Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Tagesordnung um eine Beschlussempfehlung und einen
Bericht zum Antrag der Fraktion der FDP „Leistungsfähigkeit der Chemiewirtschaft in Deutschland und Europa
erhalten“ erweitert werden. Der Zusatzpunkt 11 soll in
verbundener Beratung mit Tagesordnungspunkt 17 a
bis c aufgerufen werden. Von der Frist für den Beginn
der Beratung soll abgewichen werden. Sind Sie damit
einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches
Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksachen 15/5556, 15/5602 ({0})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Birgit
Homburger, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Lockerung des Verbots wiederholter Befristungen
- Drucksache 15/5270 ({1})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({2})
- Drucksache 15/5714 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Reinhard Göhner
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/5722 Berichterstattung:
Abgeordnete Volker Kröning
Hans-Joachim Fuchtel
Anja Hajduk
Otto Fricke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Klaus Brandner, SPD-Fraktion.
({4})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Laumann, Sie
halten heute ihre Abschiedsrede. Wir haben sieben Jahre
zusammengearbeitet. Wir hatten einen fairen Umgang
miteinander; das möchte ich Ihnen bestätigen. Auch Ihre
Verlässlichkeit habe ich persönlich sehr geschätzt. Ich
weiß trotzdem, dass wir in vielen Punkten in der Sache
durchaus unterschiedliche Positionen vertreten haben,
auf die ich in meinem Beitrag noch zu sprechen kommen
werde.
Dem Kollegen Laumann muss man bei der Umsetzung der von uns gemeinsam beschlossenen Reformen
viel Glück wünschen, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt. Jetzt kommt es in Nordrhein-Westfalen darauf an,
dass die Arbeitsgemeinschaften wirklich zügig arbeiten,
damit in seiner Verantwortung das sichergestellt wird,
was hier auch oft kontrovers debattiert worden ist, zum
Beispiel dass die Altenpflegeausbildung in den Ländern,
die die Verantwortung dafür bekommen haben, geleistet
wird und dass die Bildungseinrichtungen nicht nur als
Wallfahrtsort genutzt werden, sondern dass gewährleistet wird, dass sie weiter existieren können.
Redetext
Sie werden große Verantwortung übernehmen. Aus
unserer Sicht kann Ihr Vorhaben, die Höhe der Kohlesubventionen nach und nach zu reduzieren, nicht ohne
betriebsbedingte Kündigungen ablaufen. Insofern will
ich ganz deutlich sagen: Sie sind in Nordrhein-Westfalen
wirklich an exponierter Stelle gefordert, einen Beitrag zu
leisten, damit Politik weiterhin verlässlich bleibt. Dafür
übernehmen Sie Verantwortung und dafür wünsche ich
Ihnen eine gute Hand.
({0})
Heute geht es unter anderem um die Bezugszeiten
beim Arbeitslosengeld. Bei diesem Sachthema liegen
unsere Positionen deutlich auseinander. Die Situation
auf dem Arbeitsmarkt ist nicht so, dass kürzere Bezugszeiten ihre Wirkung entfalten könnten. Wir wissen auch,
dass ältere Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz verloren
haben, nur schwer wieder eine Stelle finden. Bessere Beschäftigungschancen sind aber für Sozialdemokraten die
Voraussetzung dafür, kürzere Bezugszeiten beim Arbeitslosengeld umzusetzen. Solange diese besseren
Chancen nicht gegeben sind, braucht der Reformprozess
Vertrauen. Wir müssen das, was wir jetzt vorhaben,
möglichst gemeinsam umsetzen.
({1})
Sie haben im Übrigen dazu das Feuer mit gelegt. Der
zukünftige Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens und
auch viele Debattenredner hier sprachen von einer 24-monatigen Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld für Ältere.
Das ist in der Bevölkerung gut angekommen. Jetzt haben
wir eine Regelung vorgeschlagen, die Sie im Übrigen vor
1998 in das Gesetz hineingeschrieben hatten. Heute sagen Sie dazu - das lese ich über Herrn Pofalla -, das sei
unsozial. Wie das zusammenkommt, dass heute unsozial
ist, was gestern für Sie eine Wohltat war, müssen Sie den
Menschen in diesem Land erklären.
({2})
Wir wollen, um das deutlich zu sagen, auf diesem Gebiet helfen, damit die Menschen Vertrauen in den notwendigen Reformprozess und darin haben, dass Politik
rechtzeitig Veränderungen vornimmt, Übergänge schafft
und Brücken baut. Wir wollen die Unterstützung für diesen Reformprozess beibehalten. Deshalb werden wir
diesen Weg konsequent gehen.
Wir müssen uns auch mit dem auseinander setzen,
was Sie in Bezug auf die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes vorschlagen. Sie sagen zuallererst, dass das
Arbeitslosengeld für alle Arbeitslosen um 25 Prozent in
der ersten Bezugsdekade gekürzt werden soll. Dann soll
erst nach zehn Jahren ein Anspruch auf ein zwölfmonatiges Arbeitslosengeld bestehen, nach 25 Jahren auf ein
18-monatiges und nach 40 Jahren auf ein 24-monatiges.
Der Anspruch auf das Arbeitslosengeld ist schnell aufgebraucht.
({3})
Erst nach zehn Jahren wird wieder ein Anspruch auf ein
Arbeitslosengeld von einem Jahr gewährleistet sein. Gerade der Schutz derjenigen, die eine solidarische Versicherung brauchen, wird damit zerstört. Damit helfen
Sie nicht denjenigen, die genau diesen Schutz dringend
haben müssen; denn auf dem Arbeitsmarkt sind die Geringqualifizierten diejenigen, die häufig einen Arbeitsplatzwechsel vornehmen müssen und für die wir den
notwendigen Schutz organisieren müssen. Genau das regeln Sie mit diesem Gesetzentwurf aber nicht.
({4})
Ihr Vorschlag geht an der Lebensrealität der Menschen vorbei. Arbeitsplatzwechsel wird auch von Ihnen
regelmäßig eingefordert: mehr Flexibilität, mehr befristete Arbeitsverhältnisse und mehr Werkverträge. In
diesem Zusammenhang wollen Sie die Arbeitslosenversicherung zu einer Ansparversicherung degradieren.
Damit verletzen Sie das Subsidiaritätsprinzip in dieser
Gesellschaft und damit verletzen Sie das Solidarprinzip
in dieser Gesellschaft,
({5})
weil nur diejenigen Anspruch auf Leistungen haben sollen, die entsprechend umfangreich eingezahlt haben. Dafür brauchen wir keine gesetzliche Pflichtversicherung.
Das kann dann jeder selbst machen. Ihr Motto ist das
Matthäusprinzip: „Denn wer hat, dem wird gegeben.“
Das ist ein christliches Prinzip, wie Sie sagen; aber dieses Prinzip werden wir an dieser Stelle nicht mittragen.
Wir sind dafür, dass wir eine solidarische Versicherung
behalten.
({6})
Uns geht es aber nicht nur darum, dass Schutzmechanismen erhalten bleiben und dass die Reformen tragfähig
bleiben. Uns geht es darum, die Beschäftigungschancen
Älterer tatsächlich zu verbessern. Da hätten Herr
Singhammer und Herr Pofalla, die sich zu diesem
Thema sehr häufig geäußert haben, allen Grund, gerade
die Unternehmen systematisch aufzufordern, ihrer
gesellschaftlichen Verpflichtung nachzukommen. In
Deutschland ist nämlich die Beschäftigung Älterer unterentwickelt und Unternehmen haben Negativbeispiele
en masse geliefert. Damit hätten sie ein gutes Werk für
Deutschland getan.
Lassen Sie mich etwas dazu sagen, was wir tatsächlich tun. Wir erhöhen die Beschäftigungschancen für Ältere dadurch, dass wir die Weiterbildungskosten zum
Beispiel für Arbeitnehmer ab 45 Jahren in Unternehmen
bis 200 Beschäftigten noch einmal ausdehnen, indem
wir die Entgeltsicherung, also die Zuschüsse für ältere
Arbeitnehmer, die eine niedrig entlohnte Tätigkeit aufnehmen, entbürokratisieren und früher ermöglichen. Wir
regeln, dass 250 Millionen Euro für 50 regionale Beschäftigungspakte für ältere Langzeitarbeitlose zur Verfügung gestellt werden. Ein Wettbewerb in diesen Regionen soll Best-practice-Beispiele herausarbeiten, damit
Chancen auch in einer solchen Übergangsphase für diesen Personenkreis organisiert werden.
Auch da gibt es ein weiteres Moment, wo wir, wie ich
finde, sehr positive Vorschläge erarbeitet haben. Es sollen 50 000 Zusatzjobs für Ältere geschaffen werden, die
in gemeinnützigen Einrichtungen in den Regionen tätig
werden können. Die 50 000 Zusatzjobs sollen durch die
Länder mitfinanziert werden. Dabei ist auch Ihre Mithilfe gefragt, Herr Laumann. Denn wenn wir glaubwürdig längerfristige Projekte organisieren wollen, in denen
sich die Länder an notwendigen arbeitsmarktpolitischen
Maßnahmen beteiligen, dann sind gerade diejenigen gefordert, die in der Vergangenheit von der Gesellschaft
Beiträge zur Integration Älterer erwartet haben.
Mit unseren Reformen haben wir einen schwierigen
Weg eingeschlagen. Wir wissen aber, dass die Herausforderungen des weltweiten Wettbewerbs und des demographischen Wandels diese Reformen notwendig machen. Unser Weg ist logisch, weil wir das Vertrauen in
die Übergangszeiten stärken.
Wir stehen für die soziale Marktwirtschaft. Das ist
unser Markenzeichen, das uns vor allem in der Frage unterscheidet, wie die Arbeitslosenversicherung justiert
werden soll: eben nicht als Sachversicherung bzw. als
Prinzip, dass derjenige, der viel einzahlt, viel herausbekommt. Vielmehr muss sich derjenige, der der größten
Hilfe und Unterstützung bedarf, auf das Sozialsystem
verlassen. Das ist unser Prinzip der sozialen Marktwirtschaft.
({7})
Unser Umbauprozess soll den Sozialstaat erhalten.
Wir wollen den solidarischen Sozialstaat erhalten. Dabei müssen wir die Menschen mitnehmen. Wir müssen
ihr Vertrauen stärken, statt ihnen Angst zu machen. Daher kann ich uns nur gemeinsam auffordern, diesem
Thema mehr Bedeutung beizumessen, als es in der Vergangenheit im Parteienstreit der Fall war.
Ich hoffe, dass Sie Ihren eigenen Antrag, in dem Sie
eine Bezugsdauer des Arbeitslosengelds von 24 Monaten fordern, jetzt nicht einfach über Bord werfen, wie es
von einigen angekündigt wurde. Herr Pofalla hat zum
Beispiel in der Presse angekündigt, dass dieses Gesetz
im Bundesrat gestoppt und der Vermittlungsausschuss
angerufen werden soll, um eine solche - aus unserer
Sicht sinnvolle - Änderung auszusitzen. Das zeigt, wie
taktisch Sie mit diesen Fragen umgehen: Nach außen
wird so getan, als wolle man einer besonderen Gruppe
eine soziale Leistung zukommen lassen; durch die Hintertür wird das Vorhaben dann aber wieder einkassiert.
({8})
Das geht nicht an und das lassen wir Ihnen nicht
durchgehen. Heute Morgen besteht genug Gelegenheit,
das deutlich zu machen. Ich hoffe, dass Herr Laumann
mithilft, dieses Vorgehen im Bundesrat zu stoppen.
({9})
Ich erteile Kollegen Karl-Josef Laumann, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
hätte mir für meine letzte Rede nach 15 Jahren Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag sehr gewünscht, über
ein Zukunftsthema sprechen zu können. Leider ist das
bei Ihrem Antrag nicht möglich.
({0})
Sie schlagen eine Reihe von arbeitsmarktpolitischen Regelungen vor, von denen Sie genau wissen, dass sie wirkungslos und in Teilen im höchsten Maße missbrauchsanfällig und in anderen Teilen halbherzig sind.
({1})
Ich will vorweg feststellen: Ihr Antrag, der in Ihrer
Fraktion so zustande gekommen ist, dass Sie sowohl den
Bundesarbeitsminister als auch den Bundesfinanzminister überstimmt haben, ist das Eingeständnis, dass Sie mit
der gesamten Hartz-Gesetzgebung gescheitert sind.
({2})
Ich erinnere daran, dass Hartz am 16. August vor drei
Jahren gesagt hat, er wolle in drei Jahren die Zahl der
Arbeitslosen in diesem Land um 2 Millionen abbauen.
Wir hatten damals 4 Millionen Arbeitslose; jetzt sind es
5 Millionen. Sie können niemandem in diesem Land erklären, dass die Zunahme um 3 Millionen gegenüber
dem Ziel von Hartz auf statistische Effekte zurückzuführen ist.
({3})
Ich will nur ein Beispiel nennen. Sie haben den Menschen damals versprochen, dass jährlich 500 000 Menschen mit einer Ich-AG in die Selbstständigkeit geführt
werden können. Das steht im Hartz-Bericht.
Wir haben Sie schon damals im Deutschen Bundestag
darauf hingewiesen, dass in einer arbeitsteiligen Gesellschaft wie Deutschland ein so gewaltiger Ausbau der
Mikroökonomie nicht möglich ist. Statt der erwarteten
1,5 Millionen Förderfälle in den drei Jahren waren lediglich 230 000 zu verzeichnen. Wenn die Förderung ausläuft, geben die meisten wieder auf.
Zudem haben die Ich-AGs auf dem regulären Arbeitsmarkt zu einer riesigen Verdrängung im Handwerk geführt. Das ist das Ergebnis. Sie aber schlagen jetzt die
Verlängerung vor.
({4})
Sie haben vor einigen Wochen vor der nordrheinwestfälischen Landtagswahl eine Heuschreckendiskussion angefangen. Heute schlagen Sie im Deutschen Bundestag für die Großunternehmen mit der Kombination
aus der 58er-Regelung und der Verlängerung der bisherigen Laufzeiten des Arbeitslosengeldes eine Vorruhestandsmöglichkeit vor, ohne dass die Wirtschaft einen
Cent dafür bezahlen muss. So viel zum Thema Heuschrecken!
({5})
Jetzt sage ich Ihnen, wer diese Suppe auslöffeln wird:
({6})
Auslöffeln werden sie der Mittelstand und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den mittelständischen
Betrieben. Dabei setzen wir all unsere Hoffnung darin,
dass gerade die mittelständischen Betriebe einen entscheidenden Beitrag zu Ausbildung und Beschäftigung
leisten.
({7})
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir eine andere
Diskussion brauchen, um das Vertrauen der Menschen in
unser politisches System wiederzugewinnen. Wenn eine
Volkspartei Stimmen verliert und eine andere diese bekommt, dann ist das erst einmal nicht schlimm. Schlimm
wird das Ganze erst dann, wenn die etablierten Parteien insgesamt an Zustimmung verlieren. Ich glaube,
wir werden die Zustimmung der Menschen für unser
System nur dann behalten, wenn durch unsere Entscheidungen klar wird, dass Gerechtigkeit Zukunft schafft.
Zur Gerechtigkeit gehört zu allererst die Ehrlichkeit. Sie
wissen ganz genau, dass das, was Sie heute vorschlagen,
nicht gegenfinanziert ist. Sie schlagen also etwas vor,
was Sie am Ende nicht bezahlen können.
({8})
Ich bin sehr dafür, dass wir den Menschen vor den
Wahlen sagen, was wir nach den Wahlen tun werden.
Deswegen wird meine Fraktion in der nächsten Sitzungswoche - ich will das jetzt schon hier ankündigen einen Antrag einbringen, in dem wir detailliert darstellen
werden, wie unsere Vorstellungen zur Bezugsdauer von
Arbeitslosengeld sind.
({9})
Sie werden dann sehen, dass wir eine Verbindung zur
Dauer der Beitragszahlung - bei Ihnen ist es die Verbindung zum Alter - herstellen: Wer über eine lange Zeit
Beiträge geleistet hat, dem muss länger geholfen werden.
({10})
Wir werden auch eine Lösung vorschlagen müssen,
mit der sichergestellt wird, dass die Verlängerung der
Bezugsdauer von Arbeitslosengeld kombiniert mit einer
58er-Regelung, wie Sie sie vorschlagen, nicht eine Einladung zum massenhaften Vorruhestand wird. Denn
das kann am Ende nicht bezahlt werden. Außerdem werden dadurch diejenigen, denen wir helfen wollen, nicht
besser geschützt.
Herr Kollege Laumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich lasse jetzt keine Zwischenfragen zu.
Mir ist völlig klar, dass wir in diesem Land eine neue
Regelung brauchen. Menschen, die über 30, 40 Jahre
Steuern und Beiträge gezahlt haben, dürfen nach zwölf
Monaten Arbeitslosigkeit nicht genauso behandelt werden wie diejenigen, die weniger geleistet haben. Etwas
anderes könnte man den Menschen in unserem Land
nicht erklären.
({0})
Stellen Sie sich vor, jemand hat lange Zeit Beiträge
bis zur Beitragsbemessungsgrenze gezahlt. Er hat dann
auch mit seiner Einkommensteuer den Staat getragen.
Aber nach zwölf Monaten Arbeitslosigkeit soll er wie jemand behandelt werden, der nicht so viel geleistet hat?
({1})
Das können Sie niemandem erklären. Sie müssen aber
verhindern, dass eine neue Regelung eine Einladung
zum Vorruhestand wird. Sie können aus der Arbeitslosenversicherung keine vorgezogene Rentenversicherung
machen. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Da muss
man intelligenter vorgehen, als Sie es getan haben.
Ich glaube, dass wir einen zweiten Gedanken stärker
in den Mittelpunkt der politischen Diskussion rücken
müssen.
({2})
Arbeit für alle ist der Schlüssel für Gerechtigkeit. Deswegen brauchen wir nach meiner Meinung eine Debatte
im Bundestag vor allen Dingen darüber, wie wir unsere
Wachstumskräfte stärken können: durch eine Vereinfachung des Steuerrechtes, durch Abkopplung eines Teils
der sozialen Sicherungssysteme vom Faktor Arbeit,
durch eine unideologische Forschungspolitik, durch eine
offene Haltung zu neuen Technologien und vor allen
Dingen zu einer wachstumsfreundlichen Energiepolitik.
Wenn man diese Punkte in den Mittelpunkt der Debatte
stellen würde, was wirtschaftspolitisch vernünftig wäre,
und wenn man, eingebettet in eine solche Debatte, überlegen würde, was im Arbeitsrecht und was bei der Deregulierung des Arbeitsmarktes notwendig wäre, dann bekäme die Debatte einen ganz anderen Drive, als sie sie
bei der Rechts-Links-Auseinandersetzung im Deutschen
Bundestag oft gehabt hat.
Ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass wir im
Bundestag und in unserer Gesellschaft eine Debatte über
die Frage brauchen, wie wir in Deutschland eine gerechte Entlohnung behalten und wie wir Lohndumping
verhindern. Die Krise der Europäischen Union, die auch
dadurch zum Ausdruck kommt, dass die Menschen ihr
nicht mehr vertrauen, hat damit zu tun, dass die Menschen die Verdrängung auf dem Arbeitsmarkt spüren.
Wir haben große Fehler gemacht, etwa bei der Dienstleistungsfreiheit. Sie aber haben gar nicht darauf reagiert.
({3})
Jetzt haben wir die Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Sie
haben damals doch verhandelt und diese Probleme nicht
gesehen. Jetzt öffnen Sie bitte Europa nicht für weitere
Arbeitskräfte, die die Probleme noch verstärken! Nehmen Sie Abstand vom Beitritt der Türkei, damit wieder
Vertrauen in die europäischen Institutionen entsteht!
({4})
Ich sage Ihnen in diesem Zusammenhang ganz klar:
Natürlich ist es richtig, in einzelnen Branchen, die sich
darauf einigen, das Lohnniveau durch die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen gerechter zu gestalten
und die Lohnniveaus für entsandte Arbeitnehmer festzuschreiben. Wer aber in der politischen Debatte zum Beispiel sagt, Gebührenordnungen seien unantastbar, und
gleichzeitig der Meinung ist, dass in diesem Bereich
nichts geregelt werden darf, der sollte sich die Frage
nach Gerechtigkeit einmal selber beantworten.
({5})
- Solche Debatten gibt es hier und da.
Wenn wir den Arbeitsmarkt nach vorne bringen wollen, brauchen wir eine Debatte über die Frage nach der
gerechten Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Es ist nicht in Ordnung, dass 26 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, die uns zurzeit
wegschmelzen wie Butter in der Sonne, in der Krankenversicherung teilweise bis zu 90 Prozent der Bevölkerung absichern. Ich glaube, dass die Abkoppelung von
den Arbeitskosten in diesem Bereich durch eine solidarische Gesundheitsprämie bei Finanzierung eines Sozialausgleichs und Mitversicherung von Kindern über Steuern eine gerechtere Antwort ist als das heutige
Verteilungssystem.
({6})
Die sozialen Sicherungssysteme können einen erheblichen Beitrag für mehr Beschäftigung in unserem Land
leisten.
Ich wünsche mir sehr, dass in unserer Gesellschaft
und insbesondere im Deutschen Bundestag darüber geredet wird, wie wir in diesem Land für mehr Gerechtigkeit
und soziale Kapitalpartnerschaft sorgen können. Ich
halte es für keine gute Entwicklung, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland immer weniger
an den Erträgen der Wirtschaft auf der Kapitalseite und
auf der Wettbewerbsseite beteiligt sind. Wir brauchen
- der Deutsche Bundestag hat auf Antrag meiner Fraktion vor vier Wochen darüber debattiert - neue Impulse
in der Vermögenspolitik.
Der Kollege Brandner hat es schon angesprochen:
Dies ist heute nach 15 Jahren meine letzte Rede als Abgeordneter des Deutschen Bundestags. Sicherlich gibt
mir die Geschäftsordnung die Möglichkeit, demnächst
als Landesminister hier zu reden. Freuen Sie sich also
nicht zu früh! Es ist kein Abschied für immer.
({7})
Aber es ist schon ein Einschnitt.
Ich möchte mich heute persönlich bei Ihnen für die
15 Jahre ganz herzlich bedanken, in denen ich hier sein
durfte. Es waren mit die spannendsten Jahre meines Lebens. Ich möchte für die Zusammenarbeit im Ausschuss
für Arbeit und Soziales in den ersten Jahren und im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit in den letzten drei Jahren Dankeschön sagen. Ich habe in den 15 Jahren meiner
Zugehörigkeit zum Bundestag an allen Ausschusssitzungen - ich glaube, bis auf vier oder fünf, die in den letzten
zwei, drei Wochen stattgefunden haben - teilgenommen.
Ich bin der Meinung, dass ein Abgeordneter zwei
Dinge machen muss: Er muss sich bei der Gesetzgebungsarbeit Mühe geben und quälen; das geht nur im
Ausschuss. Außerdem muss er gewissermaßen ein
Transportriemen zwischen dem, was wir im Bundestag
tun, und seinem Wahlkreis sein. Ein Abgeordnetenverständnis, das dazu führt, dass man nur noch im Wahlkreis herumtingelt, und zwar auch in Sitzungswochen
- das habe ich im eigenen Wahlkreis bei der Konkurrenz
erlebt -, ist nach meiner Meinung falsch. In Sitzungswochen hat man vielmehr hier seine Arbeit - insbesondere
in den Ausschüssen - zu tun.
Herr Präsident, ich glaube, die Möglichkeit der nicht
öffentlichen Ausschusssitzungen ist unbedingt erforderlich, um über Fraktionsgrenzen hinweg zu Regelungen - zumindest in Detailfragen - zu kommen. Das Parlament sollte sich diese Möglichkeit erhalten.
({8})
Ich möchte zum Schluss eine weitere Anmerkung machen. Sie von der SPD haben damals, als Sie die Vorlagen zu Hartz eingebracht haben, gesagt: Das wird eins
zu eins umgesetzt. Dabei haben Sie auf kein Ergebnis irgendeiner Anhörung geachtet. Ich kann dazu nur sagen:
Das war für mich die bitterste Erfahrung im Ausschuss,
weil ich zum ersten Mal erlebt habe, dass der Parlamentarismus bei Ihnen keine Rolle spielt. Nun löffeln Sie die
Suppe aus, nicht Herr Hartz.
({9})
Gesetze in Kommissionen zu machen und sie im Parlament nur noch durchzuwinken - alles, was wir machen,
erstarrt zum Ritual -, das ist des Deutschen Bundestages
nicht würdig.
({10})
Ein allerletzter Gedanke: Wir müssen im Deutschen
Bundestag zu einer Arbeitsweise finden, bei der wir die
Europagesetzgebung mehr im Auge haben. Wir
schimpfen immer über die Richtlinien. Die fallen ja auch
nicht vom Himmel. So wie wir zurzeit unsere Arbeit organisiert haben, ist es nach meiner Meinung fast nicht
möglich, fachlich seriös zu beurteilen, was wir zu den
verschiedenen Gebieten in den Ausschüssen beraten und
worüber wir dann abstimmen. Der Ältestenrat des neuen
Bundestages sollte darüber nachdenken, wie wir insofern bessere Regelungen finden. Wir brauchen auch
mehr Mitarbeiter für diese Europafragen, um das Ganze
besser beurteilen zu können. Das ist schon wichtig.
({11})
Europa bestimmt immer mehr unser Leben. Wir sollten
hier im Deutschen Bundestag die Dinge miteinander
sehr konsequent beraten.
In diesem Sinne wünsche ich dem Deutschen Bundestag eine gute Zeit. Ich hoffe, dass es bald eine Neuwahl
gibt und dass nach dieser Neuwahl vor allem eines passiert: dass der Geist der 68er aus diesem Haus auszieht.
Schönen Dank.
({12})
Lieber Kollege Laumann, Ihre Abschiedsworte waren
- wie Ihre Worte hier immer - freundlich und zugespitzt
zugleich. Ich wünsche Ihnen herzlich alles Gute für Ihre
künftige Aufgabe.
({0})
Nun erteile ich Kollegin Thea Dückert, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
({1})
- Entschuldigung. Ich habe die Wortmeldung zu einer
Kurzintervention jetzt vergessen. Das holen wir nach.
Zunächst redet die Kollegin Dückert.
Danke, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter
Herr Laumann, Sie haben zum Schluss sehr harte Worte
gefunden. Ich hätte mir gewünscht, dass bei diesen letzten Worten ein wenig mehr Ihres Demokratieverständnisses zum Ausdruck gekommen wäre;
({0})
ich weiß nämlich, dass Sie es durchaus haben. Trotzdem
möchte ich mich persönlich recht herzlich für die Zusammenarbeit an vielen Stellen bedanken. Ich wünsche
Ihnen persönlich einen guten Weg. Sie haben hier noch
einmal ein gutes Beispiel dafür gegeben, warum es
wichtig ist, dass wir viel Kraft darauf verwenden, die Politik, die Sie hier vertreten, ganz stark zu bekämpfen und
ihr etwas entgegenzusetzen.
({1})
Es trifft zu, dass die Arbeitslosigkeit in diesem Land
viel zu hoch ist. Es trifft zu, dass deswegen viele unserer
notwendigen Reformen noch nicht wirken. Wo wegen
fehlender Wirtschaftsdynamik keine Arbeitsplätze
entstehen, kann auch nicht vermittelt werden. Aber es
trifft ebenso zu, dass viele Teile unserer Arbeitsmarktreformen gerade vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit ihre Wirkung entfalten und fortgeführt werden
müssen, damit sie es auch weiterhin tun können.
Ich nenne ein Beispiel für das, was die Union bekämpft. Die Existenzgründungshilfen haben vielen Menschen aus der Arbeitslosigkeit geholfen, haben sie unterstützt, den Mut zu finden, aus der Arbeitslosigkeit zu
gehen und selbstständig zu werden. 278 000 Menschen,
die diese Hilfe bekommen haben, sind nach einem Jahr
immer noch nicht wieder arbeitslos. Die Union will
diese Hilfen streichen. Wir wollen mit dem, was wir
heute vorlegen, genau diese Hilfestellung verlängern.
Unsere Gesetzgebung wirkt zum Beispiel auch beim
Zurückdrängen der Schwarzarbeit. Das ist ein großer Erfolg in diesen Zeiten.
({2})
Aber die Arbeitslosigkeit ist - ich sagte es schon nach wie vor zu hoch. Wir können das nicht akzeptieren.
Es ist eine sehr schwierige Situation gerade für Ältere.
Darum schlagen wir in dem Gesetzentwurf, der heute
vorliegt, einiges dazu vor. Ich will es lediglich kurz erwähnen, weil ich nur wenig Zeit habe.
Ein Beispiel ist die Entgeltsicherung. Viele Menschen kennen sie gar nicht. Es ist so, dass Langzeitarbeitslose über 50 Jahre, die wieder einen Job finden,
aber weniger verdienen als früher, eine Aufstockung auf
ihr altes Gehalt bekommen können. Das ist eine echte,
eine würdevolle und eine richtige Hilfestellung, damit
diese Menschen den Mut entwickeln, wieder in den Arbeitsmarkt hineinzugehen. Wir wollen die Geltungsdauer dieser Regelung verlängern.
({3})
Wenn ältere Menschen eingestellt werden, führt das
auch auf Unternehmensseite zu geringeren Abgaben
bzw. Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung. Das heißt,
wir haben auch den Unternehmen einen Anreiz gegeben.
Das ist wichtig, weil sie ja ältere Arbeitnehmer immer
wieder frühzeitig ausgrenzen, was wir für unakzeptabel
halten. Eine entsprechende Regelung ist also in dem,
was wir heute vorgelegt haben, vorgesehen.
Weil sich in dieser Gesellschaft ständig die Qualifikationsanforderungen ändern, ist ein weiterer Punkt wichtig, den wir heute hier zur Abstimmung stellen: Es geht
darum, dass betriebliche Weiterbildung für ältere Arbeitnehmer ab 45 Jahren gefördert wird. Betrieben bis zu
200 Beschäftigten werden Hilfen für Weiterqualifizierung dieser Arbeitnehmer gegeben. Ich glaube, auch das
ist wichtig.
Man muss hier noch einmal deutlich sagen, dass wir
ein großes Paket an Hilfestellungen haben. Das wird in
der Öffentlichkeit leider häufig nicht transportiert, weil
der Fokus auf andere Streits gelenkt wird. Dazu komme
ich gleich.
So wird heute auch die Verlängerung der Übergangsfrist für die Veränderung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes vorgeschlagen. Wir haben ja vor - das ist
Gesetz -, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes zu
verändern und an bestimmten Stellen auch zu reduzieren. Wir wollen nämlich dieser unseligen Frühverrentungspraxis, die seit Ende der 80er-Jahre in Deutschland
aufgebaut worden ist und den älteren Arbeitnehmern
nicht wohl tut, keinen Vorschub leisten. Sie ist nämlich
insofern problematisch, als sie dazu geführt hat, dass
viele Betriebe in Deutschland keine Beschäftigten mehr
haben, die älter als 50 Jahre sind, indem Ältere einfach
aufs Altenteil geschoben werden, ob sie es wollen oder
nicht.
({4})
Das, meine Damen und Herren, ist eine falsche Politik.
({5})
Deswegen hatten wir einen Gesetzentwurf eingebracht - der ja auch schon verabschiedet wurde -, der
dazu führt, dass diese Frühverrentungspraxis zum Beispiel durch Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes unattraktiver wird.
({6})
Die Übergangsfrist, bis die Regelungen dieses Gesetzes
in Kraft treten, wird nun um zwei Jahre verlängert.
({7})
Warum? Weil wir immer noch eine hohe Arbeitslosigkeit
haben, die bei den Menschen in den Betrieben Angst
auslöst. Und da wir diese Angst bei den Menschen in
den Betrieben ernst nehmen und wir bei Verabschiedung
des Gesetzes nicht erwartet haben, dass die Arbeitslosigkeit immer noch so hoch sein würde, darum verlängern
wir die Frist, bis die Regelungen dieses Gesetzes greifen.
Ich sage aber auch ganz deutlich, es besteht die Gefahr, dass diese Regelung von den Unternehmen missbraucht wird, um weiterhin die Älteren frühzeitig aufs
Altenteil zu schicken. Ich kann nur an die Unternehmen
und die Gewerkschaft appellieren, dass sie unsere Absicht, den Menschen in den Betrieben ein Stück Sicherheit zu geben, nicht ausnutzen, indem sie den betroffenen Personenkreis frühzeitig ausgliedern. Hier appelliere
ich insbesondere an die Unternehmen.
Lassen Sie mich noch eine abschließende Bemerkung
machen.
Aber eine kurze, bitte.
Eine kurze abschließende Bemerkung. - Die Union
will das blockieren. Sie begründet das damit, dass gemäß
dem Pofalla-Vorschlag Arbeitslosengeld über längere
Zeit bezogen werden könne. Indem sie dieses den Menschen suggeriert, verschweigt sie, dass die Bezugsdauer
des Arbeitslosengeldes für viele andere Menschen radikal verkürzt würde. Das ist ein Sparprogramm zulasten
von jungen Menschen und von solchen, deren Erwerbsbiografien durch Unterbrechungen gekennzeichnet sind.
({0})
Das betrifft insbesondere Frauen.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Das ist der letzte Satz. - Nach dem Unionsmodell
müssen Menschen ab 55 Jahren, um so, wie wir das vorhaben, 18 Monate Arbeitslosengeld zu bekommen, nicht
drei Jahre vorher gearbeitet haben, sondern insgesamt
25 Jahre. Erklären Sie einmal den Menschen, was daran
gerecht ist! Das ist ungerecht, meine Damen und Herren.
({0})
Nun erteile ich Kollegen Peter Dreßen das Wort zu einer Kurzintervention.
Ich möchte auf den Kollegen Laumann doch noch
zwei, drei Sätze erwidern. Mich hat furchtbar enttäuscht,
Herr Laumann,
({0})
dass Sie es bei Ihrer Abschiedsrede nicht unterlassen
konnten, dem Parlament ein paar Unwahrheiten mitzuteilen. Sie haben erklärt, dass die 58er-Regelung unerträglich sei. Ich darf Sie daran erinnern, dass diese Regelung eigentlich Ihr Parteifreund Norbert Blüm mit uns
gemeinsam Mitte der 90er-Jahre beschlossen hat, um ältere Arbeitnehmer vor dem sozialen Abstieg zu bewahren und verschiedene Dinge zu verhindern, und dass wir
gemeinsam dafür gekämpft haben, dass diese 58er-Regelung in Gang kommt. Ich gebe zu: Wir haben damals den
Fehler gemacht, das einseitig zulasten der Sozialkassen
zu regeln. Aber das haben Sie, wie gesagt, mitzuverantworten. Sie waren damals an der Regierung und haben
das so beschlossen.
Ältere Arbeitnehmer haben leider Gottes - ich bedauere das - heute nach wie vor Probleme, in Arbeit zu
kommen. Es gibt zwar Gott sei Dank ein paar Firmen,
die sich umbesinnen; aber bis das greift, sollte diese alte
Regelung - wir haben sie ja auf zwei Jahre, bis 2008, befristet - gelten. Deswegen finde ich es arg traurig, wie
Sie das hier dargestellt haben.
Mit dem zweiten Punkt, Herr Laumann, beziehe ich
mich auf den Pofalla-Vorschlag, von dem auch Sie gesprochen haben: Sie sollten sich einmal überlegen, was
es eigentlich für einen Familienvater im Alter von
25 oder 28 Jahren bedeutet, wenn er überhaupt kein Arbeitslosengeld bekommt, oder was es für Frauen bedeutet, wenn sie durch Kindererziehungszeiten geringere
Versicherungszeiten haben. Sie haben gesagt - das hat
mich furchtbar geärgert -, dass jemand, der noch nie eingezahlt hat, genauso viel bekommt wie jemand, der
40 Jahre lang eingezahlt hat. Sie wissen, dass das
schlichtweg unwahr ist!
({1})
Um überhaupt etwas zu bekommen, muss man mindestens zwölf Versicherungsmonate haben. Sagen Sie also
nicht solche Unwahrheiten! Das hat mich wirklich traurig gemacht. Ich hoffe, dass Sie in Ihrem neuen Amt ein
bisschen ehrlicher mit den Dingen umgehen; denn es
kann ja wohl nicht sein, dass Sie nach dem Motto leben:
Wessen Brot ich ess’, dessen Gewissen ich übernehm’.
({2})
Kollege Laumann, bitte.
Lieber Kollege Dreßen, Sie sind ja nun auch schon
eine lange Zeit - seit 1990, glaube ich - im Ausschuss.
Ich denke, dass Sie doch richtig zuhören können. Ich
habe gesagt, dass ich es nicht für richtig halte, dass - das
kann man auch nicht vermitteln - jemand, der lange Zeit
Beiträge gezahlt hat - mancher Leistungsträger in der
Privatwirtschaft bis zur Beitragsbemessungsgrenze -,
der über Jahrzehnte erheblich Einkommensteuer gezahlt
hat,
({0})
nach zwölf Monaten Arbeitslosengeldbezug - das haben
Sie überhört - so behandelt wird wie jemand, der nie gearbeitet hat.
({1})
- Gut, dann wollte ich das eben so sagen.
({2})
- Das werden wir ja im Protokoll nachlesen können. Das ist eines der wesentlichen Akzeptanzprobleme, die
wir haben.
Jetzt zum Vorruhestand. Damals, in den 90er-Jahren
- ich war ja schon dabei -, haben wir alle, auch Sie, geglaubt, dass bei dieser riesigen Umstrukturierung von
der Industriegesellschaft ein Stück weg hin zur Wissensgesellschaft, im Übrigen gleichzeitig mit der Aufgabe
der Wiedervereinigung - was unsere sozialen Sicherungssysteme bis jetzt alles gehalten haben, ist schon
eine Riesenleistung -, die Jüngeren in Arbeit kommen,
wenn die Älteren weggehen. Wir haben festgestellt: Die
Älteren sind weggegangen und die Jüngeren sind nicht
in Arbeit gekommen. Wir haben das Geld der Arbeitnehmer gebraucht, um das zu finanzieren.
Da wir diese Erfahrung - da nicken Sie auch - gemacht haben, passt die Kombination aus einer Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes und der
58er-Regelung nicht in die Landschaft, weil sie wie eine
Einladung wirkt, 32 Monate eher in Rente zu gehen.
Wenn Sie sich die Rentenkassen und die Kassen der Arbeitslosenversicherung anschauen, dann sehen Sie, dass
die dafür benötigten 5 Milliarden Euro nicht vorhanden
sind.
({3})
Deswegen brauchen wir ein intelligenteres Modell und
das wird meine Fraktion nächste Woche hier im Deutschen Bundestag vorstellen.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Dirk Niebel, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der 17. Juni war früher der Tag der Deutschen
Einheit. Die Union und wir haben gestern 60-jähriges
Parteijubiläum gehabt. Dabei ist ein Zitat immer wieder
erwähnt worden, das auch heute in diese Debatte durchaus eingeführt werden kann. Im Zuge der Wiedervereinigung hat Hans-Dietrich Genscher gesagt:
Nichts wird mehr so sein, wie es war. Nicht im
Osten, aber auch nicht im Westen.
Der zweite Teil dieses Satzes ist oftmals vergessen worden. Angesichts der Situation, in der sich unser Land
nach Ihrer siebenjährigen Regierungszeit befindet, darf
es nicht so weitergehen wie bisher. Wir müssen Veränderungen herbeiführen. Die heutige Debatte wirft ein grelles Licht auf das ganze Elend von Rot-Grün in Deutschland.
({0})
Ihr Bundeskanzler will vor die Wählerinnen und
Wähler treten, um sich von ihnen bestätigen zu lassen,
dass sein Kurs der Agenda 2010 richtig ist. Die Fraktionen, die diese Regierung angeblich tragen, handeln gegenteilig, indem sie - noch bevor es greift - genau das
rückgängig zu machen versuchen, was sie mit der
Agenda 2010 gesetzlich verankert haben. Der eine blinkt
rechts und die anderen fahren links; so sieht die politische Geisterfahrerei dieser Bundesregierung aus.
({1})
Die Arbeitslosenversicherung war niemals ein Kapitaldeckungssystem; vielmehr war sie immer - so ist
ihre Tradition - eine Risikoversicherung: Die Versichertengemeinschaft sollte für einen klar definierten Suchzeitraum den Erhalt des Lebensstandards absichern. Man
kann emotional nachvollziehen, dass jemand das eine als
gerecht und das andere als ungerecht empfindet. Aber es
geht tatsächlich darum, dass Fehlanreize gesetzt werden, wenn man bis zu 32 Monate Arbeitslosengeld beziehen kann, dessen Höhe sich nach dem letzten Nettoeinkommen berechnet. Nach zwölf oder 13 Monaten der
Arbeitslosigkeit wird man nie wieder das letzte Nettoeinkommen beziehen können. Mit fortschreitender Arbeitslosigkeit wird die Wahrscheinlichkeit, jemals
wieder einen Arbeitsplatz zu bekommen, immer geringer. Die von Ihnen vorgeschlagene Verlängerung der
58er-Regelung ist ein klassisches Frühverrentungsprogramm auf Kosten des deutschen Mittelstandes.
