem Nationalpark. Allein in diesem Jahr sind 20 Ranger
von der Forstverwaltung für die neuen Aufgaben der Besucherführung, Information und Landschaftspflege freigestellt worden. Mit der richtigen Landesregierung kann
auch der Osten Deutschlands Vorreiter sein.
Ich habe mich ganz besonders gefreut, dass Frau
Staatssekretärin Probst - auch jetzt ist sie anwesend persönlich mit mir und vielen anderen im vergangenen
Jahr bei einer Veranstaltung des Nationalparks zugegen
war und dadurch auch ihrem Einsatz für die Bewahrung
des Elbflusslaufes in meiner Heimat, der Sächsischen
und der Böhmischen Schweiz, Nachdruck verliehen hat.
Dafür möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken.
({2})
Das sowohl für den nationalen wie für den internationalen Markt touristische Vermarktungspotenzial hat auf
Initiative der CDU/CSU-Fraktion nun auch die Deutsche
Zentrale für Tourismus erkannt und bezieht dies in ihre
Publikationen ein. Das ist der richtige Weg. Warum sollen
wir nicht mit Pfunden wuchern, die uns die Natur geschenkt hat? Trotz dieser positiven Entwicklung gibt es
allerdings Defizite, die die Politik in den nächsten Jahren
beherzt angehen muss.
In der Bundesrepublik Deutschland haben wir in der
Zuständigkeit für Nationalparks und Großschutzgebiete
eine Besonderheit. Die Zuständigkeit liegt nicht beim
Bund, sondern bei den Ländern. Damit nehmen wir weltweit eine Sonderstellung ein. So hat zum Beispiel unser
Nachbar Österreich trotz seines ebenfalls föderalen Aufbaus die Dachmarke „Nationalparks Austria“ ins Leben
gerufen, die vom Bund finanziert und zentral beworben
wird. Daran könnten wir anknüpfen. Ich habe ein Exemplar der Broschüre mitgebracht.
Ich würde mich freuen, wenn die Kollegen, vor allem
der SPD und der Grünen, unseren Antrag, den wir in einer
der nächsten Sitzungen einbringen werden und in dem es
um die Erhöhung der Mittel für die Deutsche Zentrale für
Tourismus geht, unterstützen würden, damit auch solche
intelligenten Projekte zur Vermarktung des Wirtschaftsstandorts Deutschland gefördert werden können.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der festen
Überzeugung, dass wir zur Stärkung der Nationalparks
eine Nationalparkstiftung gründen sollten, in der sich
Bund, Länder und Parks organisatorisch neu ausrichten.
Eine einheitliche Ausbildung und Ausstattung des Personals, eine gemeinsame nationale und internationale Vermarktung, die Entwicklung eines gemeinsamen touristischen Leitbildes und eine gemeinsam abgestimmte
Investitionsplanung sollten meiner Auffassung nach die
Zukunft des Nationalparkgedankens bestimmen. Dann
können wir den Naturschutzgedanken besser im Bewusstsein unserer Bevölkerung verankern und gleichzeitig den
Tourismusstandort Deutschland stärken. Lassen Sie uns
hierfür gemeinsame Anstrengungen unternehmen!
Vielen Dank.
({4})
Jetzt hat eine Abgeordnete zu Ihrer ersten Rede das
Wort, nämlich die Abgeordnete Undine Kurth.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zu dieser zugegebenermaßen etwas späten
Stunde und in einem doch ziemlich intimen Kreis möchte
ich zuerst, auch im Namen meiner Fraktion, den Autoren
dieses Berichts danken, weil sie uns konkrete Aussagen zu
dem liefern, was wir alle, zumindest diejenigen, die sich
intensiver mit diesem Thema befassen, schon lange vermutet haben.
Der Umfang der Nutzung touristischer Angebote im
Zusammenhang mit Großschutzgebieten, also Nationalparken, Biosphärenreservaten und Naturparken, ist bereits jetzt beachtlich und liefert einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Schutz der Natur auf der einen
Seite, aber auch zur Stärkung des Binnentourismus auf
der anderen Seite. Den Kommunen und Regionen bietet
sich die Chance, sich im Wettbewerb als unverwechselbare Destination für spezifische Zielgruppen attraktiv zu
positionieren und damit Grundlagen für eine solide wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen.
