Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/3/2005

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Interfraktionell wurde vereinbart, dass am Mittwoch, dem 15. Juni 2005, keine Befragung der Bundesregierung stattfindet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung und zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe ({0}) - Drucksachen 15/3676, 15/3986, 15/4045 ({1}) Zweite Beschlussempfehlung und zweiter Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) - Drucksache 15/5616 Berichterstattung: Abgeordnete Marlene Rupprecht ({3}) Ingrid Fischbach Ina Lenke - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich ({4}) - Drucksache 15/4532 ({5}) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch - Drucksache 15/4158 ({6}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({7}) - Drucksache 15/5616 Berichterstattung: Abgeordnete Marlene Rupprecht ({8}) Ingrid Fischbach Ina Lenke b) Bericht des Haushaltsausschusses ({9}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/5617 Berichterstattung: Abgeordnete Bettina Hagedorn Antje Tillmann Anna Lührmann Otto Fricke Zum Tagesbetreuungsausbaugesetz liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP vor. Zum Gesetzentwurf des Bundesrates zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Bundesministerin Renate Schmidt. ({10})

Renate Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002016

Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Am 1. Januar dieses Jahres ist das Tagesbetreuungsausbaugesetz, das TAG, in Kraft getreten, nachdem der Einspruch des Bundesrates mit der Mehrheit des Bundestages zurückgewiesen worden Redetext war. Schon nach nicht einmal fünf Monaten zeigt sich, dass dieses Gesetz greift. ({0}) Das Land Rheinland-Pfalz hat das Gesetz zum Beispiel zum Anlass genommen, das Programm „Zukunftschance Kinder - Bildung von Anfang an“ zu initiieren und damit die Kinderbetreuung nachhaltig zu verbessern. Große Städte wie Düsseldorf und kleinere wie Felsberg forcieren den Ausbau von bedarfsgerechten Angeboten der Tagesbetreuung für Kinder. Kommunale Spitzenverbände wie der Städte- und Gemeindebund unterstützen das Ausbauprogramm. In mittlerweile 150 lokalen Bündnissen setzen Kommunalpolitiker und -politikerinnen, freie Träger und die Wirtschaft alles daran, das Betreuungsangebot zu verbessern und Eltern die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie zu erleichtern. Ich nehme im Übrigen für mich nicht in Anspruch, dass nur durch das TAG der Ausbau vorangetrieben wird; aber er wird dadurch deutlich beschleunigt. ({1}) Viele Kommunalpolitiker sagen mir, dass sie nur durch die im TAG verankerte Pflichtaufgabe überhaupt die Möglichkeit haben, tätig zu werden. Das TAG gibt also dem Ausbau der Betreuung den notwendigen Kick. ({2}) Um das KICK geht es heute, um den vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Er enthält unter anderem weitere Regelungen, die den Ausbau der Tagesbetreuung flankieren. So wird mit der jetzt vorgesehenen Regelung der Erlaubnispflicht zur Tagespflege der Forderung der Sachverständigenkommission zum Zwölften Kinderund Jugendbericht genauso Rechnung getragen wie den Bedenken, die in der Sachverständigenanhörung geäußert wurden, wo man sich einhellig für eine Erlaubnispflicht zur Tagespflege ausgesprochen hat. Auf der anderen Seite wird ein unverhältnismäßig hoher bürokratischer Aufwand vermieden: Gelegentliche Betreuung, Nachbarschaftshilfe und Verwandtenhilfe bleiben selbstverständlich erlaubnisfrei. Die Tagespflegeerlaubnis soll künftig für bis zu fünf Kinder gelten und nicht mehr wie bisher für jedes einzelne Kind neu beantragt werden müssen. ({3}) Ich weiß, dass bei den Regelungen für die Tagespflege noch Wünsche offen bleiben. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass wir mit den Regelungen des TAG und des KICK in der Tagespflege als qualifizierter Alternative zur stationären Betreuung ein großes Stück vorangekommen sind. ({4}) Im Mittelpunkt dieses Gesetzentwurfes steht jedoch die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Wir machen Schluss mit dem Selbstbedienungsladen Jugendhilfe. Wir sorgen dafür, dass Eltern bei stationärer Unterbringung ihrer Kinder entsprechend ihren Möglichkeiten an den Kosten beteiligt werden. Das Finanzieren teurer Internate für Kinder aus vermögenden Familien, auch wenn es nur Einzelfälle waren, hat damit ein Ende. Bereits in der Anhörung zum Regierungsentwurf des TAG im letzten Jahr wurde deutlich, dass mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz der Ausbau des Kinder- und Jugendhilferechts zu einem modernen, auf Prävention ausgerichteten Gesetz gelungen ist. Neben dieser positiven Bewertung wurde ebenfalls mit großer Einhelligkeit der Änderungsbedarf bei folgenden Eckpunkten angemahnt: Konkretisieren des Schutzauftrages der Jugendhilfe, Stärken der Steuerungsverantwortung des Jugendamtes, Verbessern der Wirtschaftlichkeit dadurch, dass die Kinder- und Jugendhilfe nachrangig eintritt und Aufgaben nicht einfach dort hingeschoben werden können, Verwaltungsvereinfachung insbesondere beim Heranziehen zu den Kosten. Diese Ziele setzen wir jetzt um. Wir verbessern zum Ersten den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gefahren für ihr Wohl. Belastungen wie Arbeitslosigkeit, Trennung und Scheidung, finanzielle Probleme und andere stellen große Herausforderungen an die Familien dar, denen sie sich oftmals nicht mehr gewachsen sehen. Dies erhöht das Risiko von Vernachlässigung und Misshandlung. Die Jugendhilfe ist hier in besonderer Weise gefordert. Zum Zweiten verbessern wir die fachliche und wirtschaftliche Steuerungskompetenz des Jugendamtes, damit vor dem Hintergrund knapper öffentlicher Kassen die Leistungen gezielt den Jugendlichen zugute kommen, die der Unterstützung bedürfen. ({5}) Dies geschieht durch das Eindämmen der Selbstbeschaffung und durch striktere Leistungsvoraussetzungen bei der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche. Zum Dritten wird deutlich gemacht, dass die Jugendhilfe nicht länger der Reparaturbetrieb für die Versäumnisse anderer ist. ({6}) Insbesondere Schulen - da waren wir uns alle hier im Hohen Hause einig - müssen ihrem Erziehungs- und Bildungsauftrag überall nachkommen und dürfen ihre Verantwortung zum Beispiel bei Lese- und Rechtschreibschwächen nicht einfach an die Jugendhilfe abgeben. Damit muss endlich Schluss sein. ({7}) Zum Vierten schließlich wollen wir den Verwaltungsaufwand in den Jugendämtern durch eine Neuregelung der Kostenbeteiligung deutlich mindern, gleichzeitig aber auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Eltern entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit an den Kosten beteiligt werden. Zwischen dem KICK und dem vom Bundesrat vorgelegten KEG, dem Gesetz zur Entlastung der Kommunen, gibt es große Schnittmengen; das gestehe ich hier eindeutig zu. Es gibt aber auch einen wesentlichen Unterschied: Im KICK wird von der notwendigen Weiterentwicklung der Jugendhilfe ausgegangen, die dann auch positive Auswirkungen auf die kommunalen Finanzen hat. ({8}) Das KEG, das Gesetz zur Entlastung der Kommunen, hat die Entlastung der Kommunen als Erstes und nahezu Einziges im Auge, und zwar leider zum Teil ohne ausreichende Rücksichtnahme auf die fachliche Diskussion im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. ({9}) So wird im KEG gefordert, die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, § 35 a SGB VIII, wieder der Sozialhilfe zuzuweisen. Damit wären wir wieder in den Zustand vor der Einführung des § 35 a zurückversetzt, was ein dauerndes Hin- und Herschieben zwischen der Sozial- und der Jugendhilfe zur Folge hätte. Eine Streichung des § 35 a würde aber nicht nur die Abgrenzungsprobleme verschärfen - das habe ich gerade geschildert -, sondern zudem zu Mindereinnahmen in einem Großteil der Kommunen führen, da besser verdienende Eltern dann nach den maßgeblichen Vorschriften des SGB XII nicht entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu den Kosten herangezogen würden. Ich habe bei diesem Gesetzentwurf der unionsgeführten Länder manchmal den Eindruck, dass man dort der irrigen Auffassung ist, durch das Streichen eines Paragraphen verschwänden auch die Menschen, die bisher davon profitiert haben. ({10}) Das gilt übrigens auch für die im KEG vorgesehenen Leistungseinschnitte bei der Hilfe für junge Volljährige. Kurzfristig - das gestehe ich Ihnen zu - würde dadurch sicherlich gespart; mittel- und langfristig aber würde das Geld zum Fenster hinausgeschmissen werden, weil diese Maßnahmen, angefangen bei den Eingliederungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit bis hin zum Strafvollzug - das muss man hier einmal in aller Deutlichkeit sagen -, allemal teurer sind als ein rechtzeitiges Eingreifen der Jugendhilfe, wie wir es mit diesem Gesetz vorsehen. ({11}) Als großer Block bleibt noch die Forderung nach einer Kostenbeteiligung bei ambulanten Leistungen übrig. Diese Forderung lehnen wir deshalb ab, weil zum einen die zu erzielenden Einnahmen kaum die Bürokratie und den Verwaltungsaufwand bei einer einkommensabhängigen Kostenbeteiligung rechtfertigen könnten. Wenn hier aber einkommensunabhängige Kostenbeiträge erhoben würden, würde diese Zugangsmöglichkeit zu frühzeitigen Hilfen und Interventionen zulasten des Kindeswohls, aber auch des Elternrechts zunichte gemacht. Dies würde wiederum zu späteren intensiveren und kostenträchtigeren Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe führen. ({12}) Zum anderen würde die niedrigschwellige Inanspruchnahme von ambulanten Angeboten unmittelbar erschwert. Gerade im Zusammenhang mit einer Gefährdung des Kindeswohls lassen sich Eltern auf eine freiwillige Beratung in der Regel nur höchst zögerlich ein. Wir alle miteinander beklagen doch, dass die Hemmschwelle, zu einer Erziehungs- oder Familienberatung zu gehen, gerade für die Familien besonders hoch ist, die sie eigentlich am meisten brauchen. Eine Kostenbeteiligung würde dieses Problem nur noch verschärfen. ({13}) Die so genannte Finanzkraftklausel, also Jugendhilfe nach Kassenlage, lehnen wir ab. ({14}) Ich freue mich daher aufrichtig - ich war ja bei den Beratungen im Ausschuss dabei -, dass das Gesetz zur Entlastung der Kommunen gleich im gesamten Hohen Haus abgelehnt wird. ({15}) Es genügt den Ansprüchen einer modernen Jugendhilfepolitik genauso wenig wie dem Ziel, den Staat und vor allem die Kommunen zu entlasten. Leider habe ich von der letzten Jugendminister- und Jugendministerinnenkonferenz nicht den Eindruck mitnehmen können, dass dort die Einsicht herrscht, sich mit dem KEG gründlich vergaloppiert zu haben. Dies hat einen Kompromiss, den ich für möglich gehalten hätte, vereitelt. Das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz dagegen enthält überzeugende Antworten auf die aktuellen gesellschaftspolitischen Herausforderungen. Es wird der staatlichen Mitverantwortung für das Aufwachsen junger Menschen gerecht. Es macht keine Abstriche im Leistungsrecht der Kinder- und Jugendhilfe. Junge Menschen und ihre Familien können weiterhin auf das Leistungsangebot vertrauen. Das Instrumentarium der Kinder- und Jugendhilfe wird verbessert, vor allem bei der Risikoabschätzung in Fällen der Kindeswohlgefährdung. Jugendämter werden von überflüssigen Verwaltungsaufgaben entlastet und Eltern entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit an den Kosten beteiligt. Die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe wartet auf dieses Gesetz und die Kommunen brauchen es. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie zu! Tragen Sie vor allen Dingen mit dazu bei, dass dieses Gesetz noch in dieser Legislaturperiode auch im Bundesrat eine Mehrheit findet. Wir alle miteinander brauchen es. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Maria Eichhorn, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, zur Klarstellung: Der Ausbau der nachhaltigen Kinderbetreuung hat mit dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Jahre 1996 begonnen. Die Länder waren hier schon aktiv, lange bevor das Tagesbetreuungsausbaugesetz verabschiedet wurde. Heute geht es um den zweiten Teil des Tagesbetreuungsausbaugesetzes, nämlich um die Kinder- und Jugendhilfe. CDU und CSU wollen eine Kinder- und Jugendhilfe, die den wirklich Hilfebedürftigen auch in Zukunft eine zielgenaue und qualitativ hochwertige Hilfe nachhaltig sichern kann. ({0}) Entscheidend sind für uns folgende Prinzipien: Subsidiarität, Stärkung der Eigenverantwortung, Vermeidung von Missbrauch. Das am 1. Januar 1991 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz hat sich in seiner Zielsetzung bewährt und zu einer Qualifizierung der Angebote im Interesse der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien beigetragen. 14 Jahre Praxiserfahrung zeigen aber auch die Notwendigkeit, einzelne Bereiche dieses Sozialgesetzes, deren Wirksamkeit und Kosten-Nutzen-Relation auf den Prüfstand zu stellen. Ziel der Prüfungen ist es, die Handlungsfähigkeit in der Kinder- und Jugendhilfe, das heißt: eine qualitativ hochwertige und kostenbewusste Hilfe, auch in Zukunft zu sichern. Wir beobachten mit großer Sorge, dass die Ausgaben der Jugendhilfe von rund 14,3 Milliarden Euro im Jahre 1992 auf rund 20,6 Milliarden Euro im Jahre 2003 angestiegen sind. Wir wollen gemäß der ursprünglichen Intention des Kinder- und Jugendhilfegesetzes die Prävention und Erziehung in den Familien wieder stärker fordern. ({1}) Dafür müssen wir aber auch die Mittel gezielt einsetzen. Dabei steht die soziale Verantwortung für die Hilfebedürftigen, die besonders auf die Solidarität der Gesellschaft angewiesen sind, im Mittelpunkt. Allerdings müssen wir bei der Gewährung von Sozialleistungen auch die Rahmenbedingungen beachten. Sozialpolitik kann nur funktionieren, wenn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Staates und seiner Leistungsträger sichergestellt ist. Deshalb können finanzpolitische und ökonomische Gesichtspunkte nicht völlig außer Acht gelassen werden. Es besteht dringender Handlungsbedarf. Dieser wird seitens der Länder und der Kommunen bereits seit langem angemahnt. So wurde in einer gemeinsamen Entschließung, initiiert von den Ländern Bayern und Nordrhein-Westfalen, im Mai 2004 im Bundesrat beschlossen, die Bundesregierung und den Bundestag aufzufordern, eine substantiierte Änderung des SGB VIII vor allem mit dem Ziel der Entlastung der Kommunen und Länder auf den Weg zu bringen. Nordrhein-Westfalen war damals bekanntlich SPD-regiert. Die Unionsfraktion hatte dazu bereits im Rahmen des Tagesbetreuungsausbaugesetzes zahlreiche Vorschläge gemacht. Offensichtlich hat der Druck auch Ihrer Kommunalpolitiker bei Ihnen endlich Wirkung gezeigt. Wir begrüßen, dass Sie zahlreiche Vorschläge von uns im Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz aufgenommen haben. ({2}) - Schauen Sie unsere Änderungsanträge vom letzten Jahr an; dann sehen Sie genau, was Sie übernommen haben. ({3}) Dazu gehört der grundsätzliche Nachrang der Kinderund Jugendhilfe gegenüber anderen Sozialleistungssystemen, ({4}) die stärkere Steuerungs- und Finanzverantwortung der Jugendämter sowie der verbesserte Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung. Besonders wichtig ist uns die stärkere Kostenbeteiligung von Eltern, jungen Volljährigen und Lebenspartnern, insbesondere die Möglichkeit der Kindergeldanrechnung bei Unterbringung von Kindern außerhalb des Elternhauses. Eine nachhaltige Sicherung der Versorgungsstrukturen kann nur durch einen effizienten Mitteleinsatz erreicht werden. Die Jugendämter wissen am besten, wie die Prioritäten zu setzen sind, und brauchen entsprechende Entscheidungsfreiheit. Kinder- und Jugendhilfe dient grundsätzlich der Erziehung, Bildung und Betreuung junger Menschen. Dies ist ihre zentrale Aufgabe. Auf die Kernaufgaben der Kinder- und Jugendhilfe müssen wir uns endlich wieder besinnen. Diese sind die Förderung von Kindern und Jugendlichen in ihrer Entwicklung zu eigenverantwortlichen Menschen, die Unterstützung von Eltern in schwierigen Erziehungssituationen und die nachhaltige Förderung der Erziehung in Familien. Dazu sind ziel- und zweckgerichtete Leistungen notwendig. Vor allem müssen Mitnahmeeffekte und falsche Anreize beseitigt werden, die eine wesentliche Ursache für den Kostenanstieg in der Kinder- und Jugendhilfe sind. ({5}) Fälle, in denen der Besuch einer teuren Eliteprivatschule im Ausland über die Eingliederungshilfe nach dem SGB VIII finanziert wird, zeigen die Mitnahmeeffekte und die falschen Anreizwirkungen des § 35 a SGB VIII. Das müssen wir ändern. ({6}) Die Praxis zeigt auch, dass diese Vorschrift von Interessengruppen aufgrund des ausufernden Tatbestandes zunehmend als freier Markt verstanden wird. Folge ist, dass zu viele Leistungen, zum Beispiel die Behebung von Lernschwächen und schulischen Defiziten, auf die kommunale Jugendhilfe abgewälzt werden. Jugendamtsleiter, mit denen ich in Verbindung stehe, insbesondere aus meinem Wahlkreis, berichten mir, dass es besonders im Bereich von seelisch behinderten jungen Menschen immer schwieriger wird, zielgerichtete Hilfen anzubieten. So gibt es nach wie vor erhebliche Vollzugsprobleme in der Praxis. Sowohl die Bedarfsermittlung als auch die Entscheidung über notwendige und geeignete Hilfeangebote konnten bis heute nicht zufrieden stellend gelöst werden. Auch Sie, Frau Ministerin, haben in der abschließenden Ausschussberatung am Mittwoch festgestellt, dass die Kinder- und Jugendhilfe nicht weiterhin Aufgaben wahrnehmen dürfe, für die sie nicht gedacht sei. Deshalb wollen wir mit einer Neufassung des § 35 a SGB VIII ein einheitliches Recht für alle jungen Menschen mit Behinderungen schaffen. ({7}) Handlungsbedarf besteht aus unserer Sicht auch bei der Hilfegewährung für junge Volljährige. Bisher können junge Volljährige auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres, in Einzelfällen sogar bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres, erstmals Jugendhilfeleistungen in Anspruch nehmen. Fachleute haben jedoch erhebliche Zweifel, ob diese Regelung die beabsichtigte Wirkung erzielt. Jugendhilfeleistungen für über 21-Jährige sollten daher nach dem Willen des Gesetzgebers auch nach derzeit geltender Gesetzeslage die Ausnahme sein. In der Praxis hat sich dies jedoch zum Regelfall entwickelt. Die Folgen sind massive Abgrenzungsprobleme zwischen Jugend- und Sozialhilfe sowie Zuständigkeitsstreitigkeiten. Durch die Neufassung, wie wir sie wollen, würde erreicht, dass bei jungen Volljährigen nur begonnene Jugendhilfeleistungen fortgesetzt werden und Leistungen der Jugendhilfe spätestens mit Vollendung des 21. Lebensjahres beendet sind. Das lehnen Sie jedoch ab. Die gesellschaftliche Integration junger Menschen sowie die Entfaltung ihrer Persönlichkeit erfolgt vor allem im Rahmen schulischer oder beruflicher Ausbildung. Wir wollen die Hilfegewährung gemäß dem Grundsatz „Fördern und fordern“ an eine schulische oder berufliche Ausbildung koppeln. Damit wird eine Grundlage geschaffen, die jungen Menschen ein eigenständiges Leben ermöglicht. Leider haben Sie auch dieses abgelehnt. Das ist völlig unverständlich. ({8}) Die von uns geforderte Öffnungsklausel ist aus Sicht der Länder notwendig. Einziges Ziel dieser Änderungen ist, Länder und Kommunen bei einem weiteren qualitativen Ausbau der Kinderbetreuung zu unterstützen. Der qualitätsorientierte und bedarfsgerechte Ausbau der Kindertagesbetreuung hat für Länder und Kommunen bereits seit Jahren höchste Priorität. Die Länder waren aktiv, lange bevor das Tagesbetreuungsausbaugesetz von Ihnen vorgelegt wurde. Um einen nachhaltigen Ausbau der Kinderbetreuung voranzutreiben, erarbeiten viele Länder derzeit eigene Gesetze - und das ist gut so. Dazu sind aber strukturelle Rahmenbedingungen notwendig, die der Bund schaffen muss. Sie haben in der abschließenden Ausschussberatung unseren Änderungsantrag hierzu abgelehnt. Damit wird der gesellschaftlich notwendige Ausbau der Kinderbetreuung wesentlich erschwert. Die kommunalen Haushalte brauchen dringend mehr Entlastung. Vor der Nordrhein-Westfalen-Wahl hatten wir uns mit Ihnen zusammengesetzt, um im Interesse der Kommunen gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Wir hielten und halten das auch nach wie vor für richtig. Leider haben Sie nach der Wahl diese gemeinsamen Gespräche aufgekündigt und unsere Änderungsanträge abgelehnt, obwohl Sie unsere Vorschläge vorher durchaus als berechtigt und richtig angesehen hatten. Das bedauern wir sehr. ({9}) Damit ist leider deutlich geworden, dass es Ihnen nicht um die Sache, sondern nur um Taktik vor der NordrheinWestfalen-Wahl ging. ({10}) Meine Damen und Herren, Ihre Behauptung, mit dem Gesetz zur Entlastung der Kommunen würde ein Kahlschlag in der Kinder- und Jugendhilfe erfolgen, ({11}) geht völlig ins Leere. Die Einsparungen daraus sind mit 250 Millionen Euro berechnet. Die Einsparungen bei Ihrem Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz liegen bei 200 Millionen Euro. 50 Millionen Euro mehr an Einsparungen können keinen Kahlschlag bewirken. ({12}) Das KEG ist jedoch zielgenauer, um Missbrauch besser verhindern zu können. Die im Gesetz zur Entlastung der Kommunen formulierte Finanzkraftklausel gibt immer wieder Anlass zu Diskussionen. In diesem Zusammenhang darf ich jedoch darauf hinweisen, dass Sie in Ihrem Entwurf des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch in § 70 selbst gefordert haben, die Finanzkraft der öffentlichen Haushalte angemessen zu berücksichtigen. Wir haben dies damals abgelehnt, weil wir notwendige Leistungen nicht infrage stellen wollten. Zur Finanzkraftklausel, die jetzt im KEG formuliert ist, hätten wir gerne durch einen Änderungsantrag eine Klarstellung erreicht. Doch alle Versuche zur Klarstellung sind an Ihnen gescheitert. Daher haben wir nun in unserem Entschließungsantrag unsere Haltung zur Finanzkraftklausel dargestellt. Wir wollen vermeiden - ich denke, darin sind wir uns einig -, dass diese Klausel zu uneinheitlichen Lebensbedingungen führt. ({13}) Um dies deutlich zu machen und Ihnen keine Gelegenheit zur Missdeutung zu geben, werden wir den Gesetzentwurf in der vorliegenden Fassung ablehnen. ({14}) Es wird wohl niemand in Abrede stellen, dass die kommunalen Haushalte mehr Entlastung brauchen. Ihre Vorschläge gehen nicht weit genug. Deswegen lehnen wir sie ab. Wir haben unsere umfassenden Forderungen, die ziel- und zweckgerichtet sind und wesentlich mehr zur Entlastung der Kommunen beitragen als Ihr Vorschlag, im vorliegenden Entschließungsantrag formuliert. Mit einer neuen Politik in Deutschland wird es uns möglich sein, den Kommunen die notwendige Entlastung zu gewähren, dabei aber eine qualitativ hochwertige, zielgenaue und nachhaltige Kinder- und Jugendhilfe zu gewährleisten. Wir wollen mit unseren Vorschlägen erreichen, dass die präventiven Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe und die Förderung von Kindern und Jugendlichen wieder stärker im Vordergrund stehen. ({15}) Das werden wir nach einer erfolgreichen Bundestagswahl in Angriff nehmen. Ich danke Ihnen. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Jutta Dümpe-Krüger, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Jutta Dümpe-Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003519, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Eichhorn, Ihre Vorschläge gehen wirklich zu weit. Deswegen lehnen wir sie ab. Ich glaube, dass es auch keinen Sinn macht, wenn Sie hier immer wieder ausufernde Leistungen, Mitnahmeeffekte und Missbrauchsfälle beschreiben, die es in dieser Art und Weise nicht gibt, wie auch in zwei Anhörungen deutlich wurde. ({0}) Wir alle wissen - und zwar nicht nur aus den Anhörungen -, dass die Jugendhilfe schon seit Jahren keine Luxusleistungen mehr erbringt. ({1}) Finanzkraftklausel, Einsparungen auf dem Rücken von jungen Menschen mit seelischen Behinderungen, Einschränkung des Wunsch- und Wahlrechts, Kostenbeteiligung bei ambulanten Leistungen, Sparen auf Kosten von jungen Volljährigen, Lockerung des Datenschutzes, Jugendhilfe nur noch unter deutschen Eichen - das ist die schwarze Horrorliste des Gesetzes zur Entlastung der Kommunen, kurz: KEG. Seine einzige Botschaft war: Die Kommunen müssen entlastet werden. Im Unterschied dazu ist das Ziel des rot-grünen KICK die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Wir sind aus fachpolitischer Sicht an die Frage herangegangen, wo noch Einsparungen möglich sind. Sie sind nach dem Motto vorgegangen: Wir sparen alles ein und dann gucken wir einmal, was passiert. Das unterscheidet uns voneinander. Kurzum: Das KICK hat vor allem den fachlichen Blick auf die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe gerichtet. Es entlastet die Kommunen zusätzlich, aber nicht durch Leistungskürzungen. Das ist der Unterschied. ({2}) Zum KEG hat Ihnen die Caritas ins Stammbuch geschrieben: Der Gesetzentwurf beschränkt sich weitgehend auf die Einführung fragwürdiger Instrumente zur schlichten Kostenheranziehung, anstatt innovative Lösungen sozialer Probleme zu ermöglichen und so einen wirtschaftlichen Ressourceneinsatz zu fördern, Selbsthilfekräfte zu stärken und damit die soziale Hilfe auch wirtschaftlich-effektiver zu gestalten. So weit, so schlecht. Vor zwei Tagen im Ausschuss haben Sie dann eine vermeintliche Kehrtwende hingelegt und gegen das KEG gestimmt, ({3}) nachdem Sie zwei Jahre lang eine Attacke nach der anderen - immer nach dem Motto: „Hau alles weg, was sozial ist“ - gegen die Kinder- und Jugendhilfe gefahren haben. Nachdem Sie die gesamte Fachwelt auf die Barrikaden gebracht und die Praktiker das Fürchten gelehrt haJutta Dümpe-Krüger ben, könnte man nun mit ein bisschen gutem Willen meinen, Sie seien lernfähig. Man könnte sogar auf die Idee kommen, Sie hätten verstanden, dass man Kinder und Jugendliche nicht nur in schönen Sonntagsreden spazieren führen darf und montags dann fordern kann, es müsse nun Jugendhilfe nach Kassenlage geben und auf Kosten und zulasten unserer Kinder und Jugendlichen müssten die kommunalen Haushalte saniert werden. Man muss leider feststellen: Sie haben zwar einmal kurz in die richtige Richtung geblinkt, als Sie das KEG versenkt haben. Aber dann sind Sie zügig geradeaus in die falsche Richtung gefahren. Sie haben einen Entschließungsantrag und etliche Änderungsanträge zum KICK eingebracht, mit dem Sie unser KICK verschlimmbessern wollen, und zwar indem Sie mit dem Griff in die Mottenkiste ziemlich alles wieder hineinschreiben, was schon vorher im KEG stand, mit Ausnahme der Finanzkraftklausel. Schauen wir uns das anhand von drei Beispielen einmal an. § 35 a, Eingliederungshilfe für junge Menschen mit seelischen Behinderungen: Im KEG wollten Sie § 35 a komplett streichen, und zwar angeblich aus Gründen der Gleichbehandlung und zur Vermeidung von Abgrenzungs- und Zuständigkeitsproblemen. In Ihrem Änderungsantrag fassen Sie ihn so, dass es faktisch einer Streichung gleichkommt. Eingliederungsleistungen wollen Sie gewähren, … wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, vor allem nach Art und Schwere der Behinderung Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Kindern und Jugendlichen mit einer anderen seelischen Behinderung kann Eingliederungshilfe gewährt werden. Ich habe es Ihnen schon im Ausschuss gesagt: Welches Tatbestandsmonster wollen Sie damit eigentlich schaffen? Der einzige Grund ist: Sie wollen die Jugendhilfe zur behindertenfreien Zone machen, weil Sie Kosten sparen wollen. Sie sorgen gleichzeitig mit solchen Formulierungen dafür, dass Eltern klagen müssten, um überhaupt noch Hilfen für ihre Kinder zu bekommen. Dazu bedürfte es eines riesigen Verwaltungsaufwandes und mindestens zwei Gutachten, nämlich zu Prognose und Krankenstand. Zu den niedrigschwelligen Angeboten: Schon das KEG sah eine Eintrittsgebühr für Erziehungsberatung vor. Städte und Gemeinden sollten die Möglichkeit bekommen, bei ambulanten Hilfen zur Erziehung und Erziehungsberatung eine Kostenbeteiligung vorzusehen. Gleiches Spiel in Ihrem Änderungsantrag: Sie stellen denjenigen, die am dringendsten Hilfe brauchen und für die man versucht hat, niedrigschwellige Angebote - diese haben ihren Namen nicht umsonst - zu schaffen, Hürden in den Weg. Damit schließen Sie die Betroffenen von Beratung und Hilfe aus. § 41, Hilfen für junge Volljährige: Hier haben Sie ebenfalls nicht dazugelernt. Sie schreiben in Ihrem Änderungsantrag, dass Sie bei jungen Volljährigen nur begonnene Jugendhilfeleistungen fortsetzen wollen, dass die Ersthilfe für junge Volljährige komplett wegfallen soll und dass die Leistungen ab dem 21. Lebensjahr auf jeden Fall beendet sein sollen. Besonders bösartig ist die Formulierung, dass eine Maßnahme über den Zeitpunkt der Volljährigkeit fortgesetzt werden kann, wenn … der junge Volljährige bereit ist, an der Maßnahme mitzuwirken, und diese Maßnahme für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung aufgrund der individuellen Situation des jungen Volljährigen notwendig ist. ({4}) Dies gilt nur, wenn der junge Volljährige an einer schulischen oder beruflichen Bildungs- oder Eingliederungsmaßnahme teilnimmt. In Ihrem Entschließungsantrag setzen Sie dann noch eins oben drauf, indem Sie feststellen: Im Sinne eines echten „Förderns und Forderns“ soll die Gewährung von Leistungen an die schulische oder berufliche Ausbildung der jungen Menschen gekoppelt werden. ({5}) Jede Hilfe zur Erziehung macht nur Sinn, wenn der Betroffene mitarbeitet; das ist aber heute schon so. Das sollten Sie eigentlich wissen. Es wäre ehrlicher, wenn Sie zugäben, dass Sie jungen Menschen, die in zunehmendem Maße als junge Erwachsene Hilfen für den schwierigen Ablösungsprozess und den Übergang in die Selbstständigkeit brauchen, von Hilfen ausschließen wollen. Dass Sie genau das vorhaben, kann jeder nachlesen. Sie sind ja der Meinung, dass jungen Volljährigen „notwendige Hilfe zur Selbsthilfe … durch die Leistungen zur Eingliederung aus dem SGB II angeboten werden“ soll. ({6}) Wenn man aber weiß, dass das SGB II ausschließlich auf schnelle Vermittlung junger Menschen ausgerichtet ist und dass gerade die unter § 41 SGB VIII fallenden jungen Menschen nicht zu denjenigen gehören, die schnell vermittelt werden können, dann verschlägt Ihr Motto „Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner“ einem wirklich die Sprache. ({7}) Kindern und Jugendlichen in Notlagen muss geholfen werden. Dazu brauchen die Fachkräfte vor Ort Handlungssicherheit und auch klare gesetzliche Regelungen. Diesem Anspruch wird unser KICK gerecht: Es setzt die Not von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern in den Mittelpunkt und nicht die Finanzen. Wir haben die Jugendhilfe mit unserem Gesetzentwurf weiterentwickelt, um sie zukunftstauglich zu machen. Ich sage aber auch: Wir können uns auf diesen Lorbeeren nicht ausruhen. Dazu sind die Problemlagen zu vielfältig. Wir müssen unseren Blick weiter verstärkt auf die Probleme junger Menschen in prekären Lebenslagen richten und aus dieser Perspektive neue Maßnahmen entwickeln und erproben. Dazu gehören mehr Investitionen in die Jugendförderung und in die Prävention. Fachliche Standards müssen gesichert werden. Lassen Sie mich abschließend sagen: Dazu gehört für mich auch, dass alle Kinderregelungen - unabhängig von der Art der Behinderung eines Kindes - ins SGB VIII gehören. Es geht nicht an, dass wir die Regelungen, die Kinder und Jugendliche mit seelischen Behinderungen betreffen, ins SGB XII abschieben. In diesem Fall könnte ihnen nicht so gut geholfen werden wie bei einer Verankerung im SGB VIII. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Haupt, FDPFraktion.

Klaus Haupt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das SGB VIII hat sich seit seiner Einführung 1991 grundsätzlich bewährt; dennoch hat sich in der Praxis Reformbedarf gezeigt, der über die bisherigen Änderungen hinausgeht. Sowohl mit dem Gesetzentwurf des Bundesrates zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich, KEG, als auch mit dem Koalitionsentwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe, KICK - auch ich möchte diese Abkürzungen einmal benutzen -, will man eine höhere Effektivität in der Kinder- und Jugendhilfe. Angesichts der angespannten Finanzlage der Kommunen müssen auch einzelne Leistungen der Kinderund Jugendhilfe kritisch überprüft werden. Wer jedoch in der Jugendhilfe sparen will, darf nicht vergessen: Ausgaben für unsere Kinder und Jugendlichen sind Investitionen in die Zukunft unserer Gesellschaft. ({0}) Falsches Sparen an dieser Stelle kann schlimme Folgen haben. Auf steigende Fallzahlen bei einzelnen Hilfearten kann die Politik nicht einfach mit der Abschaffung der betreffenden Leistungen reagieren. ({1}) Wenn Kinder und Eltern immer mehr tatsächlichen Unterstützungsbedarf haben, müssen wir viel mehr nach den Ursachen und nach besseren Lösungen fragen. ({2}) Wenn Jugendarbeit den heutzutage sehr großen Anforderungen nicht gerecht werden kann, dann trägt die ganze Gesellschaft die negativen - auch die finanziellen - Folgen. Die Kinder- und Jugendhilfe hat am Sozialbudget unseres Landes keinen entscheidenden Anteil. Der Anteil der Kinder- und Jugendhilfe an den Ausgaben der Kommunalhaushalte ist für die insgesamt schwierige Finanzsituation nicht hauptsächlich verantwortlich. Doch die Haushaltslage gebietet es, dass alle kinder- und jugendpolitisch verantwortbaren Einsparpotenziale aktiviert werden. Hierbei dürfen wir die Kommunen nicht allein lassen. Der Bund muss durch die Einführung des strikten Konnexitätsprinzips, wie es die FDP in einem Gesetzentwurf vorgeschlagen hat, in die Pflicht genommen werden, die Finanzierungsverantwortung für die von ihm erlassenen Gesetze im Kinder- und Jugendhilfebereich zu übernehmen. Die Länder sind in der Pflicht, die vom Bund an die Kommunen gezahlten Mittel zur Bewältigung der Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe wirklich bereitzustellen. Gleichzeitig sind aber auch die Kommunen aufgefordert, noch stärker voneinander zu lernen, um Maßnahmen effizienter zu steuern. Das KEG enthält weit reichende Änderungsvorschläge, nicht nur im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, sondern auch in Bezug auf SGB I, SGB XI und SGB XII. Die FDP sieht zwar die gute Einsparabsicht, kann das KEG insgesamt aber nicht mittragen. Der Gesetzentwurf enthält im Bereich des SGB XII und des SGB I Regelungen, die in der vorgesehenen Fassung sozialpolitisch bedenklich und daher abzulehnen sind. ({3}) Dazu zählt vor allem die geplante Übertragung weitgehender Kompetenzen auf die Länder bei der Festlegung der Regelsätze in der Sozialhilfe. Im Bereich des SGB XII kann eine solche Freigabe der Regelsätze zu unzumutbaren Härten führen, wenn gerade finanzschwache Länder von ihren Regelsatzkompetenzen Gebrauch machen. Aber auch hinsichtlich der Kinder- und Jugendhilfe sind im KEG Änderungen geplant, die mit der FDP schlicht und einfach nicht zu machen sind. ({4}) Eine Einschränkung des Wunsch- und Wahlrechts durch die vorgeschlagene Änderung des § 5 auf absolut kostengleiche oder kostengünstigere Maßnahmen würde das Pluralismusgebot in der Kinder- und Jugendhilfe im Kern treffen und ist daher abzulehnen. ({5}) Die Praxis hat die Notwendigkeit verdeutlicht, intensivpädagogische Maßnahmen im Ausland besser zu steuern und die Qualitätssicherung zu gewährleisten. AlKlaus Haupt lerdings sollten solche Maßnahmen als Ausnahmefall eine Option für die Kinder- und Jugendhilfe bleiben. Die vorgesehene Einschränkung der Hilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche und die Verlagerung dieser Leistungen in die Sozialhilfe können von uns nicht mitgetragen werden. Es ist zu bezweifeln, dass aus der Sozialhilfe heraus mit gleicher Qualität wie bisher durch die Kinder- und Jugendhilfe Hilfen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen erbracht werden können. Außerdem ist es schlicht ein Verschiebebahnhof. ({6}) Der Einschränkung der Jugendhilfemaßnahmen für junge Volljährige kann ich ebenfalls nicht zustimmen. Diese Leistungen sollen auch künftig in Ausnahmefällen über die Vollendung des 21. Lebensjahres hinaus möglich sein. Denken Sie an Haftentlassene, denken Sie an Frauen, die zur Zwangsheirat verdammt waren. Dagegen kann die FDP dem KICK zustimmen, nachdem die Koalition FDP-Forderungen entgegengekommen ist - wofür ich mich bedanke - und von einem generellen Erlaubnisvorbehalt für jedes einzelne Tagespflegeverhältnis Abstand genommen hat. Eine solche Regelung wäre realitätsfremd gewesen und hätte vermutlich noch mehr Tagesmütter in die Schwarzarbeit getrieben. ({7}) Das KICK enthält sinnvolle Weiterentwicklungen der Kinder- und Jugendhilfe. Zum Beispiel werden durch eine Stärkung der Steuerungskompetenzen der Jugendämter, insbesondere durch Einschränkung bei der Selbstbeschaffung von Leistungen und bei intensivpädagogischen Maßnahmen im Ausland, Einsparmöglichkeiten für die Kommunen eröffnet. Ich begrüße auch ausdrücklich die angemessene Kostenbeteiligung von Eltern und die Berücksichtigung des Kindergeldvorteils bei Leistungen, die den Unterhalt des Kindes aus öffentlichen Kassen sichern. Auch die Konkretisierung des Schutzauftrages des Jugendamtes und die Klarstellung der Befugnisse bei Inobhutnahme sind ein Fortschritt. Eine scharfe Prüfung von Personen mit bestimmten Vorstrafen im Hinblick auf ihren Einsatz in der Kinder- und Jugendhilfe sollte eigentlich schon heute selbstverständlich sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit KICK und KEG stand die Wertigkeit der Kinder- und Jugendpolitik auf dem Prüfstand. Wir Liberalen haben uns kritisch, sachorientiert und konstruktiv - auch mit zwei Anträgen bei der Suche nach nachhaltigen Lösungen eingebracht und sind dabei auch über parteipolitische Schatten gesprungen. Das ist in dieser Zeit nicht selbstverständlich. Ich kann Ihnen sagen: So werden wir es auch weiterhin tun, wenn es um die Zukunft unserer Gesellschaft, wenn es um Kinder und Jugendliche geht. Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden über das TAG, was auf Amtsdeutsch Tagesbetreuungsausbaugesetz heißt. Noch einmal übersetzt: Es geht um Kinder und es geht um ihre Betreuung in Kindertagesstätten. Der PDS geht es außerdem um eine garantierte und um eine qualifizierte Betreuung. ({0}) Rein statistisch ist Deutschland bei der Kinderbetreuung Schlusslicht in Europa. Hinzu kommt ein großes Ost-West-Gefälle. 37 Prozent aller Kinder bis drei Jahre können in den neuen Bundesländern betreut werden, was wesentlich an der Mitgift aus DDR-Zeiten liegt. In den alten Bundesländern liegt die Betreuungsquote im Durchschnitt bei peinlichen 2,7 Prozent. Das umschreibt die ganze Misere. ({1}) Nun soll die Tagesbetreuung ausgebaut werden. Das ist der Sinn des Gesetzes. Die PDS begrüßt das ausdrücklich. ({2}) CDU/CSU haben das Gesetz bislang angefochten. Ihr Argument: Die Kinderbetreuung falle nicht in die Kompetenzen des Bundes, sondern sei Sache der Länder. Ich merke an: Den Kindern und Eltern hilft das wenig, zumal die unionsregierten Länder bei der Kinderbetreuung am schlechtesten dastehen. Außerdem - so argumentieren Kritiker des Gesetzes würden die Kommunen damit finanziell überlastet. Sie wollen Kinderbetreuung bestenfalls nach Kassenlage. Ich merke an: Damit würde alles so bleiben, wie es ist, und zwar zulasten der Kinder und zulasten der Eltern. Rot-Grün veranschlagt summa summarum vier Milliarden Euro, davon 1,5 Milliarden Euro, die den Kommunen, wie gesagt wird, dank Hartz IV erspart würden. Dazu kann ich nur anmerken: Das sind, wenn überhaupt, Peanuts im Vergleich zu den Steuergeschenken, die RotGrün an Wohlhabende und Unternehmen verteilt hat ({3}) und die der Opposition zur Rechten noch nicht weit genug gehen. ({4}) Nun komme ich zu den inhaltlichen Tücken des Gesetzentwurfs. Wenn es um eine bessere Kinderbetreuung geht, dann muss ausgeschlossen werden, dass es Betreuung guter und Betreuung niedriger Qualität gibt. Darauf macht die GEW mit Blick auf Ihren Gesetzentwurf aufmerksam. Die Gefahr ist auch nicht gebannt, wenn wir heute zustimmen, und sie wächst, wenn so genannte Ein-Euro-Jobber befristet zur Kinderbetreuung eingesetzt werden. Das lehnt die PDS ab. ({5}) Wir brauchen zudem einen individuellen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung, so wie das im rot-grünen Koalitionsvertrag einst vorgesehen war. Innerhalb einer Übergangsfrist muss er mindestens für Kinder von Erwerbstätigen, von Arbeitsuchenden und von Eltern in Aus- und Fortbildung sowie für Kinder mit besonderem Erziehungsbedarf gelten und danach generell. Die PDS fordert übrigens ähnliche Regeln für Schulkinder, insbesondere dort, wo es keine Ganztagsschulen gibt, allemal in sozialen Brennpunkten. Schließlich: Wer eine gute Kinderbetreuung will, und zwar für alle, der sollte in einem ersten Schritt alle von Hartz IV betroffenen Familien von den üblichen Gebühren befreien. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Marlene Rupprecht, SPD-Fraktion, das Wort.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte für die Zuhörerinnen und Zuhörer einfach einmal klarstellen bzw. richtig stellen: Was wir eben gehört haben, war eigentlich ein Beitrag zu einem Gesetz, das bereits seit Januar in Kraft ist. Wir reden heute über den zweiten Teil der Reform und dabei geht es um die Kinder- und Jugendhilfe. Dazu haben die Ministerin und viele Kolleginnen und Kollegen Stellung genommen. Die Diskussion führen wir seit Jahren. Sie wird nicht immer so geführt, wie ich sie mir wünsche, nämlich sachlich und an den Kindern und Jugendlichen orientiert. Sie wird dominiert von den Kameralisten und von denen, die gern Stimmung machen. Es gibt Schlagzeilen wie „Internatsaufenthalte in Schottland für Millionärskinder“, so erst vor kurzem bei mir in einem ländlichen Wahlkreis. Daraufhin habe ich den Jugendamtsleiter angerufen und gesagt: Herr Schmidt, erklären Sie mir doch einmal, warum der CSU-Kollege in der Zeitung heute von ausuferndem Missbrauch spricht! Wie viele haben Sie denn schon nach Schottland oder ins sonstige Ausland geschickt? Darauf hat er geantwortet: Frau Rupprecht, das haben wir noch nie gemacht. Dann habe ich gefragt: Wie kommt der Kollege denn dazu, so etwas in die Zeitung zu setzen und zu verbreiten, das sei die Regel? Eine andere Schlagzeile ist: Luxusnachhilfe für Kinder von Reichen. - Klar, da erhitzen sich die Gemüter. Auch mich würde es furchtbar nerven, wenn ich den Kindern eines Millionärs auch noch die Nachhilfe zahlen sollte. Dass damit Stimmung gemacht wird und der Eindruck hervorgerufen wird, hier finde maßlos Missbrauch statt, ist nicht von der Hand zu weisen. Wer dies macht, hat natürlich eine Absicht. Er will bezwecken, dass wir die Kinder- und Jugendhilfe nur noch mit dem Blick auf möglichen Missbrauch anschauen. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit gern auf die Kinderund Jugendhilfe lenken. Was ist denn Kinder- und Jugendhilfe? Worum geht es da? Worum geht es in unserem Entwurf? Ich will dazu noch einmal auf den § 35 SGB VIII - heute schon mehrfach zitiert und mehrfach vorgetragen - hinweisen. In diesem Bereich geht man unterschwellig immer davon aus, dass Missbrauch stattfindet, dass Leute öffentliche Leistungen bekommen, die ihnen nicht zustehen. Wenn das so wäre, dann gibt es dafür Ursachen. Entweder ist das Gesetz ungenau oder der, der die Leistung bewilligt, weiß nicht, was er bewilligt. Wenn das Gesetz die Ursache ist, muss das Gesetz geändert werden. Wenn derjenige, der die Leistung bewilligt, einen Fehler macht, muss der Landrat oder Oberbürgermeister ihm kräftig auf die Finger klopfen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Rupprecht, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dörflinger?