Andere Länder, in denen die Erwerbsbeteiligung von
Frauen und älteren Arbeitnehmern höher ist, haben eine
deutlich niedrigere Arbeitslosigkeit als die Bundesrepublik. Das heißt, sämtliche Frühverrentungsprogramme,
die auch andere Regierungen installiert haben, haben genau das Gegenteil dessen erreicht, was man bezwecken
wollte.
({2})
Ihr eigener Wirtschafts- und Arbeitsminister, Herr
Clement, hat völlig zu Recht gesagt, dass die Bundesrepublik im OECD-Vergleich die meisten Mittel in eine
aktive Arbeitsmarktpolitik investiert und dennoch am ineffizientesten ist. Daher stellt sich wirklich die Frage,
weshalb Sie mit der Verabschiedung der heute debattierten Vorlage die Geltungsdauer dieser ineffizienten arbeitsmarktpolitischen Instrumentarien, von denen Ihr eigener Minister nicht überzeugt ist, verlängern wollen.
Sie haben festgestellt, dass Ihre Vorschläge zum Verbot befristeter Beschäftigung Beschäftigung insgesamt
verhindern. Aber Sie sind den Weg nicht bis zum Ende
gegangen. Sie wollen, dass zwischen zwei befristeten
Beschäftigungsverhältnissen eine Wartezeit von zwei
Jahren liegen muss. Die Konsequenz daraus wäre beispielsweise, dass ein junger Mensch, der dank eines der
von Ihnen aufgelegten Programme zur Bekämpfung der
Jugendarbeitslosigkeit ein Praktikum in einem Betrieb
macht, nach einem entsprechenden Auftragseingang in
diesem Betrieb nicht befristet eingestellt werden kann,
damit dieser Auftrag abgewickelt wird, weil es keine
Wartezeit von zwei Jahren gab.
({3})
Unser Vorschlag ist besser: Um befristete Beschäftigungsverhältnisse zu ermöglichen und Kettenarbeitsverhältnisse zu verhindern, sollte es eine Phase von drei
Monaten der Nichtbeschäftigung zwischen zwei befristeten Beschäftigungsverhältnissen geben. Dadurch wären alle positiven Effekte bewahrt und alle negativen
ausgeschlossen.
Herr Präsident, erlauben Sie mir mit Blick auf die Uhr
noch einen Satz zum Kollegen Karl-Josef Laumann.
Karl-Josef, wir haben jetzt sieben Jahre zusammengearbeitet. Das war nicht immer leicht für uns. Wir haben
uns hier und da zusammenraufen müssen. Aber auch du
weißt, was in der Tierwelt gilt: Wer sich klein macht,
wird gebissen. Ich hoffe, du hast viel Freude in einer
gelb-schwarzen Regierung in Nordrhein-Westfalen. Wir
freuen uns, wenn wir hier gleichziehen können.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden wieder einmal über Hartz IV. Diesmal sollen ältere
Arbeitslose Arbeitslosengeld I doch wieder länger beziehen können, als ihnen ursprünglich zugestanden wurde.
Die PDS im Bundestag wird mit Ja stimmen, weil wir allem zustimmen, was Hartz IV entgiftet - sei es auch
noch so wenig.
({0})
Genauer betrachtet wird allerdings klar: Sie wollen
das beschlossene Unrecht gegenüber älteren Erwerbslosen nicht wirklich korrigieren. Sie wollen das beschlossene Unrecht lediglich für zwei Jahre aussetzen,
um dann zum Hartz-Original zurückzukehren. Dafür
wiederum bekommen Sie das Ja der PDS nicht.
({1})
Bemerkenswert ist übrigens auch die Begründung:
Ältere Erwerbslose fänden derzeit keine neue Arbeit,
weil Hartz IV noch nicht greife. Ich würde gern einmal
den Sozialdemokraten kennen lernen, der das wirklich
glaubt.
({2})
Denn landauf, landab wissen es alle: Hartz IV schafft
keine Arbeitsplätze, nicht für Jugendliche und auch nicht
für Ältere, jetzt nicht und auch nicht in zwei Jahren. Deshalb muss die Bestrafung älterer Arbeitsloser generell
beendet werden.
({3})
Noch entlarvender sind die Mahnungen aus den Reihen der CDU/CSU, der rot-grüne Vorstoß nehme Druck
von den älteren Arbeitslosen, sich um Arbeit zu kümmern, außerdem koste er 5 Milliarden Euro. Das zeigt im
Umkehrschluss, wie viel den älteren Arbeitslosen mit
Hartz IV genommen wurde. Es zeigt darüber hinaus,
welches Bild bei der CDU/CSU weiter gruselt, nämlich
das von den faulen und teuren Arbeitslosen, allemal den
älteren. Ich finde, Sie sollten sich schämen!
({4})
Aber auch mit der Minikorrektur, die wir heute im
Bundestag vornehmen und die anschließend im Bundesrat von den unionsregierten Ländern kassiert werden
wird, bleibt Hart IV ein unsoziales und ungerechtes Gesetz. Die PDS fordert weiterhin: Heben Sie die Arbeitslosengeld-II-Sätze in Ost und West einheitlich auf
420 Euro an. Wir fordern Sie auf, all das, was Altersarmut begünstigt und Kinder benachteiligt, zu streichen.
({5})
Eigenartigerweise höre ich Ähnliches zuweilen sogar
bei der SPD, etwa vom Bundestagspräsidenten. Ich kann
Rot-Grün daher nur dringend empfehlen: Ändern Sie
Hartz IV jetzt und korrigieren Sie gründlich. Das wäre
ehrlich; denn noch haben Sie die Mehrheit im Bundestag. Die beiden PDS-Stimmen hätten Sie dafür selbstverständlich.
({6})
Jetzt erteile ich noch einmal dem Kollegen Klaus
Brandner das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Der Arbeitsmarktprozess ist ohne
Frage der größte Reformprozess, den wir in diesem Land
angegangen sind. Ausgangspunkt war, dass die HartzKommission ein Konzept vorgelegt hatte, zu dem alle
gesellschaftlichen Gruppen - Wirtschaft, Arbeitgeber,
Gewerkschaften und Politik - gemeinsam einen Vorschlag erarbeitet haben. Dieser Vorschlag wurde von der
Union aufgegriffen, obwohl sie der Regierung die Umsetzung nicht zugetraut hat. Der Kanzler hat jedoch gesagt, wir haben so viel im Kreuz, wir trauen uns das zu.
Das war kein Diktat an das Parlament.
Ich habe noch nie erlebt, dass ein Vermittlungsausschuss und seine Arbeitsgruppen so viele Veränderungen
vorgenommen und so umfangreiche Debatten geführt
haben wie in diesem Prozess. Deshalb ist es eine Frechheit, hier zu behaupten, man habe den Parlamentarismus
beleidigt, indem man nicht die Punkte aufgenommen
hat, die in diesem Haus debattiert wurden.
({0})
Ich könnte massenhaft Änderungen aufzählen, angefangen von der Zumutbarkeit über die Fragen der Vermögensanrechnung und der Bezugsdauer bis hin zu Zeitarbeit und Ähnlichem. Aus Zeitgründen will ich es aber
nicht tun, stattdessen will ich richtig stellen, dass die
Höhe der Leistungen für diejenigen, die lange gearbeitet und nach dem Auslaufen des Arbeitslosengeldbezugs
in das Arbeitslosengeld II fallen, aufgrund des Einsatzes
von Rot-Grün nicht automatisch auf das Sozialhilfeniveau fällt. Wir haben eine Stufenform vorgesehen, die
die Union bekämpft hat und bis zum heutigen Tage bekämpft.
({1})
Deshalb ist es eine Sauerei, hier davon zu sprechen, das
sei unsozial.
({2})
- Das ist eine Sauerei, Herr Niebel.
Wer über die Leistungshöhe, die die Union vorgeschlagen hat, debattieren will, der muss wissen, dass in
ihrem Antrag - der nie verändert worden ist - steht:
Wenn es nach der Union ginge, dann sollten Menschen,
die langzeitarbeitslos sind, ein Arbeitslosengeld II auf
dem Niveau der Sozialhilfe bekommen, und das auch
nur, wenn sie tatsächlich arbeiten oder wenn sie gesellschaftlich notwendige Arbeit leisten. Wer das nicht tut,
soll eine 30-prozentige Kürzung hinnehmen. Das ist die
Wahrheit.
({3})
Wer hier von Leistungsberaubung spricht, beflunkert das
Volk.
({4})
Ich möchte nun einen Satz zu der 58er-Regelung sagen. Dazu sind die Stichworte Frühverrentung und
Missbrauch durch Großbetriebe gefallen. Lassen Sie uns
doch daran arbeiten, den Missbrauch einzugrenzen!
({5})
Wir haben eine gesetzliche Regelung, die den Erstattungsanspruch regelt. Wir haben diese Regelung verschärft. Über 4 Milliarden Euro sind seit 1998 aufgrund
dieser Erstattungsregelung eingeflossen. Wenn Sie wollen, können wir sofort darüber debattieren, wie wir das
noch weiter verschärfen können.
({6})
Die Frühverrentung anzuführen ist Quatsch; denn die
Frühverrentung ist nicht mehr attraktiv. Wir haben mit
Ihrer Zustimmung das Renteneintrittsalter angehoben.
Daneben gibt es ratierliche Abschläge, sodass es zwar
prinzipiell möglich ist, in die Frühverrentung zu gehen,
die materiellen Belastungen jedoch so hoch sind, dass es
unattraktiv ist. Auch das müssen Sie deutlich sagen.
({7})
Lassen Sie mich zum Schluss feststellen: Sie haben
gesagt, man müsse deregulieren und mehr Drive in die
Arbeitsmarktpolitik bekommen. Mir fällt dabei ein, dass
sich die Menschen jetzt auf die Betriebsratswahlen vorbereiten. Dies betrifft die Ebene, wie man in diesem
Land auf einer gesetzlichen Basis gestalten kann. Sie bereiten schon jetzt vor - das haben Sie angekündigt -, das
Betriebsverfassungsgesetz sofort zu ändern. Das hieße:
weniger Betriebsräte, weniger Freistellungen
({8})
und weniger Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen! Sie rufen nach Demokratie und beseitigen
Demokratie im Arbeitsprozess. Das ist die Wahrheit und
das müssen die Menschen in diesem Lande wissen.
({9})
Wer Gestaltung will, muss den Menschen dazu eine
rechtliche Grundlage belassen. Wir haben in das Betriebsverfassungsgesetz hineingeschrieben, dass die Gestaltung der Arbeitsbedingungen und die Gestaltung im
Rahmen der Beschäftigungssicherung eine Aufgabe ist,
für deren Bewältigung die Arbeitnehmer genauso qualifiziert sind wie die Manager. Deshalb wollen wir Teilhabe organisieren. Sie wollen sie entziehen. Das müssen
die Menschen in diesem Lande wissen.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und ande-
rer Gesetze auf den Drucksachen 15/5556 und 15/5602.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 15/5714, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP
angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung.
Dazu liegen mir von den Kolleginnen Birgitt Bender
und Anja Hajduk zwei Erklärungen zu Protokoll vor.1)
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen
Mehrheit wie soeben angenommen.
1) Anlage 2 und 3
Abstimmung über den von der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Lockerung
des Verbots wiederholter Befristungen auf Druck-
sache 15/5270. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 15/5714, den Gesetzentwurf abzu-
lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der Kollegin Pau
abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsord-
nung die weitere Beratung.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c sowie
Zusatzpunkt 11 auf:
17 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarieLuise Dött, Dr. Peter Paziorek, Dr. Klaus W.
Lippold ({0}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Für ein umwelt-, innovations- und mittel-
standsfreundliches REACH
- Drucksache 15/5454 -
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Alternativen zu Tierversuchen - REACH nut-
zen
- Drucksache 15/5686 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({1}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek,
Dr. Maria Flachsbarth, Marie-Luise Dött, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
REACH als Chance für einen Paradigmenwechsel nutzen - Alternativmethoden statt
Tierversuche
- Drucksachen 15/4656, 15/5720 Berichterstattung:
Abgeordnete Heinz Schmitt ({2})
Dr. Antje Vogel-Sperl
ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({3}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger,
Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Leistungsfähigkeit der Chemiewirtschaft in
Deutschland und Europa erhalten
- Drucksachen 15/5274, 15/5747 Berichterstattung:
Abgeordnete Heinz Schmitt ({4})
Dr. Antje Vogel-Sperl
Präsident Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Heinz Schmitt, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Erneut - wie schon oft in den letzten drei
Jahren - befassen wir uns heute mit der Neugestaltung
der europäischen Chemiepolitik, mit dem so genannten
REACH-System. Seit drei Jahren erfreuen Sie von der
Opposition uns mit immer neuen Anträgen zu diesem
Thema. Aber bei Ihren Anträgen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, hat man nicht das Gefühl, dass sich irgendetwas weiterentwickelt oder bewegt
hat. Sie treten seit Monaten auf der Stelle und versuchen,
das System von REACH insgesamt noch einmal zur Diskussion zu stellen.
Wir waren ja vor wenigen Wochen, Frau Flachsbarth
und Frau Homburger, auf gutem Wege, einen gemeinsamen Antrag zu REACH zu formulieren und einzubringen. Wir hatten ihn schon zu Papier gebracht. Aus unerklärlichen Gründen haben Sie diesen Antrag dann
zurückgezogen. Die Gründe liegen im Diffusen. Es handelte sich aber um eine gute Zusammenarbeit. Wir haben
vor allen Dingen die Chancen betont. Wir haben uns
überlegt, wie wir REACH positiv weiterentwickeln können. Schade, leider war es nicht zu realisieren.
Manchmal hat man, wenn man Ihre Anträge liest, das
Gefühl - so kommt es mir vor -, als wollten Sie Zeit
schinden und die Realisierung von REACH aus unerklärlichen Gründen hinauszögern. Manchmal kann man
in Ihren Anträgen auch Originalformulierungen der chemischen Industrie nachlesen. Teilweise ist das, was Sie
gebetsmühlenartig wiederholen, Schnee von gestern und
durch die aktuelle Entwicklung überholt, teilweise ist es
einfach unschlüssig.
({0})
In Ihren Anträgen wiederholen Sie Ihre alte Leier,
REACH würde den Industriestandort Deutschland überfordern. Dem widerspricht die von der Industrie in Auftrag gegebene Studie von KPMG, die zu dem eindeutigen Ergebnis kommt: REACH wird keine nachteiligen
Auswirkungen auf die Arbeitsplätze haben; das gilt
auch für den Produktionsstandort Deutschland und insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen. Durch
REACH wird es also nicht zu den Horrorszenarien kommen, die Sie in Ihren Anträgen beschreiben, in denen
von einer Deindustrialisierung Deutschlands, dem Verlust von Arbeitsplätzen und der Überforderung der mittelständischen Industrie die Rede ist. All die Befürchtungen, die Sie in Ihrer alten Leier ständig wiederholen,
haben gar keine Substanz.
({1})
Nun zu den zentralen Forderungen Ihrer Anträge, die
Sie plötzlich auf den Tisch legen: Sie fordern, von der
mengenorientierten Bewertung von Stoffen zu einem risikoorientierten System überzugehen.
({2})
Diese Forderung ist an mehreren Stellen widersprüchlich; denn die zentralen Ziele werden mit dem risikoorientierten Ansatz nicht erreicht: Es werden zum Beispiel keine Prüfkosten eingespart, der bürokratische
Aufwand ist weiterhin hoch und der Mittelstand wird
stärker belastet.
Ein solcher Ansatz würde zu keiner Lösung führen.
Es gibt darin Unschlüssigkeiten. Wenn Sie sich nur am
Risiko eines Stoffes orientieren, müssen zum Beispiel
alle Stoffe mit einer Produktion von weniger als einer
Jahrestonne auch untersucht werden. Wenn Sie die Expositionskriterien ansetzen - das ist ein wichtiger
Punkt -, dann gäbe es wesentlich mehr Stoffe, als der
Mengenregelung zufolge nur angemeldet werden müssen. Deshalb habe ich mit Ihrer Argumentation meine
Mühe.
Der Beantwortung der Frage, ob ein Stoff überhaupt
einer Bewertung zu unterziehen ist, muss eine Untersuchung vorausgehen. Sie werden mir zustimmen, dass
diese Forderungen widersprüchlich sind, weil man dafür
prinzipiell alle Stoffe erst einmal untersuchen müsste.
Sinn und Zweck der neuen europäischen Chemikalienpolitik ist es, das Risiko zigtausender chemischer Stoffe
erst einmal in Erfahrung zu bringen; denn sonst bräuchten wir das neue System nicht.
Auf Grundlage der paar Daten, die Sie von der Opposition zugestehen, ist keine echte Risikobewertung
durchzuführen. Deshalb muss Schluss sein mit dem Versuch, die weitere Bereitstellung von Stoffdaten zu umgehen, zumal wenn man weiß, dass der Industrie bereits ein
Großteil der geforderten Daten zur Verfügung steht. Wir
brauchen für alle Stoffe eine vernünftige Datenbasis,
um sie auf ihr Risiko überprüfen zu können. Genau das
würden wir durch REACH erreichen.
({3})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, REACH
wird in den nächsten 15 Jahren zu mehr Transparenz,
mehr Datensicherheit und mehr Verbraucherschutz beitragen. Deshalb kann ich Ihnen nur sagen: Lassen Sie
uns gemeinsam an REACH arbeiten. Wir wissen, dass
die Kosten dieses Systems bei weitem nicht so hoch sein
werden, wie sie oft dargestellt werden. Mittlerweile geht
man von einem Betrag zwischen 3 und 5 Milliarden
Euro aus. Gemessen an den Jahresumsätzen der gesamten Branche ist diese Summe eigentlich vernachlässigbar, vor allen Dingen, da sich diese Kosten über einen
Zeitraum von 15 Jahren erstrecken werden. Daher besteht keine Notwendigkeit, ständig gegen REACH zu
polemisieren.
Lassen Sie uns in den nächsten Monaten gemeinsam
daran arbeiten, das System REACH auf europäischer
Heinz Schmitt ({4})
Ebene zu realisieren. Lassen Sie uns auf diesem Gebiet
zusammenarbeiten. Der Industriestandort Deutschland
und die Menschen brauchen REACH. Wie die Untersuchungen und Einschätzungen belegen, sind wir, wie ich
glaube, auf einem guten Weg. REACH muss kommen
und REACH wird kommen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile Kollegin Marie-Luise Dött, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte einmal deutlich machen, worum es beim Thema
REACH eigentlich geht: Wir reden über einen Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission, den die
damalige Umweltkommissarin Margot Wallström geschrieben hat. Frau Wallström kommt aus Schweden, einem Land, in dem die chemische Industrie quasi nicht
existent ist. Es ist also nur folgerichtig, dass der Regelungsentwurf vorwiegend ideologisch geprägt ist und
keinen Blick für die wirtschaftlichen Probleme hat, die
er aufwirft. Fakt ist, dass REACH so, wie es derzeit formuliert ist, dem Mittelstand schadet; damit meine ich
nicht nur die Unternehmen der Chemie, damit meine ich
kleine und mittlere Unternehmen aller Branchen, von
der Bio-Autowaschanlage bis zum Hersteller von Duftölen. Jede Branche, die Produkte verwendet, in denen
chemische Stoffe enthalten sind, ist potenziell von
REACH betroffen. Überspitzt formuliert trifft REACH
jeden Unternehmer, der einen Farbtopf in die Hand
nimmt.
Wie hart der Mittelstand betroffen ist, zeigt uns die
KPMG-Studie der Kommission, die ja auch von Umweltminister Trittin gerne zitiert wird. Ergebnis der Studie ist, dass 20 Prozent der kleinvolumigen Stoffe, mit
denen der Mittelstand hauptsächlich arbeitet, vom Markt
verschwinden werden. Das hat Reformulierungs- und
Anpassungskosten zur Folge, die bis zu 20 Prozent eines
Jahresumsatzes betragen können. Hinzu kommen weitere Kosten in Höhe von 20 Prozent des Umsatzes allein
für die direkte Registrierung. Das macht insgesamt
40 Prozent des Umsatzes, nicht des Gewinns, meine Damen und Herren! Was meinen Sie wohl, wie viele unserer kleinen und mittelständischen Unternehmen in
Deutschland eine 40-prozentige Umsatzeinbuße so einfach wegstecken können? REACH setzt meines Erachtens genau die falschen Vorzeichen: Es verlangt dem
Mittelstand ab, was eh schon Mangelware ist, nämlich
Zeit und Geld, und das für endlose bürokratische Vorgänge.
({0})
Besser wäre es doch, das Potenzial zu fördern, das in
deutschen mittelständischen Betrieben mehr als genug
vorhanden ist, nämlich Innovationsvermögen und der
feste Wille, Arbeitsplätze zu schaffen und zu erhalten.
REACH in seiner jetzigen Form aber ist ein Innovationshemmschuh; auch zu diesem Ergebnis kommt die
KPMG-Studie. Die Forschungs- und Entwicklungsbudgets werden unverändert bleiben, während gleichzeitig
Forschungsressourcen in beträchtlichem Umfang durch
die Anpassung an REACH gebunden werden.
Der Entwurf, den Frau Wallström vorgelegt hat, ist
also dramatisch verbesserungswürdig. Das sehen nicht
nur wir von der CDU/CSU so, sondern wir befinden uns
da in bester Gesellschaft zum Beispiel mit dem Industriekommissar Verheugen. Herr Verheugen hat während
der Anhörung im Europäischen Parlament ausdrücklich
gesagt, dass er beabsichtigt, den Entwurf grundlegend zu
überarbeiten. Wie notwendig solch ein Schritt ist, macht
auch die derzeit stattfindende erste Lesung im Europäischen Parlament mehr als deutlich: 1 183 Änderungsanträge sind allein im federführenden Umweltausschuss
eingegangen. Zusammen mit denen der mitberatenden
Ausschüsse werden es an die 4 000 Änderungsvorschläge.
({1})
Nahezu jeden Artikel des Entwurfs wollen die Abgeordneten des Europäischen Parlaments verbessern - zu
Recht, meine Damen und Herren. Allenthalben besteht
also Einigkeit, dass der Verordnungsentwurf so überarbeitet werden muss, dass er keine Gefahr für Mittelstand und Arbeitsplätze darstellt.
({2})
Der Ort, um diese Interessen Deutschlands im weiteren Gesetzgebungsprozess zu vertreten, ist der Wettbewerbsfähigkeitsrat. In diesem sitzen die Wirtschaftsminister der Mitgliedstaaten zusammen und beraten über
das Dossier. Nun könnte man meinen, für Herrn Clement
wäre es ein Leichtes, dort die deutschen Wirtschaftsinteressen zu vertreten. Leider nimmt Herr Clement diesen
Platz aber nicht ein. Deutschland leistet es sich als einziges Land, den Umweltminister anstatt den Wirtschaftsminister zu REACH in den Rat zu entsenden.
({3})
Von Herrn Trittin war bislang aber noch kein einziger
Vorschlag zu vernehmen, wie er die wirtschaftlichen
Belastungen des Mittelstands durch REACH schmälern möchte.
({4})
Die sinnvollen Vorschläge, die von Dritten an ihn herangetragen wurden und die von den kleinen und mittleren
Unternehmen des Landes mitgetragen werden, hat er kategorisch abgelehnt.
({5})
Selbst die Punkte, die das Umweltministerium in seiner
gemeinsamen Positionierung mit den Gewerkschaften
und der Chemieindustrie als notwendige Handlungsfelder festgehalten hat, sind noch nicht in den Rat eingebracht worden. Als Beispiel möchte ich hier nur die Einführung von Verwendungs- und Expositionskategorien
nennen.
Die Bundesregierung tut also nichts, um dem Mittelstand im Falle REACH zu helfen. Inzwischen sind die
kleinen und mittleren Unternehmen sogar schon so weit,
dass sie auf die Straße gehen, um den Umweltminister
zu einem Einlenken zu bewegen,
({6})
nämlich die KPMG-Studie ernst zu nehmen und auf die
darin enthaltenen Vorschläge einzugehen. Leider treffen
Sie damit bei Herrn Trittin nicht auf offene Ohren.
({7})
Wir werden es besser machen:
({8})
Erstens. Wir werden unter anderen Vorzeichen in die
Ratsarbeitsgruppe gehen. Die deutsche Stimme hat hier
Gewicht. Wir werden die Möglichkeiten, die sich daraus
ergeben, auch nutzen.
Zweitens. Wir werden mehr Umweltschutz und mehr
Gesundheitsschutz bei REACH fordern; denn auch hinter diesem Argument kann sich Rot-Grün nicht verstecken. Das derzeitig vorgeschlagene System knüpft die
Stoffbewertung nicht an die Gefährlichkeit eines Stoffes,
sondern allein an Mengen. Kleine Mengen eines gefährlichen Stoffes können aber ungleich risikoreicher sein
als hohe Tonnagen einer ungefährlichen Chemikalie.
Nehmen Sie zum Beispiel Zyankali. Deswegen wird sich
die CDU/CSU dafür einsetzen, dass das Bewertungssystem an solche Aspekte anknüpft, die für den Umweltund Gesundheitsschutz ausschlaggebend sind, nämlich an das Risiko und an das Ausgesetztsein des Menschen gegenüber diesem Risiko.
({9})
Drittens. Wir werden darauf beharren, dass der Mittelstand durch REACH nicht stranguliert wird. Dafür
müssen die Registrierungskosten für kleinvolumige
Stoffe eingedämmt werden. Derzeit liegen sie in der
Größenordnung der Entwicklungskosten und stehen damit in keinem angemessenen Verhältnis zum Umsatz.
Die Registrierung muss also unbürokratischer, flexibler
und kostengünstiger werden. Unser Vorschlag ist hier,
die Einführung von Verwendungs- und Expositionskategorien endlich engagiert voranzutreiben und sich für
eine Stärkung der Rolle der europäischen Chemikalienagentur einzusetzen.
Viertens. Wir werden uns dafür einsetzen, dass der
Innovationsstandort Deutschland nicht unter REACH
leidet. Dabei ist die Zeit, die ein Stoff oder Produkt bis
zur Markteinführung benötigt, entscheidend. Wir wollen
vermeiden, dass deutsche Hersteller ihre Produkte erst
dann auf den Markt bringen können, wenn sich die chinesischen Konkurrenten schon monatelang im Markt
etabliert haben. Ansatzpunkt ist auch hier wieder das Registrierungsverfahren. Je unkomplizierter und schneller
die Registrierung ist, desto geringer ist der Innovationsvorsprung der internationalen Mitbewerber.
({10})
Fünftens. Wir werden verhindern, dass REACH zu einem Jobkiller wird. Wenn REACH nicht entscheidend
verändert wird, besteht die Gefahr, dass sich dies negativ
auf die Arbeitsmarktsituation auswirkt. Mit den Vorschlägen, die wir in unserem Antrag gemacht haben,
wollen wir genau das verhindern.
Meine Damen und Herren, mit unserem Antrag „Für
ein umwelt-, innovations- und mittelstandfreundliches
REACH“ zeigen wir einen Rahmen auf, wie der Verordnungsvorschlag in den entscheidenden Weichenstellungen sinnvoll verbessert werden kann. Dabei verlieren
wir keine der Zielsetzungen aus den Augen, sondern
bringen Umwelt- und Gesundheitsschutz, Innovationspolitik sowie Wirtschafts- und Mittelstandsaspekte in ein
ausgewogenes Verhältnis.
Vielen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort Kollegin Antje Vogel-Sperl,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
möchte ich einige Fakten klarstellen: Einigkeit besteht
zum einen in der Notwendigkeit der Neuordnung des
europäischen Chemikalienrechts und zum anderen in der
Zielsetzung. Wenn es aber um die konkrete Ausgestaltung geht, stellen wir fest, dass Sie, meine Damen und
Herren von der Opposition, erstens die Chancen von
REACH völlig ausblenden
({0})
und zweitens immer wieder versuchen, den grundsätzlichen Ansatz von REACH, die Kombination aus mengen- und risikobezogenem Ansatz, in einen expositionsbezogenen Ansatz umzukehren.
Das hört sich zunächst einmal gut an.
({1})
Bei genauer Prüfung stellt man aber fest, dass dies nicht
zielführend ist. Ich sage Ihnen auch, warum:
Erstens. Die jeweilige Exposition ist für die Hersteller
einer Chemikalie nur schwer zu ermitteln.
Zweitens. Die konkrete Exposition kennt in der Regel
meist nur der nachgeschaltete Anwender.
Drittens ist eine Exposition jederzeit veränderlich.
Ihre Vorschläge laufen darauf hinaus, die chemische
Industrie auf Kosten nachgeschalteter Industriezweige
zu entlasten
({2})
und auf Kosten des Umwelt- und Verbraucherschutzes
notwendige Prüfungen zu Langzeitgefahren einzusparen. Genau deshalb lehnen wir Ihre Anträge ab.
({3})
Was die Kosten betrifft, gibt es bemerkenswerte Ergebnisse der aktuellen KPMG-Studie, einer Studie, die
von der Industrie in Auftrag gegeben wurde: moderate
Kosten für die Wirtschaft, eben kein - wie vielfach proklamiert - Stoffsterben, kein Wegbrechen ganzer Wertschöpfungsketten und vor allem ein allgemein anerkannter geschäftlicher Nutzen. Das heißt nichts anderes, als
dass die EU hinsichtlich neuer Standards in der Tat zum
Vorreiter auf dem Weltmarkt wird. Die anderen Staaten
werden nachziehen müssen; denn die EU ist der größte
Binnenmarkt. Nicht zuletzt deshalb lehnen die USA
REACH so vehement ab.
Ausdrücklich weise ich darauf hin, dass wir im Gegensatz zu Ihnen bereits im Jahr 2004 in unserem Antrag
das Prinzip „ein Stoff - ein Dossier“ aufgeführt haben,
um Kosten zu senken sowie Bürokratie und unnötige
Tierversuche zu vermeiden.
Damit bin ich beim Thema Tierschutz.
({4})
Tatsache ist, dass wir auch hier bereits in unserem Antrag aus dem Jahr 2004 verbindliche Regelungen gefordert haben: erstens zur Verhinderung doppelter Wirbeltierversuche, zweitens für eine gemeinsame Nutzung
von Daten und drittens für die Anwendung alternativer
tierversuchsfreier Testmethoden einschließlich der benötigten Forschungsmittel.
Es ist sehr zu bedauern, dass sich insbesondere die
Union nun entschieden hat, von einem interfraktionellen
Antrag Abstand zu nehmen;
({5})
denn ein fraktionsübergreifender Antrag hätte diesem
Thema in Brüssel größtmögliches Gewicht verliehen.
Bedauerlich ist der Rückzug auch deshalb, weil der Antrag bereits abgestimmt war. Das zeigt: Wenn es an das
konkrete Handeln geht, ziehen Sie sich aus machtpolitischen Gründen zurück. Ihnen ist Wahlkampf wichtiger
als Tierschutz. Das zeigt aber auch, wem der Tierschutz
tatsächlich am Herzen liegt.
({6})
Wir bringen diesen Antrag nun als Koalitionsantrag
ein. Hier und heute müssen Sie Farbe bekennen, ob es
Ihnen mit dem Tierschutz wirklich ernst ist
({7})
oder ob der Tierschutz von Ihnen nur als Vorwand genutzt wird, um vor allem die großen Hersteller von Chemikalien zu entlasten.
Noch einige Bemerkungen zum Schluss: Hören Sie
auf, unseren Standort schlecht zu reden. Das ist unverantwortlich.
({8})
Im Gegensatz zu Ihnen gehören für uns Grüne Ökologie
und Ökonomie untrennbar zusammen. Wir sind der festen Überzeugung, dass ökologische Innovationen Wettbewerbsvorteile schaffen, und dafür sind entsprechende
Rahmenbedingungen, wie REACH, notwendig. Im Gegensatz zu Ihnen setzen wir auf die Entwicklung neuer
Stoffe anstatt auf die Anwendung alter.
Ihre alten Antworten - die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke usw. - bringen Deutschland
nicht weiter, sondern bedeuten einen Rückschritt. Auf
die eigentlichen Fragen, wie wir uns im globalen Wettbewerb behaupten können und wie wir unsere Abhängigkeit von fossilen Ressourcen reduzieren können, haben Sie keine Antwort. Wir Grüne setzen auf eine
Umstellung der Rohstoffbasis auf nachwachsende Rohstoffe mit der Bioraffinerie-Technologie und der Weißen
Biotechnologie gerade in der Chemieindustrie und bei
den Kraftstoffen. Dabei wird uns REACH helfen; denn
REACH setzt Innovations- und Substitutionsanreize.
Weil wir kein Niedriglohnland sind, müssen wir bei der
Entwicklung neuer Technologien die Nase vorne haben.
Aus all dem folgt ganz klar: REACH ist gut und wir
brauchen REACH.
Vielen Dank.
({9})
Ich erteile das Wort Kollegin Birgit Homburger, FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren heute zum wiederholten Male die REACHVerordnung zur Neuordnung der europäischen Chemikalienpolitik. Ich sage noch einmal, was damit erreicht
werden soll: Ziel soll sein, die Sicherheit für Mensch
und Umwelt im Umgang mit Chemikalien zu erhöhen,
gleichzeitig allerdings die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der europäischen Chemieindustrie zu erhalten. Das steht in dieser Verordnung. Ich sage Ihnen
klar und deutlich: Das wird mit dem, was bisher vorliegt,
nicht erreicht. Im Gegenteil, wir gefährden massiv Arbeitsplätze, vor allen Dingen in der deutschen chemischen Industrie.
({0})
Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben seit vier Jahren darauf hingewiesen, dass diese Ziele nicht erreicht
werden und dass die Regelungen, so wie sie jetzt ausgestaltet sind, zu mehr Bürokratie führen. REACH führt zu
massiver bürokratischer Belastung. Wir müssen uns einfach darüber im Klaren sein, dass Deutschland der
größte Chemiestandort in der Europäischen Union ist.
500 000 Arbeitsplätze nicht nur in der chemischen Industrie, sondern auch in allen Industriezweigen, die Chemikalien und chemische Produkte herstellen, importieren oder verarbeiten, hängen daran. Das heißt, von den
Regelungen sind sehr viele kleine und mittlere Betriebe
und vor allen Dingen sehr viele Arbeitsplätze betroffen.
({1})
Sie berufen sich auf die KPMG-Studie. Es gibt inzwischen eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft,
in der auch die bereits auf europäischer Ebene erfolgten
Veränderungen berücksichtigt werden. Diese Studie
kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. Ich kann Ihnen
nur sehr deutlich sagen: Wir müssen den jetzt gewählten
Ansatz verändern und zu einer Risikobewertung kommen. Das fordern wir seit Vorlage des Weißbuches vor
vier Jahren, Herr Schmitt. Was in den Anträgen steht, ist
ja nichts Neues; darüber sprechen wir schon länger. Aber
bisher hatten wir damit bei Ihnen keinen Erfolg.
({2})
Es geht doch beim Umgang mit Chemikalien darum,
die Risiken bei der Herstellung, der Verarbeitung und
der Anwendung zu minimieren; darüber haben wir diskutiert. Das Beispiel Lampenöl ist von der Kollegin Dött
gerade genannt worden. Ein anderes Beispiel ist der Toilettenreiniger. Diese Substanzen sind nicht dafür geeignet, in die Hände von Kindern zu gelangen und getrunken zu werden - das wissen wir alle -; denn sie sind
ätzend. Es hilft uns aber nicht weiter, wenn wir das weiter untersuchen. Vielmehr müssen wir für eine entsprechende Sicherheit sorgen. Wir müssen endlich erreichen,
dass es zu mehr Sicherheit kommt.
({3})
Sie stellen in Ihrem Verordnungsentwurf nach wie vor
auf Mengenschwellen ab. Die Produktionsmenge von
einer Jahrestonne sagt aber überhaupt nichts über die
Gefährlichkeit oder die Beherrschbarkeit eines Stoffes
aus.
({4})
Deswegen ist es wichtig, dass wir hier auf die Risiken
abstellen und die Informations- und Prüfanforderungen
entsprechend auf Exposition und Risiken ausrichten.
({5})
Wir wollen auch im Tierschutz ein hohes Schutzniveau; das haben wir sehr deutlich gemacht. Herr Kollege Schmitt, Sie haben heute Morgen gesagt, die Daten
lägen überwiegend vor. Das ist zwar richtig, aber mit
dieser Verordnung wird es zu einem Mehr an Tierversuchen kommen.
({6})
Genau das wird das Ergebnis sein. Das wollen wir nicht.
Deswegen wollten wir einen gemeinsamen Antrag vorlegen. Aber die Sache ist doch, dass wir auch einmal mit
neuen Ansätzen arbeiten müssen; das haben wir in unseren Anträgen immer wieder vorgeschlagen. Beispielsweise müssen wir die Informationen über Chemikalien,
die wir heute schon haben - aus Sicherheitsdatenblättern, aus arbeitsmedizinischen Datenblättern, aufgrund
toxikologischer und pharmakologischer Erkenntnisse
und in Form von Ergebnissen aus Altstudien -, verwerten. So werden wir dazu beitragen, auf der einen Seite
die Sicherheit zu erhöhen und auf der anderen Seite die
Zahl der Tierversuche zu minimieren. Dieses Ziel verfolgen wir.
({7})
Es nützt uns überhaupt nichts, wenn der chemischen
Industrie in Europa massive bürokratische Belastungen aufgebürdet werden, die eben nicht zu einem höheren Umwelt- und Gesundheitsschutz führen. Wenn die
Arbeitsplätze anschließend ins Ausland verlagert werden, wo die Anforderungen deutlich unter dem Niveau
liegen, das wir hier in Europa haben, dann haben wir
dem Umwelt- und Gesundheitsschutz und im Übrigen
auch den Arbeitsplätzen in Europa einen Bärendienst erwiesen. Genau das passiert mit der REACH-Verordnung.
({8})
Ich möchte abschließend sagen: Wir können mit den
Anträgen, die wir gestellt haben, nur zu einer Versachlichung der Diskussion und nur zu einer Weiterentwicklung im Bereich der REACH-Verordnung beitragen. Das
haben wir in den letzten Jahren auch erreicht. Wir können REACH allerdings nicht hinauszögern. Ich sage Ihnen aber eines: Wenn wir nach dem 18. September 2005
die Möglichkeit dazu haben - und wir werden die Möglichkeit dazu haben -,
({9})
dann werden wir dafür sorgen, dass es eine Lösung gibt,
mit der die Arbeitsplätze in diesem Lande erhalten bleiben und gleichzeitig der Umwelt- und Gesundheitsschutz vorangetrieben wird.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile das Wort Bundesminister Jürgen Trittin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
den Debatten dieser Tage hier im Hause aufmerksam
lauscht, dann erfährt man Erstaunliches. Gestern beispielsweise habe ich hier Frau Merkel erlebt, die uns zu
erklären versuchte, dass die europäische Verfassung in
Frankreich deswegen abgelehnt worden sei, weil
Deutschland zu sehr auf eine deutsch-französische Dominanz in Europa setze.
({0})
Wahrlich eine erhellende Bemerkung!
({1})
In der Fortsetzung der Debatte, wie man das überwinden
kann, wie man also die proeuropäische Stimmung in
Europa wieder herstellen kann, hat sie uns ein einziges
Argument genannt, nämlich, man müsse dafür sorgen,
dass zur europäischen Chemikalienpolitik nicht wieder
4 000 Änderungsanträge auf den Tisch kommen, das sei
der eigentliche Kern.
({2})
Man kann sich über Europapolitik oder Umweltpolitik streiten, aber es ist ein dermaßen erbärmliches Niveau, auf dem Sie an seriöse Probleme des Kontinents
herangehen,
({3})
dass ich nur sagen kann: Es ist gut, dass Sie dieses Land
nicht regieren, und wir werden alles tun, damit es nicht
dazu kommt.
({4})
Sie, Frau Dött, haben sich hier hingestellt und gesagt,
REACH sei eine Erfindung, die sozusagen aus der Kälte
Skandinaviens komme, Margot Wallström habe sie erfunden.
({5})
Sie irren sich, gnädige Frau. Wenn Sie erfahren wollen,
wann die Debatte über REACH angefangen hat, dann
müssen Sie in die Zeit vor 1998 schauen, zum Beispiel
in das Jahr 1997.