Wichtig ist uns auch der Aspekt, dass der Tourismus in
Großschutzgebieten eine Alternative zu flächen- und infrastrukturintensiven Freizeitnutzungen, zum Beispiel
Freizeitparks, darstellt. Das ist angesichts des fortschreitenden Flächenverbrauchs in unserem Land, den wir alle
zu Recht wahrnehmen und mit Sorge sehen, von nicht zu
unterschätzender Bedeutung.
({0})
Um die genannten positiven Effekte zu erreichen,
müssen Tourismus und Naturschutz allerdings eine Partnerschaft eingehen. Die Perspektive einer solchen produktiven Partnerschaft gründet auf der Möglichkeit so
genannter Win-win-Effekte, um es auf Neudeutsch zu
sagen. Man kann es auch viel simpler ausdrücken: Es
müssen schlicht beide etwas davon haben; der Naturschutz auf der einen Seite, die Tourismuswirtschaft auf
der anderen Seite.
Diese Effekte ergeben sich nicht von selbst. Ein Interessenausgleich kann nur durch sorgfältige Planung, die
Einbeziehung aller Betroffenen und durch flankierende
Maßnahmen erreicht werden.
({1})
Es wird sich aber mit Sicherheit lohnen - davon sind
wir fest überzeugt -, die Praxis eines Zusammenwirkens
von Tourismus, Naturschutz und Regionalentwicklung im
Kontext von Großschutzgebieten als ein sowohl ökolo1548
gisch als auch ökonomisch attraktives Konzept weiterzuverfolgen und auszubauen.
({2})
Die vorliegende TAB-Studie bestärkt uns in dieser Haltung.
Lassen Sie mich ein Beispiel anführen: Für den Nationalpark Bayerischer Wald hat der von der Kommission in
Brüssel herausgegebene „Euro-Brief“ für Ende der 90erJahre eine tourismusinduzierte wirtschaftliche Wertschöpfung von immerhin 4 460 DM je Hektar und Jahr errechnet. Das ist eine beachtliche Zahl, die man manchen
immer wieder vorhalten sollte. Hinter dem Tourismus in
oder mit Großschutzgebieten steht also ein nennenswerter
wirtschaftlicher Wert, und zwar bundesweit wie auch
weltweit.
({3})
Bedacht werden muss dabei in jedem Fall, dass die
Verbindung zwischen Naturschutz und Tourismus sowohl
durch gegensätzliche als auch durch übereinstimmende
Interessen gekennzeichnet ist. So profitiert der Tourismus
zwar einerseits von der intakten Natur; andererseits kann
er aber durch einen unbedachten Umgang mit dieser intakten Natur seine eigenen Grundlagen zerstören.
Leider gilt der Naturschutz - das ist immer noch so und
stellt keine ideologische Sichtweise dar - als vermeintliche Bremse für eine touristische Entwicklung; andererseits soll er aber die für den Tourismus so wichtigen intakten landschaftsbezogenen Grundlagen sichern. Hier
kann man eigentlich nur von angewandtem Spaltungsirresein reden. Man muss in jedem Fall beide Aspekte
gleichzeitig beachten.
Für die Lösung dieser Konflikte ist die Akzeptanz
durch die lokale Bevölkerung wesentlich, die zumeist
von Nutzungseinschränkungen am ehesten und unmittelbar betroffen ist. Es gelingt zwar immer besser, Gäste,
Touristen und Ausflügler in die naturgeschützte Region zu
holen. Aber wir müssen wesentlich mehr Anstrengungen
darauf verwenden, bei der Bevölkerung vor Ort Akzeptanz zu wecken.