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wunderbar. Herr Dörflinger, Sie geben mir Zeit, um das dann vielleicht noch etwas deutlicher auszuführen.

Thomas Dörflinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Rupprecht, ich brauche nur ein bisschen Aufklärung. ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dazu bin ich da.

Thomas Dörflinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben eben dargestellt, dass es keinen Missbrauch gebe bzw. die Darstellungen über Missbräuche im Zusammenhang mit dem KJHG weit übertrieben seien. Können Sie mir erklären, warum die Ministerin in ihrem Beitrag davon gesprochen hat, dass man den Selbstbedienungsladen beseitigen müsse? ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Dörflinger, es geht nicht um Missbräuche, sondern darum, dass Eltern, die Probleme mit ihren Kindern haben, Leistungen in Anspruch nehmen, ohne das Jugendamt vorher zu konsultieren und dort die Leistungen genehmigen zu lassen. Dieses Vorgehen haben wir unterbunden. Selbstbeschaffte Leistungen werden nicht mehr ersetzt. Dabei ging es aber nicht um Missbrauch, sondern schlicht und ergreifend darum, dass Eltern in ihrer Not zum Arzt gegangen sind und dieser nach der Untersuchung gleich mit der Therapie angefangen hat. Hier haben wir präzisiert, was bisher schon im Gesetz stand, Marlene Rupprecht ({0}) indem wir denjenigen, die Texte nicht gründlich lesen können, Nachhilfe gegeben haben. ({1}) So gilt nun, dass jemand, der ein Gutachten erstellt, nicht sofort eine Therapie durchführen darf. Vielmehr muss erst das Jugendamt darüber entscheiden. Das, was schon bisher im Gesetz stand und nun von uns noch einmal klargestellt wurde, ist höchstrichterlich mehrmals so bestätigt worden. ({2}) - Bei manchen dauert die Aufklärung halt etwas länger. Schauen wir uns einmal die Praxis an. Ich kann jetzt nur für Bayern sprechen, weil ich von dort komme; das ist meine Heimat, dort fühle ich mich wohl. Ich habe 20 Jahre Schuldienst in Bayern hinter mir, daher weiß ich, was war. Damals habe ich noch eine Ausbildung für lese- und rechtschreibschwache Schüler bekommen. In Bayern passierte nun Folgendes: Man hat den Umgang mit diesem Problem aus der Schule in Privatpraxen verlagert; die Schulen haben sich also dieses Problems entledigt. Wir haben das nun klar geregelt: Die Behebung von Lernschwierigkeiten gehört in die Schulen. Erst wenn die Lernschwierigkeiten zu seelischer Behinderung führen, ist das Jugendamt zuständig. Damit das klar ist, haben wir es noch einmal unter dem Stichwort „Nachrang der Jugendhilfe“ in das Gesetz geschrieben. Ein Kind mit Lernschwierigkeiten ist nämlich an sich nicht seelisch behindert. Sie können jetzt natürlich fragen, ob man „seelische Behinderung“ überhaupt klar definieren könne. Darauf antworte ich Ihnen, dass es hier ganz klare internationale Klassifizierungen gibt. Diese können Sie nachlesen. Ich glaube, dass jetzt mit unseren Regelungen zu § 35 a eindeutig und klar geregelt ist, wie das Verfahren abläuft und wer wofür zuständig ist. Dass wir insgesamt einen Aufwuchs verzeichnen, liegt daran, dass es schlicht und ergreifend mehr Fälle gibt. ({3}) Wenn Sie die Zahl der Fälle verringern wollen, müssen Sie die Strukturen vor Ort so verändern, dass Familien rechtzeitig Hilfe bekommen. Wenn man sich dagegen die Situation in Bayern anschaut, fragt man sich, was der CSU die Familie noch wert ist. So steht in einem Artikel aus Regensburg - das ist Ihr Wahlkreis, Frau Eichhorn vom 1. Juni: „Freistaat spart bei der Erziehungsberatung“. ({4}) Die Staatsregierung fährt die Beiträge für die Erziehungsberatung brutal herunter und erwartet, dass die Eltern zur Selbsthilfe greifen, wenn sie Hilfe brauchen. So stellen wir uns strukturelle Jugendhilfe nicht vor. ({5}) Was wir wirklich nicht brauchen können, ist die Streichung von Hilfen. Ich muss Ihnen auch noch etwas anderes vorhalten, was Bayern mit dem kommunalen Entlastungsgesetz vorhatte. Laut KEG ist die Fortgeltung abgelaufener Vereinbarungen rigoros auf sechs Monate beschränkt. Danach lassen Sie es frei floaten. Das bedeutet für alle Heimbewohner: Die Kostensätze sind frei, jeder kann verhandeln, wie er mag, und die Angestellten, die Pfleger und Betreuer, die dort arbeiten, müssen die neu ausgehandelten Tarife akzeptieren oder werden entlassen. Das haben Sie Gott sei Dank, weil auch Sie es mies fanden, abgelehnt. Aber der Verdacht liegt nahe, dass es nach der Bundestagswahl, die ja nun bald bevorsteht, wieder eingebracht wird. Das Allerschlimmste ist aber der Halbsatz, dass nur nach der Finanzkraft der Kommunen gehandelt wird. Gestern hat die Kollegin Fischbach, heute hat die Kollegin Eichhorn ausgeführt, dass die CDU/CSU verhindert hätte, dass die entsprechende Formulierung in den Entwurf des SGB XII kommt. So ist das halt, wenn man nicht genau liest. Das ist wirklich ein Drama. ({6}) In diesem Entwurf und bei dem, was Sie zitierten, geht es darum - so ist das in allen Sozialgesetzen -, dass Haushaltspolitiker die Leistungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit immer präzise berücksichtigen müssen, wenn sie Geld ausgeben. Es darf nicht so sein wie bei Ihnen, dass nur noch bezahlt wird, wenn Geld da ist. Das ist eine Veränderung des Staates weg vom Sozialstaat hin zum Almosenstaat. ({7}) Ich habe es Ihnen schon gestern gesagt: Mit uns nicht! Ich denke, die Menschen draußen werden das auch nicht wollen. Die, die keinen Staat brauchen, können gut darauf verzichten; die Mehrheit der Bevölkerung aber kommt irgendwann im Leben an einen Punkt, an dem sie die Hilfe der Gemeinschaft braucht. Da brauchen wir die Unterstützung und die Solidarität der anderen. Sie sagen - das ist der gravierende Unterschied -: Es muss an die Sätze für Sozialhilfeempfänger herangegangen werden; sie müssen verändert und angepasst werden. Das ist Originaltext aus Bayern. Sie wollen hier totale Änderungen vornehmen und das Sozialhilfeniveau absenken. Wir dagegen sagen: Menschen brauchen ein bestimmtes Einkommen, damit sie leben können. Ihr Menschenbild möchte ich nicht unterstützen. Ich glaube, das KEG, das Sie jetzt ganz mutig abgelehnt haben, kommt - nach der Wahl - wieder im Rollback zurück. Ich hoffe und wünsche es der Bevölkerung, dass Sie keine Gelegenheit zur erneuten Ablehnung bekommen. Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Verena Butalikakis, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Verena Butalikakis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003513, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Rupprecht, wir sprechen hier natürlich nicht nur über die Kinder- und Jugendhilfe, sondern wir sprechen beim heutigen Tagesordnungspunkt auch über das Sozialhilferecht. Dazu kann ich nur wiederholen: Wir sprechen auch über die Finanzierbarkeit von Leistungen. Die finanzielle Situation der Kommunen ist äußerst angespannt - deutlicher gesagt: die Lage ist katastrophal -, und das seit Jahren. ({0}) Das Gesamtdefizit war im Jahre 2003 auf der Rekordhöhe von 8,5 Milliarden Euro. Nach einem kurzfristigen Absinken im Jahre 2004 - weil die Kommunen so bei den Investitionskosten gespart haben - wird von den kommunalen Spitzenverbänden für dieses Jahr wieder ein Anstieg auf ungefähr 7 Milliarden Euro prognostiziert, das heißt Schulden in Höhe von 7 Milliarden Euro. Da stellt sich natürlich sofort die Frage: Was hat denn die Bundesregierung oder die Regierungskoalition getan angesichts dieser dramatischen Lage? Ich will nur noch einmal darauf hinweisen: Die den Kommunen im Rahmen der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe versprochene Entlastung ({1}) in Höhe von 2,5 Milliarden Euro findet, wenn überhaupt, nur in geringerem Maße statt ({2}) - die Zahlen liegen noch gar nicht vor -; denn wir alle wissen, dass natürlich genau von diesen 2,5 Milliarden Euro - ({3}) - Ich finde es schön, dass Sie so aufgeregt sind. Ich habe die Umfragen in der ARD heute auch gehört. Merkel liegt mit riesigem Abstand vor Schröder, das macht Sie natürlich nervös. Aber vielleicht hören Sie trotzdem noch einmal zu. ({4}) Also, wir alle wissen, dass von diesen versprochenen 2,5 Milliarden Euro natürlich mehr als die bisher angegebenen 1,5 Milliarden Euro für die Kindertagesbetreuung ausgegeben werden müssen. Als Hauptursache der Verschuldung der Kommunen sind die ständig steigenden Sozialausgaben anzusehen. In den Jahren 2000 bis 2004 haben wir hier einen Anstieg um 6 Milliarden Euro zu verzeichnen, bei einem Gesamtvolumen in 2004 von über 32 Milliarden Euro. Deshalb ist es angesichts der finanziellen Not der Kommunen richtig und notwendig, finanzielle Entlastungsvorschläge zu machen. Genau dies erfolgt mit dem vom Bundesrat vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich. Im Kinder- und Jugendhilfebereich und im Bereich des Sozialhilferechts werden hier konkrete Änderungsvorschläge vorgelegt, die zu Einsparungen führen; für den Sozialhilfebereich, auf den ich mich beziehe, in Höhe von 300 Millionen Euro. Dass es richtig ist, Entlastungsvorschläge zu machen, ist das eine. Die im Art. 3 vorgesehene Finanzkraftklausel, die ja heute schon mehrfach angesprochen worden ist und offensichtlich nicht von allen verstanden wird, bezieht sich auf alle Sozialgesetzbücher. ({5}) Meine Kollegin Eichhorn hat dazu schon Näheres gesagt. Ich will einmal eines ganz deutlich festhalten: Die unterschiedliche Finanzkraft der öffentlichen Träger darf nicht zu unterschiedlichen Lebensverhältnissen in diesem Lande führen. Ich glaube, darüber besteht Einigkeit hier im Haus. Ich will aber an dieser Stelle daran erinnern, weil das immer ein bisschen durcheinander geht. ({6}) Ich war in der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses Ende 2003, die sich mit dem Sozialgesetzbuch XII beschäftigt hat. In dem Entwurf der rot-grünen Bundesregierung, von Sozialministerin Ulla Schmidt eingetragen, stand die Finanzkraftklausel. ({7}) Das ist auch nie bestritten worden, im Gegenteil. Man hat das daran gemerkt, dass die kommunalen Spitzenverbände gejubelt und gesagt haben: Wunderbar, da ist die Finanzkraftklausel! Es war die CDU/CSU in dieser Arbeitsgruppe, die genau diese Finanzkraftklausel hat streichen lassen, aber in dem Einvernehmen, dass - so steht es auch im Protokoll des Vermittlungsausschusses - eine Arbeitsgruppe eingerichtet werden soll, die sich mit den möglichen Einsparungen, die die Kommunen gerade im sozialhilferechtlichen Bereich erreichen könnten, beschäftigen soll.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Humme? ({0})

Verena Butalikakis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003513, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte das gerne zu Ende bringen. ({0}) - Das fällt mir nicht schwer. - Diese Arbeitsgruppe, wie sie im Protokoll vermerkt ist, ist nie eingesetzt worden; das heißt, wir haben keine Entlastungsmöglichkeiten für die Kommunen. Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion steht dafür ein. Um den Menschen und den Kommunen wirklich zu helfen, brauchen wir eine Gesamtkonzeption. Wir brauchen eine vernünftige Gemeindefinanzreform ({1}) und wir brauchen grundlegende Änderungen im sozialen Bereich. ({2}) Im Sozialhilfebereich weist die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen eine dynamisch wachsende Kostenentwicklung auf. In einem Zeitraum von nur zehn Jahren, von 1993 bis 2003, haben sich die Ausgaben fast verdoppelt Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Was ist denn die Ursache? Missbrauch, oder was?) und alle Fachleute sind sich einig, dass die Kostensteigerungen anhalten werden. Um die kommunalen Finanzen von diesem Risiko zu entlasten und vor allem um die Versorgung behinderter Menschen auch in Zukunft sicherzustellen, muss die Eingliederungshilfe auf eine neue Grundlage gestellt werden. In diesem Zusammenhang wird auch die Einbeziehung des Kindergeldes bei volljährigen Behinderten zu klären sein. Die CDU/CSU-Fraktion hatte bereits im Oktober 2003 bei der ersten Beratung zum SGB XII - das ist jederzeit nachzulesen, weil der Entschließungsantrag vorliegt - die Bundesregierung aufgefordert, mit der Erarbeitung eines eigenständigen, von der Sozialhilfe unabhängigen Leistungsgesetzes zu beginnen. Die rotgrüne Bundesregierung lehnt dies bisher ab. ({3}) - Wir reden über ein Leistungsgesetz, Frau Kollegin Rupprecht. Ich glaube, Sie wissen jetzt nicht so richtig die Unterscheidung zu treffen. ({4}) Ich will einen weiteren Punkt in dem vorliegenden Gesetzentwurf ansprechen, den auch der Kollege von der FDP aufgegriffen hat und der thematisch eigentlich auch schon im Rahmen der Föderalismuskommission besprochen worden ist. Dazu will ich festhalten: Wiederum im Sinne von einheitlichen Lebensbedingungen in Deutschland halten wir die Regelungskompetenz des Bundes, bezogen auf die Bemessungskriterien für die Bestimmung der Regelsätze und bezogen auf die Zuständigkeit der Träger der Sozialhilfe, nach wie vor für notwendig. Meine Damen und Herren, der vom Bundesrat vorgelegte Gesetzentwurf belegt ein weiteres Mal, wie groß der Handlungsbedarf im Hinblick auf die Finanzsituation der Kommunen ist. Mehrere Punkte - ich betone: mehrere Punkte - aus dem Gesetzentwurf sind wichtig und richtig. Aber nur ein Gesamtkonzept kann den Leistungsbedarf der Hilfebedürftigen sichern und gleichzeitig die Kommunen wieder handlungsfähig machen. ({5}) Deshalb lehnt die CDU/CSU-Fraktion diesen Gesetzentwurf ab. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Christel Humme, SPDFraktion. ({0})

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Seit zwei Jahren diskutieren wir nun Lösungen zum Kinder- und Jugendhilfegesetz. In den zwei Jahren - die Rede vorher hat mich in meiner Auffassung bestätigt hatte ich immer den Eindruck, dass der Fachausschuss - das ist der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - eigentlich zum Finanzausschuss degradiert wurde. ({0}) Denn die Interessen von Kindern und Jugendlichen standen bei Ihnen von der Union meiner Ansicht nach zu selten im Vordergrund. ({1}) Ich sage an dieser Stelle Folgendes sehr deutlich. Für uns rot-grüne Jugendpolitikerinnen und Jugendpolitiker war von Anfang an klar: Leistungskürzungen für Kinder und Jugendliche, die unserer Hilfe bedürfen, wird es mit uns nicht geben. Darauf können sich die Kinder und Jugendlichen auch in Zukunft verlassen. ({2}) In zwei Anhörungen 2003 und 2004 haben uns die jugendpolitischen Fachleute mit großer Mehrheit Recht gegeben. Die von Bayern 2003 eingebrachte Initiative zur Änderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes und das ebenfalls von Bayern - wir haben es heute oft genug gehört - vorgelegte Kommunale Entlastungsgesetz, das so genannte KEG, wurden nahezu von allen Sachverständigen abgelehnt. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, erstaunlicherweise lehnen Sie heute das bayerische KEG ab. Dazu beglückwünsche ich Sie. Aber zu glauben, Sie hätten aus der Anhörung die richtigen Lehren gezogen, wäre falsch. ({3}) Sie lehnen zwar heute den Gesetzentwurf Ihrer eigenen Länder ab, führen aber das KEG mit Ihrem Entschließungsantrag durch die Hintertür sozusagen als „KEG light“ wieder ein. Das ist Tricksen und Täuschen; das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({4}) Wenn man im Wahlkampf bestehen will, dann gehört Ehrlichkeit dazu. ({5}) An Frau Butalikakis und an Frau Eichhorn gerichtet möchte ich sagen: Sie beziehen sich immer auf unseren Gesetzentwurf zum SGB XII und behaupten steif und fest, wir hätten die Finanzkraftklausel in § 70 gefordert. ({6}) Erstens steht in § 70, dass die Finanzkraft der öffentlichen Haushalte angemessen zu berücksichtigen ist. Es ist nichts also von einem Kahlschlag zu lesen, den Sie wollen. Zweitens bezog sich dieser § 70 nur auf eine kleine Vereinbarung mit den Trägern. Sie fordern aber, die Leistungen im gesamten Sozialgesetzbuch für alle Bereiche zu kürzen. Das geht zu weit; das lehnen wir strikt ab. ({7}) Zur Ehrlichkeit gehört auch, die ganze Wahrheit und nicht nur einen Teil der Wahrheit zu sagen. Wir wollen das Kinder- und Jugendhilfegesetz weiterentwickeln. Damit entlasten wir auch die Kommunen, aber eben nicht auf dem Rücken der Schwächsten unserer Gesellschaft, nämlich der Kinder und Jugendlichen, die unserer Hilfe bedürfen. Gerade bei Ihren Forderungen zum Kinder- und Jugendhilfegesetz legen Sie offen, was konkrete Politik bei Ihnen tatsächlich heißt. Ihre Vorschläge, meine Herren und Damen von der Union, sind sozial ungerecht und gehen zulasten der Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Mittlerweile zieht sich das wie ein „schwarzer“ Faden durch all Ihre Maßnahmen in den unterschiedlichsten Politikfeldern: Wer wird belastet, wenn Sie die Steuerfreiheit auf Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschläge abschaffen? - Die Krankenschwester, die Nachtschichten macht, und der Arbeiter bei VW, der im Dreischichtsystem arbeitet. ({8}) Wer wird durch die Kopfpauschale, die Sie vorschlagen, belastet? - Die Sekretärin, die für ihre Krankenversicherung ebenso viel zahlen müsste wie ihr Chef. Wer wird belastet, wenn Sie die Leistungen in der Kinder- und Jugendhilfe kürzen? - Die Schwächsten unserer Gesellschaft, nämlich die Kinder und Jugendlichen. Meine Herren und Damen von der Union, das Schlimmste ist: Sie verschlechtern die Chancen der jungen Menschen und sparen noch nicht einmal Kosten ein, sondern verschieben sie bloß. Sie lösen damit kein einziges Problem. Sie wollen die Hilfen für junge Volljährige massiv einschränken; um das als Beispiel zu nennen. Wir haben es vorhin sowohl von der Frau Ministerin als auch von meinen Vorrednerinnen gehört. Ihre vermeintliche Sparpolitik wird die Kommunen teuer zu stehen kommen. ({9}) Denn wenn wir diesen jungen Menschen jetzt keine Hilfe geben, ist nicht selten ein späteres Abrutschen in Drogensucht, Straffälligkeit oder Obdachlosigkeit die Folge. ({10}) - Das ist so. - Präventive Maßnahmen sind besser als ein nachträgliches Kurieren; das ist ganz klar. An dieser Stelle haben wir die richtige Politik, indem wir die Prävention in den Vordergrund stellen. ({11}) Deshalb gehen wir mit unserem Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe, dem KICK, einen anderen Weg als Sie, einen Weg, der nachhaltiger und gerechter ist. In unserem KICK gibt es weiterhin zielgenaue Hilfen für Kinder und Jugendliche. Zudem entlasten wir die Kommunen. Darum ist es mir völlig unbegreiflich, dass Sie heute, wie es vorhin in einer Rede der Fall war, die Belastung der Kommunen bejammern und unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen können. Denn mit unserem Gesetzentwurf erhalten die Kommunen eine Entlastung von rund 200 Millionen Euro. ({12}) Das sind Entlastungen, die sie zusätzlich für den Ausbau der Betreuung von unter Dreijährigen dringend brauchen. Denn wir wollen die Chancen der Kinder auf Bildung und Betreuung verbessern und nicht verbauen, wie Sie das wollen. Unsere Politik ist - das zeigt KICK ganz deutlich sozial gerecht. Ich weiß, dass die Jugendverbände, die die Interessen der Kinder und Jugendlichen wahrnehmen, Ihre Vorschläge schon seit Monaten kritisieren. Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Wir stellen uns an die Seite der Jugendverbände, an die Seite der Kinder und Jugendlichen und kämpfen mit ihnen für die Durchsetzung ihrer Interessen. Wir sagen „Stopp!“ zu Ihrer ungerechten Politik. Danke schön. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Tagesbetreuungsausbaugesetzes, das sind die Drucksachen 15/3676, 15/3986 und 15/4045. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5616, den bislang noch nicht abschließend beratenen Teil des Gesetzentwurfes auf den Drucksachen 15/3676 und 15/3986 als Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. ({0}) Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen worden. ({1}) Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/5622? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/5623? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP abgelehnt. Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich; das ist Drucksache 15/4532. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5616, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses bei einer Enthaltung und einer Zustimmung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/5624. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der FDP mit den Stimmen der übrigen Fraktionen abgelehnt worden. Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch auf Drucksache 15/4158. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Wachstum in Deutschland und Europa stärken - Neue Strategie für Lissabon-Ziele entwickeln - Drucksachen 15/5025, 15/5614 Berichterstattung: Abgeordnete Gudrun Kopp Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({3})