({6})
- Nein, 1997, gnädige Frau. - Damals fand sich in der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ein Aufsatz mit der
Überschrift: „Zum Handeln verpflichtet“. In diesem
Aufsatz geht es um die Spannung des Verhältnisses zwischen Gefahrenabwehr im Rahmen des Umweltschutzes und der Notwendigkeit, nicht nur Gefahrenabwehr
zu betreiben, sondern vorbeugend tätig zu werden, also
bevor Schäden auftreten. In dem Beitrag wird zum Beispiel geschildert, wie es in allen industrialisierten Ländern zu einem massiven Anstieg von Prostatakarzinomen, von Brustkrebs und Hodenkrebs gekommen ist. Es
wird der Zusammenhang zu der Frage hergestellt, ob das
vielleicht damit zu tun hat, dass bestimmte hormonell
wirkende und erbgutverändernde Chemikalien verstärkt
in die Umwelt kommen. Dann kommt die Autorin dieses
Aufsatzes zu der Auffassung, dass man nicht abwarten
kann, bis man einen kausalen Zusammenhang zu diesen
Krankheiten gefunden hat, und schreibt:
Sollte sich die Hypothese einer Schädigung von
Mensch und Umwelt durch Umwelthormone in der
Forschung erhärten,
- nicht: nachweisen ({7})
wird die Bundesregierung entsprechend dem Vorsorgeprinzip handeln.
({8})
Dieser Aufsatz stammt von Dr. Angela Merkel.
({9})
Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Frau Merkel hat Recht
gehabt. Damals hatte sie Recht, nicht gestern mit ihrer
Polemik gegen REACH. Denn das ist der Grundansatz
gewesen, weswegen wir in Kontinuität dieses Verständnisses
({10})
von Vorsorgepolitik 1999 auf dem Umweltrat hier in
der Bundesrepublik Deutschland unter deutscher Präsidentschaft den Anstoß für REACH gegeben haben.
({11})
Wir sind der Auffassung, dass wir Schluss damit machen
müssen, in der Chemiepolitik bei Problemen für die Gesundheit immer erst dann anzusetzen, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen und die entsprechenden
Nachweise erbracht worden sind. Der Kern von REACH
besteht in der Vorsorge und der Umkehr der Beweislast. Genau das, was Frau Merkel 1997 gefordert hat,
nimmt sie heute als Grund dafür, warum die Europäer
die Verfassung ablehnen.
({12})
Absurder geht es nicht!
({13})
Erlauben Sie mir eine weitere Bemerkung. Sie haben
viel über den Mittelstand gesprochen. Reden Sie einmal
mit Mittelständlern
({14})
darüber, was passiert, wenn sie wie ein großes mittelständisches deutsches Chemieunternehmen, das in Ludwigshafen ansässig ist, den risikoorientierten Ansatz
übernehmen. Die Kosten, die ihnen für ihre kleinen
Mengen an Chemikalien entstehen, werden astronomisch hoch sein. Wer für den Mittelstand ist, muss sich
wie die Bundesregierung für eine Politik nach dem
Motto „ein Stoff - eine Registrierung“ einsetzen; denn
sie führt nicht nur zu einer drastischen Verringerung von
Tierversuchen, sondern erlaubt auch Mittelständlern,
entsprechend zu handeln.
({15})
Wer für den Mittelstand ist, muss sich auch für standardisierte Verwendungskategorien einsetzen. All dies sind
Vorschläge der Bundesregierung in dieser Debatte.
Ich bin sehr dafür, in der Umweltpolitik immer auch
die wirtschaftlichen Auswirkungen zu berücksichtigen. Dafür gibt es die so genannten Impact Assessments.
Aber man muss deren Ergebnisse auch zur Kenntnis
nehmen. Es sind schließlich mittlerweile 35 Impact Assessments durchgeführt worden. Nach diesen Assessments hat ein Workshop unter niederländischer Präsidentschaft - wohlgemerkt: dort regieren keine Grünen stattgefunden. Das Ergebnis der gesamten Folgenabschätzung war: Der volkswirtschaftliche Nutzen von
REACH überwiegt bei weitem die volkswirtschaftlichen
Kosten. Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis!
({16})
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
({0})
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Weil Sie
das nicht zur Kenntnis nehmen wollten, wurde noch eine
weitere Studie in Auftrag gegeben. Von der Wirtschaft
beauftragt, hat die KPMG alle Vorurteile, dass Stoffe
wegfallen würden, überprüft. Auch dieses Gutachten
kommt zu dem Ergebnis, das Sie nicht akzeptieren wollen und das selbst der Wettbewerbskommissar, Herr
Verheugen, mit den Worten kommentiert hat: Die Behauptung, dass REACH die Industrie ruiniert, ist damit
endgültig vom Tisch.
({0})
Das ist der Hintergrund, warum der Vorsitzende des
Wettbewerbsrats, dem übrigens auch die dänische Umweltministerin angehört, in der letzten Sitzung zu demselben Ergebnis gekommen ist wie ich.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Wir nehmen keine weiteren Folgenabschätzungen
vor; wir kommen in Sachen REACH zu Entscheidungen.
Machen Sie Schluss mit Ihrer Obstruktionspolitik in dieser Frage!
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Peter Paziorek.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesminister, es ist
leider im höchsten Maße bedauerlich, dass Sie eine Äußerung unserer Fraktionsvorsitzenden, Frau Dr. Merkel,
in einer Art und Weise zitiert haben, die völlig falsch
wiedergibt, was unsere Fraktionsvorsitzende gestern in
der Plenarsitzung gesagt hat.
({0})
Mir liegt das Protokoll vor. Sie hat zu der Frage der
wirtschaftlichen Entwicklung in Europa erklärt:
Die Menschen machen sich Sorgen, wenn Sie sich
mit einer Chemikalienrichtlinie auseinander setzen, zu der allein 4 000 Änderungsanträge vorliegen.
Wie können Sie sich darauf berufen, dass das eine Polemik sei, die sich gegen eine sinnvolle Chemikalienpolitik richte? Frau Merkel hat darauf hingewiesen, dass in
Deutschland ein Vorschlag der Europäischen Kommission auf der Tagesordnung steht - mit Ihrer Unterstützung, Herr Minister Trittin -, der große Besorgnis bei
Arbeitnehmern, Behörden und den Menschen hervorruft,
deren wirtschaftliche Existenz von diesem Bereich abhängt, und was zeigt, dass manchmal über die Interessen
der Menschen hinweggegangen wird.
Frau Merkel hat an keiner Stelle gesagt, dass die Chemikalienpolitik unnötig und überflüssig sei. Sie hat aber
dafür plädiert - das war ihr Petitum -, eine Chemikalienpolitik zu machen, die Ökonomie und Ökologie zusammenführt. Wir halten es deshalb für absolut unerträglich,
dass Sie diese Äußerung unserer Fraktionsvorsitzenden
als Polemik gegen eine sinnvolle Umweltpolitik bezeichnen.
({1})
Kollege Trittin, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Paziorek, ich lasse mir nur ungern nachsagen,
falsch zu zitieren. Ich habe das Protokoll der gestrigen
Sitzung vor mir liegen. Dort heißt es:
Die Menschen machen sich Sorgen, wenn sie erleben, dass es Regelungstatbestände gibt, von denen
sie sagen, dass wir sie in Europa wirklich nicht
brauchen.
Was ist das anderes als eine Totalabsage an REACH!
({0})
Dann fährt sie fort:
Die Menschen machen sich Sorgen, wenn Sie sich
mit einer Chemikalienrichtlinie auseinander setzen, zu der allein 4 000 Änderungsanträge vorliegen.
({1})
Jetzt fragen wir uns doch einmal, woher diese Änderungsanträge kommen. Sie wissen so gut wie ich, dass
der überwiegende Teil dieser Änderungsanträge auf einen beispiellosen Vorgang, wie wir ihn in der Geschichte
der europäischen Gesetzgebung in dieser Form noch
nicht erlebt haben, zurückgeht.
({2})
Der allergrößte Teil dieser 4 000 Änderungsanträge ist in
den Thinktanks von CEFIC und in den Labors der chemischen Industrie in Deutschland und in Europa geschrieben worden.
({3})
Es ist unredlich, auf der einen Seite gegen Richtlinienvorschläge mit der Methode des Filibusterns hoch
bezahlter Lobbyisten vorzugehen und sich auf der anderen Seite hier anschließend über die große Anzahl dieser
Anträge aufzuregen.
({4})
Das ist unredlich.
({5})
Ich will noch einen Punkt hinzufügen. Wer in dieser
Woche aufmerksam die Zeitungen gelesen hat, der weiß:
Es liegen die neuen Befunde zur Zusammensetzung
der Muttermilch in diesem Lande vor. Die gute Nachricht ist, dass beispielsweise die Dioxinbelastung in der
Muttermilch deutlich gesunken ist. Dies ist eine Folge
ambitionierter Umweltpolitik Ihrer Umweltminister und
dieser Regierung. Wir können uns gemeinsam darüber
freuen.
({6})
Was uns aber Sorgen machen sollte, ist, dass sich die
Zusammensetzung des Chemiecocktails in der Muttermilch dramatisch verändert. Es geht um Belastung durch
Hormone und erbgutverändernde Substanzen. Es geht
also um genau das, worüber wir bei REACH reden. Die
Menschen befürchten - darüber machen sie sich Sorgen
angesichts Ihrer Chemiepolitik -, dass solche Belastungen zu schweren und schwersten Krankheiten gerade bei
Kindern in einem Alter führen, in dem sie besonders
empfindlich sind.
({7})
Es gilt daher, Vorsorge zu treffen. Vorsorge ist das
Grundprinzip von REACH. Wer fundamental dagegen
argumentiert, der argumentiert gegen Vorsorge in der
Umweltpolitik.
({8})
Das werfe ich Frau Merkel in der Tat vor.
({9})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister, wir diskutieren hier zu Recht des Öfteren - und heute wieder einmal - über ein zentrales umwelt- und wirtschaftspolitisches Thema, nämlich
REACH. Dass Sie versuchen, die Angst der Menschen
als Argument in diese Diskussion einzuführen, Herr
Minister, ist absolut unangemessen. Es gilt, immer wieder eines zu betonen: In diesem Hause gibt es den fraktionsübergreifenden Konsens, die Sicherheit für Mensch
und Umwelt beim Umgang mit Chemikalien zu erhöhen.
({0})
Herr Minister, es geht hier überhaupt nicht um die
Frage des Ob, sondern um die Frage des Wie. Nachdem
meine Vorrednerin zu Recht auf die wirtschaftspolitischen Auswirkungen eingegangen ist, möchte ich betonen: Es kann nicht sein, dass wir unsere Chemiewirtschaft einem Experiment unterziehen, im Verlaufe
dessen Tausende von Arbeitsplätzen zur Disposition stehen könnten.
Ich möchte mich in meiner Rede nun vor allen Dingen der tierschutzpolitischen Relevanz dieser Frage zuwenden; denn auch hier gibt es noch Bereiche, die völlig
ungeklärt sind.
Die tierschutzpolitische Problematik ist hinlänglich
bekannt und ist inzwischen auch von Ihnen erkannt worden. REACH in der derzeitigen Form würde zu einem
dramatischen Anstieg der Zahl der Tierversuche führen.
In den Einschätzungen ist von über 10 Millionen zusätzlichen Tierversuchen die Rede. In unserem Antrag haben
wir deshalb detaillierte Vorschläge gemacht, aus denen
hervorgeht, wie wir die Zahl der durchzuführenden Tierversuche auf ein unabdingbares Mindestmaß begrenzen
können. REACH könnte bei sachgemäßer Ausgestaltung
sogar einen Paradigmenwechsel bei der Verwendung
von Methoden als Alternative zum Tierversuch einleiten,
wenn Tierversuche nicht mehr wie bislang automatisch
den letzten Ausschlag bei der Risikobewertung eines
Stoffes gäben, sondern wenn diese ausschlaggebenden
Untersuchungen im Rahmen von Alternativmethoden
durchgeführt werden könnten. REACH muss daher als
Chance, aber zugleich auch als Verpflichtung zu einem
umfassenden Einsatz von Alternativmethoden gelten.
({1})
Leider weist der derzeitige Kommissionsentwurf
hierbei noch schwere Mängel auf. Lassen Sie mich ein
Beispiel nennen. Zellkulturverfahren zur Ermittlung
erbgutverändernder Wirkung lassen sich zwar heute
schon in REACH finden. Ihre Bedeutung für die Einstufung eines Stoffes ist aber nach wie vor viel zu gering.
So müssen erbgutverändernde Wirkungen zunächst einmal im Zellkulturverfahren überprüft werden. Wenn Veränderungen gefunden werden, das heißt, wenn dabei herauskommt, dass ein Stoff vermutlich krebserregend ist,
dann muss das im Rahmen von Tierversuchen noch einmal überprüft werden. Wenn dabei herauskommt, dass
das Tier keine Veränderungen aufweist, dann heißt das,
dass der Stoff ungefährlich ist. Das ist doch völlig absurd; denn dann nimmt man die Ergebnisse des Zellkulturverfahrens überhaupt nicht zur Kenntnis. Das zeigt
zugleich, dass Tierversuche noch immer der „Goldstandard“ sind.
In unserem Antrag haben wir daher dezidierte Vorschläge gemacht, aus denen hervorgeht, wie wir das Ziel
erreichen können, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Wir gehen hierbei wesentlich weiter als die
Regierungsfraktionen in ihrem Antrag. Insbesondere
fordern wir eine intelligentere Auswahl von Prüfungsanforderungen durch die Schaffung eines vorrangig risikound expositionsbezogenen Prüfungsansatzes. Das bedeutet, tatsächlich nur dann Stoffe zu untersuchen, wenn
ein Risiko besteht und wenn der Kontakt mit bestimmten
Stoffen erfolgt, also Brain versus Checklist. Sie lehnen
diesen Ansatz noch immer ab. Ich muss ehrlich sagen:
Das ist erstaunlich. Schließlich loben Sie im letzten Absatz auf der ersten Seite Ihres Antrags die Studie „Animal testing and alternative approaches“ des Bundesinstituts für Risikobewertung, BfR, in den höchsten Tönen.
Wie die beteiligten Kollegen sicherlich wissen und beim
Lesen gemerkt haben, wird gerade in dieser Studie ein
expositionsbasierter Ansatz gefordert.
Das BfR hat darüber hinaus ein Positionspapier vorgelegt, das den Ansatz der risiko- und expositionsbezogenen Prüfung konkretisiert. Es stellt hierbei zu Recht
fest, dass auch geringe Mengen an Stoffen, verarbeitet in
verbrauchernahen Produkten wie zum Beispiel in Kinderspielzeug, zu erheblichen gesundheitlichen Risiken
führen und dass der derzeitige Mengenansatz von
REACH somit zwar zu mehr Tierversuchen und zu höheren Kosten führt, nicht aber zu einem Mehr an Sicherheit.
({2})
Es stellt außerdem zutreffend fest, dass - egal welchen
Ansatz man wählt - ein Nullrisiko beim Umgang mit
Chemikalien niemals zu erreichen ist. Das stimmt, Herr
Minister, auch wenn Sie den Menschen etwas anderes
vorgaukeln.
({3})
Wie sieht nun das Konzept des BfR aus? Für Chemikalien in verbrauchernahen Produkten soll ein Mindestdatensatz unabhängig von der Herstellungsmenge erforderlich sein. Ziel ist hierbei, alle Basisinformationen
mithilfe tierversuchsfreier Methoden zu gewinnen. Für
die weitere Bewertung eines Stoffes ist neben der inhärenten Toxizität die Exposition entscheidend. Hierzu
werden Expositionskategorien gebildet. Das BfR beschreibt dabei für die weitere Stoffbewertung Alternativmethoden, mit denen sich auch jenseits des Basisdatensatzes viele Tierversuche vermeiden lassen. Darauf will
ich jetzt im Einzelnen nicht eingehen. Der Ansatz des
BfR zeigt jedoch, dass ein Paradigmenwechsel möglich
ist, wenn man es politisch tatsächlich will.
Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Worte zu
dem eingebrachten Antrag der Regierungsfraktionen sagen. Die Wandlung von Bündnis 90/Die Grünen und
SPD ist hier in der Tat gewaltig. Nur zur Erinnerung:
Wir haben in dieser Legislaturperiode - über lange Zeit
als einzige Fraktion - mehrere vergebliche Versuche unternommen, den Tierschutz im Rahmen der europäischen Chemikalienpolitik zu verbessern. Wir haben
schon in unserem Antrag vom November 2003 mehr
Forschungsgelder für Alternativmethoden, eine gemeinsame Nutzung von Datenmaterial nach dem Beispiel des
§ 20 a des deutschen Chemikaliengesetzes sowie die
Ausrichtung an Risiko und Exposition gefordert.
Der wurde von der Mehrheit dieses Hauses abgelehnt.
({4})
Doch die bereits zitierte Expertenanhörung im November letzten Jahres hat die Ansicht von CDU und
CSU bestätigt, dass es im Zusammenhang mit REACH
und Tierversuchen doch noch nicht optimal läuft. Deshalb haben wir im Januar dieses Jahres einen neuen Antrag vorgelegt, den wir heute in zweiter Beratung debattieren. Obwohl Sie ihm in der ersten Beratung ablehnend
gegenüberstanden und ihn als überflüssig betrachteten,
wurde schließlich doch vorgeschlagen, einen fraktionsübergreifenden Antrag zu erarbeiten. Aufgrund der vom
Bundeskanzler nun angestrebten Verkürzung der Wahlperiode fehlt einfach die Zeit, einen solchen Antrag fraktionsübergreifend und auch innerhalb der Fraktionen
ausführlich zu beraten. Wir bedauern das ausdrücklich.
Dass Sie nunmehr einen eigenen Antrag einbringen,
ist ohne Zweifel prinzipiell ein Schritt in die richtige
Richtung, doch es fehlt der explizite und zentrale Hinweis auf Risiko und Exposition. Ich habe im Rahmen
dieser Rede dargelegt, warum dieser Ansatz so zentral
ist und dass auch das Bundesinstitut für Risikobewertung, ohne Zweifel einer der hervorragenden Experten
bei diesem Thema, inhaltlich völlig auf unserer Seite
steht.
Eine Überarbeitung ist leider kaum noch möglich, da
der Antrag in der vermutlich nur noch kurzen Zeit dieser
Legislaturperiode durch das Beratungsverfahren gepeitscht werden soll. Sie können daher unser grundsätzlich gemeinsames Ziel einfacher und besser erreichen,
meine Damen und Herren von Rot-Grün: Stimmen Sie
unserem Antrag zu, um damit die Bundesregierung, übrigens ganz gleich welcher Couleur, zu einem nachdrücklichen Handeln im Ministerrat aufzufordern und
damit den Tierschutz in Europa zu stärken. Lassen Sie
uns REACH gemeinsam besser machen und unterstützen
Sie unseren Antrag!
Herzlichen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort der Kollegin Doris Barnett, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa ist ein Thema, das uns immer stärker begleitet,
nicht nur bei der Verfassung und den Grundrechten,
nein, auch das tägliche Leben und der Arbeitsplatz werden zunehmend europäischer. Wir als Abgeordnete tragen dabei eine große Verantwortung dafür, dass sich dieses Europa für seine Menschen und seine Wirtschaft
positiv entwickelt und ein starker, wettbewerbsfähiger
globaler Wirtschaftsraum wird. Nur so werden wir es
schaffen, dass Europa von seinen Menschen angenommen wird. Deshalb wird auf unser Betreiben hin zum
Beispiel auch die Dienstleistungsrichtlinie massiv verändert, sodass Arbeitsmärkte eben keinen Schaden nehmen. - Zumindest so viel zu der unerträglichen Legendenbildung von heute Morgen.
Jetzt steht ein Thema für Spezialisten auf der Tagesordnung. Aber in seiner Umsetzung betrifft dieses
Thema fast jeden. REACH ist, nebenbei gesagt, nicht
das Ergebnis von Unfällen mit Kloreinigern, sondern ist
auf die großen Rheinunfälle in den 80er-Jahren zurückzuführen, aufgrund deren sich die CDU/CSU verpflichtet fühlte, ein Umweltministerium einzurichten, von dem
sie heute nichts mehr wissen will.
({0})
Die CDU/CSU ist und bleibt reaktiv, während wir mit
dem Problem proaktiv umgehen.
({1})
REACH als Teil des europäischen Chemikalienrechts
hat Auswirkungen auf fast alle Unternehmen in unserem
Land. In der deutschen Chemiebranche sind über
465 000 Menschen beschäftigt,
({2})
ein großer Teil von ihnen in mittelständischen Unternehmen.
({3})
Die chemische Industrie ist und bleibt ein starkes Stück
Deutschland.
({4})
Das ist der Grund dafür, dass wir uns in die europäische
Gesetzgebung gerade zu REACH massiv eingemischt
haben ({5})
im Interesse unserer Unternehmen, unserer Arbeitnehmerschaft und unserer Verbraucher und Verbraucherinnen; denn das Vertrauen in die Produkte ist doch das A
und O auch für Innovationen in den Unternehmen und
damit für den Erfolg unserer Unternehmen.
({6})
Dass diese Einmischung Früchte trägt, sieht man an
den Veränderungen, die die Kommission an dem Vorschlag bereits vorgenommen hat. Aber natürlich hat sich
auch bei unseren Unternehmen viel getan. So gibt es die
Selbstverpflichtung, für die Stoffe einen aussagekräftigen Mindestdatensatz zum Schutz von Mensch und Umwelt und zur Gefahrenabwehr für die Beschäftigten zu
erheben, aufgrund dessen auch bei Unfällen schnell und
sachkundig reagiert werden kann.
Deutschland als der größte Chemiestandort in Europa
hat erhebliches Interesse an einer Verordnung, die unsere
Unternehmen, besonders den Mittelstand, stärkt. Deshalb setzen wir beispielsweise auch darauf, in Europa zu
einer Datennutzung zu kommen, wie sie das deutsche
Chemikaliengesetz in Bezug auf die Verwertung von
Altstudien kennt. Dabei haben wir auch die Unterstützung von Großbritannien und Ungarn, die das Prinzip
„one substance, one registration“ und damit unsere Zielsetzung aufgreifen. Wir wollen allerdings die wirtschaftlichen Belange aller Unternehmen wahren. Die nutznießenden Unternehmen können auf vorhandene Daten
zurückgreifen, brauchen den gesamten Prozess also
nicht noch einmal zu durchlaufen. Allerdings sind sie
dann zur anteiligen Übernahme der Kosten der Datenerhebung verpflichtet. Das bietet Sicherheit, Schnelligkeit und Kostengerechtigkeit - also eine Win-win-Situation für alle Beteiligten, gerade auch für den Mittelstand.
Der mittelständische Verwender von chemischen Erzeugnissen der Großindustrie wird Vorteile haben, selbst
dann, wenn er mit seiner Zubereitung der Chemikalien
von der vorgesehenen Verwendungsmöglichkeit abweichen will. Denn er kann vom Hersteller verlangen, auch
diese abweichende Verwendung risikoseitig zu prüfen.
Wenn er Bedenken wegen der Geheimhaltung seiner
Verwendung hat, kann er diese direkt der zentralen Behörde anzeigen.
Damit und mit anderen Änderungen hat die EU-Kommission bereits den Versuch unternommen, in möglichst
vielen Punkten der betroffenen mittelständischen Wirtschaft entgegenzukommen. Die durch den jetzt vorliegenden Verordnungsvorschlag, der auch alternative Verfahren vorsieht, entstehenden Gesamtkosten können so
für einen Zeitraum von circa 15 Jahren auf insgesamt 3
bis 5 Milliarden Euro gesenkt werden, nachdem ursprünglich von weit höheren Kosten die Rede war. Das
ist unserer Meinung nach auch von der chemischen Industrie zu schultern.
Mit dem bereits erwähnten Prinzip „one substance,
one registration“ kann das Registrierverfahren gestrafft
und können Doppelmeldungen verhindert werden. Das
ist gerade bei Tierversuchen - selbst wenn sie noch so
notwendig sind - ein entscheidendes Kriterium. Auch
der Vorschlag einer Vorregistrierung von Stoffen ist allgemein auf Sympathie gestoßen.
({7})
Entscheidend wird nun sein, ob EU-weit eine Einigung über den Inhalt des dazu notwendigen Kundendatensatzes zustande kommt. Wir kennen die Bedenken
insbesondere der mittelständischen Unternehmen, die einen zu hohen, wettbewerbsverzerrenden Aufwand bei
der Umsetzung von REACH befürchten. Wir sind aber
sicher, dass das System Gewinner hervorbringen wird.
Das werden diejenigen sein, die flexibel und proaktiv
auf die Neuerungen reagieren werden und die Abweichungsangebote des REACH-Systems, zum Beispiel im
Einzelfall vom reinen Tonnenmaßstab zu einer mehr risiko- oder expositionsbezogenen Bewertung überzugehen, zu nutzen wissen.
Unsere Mittelständler, meine Damen und Herren,
können sicherlich mit den Regelungen von REACH besser umgehen als mit einer möglichen Alternative,
({8})
die dann vielleicht so aussehen könnte wie das angloamerikanische Haftungsrecht.
({9})
Dort werden am Anfang zwar Kosten eingespart, doch
ein Schadensfall kann eine unbezahlbare Lawine auslösen und zum Ruin der Firma führen. Da haben wir in Europa doch viel Besseres zu bieten.
Vielen Dank.
({10})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Man könnte heute Morgen den Eindruck gewinnen, dass Tierschutz und Strategien der Verbesserung
des Tierschutzes im Hinblick auf REACH ausschließlich
eine Erfindung der CDU/CSU wären.
({0})
- Dem ist mit Sicherheit nicht so.
({1})
Wir haben, gerade was die Entwicklung alternativer Methoden zu Tierversuchen angeht, in Deutschland eine Erfolgsstory geschrieben, die auch international Anerkennung findet. Dass Sie daran nicht ganz unbeteiligt sind,
stelle ich gar nicht in Abrede.
Wir haben 266 Forschungsvorhaben in diesem Bereich durch Investitionen in einer Größenordnung von
86 Millionen Euro aus Haushaltsmitteln unterstützt. Das
ist international einmalig.
({2})
Aus dem Grunde stehen wir auch international in einer
entsprechenden Position. So wird auch der große internationale Kongress über Alternativen zu Tierversuchen
hier in Deutschland im August stattfinden. Ich kann jeden nur auffordern, daran teilzunehmen. Auch die Experten können sich da vielleicht noch einige Anregungen
holen. Das kann man natürlich nicht losgelöst von der
Debatte zu REACH sehen. Dass aber heute Morgen wieder einmal versucht wird, den Tierschutz zu instrumentalisieren und hier letztendlich eine Stellvertreterdebatte
zu führen, halte ich nicht für angemessen. Ich glaube, es
wäre besser, wenn wir auf den Boden der Tatsachen zurückkehren.
Es gibt einige Probleme, die es zunächst einmal zu
bewältigen gilt. Da ist die Frage der Evaluierungsverfahren auf der europäischen Ebene. Die 1991 gegründete europäische Einrichtung ECVAM ist in Bezug auf
die Evaluierung von bereits vorhandenen alternativen
Verfahren weitestgehend ungeeignet. Wir haben in
Deutschland mithilfe der Förderung aus Steuertöpfen
eine ganze Reihe von Verfahren entwickelt, interessante
Alternativen, die für die Industrie mit Sicherheit kostengünstiger sind als herkömmliche Tierversuche. Es mangelt aber an der Validierung.
({3})
Selbiges stellen wir im Rahmen der Validierungsverfahren auf der Ebene der OECD in Paris fest. Bereits
vorhandene Verfahren in dem Bereich kommen im Augenblick gar nicht zur Anwendung. Dagegen gilt es zunächst einmal etwas zu tun.
({4})
Dafür müssen wir uns einbringen und unseren Einfluss
in Brüssel geltend machen, auch im Rahmen der Debatte
über REACH.
({5})
Sie brauchen jetzt nicht davon zu reden, dass hier ein
Paradigmenwechsel vollzogen werden soll: Der ist an
sich längst vollzogen.
({6})
In den Köpfen der Beteiligten, der Forscher an alternativen Methoden, ist dieser Paradigmenwechsel schon
lange vollzogen.
Schon bei der Debatte im Februar hatten wir, wenn
ich mich recht erinnere, eine relativ große Gemeinsamkeit auch in den Schlussfolgerungen erreicht, gerade im
Hinblick auf den Tierschutz. Darum betrübt es mich ein
bisschen, dass wir diese Gemeinsamkeit in dem Antrag
nicht haben weiterentwickeln können.
({7})
Wir brauchen in dem Zusammenhang sicher einen mengenbezogenen Ansatz plus - unter dem Aspekt der Risikobewertung - eine expositionsbezogene Aussage; denn
nur beides gemeinsam macht Sinn.
Wir unterhalten uns hier über Mengen größer als
1 Tonne. Das ist sicherlich relevant. Es wurde festgestellt, dass wir ungefähr 500 000 Tonnen Weichmacher
produzieren, die sich bis in das Fettgewebe der Robben
in der Antarktis nachweisen lassen. Anhand der Analysen der Duftstoffe, beispielsweise Moschus, in der Muttermilch zum Beispiel kann man genau erkennen, welche Duftstoffe im Augenblick am Markt erkennbar gut
verkauft werden.
Das ist doch eine sehr bedenkliche Entwicklung. Aus
diesem Grunde ist die Anforderung an die Unternehmen,
die Ungefährlichkeit einer Substanz nachzuweisen,
doch richtig. Das ist besser, als hinterher, wenn das Kind
in den Brunnen gefallen ist und die Schäden aufgrund
der Gefährlichkeit, die man dann feststellt, eingetreten
sind, diese Substanzen vom Markt zu nehmen.
({8})
Dieser Grundsatz ist richtig und deshalb gilt es, ihn
zielgerichtet weiterzuentwickeln. Das gilt auch und vor
allem unter dem Aspekt des vorsorgenden Verbraucherschutzes; denn dieser ist bei vielen mit Blick auf die Produktsicherheit noch nicht in den Fokus der Betrachtungsweise gerückt. Eine Konsequenz aus REACH ist,
gerade in dem Bereich einen besonderen Schwerpunkt
zu setzen.
Bei diesem Prozess müssen all die Verfahren und
Möglichkeiten, die wir haben - von Strukturwirkungsanalysen über die Alternativverfahren, die bereits entwickelt worden sind oder sich unmittelbar in der Entwicklung befinden -, einbezogen werden. Die vermeintlichen
Kosten für die Versuche - das kann man in der EU-Studie nachlesen ({9})
bewegen sich beim Einsatz aller bislang schon bekannten Alternativverfahren in einer Größenordnung von
7 000 bis 12 000 Euro. Das ist eine Größenordnung, die
für die Hersteller, auch für die mittelständischen Hersteller, durchaus bezahlbar ist, gerade vor dem Hintergrund,
dass es in diesem Bereich erträgliche Gewinnspannen
gibt.
In diesem Sinne appelliere ich an Sie: Kehren Sie zurück zur Gemeinsamkeit und lassen Sie uns die positiven
Ansätze, die wir haben, weiterentwickeln! Ich würde
mich freuen, wenn Sie unserem Antrag zustimmen würden, weil er letztendlich konsequenter ist.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/5454 mit
dem Titel „Für ein umwelt-, innovations- und mittelstandsfreundliches REACH“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich der
Stimme enthalten? - Der Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17 b. Hier
geht es um die Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf der
Drucksache 15/5686 mit dem Titel „Alternativen zu
Tierversuchen - REACH nutzen“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Antrag ist
mit Mehrheit angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 c: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 15/5720
zu dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit dem Titel
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
„REACH als Chance für einen Paradigmenwechsel nutzen - Alternativmethoden statt Tierversuche“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4656
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Zusatzpunkt 11: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit auf Drucksache 15/5747 zu dem
Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Leistungsfähigkeit der Chemiewirtschaft in Deutschland und Europa erhalten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/5274 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 16:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
… Strafrechtsänderungsgesetzes - §§ 303,
304 StGB ({0})
- Drucksache 15/5313 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Jürgen Gehb,
Daniela Raab, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - Graffiti-Bekämpfungsgesetz - ({2})
- Drucksache 15/5317 ({3})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Norbert Röttgen, Cajus Julius
Caesar, Dr. Wolfgang Götzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - GraffitiBekämpfungsgesetz - Drucksache 15/302 ({4})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - Graffiti-Bekämpfungsgesetz - ({5})
- Drucksache 15/404 ({6})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({7})
- Drucksache 15/5702 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Jerzy Montag
Für diese Debatte ist nach einer interfraktionellen
Vereinbarung eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache. Ich erteile das Wort zunächst dem Kollegen Hans-Joachim Hacker für die SPDFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute ist ein guter Tag, Herr Gehb: Die Union
hat sich eines Besseren besonnen und sich unserem Gesetz angeschlossen.
({0})
So bleibt mir - ich hoffe, da spreche ich im Namen aller
Beteiligten - nur ein Appell an die Länder, im Bundesrat
das Ihre zu tun, damit dieses Gesetz in Kraft treten kann.
Wenn uns das gelingt, dann sollten wir uns alle darüber
freuen. Heute leisten wir unseren Beitrag dazu.
Bereits nach geltendem Recht sind illegale Graffiti
- das wird oft vergessen - keine Bagatelle. Strafrechtlich
droht den Sprayern nämlich schon heute eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren wegen Sachbeschädigung.
Bisher jedoch ist die Beweisführung in Prozessen zur
Feststellung der Substanzbeschädigung - das war das eigentliche Problem - oft langwierig und mit kostenträchtigen Gutachten verbunden. Deshalb ist eine Gesetzesänderung sinnvoll, durch die das Gericht dem Verdächtigen
die Tat und die Sachbeschädigung besser nachweisen
kann. Genau dies bezweckt der von der Koalition eingebrachte Gesetzentwurf. Er erleichtert die gerichtliche
Feststellung der Sachbeschädigung. Das Erfordernis aufwendiger Gutachten im Strafprozess wird nun in einer
Vielzahl von Fällen entfallen können.
Mit diesem Gesetz wird außerdem klargestellt, dass
künftig nur noch solche Veränderungen keine Sachbeschädigung mehr sind, die ohne Aufwand binnen kurzer
Zeit von selbst wieder vergehen oder entfernt werden
können, zum Beispiel Verhüllungen, Plakatierungen mittels ablösbarer Klebestreifen oder ein Kreide- bzw. Wasserfarbenauftrag.
Strafrecht ist allerdings nur ein Instrument von mehreren, die zur Graffitibekämpfung erforderlich sind. Für
Strafrecht ist der Bundesgesetzgeber - das sind wir - zuständig. Es liegt also in unserem Verantwortungsbereich
und wir müssen hier, wie man so sagt, unseren Job machen.
({1})
Prävention ist und bleibt bei der Graffitibekämpfung
vorrangig. Hierbei sind Länder, Städte, Gemeinden, Verkehrsbetriebe, Interessenverbände, Vereine und nicht
zuletzt vor allem die Bürgerschaft gefordert. Wir alle
wissen, dass es auch Vereine gibt, die sich vor allem in
diesem Bereich sehr engagieren. Ich habe in meiner
Heimatstadt Schwerin, also in der Hauptstadt des Landes
Mecklenburg-Vorpommern, ein solches Projekt angestoHans-Joachim Hacker
ßen. Wir machen dort jetzt mobil: Aus der Bürgerschaft
heraus kommt eine Initiative zur Umsetzung von Prävention im praktischen Leben.
Prävention muss bereits im Elternhaus und in den
Schulen anfangen: Lehrer und Eltern müssen über den
Wert und Nutzen öffentlicher Einrichtungen sprechen
und Respekt vor dem Recht anderer, auch vor dem
Eigentumsrecht, vermitteln. Das ist selbstverständlich.
Sie müssen deutlich machen, dass illegale Graffiti kein
harmloser Scherz sind. Erziehen und aufklären heißt,
klipp und klar zu sagen: Unbefugtes Sprayen verletzt anderer Leute Eigentum und ist eine strafbare Handlung.
Es muss ebenso deutlich gesagt werden, dass es für
den Nachwuchs nicht nur strafrechtliche, sondern auch
zivilrechtliche Konsequenzen gibt. Kinder und Jugendliche zwischen dem siebenten und dem 18. Lebensjahr
sind nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch für verursachte
Schäden grundsätzlich verantwortlich. Zivilrechtlich haften Täter für die gesamte Schadenshöhe, die durch das
Entfernen der Schmierereien und die daraus resultierende Notwendigkeit der Schadensbeseitigung entsteht.
Das kann richtig teuer werden.
Können die Täter diese Schäden nicht begleichen,
kann der Geschädigte einen Schuldtitel erwirken, der
30 Jahre lang durch einen Gerichtsvollzieher vollstreckbar ist. Oftmals geht mit einer solchen Schuldtitelerklärung auch ein SCHUFA-Eintrag einher. Dieser kann zur
Folge haben, dass Jugendliche, die Anträge auf die Eröffnung eines Girokontos stellen oder einen Handyvertrag abschließen möchten, in Schwierigkeiten geraten.
Prävention ist von den Städten und Gemeinden gefordert, vor allem wenn es darum geht, Nachahmungseffekte zu verhindern. Tatsächlich ist die präventive Wirkung einer raschen Beseitigung der Farbschmierereien
nicht hoch genug einzuschätzen. Genau an dieser Stelle
muss angesetzt werden. So können wir einen Erfolg der
Sprayer vereiteln, die im Grunde genommen erreichen
wollen, dass ihr Werk von möglichst vielen Menschen
gesehen wird. Deshalb müssen Graffiti schnell beseitigt
werden. Dadurch wird der Erfolg der Sprayer infrage gestellt oder, noch besser, gegenstandslos.
Meine Damen und Herren, es gibt zahlreiche Präventionsmaßnahmen, die vor Ort realisiert werden. Nicht
zuletzt richtet sich mein Appell an die Bürgerinnen und
Bürger; sie müssen sich ebenso verantwortlich fühlen,
vor allem dürfen sie nicht wegschauen, wenn jemand öffentliche Einrichtungen oder Privateigentum beschädigt. Sie müssen gemeinsam mit der Polizei und den
Ordnungskräften der kommunalen Verwaltung dafür
Sorge tragen, dass Graffitisprayer angezeigt werden. Das
ist die Konsequenz strafbaren Handelns.
Es gibt schon etliche kommunale Präventionsaktivitäten, die bei der Verhinderung illegaler Graffiti vorbildlich sind. Dazu gehören Jugendprojekte, Öffentlichkeitsarbeit in den Kommunen und Vernetzungsleistungen in
diesem Bereich. Ich möchte alle, zuallererst die Kommunen, ermuntern, in diesen Bemühungen nicht nachzulassen. Sie sind der beste Schutz gegen Graffiti, die
mittlerweile die Stadtbilder in einer schlimmen Weise
verunstaltet haben.
Diesem Ziel wird unser Gesetzentwurf gerecht. Wir
leisten damit das Notwendige für den strafrechtlichen
Bereich, für den - ich sagte es - wir zuständig sind. Offenbar ist endlich auch die Unionsfraktion bereit, auf
diesem Weg mitzugehen.
({2})
Lassen Sie mich abschließend sagen: Ansichten ändern
sich durch Einsichten.
({3})
Wer sich korrigiert, zeigt, dass er nicht unverbesserlich
ist.
({4})
In diesem Sinne wünsche ich den Kolleginnen und Kollegen der Union weiter gute Besserung.
({5})
Zu guter Letzt möchte ich Herrn van Essen ein Wort
widmen. Die FDP ist unserem Gesetzentwurf bislang
nicht beigetreten. Das sollte sie heute nachholen, heute
haben Sie die Chance.
({6})
Springen Sie über den kleinen Bach. Dann könnten Sie
sich auch sehr schnell von Ihrem Vorschlag, der nach
wie vor den Tatbestand des Verunstaltens enthält, verabschieden.
({7})
Diesen hat die Union richtigerweise mittlerweile aufgegeben.
({8})
- Wenn das so ist, Herr van Essen, dann stimmen Sie zu.
Dann können wir den Gesetzentwurf heute gemeinsam
verabschieden.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun die Kollegin Daniela Raab, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Hacker, bei Ihrem Eingangssatz, mit dem Sie
unsere vermeintliche Einsicht bezüglich der Graffiti begrüßt haben, mussten Sie berechtigterweise selber vor
sich hin lachen, wir auch. Es ist nämlich wirklich fast
frech, wenn Sie hier sagen, endlich sei die Union zur
Einsicht gekommen. Wer hat uns denn jahrelang, wenn
nicht sogar jahrzehntelang,
({0})
im Ausschuss belehrt? Wer hat denn die Graffitibekämpfung blockiert? Das waren doch nicht wir, das waren Sie.
({1})
Es war immer mit der Behauptung verbunden, es gebe in
diesem Bereich überhaupt kein Bedürfnis für eine Änderung des Strafgesetzbuches. Die Grünen haben das
Ganze dann immer noch als Bagatelldelikte Jugendlicher
hingestellt
({2})
und gemeint, man sollte die Kirche im Dorf lassen. In
der Tat, Kabarett ist fast nichts gegen das, was Sie hier
aufführen.