({4})
Die Kunst besteht also darin, die vor Ort lebenden
Menschen für die Naturschutzidee zu gewinnen. Bei Planung, Erweiterung und Veränderungen von Naturschutzgebieten, die auch zu Veränderungen im unmittelbaren
Umfeld der betroffenen Bevölkerung führen, muss diese
einbezogen, frühzeitig informiert und nach ihrer Meinung
gefragt werden. Ansonsten fühlen sich diese Menschen
wie Besucher. Sie sind dann auf dem gleichen Informationsstand wie Gäste, was verständlicherweise zu Unbehagen führt.
In der Wirtschaft gibt es viele hochinteressante Monitoringprogramme, um Vertreter gegensätzlicher Interessenlagen miteinander ins Gespräch zu bringen und zwischen ihnen einen Ausgleich herzustellen. Wir sollten sehr
darauf drängen, dass Monitoring auch hier systematisch
eingesetzt wird, damit man dort zu besseren Ergebnissen
kommt.
({5})
Aufgeräumt werden muss mit dem Irrglauben, dass
Nationalparke und Biosphärenreservate oder sogar Naturparke nur mit Einschränkungen und Verboten verbunden
seien. Bei Beachtung aller Dimensionen des Tourismus in
Großschutzgebieten kann die ganze Region, wie wir alle
wissen, nachweislich von dieser Verbindung profitieren.
Es entstehen neue Wirtschaftszweige, alte Wirtschaftszweige werden wiederbelebt. Es gibt viele Effekte, die die
Region voranbringen.
Mit bislang 13 Gebieten - ich hoffe, dass es mehr werden - sind Nationalparke in unserem Land ein knappes
wirtschaftliches Gut. 95 Prozent der deutschen Bevölkerung - das wurde vorhin schon erwähnt - halten die Einrichtung von National- und Naturparken für richtig.
70 Prozent meinen, es sollten sogar noch mehr Flächen
unter Naturschutz gestellt werden. Das können nicht nur
grüne Wählerinnen und Wähler sein; das muss darüber
hinausgehen. Hier sollten sich in den Ländern noch mehr
parteienübergreifende Bündnisse für die Einrichtung von
Großschutzgebieten bilden. Das ist ein wunderbares Angebot für eine gute Zusammenarbeit auf diesem Gebiet,
die in unser aller Interesse liegen muss.
({6})
- Ich sagte, dass wir Naturparke auf den Weg bringen wollen.
Es war eine gute Entscheidung, dass auf Initiative meiner Fraktion das TA-Projekt „Tourismus in Großschutzgebieten“ beschlossen wurde; denn der vorgelegte Endbericht zeigt auf, dass die Konflikte zwischen Naturschutz
und Tourismus zum Nutzen für beide Seiten gestaltbar
sind. Wenn wir diese berücksichtigen, werden wir auf diesem Gebiet auch zu guten Ergebnissen kommen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer erste Rede in diesem Hohen Haus.
({0})
Seine erste Rede hält jetzt auch der Abgeordnete
Jürgen Klimke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben jetzt vieles zu dem Bericht gehört, insbesondere von
Rot-Grün. Meine lieben Kolleginnen, der Worte habe ich
viele gehört, allein mir fehlt der Glaube. Lasst jetzt Taten
Undine Kurth ({0})
folgen! Wir wollen jetzt den Bericht nicht lange prüfen,
wir wollen nicht fordern und nicht appellieren, sondern
wir müssen die Chancen aufgreifen, die uns dieser Bericht
gibt. Es geht darum - das ist hier gesagt worden -, zwei
Komponenten miteinander zu verbinden: wirtschaftliches
Wachstum und Naturbewusstsein.
({1})
Meine Damen und Herren, wir sollten die Konsequenzen rasch ziehen und nicht so lange warten, wie die Erstellung des Berichts gedauert hat, nämlich drei Jahre.
Wenn wir rasch Konsequenzen ziehen, werden Sie uns an
Ihrer Seite haben. Schließlich sind wir schon seit langem
an der Seite der Natur: CDU und CSU als Gralshüter der
Natur, als diejenigen, die der Bundesrepublik den grünen
Daumen gebracht haben!