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kenneth Rogoff, der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, hat gesagt: Wenn die Europäer in naher Zukunft mehr Wachstum sehen wollen, müssen sie den Fernseher anschalten. Das sind harte Worte, aber Recht hat er. Wenn man die neuen Wachstumsprognosen der EU-Kommission ansieht, stellt man fest, dass zwar die Weltwirtschaft robust ist - China, Indien, die Schwellenländer wachsen -, aber der Euroraum in diesem Jahr nur auf bescheidene 1,4 Prozent Wachstum kommt. Letztes Jahr hatten die USA 4,4 Prozent Wachstum, der Euroraum mickrige 2,1 Prozent. Das Pro-Kopf-Inlandsprodukt liegt in Europa bei 72 Prozent von dem der USA. Die USA haben eine Beschäftigungsquote, die 10 Prozent höher liegt als die der EU. Was sagt uns das? Es sagt uns, dass das ehrgeizige Ziel, das wir uns vor fünf Jahren in Lissabon gesetzt haben - Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen -, in weite Ferne gerückt ist. Das Ziel war ehrgeizig, es war aber auch richtig. Die Zwischenbilanz, die jetzt, nach fünf Jahren, gezogen worden ist, ist ernüchternd. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, an dieser Ernüchterung haben Sie einen ganz großen Anteil. ({0}) Wenn man den Kok-Bericht ansieht, stellt man vor allem fest: Es mangelt an dem politischen Willen in den Mitgliedstaaten. Schöne Worte und Ankündigungen, die immer wieder gemacht werden - vor allem von Ihrer Seite -, tragen nicht dazu bei, dass wir zu mehr Wirtschaftswachstum kommen. Der Kommissionspräsident hat hier klare und mutige Worte gefunden, als er gesagt hat: So wie in den letzten fünf Jahren kann es hier nicht weitergehen. Es ist richtig, wenn mit den neuen Vorschlägen, die jetzt auf dem Tisch liegen, Wachstum und Beschäftigung in den Mittelpunkt rücken. Das entspricht genau der Aussage der Union: Wachstum und Beschäftigung sind das A und O und müssen für uns zukunftsweisend sein. Das Ziel, das gesetzt worden ist, ist ehrgeizig und es ist auch wichtig, die Abstimmung der EU-Länder effizienter zu gestalten. Aber Wirtschaftspolitik und Beschäftigungspolitik sind in erster Linie nationale Aufgaben. Wir selbst sind gefordert, unsere Hausaufgaben zu machen. Wir selbst sind gefordert, aus eigener Kraft unsere Wirtschaft wieder aufzurichten. Es geht in erster Linie um uns, um unser Land und um unsere Menschen. Es geht um unsere Verantwortung, die Verantwortung, die wir in Deutschland haben: für das Ganze und auch für Europa. Wir haben Pflichten, die sich auch aus der Lissabon-Strategie ergeben. Die deutsche Wirtschaft ist bei weitem die größte in Europa. Wir erwirtschaften ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts der EU der 25. Wenn wir unser Wachstumspotenzial betrachten, dann erkennen wir, dass wir nicht entsprechend diesem Potenzial wachsen. Unser Wachstum stagniert leider. Das Zugpferd, das wir vor vielen Jahren gewesen sind - wir als Deutsche waren stolz darauf, wir sind mit unserem Wachstum nach vorne gegangen und haben Europa gezogen -, sind wir heute nicht mehr, wir sind im Zug nach hinten abgedriftet. 2005 und 2006 werden wir wieder die Allerletzten des Wachstumszugs in Europa sein. Das heißt, wir Deutsche tragen durch Ihre Politik die Verantwortung dafür, dass Europa und seine Zahlen derart nach unten gezogen werden. Seit Rot-Grün an der Regierung ist, hatten die Wachstumszahlen bis auf ein einziges Mal immer eine Null vor dem Komma. Auch dieses Jahr wird das Wachstum voraussichtlich nicht höher als 0,7 Prozent liegen. Wir sind also meilenweit von den 2 Prozent der Beschäftigungsschwelle entfernt. Ein so hohes Wachstum brauchen wir, wenn wir zu mehr sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten kommen wollen. Auch die Zahlen, die uns jetzt vorliegen, sind nicht positiv. Die inländische Nachfrage schrumpfte im ersten Quartal wiederum um 0,6 Prozent. Besonders enttäuschend war die Entwicklung des privaten Verbrauchs. Das jüngste Bild, das uns durch die Zahlen vermittelt wird, zeigt, dass sich bei uns leider nichts ändert. ({1}) Wir haben immer noch das alte, bekannte Bild: Die Binnenkonjunktur liegt flach und das Einzige, das uns noch einigermaßen aufrechterhält, ist die Außenwirtschaft. Selbst außenwirtschaftlich gute Rahmendaten, die wir durch die Weltwirtschaft haben, reißen uns aufgrund Ihrer verkorksten Politik, die uns inzwischen auf das ökonomische Abstellgleis geführt hat, nicht heraus. Es ist traurig, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, es geschafft haben, unser Land bis auf die Substanz herunterzuwirtschaften. ({2}) Es nützt auch nichts, wenn immer wieder versucht wird, irgendeinen Sündenbock zu finden. Sie finden ja immer irgendeinen Sündenbock, nur an Ihre eigene Nase fassen Sie sich nie. Der neueste Sündenbock sind jetzt Europa bzw. die Euroeinführung, die für die anhaltende Wachstumsschwäche verantwortlich sein soll. Ein anderes Mal war es der Stabilitätspakt. Ich sage: Deutschland hat seinen wirtschaftlichen Vorteil weniger durch die Einführung des Euro als durch die Amtseinführung dieser Regierung verloren. Sie haben inzwischen offensichtlich jegliche Art von Hemmung verloren. Man braucht sich nur Ihren Haushalt anzuschauen. Das vierte Mal in Folge verstoßen Sie gegen den Stabilitätspakt. Das ist jetzt schon ganz normal; das ist Usus, das ist Tradition. Das ist offensichtlich nichts Schlimmes. Das war schon immer so und das wird auch weiter so sein. Das regt Sie überhaupt nicht mehr auf. ({3}) Wir wissen doch eines: Das Wichtigste für Wachstum und Beschäftigung sind eine solide Haushaltspolitik und eine solide Finanzpolitik. ({4}) Wenn Sie diese nicht betreiben, dann können Sie alle Hoffnungen vergessen, das Land nach vorne zu bringen und für mehr Wachstum zu sorgen, das mehr Menschen in Arbeit bringt. ({5}) Deswegen kann ich nur sagen: Es ist ein Segen, dass Sie Ihre Regierung nun selbst abwickeln, auch wenn Sie noch nicht genau wissen, wie. ({6}) Wir werden sehen, was Sie uns hier am 1. Juli 2005 vorlegen werden. Wir als Union werden ehrlich sein und den Menschen nicht versprechen, dass wir sofort, von heute auf morgen, ein anderes Wachstum haben werden. Wir werden Zeit brauchen, um aus dieser Misere, die Sie zu verantworten haben, wieder nach oben zu kommen. Wir werden es probieren und unsere Kräfte einsetzen, um wachstumsfördernde Maßnahmen auf den Weg zu bringen, sodass wir wieder stolz auf unser Land sein können und sagen können: Wir Deutsche wollen im Zug in Europa wieder vorne sein und nicht vom Ausland bemitleidet werden, weil wir ganz hinten vor uns hindümpeln. ({7}) Wir werden die Sache in die Hand nehmen. Wir werden Bürokratie abbauen. Wir werden - Sie können das gerne im Protokoll nachlesen und es mir dann irgendwann vorhalten - kiloweise Gesetze entrümpeln, um auch denen zu helfen, die unsere Hilfe brauchen, dem Mittelstand, den Sie in dieser Legislaturperiode mit Ihrer Überbürokratisierung zusätzlich belastet haben. Eines werden wir bestimmt nicht machen: Wir werden bestimmt nicht wie Sie unsere Aufgabe darin sehen, auf Richtlinien aus Europa etwas draufzusatteln. Diese Übererfüllung von europäischen Richtlinien ist wachstumshemmend. Das bürokratische Monster namens Antidiskriminierungsgesetz ist das abschreckendste Beispiel für den Übereifer, den Sie von Rot-Grün immer an den Tag legen. ({8}) Europa braucht nicht nur einen neuen Wachstumsimpuls aus Deutschland. Vor allem gilt jetzt nach den Voten in Frankreich und den Niederlanden: Europa braucht auch einen Begeisterungsschub. Wir haben die Verpflichtung, die Menschen mitzunehmen. Die Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden müssen uns aufrütteln. Wir müssen uns fragen, warum die Menschen so entschieden haben. Wir haben die Verpflichtung, die Menschen an Europa heranzuführen. Wir müssen auch dafür sorgen, die Zwangsbeglückung, die zum großen Teil aus Europa kommt, in Maßen zu halten. Auch das ist unsere Verpflichtung als Deutsche und als Europäer. ({9}) Zum Abschluss möchte ich noch eines sagen: Wir müssen die Begeisterung für Europa wecken. Wir werden sie aber nicht wecken, wenn wir es wie diese Regierung machen und die Schuld für die Wachstumsschwäche in unserem Lande immer in Brüssel abladen. Ihr Motto lautet ja: Einmal ist der Euro schuld, ein anderes Mal ist der Stabilitätspakt schuld, aber die Regierung ist nie schuld. Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Machen Sie wirklich Ihre Hausaufgaben! Dafür sind Sie gewählt worden. Suchen Sie Lösungen für die Probleme und schieben Sie die Schuld nicht immer auf andere! Sie sind noch immer die Regierung. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Günter Gloser, SPDFraktion. ({0})

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Morgen, Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Ergebnisse der Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden erfordern in der Tat, dass wir Antworten auf die Fragen der Globalisierung finden. Die Globalisierung wird von den Bürgerinnen und Bürgern in vielen Bereichen wahrgenommen und sie fragen: Wer gibt uns Antworten? Kann das die nationale Ebene machen oder muss das eher auf europäischer Ebene geleistet werden? Ich bin ganz klar der Auffassung, dass vieles in den Nationalstaaten erledigt werden muss, dass es aber ebenso erforderlich ist, dass die Europäische Union als Ganzes handelt und Antworten auf die Fragen der Globalisierung findet. Sehr geehrte Frau Kollegin Wöhrl, wo haben Sie in Ihrer Rede Antworten auf die vor uns liegenden Herausforderungen gegeben? ({0}) Manchmal habe ich gedacht: Das ist wie bei einem unzureichend ausgebildeten Arzt, der seinem Patienten nichts anderes zu bieten hat als die Aussage: Weil Sie jetzt krank sind, müssen Sie schneller wieder gesund werden. Das ist mein Rezept. - Das ist aber gar kein Rezept. ({1}) Was muss konkret gemacht werden? Da Sie wieder einmal einem fröhlichen Marktradikalismus frönen, frage ich mich, ob das die Antwort auf die Ängste und Nöte der Bürgerinnen und Bürger ist. ({2}) Ich sage klipp und klar: Unsere Vorstellung von einer Europäischen Union und die Lissabon-Strategie - darüber werden wir heute noch sprechen - sehen vor, dass es eine Balance zwischen Europa als Wirtschaftsraum und Europa als einer sozialen Union geben muss. Da kann man nicht einfach sagen, dass einen eine Seite davon nicht interessiert. Sie und Ihr Ministerpräsident in Bayern geben schon zu erkennen, dass Sie einen sozialpolitischen Kahlschlag veranstalten wollen. Das aber ist keine Antwort auf die Ängste und Nöte der Bürgerinnen und Bürger. Hier muss ein Ausgleich geschaffen werden. ({3}) Sie stimmen immer wieder Ihre Klagelieder an. Frau Wöhrl, ich frage mich immer: Wo waren Sie und die CDU/CSU, als Sie in Ihrer Regierungszeit den Sozialsystemen, die in der Tat einer Reform bedürfen, die finanziellen Lasten der deutschen Einheit aufgebürdet haben? ({4}) Wie sähen denn die Sozialversicherungsbeiträge aus, wenn das nicht geschehen wäre? ({5}) - Herr Grill, Sie haben - das muss immer wieder deutlich gemacht werden - durch die falsche Finanzierung der deutschen Einheit die Sozialversicherungssysteme belastet. Wir haben jetzt diese Hypothek. Die Bürger und die Arbeitgeber haben sie heute noch zu tragen. ({6}) Wir wollen Sie an der Frage messen, was in Europa und was auf der nationalen Ebene geleistet werden muss. ({7}) In Ihrem Antrag steht: Bildung, Forschung und Entwicklung haben immer noch einen zu geringen Stellenwert. Oder: Die Belastung für Unternehmen durch Steuern und administrative Hemmnisse ist im internationalen Vergleich zu hoch. ({8}) Die Ausgaben für Bildung und Forschung bleiben hinter den vereinbarten Zielen zurück und haben eine zu geringe Ausstrahlung auf die Wirtschaft. ({9}) Wie hat doch Frau Merkel so pathetisch gesagt? Ich will dem Land dienen. ({10}) Das gilt doch nicht nur für die Regierung, das gilt auch für die Opposition. Was machen Sie denn im Bereich der Forschung? Wir sind es doch gewesen, die die Ausgaben für Bildung und Forschung nach Ihren Kürzungen in den Jahren bis 1998 erhöht haben. ({11}) Wir haben diesen Bereich ausgebaut. ({12}) - Daran ändert auch nichts Ihr Hinweis auf Ihre Elderstatesmen. - Wo sind denn beispielsweise die Initiativen der Kollegen Koch und Wulff? Das Exzellenzprogramm dieser Bundesregierung wird doch blockiert. ({13}) Alle Fachleute - auch konservative Ökonomen - sagen: Es hat gar keinen Sinn, einen Wettlauf beim Lohnund Sozialdumping mitzumachen. Wenn wir in einer Wettbewerbsgesellschaft bestehen wollen, dann müssen unsere Produkte besser werden und dann müssen wir bei Bildung und Wissenschaft besser werden. ({14}) Aber was machen Sie? Seit Monaten wird dieses Programm blockiert. Warum denn eigentlich? Sie sollten nicht immer alle Aufgaben der Regierung überlassen. Sie könnten ganz klar sagen: Ja, Deutschland setzt ein Zeichen im Bereich der Bildung und Forschung und wir blockieren dieses Programm nicht. Wenn Sie die Kongresse der Rektoren und Präsidenten von Universitäten verfolgen, dann wird Ihnen doch klar, woher der Wind weht. Die warten darauf, dass sie Geld bekommen. Sie aber verhindern dieses Projekt, nur weil Sie eine Blockadestrategie verfolgen. ({15}) Kommen wir zu der schönen Mär von Bürokratie. Wir hatten an diesem Mittwoch eine Anhörung zu der Richtlinie über Dienstleistungsfreiheit. Es ging zwar in erster Linie um juristische Aspekte, aber erfreulicherweise wurden auch wirtschaftliche Aspekte angesprochen. Da sagte ein Vertreter, der wirklich nicht der Sozialdemokratie nahe steht, sondern die Kammern in Brüssel vertritt, auf die Frage, warum sich so viele Ausländer als Selbstständige in Deutschland niederließen: Das liegt einfach daran, dass in vielen Mitgliedsländern der Europäischen Union ein viel größerer Verwaltungsaufwand als in Deutschland herrscht. Man braucht zahlreiche Bescheinigungen, aber in Deutschland ist das nicht der Fall. - Sehen Sie! ({16}) Sie sollten nicht immer diese Mär verbreiten, wir hätten einen überregulierten Staat. Es gibt Leute, auch in der Industrie, die sagen, dass es nicht so ist, wie Sie es immer beschreiben. Im Übrigen sind auch wir dabei, in bestimmten Bereichen Bürokratie abzubauen. ({17}) Ich komme noch einmal zurück ({18}) auf die Lissabon-Strategie. Wir geben Herrn Kok Recht, was die Prüfung der Lissabon-Strategie betrifft. Wir müssen uns auf Ziele konzentrieren. Ich sage ganz bewusst: Mit Papierbergen kann man keine Probleme löGünter Gloser sen. Ich sage aber auch: Wenn wir die Lissabon-Strategie zum Erfolg bringen wollen, dann müssen wir auf diesen Feldern unsere Akzente setzen. Frau Wöhrl, von Ihnen habe ich keinen einzigen solchen Aspekt gehört, nur ein laues Sommerliedchen, das übliche Wehklagen der Union, aber keine konkreten Vorschläge. Das können wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Ich möchte wissen, wo Sie etwas ändern. Wollen Sie an die Sonntags- und Feiertagszuschläge herangehen? Hat es etwas mit der Lissabon-Strategie zu tun, ein soziales Ungleichgewicht herbeizuführen? Was wollen Sie mit dem Flächentarifvertrag machen? Gerade in einer Zeit, in der die Bürgerinnen und Bürger unsicher sind, müssen wir Politiker den Menschen Sicherheit geben. Das heißt nicht, dass wir nicht reformbereit wären. Diese Regierung hat in den letzten Jahren ständig Reformen durchgeführt. Wenn Sie die OECDBerichte lesen, dann stellen Sie fest, dass dort deutlich zum Ausdruck gebracht wird, was Deutschland in den letzten Jahren ({19}) im Bereich der Sozialversicherungssysteme angepackt hat. Das betrifft auch den Bereich, der beim vorhergehenden Tagesordnungspunkt diskutiert wurde, nämlich die Bildungspolitik und die Ganztagesbetreuung. Sie haben die Maßnahmen doch immer verhindert. Wir haben das Thema aufgegriffen. Sie sollten nicht so tun, als ob Sie diejenigen gewesen seien, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf entdeckt hätten. ({20}) Sie sind erst nach zeitlicher Verzögerung dorthin gekommen. Die Gestaltung der Lissabon-Strategie ist bei dieser Bundesregierung und dieser Koalition in guten Händen. Wer sich - wie Sie in den letzten Jahren - nur darauf beschränkt, zu blockieren, ist nicht tauglich, eine Regierung zu übernehmen. Vielen Dank. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Brüderle, FDPFraktion.