Graffiti sind ganz klar - da sind wir Ihnen Jahre voraus gewesen - kein Kavaliersdelikt, das man kleinreden
kann, sondern eine Straftat. Umgekehrterweise begrüßen
wir nun Ihre Einsicht auf diesem Gebiet. Wir von der
Union und der FDP haben schon immer die Notwendigkeit erkannt, dass der gerichtlichen Praxis ein klar ausformulierter Straftatbestand an die Hand gegeben
werden muss. Denn bisher war es gewieften Sprayern
immer wieder möglich, sich allzu leicht ihrer Bestrafung
zu entziehen. So benutzten sie zum Beispiel für ihre Aktionen schlicht Oberflächen, von denen die Schmierereien mehr oder weniger leicht zu entfernen waren. Damit entfiel die Substanzverletzung an der Sache und
somit auch die Strafbarkeit der Tat. Außerdem konnten
die Täter aufgrund dessen auch immer davon ausgehen,
dass es den Opfern oft zu umständlich und auch zu teuer
sein würde, ein Gutachten anfertigen zu lassen, um diese
Substanzverletzung, die für eine Bestrafung Voraussetzung war, letztlich zu beweisen.
Es ist ganz klar, dass durch die Ergänzung des Sachbeschädigungsparagraphen nicht zwingend mehr Sprayer
gefasst werden. Es geht uns aber schlicht und ergreifend
darum, dass diejenigen, die gefasst werden, eine angemessene Bestrafung erfahren.
({3})
Das kann eine Geldstrafe sein. Wirksamer ist es sicherlich - da sind wir uns sicher einig -, die Sprüher an die
Häuserwände zu schicken, die sie vorher besprayt haben,
und das Ganze wieder abkratzen zu lassen. In München
wurde das schon erfolgreich erprobt.
Es geht uns auch darum, bereits im Vorfeld eine
abschreckende Wirkung durch eine entsprechende gesetzliche Regelung zu erzeugen. Polizeiliche Ermittlungen insbesondere in Berlin ergeben oft, dass die Täter
mit der jetzt noch geltenden Rechtslage überaus vertraut
sind und ziemlich genau wissen, wann sie bestraft werden können und wann nicht. Außerdem wird uns berichtet - auch dagegen müssen wir uns als Gesetzgeber wehren -, dass sich ganze Graffitibanden bilden, die bereit
sind, ihre Sprühreviere, die sie vorher markant untereinander aufgeteilt haben, mit Gewalt zu verteidigen. Lesen Sie dies in der „Berliner Morgenpost“ vom 26. Mai
dieses Jahres nach! So ist es nämlich Ende Mai in Oranienburg geschehen, wo die Polizei eine ganze Sprayergruppe hochgehen lassen konnte.
Zu alledem kommt natürlich hinzu - dazu wird Kollege Götz nachher sicherlich etwas sagen -, dass eine gehäufte Ansammlung von Graffiti-Tags an Häuserwänden
bei den Bürgern den Eindruck der Verwahrlosung hinterlässt und auch zu einem Gefühl der Bedrohung führt.
Auch diesen Aspekt dürfen wir natürlich nicht vernachlässigen. Ganze Viertel verlieren an Attraktivität und vor
allem auch an Wohnwert.
All das kommt Ihnen natürlich bekannt vor. Wir haben es Ihnen vielfach vorgetragen. Auch der Bundesrat
hat eine Formulierung vorgelegt, die auf die nicht nur
unerhebliche Veränderung einer Sache gegen den Willen
des Berechtigten abstellt. Die Sachverständigenanhörung hat ein klares Votum für diesen Wortlaut ergeben,
({4})
dem wir uns von Unionsseite mit einem gleich lautenden
Gesetzentwurf angeschlossen haben.
Ihre Haltung blieb trotz all dieser Fakten, die man
nicht von der Hand weisen kann, jahrelang unerschütterlich ablehnend.
({5})
In mehreren Ausschussberatungen haben Sie wiederholt
eine Abstimmung abgelehnt, während Ihre Frau Ministerin Zypries in Interviews richtigerweise immer wieder
betont hat, wie wichtig es sei, eine gesetzliche Regelung
herbeizuführen. Ihr Innenminister wollte den Sprayern
auch noch Hubschrauber hinterherschicken. Das, glaube
ich, brauchen wir hier nicht weiter auszudiskutieren.
Der letzte Akt zu „Graffiti und kein Ende“ nahm dann
unerwarteterweise eine sehr überraschende Wendung.
({6})
- Wenn Sie mir zugehört hätten, wüssten Sie, warum wir
jetzt so überrascht sind.
({7})
Kurz vor der NRW-Wahl hat - dies hat Ihnen aber nicht
geholfen - auf Ihrer Seite ein geradezu rasanter Sinneswandel eingesetzt. Plötzlich gab es einen eigenen Entwurf von Rot-Grün.
({8})
- Es war wirklich ein Wunder. Es geschehen also noch
Wunder; das stimmt mich hoffnungsvoll. - Man hat jetzt
also erkannt: Es gibt in der Tat in der Praxis Probleme
bei der Auslegung des Sachbeschädigungsparagraphen.
Man schließt daraus Handlungsbedarf: Man möchte fast
sagen: „Auch schon auf?“ und die Frage aufwerfen, ob
vielleicht ein paar grüne Kollegen bei dieser Entscheidung gerade nicht im Raum waren.
Sei es, wie es sei: Ihr Gesetzentwurf wird uns nun als
großer Durchbruch verkauft. Strafbar macht sich nach
Ihrem Entwurf, „wer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache nicht nur unerheblich und nicht nur
vorübergehend verändert“. Ob sich diese Formulierung
in der Praxis bewährt, wird sich zeigen. Wir sind nach
wie vor der Meinung, dass unser Entwurf bzw. der Entwurf des Bundesrates der bessere gewesen wäre,
({9})
weil wir nur mit diesem Entwurf Auslegungsschwierigkeiten weitestgehend vermieden hätten.
Deshalb bedauern wir immer noch sehr, dass Sie sich
nicht dazu durchringen konnten, unserem Gesetzentwurf
zuzustimmen. Aber Sie wissen ja, wie es manchmal ist:
Der Klügere gibt nach; das sind in diesem Fall wir.
({10})
- Immer wieder gern.
Ihr Gesetzentwurf begeistert uns wahrlich nicht.
({11})
Er ist eine Last-Minute-Lösung. Aber er lässt auf Ihrer
Seite Einsicht erkennen. Deswegen stimmen wir ihm
heute zu.
({12})
Das sind wir der Bevölkerung schuldig, die direkt oder
indirekt den Großteil der Kosten trägt, die entstehen,
wenn die Graffiti wieder entfernt werden müssen, und
wir sind es den Betroffenen schuldig, denen zu Recht
das Verständnis für die bisherige Rechtslage fehlte. Deshalb - und nur deshalb - stimmen wir Ihrem Gesetzentwurf heute zu.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat nun der Kollege Jörg van Essen, FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Rede, die die Kollegin Daniela Raab gerade gehalten
hat, war eine Rede, die sich klar gegen den Gesetzentwurf von Rot-Grün wandte. Ich war etwas überrascht
über die Volte, die sie zum Schluss geschlagen hat. Herr
Kollege Hacker, wir machen diese Volte nicht mit, weil
wir uns seit vielen Jahren dafür einsetzen, dass bei der
Graffitibekämpfung eine offensichtlich bestehende
Lücke im Strafrecht wirksam geschlossen wird.
Die vielen Beratungen, die wir dazu durchgeführt haben, weil Sie immer versucht haben, alle Verbesserungen
zu verhindern, die in diesem Bereich möglich gewesen
wären, haben zu einem Text geführt, der auch die Unterstützung des Bundesrates - übrigens nicht nur die der
Regierungen von CDU, CSU und der FDP, sondern auch
die früherer rot-grüner Landesregierungen, zum Beispiel
der von Nordrhein-Westfalen - gefunden hat. Das zeigt,
dass diese Lösung vernünftig ist.
Wir können Ihnen allein deshalb nicht zustimmen,
weil die bisherige Lücke, die darin zum Ausdruck
kommt, dass insbesondere die Substanzverletzung häufig nicht nachgewiesen werden konnte, zwar geschlossen wird, gleichzeitig aber eine neue Lücke aufgerissen
wird, und zwar durch das „nicht nur vorübergehend“.
Das wird das Schlupfloch sein, durch das die, die gewerbsmäßig Graffiti anbringen, versuchen werden, ihre
strafrechtliche Verfolgung zu unterbinden. Genau dieses
Signal können wir nicht gebrauchen. Es muss klar sein,
dass derjenige, der das Eigentum anderer beschädigt,
mit einer strafrechtlichen Konsequenz rechnen muss.
Dafür wird sich die FDP immer einsetzen.
({0})
Auch andere Signale müssen völlig klar sein: Sie haben zu Recht einige Vereine angesprochen - ich denke
etwa an den Verein „Nofitti“ in Berlin -, die in den letzten Jahren eine segensreiche Tätigkeit ausgeübt haben.
Darüber hinaus muss die Empörung der Öffentlichkeit
deutlich werden, beispielsweise durch die von diesen
Vereinen entwickelten Aktivitäten. Aber wenn es dann
Aktionen gibt wie die, von der ich noch heute lesen
konnte, dass die Bundesregierung mit Steuermitteln einen Workshop „Graffiti als Öffentlichkeitsarbeit“ finanziert hat, durch den genau das unterstützt wird, was wir
zu verhindern suchen, dann ist das, wie ich finde, ein unglaublicher Skandal.
({1})
Wenn man sieht, dass einerseits Steuergelder aufgewandt werden müssen, um die vielen Graffiti zu entfernen, die unsere Städte und öffentlichen Fahrzeuge wie
Busse und Bahnen verunstalten, und dass andererseits
eine Bundesregierung mit Steuermitteln auch noch diejenigen ausbildet, die diese Graffiti anbringen, dann halte
ich das wirklich für einen Skandal.
Daher gibt die FDP ein klares Signal: Wir werden diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Wir setzen uns dafür ein, dass der Text, den der Bundesrat und die Berichterstatter in vielen Gesprächen erarbeitet haben und der
eine vernünftige Lösung darstellt, in das Strafgesetzbuch
aufgenommen wird, nicht aber ein Placebo, wie es die
Koalition verabschieden will. Da werden wir nicht mitmachen.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile dem Kollegen Jerzy Montag, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege van Essen, ansonsten bin ich hier im Hause andere Beiträge von Ihnen
gewohnt. Wir kennen uns inzwischen seit Jahren. Seit
drei Jahren sind wir gemeinsam im Rechtsausschuss.
Dort habe ich Sie eigentlich als einen nachdenklichen
und differenzierenden Kollegen kennen gelernt. Aber
heute tragen Sie hier im Hause Nachhutgefechte aus und
betreiben Schaumschlägerei,
({0})
offensichtlich nur auf die Außenwirkung bedacht, nicht
aber an der Sache selbst orientiert.
({1})
Es ist, lieber Kollege van Essen, keine Kamelle von gestern, sondern ein Gesetzentwurf aus der 15. Wahlperiode
- Drucksache 15/63 -, der als ersten Ihren Namen trägt
und mit dem Sie dem Deutschen Bundestag und damit
der deutschen Öffentlichkeit vorgeschlagen haben, den
Sachbeschädigungsparagraphen insoweit auszuweiten,
als auch strafbar sein soll, wenn jemand
eine Verunstaltung vornimmt, die nur mit größerem
Aufwand beseitigt werden kann.
Eine unklarere Formulierung als „nur mit größerem Aufwand“ kann man überhaupt nicht wählen.
({2})
Mit diesem Text haben Sie sich aus der Sachdebatte verabschiedet und einen anderen Vorschlag von Ihnen kennen wir nicht.
({3})
Meine Damen und Herren, wir haben deswegen viele
Jahre über dieses Thema gesprochen, weil es bis dahin
keinen Gesetzentwurf gab, der die Mehrheit des Hauses
hätte finden können.
({4})
- Es hat keinen Vorschlag gegeben, der die Mehrheit des
Hauses hätte finden können. Erst mit unserem jetzigen
Vorschlag, dem Sie - dafür danke ich Ihnen ausdrücklich, meine Damen und Herren von der CDU/CSU - beipflichten, haben wir einen Gesetzentwurf auf dem Tisch,
der die überbreite Mehrheit des Hauses findet. Das ist
nicht schlecht, das ist gut für unser Parlament und es
zeigt, dass unser Vorschlag der richtige ist.
({5})
- Sie können gerne intervenieren, aber lassen Sie mich
jetzt einmal ausreden, lieber Herr Kollege Gehb!
({6})
Frau Kollegin Raab, die Debatte der Vergangenheit
war auch geprägt von Emotionalisierungen, die der
Sachdebatte überhaupt nicht gedient haben.
({7})
Damit dies auch heute ins Protokoll Eingang findet, will
ich Ihnen drei Kostproben davon geben: Ihr Kollege
Bosbach ist in der Debatte über die Sachbeschädigung
zum Seuchenpolitiker geworden: Er hat gesagt, man
müsse eine „Graffitiseuche“ eindämmen.
({8})
- Liebe Kollegin Raab, Sie brauchen gar nicht zu klatschen; denn Sie haben das in Ihrer eigenen Rede infrage
gestellt. - Dazu bräuchte es, so Bosbach, bundesweite
Hubschraubereinsätze. Das ist die Dimension, mit der
Sie arbeiten!
Ein anderer Kollege aus Ihren Reihen, Herr Henkel,
hat erklärt, dass man im Zusammenhang mit Sachbeschädigungen von „Bandenkriminalität“ zu reden habe.
({9})
Die Strafrechtler unter uns wissen, was es bedeutet,
wenn man von Bandenkriminalität redet: Das ist himmelweit weg von dem Phänomen, mit dem wir uns im
Rahmen des Vorwurfs der Sachbeschädigung durch
Graffiti zu beschäftigen haben.
({10})
Um schließlich ein drittes Zitat aus Ihren Reihen zum
Besten geben: Christoph Stölzl hat im Zusammenhang
mit der Bekämpfung von Graffiti geäußert:
Hier zeigt sich die hässliche Fratze der Durchsetzungsgesinnung und der Freude am Rechtsbruch.
Da Sie jahrelang die Debatte so geführt haben, haben Sie
auf diesen groben Klotz nur einen groben Keil bekommen und deswegen sind wir in der Sache auch nicht weitergekommen. Ich habe in meinem letzten Redebeitrag
zu dieser Frage gesagt: Lasst uns sachlich bleiben,
({11})
lasst uns abrüsten! Wir haben jetzt einen vernünftigen
Vorschlag gemacht, der die Bestrafung der Sachbeschädigung nicht ausweitet, der keine neuen Straftatbestände
schafft, der lediglich in der Praxis der Strafjustiz in einem Unterfall der Beweisschwierigkeiten Klarheit
schafft - ich stehe dazu, diese Klarheit zu schaffen -, indem es nicht nur auf die Substanzverletzung, sondern
auf erhebliche und dauerhafte Veränderungen des
äußeren Erscheinungsbildes einer Sache ankommt.
Damit wird die Justiz zurande kommen. Dies ist ein
praktikables Gesetz, dies ist ein vernünftiges Gesetz, die
Ultima Ratio - und nicht das Überschäumende, das Sie
uns bisher geboten haben. Deswegen finden Sie jetzt fast
das ganze Haus hinter diesem vernünftigen Ansatz versammelt.
Danke schön.
({12})
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach.
Herr Präsident! Sehr verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich wollte ich ja sagen:
Es ist schon alles gesagt worden, nur nicht von jedem. Nachdem mich Frau Raab aber als Blockierer bezeichnet
hat
({0})
und da Herr van Essen nicht von seinem Irrglauben abweicht, muss ich doch noch ein paar Takte dazu sagen.
Es liegen nun fünf Entwürfe vor und wir nähern uns
endlich dem Ziel, eine minimale - wenn überhaupt vorhandene - Strafbarkeitslücke zu schließen, die der
Bundesgerichtshof Anfang der 70er-Jahre - ich war damals noch Staatsanwalt - mit der Straffreierklärung des
Beklebens von Telefonkästen mit Plakaten - die Deutsche Bundespost war damals der heftigste Anzeigeerstatter - offen gelassen hat, indem er gesagt hat, das sei
keine Sachbeschädigung. Danach hat sich eine Rechtsprechung entwickelt, die in der Tat einiges offen gelassen hat. Es ist aber nur wenig; denn die Rechtsprechung
hat deutlich gemacht, dass bereits heute selbst eine geringfügige Substanzverletzung - sei sie auch erst bei
der Reinigung entstanden - strafbar ist.
Dennoch glaube, dass es zwei gewichtige Gründe
gibt, den Straftatbestand so zu ergänzen, wie wir das
jetzt tun.
({1})
- Ach, Herr Götz, Sie haben 18 Jahre lang nichts geschafft.
({2})
- Wissen Sie, das sind die dümmsten Sprüche, die es
gibt, Entschuldigung. ({3})
Zum einen gehören Farbschmierereien auch dann bestraft, wenn die Substanz der Sache einmal nicht, auch
nicht geringfügig, verletzt sein sollte. Zum anderen halte
ich es als Staatsanwalt und Richter für eine unnötige Belastung der Justiz, wenn der Richter Sachverständige beschäftigen muss, um zu klären, ob im Einzelfall die
Substanz einer Sache verletzt worden ist oder nicht.
Wir kommen heute zu einem Ergebnis, welches unter
dem Strich besagt, dass das Merkmal einer wesentlichen
Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes einer
Sache, die nicht nur vorübergehender Natur sein darf,
vorliegen muss. Ich halte dies für ein wichtiges Korrektiv. Wer zum Beispiel Wäsche auf dem Balkon aufhängt,
ein Spruchband anbringt, etwas mit Schulkreide aufmalt
oder - ganz modern - mit einem Laser Schriften oder
Bilder an die Wand malt, die das Äußere eines Gebäudes
erheblich verändern, die hinterher aber wieder weg sind,
der handelt doch nicht strafbar. Denken Sie doch einfach
einmal an die Sternsinger, die mit Kreide Zeichen aufmalen. Die wollen Sie strafbar machen?
({4})
Vorübergehend heißt, dass die Veränderung ohne einen nennenswerten Aufwand - so hat es der BGH gesagt - an Mühe, Zeit oder Kosten wieder behebbar sein
muss. Ich weiß, dass die Praxis mit diesem Korrektiv
sehr gut umgehen kann. Es wird nicht lange dauern, bis
die Rechtsprechung darauf eingetaktet ist und sagen
wird, was das bedeutet.
Ich möchte noch etwas zu dem politischen Theater sagen, das Sie nicht nur in den letzten sieben Jahren, sondern heute auch wieder durch Herrn van Essen veranstaltet haben. Da könnte man, wenn man, wie ich, auf dieser
Seite Rechtspolitik betreibt, noch manche Ballade zitieren.
Wir alle sind uns einig: Graffiti sind nicht nur eine
störende und unschöne Farbschmiererei, die die Menschen beeinträchtigt, nein, sie verursachen auch einen
finanziellen Schaden. Für viele Menschen sind Graffiti
aber noch etwas anderes. Sie sind für sie ein Zeichen für
Verwahrlosung, Unordnung und das Überhandnehmen
von Kriminalität.
({5})
Wenn in einem Viertel vermehrt Graffiti angebracht und
nicht gleich beseitigt werden, befürchten viele Menschen, Staat, Justiz und Polizei hätten es aufgegeben, für
ihre Sicherheit sowie für Recht und Ordnung zu sorgen.
Ich kann das sehr gut nachempfinden.
Das, was Sie gemacht haben, halte ich aber für verwerflich. Sie haben nämlich mit den Ängsten der Menschen gespielt und versucht, damit Politik zu machen.
Sie suggerieren ständig, dass es eine einfache Lösung für
das Graffiti-Problem gibt: einen Federstrich des Gesetzgebers.
({6})
- Das haben Sie sieben Jahre lang getan.
({7})
Genau das ist falsch; Sie wissen das genau. Wer weniger
Graffiti will - das predige ich auch seit sieben Jahren -,
muss mehr und vor allem anderes tun, als Strafgesetze
auszuweiten.
({8})
Ich habe das bereits in meiner letzten Rede gesagt.
Nichts ist so wichtig wie Prävention und deshalb sind
jetzt auch die Länder am Zuge. Wir werden sehr genau
beobachten, was die Länder daraus machen und ob die
Landesfürsten der CDU/CSU-geführten Länder zukünftig weiterhin nur tönen oder ob sie wirklich etwas gegen
die Graffiti unternehmen.
Noch ein Letztes: Union und FDP haben hier ständig
und immer wieder nach härteren Strafen gerufen. Ich
kenne von Ihnen auch ganz andere Töne, nämlich wenn
es etwa um Steuerhinterziehung oder Kontenabfragen
geht.
({9})
Ich erinnere mich auch gut an unsere Diskussion zur
Ausweitung der Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung - wo sind wir denn da? ({10})
und daran, wie vorsichtig man Ihrer Meinung nach mit
dem Strafrecht umgehen müsse. Wenn Sie die vielen
Skrupel, die Sie bei diesen Themen an den Tag gelegt
haben, bei Graffiti nicht völlig vergessen hätten, hätten
wir vielleicht schon früher eine vernünftige und für alle
tragbare Lösung finden können.
({11})
- Herr van Essen, Sie erinnern mich heute ein wenig an
einen Schmierenkomödianten und nicht an einen Oberstaatsanwalt außer Diensten.
({12})
Das, was Sie heute hier vorgeführt haben, hat mit sachlicher Politik nichts zu tun.
({13})
Ich bitte Sie wirklich ernsthaft: Kommen Sie wieder auf
die sachliche Basis zurück! Überzeugen Sie Ihre Leute,
dass dieses Gesetz richtig ist und dass man diesem Gesetz zustimmen darf.
Herr Präsident, ich bemerke Ihre Mahnung, die Sie
stumm hinter meinem Rücken aussprechen. Ich bedanke
mich sehr herzlich, dass Sie mir alle zugehört haben, und
freue mich, Frau Raab, über Ihren Beitrag, Herr
Dr. Gehb, über die Ruhe, die Sie heute bei meiner Rede
bewiesen haben,
({14})
und vor allen Dingen dafür, dass wir den Menschen jetzt
in der Tat eine Kleinigkeit anbieten können, um die Situation zu verbessern.
Vielen Dank.
({15})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Peter Götz, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Zeichen
der Sternsinger mit Graffitischmierereien zu vergleichen, Herr Staatssekretär, ist unerhört. Sie sollten diesen
Vergleich sofort zurücknehmen.
({0})
Die heute zu treffende Entscheidung - darüber sind
wir uns alle einig ({1})
wird das Graffitiproblem nicht lösen. Aber nach sechs
Jahren rot-grüner Blockade ist sie ein klein wenig - ich
betone: nur ein ganz klein wenig - besser als nichts.
({2})
Genau deshalb werden wir Ihrem Gesetzentwurf zustimmen; denn wir gehen davon aus, dass Sie unseren ablehnen.
Jahrelang haben Sie alle Initiativen torpediert - die
Kollegin Raab hat es ausgeführt -, weil Sie in dieser Koalition untereinander heillos zerstritten sind. Das, was
jetzt als Gesetzentwurf von Ihnen vorliegt, hätten Sie
schon vor Jahren präsentieren können. Vielleicht wären
wir heute dann schon ein Stück weiter. Die Zeit, die Sie
allein dafür gebraucht haben, bei der Graffitibekämpfung einen ganz kleinen Schritt weiterzukommen, macht
deutlich, wie ideologisch das Thema in Ihrer Koalition
belastet ist.
({3})
Wer durch unsere Städte geht und das Ausmaß der
Graffitischmierereien auf Denkmälern und fremdem Eigentum sieht, erkennt allein daran, dass sich in Deutschland sehr schnell sehr viel ändern muss. Dabei bin ich
mir sehr wohl dessen bewusst, dass der Graffitivandalismus nur einen Aspekt einer fehlgeleiteten Entwicklung
darstellt.
Das Ausmaß und die finanziellen Folgen des Graffitiproblems sind bekannt - ob bei der Bahn, beim öffentlichen Personennahverkehr, beim privaten Gebäudeeigentümer oder vor allem auch bei den Kommunen. Wir
können es uns nicht erlauben, schulterzuckend zuzusehen, wie Jahr für Jahr sinnlose Schäden von mehreren
100 Millionen Euro allein an städtischen Einrichtungen
angerichtet werden.
({4})
Wir wissen: Die Tendenz ist seit vielen Jahren überproportional steigend. Das Geld, das für die Schadensbeseitigung aufgewendet werden muss, fehlt dringend
an anderer Stelle. Es wäre besser im Bereich der Jugendförderung oder Jugendbetreuung angelegt.
({5})
Öffentliche Einrichtungen der Kommunen wie Bibliotheken und Jugendhäuser müssen geschlossen werden,
weil Sie durch Ihre Politik viele Städte und Gemeinden
an den Rand des finanziellen Ruins getrieben haben.
({6})
Eine vernünftige Regelung zur Graffitibekämpfung
kostet nichts, erspart aber viel. Von den negativen Konsequenzen in beschmierten Stadtquartieren - Herr
Staatssekretär, Sie haben es angesprochen - und den
Auswirkungen auf die Bevölkerungsstruktur will ich gar
nicht reden. Es wäre höchste Zeit, dieses Thema allein
unter städtebaulichen Gesichtspunkten einmal zu vertiefen.
Nur so viel dazu: Bund, Länder und Gemeinden stecken jährlich Millionenbeträge in Programme zur Beseitigung städtebaulicher Missstände, in Programme wie
die „Soziale Stadt“, um heruntergekommene Stadtquartiere aufzuwerten und das Wohnumfeld zu verbessern.
So mancher Euro aus öffentlichen Steuergeldern könnte
eingespart werden, wenn mehr präventiv gedacht und
auch gehandelt würde. Das heißt, die Politik muss ein
Zeichen setzen.
({7})
Wir von der CDU/CSU sind nicht gewillt, Graffitischmierereien einfach hinzunehmen und davor zu kapitulieren.
({8})
Wir alle wissen: Allein eine Änderung im Strafrecht
wird dieses Thema nicht beenden.
({9})
Aber das Strafrecht gehört zur Abschreckung maßgeblich dazu.
({10})
Das Thema muss gesamtgesellschaftlich angegangen
werden. Graffitischmierereien an fremdem Eigentum
sind zunehmend auch ein Erziehungsproblem in unserer
Gesellschaft. Lernen unsere Kinder überhaupt noch, mit
fremdem Eigentum rücksichtsvoll umzugehen,
({11})
oder ist das in unserer Gesellschaft den meisten inzwischen vollkommen egal geworden?
Vor wenigen Tagen hat beispielsweise der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels in einer Studie dargelegt, dass im vergangenen Jahr Waren im Gesamtwert
von mehr als 2,2 Milliarden Euro gestohlen worden sind.
Leidtragende waren neben dem Handel auch der Staat,
dem durch unehrliche Kunden mehr als 230 Millionen Euro Einnahmen aus der Mehrwertsteuer entgingen.
Auch dieses Geld fehlt an anderen Stellen dringend. Weder Graffitischmierereien noch Ladendiebstahl dürfen in
Deutschland zum Kavaliersdelikt herabgestuft werden.
({12})
Wenn Sie schon nicht die Zusammenhänge zwischen Lebensqualität und Ordnung erkennen wollen, so sollten
Sie wenigstens die finanziellen Auswirkungen gesellschaftlicher Fehlentwicklungen wahrnehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird höchste
Zeit, gegen die rot-grüne Duldungskultur ein deutliches
Zeichen zu setzen.
({13})
Es wird höchste Zeit für eine neue Bundesregierung, die
sich frei von Ideologie eindeutig für Ordnung, Sicherheit
und Sauberkeit in unseren Kommunen einsetzt. Es wird
höchste Zeit für einen Politikwechsel in Deutschland.
({14})
- Ich kann verstehen, dass Sie das aufregt. Aber die
Menschen in unserem Land wissen genau, was Sie sagen
wollen.
CDU und CSU wollen entschlossenes Handeln. Eltern, Erzieher, die Menschen in unserem Land erwarten
vom Gesetzgeber zu Recht klare Vorgaben darüber, was
richtig und was falsch ist, was Recht und was Unrecht
ist. Wir und auch der Bundesrat haben einen Vorschlag
gemacht. Diese Vorschläge sind geeignet, das Graffitiproblem zu entschärfen, sofern man es überhaupt entschärfen will. Sie lehnen unseren Gesetzentwurf leider
ab. Ihr Vorschlag ist der untaugliche Versuch, mit diesem
Thema politisch halbwegs über die Runden zu kommen.
Aber ich sage Ihnen: Das wird Ihnen nicht gelingen.
Wir brauchen und wollen eine echte Strafverschärfung und eine erleichterte Strafverfolgung.
({15})
Deshalb behalten wir uns vor, bei Übernahme der Regierungsverantwortung auch auf diesem Gebiet Korrekturen vorzunehmen.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den notwendigen Abstimmungen.
Hierzu liegen mir Erklärungen zur Abstimmung von den
Kollegen Hans-Christian Ströbele, Jutta Dümpe-Krüger
und Monika Lazar vor.1)
Wir stimmen zunächst über den von den Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes auf
Drucksache 15/5313 ab. Der Rechtsausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/5702, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/
Die Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP
angenommen.
({0})
- Der Kollege Ströbele, dessen Erklärung zur Abstim-
mung ich ausdrücklich erwähnt habe, legt Wert darauf,
dass sein abweichendes Abstimmungsverhalten an pro-
minenter Stelle noch einmal ausdrücklich erwähnt wird,
was hiermit geschieht.
Wir kommen nun zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-
ben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stim-
me? - Damit ist der Gesetzentwurf mit der gleichen, vor-
hin präzise erläuterten Mehrheit angenommen.
Wir stimmen nun ab über die Beschlussempfehlung
des Rechtsausschusses zu den von der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwürfen eines Strafrechts-
änderungsgesetzes und eines Gesetzes zur Änderung
des Strafgesetzbuches auf den Drucksachen 15/5317
und 15/302. Unter Buchstaben b und c seiner Beschluss-
empfehlung empfiehlt der Rechtsausschuss auf der
Drucksache 15/5702, die genannten Gesetzentwürfe für
erledigt zu erklären. Ich gehe davon aus, dass wir über
die Buchstaben b und c gemeinsam abstimmen kön-
nen. - Das wird nicht bestritten. Dann verfahren wir so.
1) Anlage 4
Wer stimmt für die genannte Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Be-
schlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir stimmen ab über den vom Bundesrat eingebrach-
ten Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes - Graf-
fiti-Bekämpfungsgesetz. Unter Buchstabe d seiner Be-
schlussempfehlung empfiehlt der Rechtsausschuss auf
der Drucksache 15/5702, den Gesetzentwurf auf Druck-
sache 15/404 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Da-
mit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung abge-
lehnt. Eine weitere Beratung entfällt damit nach unserer
Geschäftsordnung.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b
auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Strafrechtlichen
Rehabilitierungsgesetzes
- Drucksache 15/5244 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Arnold Vaatz, Ulrich Adam, Günter
Baumann, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes
- Drucksache 15/5319 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3})
- Drucksache 15/5701 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Hacker
Hans-Christian Ströbele
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Hartmut Büttner
({5}), Arnold Vaatz, Wolfgang Bosbach,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Jährliche Debatte zum Stand der Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer der SEDDiktatur
- Drucksachen 15/2818, 15/5701 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Hacker
Hans-Christian Ströbele
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kollege Hans-Joachim Hacker für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der 17. Juni ist ein bedeutsames Datum.
Heute jährt sich zum 52. Mal der Volksaufstand in der
DDR. Es ist wichtig und richtig, an dieses Datum zu erinnern; denn am 17. Juni 1953 haben sich die Menschen
in der DDR erhoben und für Freiheit, Demokratie und
die Herstellung der deutschen Einheit demonstriert. Vom
16. bis 21. Juni 1953 kam es in fast 700 Städten und Gemeinden der DDR zu Demonstrationen und Streiks. In
weit über 1 000 Betrieben und Genossenschaften wurde
die Arbeit niedergelegt. Aufständische erstürmten über
250 öffentliche Gebäude, und vor Gefängnissen, in denen politische Häftlinge saßen, versammelten sich Demonstranten. Am Volksaufstand, der als Arbeiteraufstand im so genannten Arbeiter- und Bauernstaat
begann, war nach jüngsten Zählungen über 1 Million Menschen beteiligt.
Der SED drohte die Macht zu entgleiten. Sie sah nur
noch eine Möglichkeit, den Volksaufstand zu unterdrücken, nämlich mit Waffengewalt. Da die DDR damals
nicht über eine reguläre Armee verfügte, wurden in der
Nacht vom 16. zum 17. Juni 1953 die sowjetischen
Truppen mobilisiert. Die sowjetische Militäradministration verhängte über 167 der 217 Land- und Stadtkreise
und über Ostberlin den Ausnahmezustand. Am Mittag
des 17. Juni - viele von uns kennen die Bilder aus Fernsehdokumentationen - rollten die Sowjetpanzer in Ostberlin und walzten den Demonstrationszug, der von den
Bauarbeitern der Stalinallee ausging, blutig nieder.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir gedenken der
Opfer des 17. Juni 1953. Damit verbindet sich zugleich
die politisch-moralische Verpflichtung, die Bedeutung
dieses Ereignisses in der deutschen und - das sage ich
ganz bewusst - der europäischen Geschichte wach zu
halten. Den jungen Menschen in Deutschland muss
heute vermittelt werden, was es bedeutete, sich gegen
eine Diktatur mutig zu erheben.
Zum Erinnern gehört auch die Feststellung, dass die
SED zusammen mit der sowjetischen Besatzungsmacht
für die blutige Niederschlagung des Volksaufstandes
verantwortlich war, wofür sie gebrandmarkt werden
muss. Mit dem Unrecht und dem Leid der Menschen in
dem politischen System in der DDR wird ein Begriff
verbunden bleiben: das SED-Regime.
Die demokratische Volkskammer und der Deutsche
Bundestag haben durch gesetzliche Regelungen die
SED-Opfer rehabilitiert und materielle Ausgleichsleistungen beschlossen. In den letzten Jahren haben ehemalige politische Häftlinge in weit über 170 000 Fällen Rehabilitierungsanträge gestellt. Über 660 Millionen Euro
sind für die Opfer im Rahmen von Kapitalentschädigungen und Ausgleichsleistungen bereitgestellt worden.
Aber auch im Bereich von Rentenanwartschaften und
weiteren sozialen Unterstützungsleistungen sowie mittels Ansprüchen nach dem Beruflichen und dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz sind Leistungen gewährt worden.
Diese materiellen Folgen - ganz abgesehen von dem
nicht wieder gutzumachenden Leid - gehören zu der
Erblast der SED. Uns allen ist bewusst, dass die gesetzlichen Ausgleichsmaßnahmen den Verlust von Freiheit
und Gesundheit in Gefängnissen und Benachteiligungen
im Beruf nicht ausgleichen konnten.
Ich will an dieser Stelle daran erinnern, dass die rotgrüne Koalition mit der Novelle der Rehabilitierungsgesetze im Jahr 1999 deutlich bessere gesetzliche Leistungen für die Opfer verabschiedet hatte. Es ging dabei um
die Erhöhung und Vereinheitlichung der Kapitalentschädigung für politische Haft. Zuvor gab es zwischen Ost
und West Unterschiede. Es ging auch um Ausgleichsleistungen für Angehörige der aus politischen Gründen Hingerichteten, in politischer Haft Umgekommenen oder an
der innerdeutschen Grenze oder der Berliner Mauer Erschossenen. Wir haben zudem die Leistungen für die zivildeportierten Deutschen aus den früheren deutschen
Ostgebieten über das Häftlingshilfegesetz deutlich erhöht - eine Tatsache, die oft nicht bekannt ist und
manchmal auch falsch dargestellt wird. Für zivildeportierte Deutsche aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten gibt es Ausgleichsleistungen für die Zeit der Verschleppung.
Dass wir bei den bisherigen Regelungen die Einbeziehung der Angehörigen der Todesopfer bei der Niederschlagung des Volksaufstands am 17. Juni 1953 übersehen haben, ist ein Fehler in der Gesetzgebung. Das muss
man so eindeutig sagen. Diesen Fehler korrigieren wir
mit dem vorgelegten Gesetzentwurf. Die Hinterbliebenen dieser Todesopfer werden durch die Gesetzesänderung den nächsten Angehörigen gleichgestellt, die ihre
Familienangehörigen in der politischen Haft oder an der
ehemaligen innerdeutschen Grenze verloren haben.
An dieser Stelle will ich auf den Wortlaut der gemeinsamen Entschließung verweisen und auszugsweise daraus zitieren, weil mir das sehr wichtig erscheint:
Der Deutsche Bundestag appelliert in diesem Zusammenhang an die Länder, sich dafür einzusetzen,
dass die Rehabilitierungsbehörden die gesetzlichen
Beweiserleichterungsmöglichkeiten nach dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz … zu
Gunsten der Betroffenen ausschöpfen und dabei
insbesondere auf vorhandene Dokumentationen zur
historischen Aufarbeitung der Ereignisse im Zusammenhang mit der Niederschlagung des Aufstandes am 17. Juni 1953 zurückgreifen. Den zumeist
hochbetagten Anspruchsberechtigten sollen durch
langwierige Recherchen bedingte Verzögerungen
der Rehabilitierungsverfahren erspart bleiben.
Dass wir ein Verwaltungsverfahren in den Gesetzentwurf aufgenommen haben, das gleichzeitig die Abwicklung dieser Anspruchsstellung aufzeigt, ist, denke ich,
ein vernünftiger Weg. Ich hoffe, dass dieser Appell an
die Länder, den wir in unserer gemeinsamen Entschließung aufgenommen haben, die Köpfe und die Herzen
der Verantwortlichen erreichen wird.
Viele Menschen haben für ihren mutigen Einsatz für
Freiheit und Demokratie in der DDR schwer bezahlen
müssen, zum Teil mit ihrem Leben. Ihnen allen gelten
unser Respekt und unsere Achtung; ihren Angehörigen
gilt unser Mitgefühl. Deshalb wollen wir heute das Gesetz zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes verabschieden, mit dem wir eine Regelungslücke im geltenden Rehabilitierungsrecht schließen
werden.
Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in Ostberlin und
in den anderen Städten der DDR endete tragisch. Dennoch ist das Vermächtnis der mutigen Frauen und Männer mit der friedlichen Revolution in der DDR im
Jahre 1989 und mit der Herstellung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 erfüllt worden.
Danke schön.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Hartmut Büttner für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum
52. Mal jährt sich heute der Volksaufstand in der DDR
am 17. Juni 1953. Wir in ganz Deutschland haben den
mutigen Frauen und Männern, welche sich nicht von der
Diktatur haben brechen lassen, viel zu verdanken.
Heute steht ein Gesetzentwurf auf der Tagesordnung,
der von allen Fraktionen des Deutschen Bundestages getragen wird. Er bedenkt endlich die Hinterbliebenen von
Landsleuten, die im Zusammenhang mit dem 17. Juni zu
Tode gekommen sind, mit einer Entschädigungsleistung.
Zu den Einzelheiten werden meine Kollegen Marco
Wanderwitz und Günter Baumann Stellung beziehen.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich in meiner
höchstwahrscheinlich letzten Rede im Deutschen Bundestag ein wenig grundsätzlicher mit der Frage auseinander zu setzen: Hat das vereinte Deutschland genug getan,
um den Opfern des SED-Regimes Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Seit 1990 bemühe ich mich sowohl um
die Belange von Opfern der SED-Diktatur als auch um
die Belange von Opfern des Zweiten Weltkriegs, die in
der DDR keinerlei Unterstützung bekommen haben.
In der Regierungszeit von Union und FDP ist auf diesem Gebiet einiges erreicht worden. So haben wir für die
1,3 Millionen Heimatvertriebenen, die in die sowjetische Besatzungszone vertrieben worden sind, eine
allein vom Bund aufgebrachte Einmalleistung in Höhe
von 4 000 DM pro Person auszahlen können. Die Entschädigung summierte sich auf die immense Summe von
5,2 Milliarden DM. In diesem Zusammenhang wäre es
auch möglich gewesen, statt 5,2 Milliarden DM
5,29 Milliarden DM aufzubringen.
Diese 90 Millionen DM hätten vor acht Jahren ausgereicht, um einer weiteren Gruppe von besonders leidgeprüften Opfern des Zweiten Weltkriegs ebenfalls eine
kleine pauschale Entschädigung zukommen zu lassen.
Ich meine die Langzeitkriegsgefangenen, die nicht in
die westlichen Bundesländer, sondern in den Osten
Deutschlands entlassen worden sind. Im Gegensatz zu
den sehr gut organisierten Heimatvertriebenen hatten die
Spätheimkehrer auch nach der Einheit Deutschlands
keine vergleichbare kämpferische Lobby. Außerdem waren die Betroffenen besonders zurückhaltend und leise.