({2})
Wir haben hierfür zwei Beispiele gehört. 1985 wurde
der Nationalpark Wattenmeer von der CDU-Regierung in
Schleswig-Holstein initiiert. Der Nationalpark Bayerischer Wald wurde 1970 ins Leben gerufen. Zu dieser Zeit
wusste die SPD noch nicht einmal, wie man Naturschutz
schreibt. Der Naturbezug der Grünen bestand im Steinewerfen.
({3})
Meine Damen und Herren, nachhaltiger Tourismus
wird also schon sehr lange und nicht erst seit Rot-Grün
praktiziert - das muss man noch einmal betonen -,
({4})
weil wir schon frühzeitig erkannt haben, dass er das notwendige Vitamin B für strukturschwache Regionen ist,
um wirtschaftliche Prosperität zu stärken und die regionale Kultur und Identität zu schützen. Es geht also um die
friedliche Koexistenz von Krabbenfischer und Wattwurm,
von Almbauer und Alpenveilchen.
Wir wissen, dass der Bericht - auch das ist schon gesagt worden - das Rad nicht neu erfindet und dass Juist
und Amrum nicht erst seit Rot-Grün autofrei sind. Wir
wissen auch, dass das Konzept des nachhaltigen Tourismus inzwischen von Flensburg bis Garmisch und von
Duisburg bis Bitterfeld umgesetzt wird. Wenn aber von
der SPD-Kollegin „Viabono“ sozusagen als ein Paradepferd genannt wird, dann kann ich nur warnen. Statt dieses zu bejubeln, sollten Sie lieber aufpassen, dass es nicht
floppt. „Viabono“ hatte zum Ziel, bis Mitte dieses Jahres
1 000 Hotels und 100 Gemeinden unter seinem Label zu
vereinen. Wo sind wir jetzt? Gerade bei 10 Prozent! Strengen Sie sich also ein bisschen an, wenn Sie sich mit diesem Punkt weiter identifizieren wollen.
({5})
Wie soll ein Konzept für einen - nennen wir es ruhig
so - Naturtourismus im Jahre 2010 aussehen? Die doppelte Zielsetzung sind die Sicherung des Natur- und Umweltschutzes in den ausgewiesenen Gebieten und die
Möglichkeit der regionalen Wertschöpfung durch touristische Nutzung. Die betroffenen Regionen - darauf wird
auch im Bericht hingewiesen - brauchen Umweltmanagementsysteme, um den Spagat zwischen Wirtschaft
und Naturschutz zu schaffen. Wir brauchen vor allen Dingen einen sanften Urlaubstourismus mit Kultur, Sport und
Bewegung, Urlaub auf dem Bauernhof sowie mit Angeboten für Familien, sozial Schwache und die Jugend. Gerade diese Konkretisierung liegt uns am Herzen.
Nachhaltiger Tourismus - das ist ganz wichtig; das darf
ich Ihnen vielleicht noch einmal sagen - muss aus unserer Sicht auch eine soziale Funktion haben.
({6})
Intakte Natur darf nicht ein Gut sein, das sich nur Vermögende leisten können. Natur hat auch eine gesellschaftliche Funktion über alle Grenzen hinweg. Das müssen wir
immer wieder deutlich machen.
({7})
Wie kann die Politik hier helfen? Es gibt sicherlich die
Möglichkeit gesetzlicher Steuerungsmaßnahmen. Es sollte
aber nicht zu viel Dirigismus geben; denn das Miteinander ist hier das Entscheidende. Wir können sicherlich auch
über Steuererleichterungen sprechen; das werden wir im
Ausschuss auch tun. Aber eines ist mir ganz besonders
wichtig: Wir müssen bedenken, dass Naturschutz nicht an
unseren Grenzen Halt macht. Der Nationalpark Wattenmeer erstreckt sich auch über die Grenzen Deutschlands
hinweg nach Dänemark. Die Boddengewässer hören nicht
vor Polen auf und die Alpen, Herr Kollege Hinsken, enden nicht an der Zugspitze.