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in dieser Woche tektonische Verschiebungen in Europa erlebt. Die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden haben ein politisches Erdbeben ausgelöst. Das Epizentrum ist sicherlich nicht Berlin, aber die Noch-Regierung Schröder/Fischer trägt ein großes Maß an Mitverantwortung für das Auseinanderdriften in Europa. ({0}) Grün-Rot hat aus Deutschland eine Wachstumsbremse gemacht. Deutschland zieht Europa runter. Deutschland stagniert mit einem Wirtschaftswachstum irgendwo zwischen 0,7 und maximal 1 Prozent. In England liegt das Wachstum bei 2,8 Prozent, in Spanien bei 2,6 Prozent und in Frankreich immerhin noch bei 1,9 Prozent. Wir streiten uns seit Jahren mit Italien, wer die rote Laterne in Europa trägt. ({1}) Im letzten Jahr hatten wir durch Kalendereffekte leichte Verbesserungen. Entscheidender Punkt ist, dass das Wachstumspotenzial der deutschen Volkswirtschaft mit etwa 1 Prozent zu gering ist. ({2}) Das sagt Ihnen die Bundesbank, das sagen Ihnen die Wirtschaftsforschungsinstitute und das sagen alle Sachverständigen. Die Amerikaner haben ein Potenzial von gut 3 Prozent. Hier liegt der entscheidende Unterschied und das ist der Grund für die Schwäche unserer Volkswirtschaft. Dieser Unterschied ist jedoch nicht gottgegeben. Man kann auf Regierungsgipfeln wie im Jahre 2000 in Lissabon tolle Wachstumsziele beschließen, zu Papier bringen. Papier ist geduldig. Damit hat man aber in der Sache noch lange nichts erreicht, wenn man sich zu Hause nicht auf den Hosenboden setzt, seine Hausaufgaben erledigt und die Politik so gestaltet, dass man einen eigenen Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung einbringen kann. ({3}) Grün-Rot hat genau das Gegenteil gemacht. Besonders die Grünen missbrauchen die EU-Vorlagen für ihre Luxusagenda, siehe Gentechnikverhinderungsgesetz, siehe Antidiskriminierungsgesetz, siehe Chemikalienpolitik. Überall wird draufgesattelt. Zu Hause werden Luxusthemen wie Dosenpfand und Windrädchen befördert. Das fällt jetzt auf einmal selbst der SPD auf. ({4}) Herr Gabriel, Herr Müntefering lassen grüßen. Manche SPD-Kollegen haben sieben Jahre gebraucht, um zu merken, dass die Grünen Jobs verhindern. Sie werden als Siebenschläfer in die stolze Geschichte der deutschen Sozialdemokratie eingehen. ({5}) Die neue EU-Kommission hat die Lissabon-Strategie auf Wachstum und Beschäftigung fokussiert. Das ist richtig. Aber wie reagiert Deutschland? Herr Eichel möchte Europa am liebsten den Steuerwettbewerb per EU-Beschluss verbieten. Dahinter steht der eigenartige Satz: Statt selbst besser zu werden, müssen andere schlechter werden. ({6}) Heute lesen wir in der „Süddeutschen Zeitung“ - eine Ihnen sehr gewogene Zeitung -: Clement muss mit Rücktritt drohen, damit das Thema Unternehmensteuer in der Koalition überhaupt noch weiter angepackt wird. ({7}) Nur aufgrund der Rücktrittsdrohung von Herrn Clement wird es offenbar noch behandelt. Statt selbst ein einfaches, niedliches, gerechtes Steuersystem einzuführen, will man lieber Estland und Slowenien die Flat Tax verbieten. Mit einem solchen Ansatz wird Europa nie zum dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt werden. Der nächste Beschlussvorschlag der grün-roten Bundesregierung wird wahrscheinlich lauten: Wir beschließen, dass China, Indien, Japan und die USA nicht mehr so stark wachsen dürfen, wie sie es bisher tun. - Das ist natürlich eine geniale Politik, um die eigenen Probleme zu lösen. ({8}) Es geht jetzt um die Brot- und Butterthemen. Wir müssen die Wachstumsbremsen in Deutschland lösen. Es geht darum, die Staatsquote zurückzuführen. Sie muss bei 40 Prozent und nicht in der Nähe von 50 Prozent liegen. Wir brauchen betriebliche Bündnisse für Arbeit, damit man in den Betrieben eigene Entscheidungen - ohne Genehmigungspflicht der Kartellbrüder - treffen kann. ({9}) Deswegen sagen wir erneut: Wenn 75 Prozent der Mitarbeiter eines Betriebs bei freier und geheimer Abstimmung die alte Regelung haben wollen, müssen sie das Recht haben, zugunsten der Erhaltung ihrer Arbeitsplätze und der Schaffung neuer Arbeitsplätze einen eigenen Weg gehen zu können. Wir wollen Steuersenkungen, keine Steuererhöhungen. ({10}) Das darf ich auch den Freunden von der CDU/CSU sagen. Eines muss klar sein: Man kann durchaus über eine Umstrukturierung des Steuersystems diskutieren, ({11}) aber per Saldo müssen die Menschen in Deutschland und die Unternehmen entlastet werden, ({12}) indem ihnen bei einer Umstrukturierung hin zu mehr Eigenverantwortung in der Rentenvorsorge und im Gesundheitswesen auch die Möglichkeit geboten wird, das verfügbare Einkommen zu erhöhen. Diesen Weg müssen wir konsequent weiterverfolgen. ({13}) Die Unternehmensverfassung muss modernisiert werden. Daran ändern auch die Ausflüchte zu Karl Marx und der Kapitalismusdiskussion nichts. Karl Marx gehört ins Trierer Museum, aber nicht in die aktuelle politische Diskussion. Rot-Grün versucht, FDP und CDU/CSU quasi als neoliberale Klabautermänner zu brandmarken. ({14}) Sie versuchen, das Erbe Ludwig Erhards zu erschleichen. Aber Ihnen fehlt jegliche geschichtliche Kenntnis. Ludwig Erhard hat sich selbst als Neoliberaler bezeichnet. Es war die Antwort auf die Nazizeit und der Einfluss der Freiburger Schule, dass kein Manchester-Kapitalismus betrieben wurde, sondern durch eine Ordnungspolitik eine Rahmensetzung vorgenommen wurde. Das ist soziale Marktwirtschaft. Soziale Marktwirtschaft ist neoliberale Politik. Sie wollen offenbar keine soziale Marktwirtschaft, sonst würden Sie nicht immer wieder einen solchen Unsinn propagieren. ({15}) Soziale Marktwirtschaft ist sozial, weil sie die Chance bietet, dass jemand durch harte Arbeit, Tüchtigkeit und Engagement Erfolg hat, durch Leistung Geld verdienen und einen Arbeitsplatz finden kann. Sie betreiben eine Monopolisierungspolitik. Eon Ruhrgas lässt herzlich grüßen. Das Unternehmen hat mittlerweile einen Marktanteil von 87 Prozent und jetzt beklagt der Kanzler, dass die Gaspreise in Deutschland steigen. Wer einen solchen Monopolisierungsgrad zulässt, darf sich nicht über Fehlsteuerungen in der deutschen Volkswirtschaft wundern. Das sind falsche Denkansätze. In Ihrer Politik stimmen die Grundachsen nicht. ({16}) Ihre Wirtschaftspolitik hat keinen Charakter, weil sie orientierungs- und prinzipienlos ist, weil sie nach Gutsherrenart gemacht wird, weil sie opportunistischen und publizistischen Gesichtspunkten folgt. ({17}) Herr Clement war ein guter Journalist, aber er hat sich nicht an den Grundachsen einer guten Wirtschaftspolitik ausgerichtet, die den Menschen bessere Chancen bietet. Deshalb muss die soziale Marktwirtschaft erneuert werden. Die Prinzipien müssen umgesetzt werden und die Politik der Beliebigkeit und der tagespolitischen Orientierung muss endlich ein Ende haben. Vielen Dank. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Rainder Steenblock, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen zwar vorrangig eine innenpolitische Debatte, aber gestatten Sie mir zunächst einmal eine Anmerkung zu Europa und den sicherlich für uns alle durchaus schmerzlichen Ereignissen in Frankreich und in den Niederlanden. Sie sind ein Signal, das wir wahrnehmen müssen - das steht außer Frage -, weil es neben den innenpolitischen Themen in diesen Ländern darauf hindeutet, dass viele Menschen nicht mehr das Vertrauen haben, dass die Europäische Union die bestehenden Probleme lösen kann. Wir wissen aber genau, dass es keine Alternative zur europäischen Integration gibt. Ein Zurück zu den Nationalstaaten wäre ein Zurück ins gesellschaftliche und ökonomische Abseits. Deshalb sollten wir - wie wir es auch in der Verfassungsdiskussion in Deutschland getan haben - uns dieser Debatte sehr intensiv annehmen. Wir haben in Deutschland mit großer Mehrheit für diese Verfassung gestimmt, weil wir wissen, dass es keine Alternative gibt. Ich betone aber, dass wir uns davor hüten sollten, Europa für all das zum Sündenbock zu machen, was wir auf nationaler Ebene nicht hinbekommen haben. ({0}) Diese große Gefahr sollte in der Diskussion beachtet werden. Ich glaube, dass die europäische Integration ein sehr hohes Gut ist. Sie hat uns 60 Jahre lang Frieden und Aufschwung in Europa beschert. Diese Phase der Stabilität und des Glücks in Europa kann nicht hoch genug geschätzt werden. Deshalb ist alle billige Häme, die derzeit im Hinblick auf die Abstimmungen in Frankreich und Holland ausgegossen wird, zu verurteilen. Lassen Sie uns in dieser Frage zusammenstehen und Europa nicht für innenpolitische Debatten missbrauchen. ({1}) Was den Lissabon-Prozess angeht, hat Frau Wöhrl zu Recht gesagt, dass es auch um uns gehe. Es geht in der Tat um den deutschen Beitrag innerhalb der LissabonStrategie. Leider sind Sie, liebe Kollegin Wöhrl - der Kollege Gloser hat zu Recht darauf hingewiesen -, in Ihren Ausführungen dazu, welchen Weg wir verfolgen müssen und wie er konkret ausgestaltet werden kann, sehr allgemein geblieben. Ich verstehe, dass es heute für Sie vor dem Hintergrund der diffusen Debatten in der CDU/CSU darüber, wie denn eigentlich ein ökonomisch sinnvoller Kurs aussehen soll, schwierig ist, überhaupt etwas Konkretes zu sagen. Aber ich meine, dass Sie damit nicht durchkommen dürfen. Wir haben in der Frage, wie unser Steuersystem gestaltet werden soll, sicherlich Handlungsbedarf. Das ist von uns auch nie bestritten worden. Wenn man aber wie Sie herangeht und die Mehrwertsteuer nur erhöhen will, um eine Senkung der Einkommensteuer insbesondere für die Reichen zu finanzieren - darüber wird zurzeit in der CDU/CSU diskutiert -, dann ist das gerade vor dem Hintergrund der Referenden in Europa und der Stimmung in der Bevölkerung genau die falsche Antwort. Wir können es uns nicht leisten, die Probleme unserer Sozialsysteme so zu lösen und die Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, sozialen Standards und der Innovationsfähigkeit unseres Gesellschaftsmodells so zu beantworten, dass man die öffentlichen Ressourcen noch mehr zugunsten der Reichen verschiebt. Vielmehr brauchen wir eine Stabilisierung der Sozialsysteme in diesem Lande. Dafür gilt es das Steuersystem umzubauen. Wir, die Grünen, sagen sehr deutlich: Eine Mehrwertsteuererhöhung kann es nur geben, wenn es darum geht - das ist die zentrale Frage in Deutschland -, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, das heißt, die Lohnnebenkosten zu senken. Das muss das Ziel sein. Um Arbeit in Deutschland gerade im Bereich geringfügiger Einkommen attraktiver zu machen und um das Steuersystem umzubauen, brauchen wir eine Senkung der Lohnnebenkosten. Das wäre die große Jobmaschine. Aber Sie haben in den letzten Jahren ständig im Bremserhäuschen gesessen, wenn es galt, unser Steuersystem in diese Richtung umzubauen. ({2}) Bei der Lissabon-Strategie geht es auch um den Umbau unserer gesellschaftlichen Systeme, insbesondere der Sozialsysteme. Wir wollen als eine der zentralen Antworten eine Bürgerversicherung. Wie sieht Ihre Antwort aus, wenn es um den Umbau der sozialen Sicherungssysteme geht? Sie wollen die Menschen pauschal, also unabhängig von Einkommen und sozialem Status, mit den Kosten des Gesundheitswesens belasten. Das halten wir für einen fatalen Fehler. Das hat nichts mit der Stabilisierung der Sozialsysteme zu tun, sondern das verankert zunehmend Ungerechtigkeit in dieser Gesellschaft. Das lehnen wir ab. Wir wollen ein sozial gerechtes System, die Bürgerversicherung, einführen. Auch darum wird es in dem nun bevorstehenden Wahlkampf gehen. Die Bürgerinnen und Bürger wissen sicherlich genau, in welche Richtung sie zu votieren haben. Zum Bereich der Subventionen: Wir haben mit großem Erstaunen festgestellt, dass plötzlich auch in der CDU/CSU eine Debatte über die Eigenheimzulage und die Pendlerpauschale entbrannt ist. Wir begrüßen, dass Sie beginnen, sich zu bewegen. Aber wo haben Sie in den letzten Jahren gestanden? Wir haben so häufig versucht, die Eigenheimzulage abzuschaffen und die Pendlerpauschale zu senken. Aber Sie von der CDU/CSU haben das alles ständig blockiert. Dadurch sind uns Milliardenbeträge verloren gegangen, die wir in diesem Land für die Schaffung neuer Arbeitsplätze hätten sinnvoll einsetzen können. Sie haben nur im Bremserhäuschen gesessen und sind Ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden. ({3}) Zum letzten Bereich: Wir wollen Europa - die Lissabon-Strategie ist dafür ein geeignetes Instrument - zu einem wissensbasierten, innovativen und dynamischen Standort machen. Wenn man sich anschaut, welche innovativen Vorschläge Sie in der Bildungspolitik gemacht haben bzw. bei welchen unserer innovativen Vorschläge Sie gebremst haben, dann muss man deutlich sagen: Wir, die rot-grüne Bundesregierung, haben den Bundesländern in den Bereichen Forschung und Bildung - auch wenn es nicht nur unsere Aufgabe ist - mit Milliardensummen unter die Arme gegriffen und versucht, hier vieles anzuschieben, und zwar gegen Widerstand aus Ihren Reihen. Es ist beschämend, dass in Deutschland noch immer die Herkunft und das Einkommen der Eltern darüber bestimmen, ob Kinder das Abitur machen und später eine Hochschulausbildung absolvieren. Wenn es uns nicht gelingt, den Zugang zu unseren Bildungsabschlüssen sozial gerechter zu gestalten, dann werden wir unsere Aufgaben nicht erfüllen können. ({4}) Diese rot-grüne Koalition steht für eine sozial orientierte Bildungspolitik. Sie ist effizient und öffnet allen den Zugang zu den Bildungseinrichtungen. ({5}) Die zentralen Elemente einer Lissabon-Agenda sind: die Schaffung von zukunftsfähigen, auf Innovation ausgerichteten Arbeitsplätzen, die Schaffung von Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich - dort gibt es riesige Potenziale, die wir ausschöpfen können - und die Schaffung von Arbeitsplätzen im Bereich der regenerativen Energien. Dabei geht es um viel mehr als um Windenergie; das Feld der regenerativen Energien ist viel größer. Auf diesen Gebieten sollten wir unsere Anstrengungen verstärken. Wir werden dort zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg, dieses Ziel zu erreichen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Heinz Riesenhuber, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kollegen! Herr Steenblock, Sie haben hier über Ihre großartigen Leistungen in der Bildungspolitik gesprochen. Lassen Sie uns einmal die Ergebnisse der PISA-Länderstudie im Detail anschauen: Dort, wo SPD und Grüne regierten - mittlerweile gibt es keine rot-grünen Landesregierungen mehr, aber es gab einige -, sind diese Ergebnisse in einer bemitleidenswerten Weise schlechter. Wir sprechen hier über die Qualität von Bildungssystemen: Wir haben exzellente Arbeit geleistet. Sie sollten sich daran orientieren. ({0}) Sie haben mit Dankbarkeit festgestellt, dass wir über Eigenheimzulage und Pendlerpauschale sprechen. Wir hatten hierzu immer eine eindeutige Position: Wir werden frei werdende Mittel nicht verwenden, um Haushaltslöcher zu stopfen. Wir haben in der gestrigen Debatte wieder erlebt, dass Herr Eichel feststellen musste, dass sein Haushalt eigentlich nur noch aus Löchern besteht, und dass er nicht mehr weiß, wie er damit umgehen soll. Deshalb fordern Sie das deutsche Volk auf, Sie abzuwählen. Das ist ein ehrenwertes Vorgehen. Aber es ist in der Geschichte der Bundesrepublik einzigartig, dass eine Bundesregierung erklärt, sie sei nicht mehr fähig, irgendein Problem zu lösen, und das deutsche Volk bittet, sie abzuwählen. Wir werden sehen, wie sich das deutsche Volk verhält. ({1}) Herr Steenblock, ich habe mich gefreut, dass Sie mit dem Hinweis auf unsere grundsätzliche Frage angefangen haben. Der Verfassungsvertrag hat keine Zukunft. Die Frage, wie es mit Europa weitergeht, ist von grundsätzlicher und übergeordneter Bedeutung. Ich glaube nicht, dass es sehr viel Sinn macht, noch feinsinnigere Verhandlungen zu führen und noch großartigere Gebäude an Regularien und Vereinbarungen aufzubauen. Zu einem neuen Aufbruch kann es nur kommen, wenn wieder übergeordnete Ziele - Visionen - erkennbar sind und Personen, die sie verwirklichen. Die Lissabon-Agenda, die ihren Niederschlag im ersten Verfassungsentwurf fand, war eine großartige Arbeit von tüchtigen Bürokraten. Sie enthielt eine unglaubliche Vielfalt an Vorschlägen, 28 Hauptziele, 120 Nebenziele, Ausführungen zu E-Europe, zu Chancen für Frauen und zu Dienstleistungen, Märkten und Finanzen. Oder frei nach Clausewitz: Wer alles deckt, deckt nichts. - Insofern ist das, was jetzt angelegt ist, klüger; denn es ist konzentriert auf Ziel: Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze sind entscheidend. Herr Gloser, Sie haben vorhin darauf hingewiesen, wie wichtig das Soziale und die Umwelt sind. Richtig! Wir müssen erreichen, dass die Wirtschaft wächst und dass mehr Arbeitsplätze entstehen, und zwar, ohne unsere Errungenschaften zu beschädigen. Alles zugleich weiterzuentwickeln führt aber zu einem unbeherrschbaren System, in dem sich gar nichts mehr bewegt. Diese Erfahrung haben wir in den ersten fünf Jahren nach Lissabon gemacht. Angesichts dessen ist die Konzentration auf diese Ziele richtig: Wir bekommen Arbeitsplätze nur mit Wirtschaftswachstum. Wir bekommen Wirtschaftswachstum nur über Innovationen. Und Innovationen beDr. Heinz Riesenhuber kommen wir nur dann, wenn jeder Einzelne und wir alle gemeinsam die richtigen strategischen Ziele verfolgen. So sehen die Prioritäten aus. ({2}) Die in Lissabon entwickelte Strategie konvergiert mit dem, was wir hier sagen. Angela Merkel sagt, dass ein Schwerpunkt ihrer Regierungspolitik Innovationen sein werden. Edmund Stoiber sagt, wir müssten 3 Prozent vom Bruttosozialprodukt in die Forschung investieren. Angela Merkel sagt: Wir wissen, dass wir nur einen Schuss frei haben. Das heißt, dass wir in der Situation von heute in sehr kurzer Zeit das tun müssen, was Sie eigentlich 1998 wollten. Nur, Sie haben inzwischen das Ziel aus den Augen verloren. Seit Sie das Ziel aus den Augen verloren haben, sind Sie viel schneller vorangekommen. Aber das war nicht hilfreich für Deutschland. ({3}) In der Forschung haben Sie die gesamten Mittel noch nicht einmal um 10 Prozent nominal erhöht, wenn man das Soll 2005 mit 1998 vergleicht. Sie wollten sie eigentlich verdoppeln! Hier müssen wir etwas tun. Nur aus dem Grund, dass wir in diesem Bereich wieder klotzen können, haben wir gesagt: Die verschiedenen Möglichkeiten, die der Haushalt bietet, wollen wir nicht verplempern, indem wir die Löcher einer misslungenen Finanzpolitik stopfen, sondern wir wollen sie nutzen, um aus einer ganz schwierigen Situation - sie ist schwieriger als vor sechseinhalb Jahren, als Sie angefangen haben - einen neuen Start in die Zukunft zu schaffen. ({4}) In den Lissabon-Zielen sind jetzt in der Tat genau die Themen genannt, um die es hier geht: Attraktivität für Arbeitsplätze und Investitionen, Infrastruktur, offene, wettbewerbsorientierte Märkte, Bildung, Qualifikation, Wissen und Innovation. Der Stifterverband, der gestern getagt hat, sagt: Das Megathema ist Innovation. Ihr müssen wir alles unterordnen. Wir brauchen keine Reparaturen am Haus Deutschland, sondern ein neues Fundament aus Bildung, Forschung und Innovation. - Dieses neue Fundament brauchen wir, weil Sie das Fundament in den letzten Jahren systematisch haben zerbröckeln lassen. Sie sind nicht vorangekommen. ({5}) Selbst da, wo Sie vorangekommen sind, sind andere - das zeigt der Bericht - schneller vorangekommen als wir. Wir sind zurückgefallen. Weil wir zurückgefallen sind, ist Europa zurückgefallen. Wenn die stärkste Macht in Europa keine Linie aufbringt, dann fällt ganz Europa zurück. Wenn es in Europa früher haarig wurde - zu Kohls Zeiten, an die Sie sich so ungern erinnern -, hat man auf einen Staatsmann, hat man auf ein Land, auf Deutschland, geblickt. ({6}) Heute läuft die Sache auseinander, weil Sie eine Politik angelegt haben, die die Menschen nicht zusammengeführt, sondern auseinander gebracht hat. ({7}) Wir sind in einer Situation, die offenkundig schwieriger ist als vor sechs, sieben Jahren. Aber wir haben nach wie vor ein starkes Land. Reden Sie einmal mit den jungen Technologieunternehmen. Die wollen etwas und die können etwas. ({8}) Reden Sie mit den Wissenschaftlern in der Technischen Universität Darmstadt. Die sind froh, dass sie jetzt ihr eigenes Schicksal unbehindert von irgendwelchen übergeordneten, hoch intelligenten Beamtenentscheidungen gestalten können, dass sie selber Professoren berufen können, dass sie über ihre Immobilien verfügen können und dass sie Prüfungsordnungen einführen können. Geben Sie Freiraum! ({9}) Sie sagen, die bestehende Bürokratie sei gar nicht so schlimm. Ich kann Ihnen respektvoll sagen, dass in Deutschland sieben bis acht Wochen vergehen, bis ein Unternehmen gegründet werden kann; in England sind es sieben Tage. Dass wir auf diesem Gebiet nichts zu tun hätten, ist eine tollkühne Annahme. Unser Steuersystem ist so kompliziert, dass ein Mittelständler sich über mehrere Wochen des Jahres mehr mit seinen Steuerberatern und den möglichen Steuerlücken befassen muss als mit seinen Kunden und Lieferanten; das ist eine kranke Situation. ({10}) Was wir brauchen, ist der Raum, in dem wir uns auf die Tüchtigkeit der Einzelnen verlassen, aus dem Dynamik und Unternehmungsgeist entstehen. Dann wird Deutschland wieder seine Rolle in Europa spielen, die die Europäer zu Recht von uns erwarten. Mit Zuversicht, Gestaltungskraft und Mut muss in einer schwierigen Lage - diesen Umstand räumen wir alle ein - jeder seinen Beitrag leisten. Wir brauchen ein zuversichtliches Europa und eine wissensbasierte Gesellschaft, die mit der Tüchtigkeit ihrer Menschen, mit Unternehmungsgeist und Freiraum Arbeit schafft und ihre Rolle als Partner in der Welt spielt. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Gerd Andres.