Die Kriegsheimkehrer fühlten sich in der DDR zumeist als Menschen zweiter Klasse. Häufig wurden sie
sogar als Kriegsverbrecher hingestellt und mussten für
die Schandtaten des Nationalsozialismus ein weiteres
Mal büßen. Im Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von
1992 wurden lediglich Leistungen der Heimkehrerstiftung zur Linderung einer aktuellen sozialen Notlage
auch für die Betroffenen in den neuen Bundesländern
bereitgestellt.
Die Hauptverantwortung dafür hatten wir, die Mitglieder der damaligen Regierungsparteien. Aber genauso
verantwortlich war die damalige Opposition, bestehend
aus SPD, Grünen und PDS. Wir alle haben die Dimension des persönlichen Zurückgesetztseins dieser Menschen nicht erkannt. Erst als die deutsche Gesellschaft
bereit war, 10 Milliarden DM für ausländische Zwangsarbeiter zu zahlen, wurden diese mittlerweile hoch betagten Ostdeutschen wach und forderten zumindest anerkennende Gerechtigkeit.
Trotz vieler Anträge, Gesetzentwürfe und Anhörungen verweigerte sich die rot-grüne Mehrheit. Nicht - wie
heute - das vergessene Opfer stand im Mittelpunkt, sondern nur reine parteipolitische Schuldzuweisung. Makaber, aber wahr: Jedes Jahr wird die mögliche Entschädigungssumme für den Finanzminister geringer.
({0})
Der Deutsche Bundestag sollte bald handeln, damit
zumindest einige Betroffene die Gerechtigkeit des vereinten Deutschlands noch erleben können.
({1})
Dabei war es nie leicht, ausreichende Entschädigungszahlungen für Opfer der Diktaturen durchzusetzen.
Opferentschädigungen wurden häufig als rückwärts gewandte Symbolpolitik desavouiert. Mit Geld verbundene
Entschädigungen sind natürlich gerade in Zeiten katastrophaler Staatsfinanzen immer schwerer aufzubringen.
Ich appelliere deshalb an die nächste Bundesregierung
und den nächsten Deutschen Bundestag: Haben Sie die
Kraft und die Größe, die durch die Urteile des Bundesverfassungsgerichts weiter geöffnete Schere zwischen
ehemaligen SED-Tätern und ihren Opfern durch eine
Opferpension wieder etwas mehr zu schließen! Dieser
Appell geht an alle Seiten des Hauses.
Hartmut Büttner ({2})
Die vier heute im Bundestag vertretenen Fraktionen
haben allesamt Verdienste, aber teilweise auch Defizite
und Unterlassungen auf diesem politischen Feld zu verzeichnen. Aufseiten von Union und FDP war es ein Defizit, dass nicht sofort eine angemessene Entschädigung
für die Haft in den Kerkern von SBZ und DDR durchgesetzt wurde. Wir, die wir das bereits damals wollten,
scheiterten an unserem Bundesfinanzminister. Dafür legten Union und FDP die gesamten Grundlagen der strafrechtlichen, der beruflichen und der verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung der Opfer der SED-Diktatur.
Rot-Grün wiederum hat am Anfang seiner Regierungszeit - das hat Herr Hacker bereits gesagt - mit unserer Zustimmung die Defizite behoben. Die Kraft, um
neu entstandene Probleme zu lösen, hatten Sie jedoch
auch nicht. So lehnten Sie eine Opferpension ab, obwohl
diese beispielsweise vom damaligen Bundespräsidenten
Johannes Rau am 50. Jahrestag des 17. Juni von dieser
Stelle aus angemahnt worden ist.
({3})
Leider haben die Kolleginnen und Kollegen von SPD
und Grünen, die sich wie Herr Hacker nachdrücklich um
Verbesserungen zugunsten der Opfer und die Aufarbeitung der SED-Diktatur bemühen, immer mehr an politischem Einfluss in ihrer Fraktion verloren.
Es ging sogar so weit, dass von der jetzigen Bundesregierung in einem abgestimmten Positionspapier eine
Abwicklung der Heimkehrerstiftung und der Stiftung für
ehemalige politische Häftlinge bis Ende dieses Jahres
verlangt wurde. Das wird es jetzt Gott sei Dank nicht geben. Die Heimkehrerstiftung sollte bis 2008 und die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge bis zur Erfüllung
ihrer Aufgaben bestehen bleiben.
({4})
Ich bin der Auffassung, dass sich der Deutsche Bundestag bemühen sollte, die Fragen nach der Bewältigung
der beiden deutschen Diktaturen möglichst gemeinsam
zu klären. Es gibt zahlreiche Beispiele, dass uns dies immer wieder gelungen ist. Jetzt harren noch einige wenige
offene Baustellen einer Lösung. Über einige haben wir
bereits gesprochen. Die SED-Opfer-Problematik darf
nicht in das politische Museum, sondern muss auf der
Tagesordnung des Bundestages bleiben.
({5})
Heute haben wir alle die Möglichkeit, das sicherzustellen. Unser Antrag, jährlich zum 17. Juni eine Debatte zum Stand der Rehabilitierung und Entschädigung
von SED-Opfern zu führen, ist hierfür eine gute Grundlage. Da sich die Anforderung an die nächste Bundesregierung richtet, dürften auch die Abgeordneten von
SPD und Grünen unserem Antrag zustimmen können.
Ich danke Ihnen sehr.
({6})
Ich erteile das Wort der Kollegin Silke Stokar von
Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einem
relativ überschaubaren Kreis - um nicht zu sagen: in
einem kleinen Kreis - reden wir heute, am 17. Juni, über
den damaligen Volksaufstand und gedenken der Opfer.
Ich erinnere mich sehr gut, wie die Feierlichkeiten zum
50. Jahrestag hier gestaltet wurden. Wir müssen aber zur
Kenntnis nehmen, dass heute nicht nur die Prominenz
nicht mehr so stark vertreten ist wie damals - das belegt
auch die Rednerliste -, sondern dass auch die öffentliche
Berichterstattung und das Interesse der Öffentlichkeit
nachgelassen haben. Ich habe der damaligen Rede des
Bundespräsidenten Rau sehr genau zugehört und an vielen Veranstaltungen zum 50. Jahrestag teilgenommen.
Aber wir müssen feststellen, dass die kurz aufgekeimte
Debatte über die Bedeutung dieses historischen Ereignisses wieder abgenommen hat. Wir als Abgeordnete
sind in der Verantwortung - das möchte ich durchaus als
Kritik verstanden wissen -, die großen Ankündigungen
in den Reden und die damit verbundenen Erwartungen
zu erfüllen.
Ich möchte nicht noch einmal die Unterschiede zwischen den Fraktionen hervorkehren; denn wir werden
heute einen Entwurf gemeinsam, fraktionsübergreifend
verabschieden. Ich möchte noch einmal darauf eingehen,
wie schwierig es für uns engagierte Abgeordnete, und
zwar in allen Fraktionen, unter allen Regierungen, gewesen ist, nach den großen Gedenktagen etwas für die Opfer zu tun.
Herr Kollege Büttner, es ist einfach der Fairness geschuldet, dass auch Sie sagen, dass damals im Einigungsvertrag Fehler gemacht worden sind und dass Sie
in den 16 Jahren der Kohl-Regierung für die Opfer des
SED-Unrechts wesentlich weniger getan haben, als RotGrün danach in Gang gesetzt hat.
({0})
Zur Glaubwürdigkeit gehört einfach hinzu - ich habe
das an anderer Stelle schon gesagt -, dass wir mit Opfern
und mit Hinterbliebenen von Opfern nicht parteipolitisch
motiviert umgehen,
({1})
dass wir hier nicht das alte Spiel spielen: Aus der Opposition heraus werden Anträge gestellt, die - Herr Kollege
Büttner, das wissen Sie auch sehr genau - von Ihrer
Fraktion dann noch nicht einmal entsprechend in den
Haushaltsausschuss eingebracht werden.
({2})
Es werden finanzielle Forderungen aufgestellt. Wir
haben lange Debatten über die Frage der Ehrenpension
geführt. Was Sie dafür wirklich tun wollen, wird sich irgendwann einmal zeigen; in einer Demokratie gibt es ja
immer wieder den Wechsel zwischen Opposition und
Regierung. Anträge, die Sie gestellt haben, hatten, als es
um die Finanzierung ging, oft keinen Bestand. Herr
Hacker und ich haben in vielen Gesprächen, die wir mit
dem Finanzministerium geführt haben, immer wieder erlebt, dass wir Erfolge nur in kleinen Schritten erreichen
können, dass es aber in der heutigen Situation, in der wir
wenig Geld haben, nicht möglich ist, große Haushaltsbeträge für Verbesserungen für Opfergruppen zur Verfügung zu stellen.
Ich finde es richtig, dass wir heute, am 17. Juni, insbesondere für die Angehörigen derjenigen, die am
17. Juni 1953 ums Leben gekommen sind, noch einmal
eine sehr einfache, unbürokratische Hilfe ermöglichen.
Um das deutlich zu machen: Die rot-grüne Bundesregierung, der Bund, trägt allein die Mittel, die eingesetzt
werden; es gibt keine Beteiligung der Länder. Wir haben
erreicht, dass über die Stiftung für politische Häftlinge
Leistungen ausgezahlt werden, ohne dass die wirtschaftliche Notlage nachgewiesen werden muss. Es ist
also ein einfacher, ein unbürokratischer Weg.
Den Hinterbliebenen und auch anderen Opfergruppen
geht es nicht immer nur darum - das haben wir in vielen
Gesprächen erfahren -: Wie hoch ist denn die Leistung?
Wie hoch ist denn die Entschädigung? Vielmehr geht es
um eine ideelle Anerkennung der Opfer, um eine ideelle Anerkennung auch der Gedenktage.
Ich denke, dass wir uns hier nicht nur über Eurobeträge und über Leistungsgesetze streiten sollten, sondern
überlegen sollten, wie wir weiterhin gemeinsam und
fraktionsübergreifend daran arbeiten - es ist noch viel zu
tun -, wie wir mit der Bewältigung des SED-Unrechts
und der Rehabilitierung, aber auch der ideellen Würdigung der Opfer umgehen.
Es ist falsch, Erwartungen zu wecken, die man dann,
wenn man selbst in der Verantwortung steht, nicht erfüllen kann. Das gilt für alle Fraktionen im Bundestag.
Danke schön.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Laurischk,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor
52 Jahren war die Normerhöhung beim Bau der Stalinallee hier in Berlin Anlass für den landesweiten
Volksaufstand, den wir unter dem Stichwort „Aufstand
des 17. Juni 1953“ zu Zeiten der deutschen Teilung jährlich als Gedenktag begangen haben. Damals war der
Name „Stalinallee“ Programm, heute steht die Straße unter den Namen „Karl-Marx-Allee“ und „Strausberger
Platz“ unter Denkmalschutz. Wenn ich dort entlangkomme, denke ich an den 17. Juni.
Es ist für mich bezeichnend, dass die Vertreterinnen
der Nachfolgepartei der SED in diesem Parlament
heute nicht an dieser Debatte teilnehmen. Ich halte das
für einen Skandal, meine Damen und Herren.
({0})
Sie drängen populistisch in dieses Parlament, aber mit
ihrer eigenen Geschichte und der Unterdrückungsmaßnahme, die sie damals der deutschen Arbeiterschaft im
Osten zugemutet haben, setzen sie sich nicht auseinander. Das sollte uns in der politischen Debatte vor Augen
sein.
Die Verbesserung der Situation der Opfer von Gewaltherrschaft und Diktatur und deren Entschädigung
hat den Bundestag immer wieder beschäftigt. Diese spezifischen Fragen von staatlichem Unrecht zwingen uns
immer wieder, uns mit unserer eigenen Vergangenheit
auseinander zu setzen. Auch die FDP hat sich immer für
die SED-Opfer eingesetzt, sowohl in der Regierungsverantwortung als auch in den vergangenen Jahren in der
Opposition.
Es ist aus unserer Sicht bedauerlich, dass es bis heute
gedauert hat, eine Entschädigungsregelung für die Hinterbliebenen der Opfer des Aufstands vom 17. Juni
1953 zu schaffen, die im Zuge der Niederschlagung dieses offenen und, wohlgemerkt, landesweiten Widerstands gegen das kommunistische Regime zu Tode kamen. Die Neuregelung der Entschädigungsleistungen
wurde zuerst im Bundesrat vom Land Sachsen-Anhalt
vorgeschlagen, die Bundesregierung schlägt vor, diese
noch um das Verfahren aus dem Verwaltungsrechtlichen
Rehabilitationsgesetz zu ergänzen. Dies erscheint uns
sachgerecht, da diese Regelung auch bei den Hinterbliebenen der Maueropfer angewandt wird und hiermit eine
bereits bewährte Regelung aufgegriffen wird.
Ich freue mich sehr, dass es gelungen ist, sich fraktionsübergreifend auf einen Entwurf zu einigen. Es hätte
wohl niemand im Land verstanden, wenn wir in dieser
wichtigen Frage nicht zu einer einvernehmlichen Lösung, zumal am ehemaligen Tag der deutschen Einheit,
gekommen wären.
({1})
Späte Entschädigungsansprüche wie diese - ich spreche hier auch von den Spätheimkehrern - hinterlassen
den etwas bitteren Geschmack der späten politischen
Geste, da die Hinterbliebenen der Opfer, selbst teilweise
dadurch zum Opfer der SED-Diktatur geworden, diese
Rechtsansprüche natürlich viel früher gebraucht hätten.
Dennoch geben wir mit unserer heutigen Entscheidung ein wichtiges Signal: Der Deutsche Bundestag erkennt erneut an, dass deutsche Bürgerinnen und Bürger
einen historischen Beitrag für das politische Selbstbewusstsein im Nachkriegsdeutschland geleistet haben.
Die Aufständischen vom 17. Juni 1953 haben gezeigt,
dass in Deutschland der Wunsch nach Freiheit und
Demokratie eben doch ein Fundament hatte, das die
Nationalsozialisten nicht haben zerstören können. Die
Leistung der Opfer des 17. Juni ist uns auch heute ein
Vorbild.
({2})
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Alfred Hartenbach.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich war heute Morgen im Bundesrat, als der Präsident des Bundesrates in eindrucksvoller Weise an diesen
Tag erinnert und der Opfer gedacht hat. Ich bedanke
mich auch beim Kollegen Hacker, der heute im Deutschen Bundestag ebenfalls in eindrucksvoller Weise dieses Tages, der Opfer und der Leiden vieler Menschen gedacht hat, die an diesem 17. Juni 1953 von dem
damaligen Regime und der damaligen Besatzungsmacht
getötet oder verletzt wurden. Ich richte an dieser Stelle
meinen besonderen Dank an dich, lieber Hans-Joachim
Hacker. Wir kennen uns seit 1994 und ich habe immer
wieder erlebt, mit welcher Kraft und Beharrlichkeit du
dich für die Opfer des SED-Regimes eingesetzt hast,
({0})
auch, Herr Büttner, in Zeiten, als wir in der Opposition
waren. 13 000 Menschen, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen - ich richte meine Stimme auch an die jungen
Menschen oben auf der Tribüne -, sind bei dem
Volksaufstand 1953 verhaftet worden. Es kam zu standrechtlichen Erschießungen durch sowjetische Soldaten
und zu Hinrichtungen, die von DDR-Gerichten angeordnet worden waren. Es kam auch zu anderen Tötungen,
auf die ich anhand eines Einzelfalles zu sprechen
komme.
Wir wissen heute nicht, wie viele Menschen wirklich
getötet worden sind. Seriöse Schätzungen gehen von 50
aus. Einer dieser Menschen war Edgar Krawetzke, der
nach Ermittlungen der Westberliner Kriminalpolizei am
Nachmittag des 17. Juni 1953 an einer Demonstration in
Berlin-Mitte teilnahm. Ein Zeuge berichtete, wie die
Volkspolizei am Leipziger Platz ohne jeglichen Grund
aus nächster Nähe in die Menschenmenge geschossen
habe. Edgar Krawetzke ist dort an den Folgen eines Lungen- und Nierensteckschusses gestorben.
Um Schicksale wie das von Edgar Krawetzke und seinen Hinterbliebenen geht es. Wir wollen die nächsten
Angehörigen der Todesopfer des 17. Juni finanziell unterstützen. Vor allem die Forschungsarbeiten zum
50. Jahrestag des 17. Juni 1953 haben den Anstoß für
diese Initiative gegeben. Sie kommt spät; das ist wahr.
Da sind wir uns alle einig. Aber ich bin froh, dass wir
uns heute immerhin auf diesen Gesetzentwurf einigen.
Auch wenn ich jetzt einige kritische Anmerkungen machen muss, möchte ich mich schon bei Ihnen allen bedanken, die Sie diese Initiative mittragen.
Man kann nicht unerwähnt lassen - auch wenn Sie,
Herr Büttner, dankenswerterweise schon darauf eingegangen sind -, dass Sie von der rechten Seite sich als
Opferanwälte immer dann besonders hervortun, wenn
Sie, wie jetzt
({1})
- Herr Büttner, hören Sie mir bitte einfach einmal zu! -,
in der Opposition sind und es Sie nichts kostet. Damit
meine ich zum Beispiel die von Ihnen angesprochene
Opferrente. Das ist der Unterschied zu uns; denn wir
haben uns in den letzten Jahren, seit wir Regierungsverantwortung tragen, in besonderem Maße um die Opfer
und ihre Angehörigen gekümmert. Wir haben in den
letzten beiden Legislaturperioden die Rechte der Opfer
von Willkür und Unrecht des SED-Regimes gestärkt und
die Leistungen nach den Rehabilitierungsgesetzen erheblich verbessert. - Wenigstens Herr Wanderwitz hört
zu. - Ehemalige politische Häftlinge haben in weit über
170 000 Fällen von ihrem Antragsrecht auf Kapitalentschädigung und Unterstützungsleistungen nach dem
Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz Gebrauch gemacht. Über 660 Millionen Euro haben Bund und Länder dafür zur Verfügung gestellt. Wir haben die Leistung
so erhöht, dass für viele ehemalige Häftlinge eine Verdoppelung der ursprünglichen Haftentschädigung dabei
herauskam. Auch die Bundesmittel, die der Stiftung
jährlich für ehemalige politische Häftlinge zur Unterstützung nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz
zur Verfügung gestellt werden, sind verdoppelt worden.
Von einer Auflösung - Herr Büttner, Sie haben das angesprochen - kann hier überhaupt nicht die Rede sein.
({2})
Vielmehr war von einer Umstrukturierung die Rede
({3})
- nein! -,
({4})
die dazu geführt hätte, dass eine andere Stelle dieselben
Aufgaben in der gleichen Art und Weise und mit den
gleichen Sachleistungen weiter erledigt hätte.
({5})
- Durch Wiederholung wird es nicht richtiger, Herr
Büttner.
({6})
- Nein, Herr Büttner. Ich selbst habe mitverhandelt. Sie
waren gar nicht dabei. Dabei waren: Herr Hacker, Frau
Stokar, ein Vertreter des Innenministeriums und ich. Wir
haben ganz klar gesagt: Wenn diese Stiftung wirklich
nicht weiter bestehen kann, dann muss eine andere Einrichtung - es gibt sie - diese Aufgabe übernehmen.
Wäre es dazu gekommen, wäre es genauso gut weitergegangen. Letztlich haben wir allerdings auf die Empfindlichkeiten der Opfer, die sich bei der Stiftung besser aufgehoben fühlen, Rücksicht genommen. Mit einer
anderen Einrichtung wäre es dennoch kostengünstiger
gewesen und hätten wir mehr Geld für die Opfer zur Verfügung gehabt. Hören Sie jetzt bitte damit auf, von „Abwicklung“ und „Auflösung“ zu reden! Das, was Sie behaupten, mein lieber Kollege Büttner, ist einfach falsch.
({7})
- Wir können uns hinterher noch einmal zusammensetzen; das ist vielleicht besser.
Erst unlängst sind die Rechte der in Bezug auf ihre
wirtschaftliche Lage besonders beeinträchtigten Opfer
beruflicher Verfolgung gestärkt und ihre monatlichen
Ausgleichsleistungen sind um circa 20 Prozent erhöht
worden. Schließlich: Die Antragsfristen in den Rehabilitierungsgesetzen wurden wiederholt, zuletzt bis zum
Jahr 2007, verlängert, um möglichst vielen, am besten
allen Opfern des DDR-Regimes die Möglichkeit zu geben, ihre Ansprüche geltend zu machen.
Sie haben immerhin gut daran getan - dafür danke ich
noch einmal -, sich unserem Gesetzentwurf anzuschließen. Dieser Entwurf behandelt die Angehörigen von Opfern des 17. Juni genauso wie die Angehörigen anderer
Opfer. Mit der Vorlage einer entsprechenden Behördenbescheinigung erhalten die Angehörigen Unterstützungsleistungen von der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge. Diese Unterstützungsleistungen sind von
der wirtschaftlichen Situation des nächsten Angehörigen
unabhängig. Der Verzicht auf die Bescheinigung, den
Sie von der Union zuvor forderten, ist praktisch nicht
umsetzbar. Ich bin froh, dass Sie auch eingesehen haben,
wie wichtig es ist, dass wir unbürokratisch vorgehen
können.
Ich finde es gut, dass der Deutsche Bundestag heute
gemeinschaftlich - so hoffe ich jedenfalls - an die Landesbehörden appelliert, die Beweiserleichterungen und
das historisch aufbereitete Archivmaterial zu nutzen.
Auf diese Weise werden die zumeist hochbetagten
nächsten Angehörigen der Opfer der Niederschlagung
des Aufstandes am 17. Juni ihren Berechtigungsnachweis für die Unterstützungsleistungen unbürokratisch erhalten können.
({8})
Nur auf diese Weise wird dem schweren Schicksal
derjenigen, die nicht nur den Tod ihrer Angehörigen verwinden, sondern zusätzlich in der ehemaligen DDR gegen soziale Benachteiligungen kämpfen mussten, ausreichend Rechnung getragen. Wir beseitigen damit ein
weiteres Stück des Unrechts, das die PDS-Vorgängerpartei SED und das von ihr getragene Regime den Menschen angetan haben.
Frau Laurischk, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass die beiden Einzelplätze
dort oben von Abgeordneten, die immer wieder Wert
darauf legen, dass sie als Abgeordnete der PDS angesehen werden, heute leer sind. Ich finde das bemerkenswert. Ich denke, es ist sehr legitim, darauf hinzuweisen,
dass sich die PDS als Nachfolgepartei der SED etabliert
hat. Große Teile dieser Partei verstehen sich noch heute
als Nachfolgepartei der SED.
({9})
- Herr Schauerte, da wäre ich sofort dabei.
Die Nachfolger der SED dürfen nicht so tun, als ginge
diese historische Schuld sie nichts an. Ich sage Ihnen:
Auch diese historische Schuld verjährt nie.
({10})
Das Gesetz, das wir heute einstimmig - da bin ich mir sicher - verabschieden, trägt dazu bei, diese Auffassung
aufrechtzuerhalten. Ich hoffe, Sie werden Ihre Parteigänger im Bundesrat instruieren, diesem Gesetz zuzustimmen.
({11})
- Gut, Herr Büttner. - Dieses Gesetz muss kommen und
sein In-Kraft-Treten darf nicht verzögert werden, damit
wir hier ein Stück Unrecht wieder gutmachen.
Vielen Dank.
({12})
Marco Wanderwitz ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn hat mein Kollege Hartmut Büttner - er ist einer derjenigen Abgeordneten von unserer Seite, die die Bereinigung von SED-Unrecht im Deutschen Bundestag von
1990, also quasi von Beginn an mitgestaltet haben - ein
paar grundsätzliche Überlegungen geäußert. Nun
möchte ich mich mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
etwas konkreter befassen.
Heute vor 52 Jahren - das ist bereits ausgeführt worden - und auch in den Tagen danach ist in der DDR viel
Unrecht an Menschen geschehen, die friedlich ihr Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen
wollten. Die DDR war ein Unrechtsstaat, das kann man
exemplarisch auch an diesen Geschehnissen erkennen.
Sie war es von Anfang an und sie war es bis zum letzten
Tag der Herrschaft der SED.
Gerade als einer der jüngeren Abgeordneten - Herr
Staatssekretär Hartenbach hat es bereits angesprochen Marco Wanderwitz
freue ich mich, heute so viele junge Menschen auf der
Tribüne zu sehen; denn ich denke, gerade die jüngeren
Menschen in unserem Land - damit meine ich nicht nur
die jetzigen jungen Menschen, sondern auch die zukünftigen Generationen - müssen wir davor bewahren - das
sollte unsere erste Pflicht als Demokraten sein -, an dieser Stelle einem geschichtlichen Zerrbild aufzusitzen.
({0})
Die Verbrechen, über die wir hier heute reden, die
exemplarisch für viele andere Verbrechen stehen, waren nicht eine unbeabsichtigte Nebenerscheinung der
ganzen sozialistisch-kommunistisch-stalinistischen Experimente, vielmehr waren sie integraler Bestandteil
solcher Unterdrückungssysteme.
Lange hat es gedauert, bis es uns gelungen ist, den
nächsten Angehörigen der Todesopfer des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 auch finanzielle Unterstützungsleistungen zukommen zu lassen. Zu lange! Das haben wir alle gemerkt. Die Schuld dafür will ich nicht
zuweisen. Wir Parlamentarier hier im Deutschen Bundestag wissen, dass es der Bundesrepublik Deutschland
gut zu Gesicht gestanden hätte, wenn wir diesen Schritt
hätten früher gehen können.
Wichtig ist nun aber, dass wir an dieser Stelle eine
weitere Lücke bei der SED-Unrechtsbereinigung schließen können. Wir wollen damit zum Ausdruck bringen,
dass das Beweisen von Mut und Zivilcourage in Zeiten
einer Diktatur für ein Volk insgesamt einen sehr hohen
Stellenwert hat.
Der Herr Kollege Staatssekretär hat zunächst den Versuch unternommen, dann aber doch noch die Kurve gekriegt und das Thema nicht für parteipolitische Äußerungen genutzt. Das freut mich sehr, ich muss allerdings an
dieser Stelle an die Kollegin Stokar von den Grünen die
Bemerkung richten: Wenn wir schon Regierungszeiten
aufrechnen, dann können wir erst 1990 beginnen. Von
daher hat der schöne Spruch von den 16 Jahren hier nicht
gepasst.
({1})
Unser Ziel war es, den hier betroffenen Personenkreis
mit dem der Hinterbliebenen der an der ehemaligen innerdeutschen Grenze ums Leben gekommenen Menschen gleichzustellen.
({2})
Der konkrete Impuls für das Gesetzgebungsverfahren
ging von einem Gesetzentwurf des Landes Sachsen-Anhalt im Bundesrat vom März 2005 aus. Die Fraktion der
CDU/CSU und die Regierungsfraktionen haben hier im
Hohen Haus schnell eigene Anträge vorgelegt. Unser
Entwurf baut dabei direkt auf dem Bundesratsentwurf
auf.
In einem sehr konstruktiven, zügigen parlamentarische Verfahren, für das ich als Berichterstatter der CDU/
CSU im Rechtsausschuss allen Berichterstatterkollegen
und auch den Vertretern der Länder und des Bundesministeriums der Justiz ausdrücklich danken möchte,
konnten wir uns darauf verständigen, den Gesetzentwurf
der Regierungsfraktionen mitzutragen und mit einem gemeinsamen interfraktionellen Entschließungsantrag zu
versehen. Ich freue mich über diesen Umstand und halte
es in dieser Sache auch künftig für unabdingbar, dass wir
bei solchen Themen den großen Konsens der Demokraten erreichen.
({3})
Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf müssen die
Anspruchsberechtigten - der Kollege Hacker hat es bereits ausgeführt - zunächst eine Behördenbescheinigung nach den Vorschriften des Verwaltungsrechtlichen
Rehabilitierungsgesetzes beantragen. Das klingt komplizierter, als es wirklich ist. Trotz alledem hätten wir es
gern gesehen, wenn wir diesen Zwischenschritt hätten
vermeiden können. Wir nehmen zur Kenntnis, dass wir
keinen anderen, ähnlich rechtssicheren, aber kürzeren
Weg haben finden können. Daher - auch das wurde
schon gesagt - appellieren wir von der CDU/CSU-Fraktion an die Bundesländer, die Arbeit der Rehabilitierungsbehörden der Länder im Rahmen des Möglichen zu
beschleunigen; denn viele der Anspruchsberechtigten
sind hochbetagt.
Meine Damen und Herren, ich möchte nochmals für
den Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion „Jährliche Debatte zum Stand der Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer der SED-Diktatur“ werben. Der
17. Juni ist dafür sicher der richtige Tag. Mir erschließt
sich auch nach den ablehnenden Einlassungen der Regierungsfraktionen im Rechtsausschuss nicht, wieso sie
ihn ablehnen. Handeln und Debatte schließen einander
nach meiner Sicht nicht aus. Insbesondere unter den zu
Beginn meiner Rede ausgeführten Aspekten möchte ich
diesen Themenkreis noch lange auf der Debattentagesordnung des Deutschen Bundestages sehen. Ich bitte Sie
nochmals um Zustimmung zu unserem Antrag.
({4})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Günter Baumann für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist schon ein ermutigendes Zeichen, dass sich
alle Fraktionen dieses Hauses auf einen gemeinsamen
Antrag zugunsten der Hinterbliebenen der Opfer des
17. Juni 1953 geeinigt haben. Denn die historische Verantwortung vor der deutschen Diktaturgeschichte und
die Würdigung des Kampfes für Freiheit und Demokratie sind gemeinsame Aufgabe aller demokratischen Parteien dieses Hauses.
({0})
Unsere gemeinsame Initiative wird aber nicht darüber
hinwegtäuschen, dass das wiedervereinigte Deutschland
gerade bei der Aufarbeitung des SED-Unrechts noch
gravierende politische und moralische Defizite hat. Gerade an Gedenktagen wie dem heutigen tritt dies in den
Mittelpunkt. Dabei müssen wir immer wieder eine unerträgliche Diskrepanz feststellen. Wir alle loben in vielen
Veranstaltungen die antikommunistischen Dissidenten,
die Oppositionellen, für ihren Mut und ihre Freiheitsliebe. Wir vergegenwärtigen uns das immense Leid, das
ihnen durch Verfolgung, Stasiterror, Knast und Folter zugefügt worden ist.
Wir lassen es gleichzeitig zu, dass viele der politisch
Verfolgten ihren Altersabend auf Sozialhilfeniveau verbringen müssen. Wir versagen den Opfern der kommunistischen Gewaltherrschaft rentenrechtlich weitgehend
die Würde, die ihnen dank ihres Einsatzes für Freiheit
und Demokratie zweifellos zustehen würde.
Der Grund hierfür ist, dass sich das Berufliche Rehabilitierungsgesetz nur begrenzt als ein Instrument dafür
eignet, die Verfolgungsschäden zu beseitigen. Herr
Staatssekretär, so allgemein, wie Sie dies hier dargestellt
haben, kann man das nicht stehen lassen.
Das Gesetz gewährt den Verfolgten zwar einen Nachteilsausgleich, indem Verdienste vor der Verfolgung
während der Verfolgungszeit fiktiv fortgeschrieben werden. Dadurch sollen Abstiegsschäden kompensiert werden. Die überwiegende Mehrheit der SED-Opfer hat
aber keine Abstiegsschäden, sondern Aufstiegsschäden
erlitten. Das heißt, die meisten haben sich dem Regime
in einem Alter verweigert, in dem sie noch in der Ausbildung standen. Das war während des Studiums bzw. der
Lehre oder aber im Berufsleben, das sie gerade erst begonnen hatten.
Ich denke hier an ein Beispiel aus dem Petitionsausschuss. Ein verfolgter Facharbeiter, Jahrgang 1940,
wurde am Meisterlehrgang nur deswegen gehindert, weil
er aufgrund seiner pazifistisch-christlichen Gesinnung
den Schießbefehl an der Mauer verweigerte. Neben der
Behinderung beim beruflichen Fortkommen führte die
Verfolgung zu schweren psychosomatischen, gesundheitlichen Schädigungen. Heute ist dieser Mann in Rente
und die politisch motivierten Gehaltseinbußen aus DDRZeiten wirken sich natürlich auf seine Rente aus. Er
muss heute Grundsicherung beantragen.
Im Jahr 2001 haben wir parteiübergreifend eine Vergleichsberechnung beschlossen, um in diesen Fällen zu
helfen. Ziel war es damals, die infolge des Bundesverfassungsgerichtsurteils von 1999 wachsende Kluft zwischen staatsnahen Bediensteten und Opfern ein Stück zu
mildern.
({1})
Ich muss heute feststellen, dass diese Regelung in der
Praxis versagt hat. Nach der neuen Regelung von 2001,
Herr Staatssekretär, erhalten 60 Prozent der Antragsteller einen Negativbescheid. 60 Prozent fallen durch. Von
denjenigen, die einen Positivbescheid bekommen, sind
50 Prozent Bescheide bis zu 25 Euro. Das heißt, die Betroffenen empfinden die Bescheide als eine Verhöhnung
ihrer Biografie.
Es wäre zweifellos eine würdevollere Lösung gewesen, wenn sich die rot-grüne Koalition auf eine pauschale Opferpension für diese Betroffenen verständigt
hätte, also unserem Antrag angeschlossen hätte. Die Opferverbände fordern dies seit langem. Wir alle bekommen in unseren Büros Schreiben der verschiedenen Verbände, in denen dies immer wieder angemahnt wird.
Gestatten Sie mir, exemplarisch aus der aktuellen
Ausgabe des „Stacheldraht“ zu zitieren, in der Frau
Weise vom Bund Stalinistisch Verfolgter Berlin-Brandenburg erneut auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur angeordneten Rentenerhöhung für staatsnahe
Bedienstete hinweist. Ich zitiere:
... wer aber nimmt Anstoß daran, dass keiner der
Gesetzentwürfe für eine Opferpension bisher eine
Mehrheit im Bundestag erhielt, die Forderungen
der Opferverbände ignoriert werden und die ehemals politisch Verfolgten seit nunmehr 15 Jahren
immer noch keinen der politischen Verfolgung angemessenen Nachteilsausgleich bei der Rentenberechnung ... erhalten?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wäre
politisch und moralisch an der Zeit, genau daran heute
Anstoß zu nehmen. Auch wenn diese Wahlperiode voraussichtlich in Kürze endet, so denke ich, dass wir in
der kommenden Sitzungswoche die Möglichkeit haben,
noch etwas zu tun. Im Petitionsausschuss liegen derzeit
260 entscheidungsreife Petitionen von Verfolgten des
SED-Regimes bzw. der SED-Diktatur vor, in denen eine
Verbesserung der Rehabilitierungsgesetze gefordert
wird, wobei zum großen Teil auf eine Opferpension gezielt wird.
Wir können diese Petitionen noch im Juli, also in der
nächsten Sitzungswoche, positiv bescheiden. Ich denke,
wenn wir heute einen Erfolg haben und gemeinsam einen Antrag auf den Weg bringen wollen, sollten wir dies
nicht aus den Augen verlieren. Die CDU/CSU-Fraktion
ist bereit, nächste Woche noch ein Zeichen zu setzen.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes auf Drucksache 15/5244. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5701, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer möchte gegen diesen Gesetzentwurf stimmen? Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist der Gesetzentwurf vom Deutschen Bundestag einstimmig angenommen.
({0})
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Rechtsausschuss auf Drucksache 15/5701, den
Entwurf eines Gesetzes der Fraktion der CDU/CSU zur
Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes
auf Drucksache 15/5319 für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Diese Be-
schlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
CDU/CSU-Fraktion mit dem Titel „Jährliche Debatte
zum Stand der Rehabilitierung und Entschädigung der
Opfer der SED-Diktatur“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit
angenommen.
Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/5701 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Alle, die sich an der Abstimmung beteiligt
haben, waren dafür. Also ist die Beschlussempfehlung
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Olaf Scholz, Hermann Bachmaier, Sabine
Bätzing, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD sowie den Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Volker Beck ({1}), Jutta
Dümpe-Krüger, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien
- Drucksache 15/4538 ({2})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend ({3})
- Drucksache 15/5717 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christel Humme
Hannelore Roedel
Markus Grübel
Ina Lenke
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 15/5723 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Otto Fricke
Bettina Hagedorn
Anna Lührmann
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Michael Fuchs, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef
Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Kein weiterer Arbeitsplatzabbau - Antidiskriminierungsgesetz zurückziehen
- Drucksachen 15/5019, 15/5718 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Reinhard Göhner
Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein Entschließungsantrag der FDP-Fraktion vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dies ist offensichtlich einvernehmlich. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Christel Humme für die SPD-Fraktion.
({6})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Heute ist ein guter Tag, denn wir verabschieden in der
zweiten und dritten Lesung das Antidiskriminierungsgesetz.
({0})
Es ist ein guter Tag, Frau Lenke: für die Ausländerinnen
und Ausländer, für die Lesben und Schwulen, für die Älteren, für die Menschen mit Behinderungen und natürlich für die große Gruppe der Frauen. Wir stellen uns an
die Seite dieser Menschen und schützen sie mit unserem
Gesetz vor Benachteiligung.
({1})
Während der Beratungen, die anderthalb Jahre gedauert haben, haben wir sehr viel Unterstützung bekommen:
von Organisationen, von Verbänden, von zahllosen Bürgerinnen und Bürgern. Dafür möchte ich mich an dieser
Stelle sehr herzlich bedanken. Auch der Deutsche Caritasverband - das sage ich ganz bewusst, zur rechten
Seite des Hauses gewandt - hat uns vor zwei Tagen aufgefordert, dieses Antidiskriminierungsgesetz rasch umzusetzen.
({2})
Aber Sie, meine Herren und Damen von der Opposition, lehnen dieses Gesetz kategorisch ab
({3})
und haben in den Beratungen - das finde ich noch viel
schlimmer - nicht einen konstruktiven Beitrag geleistet.
Ich denke, Sie handeln an dieser Stelle sehr verantwortungslos und das zeige ich Ihnen an einem konkreten
Beispiel auf: Ihrem Umgang mit der Frage der Gleichstellung von Männern und Frauen.
({4})
- Das ist doch Unsinn. - Wir wollen, dass Frauen gleiche Löhne für gleichwertige Arbeit erhalten. Wir wollen
gleiche Aufstiegschancen für Frauen und wir wollen sie
wirkungsvoll vor sexueller Belästigung schützen. Das
sind unsere Forderungen.
({5})
Sie lehnen das ab.
({6})
Sagen Sie doch Ihren Wählerinnen ganz ehrlich - Sie
strapazieren das Wort „Ehrlichkeit“ in der letzten Zeit ja
sehr häufig -, was Sie in der Frauenpolitik erreichen
wollen.
({7})
Wo setzen Sie sich denn für die Frauen ein? Schauen wir
uns das doch einmal da an, wo Sie in den Ländern zurzeit Regierungsverantwortung haben!
({8})
- Sie brauchen nicht zu schreien; wer schreit, hat sowieso Unrecht!
({9})
Erst vor kurzem hat sich die Frauenkonferenz der Länder
auf Antrag der Union aufgelöst. Herrn Rüttgers erste
Ankündigung, nachdem er die Wahl in NRW gewonnen
hatte, war, das „Beauftragtenunwesen“ abzubauen, das
heißt auf Deutsch, die Gleichstellungsstellen in Nordrhein-Westfalen abzuschaffen.
({10})
Das ist Ihre Vorstellung von Frauenpolitik, von Gleichstellungspolitik; insofern sind Sie natürlich irgendwo
konsequent. Aber was soll man von einer Partei auch erwarten, deren Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen noch nicht einmal 11 Prozent Frauenanteil hat?
Zurück zum ADG: Sie haben heute einen Antrag vorgelegt, in dem Sie nicht nur geschrieben haben, dass Sie
das ADG für überflüssig halten, mehr noch - das muss
ich an dieser Stelle aufgreifen -: Sie fordern die anderen
europäischen Länder auf, die Antidiskriminierungsgesetzgebung zu überprüfen.
({11})
Mit anderen Worten: Sie möchten, dass die Schweden,
die eine über 25-jährige Antidiskriminierungskultur haben, ihre Antidiskriminierungsgesetze abschaffen.
({12})
Das ist doch Arroganz höchsten Grades!
({13})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, wir gehen einen
anderen Weg
({14})
mit dem ADG, einen besseren Weg. Was Sie von Europa
halten, haben wir ja gestern in der Debatte gehört. Wir
schließen uns der europäischen Gemeinschaft mit unserem Antidiskriminierungsgesetz an. Ich denke, wir brauchen dieses Gesetz, weil viele Menschen davon profitieren
({15})
und viele dieses Gesetz erwarten.