Was will ich damit sagen? Wir müssen versuchen, unsere europäischen Nachbarn einzubinden und das Konzept des nachhaltigen Tourismus zu exportieren. Wir sollten darüber hinaus auch versuchen, zumindest diese Idee
in die Entwicklungsländer zu exportieren; denn dort ist
der Tourismus eine dynamische Wachstumsbranche und
ein Wirtschaftsfaktor mit großem Entwicklungspotenzial.
Hier müssen wir, die politisch Verantwortlichen, den Unternehmen und der Reisebranche deutlich machen, dass
eine ungebremste touristische Entwicklung irreversible
Schäden und dauerhaften Verlust von Ökosystemen nach
sich zieht. Wir sollten den Tourismus nicht nur konsumieren, sondern auch versuchen, mit dem Tourismus, wie wir
ihn definieren, etwas zu lehren. Wir müssen national das
vorleben, was wir von anderen einfordern.
({8})
Albert Schweitzer hat einmal gesagt:
Wir leben in einem gefährlichen Zeitalter. Der
Mensch beherrscht die Natur, bevor er gelernt hat,
sich selbst zu beherrschen.
Wir sollten zeigen, dass wir dies als Hoffnung und Herausforderung und nicht als Risiko begreifen. Mit dem
vorliegenden Bericht haben wir die entsprechenden
Werkzeuge in die Hand bekommen. Nutzen wir sie
gemeinsam!
Herzlichen Dank.
({9})
Danke schön. Auch Ihnen herzlichen Glückwunsch zu
Ihrer ersten Rede in diesem Haus.
({0})
Der Abgeordnete Christian Eberl hat darum gebeten,
seine Rede zu Protokoll geben zu dürfen1). Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind wir damit am
Schluss der Redeliste zu diesem Punkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache14/9952 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 b auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({1})
zu dem Änderungsantrag der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau
zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der FDP
Weitergeltung von Geschäftsordnungsrecht
- Drucksachen 15/1, 15/2, 15/178 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Uwe Küster
Eckart von Klaeden
Ekin Deligöz
Interfraktionell ist eine Aussprache vereinbart worden.
Der Abgeordnete Küster soll für die Darstellung des
Standpunktes aller Fraktionen fünf Minuten Redezeit erhalten. Die Abgeordnete Lötzsch soll ebenfalls fünf Minuten Redezeit erhalten. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Uwe Küster.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die Wählerinnen und Wähler haben am 22. September vergangenen Jahres einen neuen Deutschen Bundestag gewählt. Die PDS verfehlte damals die 5-ProzentHürde und konnte auch keine drei Direktmandate in den
Wahlkreisen gewinnen. Die Zweitstimmen der PDS konnten damit gemäß unserem Wahlrecht bei der Konstituierung des Deutschen Bundestages nicht berücksichtigt
werden.
Die fraktionslosen Kolleginnen Pau und Dr. Lötzsch
schafften als PDS-Direktkandidatinnen in ihren Wahlkreisen den Direkteinzug in den Deutschen Bundestag.
Auf Frau Pau kamen gut 53 000 und auf Frau Dr. Lötzsch
rund 57 000 Wählerstimmen.
Die Abgeordneten Pau und Dr. Lötzsch haben eine Änderung der Geschäftsordnung beantragt. Ich zitiere:
Mitglieder des Bundestages, die sich zusammenschließen, ohne Fraktionsmindeststärke zu erreichen,
sind eine Gruppe.
Aufgrund dieses Änderungsantrags könnten sich zwei
Abgeordnete automatisch zu einer Gruppe zusammenschließen. Durch diesen Automatismus würde ein Beschluss des Parlaments über seine eigene innere Organisation in dieser Frage unmöglich werden.
Laut erstem PDS-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1991 ist eine Anerkennung als Gruppe
nur zwingend, falls der Zusammenschluss von Abgeordneten der gleichen Partei oder einem Wahlbündnis so mitgliederstark ist, dass auf ihn unter Berücksichtigung der
Größe der Ausschüsse und des angewandten Berechnungsschlüssels, des Zählverfahrens, ein Ausschusssitz
oder mehrere Ausschusssitze entfallen würden. Das dürfte
in der 15., also der jetzigen, Wahlperiode mindestens acht
Mitglieder voraussetzen. Dieses Quorum wird von den
beiden fraktionslosen Abgeordneten deutlich verfehlt.