({16})
Wenn Sie es mit der Gleichstellung aller Menschen ernst
meinen, dann stimmen Sie heute zu und sorgen Sie ganz
schnell dafür, dass im Bundesrat ebenfalls zugestimmt
wird! Denn wir brauchen das ADG.
({17})
Jetzt heißt es: Farbe bekennen. Ich möchte, dass unsere
Gesellschaft bunt bleibt.
Schönen Dank.
({18})
Ich erteile Kollegin Hannelore Roedel, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Diskriminierung eines Menschen aufgrund eines äußeren Merkmals oder einer Veranlagung
- sei er jung oder alt, behindert oder nicht behindert,
Deutscher oder Ausländer, Mann oder Frau - ist etwas
zutiefst Unwürdiges, was jeder, der Anstand hat, verurteilen muss.
({0})
Insbesondere für uns, die CDU/CSU, ist das aufgrund
unseres christlichen Menschenbildes eine Selbstverständlichkeit.
({1})
Daher ist es richtig, dass sich eine Gesellschaft Regeln gibt, die deutlich machen, dass Diskriminierung
nicht toleriert und daher geahndet wird. Die derzeit bestehende Rechtsordnung gewährt jedoch bereits Rechtsschutz und Schutz vor Diskriminierung. So gibt es in
sämtlichen Rechtsnormen beispielsweise über 90 Schutzvorschriften für Behinderte. Ihr vorliegender Gesetzentwurf ist gerade nicht geeignet, den Schutz vor Diskriminierung zu fördern. Stattdessen greifen Sie damit massiv
in das Eigentumsrecht der Bürger und in die Vertragsfreiheit ein.
({2})
Sämtlichen Betroffenen wird ein hoher bürokratischer
Aufwand auferlegt, was in Anbetracht von über 5 Millionen Arbeitslosen genau verkehrt und bei einer stagnierenden Wirtschaft nicht zu rechtfertigen ist.
Das ganze Prozedere um Ihr Gesetz folgt rot-grünen
Traditionen. Zunächst gab es Streit über die Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung. Die Bundesminister Clement, Eichel und Schily lehnen das Vorhaben
wegen Bürokratie ab und, Frau Humme, Ihr Ex-Ministerpräsident Steinbrück hatte im Wahlkampf in NRW angekündigt, das Gesetz im Bundesrat abzulehnen. Haben
Sie das schon vergessen?
({3})
Nachdem die umzusetzenden EU-Richtlinien schon
vor vielen Jahren erlassen wurden, hat der EuGH
Deutschland im April dieses Jahres wegen Fristverletzung und Nichtumsetzung der Antirassismusrichtlinie
verurteilt. Dass Sie, meine Damen und Herren von der
Regierungsbank, in den letzten fünf Jahren mehr als
300 Fälle von Vertragsverletzungsverfahren zu verantworten haben, sei nur am Rande erwähnt.
({4})
Leidtragende dieses unter diesen Umständen entstandenen Gesetzentwurfes sind nunmehr die Bürger in unserem Land;
({5})
denn anstatt den für den Aufschwung der Wirtschaft notwendigen Abbau der Bürokratie und die Deregulierung
des Arbeitsmarktes voranzutreiben und damit ein Signal
für mehr Beschäftigung zu setzen, schaffen Sie ein Bürokratiemonster und ein Arbeitsplatzvernichtungsgesetz.
({6})
Aus übertriebenem Misstrauen gegenüber der Eigenverantwortung der Bürger setzen Sie lieber blind auf staatliche Regulierungswut. Damit wollen Sie jeden Lebensbereich in den Griff bekommen.
({7})
Mit Ihrem Gesetzentwurf gehen Sie in jedem Bereich
- ob Arbeitsrecht oder Zivilrecht - weit über die europarechtlichen Regelungen hinaus.
({8})
So ist die vorgesehene Einführung eines Verbandsklagerechts beispielhaft - sie ist zwar gut gemeint, aber
nicht gut gemacht;
({9})
denn Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, eröffnen Betriebsräten, Gewerkschaften und Antidiskriminierungsverbänden den Missbrauch ihrer Rechte. Wollen
Sie wirklich eine Amerikanisierung des Rechts? Dort ist
eine regelrechte Klageindustrie entstanden, die die USVolkswirtschaft jährlich über 250 Milliarden Euro kostet.
({10})
Völlig inakzeptabel ist für uns die Betreibung eines
Verfahrens für einen Betroffenen ohne dessen Zustimmung. Dies ist ein erheblicher Eingriff in das Persönlichkeitsrecht.
({11})
Der europäische Gesetzgeber hat das Beteiligungsrecht
für Verbände sehr wohl an die ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen gekoppelt. Sie machen aber etwas
völlig anderes daraus.
({12})
Um für die zu erwartende Flut an Prozessen gerüstet zu
sein, wird für die Arbeitgeber künftig ein beispielloser
Dokumentationsaufwand erforderlich, der neben Zeitverlust zu Mehrkosten für Personal und Rechtsberatung
führen wird. Benachteiligt sind hier vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen, die diesen Aufwand
nicht so leicht wie große Unternehmen verkraften können.
({13})
Im Bereich des Zivilrechts greifen Sie massiv in die
Vertragsfreiheit ein. So ist als Rechtsfolge für eine Benachteiligung unter anderem ein von den Richtlinien
wiederum nicht geforderter Kontrahierungszwang vorgesehen. Einen Zwang zum Abschluss von Verträgen
kennt unser bewährtes Zivilrecht aus gutem Grunde bisher nicht. Die Vertragsfreiheit hat sich in unserem Wirtschaftssystem bewährt und ist für das Funktionieren unserer Marktwirtschaft und für die freie Entfaltung der
Persönlichkeit eine unabdingbare Voraussetzung.
({14})
Unbestimmte Rechtsbegriffe in Ihrem Gesetzentwurf,
wie zum Beispiel das Massengeschäft, werden den
Rechtsverkehr erschweren.
({15})
Nach wie vor - auch nach Ihren Änderungen - wird ein
privater Vermieter sehr unsicher sein, ob eine beabsichtigte Vermietung ein Massengeschäft darstellt oder nicht,
ob er also die Vorschriften beachten muss oder nicht.
({16})
Nach Ihrem Gesetzentwurf besteht zudem größte
Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Abgrenzung zwischen einer unzulässigen und einer zulässigen Benachteiligung. Um ein Beispiel zu nennen: Darf etwa ein
Fernseh- oder Radiosender in einer Stellenanzeige für einen Nachrichtensprecher künftig noch schreiben, dass
ein Muttersprachler gesucht wird oder wenigstens jemand, der akzentfrei deutsch spricht? Wo liegt hier die
Grenze?
({17})
Zum Schluss: Es ist sehr fraglich, ob die Errichtung
einer neuen Behörde und neue Vorschriften tatsächlich
der Königsweg sind, um Toleranz und Respekt gegenüber Minderheiten zu fördern. Vielmehr sehen wir die
Gefahr, dass eine überzogene Antidiskriminierungspolitik jeden, der von der Norm abweicht, ungefragt zu einem potenziellen Opfer, zu einem Menschen, der irgendwie geschützt werden muss, macht.
Nicht die Förderung potenziell Diskriminierter ist das
Ergebnis, sondern die ökonomische und gesellschaftliche Lähmung. Statt durch den Abbau von Überregulierungen Wachstumskräfte freizusetzen, legen Sie gerade
dem Mittelstand neue Fesseln an und verhindern die
Schaffung von Arbeitsplätzen.
({18})
Dies führt im internationalen Wettbewerb in Europa und
darüber hinaus zu weiteren Nachteilen für unser Land.
Deswegen sind wir nicht in der Lage, Ihrem Gesetzentwurf zuzustimmen. Wir versichern Ihnen, in der nächsten Wahlperiode die von uns gewünschte, sich streng an
den europarechtlichen Vorgaben orientierende Umsetzung entsprechend vorzulegen.
({19})
Das Wort hat nun die Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
verträgt sich nicht mit den Grundsätzen einer Demokratie, wenn Menschen ausgegrenzt werden, und es verträgt
sich auch nicht mit denen der sozialen Marktwirtschaft,
Herr Kollege Göhner, wenn Menschen willkürlich vom
Markt ausgeschlossen werden.
({0})
Fairer Wettbewerb braucht Spielregeln; denn Vertragsfreiheit gilt immer für zwei Seiten: für Arbeitgeber bzw.
Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmerinnen, sowohl für Anbieter als auch für Verbraucher
und Verbraucherinnen.
({1})
Vertragsfreiheit heißt: Menschen müssen am Markt teilnehmen können und dürfen nicht ausgegrenzt werden,
({2})
weil sie eine dunkle Haut haben, weil sie eine Frau sind
oder weil sie angeblich zu alt sind.
({3})
Alle haben das Recht auf eine faire Chance.
Diskriminierungsschutz bedeutet mehr Freiheit. Das
ADG ist ein Prüfstein für dieses Freiheitsverständnis.
Wir verstehen Freiheit umfassend. Sie dagegen, meine
werten Kollegen von der CDU/CSU und auch von der
FDP, haben einen ganz einseitigen Freiheitsbegriff. Für
Sie zählt nur die Freiheit derjenigen, die schon etwas besitzen.
({4})
Sie stehen für Ellenbogenfreiheit. Wir wollen Freiheit
und gesellschaftliche Verantwortung, Freiheit und Gerechtigkeit.
({5})
Nicht umsonst unterstützt zum Beispiel der Deutsche
Caritasverband unser Antidiskriminierungsgesetz. Darüber freuen wir uns.
Mit dem Antidiskriminierungsgesetz setzen wir vier
EU-Richtlinien mit Augenmaß um. Damit schließt
Deutschland endlich an europäische Bürgerrechtsstandards an. Frau Kollegin Roedel, Sie behaupten, das Gesetz gehe weit über EU-Vorgaben hinaus. Das ist einfach
falsch.
({6})
Alle arbeitsrechtlichen Maßnahmen liegen voll im Rahmen der europäischen Richtlinien und der europäischen
Rechtsprechung. Wer etwas anderes behauptet, will die
Menschen bewusst in die Irre führen.
({7})
- Jetzt geht es weiter, Herr Schauerte.
Nur an einem wesentlichen Punkt im Zivilrecht gehen
wir über die aktuellen EU-Vorgaben hinaus, nämlich bei
Massengeschäften. Bei diesen beziehen wir auch Benachteiligungen aufgrund der Religion oder Weltanschauung, des Alters, der sexuellen Identität oder einer
Behinderung mit ein; genauso wie im Versicherungswesen. Warum machen wir das? Weil wir eine stimmige
Lösung wollen, die keine neuen Ungerechtigkeiten
schafft. Die EU-Mindestvorgaben zum Zivilrecht gelten
für ethnische Herkunft und Geschlecht. Aber kein
Mensch kann vernünftig begründen, warum die Abweisung eines Menschen in einer Gaststätte wegen seiner
Hautfarbe zukünftig verboten ist, das Gesetz im gleichen
Fall für einen Menschen mit Behinderung aber nicht
greift. Erklären Sie mir doch einmal, wie Sie das machen
wollen!
({8})
Soll denn weiterhin gelten: Behinderte müssen leider
draußen bleiben? Das darf nicht sein.
({9})
Frau Roedel, Ihre Parole „eins zu eins“ bedeutet im
Klartext: Sie wollen Behinderten, Juden, Homosexuellen
oder älteren Menschen gleichen Diskriminierungsschutz
verweigern. Und das in Deutschland im 21. Jahrhundert!
Das ist für uns überhaupt nicht vorstellbar.
({10})
Wir haben dazu im Ausschuss eine gute Anhörung
durchgeführt. Danach haben wir eine Reihe von Vereinfachungen und Klarstellungen am Gesetzentwurf vorgenommen. Dabei sind wir vielen Anliegen der Wirtschaft
entgegengekommen. Das müsste auch dem Hauptgeschäftsführer der BDA aufgefallen sein. Dennoch verbreiten Sie hier weiterhin Schauermärchen. Schauen Sie
sich doch um: Viele Länder haben bereits Antidiskriminierungsgesetze, die noch viel weiter als das reichen,
was wir hier vorschlagen. Ich nenne nur Belgien, Frankreich, Schweden, Irland, die Niederlande und viele mehr.
Diese Länder sind wirtschaftlich sehr positiv zu bewerten. Also können diese Gesetze keinen Schaden anrichten. Sie haben sich bewährt. Sie sind keineswegs bürokratisch oder für Wirtschaft oder Arbeitsplätze
belastend.
Niemandem wird vorgeschrieben, wen er einstellen
soll. Niemandem werden Dokumentationspflichten auferlegt. Niemand muss sich vor ungerechtfertigten Klagen fürchten. Ihre Behauptung, das ADG verhindere Beschäftigung, ist wirklich abenteuerlich. Warum soll
ausgerechnet die deutsche Wirtschaft ein Recht auf
Diskriminierung brauchen, um Arbeitsplätze zu schaffen? Das ist doch aberwitzig.
({11})
Das Gegenteil ist der Fall: Diskriminierung ist
schlecht für die Wirtschaft und schlecht für das Ansehen
Deutschlands.
({12})
In einer globalisierten Welt ist die Anerkennung von
Vielfalt - man sagt „diversity“ dazu - ein wichtiges Element für den wirtschaftlichen Erfolg. Unternehmen werben geradezu damit, dass sie Antidiskriminierungsleitlinien in ihrer Geschäftspolitik heranziehen.
({13})
- Warum schreien Sie eigentlich so? Sie können doch
gleich reden.
({14})
Für die meisten Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen, Vermieter und Vermieterinnen oder Dienstleister und
Dienstleisterinnen wird sich durch das ADG rein gar
nichts ändern; denn sie praktizieren schon Antidiskriminierung. Wer aber willkürlich Menschen von vornherein
ausgrenzt und herabwürdigt, dem müssen auch Schranken gesetzt werden.
({15})
- Vielen Dank für Ihren Beifall. - Das machen wir mit
diesem Antidiskriminierungsgesetz.
({16})
Unser Gemeinwesen lebt von der Vielfalt. Wir wollen
eine Gesellschaft, in der es möglich ist, ohne Angst anders zu sein. Darum brauchen wir das Antidiskriminierungsgesetz.
({17})
Besinnen Sie sich eines Besseren! Stimmen Sie diesem
Gesetz hier und im Bundesrat zu! Wir haben dieses Gesetz nötig. Es ist an der Zeit, es umzusetzen.
({18})
Nächster Redner ist der Kollege Heinrich Kolb, FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will zu Beginn meiner Rede wie schon in der ersten Lesung klarstellen: Die FDP-Bundestagsfraktion wendet
sich mit aller Entschiedenheit gegen Diskriminierung
und Intoleranz.
({0})
Wir treten dafür ein, bestehende Diskriminierung zu beseitigen und die Rechte von Minderheiten zu stärken.
({1})
Wir wollen die gleichen Rechte und auch die gleichen
Chancen für alle Menschen, unabhängig von ihrer Rasse,
ihrer ethnischen Herkunft, ihrem Geschlecht, ihrer Religion oder Weltanschauung, ihrer Behinderung, ihres Alters oder ihrer sexuellen Identität; damit das klar ist.
({2})
Wir glauben aber nicht, Frau Kollegin Humme, dass
der vorliegende Gesetzentwurf geeignet ist, diese Ziele
zu erreichen. Es scheinen fünf Monate nach der ersten
Lesung vor allen Dingen taktische Überlegungen im
Hinblick auf die vorgezogene Bundestagswahl die Koalition dazu bewegt zu haben, diesen Gesetzentwurf auf
die Tagesordnung des Plenums zu setzen. Dass Sie damit
doch nicht richtig glücklich sind, zeigt die Tatsache, dass
Sie diesen Punkt Freitagnachmittag in nur 30 Minuten
abhandeln wollen,
({3})
obwohl Ihnen, wenn man Ihnen Glauben schenken darf,
dieses Thema so sehr am Herzen liegt.
({4})
Klar ist, dass der Gesetzentwurf, auch wenn er heute mit
der Mehrheit der Regierungskoalition beschlossen werden sollte, nicht Gesetz werden wird. Dafür wird nämlich der Bundesrat sorgen. Man ist versucht zu sagen:
Das ist auch gut so.
Der ursprüngliche Gesetzentwurf vom Dezember
letzten Jahres ist trotz der nach der Anhörung eingearbeiteten rund 40 Änderungen nicht wirklich reifer geworden. Nach wie vor stellen die Vorschriften zum Zivil- und Arbeitsrecht einen schweren, nicht zu
rechtfertigenden Eingriff in den Grundsatz der Vertragsfreiheit dar. Nach wie vor gehen die Regelungen
des Gesetzes weit über eine Eins-zu-eins-Umsetzung,
die die FDP-Bundestagsfraktion im Übrigen für richtig
hält, hinaus.
({5})
Auch dort, wo die Änderungen als sinnvoll zu bezeichnen sind, kann man dies nur vor dem Hintergrund sehen,
dass die Ursprungsregelung schlicht überzogen oder gar
absurd gewesen ist, wie das etwa bei der Haftung des
Arbeitgebers für das Verschulden Dritter, also § 16 des
Entwurfs, der Fall gewesen ist.
({6})
Teilweise wird die abzulehnende Ursprungsfassung sogar noch verschlimmbessert, wenn ich etwa an die Einrichtung einer Antidiskriminierungsstelle des Bundes
und anderes denke, was Sie hier vorgesehen haben.
Auch in der neuen Fassung bleiben wesentliche Kritikpunkte, die ich schon in der ersten Lesung benannt
habe, unverändert. Das gilt für die nach § 24 des Entwurfs vorgesehene Ermöglichung der Abtretung der Forderung Benachteiligter auf Schadenersatz oder Entschädigung in Geld an Antidiskriminierungsverbände ebenso
wie für die Umkehr der Beweislast bei vermuteter Benachteiligung.
({7})
Nach alledem ist der Gesetzentwurf in der vorliegenden Fassung abzulehnen. Ich gehe davon aus, dass nach
einer möglichen vorgezogenen Bundestagswahl die neue
Bundesregierung und eine neue Regierungskoalition
sich unverzüglich an die Arbeit machen werden, einen
Gesetzentwurf vorzulegen,
({8})
mit dem die überfällige Umsetzung der Richtlinien dann
eins zu eins erfolgen wird.
Vielen Dank.
({9})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegen Renate
Gradistanac das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir von der SPD sind stolz auf unser Antidiskriminierungsgesetz, das wir heute in zweiter und dritter
Lesung beraten und verabschieden werden.
({0})
Wir wollen Diskriminierungen wirksam entgegentreten,
Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung,
der sexuellen Identität, aufgrund des Alters oder einer
Behinderung. Wir setzen vier EU-Richtlinien sachgerecht und mit Augenmaß in deutsches Recht um, im Arbeitsrecht, im Zivilrecht und mit der Einrichtung einer
nationalen Antidiskriminierungsstelle. Im Zivilrecht und
bei der nationalen Antidiskriminierungsstelle gehen wir
über die EU-Vorgaben bewusst, nachvollziehbar und begründet hinaus.
({1})
- Natürlich. Behinderte und alte Menschen sind bei uns
aus gutem Grund mit dabei.
({2})
Wir haben seit 1998 erfolgreich Politik für Menschen
mit Behinderungen durchgesetzt, zum Teil haben Sie das
unterstützt. Karl Hermann Haack steht für unsere Politik.
Teilhabe und Selbstbestimmung statt Fürsorge stehen für
uns im Mittelpunkt. Mit dem Gleichstellungsgesetz für
Menschen mit Behinderungen haben wir die rechtlichen
Voraussetzungen dafür geschaffen. Dieses Gesetz erfüllt
im Arbeitsrecht bereits die Vorgaben der EU-Richtlinien.
Eine Klageflut konnten wir hier bisher genauso wenig
feststellen wie beim Merkmal Geschlecht.
({3})
Nun wollen wir Menschen mit Behinderungen zivilrechtlich schützen. Das haben wir versprochen und
ich kann mich noch gut erinnern, dass auch Sie das gemacht haben, meine Damen und Herren von der CDU/
CSU.
({4})
Einerseits bringen Sie einen Antrag mit dem Titel „Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am öffentlichen
Leben konsequent sichern“ in den Bundestag ein, andererseits wollen Sie diese Menschen vom Schutz des Antidiskriminierungsgesetzes ausschließen. Also ehrlich
- Sie sind doch jetzt für die neue Ehrlichkeit -,
({5})
was gilt denn nun? Sie wollen Menschen mit Behinderungen und im Übrigen auch alte Menschen - der Eindruck hat sich bei mir in vielen Diskussion verfestigt im Zivilrecht weiterhin ausgrenzen und diskriminieren.
({6})
Populistisch ist Ihr Spruch: Vorfahrt für Arbeit. ({7})
Warum sollte zivilrechtlicher Schutz Arbeitsplätze verhindern? Das können Sie im Anschluss erklären.
({8})
Ich nenne zwei Beispiele dafür, warum ich Verbesse-
rungen für dringend notwendig halte. Erstens. „Blinden,
Seh- und Gehbehinderten ist das Spenden von Blut nicht
gestattet“. Mit diesem Satz aus der Dienstanweisung ei-
ner privaten Blutbank wurde einer blinden Studentin das
Blutspenden verweigert.
Zweitens. Eine Fluggesellschaft verlangte vom Haus-
arzt einer behinderten Frau folgende Auskunft:
Ist aufgrund der Verfassung des Patienten damit zu
rechnen, dass sich andere Passagiere gestört fühlen
könnten, durch A) Geruch - B) Aussehen - C) Verhalten?
Wir wollen mit unserem Gesetz die Antidiskriminierungskultur in Deutschland stärken.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Reinhard Göhner,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zurück zu den Fakten dieses Gesetzes. Sie bemühen wieder
die These, damit werde bis auf eine Kleinigkeit im Zivilrecht das EU-Recht umgesetzt. Davon kann aber keine
Rede sein. Was Sie als Gesetzentwurf vorlegen, ist keine
Eins-zu-eins-Umsetzung; Sie schaffen vielmehr neues
Recht, das weit über das EU-Recht hinausgeht.
({0})
- Wenn Sie sagen: „Gott sei Dank“, dann bekennen Sie
sich doch dazu!
Ich will einige Beispiele nennen.
Erstens. In keiner Richtlinie - das gestehen Sie selbst
ein - wird auch nur mit einem Wort erwähnt, dass im
deutschen Zivilrecht irgendeine Rechtsvorschrift zu den
Merkmalen Religion, Weltanschauung, Behinderung,
Alter oder sexuelle Identität zu schaffen wäre.
({1})
Davon steht kein Wort in irgendeiner Richtlinie. Das
heißt, dass Sie allein im Zivilrecht den Anwendungsbereich verdoppeln wollen.
({2})
Zweitens. Sie schaffen unter bestimmten Voraussetzungen einen Kontrahierungszwang, also die Verpflichtung zum Abschluss eines Vertrages, der dann auch per
Klage durchgesetzt werden kann. Davon steht kein Wort
in irgendeiner Richtlinie.
Drittens. Sie schaffen eine völlig neue Behörde - die
Antidiskriminierungsstelle des Bundes -,
({3})
die nach dem EU-Recht nur für die Merkmale Rasse,
ethnische Herkunft und Geschlecht gefordert ist. Sie
schaffen diese Behörde zusätzlich für Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Identität.
({4})
Sie vervielfältigen damit den Zuständigkeitsbereich dieser Behörde und schaffen mit dieser Behörde neue bürokratische Verfahren und ein besonderes Streitbeilegungsverfahren. Das alles, was Sie hinsichtlich der neuen
Großbehörde vorhaben, wird in den Richtlinien mit keinem Wort erwähnt.
({5})
Viertens. Sie führen mit dem Gesetzentwurf neue
Klage- und Abtretungsrechte für Antidiskriminierungsvereine ein. Das ist im EU-Recht mit keinem Wort erwähnt. Die Bundesrechtsanwaltskammer stellt zu Recht
fest, dass damit das Eigeninteresse dieser Organisationen
an Forderungserwerb bzw. -handel und Inkassotätigkeit
geweckt werden soll. Darum geht es Ihnen, nicht um das
EU-Recht.
({6})
Fünftens. Sie schaffen neue Schadenersatz- und Entschädigungsansprüche im Arbeitsrecht. Das EU-Recht
fordert nichts über das geltende deutsche Recht bzw.
über § 611 a des Bürgerlichen Gesetzbuches hinaus. Ihr
Gesetzentwurf dagegen erweitert den Anwendungsbereich nicht nur im Zivilrecht, Frau Kollegin, sondern
auch im Arbeitsrecht auf Weltanschauung, Religion,
Rasse, ethnische Herkunft, sexuelle Identität, Alter und
Behinderung.
Sechstens. Das Gesetz sieht einen Entschädigungsanspruch gegen den Arbeitgeber bis zu einer Höhe von drei
Monatsgehältern vor, wenn jemand zum Beispiel wegen
seiner Weltanschauung oder ethnischen Herkunft nicht
eingestellt worden ist, wobei dieser Entschädigungsanspruch kurioserweise selbst dann besteht, wenn der Betroffene auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht
hätte eingestellt werden können, zum Beispiel weil ihm
die nötige Eignung oder Qualifikation fehlt. Die von Ihnen vorgesehene Ausweitung geht über die dem EURecht entsprechende Regelung des § 611 a BGB hinaus.
Siebtens. Sie verlangen trotz der Korrektur im Schadenersatzrecht nach wie vor vom Arbeitgeber Maßnahmen gegen Benachteiligung Dritter, zum Beispiel durch
Kunden, Besucher oder Mitarbeiter anderer Firmen. Das
ist eine völlig praxisferne Vorgabe, die in keiner EURichtlinie mit einem einzigen Wort erwähnt wird.
({7})
Achtens. Sie führen neue Klagerechte für Betriebsräte
und Gewerkschaften sowie ein neues Leistungsverweigerungsrecht der Arbeitnehmer ein. Das wird im EURecht mit keinem einzigen Wort erwähnt. Ich könnte
diese Liste noch weiter fortsetzen.
({8})
Dieses Gesetz hat mit dem EU-Recht nur noch zu einem kleinen Teil zu tun. Das ist nicht eins zu eins EURecht, sondern fünf zu eins rot-grüne Ideologie.
({9})
Wenn Sie uns nicht glauben, dann schauen Sie sich
einmal die Meinungen anderer an. Der Deutsche Richterbund, der Deutsche Anwaltverein, die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Städte- und Gemeindebund, die Chemiegewerkschaft, die IG BCE, sagen, das
gehe weit über das EU-Recht hinaus. Herr Schmoldt hat
gemeinsam mit dem BAVC kritisiert, dass sich dieses
Gesetz eben nicht an die EU-Vorgaben hält, und hat deshalb Korrekturen verlangt.
In einer Stellungnahme des Deutschen Richterbundes,
dessen Präsident ebenso wie Herr Schmoldt Mitglied der
SPD ist, wurde die Sache auf den Punkt gebracht. Dort
heißt es, dieses Gesetz verletze den Grundsatz der Vertragsfreiheit und enthalte damit - ich zitiere wörtlich die Abkehr von einem grundlegenden Rechtsprinzip, das für unser Rechtssystem seit dessen Begründung maßgebend ist und dessen Geltung bisher
überwiegend zu ausgeglichenen und sinnvollen Lösungen der anstehenden Lebenssituationen und der
damit verbundenen Rechtsfragen geführt hat.
So weit der Deutsche Richterbund.
({10})
Das ist deshalb auf den Punkt gebracht, weil Sie mit
Ihren vielfältigen Maßnahmen, mit denen Sie über das
EU-Recht hinausgehen, die Abkehr von unseren grundlegenden Rechtsprinzipien, nämlich der Vertragsfreiheit,
betreiben, indem Sie hier aus ideologischen Gründen
eine Systemveränderung unseres Rechts vornehmen.
Das Fatale an diesen Regelungen ist nach meiner Einschätzung nicht, dass das Gesetz sofort eine Prozessflut
verursachen wird, sondern dass es die Missbrauchsanfälligkeit des Rechts fördert. Sie schaffen ein höchst bürokratisches Gesetz, welches in dieser Form vom EURecht nicht verlangt wird
({11})
und mit dem Sie einen Beitrag dazu leisten werden,
Missbrauchsmöglichkeiten zu eröffnen. Damit werden
Sie das Gegenteil von dem erreichen, was Sie wollen.
Die Zielsetzung Antidiskriminierung teilen wir alle
im Haus.
({12})
Dass das EU-Recht eins zu eins umgesetzt wird, ist notwendig. Genau das werden wir tun.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie
wissen, die PDS im Bundestag hat vieles kritisiert, was
Rot-Grün in der ablaufenden Legislatur beschlossen hat.
Ich sage aber auch: Es war nicht alles schlecht. Das Antidiskriminierungsgesetz gehört zu den besseren Vorhaben. Es war seit langem überfällig.
({0})
Obendrein drängt die EU darauf, dass europäisches
Recht endlich auch in Deutschland umgesetzt wird. Das
erwarten auch zahlreiche Verbände und Initiativen. Die
PDS im Bundestag wird dem Antidiskriminierungsgesetz jedenfalls zustimmen.
({1})
Zugleich ist klar: Der CDU/CSU geht das Gesetz viel
zu weit. Sie will „Antidiskriminierung light“. Sie droht,
das Gesetz zu Fall zu bringen. Da die CDU/CSU es damit offenbar ernst meint, sollte sie auch konsequent sein,
konsequent, indem sie aufhört, über große und hehre
Werte zu sprechen, ganz so als hätte Frau Merkel die
Bergpredigt geschöpft. Ginge es nämlich nach dem Willen der CDU/CSU, dann fielen aus dem Antidiskriminierungsgesetz genau jene Passagen heraus, die Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen sowie Jüdinnen
und Juden vor Diskriminierungen schützen sollen. Ich
hoffe sehr, Sie wissen wirklich nicht, was Sie tun.
Die PDS im Bundestag war in diesem Bundestag vielfach mit der FDP-Fraktion eins,
({2})
wenn es um Bürgerrechte, um Datenschutz und um mehr
Demokratie ging. Wir waren da leider nicht allzu erfolgreich, weil von der CSU bis hin zu den Grünen allzu
viele dagegen waren, die Bürgerrechte zu stärken und zu
schützen.
({3})
Damit aber niemand auf die Idee kommt, FDP und
PDS seien ein Zukunftsprojekt,
({4})
sage ich ganz klar: Die Differenzen überwiegen. Das
zeigt sich auch beim Antidiskriminierungsgesetz. Die
FDP will es klein und fein haben, weil es angeblich die
Kreise der Wirtschaft stört. Die PDS will es umfassend
haben, weil es nur dann Menschen schützen kann.
Nun komme ich noch zum dümmlichsten Argument,
das gegen das Antidiskriminierungsgesetz vorgebracht
wird, nämlich das deutsche Gesetz schieße über die EUForderung hinaus. Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen: Ja und?
Unentwegt wird hier gepredigt, Deutschland dürfe
kein Mittelmaß sein; Deutschland müsse Spitze sein.
Doch ausgerechnet wenn es um Art. 1 des Grundgesetzes geht - „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ -,
dann ist plötzlich EU-Mittelmaß für Deutschland gut genug. Ich finde, das ist verquer.
Deshalb will die PDS ein gutes, ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz, und zwar nicht aus Regelwut,
wie heute in diesem Haus behauptet wurde, sondern weil
vielfältige Diskriminierungen noch immer zum Alltag
vieler gehören und weil die Betroffenen davon ein Lied
singen können, das ich gar nicht mag.
Danke schön.
({5})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
gebe ich das Wort dem Kollegen Olaf Scholz von der
SPD-Fraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! Die Avancen der PDS gegenüber der FDP sind völlig überflüssig.
({0})
Sie hat schließlich schon beizeiten ihren Bedarf an
Blockflöten gedeckt. Hier ist alles gut gegangen.
({1})
Die heutige Diskussion lebt ein bisschen davon, dass
diejenigen, die den Gesetzentwurf kritisieren, das meistens völlig fern von ihm tun. Das war schon so, als die
erste Debatte über den Gesetzentwurf in diesem Parlament stattfand. Das ist noch viel mehr so, nachdem wir
über 40 Änderungen vorgenommen haben und alle berechtigten Einwände, ernst zu nehmenden Vorschläge
und Kritikpunkte aufgegriffen haben. Dies ist ein gutes,
ausgewogenes Gesetz. Man kann denjenigen, die uns zuhören, nur sagen: Kaum eine Kritik, die öffentlich geäußert wird, hat etwas mit dem Gesetzestext selber zu tun.
Es handelt sich um ideologisch gefärbte Meinungen und
Interessen, nicht aber um Kritik an dem, was in Zukunft
in Deutschland Gesetz werden soll.
({2})
Ein Beispiel dafür ist das ständig bemühte Argument,
uns drohe eine Prozessflut. Nachdem wir herausgefunden haben, dass ähnliche Bestimmungen schon seit vielen Jahren Bestandteil der deutschen Gesetzgebung sind
und keine Prozessflut ausgelöst haben, weiß jeder und
jede: Es wird vielleicht zehn, 20 oder 30 Verfahren geben, aber keine Prozessflut. Deshalb kommt das Argument nicht mehr vor. Immerhin ein Stück Ehrlichkeit in
dieser Debatte! Herr Göhner hat sogar gesagt, vielleicht
gebe es keine Prozessflut. So viel Fortschritt zwischen
erster und zweiter bzw. dritter Lesung ist nicht immer zu
erwarten.
({3})
In der jetzigen Zeit denkt man sicherlich über das
Verhalten der verschiedenen Seiten in Bezug auf die anstehende Bundestagswahl und das Gesetz nach. Da die
Umfragewerte für die SPD verbesserungsbedürftig
sind, habe ich mit Interesse beobachtet, wie Sie mit dem
Gesetzentwurf umgehen. Dabei ist mir etwas aufgefallen. Sie haben in dieser Debatte die ganze Zeit den Eindruck erweckt, als ob dieses Gesetz nicht weitgehend
- zu zwei Drittel bzw. drei Viertel - durch europäische
Vorgaben vorgeschrieben wäre. Diese tönerne Unwahrheit können Sie nur aufrechterhalten, wenn Sie sicher
sind, dass Sie nach der nächsten Bundestagswahl nicht
in der Regierung sind. Sie müssten zustimmen, wenn Sie
befürchteten, zu regieren. Das tun Sie offenbar nicht.
Das ist schon einmal ein schönes Ergebnis dieser Debatte.
({4})
Ich möchte noch eine Schlussbemerkung zu der
Quintessenz Ihrer Kritik, die man in ein, zwei Sätzen zusammenfassen kann, machen. Sie sagen ständig, auch
Sie seien gegen Diskriminierung. Es gibt den alten Satz
„Hic Rhodus, hic salta.“ Hier müssen Sie zustimmen und
dürfen nicht nur schöne Sätze sagen.
({5})
Die Menschen mit Behinderung - das sind fast
8 Millionen - und die älteren Menschen in diesem Lande
müssen wissen, dass sich hinter Ihrer Phrase, wir gingen
über die EU-Bestimmungen hinaus, nur eines verbirgt:
CDU/CSU und FDP wollen Menschen mit Behinderung
und ältere Menschen nicht vor Benachteiligungen schützen. Das ist die Wahrheit.
({6})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Jürgen Koppelin das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Scholz hat sich mit Blick auf die FDP-Fraktion und
im Zusammenhang mit der PDS eine nach meiner Auffassung bösartige Bemerkung erlaubt. Er sprach mit
Blick auf die FDP von Blockflöten.
({0})
Jeder, der politisch interessiert und informiert ist, weiß,
was er damit gemeint hat.
Ich finde es übrigens sehr interessant, dass der Kollege Scholz eine solche Bemerkung gegenüber der FDP
bei der Beratung eines Gesetzes macht, das „Antidiskriminierungsgesetz“ heißt.
({1})
Herr Kollege Scholz, ich weise das für die FDP zurück. Da Ihr ehemaliger Parteivorsitzender Oskar
Lafontaine gerade Bündnisse mit der PDS schmiedet,
sollten Sie sich sehr zurückhalten.
({2})
Zur Erwiderung der Kollege Scholz.
({0})
Ich will zur Erwiderung nur ganz kurz sagen: Das
ehemalige Parteimitglied Oskar Lafontaine kann von mir
nicht mehr gerechtfertigt werden.
({0})
Wir wollen das auch gar nicht. Er hat, wie wir finden,
eine richtige Entscheidung getroffen. Er hat sich aus
dem Kernbereich sozialdemokratischen Denkens entfernt. Wer das getan hat, sollte sich politisch und parteipolitisch neu orientieren. Das ist in der Tat eine richtige
Entwicklung.
({1})
Im Übrigen glaube ich, dass Sie, meine Damen und
Herren, schon in der Lage sein müssen, mit Kritik umzugehen. Sie haben sich hier zur Sache in einer ganz bestimmten Weise verhalten, die mir wenig gefallen hat.
Schutz vor Diskriminierung ist etwas, für das man sich
einsetzen muss. Schutz vor Diskriminierung heißt aber
nicht, dass man sich keiner Kritik aussetzen muss. Das
sollten Sie sich gut merken.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien auf Drucksache 15/4538. Der Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5717, den Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen.
({0})
Damit kommen wir zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis angenommen.
({1})
Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 15/5755 ab. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 20 b: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
Arbeit auf Drucksache 15/5718 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Kein weiterer Arbeitsplatzabbau - Antidiskriminierungsgesetz zurückziehen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/5019 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 sowie Zusatzpunkte 8 und 9 auf:
21 Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Sicherung der Arzneimittelversorgung bei Kindern und Jugendlichen
- Drucksache 15/5318 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung
({3})
- Drucksache 15/5700 Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Selg
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Dieter
Thomae, Detlef Parr, Dr. Heinrich L. Kolb,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Altersgrenze für Vertragsärzte beseitigen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Dieter
Thomae, Detlef Parr, Dr. Heinrich L. Kolb,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Freie Wahl der Kostenerstattung in der gesetzlichen Krankenversicherung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Dieter
Thomae, Daniel Bahr ({5}), Rainer
Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Nicht verschreibungspflichtige Arzneimit-
tel wieder als Leistung der gesetzlichen
Krankenversicherung verankern
- Drucksachen 15/940, 15/3511, 15/3995,
15/5516 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Hans Georg Faust
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Arzneimittelversorgung bei schwerwiegenden
chronischen Erkrankungen gewährleisten
- Drucksache 15/5688 -
Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu
Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die
Beiträge der Kollegen Gudrun Schaich-Walch und Klaus
Kirschner, SPD, Michael Henrich und Dr. Wolf Bauer,
CDU/CSU, Petra Selg, Bündnis 90/Die Grünen,
Dr. Heinrich Kolb, FDP, und Dr. Gesine Lötzsch, frak-
tionslos.1)
Tagesordnungspunkt 21: Wir kommen zur Abstim-
mung über den von der Fraktion der CDU/CSU einge-
brachten Gesetzentwurf zur Sicherung der Arzneimittel-
versorgung bei Kindern und Jugendlichen auf
Drucksache 15/5318. Der Ausschuss für Gesundheit und
Soziale Sicherung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 15/5700, den Gesetzentwurf abzu-
lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zwei-
ter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion und Enthaltung
der FDP-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Zusatzpunkt 8: Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Si-
cherung auf Drucksache 15/5516 zu dem Antrag der
Fraktion der FDP mit dem Titel „Altersgrenze für Ver-
tragsärzte beseitigen“.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 15/940
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der Fraktion der CDU/CSU gegen
die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 15/3511 mit dem Titel „Freie
Wahl der Kostenerstattung in der gesetzlichen Kranken-
versicherung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion bei
Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5516 die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck-
sache 15/3995 mit dem Titel „Nicht verschreibungs-
pflichtige Arzneimittel wieder als Leistung der gesetzli-
chen Krankenversicherung verankern“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
1) Anlage 6
Stimmen der Koalitionsfraktionen und den Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Zusatzpunkt 9: Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/5688 mit
dem Titel „Arzneimittelversorgung bei schwerwiegenden chronischen Erkrankungen gewährleisten“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSUFraktion und FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes
und anderer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/5315 ({6})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({7})
- Drucksache 15/5706 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Gero Storjohann
Auch bei diesem Tagesordnungspunkt sollen die Re-
den zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um
die Beiträge von Heide Wright und der Parlamentari-
schen Staatssekretärin Iris Gleicke von der SPD, Gero
Storjohann von der CDU/CSU, Peter Hettlich von Bünd-
nis 90/Die Grünen und Horst Friedrich von der FDP-
Fraktion.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Straßen-
verkehrsgesetzes und anderer straßenverkehrsrechtlicher
Vorschriften auf Drucksache 15/5315. Der Ausschuss für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5706, den Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion bei
Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
2) Anlage 7
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ressortforschung des Bundes umfassend evaluieren, neu ausrichten und fachliche Kompetenz nutzen
- Drucksache 15/5267 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({9})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina
Reiche, Dr. Maria Böhmer, Thomas Rachel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Forschungs- und Innovationsförderung für
die Arbeitsplätze der Zukunft
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach,
Daniel Bahr ({10}), Rainer Brüderle, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Deutschland muss aufholen - 2006 bis 2016 -
Dekade der Innovationen
- Drucksachen 15/5016, 15/5360, 15/5682 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Wicklein
Katherina Reiche
Hans-Josef Fell
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({11})
zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Kretschmer, Katherina Reiche, Dr. Maria
Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Forschung an Hochschulen durch Vollkostenfinanzierung verbessern
- Drucksachen 15/4721, 15/5374 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Berg
Hans-Josef Fell
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Ulrike Flach von der FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte ist in dieser Wahlperiode wahrscheinlich die letzte Debatte über Forschung und Innovation, die wir führen. Deswegen ist es sicherlich
angebracht, an dieser Stelle zumindest einige Worte zur
Bilanz der Bundesregierung zu verlieren.
Sie wissen aus den Erfahrungen der letzten Jahre,
dass ich nicht zu denen gehöre, die grundsätzlich alles
schlechtreden.
({0})
Insofern fange ich mit einem Thema an, mit dem ich
ganz zufrieden bin, lieber Herr Tauss, nämlich mit der
Ressortforschung. Wir kämpfen als Liberale seit nunmehr 15 Jahren für eine Reform und eine Evaluierung
der Ressortforschungseinrichtungen. Insofern ist es gut,
dass es inzwischen Bewegung auf Ihrer Seite gegeben
hat. Wir haben gestern im Ausschuss darüber gesprochen. Wir sind recht zufrieden damit, dass sich zumindest 13 von 53 Ressortforschungseinrichtungen im Evaluierungsprozess befinden.
Es wird eine aufgabenkritische Begutachtung geben.
Das bedeutet für uns, dass das Ergebnis der Evaluierung
auch sein kann, dass die jeweilige Einrichtung als staatliche Forschungseinrichtung aufzulösen ist und die Aufgaben, wenn sie denn dann noch notwendig sind, an
Hochschulen oder andere Forschungseinrichtungen zu
vergeben sind. Kurzum, liebe Kollegen: Beim Thema
Ressortforschung sind wir einigermaßen zufrieden. Es
ist zumindest ein erster Schritt in die richtige Richtung.
({1})
Damit wären wir beim zweiten Thema. Diese Zufriedenheit kann leider nicht für Ihr komplettes Handeln
zum Ausdruck gebracht werden. In den letzten sieben
Jahren ist Ihnen eben nicht sehr viel gelungen.
({2})
Wichtige Reformen wurden nicht angepackt oder umgesetzt. Das ist zum Teil Ihre Schuld, zum Teil haben Ihre
Kabinettskollegen Sie auflaufen lassen und zum Teil
sind Sie an der Länderblockade gescheitert.
({3})
Sie kommen an den Fakten nicht vorbei. Unser Wissenschaftssystem ist nach wie vor unterfinanziert. Wir
haben bis zum heutigen Tag keine Antwort von Ihnen
auf die Frage bekommen, wie Herr Eichel den Etat für
die nächsten Monate plant. Nach wie vor steht im Raum,
dass Sie bis zu 1 Milliarde Euro einsparen müssen. Vielleicht erfahren wir heute einmal etwas Neues dazu. Wir
sind bei wichtigen Kennzahlen und Technologierankings zurückgefallen und wir haben in der Forschung restriktivere Gesetze als andere Nationen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Wissenschaftlern und den forschenden Unternehmen ist es ziemlich
gleichgültig, wer nun an welcher Stelle schuld ist: die
Ministerin, die Länder oder die Weltkonjunktur. Fazit
ist: Wir sind nach wie vor nicht die Spitze, wie es die
Ministerin immer gerne für uns in Anspruch nimmt. Andere Länder holen in der Forschung auf.
({4})
Was angepackt wird, braucht lange. Es stockt und
läuft in der Umsetzung zäh. Damit sind wir bei dem, was
Sie gestern Abend zusammen mit Herrn Goppel vorgestellt haben: der Exzellenzinitiative und dem Pakt für
Forschung. Ich kann Ihnen an dieser Stelle ganz offen
sagen: Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, dass wir
nach anderthalb Jahren hier endlich zu Potte gekommen
sind.
({5})
Das Ergebnis ist zwar für den Wissenschaftsstandort gut;
aber es ist ein Armutszeugnis für die Innovationsfreude
unseres föderalen Staates. So etwas kann Ihnen bei jedem neuen Reformschritt wieder passieren.
({6})
Der Umstand, dass die beiden großen Fraktionen dieses
Hauses die Föderalismusreform gegen die Wand gefahren haben, ist eine der großen politischen Niederlagen dieser Legislaturperiode.
({7})
Innovation und Forschung sind die Topprioritäten für
die nächsten Jahre, und zwar im Bund wie in den Ländern. Wir können uns diesen aufreibenden Streit zwischen Bund und Ländern nicht länger leisten. Wie Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz genau wissen, gibt
es das in keinem anderen Land der Welt. Das föderale
Gehacke ist im Prinzip zum Haupthindernis für den Innovationsstandort Deutschland geworden.
({8})
Die nächste Legislaturperiode muss hierzu Lösungen
bringen. Wir brauchen eine Reform der Kultusministerkonferenz und wir brauchen eine Reform der Bund/Länder-Kommission.
({9})
Diese beiden Einrichtungen sind nicht mehr in der Lage,
unser Gesamtsystem zu steuern.
Aber es gibt natürlich auch hausgemachte Probleme,
lieber Herr Tauss. Dazu zählt sicherlich das schillernde
Bild Ihrer Bundesregierung
({10})
im Bereich Stammzellforschung, worüber wir in den
letzten Tagen so gern diskutiert haben. Der Kanzler versucht auf der einen Seite, den Menschen klar zu machen,
Sie seien sehr fortschrittlich, während wir auf der anderen Seite Tag für Tag erleben, dass es in Ihren Reihen natürlich keine Mehrheiten für die Route des Kanzlers gibt.
({11})
Denken Sie einmal an anderes, zum Beispiel an die
überzogene Regelung im Chemikalienbereich, an das
Gentechnikgesetz oder an die Energieforschung: Auch
dort haben Sie den Standort blockiert.
({12})
Denken Sie auch an all das, was wir auf dem gesamten Gebiet der Gentechnik in den letzten Jahren zu verzeichnen hatten: Es ist Ihnen nicht gelungen, die Finanzierung der entsprechenden Fonds auf den Weg zu
bringen, auch wenn Sie uns in diesem Hause immer wieder Gegenteiliges sagen. In diesem Jahr flossen
5 Millionen Euro und nicht mehr. Mit diesem Fazit können wir nicht zufrieden sein.
({13})
Für die FDP erkläre ich hier: Wir werden im Herbst
eine Dekade der Innovationen anstoßen.
({14})
Wir haben Ihnen in Nordrhein-Westfalen gerade gezeigt,
wozu wir bereit sind: Wir kürzen die entsprechenden
Subventionen.
({15})
Das unterscheidet uns deutlich von den Kollegen von
den Grünen, die das seit Jahren zwar versprechen, aber
nicht tun. Wir sehen mit Optimismus in die Zukunft. Ab
dem Herbst wird es besser.
({16})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Ulrich Kasparick.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP
möchte im Herbst mit einer Dekade der Innovationen beginnen. Wir haben damit schon 1998 begonnen.
({0})
Dieses Land braucht nämlich dringend eine Mittelumschichtung für mehr Innovationen und Technologie.
Was die Mittelaufwüchse im Haushalt angeht, sind wir
bei einem Plus von 35,7 Prozent. Die Studienanfängerzahlen in den Naturwissenschaften steigen zum Teil bis
zu 70 Prozent. Die Absolventenzahlen steigen. Die Höhe
des BAföG ist praktisch verdoppelt worden. Die Auslandsinvestitionen der Wirtschaft in F und E in DeutschParl. Staatssekretär Ulrich Kasparick
land steigen. Das ist ein wichtiger Trend. Deutschland ist
nach Großbritannien das Land, in das die meisten ausländischen Studierenden kommen. Das heißt, Deutschland hat an Attraktivität für ausländische Studierende gewonnen.
({1})
Das alles zeigt, dass der Weg, den wir 1998 eingeschlagen haben, erste Früchte zeitigt.
Mich freut besonders, dass der jetzige Vorsitzende der
Bund/Länder-Kommission diesen Trend im Ausschuss
für Bildung und Forschung ausdrücklich gelobt hat. Er
hat ausdrücklich gelobt, dass Deutschland nach Großbritannien das attraktivste Zielland für F-und-E-Investitionen im Ausland tätiger US-Unternehmen geworden
ist.
({2})
Wir stimmen mit der Einschätzung von Dr. Goppel vollkommen überein.
Die F-und-E-Aufwendungen der Wirtschaft seien, so
wird kritisiert, im Jahr 2004 um 1,7 Prozent gesunken.
Ich darf dazu ermuntern, sich einmal einen längeren
Konjunkturzyklus anzuschauen. Die Situation ist so,
dass die Investitionen der Wirtschaft in F und E von
2002 bis 2005 um 5,5 Prozent gewachsen sind. Das ist
ein Zeichen dafür, dass sich auch die Wirtschaft in wichtigen Technologiefeldern zusätzlich engagiert. Das ist
auch nötig, weil wir den Wechsel zu mehr F-und-E-Investitionen nicht allein mit staatlichen Mitteln schaffen;
vielmehr brauchen wir das Engagement der Wirtschaft.
({3})
Der Anteil der F-und-E-Ausgaben am BIP ist seit 1998
von 2,3 Prozent auf 2,5 Prozent gestiegen.
Was ich jetzt sage, werden Sie zwar ungern hören, ist
aber richtig: Wir wären gern noch viel weiter.
({4})
Wir wären gern noch viel weiter und hätten insbesondere
lieber deutlich mehr Geld im System. Leider kommen
wir bei den großen Themen viel zu langsam voran. Ich
teile die Freude von Frau Flach, dass wir mit der Exzellenzinitiative offensichtlich vor einem erfolgreichen Abschluss stehen.
({5})
Ich habe soeben mit Frau Wanka in Potsdam gesprochen,
sie ist zuversichtlich, dass das nun endlich gelingt. Wir
hätten diese Initiative und den Pakt für Forschung gern
schon vor einem Jahr
({6})
in Kraft gesetzt. Wir haben erheblich Zeit verloren. Wir
fordern dringend mehr Geld im System und haben daher
vorgeschlagen, alte Subventionstatbestände abzubauen
und die frei werdenden Mittel in Bildung und Forschung
zu investieren. Leider werden wir nach wie vor ausgebremst und kommen nicht mit dem Tempo voran, das
wir dringend in Deutschland bräuchten; denn - hierin
stimme ich Ihnen zu, Frau Flach - der internationale
Wettbewerb ist nicht schwächer, sondern stärker und
schärfer geworden. Ausländische Investitionen im FuEBereich nehmen zum Teil schneller zu als die deutschen.
Seit 1998 richtet die Bundesregierung ihren Fokus auf
die Spitzentechnologien. Ich nenne nur die Stichworte
Laser, optische Technologien, Werkstoffinnovationen
und Nanotechnologie. In diesen Bereichen sind große
Bundesprogramme auf den Weg gebracht worden. Da
immer gesagt wird, Deutschland sei ein schlechter Forschungsstandort, möchte ich extra auf die Kompetenznetze der Medizin hinweisen. Hier sind wir weltweit
führend. Vor kurzem hat es dazu einen parlamentarischen Abend gegeben, bei dem das noch einmal ausdrücklich belegt worden ist.
Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen: Die Genehmigungs- und Zulassungszeiten für neue Arzneiprodukte werden mit der Umwandlung des Bundesinstituts
für Arzneimittel und Medizinprodukte in die Medizinprodukteagentur auf bis zu sieben Monate gekürzt. Das
heißt, auch dort wird das System beschleunigt. Dieses
Tempo brauchen wir dringend.
({7})
Die Partner für Innovationen sind längst bei der Umsetzung konkret verabredeter Projekte. Beispielsweise
führen Unternehmen unter dem Motto „Jugend der Zukunft“ Jugendliche an Zukunftstechnologien heran. Hier
ist ein Prozess in Gang gekommen, in dem wir sehr gut
mit der Wirtschaft kooperieren. Ich nenne das Stichwort
„Hightech-Gründerfonds“ und die Initiativen, die uns
helfen, gemeinsam mit der Wirtschaft Wagniskapital zu
verbessern.
Mein letztes Stichwort lautet Ostdeutschland. Sie
wissen, dass ich an dieser Baustelle mit brennendem
Herzen mit meinen Kollegen engagiert bin. Wir haben
vor kurzem die vierte Fördersäule bekannt geben können. 150 Millionen Euro gehen an besonders innovative
junge Forschergruppen. Wir setzen auf Köpfe und nicht
auf Beton. Wir setzen bei den Personen an, die in der
Lage sind, Innovationsprozesse nach vorn zu bringen.
Ich bin ganz zuversichtlich, dass dieser Weg der richtige ist, allerdings sage ich noch einmal an die Opposition gerichtet: Hören Sie auf zu bremsen! Wir könnten
weiter sein, wenn Sie uns mehr Geld geben würden.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kretschmer
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist traurig, dass es auch am Ende der Legislaturperiode
({0})
nicht gelingt, einen ehrlichen Blick auf das zu werfen,
was Sie erreicht haben, Herr Staatssekretär.
({1})
Ich finde es schade, wenn Sie hier nur ausführen, wie gut
wir sind. Die Realität in unserem Land, gerade auch in
den Forschungsinstituten, in den Hochschulen und bei
den Unternehmern, die forschen wollen, sieht ganz anders aus. Ich will nur wenige Beispiele nennen.
Ein Blick in den Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit zeigt, dass wir weit zurückfallen, dass andere rasant aufholen. Es gibt einen bemerkenswerten
Satz, der lautet: Wenn Deutschland die Automobilindustrie nicht hätte, wäre dieses Land nicht als eines zu
bezeichnen, das im internationalen Wettbewerb auf den
Export hochtechnologischer Güter spezialisiert ist. - So
weit sind wir gekommen. Wir haben die Automobilindustrie,
({2})
sie ist das Rückgrat, aber in vielen anderen Bereichen
liegen wir weit hinten.
Ich möchte nicht über die Grüne Bio- oder Gentechnologie reden, ich möchte auch nicht über die Atomkraft
reden, sondern Ihnen ausschließlich sagen, wie es ist,
wenn man als Unternehmer ein Forschungsprojekt mit
dem BMBF oder dem Wirtschaftsministerium zusammen umsetzen will: Vorlaufzeiten von bis zu einem Jahr
müssen einkalkuliert werden. Abgeordnete müssen
Briefe an den Minister schreiben, damit es endlich losgeht. Haushaltssperren zu Beginn oder in der Mitte des
Jahres sorgen dafür, dass kein Geld mehr da ist. - Die
Realität ist: Wir könnten viel mehr tun, wenn Sie einen
seriösen Haushalt vorlegen und seriöse Politik betreiben
würden. Dann wären wir auch mit der Forschung wesentlich weiter.
({3})
Viele Technologieförderprogramme werden nach dem
Prinzip „Stop and go“ umgesetzt. Das ist das
Schlimmste, was man in diesem Bereich tun kann. Wir
brauchen Verlässlichkeit bei der Durchführung von Programmen und die Möglichkeit zu planen.
Sie haben die Fonds angesprochen. Es geht nicht um
einen; es geht mittlerweile um drei Fonds. Für alle möglichen Bereiche werden Fonds gegründet. Nur, sie laufen allesamt nicht. Der neue Dachfonds, der vor reichlich einem Jahr gestartet ist und in andere VentureCapital-Fonds investieren soll, ist eine Bauchlandung,
weil es gerade einmal zu zwei Beteiligungen kam - und
das bei zwei Venture-Capital-Gesellschaften, die es
wirklich nicht nötig hätten, weil sie selber gut genug dastehen. Klar ist doch: Die Rahmenbedingungen in diesem Bereich, die steuerlichen Anreize stimmen nicht.
Das Problem ist: Sie kurieren wieder an den Symptomen
herum, anstatt die Ursache zu heilen.
({4})
Dann sollte man noch über die Exzellenzinitiative
sprechen. Ja, sie ist jetzt unter Dach und Fach, sie geht
los - aber mit einem Jahr Verzögerung.
({5})
Erst vor wenigen Stunden - so kann man sagen - haben
Sie vom Bundesverfassungsgericht gesagt bekommen,
was geht und was nicht geht. Es ist nun einmal so, dass
wir ein föderal aufgebauter Staat sind und die Länder
Verantwortung haben. Wenn die Ministerin in diesem
Land eine gute Sache machen will, dann muss sie sich
diesen Gegebenheiten anpassen. Frau Bulmahn macht
aber einen Fehler nach dem anderen nach dem Prinzip:
„Augen zu und durch“ bzw. „Mit dem Kopf durch die
Wand“ und merkt nicht, dass nach der ersten Wand die
zweite kommt. Sie holt sich eine Beule nach der anderen - zum Schaden der Wissenschaftler, der Forscher
und der Hochschulen in unserem Land.
Wenn Sie uns vorwerfen, wir seien unseriös, im gleichen Atemzug aber die Mittel für den Hochschulbau
kürzen und versuchen, das Geld in die Exzellenzinitiative umzuschichten, dann kann man Ihnen das nicht
durchgehen lassen. Das ist unseriös und unredlich. Man
sollte den Hochschulen und allen auf der Straße sagen:
Rot-Grün kürzt bei wichtigen Zukunftsausgaben. Die
Mittel für den Hochschulbau, eines der zentralen Elemente, sind in Ihrer Zeit massiv zurechtgekürzt worden.
Sie sind damit für die baulichen Mängel und die Ausstattungsmängel an unseren Hochschulen verantwortlich.
({6})
Diese Legislaturperiode geht mit zwei Erfolgen für
uns zu Ende. Ein Programm für die neuen Länder haben
Sie gerade erwähnt; wir haben es in den letzten Haushaltsverhandlungen durchgesetzt. Das andere ist, dass
wir in die Vollkostenfinanzierung einsteigen. Das erfreut uns sehr, vor allen Dingen deshalb, weil Sie uns
noch vor wenigen Wochen erklärt haben, wie unsinnig
dieser Vorschlag ist. Jetzt hat Ihre Ministerin unseren
Vorschlag mit unterschrieben. Wir kommen endlich
dazu, dass die Hochschulen tatsächlich in angemessenen
Größenordnungen Forschung betreiben können und die
wirklich Erfolgreichen nicht mehr die Dummen sind,
weil mit jedem eingeworbenen Drittmittelprojekt an der
Grundausstattung gezehrt wird und sie immer größere
Probleme bekommen.
Nein, wir kommen dazu, dass tatsächlich die vollen
Kosten für ein eingeworbenes Drittmittelprojekt finanziert werden. Das wird den Wettbewerb stärken. Das
wird unsere Forschungsleistung erhöhen. Wir freuen uns
darüber sehr. Mit diesem ersten Einstieg in die Exzellenzinitiative können wir Erfahrungen sammeln, die später
auf andere Bereiche ausgedehnt werden können.
({7})
Denn wir sehen, wie erfolgreich im angelsächsischen
Raum und in Schweden mit diesem Modell gearbeitet
wird, wie dadurch Anreizstrukturen geschaffen und am
Ende sehr gute Erfolge erzielt werden.
({8})
Wir sehen die Vollkostenfinanzierung als einen zentralen Baustein bei der Reform der Hochschullandschaft
bzw. des Wissenschaftssystems, zu dem auch andere Bereiche gehören. Wir brauchen mehr Wettbewerb; wir
brauchen leistungsfähige Hochschulen.
({9})
Die Vollkostenfinanzierung ist ein Einstieg. Wir haben
wieder einmal bewiesen, dass wir den richtigen Weg
kennen.
({10})
Sie mussten sich - auch Sie, Herr Tauss - korrigieren.
Das freut uns in der Tat.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Reinhard Loske vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir jetzt zurückblicken, versuchen wir natürlich,
Bilanz zu ziehen; aber das ist mir in der Kürze der Zeit
natürlich nicht möglich. Wir wollen einmal sehen, ob
wir im Herbst neu wählen. Es sieht aber so aus, als sei
das heute die letzte Debatte zu diesem Thema.
Lassen Sie mich zu Beginn sagen, woran wir uns in
unserer Forschungs- und Innovationspolitik orientiert
haben - jedenfalls für meine Fraktion kann ich das
sagen -: Für uns war immer sehr wichtig, die Freude an
der Forschung zu fördern
({0})
und die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass diejenigen, die Lust haben, zu forschen und in der Wissenschaft
zu arbeiten, bessere Rahmenbedingungen vorfinden.
({1})
Ich glaube, das ist uns zu einem guten Teil gelungen.
({2})
Dass es noch besser hätte gelingen können, hat Ulrich
Kasparick zu Recht gesagt. Aber die Rahmenbedingungen für Bildung und Forschung sind wesentlich besser
geworden. Ich will jetzt nicht, wie wir es vor der NRWWahl getan haben, das alte Lied davon singen, dass die
Forschungsmittel damals unter Rüttgers gekürzt worden
sind. Unter unserer Verantwortung sind sie um fast ein
Drittel gestiegen. Ich glaube, das ist schon ein gewaltiger
Unterschied.
({3})
Freude an Forschung war der erste wichtige Punkt.
Der zweite sehr wichtige Punkt war für uns immer, dass
durch nachhaltige Entwicklung und innovative Energien
neue Arbeitsplätze entstehen können. Wir wollten die
Rahmenbedingungen so setzen, dass das möglich wird.
Jetzt könnte man überprüfen, auf welchen Gebieten das
gelungen ist.
Lassen Sie mich einige Bereiche einzeln betrachten
und das, was wir erreicht haben, mit dem vergleichen,
was Sie vorschlagen. Im Bereich der Biotechnologie und
der Biomedizin haben wir die Forschungsmittel um
40 Prozent erhöht.
({4})
Was mich an Ihrer Argumentation, Frau Flach, besonders stört, ist: Sie tun so, als lägen wir im Bereich der
Biomedizin hinten, weil wir in Deutschland so hohe bioethische Standards haben. Das ist aber schlicht und einfach falsch, und zwar auf der ganzen Linie.
In Sachen Biomedizin sind wir weltweit ganz vorn.
({5})
Unseren 17 Kompetenznetzwerken wird auch in internationalen Journalen immer und immer wieder attestiert,
dass sie wirklich hervorragend sind. Im Bereich der Alzheimerforschung, der Krebsforschung, der Depressionsforschung und in vielen anderen Bereichen sind wir
Spitze. Das bedeutet, dass wir die Biomedizin nicht auf
die Stammzellforschung und das Forschungsklonen verkürzen dürfen.
({6})
Über diese Themen streiten wir. Als Parlament haben
wir uns zu Recht dazu durchgerungen, zu sagen, dass
hier das Prinzip der Gewissensfreiheit gelten soll: Jede
und jeder soll nach seinem Gewissen entscheiden. Aber
das ist zu trennen von der Frage, wie wir in der Biomedizin dastehen. In der Biomedizin stehen wir gut da. Dafür
finden wir weltweit Anerkennung.
Zum nächsten Bereich: der Biotechnologie. Auch
hier unterscheiden wir uns. Für uns ist Biotechnologie
ein sehr weites Feld, das von den Bioenergien über Biorohstoffe, die Biokatalyse bis hin zur Bionik reicht.
Auch hier finde ich Ihre thematische Engführung nicht
gut. Wenn man sich die Situation bei den Bioenergien
und den erneuerbaren Energien insgesamt ansieht, stellt
man fest: Seit wir 1998 die Regierung übernommen haben, hat sich der Anteil der erneuerbaren Energien an der
gesamten Energie von 5 auf 10 Prozent verdoppelt. Das
ist weltweit einmalig.
({7})
Diesen Anteil wollen wir bis zum Jahr 2020 - das haben
wir festgeschrieben - auf 20 Prozent erhöhen. Gleichzeitig haben wir sehr viel Geld in Energieeffizienz- und
Energieeinsparungstechnologien gesteckt.
So verhält es sich auch bei Entwicklungen in der
weißen Biotechnologie:
Wir wissen, dass wir bei der Grünen Gentechnik,
wenn sie im freien Feld stattfindet, besonders vorsichtig
sein müssen.
({8})
Wenn wir sie befürworten, müssen wir uns um ihre Akzeptanz in der Bevölkerung bemühen. Wir sind da skeptischer als Sie. Wir sind der Meinung, dass es gute
Gründe gibt, dagegen zu sein. Was wir aber zumindest
sicherstellen wollen, sind Wahlfreiheit und Transparenz,
damit die Leute wissen, woran sie sind. Deshalb ist das
Gentechnikgesetz ein gutes Gesetz. Sie werden sich,
wenn Sie hier Änderungen vornehmen wollen, noch
wundern, wie groß der öffentliche Protest sein wird,
wenn Sie die Bevölkerung mit Gentechnik zwangsernähren wollen. Das wollen die Leute nämlich nicht.
({9})
Nun zum Thema Verkehrsforschung; denn darum
ging es auch. Eben hat der Kollege Kretschmer gesagt,
im Verkehrsbereich lägen wir weltweit vorn. Aber wenn
ich mir die Anträge der CDU/CSU anschaue, stelle ich
fest: Was die Verkehrsforschung betrifft, haben Sie kein
Wort gesagt zu den Fragen der Emissionen, der Effizienz
und der neuen Technologien, die dem Ziel der Ressourceneinsparung dienen. In vielen Ländern, zum Beispiel
in China oder Japan - auch in Kalifornien -, werden
demnächst sehr anspruchsvolle CO2-Standards festgeschrieben. Darauf muss die deutsche Automobilindustrie
vorbereitet sein.
({10})
Deswegen sage ich: Es ist sehr wichtig, im Bereich der
Verkehrsforschung auch die CO2-Vermeidungs- und Effizienztechniken zu fördern und nicht so zu tun - das
klingt bei Ihnen immer so an -, als seien Ökologie und
Ökonomie Gegensätze. Nein, beides gehört zusammen!
Das ist für uns ein sehr wichtiger Punkt.
({11})
Was mich an Ihren Anträgen mordsmäßig stört - auch
das will ich Ihnen sagen -, sind Ihre Äußerungen zu
Themen, die sich nicht unmittelbar in Produkten niederschlagen: Die Friedens- und Konfliktforschung zum
Beispiel war unter Ihrer Verantwortung vollkommen abgestorben, bei uns allerdings ist sie wieder aufgelebt.
Darauf sind wir stolz; denn wir glauben, dass dieses
wichtige Thema bearbeitet werden muss.
({12})
- Ja, das ist wahr. Sie und der Kollege Kretschmer haben
über kritische Selbstreflexion geredet.
Im Bereich der Energieforschung finden wir heute
folgende Situation vor: Unter schwierigsten Bedingungen haben wir für einen deutlichen Aufwuchs bei den erneuerbaren Energien und für einen moderaten Aufwuchs
bei den Effizienz- und Einspartechniken gesorgt. Aber
wir laborieren immer noch daran, dass wir im Bereich
der nuklearen Sicherheitsforschung wahnsinnig viel
Geld dafür ausgeben müssen, weil Ihr Minister
Riesenhuber es seinerzeit versäumt hat, darauf zu drängen, dass beim Abbau von Forschungsreaktoren - wie
heute in Karlsruhe - auch die Industrie ihren Anteil
trägt. Der Staat ist heute gezwungen, aus seinem Forschungskorsett den Löwenanteil seiner Mittel für das
Abwracken alter Forschungskernreaktoren aufzuwenden. Das ist nicht in Ordnung. Wenn hier über Selbstkritik geredet wird, dann sollten Sie das auch auf sich beziehen!
Summa summarum sind wir ein gutes Stück vorangekommen, aber wir sind noch lange nicht da, wo wir im
Bereich Bildung und Forschung hinwollen.
({13})
Vor allen Dingen müssen wir mehr Geld mobilisieren.
Das muss ich schon einmal an Ihre Adresse sagen, Frau
Flach: Ihre Partei ist an fünf Landesregierungen beteiligt. Sie lamentieren darüber, dass der Föderalismus
- ich bin sofort fertig; einen Satz noch - sozusagen
das Hauptproblem für die Forschung sei.
({0})
Dann machen Sie doch endlich einmal etwas in den Ländern, in denen Sie mit an der Regierung sind! Davon
merkt man überhaupt nichts.
({1})
Das Wort hat der Kollege Helge Braun von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Noch ist die Legislaturperiode nicht zu Ende,
aber die Versuchung ist groß, schon jetzt zu reflektieren,
was sich in sieben Jahren rot-grüner Forschungs- und
Bildungspolitik eigentlich getan hat.
({0})
Wenn man sich das überlegt, ist das Erste, was einem
auffällt, dass wir eine profilierte Forschungsministerin in
diesem Kabinett komplett vermissen - „Bundeskultusministerin“ wäre wahrscheinlich die zutreffende Beschreibung für das, was Edelgard Bulmahn in diesem
Kabinett dargestellt hat.
({1})
Das Thema Ganztagsschule hat in Ihrer Arbeit wesentlich mehr Bedeutung gehabt, als die Strukturen für Forschung und Innovationen wirklich zu verbessern. Gerade
letzte Woche habe ich mit verschiedenen Wissenschaftlern der DFG gesprochen. Dort fiel der Satz: Strukturell
lebt die Forschungslandschaft in Deutschland bis heute
von der Ära Riesenhuber.
({2})
Das ist nach sieben Jahren rot-grüner Forschungspolitik
ein Armutszeugnis, meine Damen und Herren.
Vor wenigen Tagen hat der ehemalige Präsident der
Max-Planck-Gesellschaft gesagt
({3})
- Herr Professor Markl, der ehemalige Präsident -,
({4})
er wünsche sich, dass Politiker das, was sie dauernd ankündigen, auch tun, so zum Beispiel die Erhöhung der
Ausgaben für Forschung und Bildung bis 2010 auf
3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
({5})
Wenn man sich überlegt, in welchen Zeiträumen Forschungspolitik funktionieren muss, dann ist klar, dass jeder Innovationszyklus eine gewisse Zeit braucht. Wir
reden hier nicht über ein Jahr, zwei Jahre oder drei Jahre,
sondern meistens über wesentlich größere Zeiträume.
Was wir in der Phase Ihrer Regierung erlebt haben, ist
die Überrollung der Haushalte der Forschungsorganisationen und jetzt die unsägliche Debatte über Kürzungsnotwendigkeiten von bis zu 1 Milliarde Euro.
({6})
Das sind alles Zeichen dafür, dass Forschungsorganisationen - ({7})
- Ein Jahr später, ja, Herr Tauss. Das ist genau das Problem: Sie müssen lernen, dass Sie ein Forschungsprojekt, das Sie kaputtmachen, indem Sie in einem Jahr die
Haushalte überrollen, dieses im Jahr darauf nicht einfach
wieder „anschalten“ können. An solchen Stellen geht
Exzellenz in Deutschland unwiederbringlich kaputt.
({8})
Soeben hat Herr Loske vorgetragen, die Kompetenznetzwerke der Medizin seien beispielhaft und man sei in
Deutschland deshalb gleich im gesamten Bereich Biomedizin und Biotechnologie ganz weit vorn. Die Wahrheit ist eine andere: Die Einzelmaßnahme Kompetenznetzwerk ist natürlich ein hervorragendes Instrument
und Deutschland kann sich glücklich schätzen über jedes
Kompetenznetzwerk, das wir haben. Wenn man sich
aber die Strukturen der Forschungslandschaft im Bereich
der Biomedizin insgesamt anschaut, ist die Bilanz sehr
ernüchternd. Wir haben auf der einen Seite - das ist eben
schon besprochen worden - unklare Rechtsverhältnisse.
Gerade von dieser Bundesregierung sind völlig unterschiedliche Ankündigungen zu hören: Während der
Kanzler am Mittwoch gesagt hat - vielleicht ist das alles
Vorbereitung für die Vertrauensfrage -, er wolle die Regelungen für die Stammzellenforschung entbürokratisieren, sagt die grüne Fraktionschefin Göring-Eckardt: Da
kann der Kanzler erklären, was er will. - Das ist doch
nichts, worauf man bauen könnte.
({9})
- Ich will Ihnen eines sagen: In einer Regierung brauchen die Ankündigungen des Kanzlers eine gewisse Verlässlichkeit. Und Verlässlichkeit ist exakt das, was nicht
nur Ihre Forschungspolitik, sondern Ihre Regierungspolitik insgesamt, auf der ganzen Linie, vermissen lässt.
({10})
Herr Braun, einen Moment. - Herr Tauss, Sie haben
doch gleich als nächster Redner das Wort. Warum müssen Sie sich jetzt zu Wort melden?
({0})
Ja, ich denke auch. Sie können gleich in sechs Minuten alles sagen, was Sie wissen.
Die Grüne Gentechnik ist das nächste Beispiel. Zunächst kündigte der Kanzler in Bezug auf die Haftungsregelungen bei der Grünen Gentechnik an, dass gemeinsam mit dem ersten Gesetz ein vernünftiger
Rechtsrahmen für die Investitionen in diesem Bereich
vorliegt. Wenige Tage später kündigt er an, dass es an
dieser Stelle noch Nachsteuerungen geben wird - Korrekturen, die wir zumindest bis heute nicht gesehen haben.
Meine Damen und Herren, die Forschungspolitik in
Deutschland lässt insgesamt jegliche Struktur vermissen,
die dazu führen kann, dass wir einen wirklich verlässlichen Rahmen haben, um Deutschland im europäischen
und weltweiten Wettbewerb der Wissensgesellschaften
wieder nach vorne zu bringen.
({0})
Wir brauchen eine verlässliche Regierung und mehr
Freiheit in der Wissenschaft.
Die Ressortforschung ist einer der Punkte, bei denen
ich glaube, dass wir ganz mit der FDP zusammenkommen können. Frau Flach, Sie haben gesagt, dass jetzt
evaluiert wird. Das ist wahr und das ist ein guter Anfang.
({1})
Wir bedanken uns an dieser Stelle beim Wissenschaftsrat
auch ausdrücklich dafür, dass dies geschieht. Die Evaluierung war aber noch nie so notwendig wie jetzt, weil
noch keine Bundesregierung so wie die aktuelle die Ressortforschungseinrichtungen dazu verwendet hat, ihre
ideologische Forschung nach vorne zu treiben und notwendige Projekte, die in diesen Forschungseinrichtungen hätten durchgeführt werden können, zu behindern
oder sogar, wie es in Einzelfällen geschehen ist, zu verbieten.
({2})
Ein freiheitliches Forschungssystem, das die Innovationskraft schafft, damit es in Deutschland wieder
Wachstum gibt, ist zwingend erforderlich. Die Forschungspolitik dieser rot-grünen Bundesregierung ist
kein gutes Beispiel. Sie hat dazu beigetragen, dass die
Zahl der Arbeitslosen in Deutschland in der Regierungsphase, die Sie zu verantworten haben, von 4 Millionen
auf 5 Millionen angestiegen ist. Wir werden alles dafür
tun, dass das beim nächsten Mal anders wird.
Wenn man sich die Exzellenzinitiative anschaut, dann
wird klar, dass auch dort die Freiheit der Forschung wieder ganz entscheidend ist. Wir haben nämlich dafür
gesorgt, dass die Mittel jetzt wirklich dort ausgegeben
werden, wo die Exzellenzen sind, während der Anfangsansatz, den die rot-grüne Bundesregierung verfolgt
hat, wohl eher wieder ein Element der Strukturförderung
war.
Freiheit und Exzellenz in der Wissenschaft - das ist
der Kurs, den wir verfolgen.
({3})
In diesem Sinne würden wir uns freuen, wenn wir im
September andere Mehrheiten im Deutschen Bundestag
erhalten.
({4})
Das Wort hat der Kollege Jörg Tauss von der SPDFraktion.
({0})
Lieber Herr Präsident! Leider haben Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen. Ich kann die Frage, wo
Frau Merkel bei der Stammzellenforschung steht, nicht
selbst beantworten. Das wollte ich von dem Kollegen
der Opposition eigentlich nur wissen. Wahrscheinlich
gilt aber auch hier, was der „Tagesspiegel“ gesagt hat:
Die Macht des Ungefähren - um für Merkels Vorstellungen einmal einen präzisen Begriff zu bringen - verliert
allmählich ihren Reiz. Der „Tagesspiegel“ hat Recht mit
dem, was er über Frau Merkel sagt.
({0})
Frau Flach, das, was Sie gesagt haben, war verräterisch. Sie haben gesagt, dass Sie die Ressortforschung
seit 15 Jahren evaluieren wollen.
({1})
Das war wirklich verräterisch. Von diesen 15 Jahren waren Sie sieben Jahre lang an der Regierung. In dieser Zeit
ist nichts geschehen.
({2})
In den letzten sieben Jahren haben wir mit der Evaluierung begonnen. Sie ist auf einem guten Weg, wie wir in
dieser Woche im Ausschuss gehört haben.
Frau Flach, ich finde es überhaupt nicht gut - das hat
Ihnen auch der Generalsekretär des Wissenschaftsrats
ins Stammbuch geschrieben -, was Sie in diesem Zusammenhang gesagt haben. Die Evaluierung hat bei uns
nämlich nicht das Ziel, die Forschung zu verunsichern
und mit der Schließung von Instituten zu drohen. Frau
Flach, Sie sollten den Vorwurf, den Sie da heute erhoben
haben, zurücknehmen. Wir evaluieren, um aufgabenkritisch festzustellen: Können die Institute noch besser werden, wo können wir ihnen helfen? Ich halte es für nicht
gut, als Ergebnis der Evaluation mit Schließungen zu
drohen, obwohl die Evaluation noch nicht einmal begonnen hat.
Herr Kollege Tauss, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Frau Kollegin Flach?
Da Sie die Zwischenfrage genehmigen, genehmige
ich sie selbstverständlich auch.
Nein, Sie haben sie zu genehmigen. - Dann lasse ich
sie zu. Bitte.
Bitte schön, liebe Frau Flach.
Lieber Herr Tauss, ich wollte Sie nur fragen, an welcher Stelle meiner Rede Sie vernommen haben, dass ich
mit Schließungen drohe. Ich habe an keiner Stelle mit
Schließungen gedroht.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie genauso wie ich gehört
haben, was der Generalsekretär in der Ausschusssitzung
gesagt hat? Er hat nämlich deutlich gesagt: Wir evaluieren und wenn sich am Schluss herausstellt, dass gewisse
Institutionen besser einen anderen Weg gehen sollten,
dann werden wir das auch empfehlen. Also bitte ich Sie,
mir das zu bestätigen, was wir beide gemeinsam gehört
haben.
Liebe Frau Flach, ich verweise Sie auf das Protokoll.
Lesen Sie doch noch einmal nach, was Sie hier gesagt
haben. Hier war eindeutig von Schließung die Rede, und
zwar als Ergebnis von Evaluation. Wenn Sie es so ausgedrückt haben wollten, wie es der Generalsekretär gesagt
hat, sind wir schon wieder näher beieinander. Wir waren
ja bei der gleichen Sitzung. Der Generalsekretär hat jedoch eines hinzugefügt: Es wird keine wirksame Beteiligung derer, die evaluiert werden, geben, wenn von vornherein ein Damoklesschwert darüber schwebt. Insofern
bleibe ich dabei, dass Sie hier für die beginnende Evaluierung ein falsches Signal gegeben haben. Frau Flach, lesen Sie noch einmal nach, was Sie gesagt haben. Wir
können es ja gemeinsam gegenüber den Wissenschaftsorganisationen und den betroffenen Einrichtungen richtig stellen.
({0})
Ich möchte mich nun aber nicht länger der FDP zuwenden, die nun mit Herrn Pinkwart in Nordrhein-Westfalen mitregieren wird. Meine Kolleginnen und Kollegen, Ihre Schwarzmalerei ist langsam, aber sicher
wirklich nicht mehr zum Aushalten.
({1})
Wir hatten diese Woche ein Gespräch mit dem Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft. Ich hoffe, wenigstens
die Max-Planck-Gesellschaft findet vor Ihren Augen
noch Gnade, wenn schon die anderen Wissenschaftler
und Wissenschaftlerinnen in Deutschland dies nicht tun,
die Sie ja als so erfolglos beschimpfen. Herr Gruss hat
uns dargelegt, dass Deutschland im internationalen Vergleich der Forschungsnationen wieder auf Platz zwei
vorgerückt ist.
({2})
Bei der Zahl der Publikationen liegt allein die MaxPlanck-Gesellschaft - nur eine von vielen deutschen
Forschungseinrichtungen - vor Harvard und anderen
amerikanischen Spitzenuniversitäten. Statt auf dieses Ergebnis stolz zu sein
({3})
und anzuerkennen, dass andere Nationen inzwischen
wieder sagen: „So macht man erfolgreiche Forschungspolitik“, reden Sie mies und machen Sie kaputt. Das ist
Ihre eigentliche Absicht und das ist das, was mich an
Teilen Ihrer Politik und Argumentation so anwidert.