Insbesondere aus diesem Grund hat der 1. Ausschuss
den Änderungsantrag der beiden Kolleginnen einstimmig
abgelehnt. Alle Fraktionen sind der gemeinsamen Auffassung, dass dem Plenum auch zukünftig die ausdrückliche
Entscheidungskompetenz in dieser Frage vorbehalten
bleiben muss. Nur so kann die Funktionsfähigkeit des
Bundestages als Arbeitsparlament sichergestellt werden.
Nach der geltenden Geschäftsordnung ist auch nur das
Plenum legitimiert, einer neu gebildeten Gruppe bestimmte Rechte zuzuerkennen. Das betrifft unter anderem
Art und Umfang an Ausstattung in finanzieller und sächlicher Hinsicht.
Die Fraktionen lehnen den vorgeschlagenen Automatismus bei der Gruppenbildung ab. Abgeordnete könnten
sonst Zweckbündnisse eingehen, um in einer Gruppe die
ihnen dann zustehenden Rechte zu nutzen. Kleine Gruppen könnten die parlamentarische Arbeit unseres Plenums
allerdings deutlich behindern.
Nach der geltenden Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages stehen fraktionslosen Abgeordneten eine beratende Mitwirkung und Rederecht in einem Bundestagsausschuss zu. Darüber hinaus haben sie Zutritts- und
Informationsrecht in allen anderen Ausschüssen des
Deutschen Bundestages. Fraktionslose Abgeordnete sind
zudem bei der Möglichkeit, im Plenum zu Wort zu kommen, deutlich besser gestellt als Abgeordnete der Fraktionen. Letztlich ist den fraktionslosen Abgeordneten eine
Nutzung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen
Bundestages möglich.
Die Kolleginnen Pau und Dr. Lötzsch können also an
der politischen Willensbildung im Parlament und an der
Entscheidungsfindung des Bundestages teilnehmen. Ihre
parlamentarischen Mitwirkungsrechte sind vollauf gewährleistet. Aus diesem Grunde lehnen die Fraktionen den
Änderungsantrag der Kolleginnen Pau und Lötzsch ab.
Vielen Dank.
({0})1) Anlage 3
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erst einmal möchte ich eine Bemerkung in eigener Sache machen. Ich heiße Gesine Lötzsch. Ich bitte darum, meinen
Namen mit einem langen ö auszusprechen. Auch wenn
sich das bei drei Phonemen und sieben Graphemen nicht
zwingend ergibt und ein gewisser Widerspruch zu sein
scheint, ist es ein langes ö.
Es hat sich eine ganz große Koalition aller Fraktionen
gegen unseren Antrag zusammengefunden. Das ist wirklich bemerkenswert. Wenn es Schule macht, dass bei jedem Tagesordnungspunkt nur noch ein Vertreter für alle
Fraktionen spricht und dann eine PDS-Abgeordnete das
Wort bekommt, dann werden unsere Bundestagsdebatten
übersichtlicher und Sie müssen hier nicht mehr so lange
sitzen.
({0})
Wie ist die Einheit und Geschlossenheit aller Fraktionen zu erklären? Es geht in dieser zehnminütigen Debatte
um die Stellung von direkt gewählten Abgeordneten im
Deutschen Bundestag. Frau Pau und ich - das wurde hier
bereits anhand von Zahlen ausgeführt - wurden in unseren beiden Wahlkreisen direkt in den Deutschen Bundestag gewählt. Damit verbindet sich ein Wählerauftrag, den
wir gern erfüllen wollen. Doch die ersten 100 Tage hier,
im Bundestag, haben gezeigt, dass alles unternommen
wird, um gerade das zu verhindern.
Wie schon ausgeführt wurde, besteht eine große Einmütigkeit in diesem Haus darüber, dass wir keine weiteren Rechte erhalten sollen. Allerdings ist völlig klar, dass
wir mit den Rechten, die wir haben, die Bundesregierung
nur sehr eingeschränkt kontrollieren können. In der Kontrolle der Regierung aber - das schreibt die Verfassung
so vor - besteht eine wesentliche Aufgabe von Volksvertretern.