({4})
Aus diesem Grund will ich die verbleibende Zeit nutzen, um noch einmal deutlich zu machen: Ja, wir haben
einige Probleme im Bereich Wissenschaft und Forschung. Dies gilt beispielsweise für den Bereich KMU.
Hier werden wir ein neues Programm auflegen und dafür
sorgen, dass es auch in diesem Bereich Verbesserungen
gibt. Wir haben Probleme im Bereich Risikokapital.
Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
rechten Seite dieses Hauses, Sie bemühen doch immer
die Verantwortung der Wirtschaft an vielen Stellen. Wie
kann es denn in diesem unserem Lande sein, dass es
nicht als Aufgabe der Finanzwirtschaft empfunden wird,
Innovationen zu fördern? Warum müssen wir staatliche
Innovationsprogramme und Dachkapitalfonds auflegen?
Gehen Sie doch einmal zu den Leuten, die Sie finanzieren, hin und fordern Sie sie auf, hier mehr zu machen.
({5})
- Wir bekommen es von Beiträgen, wie es sich gehört.
Das ist auch richtig.
({6})
Jetzt möchte ich noch kurz auf Ihre Fragen antworten.
Sie haben gefragt: Was hat sich in sieben Jahren getan?
Sie hatten den Etat runtergefahren; wir haben ihn in diesen sieben Jahren um 30 Prozent erhöht.
({7})
Sie haben bis 1998 die besten Köpfe aus Deutschland ins
Ausland gehen lassen; wir holen sie mit den intensiven
Bemühungen dieser Ministerin, ihrer Staatssekretärin sowie der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ministerium zurück.
({8})
Sie haben die Mittel für die Hochschulbauförderung gekürzt; wir haben sie erhöht.
({9})
Sie haben eine bessere Finanzausstattung für Bildung
und Wissenschaft in diesem Lande verhindert; wir
kämpfen dafür, dass Ihre Blockaden beendet werden. Sie
haben das BAföG reduziert und wollen es ausbluten lassen; Sie wollen es abschaffen. Hier liegen die Unterschiede zwischen uns und Ihnen.
({10})
- Herr Rachel, wenn Sie etwas nicht wissen, stellen Sie
eine Zwischenfrage. Die beantworte ich Ihnen dann
gerne.
Sie haben die Exzellenzinitiative blockiert und Ihren
eigenen Wissenschaftsminister vorgeführt - ich bin gespannt, ob Sie sich jetzt gegen Herrn Koch durchsetzen -; wir aber durchbrechen jetzt mit der Exzellenzinitiative Ihre Blockade.
({11})
Ich sage Ihnen abschließend: Sie haben keinerlei moralische und fachliche Qualifikation im Bereich Wissenschaft und Forschung, um in diesem Land politische
Verantwortung zu übernehmen. Sie haben in Ihrer Regierungszeit versagt und erst recht während Ihrer Oppositionszeit in den Bundesländern. Auch das muss an dieser Stelle einmal festgehalten werden. Aus diesem
Grund werden wir dafür kämpfen, dass es im Herbst zu
vernünftigen Mehrheiten kommt, die für Bildung, Wissenschaft und Forschung eintreten und nicht für überkommene Subventionen, wie Sie es tun.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5267 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/5682
zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
„Forschungs- und Innovationsförderung für die Arbeitsplätze der Zukunft“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf
Drucksache 15/5016 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Fraktion der CDU/CSU bei Enthaltung der Fraktion
der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 15/5360 mit dem Titel
„Deutschland muss aufholen - 2006 bis 2016 - Dekade
der Innovationen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion sowie
des Kollegen Kretschmer und bei Enthaltung der CDU/
CSU-Fraktion angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/5374 zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Forschung an
Hochschulen durch Vollkostenfinanzierung verbessern“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4721 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/
CSU- und FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung telekommunikationsrechtlicher
Vorschriften
- Drucksache 15/5213 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({1})
- Drucksache 15/5694 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hubertus Heil
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP vor.
Die Reden sollen auch in diesem Fall zu Protokoll ge-
nommen werden. Es handelt sich um die Reden der Kol-
legen Hubertus Heil und Manfred Zöllmer, SPD-Frak-
tion, Dr. Martina Krogmann und Johannes Singhammer,
CDU/CSU-Fraktion, Rainer Funke, FDP-Fraktion, so-
wie Petra Pau, fraktionslos. Von den Grünen liegt mir
noch nichts vor.1)
({2})
- Können Sie mir sagen, um wen es sich handelt?
({3})
- Dann nehmen wir auch die Rede der Kollegin Höfken
zu Protokoll.
Mir liegen einige Erklärungen nach § 31 der Ge-
schäftsordnung vor, nämlich der Kollegen Hubertus
Heil, Ulrich Kelber, Jörg Tauss und anderer, die wir
ebenfalls zu Protokoll nehmen.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung telekommunikationsrechtlicher Vorschriften
auf Drucksache 15/5213. Der Ausschuss für Wirtschaft
und Arbeit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/5694, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenom-
men.
1) Anlage 8
2) Anlage 5
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmverhältnis angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 15/5756. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion gegen die
Stimmen der FDP-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vierten und Sechsten
Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 15/5574 ({4})
a)Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung
({5})
- Drucksache 15/5705 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Lotz
b)Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/5724 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Otto Fricke
Waltraud Lehn
Anna Lührmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Erika Lotz von der SPD-Fraktion.
({7})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Seit unserer Regierungsübernahme vor fast sieben Jahren haben wir es geschafft, den Beitragssatz in der Rentenversicherung merklich zu senken und in den letzten
Jahren sogar bei 19,5 Prozent zu stabilisieren.
({0})
Davon konnten Sie in den letzten fünf Jahren Ihrer Regierungszeit, Herr Kolb und Kolleginnen und Kollegen
vonseiten der CDU/CSU, doch nur träumen. Zuletzt lag
er in Ihrer Regierungszeit bei sagenhaften 20,3 Prozent.
Der Trend wies nach oben, steil nach oben.
({1})
- Das ist so. Da können Sie noch so viel dazwischenrufen.
({2})
Das können und dürfen Sie nicht leugnen.
({3})
In der Anhörung des Ausschusses am Montag hat Ihnen Professor Ruland dieses wieder klar aufgezeigt.
Ohne die von uns beschlossenen und umgesetzten Reformen in der Rentenversicherung - nun möchte ich zitieren - „hätten wir bereits heute einen Beitragssatz von
über 22 Prozent. Tatsächlich liegt er bei 19,5 Prozent, allerdings mit im Moment etwas steigender Tendenz.“
({4})
Über die herausragende Fachkompetenz von Herrn
Ruland brauchen wir hier doch wirklich nicht zu streiten.
Ihre Versäumnisse in der Renten- und Arbeitsmarktpolitik der 90er-Jahre haben noch heute große Auswirkungen auf die Finanzen der Rentenversicherung. Sie
lasten wie eine riesige Hypothek auf unserer Gesellschaft. So ist es ein von Ihnen gepflegter Mythos, dass
erst in unserer Regierungszeit die Arbeitslosigkeit auf
über 5 Millionen gestiegen ist. Würden wir die heutigen
Berechnungsmethoden auf die damalige Zeit anwenden,
kämen wir auf einen vergleichbaren Wert. Ich erinnere
nur an die von uns erfolgte Einbeziehung der arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger in die Statistik.
({5})
- Herr Meckelburg, Sie wissen ganz genau, dass das so
ist.
({6})
Mindestens genauso gravierend ist die durch Sie verantwortete Fehlfinanzierung der deutschen Einheit. Die
deutsche Einheit wird und wurde in ganz großem Maße
durch die Sozialversicherungssysteme finanziert. Dies
wäre aber eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft gewesen; sie hätte über Steuern finanziert werden müssen.
Dies hätte dazu geführt, dass der Beitragssatz niedriger
wäre. Es ist müßig, darüber zu diskutieren, ob er nun um
1,7 oder 1,8 Prozentpunkte niedriger läge. Selbst bei
1,7 Prozentpunkten hätten wir heute einen Beitragssatz
von 17,8 Prozent; dieser Beitragssatz wurde seit 1973
nur zweimal unterschritten.
Wer vor diesem Hintergrund behauptet, die gesetzliche Rentenversicherung sei nicht belastbar und ein
Auslaufmodell, der hat nicht das Wohl der Gesellschaft
vor Augen. Es sind andere Gründe, die ihn antreiben.
Wer heute über Rentenfinanzen spricht, darf auch
eine weitere Belastung nicht verschweigen. Der seit Jahren andauernde Umbau der Industriegesellschaft zu
einer Dienstleistungsgesellschaft wird zu einem gewichtigen Teil aus Rentengeldern bezahlt. Kein anderes
System hätte es ermöglicht, die gewaltigen Frühverrentungsprogramme der Wirtschaft für die Beschäftigten so
sozial ausgewogen zu stemmen.
Wir sind aber finanziell und arbeitsmarktpolitisch an
einem Punkt angekommen, an dem wir uns dies nicht
mehr leisten können. Überhaupt: Hätten Sie von der
Union nicht ständig arbeitsmarktpolitisch notwendige
Gesetzgebungsverfahren blockiert, dann hätten wir
heute nicht ein so großes Beschäftigungsproblem. Ich erinnere nur an die Handwerksrolle.
({7})
- Handwerksordnung.
({8})
Mit unseren Rentenreformen der letzten Jahre haben
wir es trotz dieser enormen Belastungen geschafft, die
gesetzliche Rentenversicherung mittel- und langfristig
auf einen guten Weg zu bringen. Diese Probleme haben
wir gelöst. Damit haben wir die Grundlage für eine auch
in Zukunft verlässliche und finanzierbare Alterssicherung geschaffen. Die Bürgerinnen und Bürger vertrauen
darauf und dieses Vertrauen ist wichtig; denn ohne Vertrauen wird die Binnenkonjunktur nicht anspringen. Das
wäre für uns alle fatal. Es ist daher an der Zeit, werte
Opposition, dass Sie Ihre Verunsicherungskampagne
umgehend einstellen. Sie ist grundlos, allein machtpolitisch motiviert und schadet unserem Land.
Unsere Maßnahmen können aber nur dann ihre volle
Wirksamkeit entfalten, wenn es uns gelingt, den Beitragssatz in den nächsten Jahren stabil zu halten. Dies ist
uns bisher trotz ungünstiger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen gelungen. Die Beitragssatzstabilität wurde
aber vor allem durch die Opfer der Rentner und Arbeitnehmer finanziert. Um ein Ansteigen des Rentenbeitragssatzes im nächsten Jahr zu verhindern,
({9})
ist es daher gerecht, wenn nun die Arbeitgeber in die
Pflicht genommen werden. Das dafür notwendige Vorziehen der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge um
zwei Wochen ist dabei alternativlos.
({10})
Dies ist sozial gerecht und wirtschaftlich vertretbar. Es
ist sozial gerecht, weil den Arbeitnehmern und Rentnern
in den letzten Jahren schon große Belastungen auferlegt
wurden und noch werden. Von ihnen noch mehr Opfer
zu verlangen wäre unzumutbar. Ich denke, hier ist das
Ende der Fahnenstange erreicht.
Das Vorziehen der Fälligkeit ist auch wirtschaftlich
vertretbar und alternativlos.
({11})
Die Vorfinanzierungskosten in Höhe von
400 Millionen Euro werden die Unternehmer und Arbeitgeber sicherlich schmerzen; das sehe ich auch.
({12})
Aber eine Beitragssatzerhöhung würde doch ein Vielfaches dessen kosten.
({13})
Allein die Kosten für die privaten Arbeitgeber würden
bei rund 1 Milliarde Euro liegen. Die fiskalischen Folgekosten - unter anderem der Bundeszuschuss und die
Mehrausgaben bei Kindererziehungszeiten - würden
weitere 2 Milliarden Euro betragen. Zudem mindert eine
Beitragssatzerhöhung die verfügbaren Arbeitnehmereinkommen. Das wäre fatal für den Konsum und damit für
die Binnennachfrage.
Dass die Vorfinanzierungskosten für die Arbeitgeber
eine Belastung darstellen, bestreite ich nicht. Aber dies
wird keineswegs zu einem drastischen Anstieg der Insolvenzen führen, wie Sie immer wieder behaupten.
({14})
Zum einen haben die Arbeitgeber, wie Sie wissen, die
Möglichkeit, die zusätzliche Zahlung über einen Zeitraum von sechs Monaten zu strecken. Zum anderen werden die Arbeitgeber durch den von den Arbeitnehmern
zu übernehmenden Sonderbeitrag zur Krankenversicherung um jährlich 4,5 Milliarden Euro entlastet. Das
haben wir beschlossen.
({15})
Insofern ist es doch möglich, diese 400 Millionen Euro
pro Jahr zu finanzieren. Seien Sie doch einmal objektiv!
({16})
Bei der derzeitigen Fälligkeitsregelung handelt es sich
um nichts anderes als um einen zinslosen Kredit. Man
kann es auch Subvention nennen, wenn Sie wollen. Es
gibt keinen vernünftigen Grund, warum die Arbeitgeber
die Sozialbeiträge erst 14 Tage nach Ende des Lohnabrechnungszeitraums überweisen müssen. Eine nicht gerechtfertigte Subventionierung der Arbeitgeber durch die
Sozialversicherung gehört abgeschafft.
({17})
Es gibt keine Alternativen, wie der Rentenbeitragssatz kurzfristig stabilisiert werden kann. In der Rentenpolitik sind die Stellschrauben nun einmal begrenzt.
({18})
Es ist doch auch kein Wunder, dass die Union trotz vielfacher Aufforderung bis heute keine wirksamen Alternativen benannt hat. Sie hat keine, weil es keine gibt.
({19})
Auch die von der Bundesvereinigung der Deutschen
Arbeitgeberverbände vorgeschlagenen Maßnahmen haben nun einmal so gut wie keine kurzfristigen Effekte.
Um es klar zu sagen: Bei der derzeitigen Arbeitsmarktlage werden wir die Regelaltersgrenze nicht anheben.
Wir sind auch in keiner Weise bereit, in die Renten von
Witwen und Witwern einzugreifen. Das wäre sozialer
Kahlschlag.
({20})
Wir werden auch auf keinen Fall die Sicherungsklausel für die Rentenanpassungen streichen oder den Belastungsanteil für die Rentner im Nachhaltigkeitsfaktor für
die Anpassungsformel erhöhen.
({21})
Wer - wie Herr Storm - diesen Weg gehen will, dem
stellen wir uns entschieden entgegen. Dies hat mit Generationengerechtigkeit nichts zu tun. Kommen Sie endlich einmal in der Realität an! Die Leipziger Beschlüsse
der Union sind unbezahlbarer Populismus. Allein die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren würde
die Rentenversicherung jährlich 2,5 Milliarden Euro
kosten. Die kindbezogene Mehrleistung würde die Beitragszahler noch einmal rund 15 Milliarden Euro pro
Jahr kosten. Trotzdem wollen Sie langfristig den Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen lassen. Warum
verschweigen Sie, dass hierzu Rentenkürzungen von
mehr als 15 Prozent nötig sind?
({22})
So verhalten sich keine gewissenhaften Politiker.
Mit der von uns eingeführten Niveausicherungsklausel haben wir ein Zeichen für Verlässlichkeit gesetzt;
({23})
denn das Rentenniveau vor Steuern darf bis 2020
46 Prozent und bis 2030 43 Prozent nicht unterschreiten. Ich denke, mehr ist den Bürgerinnen und Bürgern
auch nicht zuzumuten. Eine weitere Niveauabsenkung in
der Rentenversicherung wäre eine sozialpolitische Geisterfahrt. Wenn Sie diesen Weg gehen wollen, bezahlen
am Ende viele Bürger Ihren Machthunger mit Altersarmut.
({24})
Dies ist ein Weg, der für uns unannehmbar ist. Diesem
Weg werden wir uns kompromisslos entgegenstellen.
Heute wurde schon einige Male über Neuwahlen gesprochen.
({25})
Sie sollten klar sagen, wohin die Reise in der Zukunft
geht. Sie sollten aber auch sagen, wie Sie Ihre Vorschläge finanzieren wollen. Diese Antwort sind Sie noch
schuldig. Für die nächste Legislaturperiode wünsche ich
mir, dass die großen Parteien, was die Rente angeht, wieder zu Kompromissen finden.
Danke schön.
({26})
Das Wort hat der Kollege Andreas Storm von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf soll der Fälligkeitstermin für die Zahlung der Sozialbeiträge vorgezogen werden. Was auf den ersten Blick nach einer bloßen technischen Änderung aussieht, ist bei näherem Hinsehen eine
weitere Notoperation, mit der Rot-Grün einmal mehr ein
gewaltiges Finanzloch in der Rentenkasse schließen
will.
({0})
Staatssekretär Thönnes hat vor vier Wochen im Bundestag kleinlaut einräumen müssen, am Jahresende
klaffe in der Rentenkasse eine Lücke von 5 Milliarden
Euro und ohne diese Maßnahme müsse im kommenden
Jahr der Rentenbeitrag auf 20 Prozent angehoben werden.
Die Wahrheit ist aber noch schlimmer: Die deutsche
Rentenversicherung steckt derzeit in der größten Krise
seit der großen Rentenreform des Jahres 1957. Was sind
die Gründe? Meine Damen und Herren von Rot-Grün,
über die gesamte letzte Wahlperiode haben Sie die Rentenversicherung strukturell unterfinanziert. Die Rentenkasse hat von ihren Reserven gelebt. Der stabile Rentenbeitragssatz, Kollegin Lotz, mit dem Sie sich so rühmen,
war und ist in Wirklichkeit ein Trugbild.
({1})
Am Jahresbeginn 2002 betrug die Rücklage noch
13,8 Milliarden Euro. Dann hat Frau Schmidt die Verantwortung für die Rente übernommen. Im letzten Jahr
haben Sie die Immobilienbestände der Rentenversicherung verscherbelt und mittlerweile gehen die Rücklagen
der Rentenkassen gegen null. Bis zum Jahresende wird
die Rücklage der Rentenversicherung nahezu vollständig aufgezehrt sein.
({2})
Was früher für einen Monat gereicht hat, reicht im Moment nur noch für zwei Tage. Am Jahresende wird es
wahrscheinlich noch nicht einmal dafür reichen.
Der Grund für die Finanzmisere ist offenkundig: Es
ist die Arbeitsmarktkrise. Jeden Tag gehen in Deutschland 500 sozialversicherungspflichtige Vollzeitarbeitsplätze verloren. Davon betroffen sind nicht nur
500 Menschen mit ihren Familien. Mit jedem Arbeitsplatz, der verloren geht, wird auch ein neues Loch in die
Sozialkassen gerissen.
Das Eingeständnis des Staatssekretärs Thönnes ist
aber nur die halbe Wahrheit; denn mit dem Rentenloch
von 5 Milliarden Euro ist das Ende der Fahnenstange
noch nicht erreicht. Das, Frau Kollegin Lotz, hat nichts
mit Schwarzmalerei zu tun. Der Chef der Rentenversicherungsträger, Professor Ruland, auf den auch Sie sich
bezogen haben, hat die Risiken für die Rentenfinanzen
in der Anhörung am Montag deutlich gemacht. Nach den
massiven Einbrüchen bei den Beitragseinnahmen in den
ersten fünf Monaten dieses Jahres ist es so gut wie sicher, dass die Prognose der Bundesregierung für die
Rentenkasse nicht mehr erreicht werden kann. Hinzu
kommt, dass die Annahme für den Beitrag zur Krankenversicherung der Rentner mehr der Wunschvorstellung von Ulla Schmidt als der tatsächlichen Lage der
gesetzlichen Krankenkassen geschuldet ist.
({3})
Unterstellt man realistische Annahmen für die Entwicklung der Beitragseinnahmen und die Krankenversicherung der Rentner, dann wird deutlich, dass der Rentenbeitrag im kommenden Jahr sogar auf deutlich über
20 Prozent ansteigen müsste. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von Rot-Grün, diese Zahl macht das Ausmaß
Ihres Versagens in der Rentenpolitik deutlich.
({4})
Mit dem Gesetz, das als Entwurf vorliegt, wollen Sie
nun den drohenden drastischen Anstieg des Beitragssatzes in der Rentenversicherung verhindern.
({5})
Der Fälligkeitstermin für die Sozialbeiträge soll vorgezogen werden. Diese Buchungsänderung spült einmalig
9,6 Milliarden Euro zusätzlich in die Rentenkasse. Das
bedeutet, dass im kommenden Jahr der Beitrag stabil
bleiben kann. Aber - auch das hat die Anhörung am letzten Montag gezeigt - wahrscheinlich schon ein Jahr
später, spätestens jedoch 2008 wäre ohne zusätzliche
Strukturmaßnahmen eine weitere Beitragssatzanhebung
vorprogrammiert.
({6})
Mit einer nachhaltigen Rentenpolitik, wie Sie sie
ständig wieder fordern, hat diese Maßnahme nun wirklich gar nichts zu tun, Frau Lotz.
({7})
Im Gegenteil: Diese Maßnahme belastet massiv den
Wirtschaftsstandort Deutschland, vor allem die mittelständischen Betriebe in unserem Land.
({8})
Das Vorziehen der Sozialbeiträge wirkt wie eine einmalige Sonderabgabe in einer Größenordnung von 20 Milliarden Euro.
({9})
Das hat - nur auf das kommende Jahr bezogen - eine
Wirkung, als würden die Sozialbeiträge um etwa
2 Prozentpunkte angehoben.
({10})
Dauerhaft gibt es Zinsverluste in Höhe von 400 Millionen Euro pro Jahr, und das in einer Situation, in der die
Finanzdecke in vielen mittelständischen Betrieben bis
zum Bersten gespannt ist.
Hinzu kommt: Die Maßnahme ist mit einem erheblichen bürokratischen Mehraufwand verbunden. Sie bedeutet nicht nur für den Mittelstand eine Zumutung;
denn durch die zeitliche Trennung von Beitragszahlung
und Entgeltabrechnung steigt der Abrechnungsaufwand
immens an. Künftig sind 24 statt bisher zwölf Monatsabrechnungen erforderlich. Von Bürokratieabbau haben
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, offenbar endgültig Abschied genommen. Auch für die
Krankenversicherung bedeutet das einen Mehraufwand;
denn sie muss doppelt abrechnen. Bereits bei der Anhörung hat der Vertreter der Spitzenverbände der Krankenkassen deutlich gemacht, dass man deshalb mehr Geld
zur Deckung der Verwaltungskosten brauche.
Wenn man das alles bilanziert, dann wird deutlich:
Dieser Buchungstrick hat enorme negative Auswirkungen auf die Unternehmen. Eine unionsgeführte Bundesregierung hätte diesen Weg nie und nimmer beschritten.
Allerdings haben wir im Moment nur die Wahl zwischen
Pest und Cholera; denn um der desolaten Finanzlage der
Rentenversicherung Herr zu werden, müssten in den
nächsten Monaten eigentlich strukturelle Reformmaßnahmen auf den Weg gebracht werden. Angesichts der
bevorstehenden Auflösung des Bundestages hat die Regierung die Arbeit aber eingestellt. Kurz auf den Punkt
gebracht: Sie machen sich vom Acker. Zu mehr als zu
diesem Buchungstrick haben Sie keine Kraft mehr.
Wenn es bei dem angekündigten Wahltermin am
18. September bleibt, dann wäre eine neue Bundesregierung erst Ende Oktober im Amt. Bereits in der ersten
Novemberwoche muss aber eine Entscheidung über die
Höhe des Rentenbeitragssatzes für 2006 getroffen werden. Im Hinblick auf dieses enge Zeitfenster hätte eine
unionsgeführte Regierung gar keine Chance, mit struktuAndreas Storm
rellen Änderungen das massive Finanzloch in der Rentenkasse zu stopfen.
({11})
Die verbrannte Erde, die Rot-Grün nach sieben Jahren
bei den Rentenkassen hinterlässt, kann die Union nicht
innerhalb von sieben Tagen wieder aufforsten.
({12})
Allein aus diesem Grund müssen wir wohl oder übel
die rot-grüne Kröte schlucken.
({13})
Die Alternative, Frau Lotz, wäre, unmittelbar nach der
Bundestagswahl das dann unvermeidliche Ansteigen des
Rentenbeitragssatzes hinzunehmen; das hat auch der
Kollege Kolb von der FDP vorgestern in der Ausschusssitzung zugegeben. Er will in dem Fall lieber einen Beitragssatzanstieg in Kauf nehmen. Herr Kollege Kolb, ein
Anstieg des Rentenbeitragssatzes auf 20,3 Prozent im
kommenden Jahr - das wäre realistisch -, ohne die Möglichkeit einer Entlastung für Arbeitnehmer und Wirtschaft bei den Lohnnebenkosten an anderer Stelle, wäre
von der Signalwirkung her aber eher noch schädlicher.
({14})
Aus diesem Grunde werden wir uns heute bei der Abstimmung hier im Bundestag der Stimme enthalten und
den Gesetzentwurf im Bundesrat passieren lassen. Ich
möchte aber an dieser Stelle noch einmal betonen, vor
allem in Richtung Mittelstand, wie schwer uns diese
Entscheidung gefallen ist und noch fällt.
({15})
Nach sieben Jahren steht Rot-Grün vor den Trümmern einer gescheiterten Rentenpolitik. Sämtliche rentenpolitischen Ziele werden meilenweit verfehlt. Die
Menschen wissen nicht mehr, woran sie sind. Die Jungen wissen nicht, welche Beitragsbelastungen auf sie
zukommen, und die Älteren sind zutiefst verunsichert,
nachdem mit Nullrunden und Kürzungen eine Notmaßnahme an die andere gereiht worden ist. Die derzeitige
Sozialministerin hat in drei Amtsjahren drei Nullrunden
bei der Rente zu verantworten. Das hat es in der Geschichte der deutschen Sozialpolitik noch nie gegeben.
Damit muss Schluss sein. Wir brauchen einen rentenpolitischen Neubeginn. Wir müssen von der kurzatmigen
Rentenpolitik von Rot-Grün wegkommen,
({16})
einer Rentenpolitik, die durch jährlich wiederkehrende
Finanzkrisen und willkürliche Eingriffe in das Leistungsrecht gekennzeichnet ist. Wesentliche Faktoren für
die Rentenpolitik müssen wieder Verlässlichkeit und
Vertrauen sein.
Kollegin Lotz, lassen Sie mich eines zu der Frage sagen, wie steht es um das Rentenniveau steht. Sie von
Rot-Grün haben im vergangen Jahr mit Ihrer Rentenreform und mit der Neuregelung der Rentenbesteuerung
das Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung für die junge Generation in einem Maß gesenkt,
({17})
dass bei einer weiteren Absenkung die Rentenversicherung ihre Legitimation verlieren würde.
Das Rentenniveau, auf das sich jemand, der in
Deutschland sein Leben lang mit einem durchschnittlichen Einkommen gearbeitet hat, in der Vergangenheit
verlassen konnte, lag bei etwa zwei Dritteln seines letzten Nettoeinkommens. Durch Ihre Reformen sinkt es für
die junge Generation auf die Größenordnung von etwa
50 Prozent. Damit ist klar: Es gibt keinen Spielraum
mehr für eine weitere Senkung des Renteniveaus. Wer
behauptet, irgendjemand in der Union wolle eine Kürzung des Renteniveaus, der sagt schlichtweg die Unwahrheit.
({18})
Der entscheidende Punkt ist ein anderer. Wir brauchen eine neue Gewichtung zwischen der umlagefinanzierten gesetzlichen Rente und der zusätzlichen kapitalgedeckten Vorsorge. An dieser Stelle liegt ein weiteres
Versagen von Rot-Grün. So richtig Ihre Idee von der
Riester-Rente war, so falsch war die handwerkliche Umsetzung. Heute müssen wir feststellen: Sie ist gescheitert.
({19})
Deswegen wird neben der Konsolidierung der Rentenfinanzen der flächendeckende Ausbau der kapitalgedeckten Altersversorgung die Hauptaufgabe der
Rentenpolitik in der nächsten Wahlperiode sein. Große
Aufgaben liegen vor uns. In den letzten sieben Jahren
sind die Rentenfinanzen gegen die Wand gefahren worden.
({20})
Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein konjunkturbedingtes Loch in der Rentenkasse ist ein Problem, ein Problem, das die Opposition zu Triumphgeheul anstatt zu Lösungen veranlasst.
({0})
Sie haben keine Alternativen, kurzfristig nicht,
({1})
und Sie haben auch langfristig kein Konzept.
({2})
Es ist im Übrigen billige Polemik, Herr Storm, zu behaupten, dass die rot-grünen Rentenreformen kein kurz-,
mittel- und langfristiges Problem der Rentenversicherung gelöst hätten. Wir haben in den letzten Jahren eine
Reihe von Strukturreformen realisiert und wir sind dabei
in der Anpassung der Rentenversicherung an die demographischen Veränderungen wesentliche Schritte vorangekommen. Hätten wir diese Reformen nicht gemacht,
läge der Beitragssatz heute wesentlich höher. Ohne diese
Reformen hätten wir schon heute einen Beitragssatz von
über 22 Prozent.
({3})
Ich nehme an, das wollen auch Sie nicht.
Wir waren auch in den vergangenen Jahren immer
wieder in der Situation, dass wir sehr kurzfristig Maßnahmen ergreifen mussten, um den Beitragssatz zu stabilisieren. Deswegen zahlen beispielsweise die Rentner
und Rentnerinnen inzwischen den vollen Beitrag zur
Pflegeversicherung.
Wir waren und sind uns einig - das möchte ich noch
einmal betonen -, dass eine Erhöhung des Beitragssatzes
Gift für die Konjunktur und den Arbeitsmarkt wäre.
({4})
Wir hatten, Herr Kollege Kolb, angesichts der aktuellen
Kassenlage die Frage zu beantworten, ob eine Erhöhung
des Beitragssatzes die konjunkturelle Entwicklung stärker belasten würde als eine Maßnahme, bei der den
Unternehmen dadurch Kosten entstehen, dass wir den
Zahlungstermin für die Sozialversicherungsbeiträge vorverlegen. Wir hatten auch die Frage zu beantworten, ob
wir den Unternehmen die bürokratischen Belastungen
zumuten können, die ihnen durch das Gesetz unbestreitbar aufgebürdet werden. Das war und ist keine leichte
Entscheidung.
Wir haben die Argumente abgewogen und sind zu
dem Schluss gekommen, dass eine Anhebung des Beitragssatzes das größere Übel wäre. Das ist uns im Übrigen gerade auch in Gesprächen mit mittelständischen
Firmen so bestätigt worden. Auch bei der Anhörung haben wir nicht wirklich etwas anderes gehört. Der Arbeitgeberverband hatte nur anzubieten, dass man doch stattdessen langfristig wirksame Maßnahmen ergreifen sollte
wie die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Wir alle wissen: So berechtigt diese Diskussion auch ist, kurzfristig
lässt sich über solche Maßnahmen kein Problem der
Rentenkassen lösen.
Würde man den Beitragssatz anheben - das ist in der
jetzigen Situation realistischerweise die einzige Alternative -, dann würden auch die Kosten für die Arbeitgeber
steigen, sogar noch stärker. Im Übrigen - auch darauf sei
einmal hingewiesen - würde dann die Differenz zwischen den Brutto- und Nettoeinkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer noch größer. Diese Differenz muss aber begrenzt werden. Sie muss insbesondere
bei einfachen Arbeitsplätzen verringert werden, damit
sich auch einfache Arbeit in Deutschland wieder lohnt.
Die derzeitige konjunkturelle Lage zeigt doch deutlich, dass die Finanzierung der Sozialversicherungen
allein über den Faktor Arbeit Probleme auf der Einnahmenseite verursacht und gleichzeitig der Beschäftigungsquote schadet. So wird die Finanzierung nämlich
abhängig von jeder Flaute. Das ist ein grundlegendes
Problem, das wir lösen wollen. Deshalb diskutieren wir
im Zusammenhang mit der Krankenversicherung über
die Bürgerversicherung. Wir sind davon überzeugt, dass
wir uns auch in der Alterssicherung auf Dauer kein System leisten können, das Beamte und Selbstständige außen vor lässt.
({5})
Ich habe noch nicht gehört, dass Sie, meine Damen und
Herren von der Union, überhaupt über so etwas nachdenken.
({6})
Natürlich ist es richtig, dass man Wachstum braucht,
um Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Wachstum aber kann
sich unterschiedlich intensiv auf die Beschäftigung auswirken. Man muss auch überlegen, was Wachstum
hemmt oder fördert. Dazu kann ich nur sagen, dass gerade die Belastung durch höhere Beitragssätze ganz bestimmt nicht der richtige Weg ist.
Jetzt haben wir von Ihnen, meine Damen und Herren
von der Union, gehört, dass Sie dieses Gesetz nicht blockieren wollen, anders als so viele andere Gesetze zuvor.
Es fällt mir schwer, Sie dafür zu loben. Sie sagen, der
Grund dafür sei, dass das Zeitfenster im Herbst zu kurz
sei und Sie das nicht mehr revidieren könnten. Ich
könnte Ihnen jetzt vorrechnen, dass das nicht unbedingt
ein Problem ist; aber lassen wir das. Eigentlich verhält es
sich doch so, dass Sie bisher noch nicht einmal wissen,
mit welchem Rentenkonzept die Union vor die Wählerinnen und Wähler treten will.
({7})
Nach den bisherigen Beschlüssen von Union und FDP
soll es möglich sein, nach 45 Beitragsjahren abschlagsfrei in Rente zu gehen. Dieser Vorschlag kostet 5 Milliarden Euro: 5 Milliarden zulasten der Kassen, was sich in
höheren Beitragssätzen niederschlagen wird, 5 Milliarden zulasten des Arbeitsmarktes. Wollen Sie dafür gewählt werden?
Oder: Die Union hat höhere Renten für Kindererziehung und gleichzeitig niedrigere Beiträge im Jahr 2020
vorgeschlagen, also die Quadratur des Kreises. Wollen
Sie mit solchen Pseudokonzepten
Frau Kollegin Bender!
- ich komme zum Schluss, Herr Präsident - tatsächlich vor das Volk treten?
({0})
Ich sage Ihnen jedenfalls: Wir sorgen mit diesem Gesetz dafür, dass im Herbst keine Beitragssatzerhöhung
ansteht. Ihnen von der Opposition fällt dazu nichts anderes ein.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
einer Debattenzeit von gerade einmal einer halben
Stunde - manche hätten sogar gern ganz auf die Debatte
verzichtet ({0})
soll heute ein Gesetz auf den Weg gebracht werden, das
in seiner negativen Wirkung auf die weitere gesamtwirtschaftliche Entwicklung überhaupt nicht überschätzt
werden kann. Denn, Frau Kollegin Lotz, die mit dem
Vorziehen des Fälligkeitstermins verbundene Zuführung
von 20 Milliarden Euro an Liquidität an die Sozialkassen ist eben keine wundersame Geldvermehrung, wie
Sie glauben machen wollen, sondern wirkt sich in ebendieser Größenordnung als Liquiditätsentzug gerade für
mittelständische Unternehmen aus und wird sich damit
als ein überaus wirksames Konjunkturdämpfungsprogramm erweisen.
({1})
Wenn man das erkannt hat - das haben Sie ja, Herr
Kollege Storm; Sie haben gesagt, der Grund für die jetzigen Probleme der Rente sei die Arbeitsmarktmisere -,
dann darf man doch nicht Maßnahmen auf den Weg
bringen, die das Ganze noch verschärfen würden,
({2})
und wie ein Bauer handeln, der sich eine Melkmaschine
kauft, aber die Kuh dafür in Zahlung gibt.
({3})
Das kann doch wirklich nicht sein.
Um es konkret zu machen: Für einen Betrieb mit zehn
Beschäftigten ergibt sich bei einem Durchschnittsverdienst von nur 2 500 Euro, also einem Gesamtmonatsbrutto von 25 000 Euro, ein dauerhafter zusätzlicher Finanzierungsbedarf von 10 000 Euro.
({4})
Das ist ein Betrag, den ein mittelständischer Unternehmer mit zehn Beschäftigten in den Zeiten von Basel II
und im fünften Jahr einer konjunkturellen Schwäche
nicht mehr ohne weiteres schultern kann.
({5})
Wenn er von dem Direktor seiner Bank für dieses Vorziehen eine Erweiterung seiner Kreditlinie verlangt, hat
er ein massives Problem. Das ist eine Hürde, über die
viele nicht hinwegkommen können und die für viele Unternehmen das Aus bedeuten dürfte.
Dazu kommt, dass die Kosten der Finanzierung von
Ihnen viel zu niedrig angesetzt werden. Auf das Ergebnis von 400 Millionen Euro kommt man bei einem Zinssatz von 4 Prozent. Aber welcher Mittelständler hat denn
die Chance, sich mit 4 Prozent zu refinanzieren? 8 Prozent sind realistischer; bei einer Kontoüberziehung eher
12 und mehr Prozent. Das heißt, die Kosten werden am
Ende eher bei 1 Milliarde Euro liegen als bei dem, was
Sie angegeben haben.
Auch der bürokratische Aufwand ist unglaublich.
Sie reden in Sonntagsreden von Bürokratieabbau und legen dann einen solchen Gesetzentwurf vor. Künftig müssen regelmäßig - mindestens in Betrieben, die mit Stundenlöhnen arbeiten - zwei Abrechnungen durchgeführt
werden: eine spätestens am drittletzten Bankarbeitstag
des Monats in etwa der Größenordnung, die man erwartet, und eine Spitzabrechnung. Die Kassen müssen das
doppelt verbuchen und haben dafür schon einen entsprechenden Mehraufwand in der Verwaltung angemeldet.
Das macht doch alles keinen Sinn.
({6})
Nein, dieser Gesetzentwurf - ich sage das sehr deutlich, damit hinterher keiner sagen kann, das sei nicht klar
gewesen - führt, wie auch die Vertreter der Verbände in
der Anhörung bestätigt haben, zu einem weiteren Verlust
an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Er
dämpft das ohnehin niedrige Wirtschaftswachstum in
Deutschland zusätzlich und wird die mit zuletzt 40 000
ohnehin schon hohe Zahl an Unternehmenspleiten pro
Jahr deutlich ansteigen lassen, und das insbesondere im
beschäftigungsintensiven Mittelstand.
({7})
Ich sehe, weil das Geld nicht nur in die Rentenkassen,
sondern auch in die anderen Zweige der sozialen Sicherung fließt, die Gefahr, dass deshalb soziale Strukturreformen nicht angegangen werden und sich die Probleme
später umso verschärfter präsentieren werden. Deshalb
muss jeder, der einen stabilen Beitragssatz will, heute
dafür sorgen, dass die Beruhigungspille nicht auf den
Weg gebracht werden kann.
({8})
Das ist auch mein Vorwurf an Sie, Herr Kollege
Storm, und die Kollegen von der Union: Wenn wir nach
dem 18. September zusammen regieren wollen,
({9})
dürfen wir es uns nicht so einfach machen, solche Maßnahmen durchzuwinken, sondern wir müssen uns schon
ein bisschen mehr Mühe geben, als das heute hier offenkundig geworden ist. Es kann nicht sein, dass Sie bei der
gleichen Analyse zu so offenkundig anderen Ergebnissen kommen.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Vierten
und Sechsten Buches Sozialgesetzbuch, Drucksache
15/5574.
Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5705, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung der CDU/CSUFraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 sowie Zusatzpunkt 10 auf:
27 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Sechsundzwanzigsten
Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 15/5671 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({0})
Rechtsausschuss
ZP 10 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages - Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages
- Drucksache 15/5698 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({1})
Rechtsausschuss
Die Reden der Kollegen Wilhelm Schmidt ({2}), Christian Lange ({3}), Christine Lambrecht
- alle SPD-Fraktion -, Dr. Norbert Lammert, CDU/
CSU-Fraktion, Volker Beck ({4}), Bündnis 90/Die
Grünen, und Jörg van Essen, FDP-Fraktion, werden zu
Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/5671 und 15/5698 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Joachim Stünker, Christine Lambrecht, Hermann
Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy
Montag, Volker Beck ({5}), Irmingard ScheweGerigk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novellierung der forensischen DNA-Analyse
- Drucksache 15/5674 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Innenausschuss
Die Reden der Kollegen Joachim Stünker, SPD-Frak-
tion, Dr. Jürgen Gehb, CDU/CSU-Fraktion, Jerzy Mon-
tag, Bündnis 90/Die Grünen, Gisela Piltz, FDP-Fraktion,
und der Bundesministerin Brigitte Zypries werden zu
Protokoll gegeben.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/5674 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 29. Juni 2005, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen allen ein schönes Wochenende
und gute Erholung bis zur vermutlich letzten Sitzungswoche dieser Legislaturperiode.
Die Sitzung ist geschlossen.