Wir haben als fraktionslose Abgeordnete nicht das
Recht, Kleine Anfragen an die Bundesregierung zu stellen. Jeder andere Abgeordnete, ob direkt oder über die
Liste gewählt, hat dieses Recht. Einmal im Monat ist es
uns gestattet, maximal vier Fragen an die Bundesregierung zu stellen. Das Antragsrecht ist auf Anträge in zweiter oder dritter Lesung beschränkt und damit so gut wie
wertlos; denn die Diskussionen sind abgeschlossen und
die Anträge erleiden das Schicksal der Ablehnung.
Warum fordern wir in unserem Antrag also den Gruppenstatus? Wir wollen nicht mehr, sondern nur die gleichen Rechte, die alle anderen Abgeordneten im Deutschen Bundestag haben. Das betrifft das Fragerecht und
das Antragsrecht. Aber es geht auch um die konkreten
Arbeitsbedingungen. Die unendliche Geschichte mit
dem fehlenden Tisch und dem abgeklemmten Telefon
kennt mittlerweile fast jedes Kind in dieser Republik. Der
Bundestagspräsident muss einen guten Teil seiner Arbeitszeit darauf verwenden, Bürgerinnen und Bürgern zu
erklären, warum wir im Parlament keinen Tisch bekommen. Auch der Petitionsausschuss ist mit dieser Angelegenheit befasst. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Die materielle und finanzielle Ausstattung eines Abgeordneten in einer Fraktion ist um ein Vielfaches besser als
die Ausstattung eines Einzelabgeordneten.
Nun hat Herr Thierse, der leider nicht anwesend ist
({1})
- gleiches Recht für alle -, zu seiner Verteidigung erklärt,
dass die Wählerinnen und Wähler nun einmal so entschieden haben; die PDS sei vom Wähler, nicht vom Bundestag abgestraft worden. Doch bei den Wahlen wurde
meiner Meinung nach nicht darüber entschieden, dass es
Abgeordnete erster und zweiter Klasse geben soll. Es
wurde auch nicht darüber entschieden, ob man die Rechte
direkt gewählter Abgeordneter einschränken soll. Auf
meinem Wahlzettel stand das jedenfalls nicht. Ich denke,
es stand auch nicht auf Ihrem.
Wir würden auf den Gruppenstatus verzichten, wenn
sich die anderen Parteien darauf einigen könnten, die
Rechte der Abgeordneten zu stärken. Damit würden sie
auch die Demokratie in diesem Lande stärken. Doch daran haben die Spitzen aller Fraktionen kein Interesse. Die
Stellung der Fraktionsvorsitzenden ist im Gegensatz zu
der der Abgeordneten nicht im Grundgesetz verankert;
doch sie haben mit der Geschäftsordnung und vielen Gremien die Macht auf sich konzentriert und sie haben auch
dafür gesorgt, dass einzelne Abgeordnete häufig zu Kleindarstellern in ihren Fraktionen verkommen.
In diesem Sinne ist unser Antrag ein Antrag für alle
Abgeordneten, die ständig unter Fraktionszwängen zu leiden haben und deren Kompetenzen immer mehr eingeschränkt werden. Ich empfehle Ihnen also dringend, diesen Antrag anzunehmen; denn Sie würden dadurch mehr
gewinnen als verlieren.
Vielen Dank.
({2})
Ich danke auch und schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu
dem Änderungsantrag der Abgeordneten Gesine Lötzsch
und Petra Pau zu dem interfraktionellen Antrag zur Weitergeltung von Geschäftsordnungsrecht. Der Ausschuss
empfiehlt, den Änderungsantrag auf Drucksache 15/2 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die
Stimmen der beiden Abgeordneten Lötzsch und Pau angenommen worden. Der Antrag zur Änderung der Geschäftsordnung ist damit abgelehnt.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 17. Januar, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.