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Riesenhuber, ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Ihnen aufgefallen ist, dass die Lissabon-Strategie verändert wurde. Die Veränderung der Lissabon-Strategie hat diese rot-grüne Bundesregierung bewirkt. ({0}) Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie das feststellen. Das macht nämlich deutlich, dass Ihr Antrag, der vom 8. März datiert, überflüssig ist. Er ist deswegen überflüssig, weil ein ganzer Teil der Forderungen, die darin formuliert worden sind, schon längst erfüllt ist. ({1}) Sie haben völlig Recht, Herr Professor Riesenhuber - ich sage das ganz ausdrücklich -: Wachstum und Ökonomie gehören in den Mittelpunkt dieser Strategie, in den Mittelpunkt des politischen Handelns von Europa. ({2}) Weil Sie gesagt haben, man rede im Rückblick immer nur schlecht über die Regierung Kohl, der Sie angehörten, empfehle ich Ihnen, einmal nachzulesen - vielleicht können Sie das freundlicherweise auch an Frau Wöhrl weitergeben -, wie im europäischen Kontext Ihre Platzierung beim Wachstum in den 90er-Jahren war, als Helmut Kohl noch Regierungschef war. In den gesamten 90er-Jahren haben Sie immer den vorletzten Platz belegt. Vielleicht können Sie das auch Frau Wöhrl sagen. ({3}) Damit bin ich bei einem zweiten Thema; ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie das angesprochen haben. Die Schelte unserer nationalen Politik ist hinlänglich bekannt. Dass Sie das alles jetzt benutzen, um hier Wahlkampf zu machen, kann der interessierte Bürger ja auch verstehen. Ihr Antrag ist aber schädlich. Er ist schädlich, weil es gerade jetzt nach den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden ganz wichtig ist, den Bürgerinnen und Bürgern Europa wieder näher zu bringen und Vertrauen in Europa zu pflanzen. Ich glaube auch nicht, dass die Verfassung gescheitert ist, wie Sie das formuliert haben. Ich will festhalten: Es hat zwei Referenden gegeben. Die Ratifizierung in den europäischen Ländern muss weiterlaufen. Wir haben im Bundestag und im Bundesrat mit überwältigender Mehrheit ratifiziert und das ist gut so. ({4}) Man braucht aus dieser Vertragskrise keine europäische Krise zu machen. Deswegen ist es ganz wichtig, die Finanzverhandlungen in Europa in den nächsten 14 Tagen erfolgreich abzuschließen. Dazu ist Beweglichkeit von allen gefordert. Auch wir werden da beweglich sein. Der dritte Punkt, den man festhalten muss, lautet: Geschlossene Verträge dürfen jetzt nicht infrage gestellt werden. Deswegen ist es Unsinn, beispielsweise über die vertraglich schon beschlossenen Erweiterungen um Bulgarien und Rumänien zu diskutieren und sie öffentlich infrage zu stellen. Ich habe heute Morgen ein Interview des Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses, Herrn Rühe, dazu gehört, das mir sehr gut gefallen hat. Er hat gesagt: Es gibt Verträge. Diese Verträge muss man einhalten. Es ist eine vernünftige Position, auf der Grundlage dieser Verträge weiter europäische Politik zu gestalten. Zu Ihren europapolitischen Forderungen: Der Europäische Rat hat am 22. und 23. März die Lissabon-Strategie neu ausgerichtet. Nach jahrelangen Bemühungen, insbesondere auch der Bundesregierung, liegt der Schwerpunkt jetzt auf Wachstum und Beschäftigung. Diese Weiterentwicklung ist sinnvoll und richtig. Aber sie bedeutet nicht, dass alles zuvor Dagewesene falsch war. Insbesondere Ihre Vorwürfe, die Bundesregierung habe sich nicht entschieden genug für die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Wirtschaftsraums eingesetzt, laufen völlig ins Leere. Wir haben uns seit dem Jahr 2000, als die Lissabon-Strategie geboren wurde, wie kaum ein anderer Mitgliedstaat für die Fokussierung auf Wachstum und Beschäftigung eingesetzt. ({5}) Wir haben dafür gekämpft, dass die Belange der Wirtschaft auf europäischer Ebene wieder stärker Berücksichtigung finden und die Bereiche „Förderung des Geschäftsklimas“, „Forschungsförderung“ und „Wissensgesellschaft“ wesentliche Bestandteile einer Neuausrichtung werden. Es war diese Bundesregierung, die darauf gedrungen hat, die Industriepolitik zu erneuern und der Wirtschaft durch vorbeugende Verfahren auf EU-Ebene Freiräume zu schaffen und zu erhalten. In den beiden zurückliegenden Jahren stand insbesondere die Neuordnung des europäischen Chemikalienrechts, REACH, im Mittelpunkt. Dass jetzt noch einmal Anstrengungen unternommen werden und dass nach einer industrieverträglicheren Lösung gesucht wird, ist nicht zuletzt das Verdienst gemeinsamer Anstrengungen und Interventionen von Bundesregierung, VCI und IG BCE in Brüssel. Ich verweise auch auf das gemeinsame Eintreten von Bundeskanzler Schröder und Staatspräsident Chirac für „europäische Champions“ oder die im Frühjahr 2004 gestartete Innovationsoffensive von Bundeskanzler Schröder, Staatspräsident Chirac und Premierminister Blair. Dazu, dass Sie jetzt endlich die Innovation entdeckt haben, Herr Riesenhuber, gratulieren wir Ihnen herzlich. ({6}) Das können Sie hier ganz oft vortragen. Aber ich kann Ihnen sagen: Das haben wir im europäischen Kontext längst vorangetrieben. ({7}) Ich werde Ihnen gleich noch ein paar Ergebnisse nennen. Inzwischen hat Industriepolitik in Brüssel wieder einen ganz anderen Stellenwert. Noch einmal: Die Erfolge gehen eindeutig auf die Bemühungen dieser BunParl. Staatssekretär Gerd Andres desregierung und insbesondere des Bundeskanzlers zurück. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der intellektuelle Höhepunkt Ihres Antrags besteht in der Forderung, die europäische Wachstumsstrategie durch nationale Maßnahmen zu flankieren, die - keiner hat das bisher je für möglich gehalten - eine Reform der Sozialsysteme, eine Reform des Steuersystems, den Abbau von Überregulierung nebst Bürokratie und die Erhöhung der Ausgaben für Forschung und Entwicklung beinhalten sollen. Toll, was in Ihrem Antrag steht! Ich empfehle den Bundesbürgern, die Zugang dazu haben, einmal die Seite www.bundestag.de aufzurufen und sich diesen Antrag herunterzuladen. Es ist wirklich ein Genuss, ihn sich anzuschauen. ({8}) Da weiß man wenigstens, was hier diskutiert wird. Ich finde es beinahe ein bisschen peinlich, darauf eine Replik zu geben. Ich möchte vielmehr die Frage stellen: Wo waren die Autoren dieses Antrags die letzten Jahre? Die Bundesregierung hat ihre nationale Verantwortung gerade in den Kernbereichen Wirtschaft und Soziales sehr ernst genommen. Mit der Agenda 2010 haben wir große, wichtige Reformen angestoßen, die notwendig waren und erste Erfolge zeitigen. Dass sie schwierig sind, wissen wir selbst. Dass der so genannte Kok-IBericht der Bundesregierung gerade hierfür gute Arbeit bescheinigt, wird von Ihnen natürlich wohlweislich unterschlagen. Diese Bundesregierung hat die umfangreichste Steuerreform in Kraft gesetzt, die es je in Deutschland gab. Ich erinnere nur daran, dass wir den Eingangsteuersatz von 26 auf 15 und den Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent gesenkt haben. Es gibt in der Tat weiteren Handlungsbedarf. Wie er aussehen kann, wissen Sie ja selbst. Sie diskutieren ja gerade öffentlich über Mehrwert- und Unternehmensteuern, die Streichung der Absenkung der steuerlichen Freibeträge für Sonntags-, Nacht- und Feiertagsarbeit und sogar über die Abschaffung der Eigenheimzulage. Diese Möglichkeit entdecken Sie offensichtlich nun, nachdem Sie sie mehrere Jahre blockiert haben. Das ist schon erstaunlich. Am besten gefällt mir Ihre Forderung, unverzüglich den Anstieg der Förderung von Forschung und Entwicklung auf 3 Prozent umzusetzen. Um das 3-ProzentZiel zu erreichen, sollen bei uns die öffentliche Hand 1 Prozent, die Privatwirtschaft 2 Prozent beisteuern. Beide Werte sind so gut wie erreicht. Die öffentliche Hand liegt bei 0,77 Prozent, die Privatwirtschaft bei 1,78 Prozent. Deutschland steht im Vergleich der 25 EULänder - ich erwähne das der Vollständigkeit halber und um hier auch einmal Erfolge mitzuteilen - hinter Schweden und Finnland auf Platz drei. ({9}) Auch die im Antrag geäußerte Kritik hinsichtlich der Umsetzung der Binnenmarktrichtlinien in Deutschland ist schlicht überholt. Nach offiziell bestätigten Angaben der Kommission vom März betrug das deutsche Umsetzungsdefizit 1,6 Prozent, mittlerweile sogar nur noch 1,5 Prozent. Damit liegt Deutschland auf Platz fünf unter den 25 Mitgliedstaaten. Nur einmal zur Erinnerung für die interessierte Öffentlichkeit: Wir haben von Ihnen ein Defizit in der Größenordnung von 4 Prozent übernommen. Dieses Defizit haben wir systematisch zurückgeführt. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich rate Ihnen, Ihre Zeit künftig sinnvoller zu verwenden. Solche Anträge helfen uns inhaltlich nicht weiter. ({10}) Sie haben nur ein Gutes: Die Auseinandersetzung damit zeigt, dass wir bisher auf einem guten Weg waren. Wir sind auch entschlossen, diesen Weg entsprechend fortzusetzen. Schönen Dank. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Kurt-Dieter Grill.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär Andres, nachdem ich Ihre Rede gehört habe, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie eine selektive Wahrnehmung haben, da Sie in Ihrer Rede mindestens 50 Prozent der deutschen und der europäischen Wirklichkeit verdrängt haben. ({0}) Wenn man sich die Analysen des Kok-Berichtes, nicht die der CDU/CSU, anschaut, dann findet man dort stichwortartig aufgeführt: überfrachtete Agenda, mangelnde Koordinierung und Konsequenz, Konflikte in Bezug auf unterschiedliche Ziele, die nicht aufgelöst sind - REACH und anderes - und mangelnder politischer Wille in den Nationalstaaten - das wird als Hauptursache angeführt -, sich wirklich aktiv der LissabonStrategie zuzuwenden. Herr Kollege Riesenhuber hat hier deutlich gemacht, dass ein Teil des Scheiterns der Strategie darauf beruht, dass versucht worden ist, in ein Papier alle Ziele hineinzuschreiben, die man überhaupt postulieren konnte. Wer zu viel aufschreibt, erreicht aber nichts. Nachdem Sie meinten, sich über das Datum unseres Antrages aufzuregen, will ich dazu nur eine kleine Anmerkung machen: Schauen Sie einmal auf den Antrag von Rot-Grün; der wurde eine Woche später geschrieben. Daran wird eines deutlich: Wir diskutieren in Europa über die Frage einer Neuausrichtung der Lissabon-Strategie. Wir beklagen uns im Deutschen Bundestag über die mangelnde Mitsprache bei europäischen Entscheidungen. Es wird keiner hier bestreiten, dass wir darüber eine tiefgehende Diskussion haben und haben müssen, wenn das überhaupt in Zukunft funktionieren soll. Wenn unser Antrag am 8. März nicht eingereicht worden wäre, gäbe es den vom 16. März von Rot-Grün überhaupt nicht. Das heißt, ohne unseren Antrag würde sich der Deutsche Bundestag mit der Frage, was die europäische Neuausrichtung der Lissabon-Strategie für unser Land bedeutet, überhaupt nicht beschäftigen. ({1}) Das ist das entscheidende Moment: dass wir unseren Anspruch, uns in die europäische Politik einzumischen, auch wirklich ernst nehmen. Ich will jetzt gar nicht darüber streiten, in welchem Maße die Bundesregierung das, was jetzt neu auf dem Tisch liegt, mitgestaltet hat. Ich will nur einmal anhand der im Eckpunktepapier für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik 2005 fett markierten Ziele, die ausgerichtet sind auf die Lissabon-Strategie - das haben Sie alles mit verabschiedet -, deutlich machen, wo Sie im Verhältnis zu dem stehen, was Sie in Europa mitentschieden haben. Da heißt es: Die Steigerung von Wachstum und Beschäftigung muss im Zentrum der Grundzüge der Wirtschaftspolitik 2005 stehen. So weit ist das vielleicht noch in Ordnung. Dann steht hier: „solide makroökonomische Politik“. Da fängt das Problem in diesem Lande schon an. Ich möchte Ihnen noch drei Punkte vorlesen. Dann können Sie die Situation in Deutschland an dem messen, was Europa von uns fordert. Erstens: Die Mitgliedstaaten sollten über den Konjunkturzyklus hinweg einen nahezu ausgeglichenen oder einen Überschuss aufweisenden Haushalt erreichen … Meine Damen und Herren, davon sind Sie nach der Diskussion über den Haushalt Megawelten entfernt. ({2}) Das Zweite: … die Solidität der öffentlichen Finanzen auf lange Sicht zu stärken. Fehlanzeige in diesem Lande! Das Dritte: Die Mitgliedstaaten sollten sich verstärkt für den produktiven Einsatz der öffentlichen Mittel einsetzen und dafür sorgen, dass diese zunehmend in wachstumsfördernde Maßnahmen im Sinne der Schwerpunktziele von Lissabon fließen. Wenn ich mir die Investitionskraft des Bundeshaushaltes einmal anschaue, komme ich zu dem Schluss, dass Sie auch hier nicht auf einem positiven, sondern auf einem negativen Wege sind. Insofern können wir doch nur festhalten: Sie sind weit von den Zielen der Neuausrichtung der Lissabon-Strategie, die Sie selber in Europa mit verabschiedet haben, entfernt. Darum geht es in dieser Debatte, nicht nur um einzelne Forderungen. Herr Kollege Steenblock, Sie haben sich bemüßigt gefühlt - in diesen Tagen wird ja sichtbar, dass nur noch über die nächste Regierung diskutiert wird, nicht mehr über das Versagen der jetzigen Regierung -, vom Ansatz her den Versuch zu machen, die europäische Debatte auch in diesem Haus zu führen. Dann sind Sie aber genau wie wir in der Innenpolitik gelandet. Das will ich auch gar nicht negativ bewerten, das gehört dazu; denn aus beidem wird das Ganze. Ich kann aber nur sagen: Sie sind es doch gewesen, die 2002 drei Monate vor der Bundestagswahl mit Herrn Hartz die Verringerung der Arbeitslosigkeit auf die Hälfte versprochen haben. Sie sind heute bei mehr und nicht bei der Hälfte. Von der Hälfte sind Sie meilenweit entfernt. ({3}) Lassen Sie mich aus dem Forschungsbereich nur einen Punkt herausgreifen. Nach sieben Jahren haben wir zum ersten Mal ein Energieforschungsprogramm. Die Energieforschung ist die strategische Variante der Energiepolitik. In dieser Frage der strategischen Variante haben Sie eklatant versagt. Zu der Rede des Herrn Kollegen Gloser sage ich nur: Er hat ganz gut damit angefangen, dass wir über die EU als Ganzes reden müssen, ist dann aber auch auf die nationale Ebene geschwenkt. Das finde ich bedauerlich. Der Lissabon-Antrag der Union koppelt sich mit dem Antrag der CDU/CSU zum Pakt für Deutschland. Sie müssen beides zusammen lesen, dann kommen Sie auf die richtigen Antworten. Ich denke, dass wir über die Frage der nationalen Verantwortung im Sinne auch der innenpolitischen Gestaltung mehr diskutieren müssen. Ich will allerdings auch eine Bemerkung zur Frage der Glaubwürdigkeit der EU machen. Das, was passiert ist - ich bin mit den Formulierungen von Herrn Steenblock durchaus einverstanden -, ist nicht zuletzt auch auf mangelnden Erfolg in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik zurückzuführen. Wenn Europa und damit wir alle - nicht nur eine sozusagen anonyme Kommission - an dieser Stelle versagt haben, dann müssen wir uns zur Überwindung der jetzigen Krise unter anderem - das ist nicht das Einzige auch damit auseinander setzen, wie wir in der Wachstums- und Beschäftigungspolitik neue Kräfte mobilisieren, damit die Menschen in diesem Europa, die Frieden und Freiheit als etwas Großes und Selbstverständliches mit auf den Weg bekommen haben, auch erfahren, dass dieses Europa Perspektiven in der Wirtschafts-, Sozialund Umweltpolitik bietet. Deswegen glaube ich, dass wir über die Frage reden müssen, ob Europa nicht zu sehr nach innen diskutiert. Ich will an dieser Stelle bewusst nicht nach innen, nicht über die Frage der nationalen Verantwortung diskutieren, sondern auf etwas anderes hinweisen, was in der EuKurt-Dieter Grill ropäischen Union Gegenstand der Erörterungen ist. Ich rate uns dringend, uns mit dieser Frage zu beschäftigen; es hängt mit dem Kapitalmarkt und vielen anderen Dingen zusammen. Europa steht in einem massiven Wettbewerb mit den anderen Kontinenten. Wenn wir - damit ist auch Deutschland gemeint - nicht die Herausforderung annehmen, uns auf den Wettbewerb mit den anderen Kontinenten einzustellen, dann werden wir beim Zugang zu Kapital, Menschen und Rohstoffen schlicht und einfach versagen, weil die anderen auf uns keine Rücksicht nehmen werden. Wir werden uns dieser Herausforderung stellen müssen. Auch vor dem Hintergrund einer Veröffentlichung von Herrn Tremonti in der „FAZ“ vom 1. Juni stelle ich deswegen fest: Die Selbstverständlichkeit des Wohlstandes ist vorbei. Wohlstand ist nicht mehr so selbstverständlich wie vor 1990. Es gibt neue Herausforderungen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, Sie sagen gerade gute und wichtige Dinge; aber Sie müssen doch zum Schluss kommen.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Ich glaube, dass wir im Zusammenhang mit dem Thema Bürokratie eines aufnehmen sollten - ich zitiere hier noch einmal Herrn Tremonti, weil mir das, was er geschrieben hat, ausgesprochen gut gefallen hat -: Europa muss auf das Modell einer perfekten Gesellschaft und eines perfekten Marktes verzichten. Das wäre der erste Schritt, um weniger Bürokratie und mehr Wachstumskräfte zu erreichen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Werner Bertl. ({0})

Hans Werner Bertl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002628, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass wir heute über einen Antrag der CDU/CSU sprechen, der die Bundesregierung auffordert, sich mit den Ende März im Europäischen Rat und auch im Kok-1-Bericht aufgezeigten Problemen des Lissabon-Prozesses zu beschäftigen. Aber viel entscheidender finde ich, dass wir daran heute festmachen können, dass genau dieser Weg durch die Bundesregierung beschritten wurde und wir entscheidend dazu beigetragen haben, dass die Konzentration des Lissabon-Prozesses überhaupt vorankommt. Ich glaube, die Menschen wissen kaum, was mit diesem Lissabon-Prozess gemeint ist. Es ist ein sehr ehrgeiziges Programm, welches im März 2000 aufgelegt wurde, um Europa zum - was sagen diese Begriffe? wettbewerbsfähigsten, dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu entwickeln. Es geht um Beschäftigung, Wirtschaftsreformen und - dieses Wort habe ich jetzt hier noch nicht gehört, aber davon haben wir damals im Lissabon-Prozess gesprochen - den sozialen Zusammenhalt Europas. Gerade das, was wir in den letzten Tagen in Frankreich und den Niederlanden erlebt haben, zeigt vielleicht auch, wie wichtig für die Menschen in Europa die Frage des sozialen Zusammenhaltes ist, ({0}) wie wichtig es ist, Europa nicht als etwas Angstbesetztes zu erleben. Europa ängstigt sie möglicherweise, was die globalisierten Wettbewerbssysteme angeht; es ängstigt sie aber sicherlich, was ihre eigene Zukunft und die Zukunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme betrifft. Ich glaube, die Herausforderung für uns liegt darin, den Weg des Lissabon-Prozesses entsprechend zu gestalten. ({1}) Insgesamt lässt sich an diesen ehrgeizigen Zielen und meiner Meinung nach auch an der Kritik, die notwendig ist, festmachen, was die Bundesregierung getan hat. Für mich ist auch entscheidend, mit welchen Instrumenten wir die Ziele von Lissabon auf nationaler Ebene verfolgen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, auch in der Bewertung Ihres Antrages, wie sich die Opposition dabei verhalten oder enthalten hat. In weiten Bereichen haben Sie verhindert, dass die Ziele, insbesondere im Bereich Bildung und Forschung, erreicht werden konnten. Von meinem Kollegen sind schon die schwierigen Prozesse, sei es im Bundesrat oder im Vermittlungsverfahren, angesprochen worden, die stattgefunden haben, um finanzielle Ressourcen genau für diesen Weg, der meines Erachtens im Lissabon-Prozess richtig beschrieben ist, zu erschließen. Man muss deutlich machen, dass zwar im Bereich der Arbeitsmarktpolitik ein Teil des Prozesses im Zusammenhang mit der Agenda 2010 und mit Hartz IV von der Opposition mitgestaltet wurde. Auf der anderen Seite haben Sie sich aber immer wieder ganz schnell in die Büsche geschlagen. Der Erfolg zeigt dennoch, dass der Weg zur Verwirklichung der Lissabon-Ziele richtig ist. Unser Ziel ist ein Europa, das für die Bürgerinnen und Bürger ein Raum der Freiheit und der sozialen Sicherheit sowie ein Raum von Wachstum und Beschäftigung ist. Ich glaube, der Aspekt Freiheit und soziale Sicherheit muss genauso beachtet werden wie der Aspekt Wirtschaft und Beschäftigung. Beide Aspekte sind wichtig. Wir müssen den Menschen in den 25 Staaten der EU die von ihnen gewünschte Sicherheit geben. Sie werden Europa nämlich nur dann akzeptieren, wenn dieser Prozess in der EU nicht von Ängsten um Arbeitsplätze, um die Sicherung sozialer Standards und um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme geprägt wird. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Diskussionen über die Dienstleistungsrichtlinie und über die Wettbewerbsfähigkeit, die wir sicherlich führen müssen. Gerade angesichts der aktuellen Entwicklung können wir erkennen, dass es notwendiger denn je ist, das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit zu beachten. Im Bericht von Wim Kok - ich muss das einmal deutlich sagen - sind wir für den gesamten Prozess der Agenda 2010 und dafür, wie wir versucht haben, den Weg der Arbeitsmarktreformen erfolgreich zu gestalten, ausdrücklich gelobt worden. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass dieser Weg für die Bundesrepublik richtig ist. Wir brauchen ein nachhaltiges Wachstum, wir müssen Forschung und Entwicklung fördern sowie die Beschäftigungsrate steigern. Die Bundesregierung und die Regierungskoalition haben enorme Vorleistungen in diesem Bereich erbracht. ({2}) Wir haben Bürokratie abgebaut und wir haben mit der Agenda 2010 ein Umsteuern bis in den Bereich der sozialen Sicherungssysteme hinein vorgenommen. Wir müssen leider feststellen, dass weite Teile der Wirtschaft nur wenig Bemühen gezeigt haben, diesen Weg konstruktiv und fördernd mitzugehen. Ich finde es hochinteressant, dass man in dieser Woche erstmals in Deutschland in führenden Wirtschaftszeitungen lesen konnte, dass plötzlich auch Chefvolkswirte und Vorstände renommierter Banken den Zeigefinger heben und die fahrlässige Vernichtung von Kapital kritisieren. Sie fordern, dass Unternehmen und Management Verantwortung übernehmen. Das ist übrigens eine Position, die aus diesem Bereich der Wirtschaft jahrelang im Rausch der New Economy nie gehört werden konnte. Ich finde es, wie gesagt, hochinteressant, dass diese Punkte jetzt plötzlich zur Sprache kommen. Das zeigt, dass unser Weg, den wir durch enorme Vorleistungen in der Sozialpolitik, in der Steuerpolitik und in der Arbeitsmarktpolitik gestaltet haben, von den Verantwortlichen der Wirtschaft langsam als richtig erkannt wird und von ihnen vielleicht auch mitgegangen wird. Ihnen ist deutlich geworden, dass sie damit große Spielräume erlangen, die Lissabon-Ziele zu erreichen. Ich habe schon gesagt, dass auch Forschung und Entwicklung wichtige Ziele sind. Dazu gehört der nationale Aktionsplan. Wir sind der Meinung, dass Arbeit für junge Menschen und für ältere Menschen ein ganz entscheidender Punkt ist. Wir haben mit der Novellierung des Berufsbildungsgesetzes eine Vorleistung im Bereich der Bildung und Ausbildung junger Menschen erbracht, die uns die große Möglichkeit bietet, das Problem der Jugendarbeitslosigkeit bei uns erfolgreich zu bekämpfen. Im Rahmen der SGB-II-Reformen wurden fast 7 Milliarden Euro für aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung gestellt. Auch das muss man unter der Überschrift „Vorleistungen“ zur Kenntnis nehmen. ({3}) Wir haben deutlich gemacht, dass wir die Frage der Ausbildung junger Menschen ernst nehmen. Wir wollen allen Menschen unter 25 Jahren konkrete Angebote machen. All das gehört zur Lissabon-Strategie. Ich will an dieser Stelle noch einmal deutlich machen: Die Lissabon-Strategie ist eingebettet in den europäischen Gesamtkontext. Die damit verbundene Aufgabe ist, soziale Gegensätze in Europa zu verringern. Das bedeutet, dass es Investitionen in die Bildung der jungen Generation und in das lebenslange Lernen für alle als bestes Mittel gegen Ausgrenzung geben muss. Wenn wir den Lissabon-Prozess so verstehen und ihn entsprechend gestalten, werden wir erfolgreich sein. Zu Ihrem Antrag, den wir heute auf Empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ablehnen werden, sage ich Ihnen: Wenn Sie sich in den letzten Monaten und Jahren im Kontext Ihres eigenen Antrages bewegt hätten, dann wären wir in Deutschland ein Stück weiter. Wir hätten mit Ihrer Hilfe deutlich größere finanzielle Ressourcen freisetzen können. Sie hatten nämlich die Möglichkeit, uns im Bundesrat zu unterstützen. Mit Ihrer Hilfe wären wir in weiten Bereichen bezüglich der Frage, wie der zukünftige Prozess gesteuert werden soll, ein Stück weiter. Sie haben hier große Versäumnisse bei sich festzumachen. ({4}) Sie sollten ein Stück schuldbewusst mit sich ins Gericht gehen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/5614 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/ CSU mit dem Titel „Wachstum in Deutschland und Europa stärken - Neue Strategie für Lissabon-Ziele entwickeln“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/5025 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? ({0}) Gegenstimmen? ({1}) - Herr Ramsauer, Sie wissen: Wenn man die Macht hat, muss man bei so etwas sehr aufpassen. ({2}) Also noch einmal: Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/5025 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? ({3}) Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist in einer zweiten Abstimmung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Herr Ramsauer, ich hatte richtig gefragt. Sie haben das erste Mal falsch abgestimmt. So war es. ({4}) - Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort, aber in diesem Fall nicht. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufassung der Freibetragsregelungen für erwerbsfähige Hilfebedürftige ({5}) - Drucksache 15/5446 ({6}) ({7}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({8}) - Drucksache 15/5607 - Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Brandner bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({9}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/5609 - Berichterstattung: Abgeordnete Otto Fricke Volker Kröning Hans-Joachim Fuchtel Anja Hajduk b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({10}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Hinzuverdienstmöglichkeiten zum Arbeitslosengeld II im Interesse einer Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt verbessern - Drucksachen 15/5271, 15/5607 Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Brandner Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Klaus Brandner.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beschließen heute das Freibetragsneuregelungsgesetz. Es ist erfreulich - das möchte ich zu Beginn sagen -, dass wir uns auch in der heutigen Zeit auf eine sinnvolle Regelung verständigen können. Denn das Freibetragsneuregelungsgesetz ist kein fauler Kompromiss. Es ist eine sinnvolle Lösung. Es reiht sich in unsere Arbeitsmarktpolitik mit der klaren Losung „Fördern und fordern“ ein. Es ist ein weiterer Baustein im Rahmen unserer Arbeitsmarktgesetzgebung. Wir wollen damit Anreize schaffen. Wir wollen aktivieren. Wir wollen fördern. Wir wollen Chancen nutzen. Die Anreize zur Arbeitsaufnahme und zur Weiterführung einer Erwerbstätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt werden gestärkt. Wenn ich zum Beispiel 100 Euro hinzuverdiene, kann ich diese 100 Euro zukünftig für mich behalten. Darin besteht ein klarer Anreiz. Wenn ich 600 Euro hinzuverdiene, kann ich 200 Euro behalten. Wenn ich 1 200 Euro verdiene, kann ich 280 Euro behalten. Wenn ich 1 500 Euro verdiene, kann ich davon 310 Euro behalten. Ich will damit deutlich sagen: Die neue Regelung ist einfach. Sie ist nachvollziehbar und sie ist transparent. Sie ist - das ist ganz wesentlich für Sozialdemokraten auch familienfreundlich. Wir beschließen heute mit der abschließenden Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf weiterhin, dass es endlich Rechtssicherheit für Frauen in Frauenhäusern gibt. Frauen in prekären Situationen sollen nicht hin und her geschoben werden. Wir wollen, dass sie von einer gesicherten Rechtsgrundlage aus ihre prekäre Situation verbessern können. Deshalb haben wir jetzt verbindlich geregelt, dass die bisherige Wohnortkommune nicht aus der Verantwortung entlassen werden darf, wenn sich eine Frau zum Beispiel aus ihrem Wohnbereich in ein Frauenhaus in einer anderen Stadt begeben muss. Insofern schaffen wir Rechtssicherheit und Klarheit. Das war absolut notwendig. Die Städte und Gemeinden, die sich aus der Verantwortung stehlen wollten, haben wir damit nicht durchkommen lassen. Wir sagen: Unsolidarisches Verhalten darf sich in diesem Land nicht lohnen. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Union ist endlich zur Einsicht gekommen. Ehrlicherweise muss man in diesem Zusammenhang auch sagen, dass viele Monate ins Land gegangen sind - verlorene Monate -; denn wir hätten eine der jetzigen Regelung vergleichbare bereits im Herbst 2003 haben können. ({1}) Für diese verlorene Zeit tragen Sie die Verantwortung. Das alles ist schade. Sie haben eine Chance vertan, Menschen in prekären Situationen zu helfen; auch das muss heute ganz deutlich gesagt werden. ({2}) Seien wir einmal ganz ehrlich: Die Union ist spät aufgewacht; wir haben es gerade an diesem Beispiel gesehen. Wir haben aber auch eine ganze Reihe anderer Situationen, mit denen wir uns zurzeit auseinander setzen müssen. Frau Merkel hat gerade nach ihrer Nominierung zur Kanzlerkandidatin ein Wahlprogramm mit „Mut zur Ehrlichkeit“ versprochen. Das sind große Worte. Schauen wir, was davon übrig bleibt. Konkret fordern Sie zum Beispiel mehr Beitragsgerechtigkeit. Tatsächlich wollen Sie das Arbeitslosengeld für alle kürzen. Für jeden Arbeitslosen wollen Sie das Arbeitslosengeld im ersten Monat um 25 Prozent reduzieren. Da frage ich Sie ganz konkret: Was hat das eigentlich mit Beitragsgerechtigkeit zu tun? ({3}) Heute muss man zwei Jahre gearbeitet haben, um 12 Monate lang Arbeitslosengeld zu erhalten. Nach Ihren Vorstellungen muss man hierfür zukünftig zehn Jahre gearbeitet haben. Was hat das mit Gerechtigkeit zu tun? ({4}) Heute muss ein 45-Jähriger drei Jahre gearbeitet haben, um 18 Monate Arbeitslosengeld zu bekommen. Nach Ihren Vorstellungen muss er dafür zukünftig 25 Jahre gearbeitet haben, fast ein ganzes Berufsleben - um 18 Monate Arbeitslosigkeit finanziert zu bekommen! Was hat das mit Gerechtigkeit zu tun? ({5}) Diese Beispiele decken Ihre ganze Scheinheiligkeit auf. Sie fordern mehr Flexibilität, Sie fordern mehr Zeitarbeit, Sie fordern, dass unstete Erwerbsbiografien akzeptiert werden. Wenn sie akzeptiert werden sollen, wenn mehr Flexibilität akzeptiert werden soll, dann braucht man auf der anderen Seite aber auch mehr Sicherheit. Genau diese nehmen Sie mit einem solchen Gesetz. Nach außen geben Sie vor, den Zeitraum für den Bezug von Arbeitslosengeld zu verlängern - tatsächlich verkürzen Sie ihn. Das ist eine Mogelpackung und das muss hier entlarvt werden. ({6}) Ich will klar sagen: Die Arbeitslosenversicherung ist keine Kapitalansparversicherung. Sie muss Risiken abdecken. Ihre Regelung ist aus meiner Sicht ganz klar eine Regelung, die erstens die Leistungshöhe reduziert und zweitens die Bezugsdauer kürzt. Sie mag für Sie gerecht sein - für uns ist das ungerecht. Es ist familienfeindlich, weil gerade Eltern in ihrer Erziehungsphase genau diese unterbrochenen Erwerbsbiografien haben. Es ist unsolidarisch und ungerecht. Deswegen werden wir diesen Weg so nicht mitgehen können. ({7}) Die Union ist arbeitsmarktpolitisch auf Abwegen. Sie täuscht ein weiteres Mal, indem sie die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung auf 5 Prozent fordert. 1,5 Prozentpunkte weniger Beitrag - ich frage mich immer, inwiefern das eigentlich Mut erfordert? Beitragssenkungen, das ist leicht gesagt. Nur, was steckt denn dahinter, meine Damen und Herren? Wer den Beitrag in diesem Ausmaß senkt, nimmt genau das komplette Volumen für die aktivierenden Maßnahmen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Er nimmt genau das, was im Kern an Förderung für diejenigen zur Verfügung steht, denen man Hilfen organisieren muss, damit sie in den ersten Arbeitsmarkt eintreten können: zum Beispiel Jugendlichen für den Eintritt ins Berufsleben oder Existenzgründern, die sich selbstständig machen wollen. Genau denen nimmt man die Chance. Ist das Ihr Mut zur mehr Ehrlichkeit, meine Damen und Herren? Dann hören Sie aber bitte schön auch mit Ihren Wallfahrten zu den Berufsbildungswerken, zu den Behinderteneinrichtungen auf: Nach außen loben Sie deren Arbeit, postieren sich für Pressefotos und sagen, wie wichtig all das ist, was sie machen. Durch die Hintertür aber entziehen Sie ihnen die Finanzierungsgrundlage. Solche Scheinheiligkeit lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Das muss hier deutlich angesprochen werden. ({8}) Lassen Sie mich ein Weiteres ganz klar sagen: Sie sagen, Sie wollen die Steuern senken - oder auch nicht. Auf jeden Fall wollen Sie bei den Arbeitnehmern tiefer in die Tasche greifen. Ich nenne nur die Streichung der Sonn- und Feiertagszuschläge und die Pendlerpauschale. Das sind Beispiele dafür, dass Sie nach außen vorgeben, wie Sie Belastungen nehmen wollen, gleichzeitig aber die Belastungen tatsächlich bei den Arbeitnehmern abladen. Denen, die sich ihrer besonderen Situation stellen, die am Wochenende und unter besonderen Bedingungen ihre Arbeit leisten und lange Wege in Kauf nehmen, um zur Arbeit zu kommen, wollen Sie ihre Chancen rauben. Das muss so deutlich und klar gesagt werden, wenn man Ihre Steuersenkungspläne prüft, durch die deutlich wird, wo Sie wirklich sparen wollen. Sie wollen dies zulasten der kleinen Leute und nicht, wenn man so will, zulasten derjenigen tun, die auf breiteren Schultern wirklich mehr tragen können. ({9}) Sie sprechen von der Vorfahrt für die Arbeit. Das ist ein toller Slogan. Vorfahrt für die Arbeit heißt für die Union: Arbeitnehmerschutzrechte abbauen, den Kündigungsschutz schleifen, die Tarifautonomie knicken, das Betriebsverfassungsgesetz in wesentlichen Teilen zurücknehmen und die untertarifliche Entlohnung für Langzeitarbeitslose gesetzlich durchsetzen. Genau hiermit verschärfen Sie die Situation bei den prekären Beschäftigungsverhältnissen. Das, was Sie hier betreiben, ist keine Vorfahrt für die soziale Marktwirtschaft, das ist die Vorfahrt für den Sozialabbau. ({10}) Ich sage Ihnen: Die Situation im Land bessert sich mehr und mehr. ({11}) Wenn man ehrlich ist, dann muss man bekennen, dass so grundlegende Reformen, wie wir sie machen mussten, Zeit brauchen. ({12}) Sie bringen auch Verunsicherungen mit sich. Wer aber die Verunsicherungen nutzt, um eine viel tiefere soziale Ungerechtigkeit zu organisieren, der verhält sich nicht ehrlich. Es ist ehrlich, den Leuten zu sagen, wohin man will. Wir als Sozialdemokraten haben das getan. Was Sie gemacht haben, ist scheinheilig. ({13}) Das lassen wir nicht durchgehen. Wir werden das landauf, landab im Land deutlich brandmarken, damit jeder weiß, wohin die Reise mit Ihnen und wohin die Reise mit uns geht. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Meckelburg. ({0})

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Brandner, die Rede, die Sie hier gerade gehalten haben, ({0}) hörte sich wirklich so an, als ob Sie entweder auf die Wiedereingliederung in den DGB nach einer verlorenen Bundestagswahl mit vollen Dienstbezügen oder zumindest auf erhöhte Tantiemen hinarbeiten, falls Sie diese zurzeit noch bekommen. Jedenfalls ging das an dem, über das wir heute hier debattieren, ziemlich vorbei. ({1}) Sie haben hier zu Punkten Stellung genommen, die Sie irgendwoher gezogen haben. ({2}) Ich bitte Sie einfach, zur Kenntnis zu nehmen, dass es das Wort der Kanzlerkandidatin Angela Merkel gibt, dass das Programm am 11. Juli 2005 in den gesamten Zusammenhängen vorhanden sein wird. ({3}) Warten Sie bitte einmal ab, was darin steht. Ich habe nicht den Eindruck, dass Deutschland Angst vor diesem Programm hat. Deutschland hat Angst vor den Ergebnissen Ihrer Politik der letzten sieben Jahre. Das ist das Problem. ({4}) Ich komme auf die Hartz-Gesetzgebung insgesamt und auf die Präsentation der Ergebnisse im August 2002 zurück. ({5}) Man möchte fast von einer Zelebration im Französischen Dom sprechen. Peter Hartz hat gesagt: Ziel des Masterplans ist es, die Zahl der Arbeitslosen in drei Jahren um 2 Millionen zu verringern, sie also zu halbieren. ({6}) Das hat nicht ganz funktioniert. Damals, im August 2002, hatten wir 4 Millionen Arbeitslose, heute sind es 5 Millionen. ({7}) Damals hatten wir 27,6 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, heute sind es nur noch 26,1 Millionen. ({8}) - Sofort. - Das Problem ist, dass genau in dem Bereich, in dem ordentlich Steuern und auch Beiträge gezahlt werden, 1,5 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen sind. ({9}) Diese fehlen beim Steuereinkommen und bei den Versicherungen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. ({10}) - Zu den Erwerbstätigenzahlen sage ich Ihnen sehr gerne, dass Sie sie im Moment gerne zitieren. Aber man muss wissen, dass es bei diesen Zahlen nicht um die sozialversicherungspflichtig Beschäftigen geht, sondern es geht um eine Gesamtschau der Erwerbstätigen. Darunter fallen unter anderem Menschen mit einer staatlich geförderten Ich-AG und auch die Minijobber. Das sind also nicht die Zahlen, wie wir sie normalerweise verstehen. Deswegen können Sie diese Zahlen zelebrieren. Entscheidend ist aber die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. ({11}) Gerhard Schröder hat damals im Rahmen dieses Zelebrierens im Französischen Dom bei der Vorstellung des Hartz-Konzeptes erklärt: Wir müssen aus dem großen Wurf - das war das Hartz-Konzept - eine neue Wirklichkeit für Deutschland machen. - Die neue Wirklichkeit für Deutschland sieht wie folgt aus: höhere Arbeitslosenzahlen und weniger Arbeitsplätze. Der große Wurf ist zum Bumerang geworden. Er wird zum großen Rauswurf von Gerhard Schröder aus dem Kanzleramt führen. Nach der NRW-Wahl wissen wir, dass er nicht draußen am Tor rüttelt und ruft: Ich will da rein. Vielmehr steht er nun innen und bittet dringend darum: Ich will hier raus. - Wir werden alles dafür tun, dies bis zum September zu erreichen. Lassen Sie mich zu dem Gesetzentwurf kurz etwas sagen. Es ist uns im Anschluss an den Jobgipfel, den wir angestoßen haben, gelungen, doch noch ein paar Dinge gemeinschaftlich auf den Weg zu bringen. ({12}) - Sie müssen immer angetrieben werden. Sie können zwar „spät“ rufen, aber Sie sind vorher viel zu spät gewesen. ({13}) Lassen Sie mich etwas zu dem Ergebnis sagen. Wir haben bei den Hinzuverdienstmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose einen Kompromiss erzielt. Es ist gut, dass dies auch in solchen Zeiten möglich ist. Auf die Ergebnisse hat der Kollege Brandner hingewiesen; ich will sie nicht im Detail wiederholen. Die Regelungen führen dazu, dass das Ganze für die Betroffenen transparenter wird, dass die Berechnungen unkomplizierter und einfacher werden und dass am Ende von dem hinzuverdienten Geld mehr in den Taschen der Arbeitslosengeld-II-Bezieher verbleibt. Es gibt noch ein Problem, auf das ich hier auch öffentlich hinweisen möchte und das wir in dieser Woche im Ausschuss beraten haben. Es geht um die Frage, wann diese Regelungen in Kraft treten. Wir wollten immer, dass sie so schnell wie möglich in Kraft treten. ({14}) Unsere Vorschläge waren der 1. August oder der 1. September 2004. Im Entwurf des Gesetzes stand der 1. Oktober 2004. Es gab im Ausschuss Hinweise von der Bundesagentur und auch von der Bundesregierung, dass dies EDV-technisch zu einem so frühen Zeitpunkt nicht möglich ist. Das führt zu Umgehungslösungen, weil das in die EDV nicht direkt eingegeben werden kann. Würde dann ein Bescheid herausgehen, wäre er für den Empfänger nicht nachvollziehbar. Ich habe gesagt, das scheint darauf hinauszulaufen, dass es nach dem Oktober 2005 zu einem ziemlichen Kuddelmuddel kommen wird. Ich habe dann angeboten - das ist auch am Vortag diskutiert worden -, uns gemeinschaftlich darauf zu einigen, die Regelungen dann umzusetzen - auch wenn dies später sein sollte -, wenn es für die Probleme eine Lösung gibt. Sollten nämlich Einsprüche eingehen, so würden diese zu mehr Arbeit und mehr Bürokratie führen. Ganz offensichtlich war es so, dass die SPD bereit war, sich im Sinne der Bundesagentur zu bewegen. Die Grünen haben darauf gedrängt, es bei dem Termin am 1. Oktober 2005 zu belassen. Das war spürbar. Jetzt haben wir die Situation, dass Bundesregierung und Bundesagentur vor einem Durcheinander warnen, aber die Koalition wegen des Koalitionsfriedens - mal sehen, wie sie sich in zwei Wochen verhalten wird - beim 1. Oktober 2005 bleibt. Wir haben erklärt, dass wir an dem gefundenen Kompromiss festhalten und nicht aussteigen werden. Ich sage nur deutlich, dass wir es nicht hinnehmen werden, dass uns ein mögliches Durcheinander, das durch den heutigen Beschluss entsteht, nach einem Regierungswechsel angelastet wird. ({15}) Es kommt in den kommenden Wochen darauf an, in der Auseinandersetzung deutlich zu machen, was wir brauchen. Hierzu möchte ich nur zwei Stichworte nennen: Agenda Arbeit und Vorfahrt für Arbeit. Das werden wir jedenfalls den Bürgern anbieten. Ich gehe davon aus, dass dies dazu beitragen wird, Deutschland nach dem 18. September in eine bessere Zukunft zu führen. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute wird ein schwarzes Loch geschlossen, eines von den schwarzen Löchern in der Hartz-Gesetzgebung. ({0}) Ich muss Ihnen sagen: Ich bin sehr froh darüber. Herr Meckelburg, ich hätte mir von Ihnen schon gewünscht, hier so viel Ehrlichkeit aufzubringen, dass Sie den Menschen an den Bildschirmen und hier im Saal sagen, dass Ihre Blockade und nicht Ihr Antrieb dazu geführt hat, dass wir nicht seit dem 1. Januar 2005 eine bessere Lösung für den Zuverdienst haben, sondern eine schlechte, ({1}) die wir jetzt ändern können, weil Sie gelernt und eine Wende vollzogen haben. Wir begrüßen Lernfähigkeit durchaus. Sie sollten aber nicht für sich in Anspruch nehmen, gedrängt zu haben. Sie waren die Blockierer. ({2}) - Wir haben einen Kompromiss geschlossen, das ist richtig. Ich bin froh über die Lösung, aber wir müssen so viel Ehrlichkeit haben, den Menschen zu sagen, was das Ganze in diesem Jahr für sie bedeutet hat. Es gibt keine genauen Zahlen über die Zuverdienste, aber es sind - so wird geschätzt - ungefähr 500 000 Menschen, die dazuverdienen. Es werden jetzt nicht alle von dieser Veränderung betroffen sein, aber es ist schon so, dass ein großer Teil dieser Menschen in diesem Jahr schlechtere Zuverdienstmöglichkeiten hatte, als er hätte haben können, meine Damen und Herren von der Union. Deswegen habe ich im Ausschuss darauf gedrängt - Sie sprachen das an -, dass die Änderung so früh wie möglich erfolgt. So früh wie möglich heißt zum 1. Oktober dieses Jahres. Wir wissen, das geht nur mit einer Umgehungslösung, weil die Technik umgestellt werden muss, da wir eben nicht seit dem 1. Januar 2005 diese Regelung haben. Ich sage aber auch: Ich finde es wichtig, dass diese Lösung nicht eine pflegeleichte Lösung für die Software ist, sondern eine hilfreiche Lösung für die Menschen. ({3}) Deswegen haben wir darauf bestanden, diese Zuverdienstmöglichkeiten so früh wie möglich zu verbessern. ({4}) Es gab ein schwarzes Loch und es fehlte die Balance zwischen Fordern und Fördern an einigen Stellen. Wir stellen sie jetzt an dieser Stelle her. Herr Brandner hat auf einen anderen Punkt hingewiesen, der mir auch sehr wichtig ist: Die Finanzierung der Frauenhäuser ist jetzt sichergestellt, auch dann, wenn Frauen vom Landkreis in die Städte ziehen. Das ist sicher ein Fortschritt für die Frauen und die Frauenhäuser. Wir haben mit der gesamten Hartz-Gesetzgebung an einem großen Rad gedreht. Das ist wohl wahr. Eine große Reform führt, auch weil die Bundesagentur für Arbeit eine große Institution ist, bei der wir viele Regeln verändert haben, in der Umsetzung zum Knirschen. An vielen Punkten hakt es. Wir haben deswegen den Ombudsrat eingesetzt und hatten eine Hauptsteuerungsgruppe; denn wir wollten sehr genau beobachten, wo es hakt und wo es knirscht. Der Ombudsrat hat jetzt einzelne Punkte in die Debatte gebracht, bei denen er Änderungsbedarf sieht. Das sind Punkte, die wir von Anfang an thematisiert haben. Ein Punkt ist die Altersvorsorge. Natürlich legen die Menschen etwas für die Altersvorsorge zur Seite. Dies müssen sie auch dann behalten können, wenn sie arbeitslos werden. Es wäre geradezu unsinnig, ihnen das wieder wegzunehmen. Die Grünen haben dazu einen Vorschlag gemacht und ein Altersvorsorgekonto entwickelt, welches das Ansparen für das Alter und die Situation in der Arbeitslosigkeit erleichtert. Wir werfen das wieder in die Debatte. ({5}) Der Ombudsrat hat darauf hingewiesen, dass viele Einsprüche im Zusammenhang mit der Anrechung des Partnereinkommens kamen. Das ist nahe liegend und das ist etwas, das wir von Anfang an thematisiert haben. Sie von der Union wollten ja bei der Anrechnung noch weiter gehen. Sie wollten verhindern, dass wir die Verantwortlichkeit von Eltern gegenüber Kindern und von Kindern gegenüber Eltern bei Hartz IV auflösen. Wir haben jetzt eine rigide Anrechnung des Partnereinkommens. Wir sollten auch dies auf den Prüfstand stellen, wie es der Ombudsrat fordert, und eine weniger starke Anrechnung des Partnereinkommens anstreben. Es gibt zum Beispiel in Dänemark Regelungen, die das vorsehen, und zwar ohne große Verwerfungen. Ein weiterer Punkt betrifft Probleme der Kinder. Wir haben in der Praxis gesehen, dass Kinder, die beispielsweise in Bedarfsgemeinschaften leben, Schwierigkeiten beispielsweise bezüglich der Teilhabe an Schulausflügen, kulturellen Angeboten und Ähnlichem haben. Diese Problematik müssen wir aufgreifen. Vonseiten der Grünen haben wir bei der Hartz-Gesetzgebung unser Modell der Kindergrundsicherung vorgeschlagen. Ich bin sehr froh, dass es teilweise, aber sicherlich noch nicht weit genug - auch hier gibt es Verwerfungen - in die Gesetze eingeflossen ist. Der Ombudsrat macht auch darauf aufmerksam. Ich finde es gut, von dieser Seite her Unterstützung für grüne Vorschläge und grüne Politik zu haben. Ein letzter Punkt, der auch in den letzten Tagen vom Ombudsrat thematisiert worden ist, betrifft das Thema Zentralismus bzw. Dezentralismus bei der Verwaltung von Arbeitslosigkeit. In sämtlichen Arbeitsmarktgesetzen lautet die ganz klare Linie Dezentralisierung. Das, was vor Ort passiert, muss ernst genommen werden. In der Umsetzung - das wissen Sie auch - gibt es Probleme. Es gibt Kommunen und Städte, in denen das Ganze wunderbar funktioniert, beispielsweise in Köln oder Freiburg. ({6}) In Köln hat übrigens jetzt jeder Jugendliche ein Angebot; das finde ich sehr gut. Es gibt aber auch Landkreise, in denen immer noch die Idee des Zentralismus in den Köpfen vorherrscht. Diese müssen sich auf die Hinterbeine stellen, um nicht von der Bundesagentur für Arbeit oder den Institutionen gedeckelt zu werden. Ich glaube, dass wir zukünftig sehr viel dafür tun müssen, um vor Ort eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu erreichen. Die Eingriffsmöglichkeiten der Bundesagentur für Arbeit müssen zurückgefahren werden. Ich sage aber auch: Es ist keine Lösung, wenn entweder der eine oder der andere alleine arbeitet. Wir müssen eine vernünftige Kooperation vor Ort erreichen, in die die regionalen Regelungen, die für die Langzeitarbeitslosen gut sind, aufgenommen werden, die damit eine Chance auf Durchsetzung bekommen. Danke schön. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinrich Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Brandner, der Grund für Ihre Misserfolge bei den letzten Wahlen und für die aktuellen Schwierigkeiten, in denen Sie sich befinden, ist, dass es Ihnen nicht gelungen ist, am Arbeitsmarkt nachhaltige Erfolge zu erzielen, ({0}) von größeren und offeneren Märkten zu profitieren; denn dazu hätte es ein größeres Maß an Flexibilität am Arbeitsmarkt gebraucht. Dazu waren Sie nicht bereit. Denn zu einem funktionierenden Arbeitsmarkt gehört unter anderem auch ein funktionierender Niedriglohnsektor, in dem Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt gesetzt werden. Das heißt, die Aufnahme, Herr Kollege Brandner, einer noch so gering bezahlten Beschäftigung muss attraktiv gemacht werden. Das war - zumindest hatte ich das damals so verstanden - auch das ursprüngliche Ziel der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Das ALG II sollte einen stärkeren Anreiz zur Arbeitsaufnahme setzen. Das ist - wie man bei nüchterner Betrachtung feststellen muss - bisher nicht gelungen. Zum einen, weil die Bundesagentur für Arbeit ihre Vermittlungstätigkeit fast gänzlich eingestellt hat. Anders kann ich das jedenfalls nicht nennen, wenn wir 2004 einen Durchschnitt von 1,4 Vermittlungen pro Monat und Arbeitsvermittler hatten. Zum anderen sind die Hinzuverdienstgrenzen im geltenden Recht zu kompliziert und vor allem unattraktiv. Derzeit werden ALG-II-Empfängern bei einem Verdienst bis 400 Euro 85 Prozent angerechnet. ({1}) Das heißt, von 400 Euro verbleiben gerade einmal 60 Euro, während, Herr Kollege Brandner, das Entgelt für die 1-Euro-Jobs anrechnungsfrei bleibt. Das ist eine nicht länger hinnehmbare Verzerrung zugunsten des zweiten und zulasten des ersten Arbeitsmarktes. ({2}) Dass bei der jetzigen und aktuell geltenden Hartz-IVGesetzgebung Nachbesserungen erforderlich würden, war schon im letzten Jahr absehbar. ({3}) - Ja, die FDP hat schon im Vermittlungsverfahren, Herr Kollege Brandner, höhere Freibeträge für Hinzuverdienste gefordert. ({4}) Die rot-grüne Bundesregierung und die Union haben sich nun geeinigt, die Hinzuverdienstgrenzen zu verändern. ({5}) Für meine Fraktion will ich hier aber deutlich sagen: Auch die geplanten Änderungen werden künftig nicht ausreichen. Beim konkurrierenden Instrument 1-EuroJob wird nämlich die Mehraufwandsentschädigung immer noch nicht auf das Arbeitslosengeld II angerechnet. Für jemanden, der einen 2-Euro-Job hat und 30 Stunden pro Woche arbeitet, sind monatlich 240 Euro zusätzlich zum Arbeitslosengeld II anrechnungsfrei. Um nach den von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union, SPD und Grünen, vorgeschlagenen neuen Hinzuverdienstgrenzen auf denselben Betrag zu kommen, muss man im ersten Arbeitsmarkt 850 Euro verdienen. Deswegen wiederhole ich: Die Anreize zur Aufnahme einer Tätigkeit sind im Modell von SPD, Union und Grünen mit Freibeträgen von 20 Prozent im Einkommensbereich von 100 bis 800 Euro - übrigens auch nach Auffassung externer Experten; ich stehe mit dieser Meinung nicht alleine - immer noch zu gering. ({6}) Ihr Vorschlag veranlasst die Menschen auch künftig, auf niedrigen Einkommensstufen zu verharren. Nach unserer Auffassung kann nur mit einem durchgängig hohen Freibetrag ein wirksamer Anreiz für eine Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt gesetzt werden. Nur mit hohen Freibeträgen kann auch Schwarzarbeit unattraktiv gemacht werden. ({7}) Für die FDP-Bundestagsfraktion will ich an dieser Stelle deutlich sagen, Herr Brandner: Derjenige, der arbeitet, muss mehr Geld zur Verfügung haben, als der, der nicht arbeitet. ({8}) Auch für den Niedriglohnsektor gilt: Wer mehr arbeitet, muss mehr behalten können als derjenige, der weniger arbeitet. Das ist eine Schwäche Ihres Vorschlags, Herr Kollege Meckelburg; ich muss das hier so deutlich sagen. Es gilt der alte Slogan: Arbeit muss sich lohnen. Die FDP hat einen einfachen und, wie ich meine, vernünftigen Vorschlage vorgelegt. Für Empfänger von Arbeitslosengeld II soll der Freibetrag bei einem Hinzuverdienst von bis zu 600 Euro im Monat auf 40 Prozent angehoben werden. Mit dem Bürgergeld der FDP, das wir auf unserem letzten Parteitag in Köln beschlossen haben, erhöht sich bei einem Einkommen von 600 Euro das verfügbare Einkommen um 285 Euro. Von jedem verdienten Euro bleibt also gut das Doppelte als bisher. Das ist eine echte Belohnung für denjenigen, der sich um eine Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt bemüht. Mit dieser Einschätzung stehen wir übrigens nicht allein: Nach einer Auswertung des Instituts für Weltwirtschaft verbessert unser Bürgergeldmodell die Motivation von Arbeitslosengeld-II-Empfängern bei geringem Einkommen deutlich stärker als das von Rot-Grün und Union vereinbarte Modell. ({9}) Deswegen sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz, Rot und Grün, sich nicht mit dem Kompromiss aufhalten, zu dem sich erstaunlicherweise niemand so recht bekennen will; Sie sollten vielmehr mit der Zustimmung zum FDP-Vorschlag den Weg für eine nachhaltige und echte Reform des Niedriglohnsektors freimachen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf, den wir heute beschließen, ist eine sinnvolle Weiterentwicklung der Arbeitsmarktreform der Bundesregierung. Die bisherige Zuverdienstregelung war kompliziert und unlogisch. Sie geht auf das segensreiche Wirken der Union - namentlich von Herrn Ministerpräsident Koch - im Vermittlungsausschuss zurück. CDU und CSU haben aber jetzt mitgeholfen, diesen Unsinn zu bereinigen, und ich begrüße es außerordentlich, dass wir uns zusammengefunden haben, um die Zuverdienstregelung zu reformieren. Ich will zunächst eine Bemerkung zu Herrn Kolb machen. Ich habe bereits in der ersten Beratung gesagt, dass der Vorschlag der FDP völlig untauglich ist. ({0}) - Ich habe ihn richtig gelesen und auch verstanden. Ich weiß aber nicht, ob Sie ihn verstanden haben. - Denn Ihr Vorschlag würde nicht zur Vereinfachung des Verfahrens führen. Insofern ist unser Vorschlag deutlich besser. Wir sehen einen Freibetrag von 100 Euro vor. Für den Teil des monatlichen Einkommens, der diesen Betrag bis zu einer bestimmten Grenze übersteigt, gilt, dass 20 Prozent behalten werden können. Das entspricht beispielsweise einem Zuverdienst von 160 Euro bei 400-Euro-Jobs. ({1}) Der Freibetrag von 100 Euro gilt durchgängig. Wir vollziehen damit auch hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse mit Mehrbedarfsaufwand eine Anpassung, wie Sie zu Recht bemerkt haben. ({2}) - Sie können zwar immer wieder dazwischenreden, aber es kann Sie sowieso keiner verstehen. Das zweite Problem besteht darin, dass Sie keine Deckelung vorsehen. Deswegen ist Ihr Vorschlag untauglich. Vielleicht weisen Sie auch Ihren arbeitsmarktpolitischen Spezialisten Niebel darauf hin, ({3}) dass schriftliche Vorlagen Hand und Fuß haben müssen. Ihr Vorschlag hat das auf alle Fälle nicht. ({4}) Ich will ausdrücklich sagen, dass es gut ist, dass wir eine Regelung für die Frauenhäuser gefunden haben. ({5}) Wir regeln das nun gesetzlich - ich sage das mit ein bisschen Bedauern -, weil sich ein Teil der Kommunen, die ja Träger der Leistungen sind, geweigert hat, eine Regelung anzuwenden, die ihnen der Deutsche Verein empfohlen hat und die wir bei den Arbeitsgemeinschaften längst umgesetzt haben. Ich bin sehr froh, dass es gelungen ist, in Gesprächen auch mit der Union - das sage ich ausdrücklich - zu einer schnellen und unkomplizierten Regelung zu kommen. Diese Neuregelung wird unmittelbar im Monat nach der Verkündung des Gesetzes in Kraft treten. Wir wollen, dass das Gesetz am 1. Oktober in Kraft tritt. Darüber hat es im Ausschuss Debatten gegeben; das will ich gar nicht verschweigen. Die Koalitionsfraktionen haben sich darauf verständigt, an diesem Termin festzuhalten. Ob man es umsetzen kann, bleibt abzuwarten. Wenn ich hier für eine vernünftige Weiterentwicklung unserer Arbeitsmarktreform mit Augenmaß plädiere, dann ist das gleichzeitig eine Absage an viele, die mit ihren konzeptionslosen Forderungen dieser Arbeitsmarktreform irgendeine neue Richtung geben wollen, weil sie angeblich keine Wirkung zeigt. Ein paar Vorschläge, die seit der NRW-Wahl am vorletzten Sonntag durch die Presse geistern, zeugen von derartiger Konzeptionslosigkeit. So will zum Beispiel Herr Pofalla eine verlängerte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes in Abhängigkeit von der Beschäftigungsdauer einführen. Abgesehen davon, dass das inhaltlich in die falsche Richtung führt, will ich Ihnen nur sagen: Die Arbeitsverwaltung registriert bislang nicht die Beschäftigungsdauern. Wir haben doch gerade Beschäftigungsdauern als Voraussetzung mit Hartz III beseitigt und die Rahmenfrist von drei auf zwei Monate reduziert. Wir haben deutlich entschlackt. Die Umsetzung des Vorschlags von Herrn Pofalla führte dazu, dass künftig die Erwerbsbiografien der Versicherten bei der Bundesagentur für Arbeit geführt werden müssen. Das hat mit weniger Aufwand überhaupt nichts zu tun und führt im Übrigen zu Benachteiligungen von Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiographien. Wenn man weiß, dass die Zahl solcher Beschäftigungsverhältnisse in Zukunft zunehmen wird - es gibt nun einmal nicht mehr das Dauerbeschäftigungsverhältnis, das sich dadurch auszeichnet, dass man mit 16 Jahren eingestellt wird und mit 65 Jahren ausscheidet; vielmehr muss man heutzutage wechseln -, dann sollte man vorher genau darüber nachdenken, welche Vorschläge man unterbreitet. Wenn ich sehe, dass Herr Pofalla in einem Antrag mit dem Titel „Pakt für Arbeit“ vom Februar dieses Jahres noch eine Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung von derzeit 6,5 auf 5,5 Prozent vorschlägt - er sagt, es sei überhaupt kein Problem, dies zu finanzieren -, dann frage ich mich, wie er das alles in einer Strategie zusammenfassen will. ({6}) Während der eine Vorschlag zu gewaltigen Mehrausgaben führt - wenn Sie genau rechnen, werden Sie feststellen, dass man ganz schnell bei 10 Milliarden Euro ist -, führt der andere Vorschlag betreffend die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung dazu, dass die Arbeitslosenversicherung sehen muss, wo sie 11 Milliarden Euro herbekommt. So viel macht nämlich die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung um einen Prozentpunkt aus. Es wäre sinnvoll, wenn Sie das noch vor der Wahl erklären könnten; denn dann wüssten die deutschen Wählerinnen und Wähler noch vor ihrer Wahlentscheidung, was Sie so alles auf der Pfanne haben. Dann hat Frau Lautenschläger, die hessische Sozialministerin, letzte Woche verkündet - auch das dient nur dazu, für Unklarheit zu sorgen und die Menschen zu verwirren -, dass jede Kommune, wenn die Union gewinnen sollte, künftig das Recht bekommen solle, Langzeitarbeitslose in eigener Regie zu betreuen. Was gilt denn nun? Vielleicht können Sie von der Unionsfraktion das einmal beantworten. Gilt nun das, was Sie im Vermittlungsausschuss mit breiter Zustimmung mit beschlossen haben, oder gilt „rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ nach dem Motto „Wenn wir gewählt werden, ist alles völlig egal; wir hauen dann die Systematik kurz und klein“? So geht es nicht. Ich glaube, dass wir für unsere Reformen Zeit brauchen. Sie müssen umgesetzt werden und wirken können. Im Hinblick darauf ist Ihr Vorschlag kontraproduktiv. ({7}) Klaus Brandner hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass Hartz IV - das muss man sich einmal vorstellen - gerade erst einmal seit fünf Monaten umgesetzt wird. In Großbritannien hat man sich - ich habe gerade meinen britischen Amtskollegen besucht - für die Umsetzung des vergleichbaren Konzepts „Jobcenter plus“ fünf Jahre gegeben. Der britische Staatssekretär im Arbeitsministerium sagte: Wir gehen an die Angelegenheit systematisch heran und stellen eine Region nach der anderen um. In Deutschland denkt man folgendermaßen: Am 31. Dezember gilt noch das eine System und am 1. Januar - siehe da, wir klatschen alle in die Hände! gilt schon das andere System. ({8}) Dass man Zeit braucht und dass es notwendig ist, die Umsetzung dieser Reformanstrengungen voranzutreiben, halte ich für selbstverständlich. Man muss es der Bevölkerung sagen. Wir sehen, dass sich in der Zwischenzeit Erfolge eingestellt haben. Um das zu erkennen, muss man nur genauer hinschauen: Im Mai waren 161 000 Menschen weniger als im April arbeitslos. Das ist ein saisonal bedingter Rückgang; aber er war viel stärker als im Durchschnitt der vergangenen Jahre. Von 2000 bis jetzt hat der Rückgang von April zu Mai im Durchschnitt immer nur bei rund 140 000 gelegen. ({9}) - Ich werde gerade nach dem Jahresvergleich gefragt. Sie bekommen eine Antwort darauf. - Dabei muss man berücksichtigen, dass seit Dezember letzten Jahres fast 400 000 ehemalige Sozialhilfeempfänger zusätzlich in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen worden sind. ({10}) Das zeigt, dass dieser Entwicklung nicht nur saisonale Einflüsse zugrunde liegen, sondern dass die Reformen schon ein wenig wirken. Die Zahl der Erwerbstätigen steigt weiter. Zu dem, was Sie hier eben erzählt haben, möchte ich sagen: Man muss sich wirklich an den Kopf fassen. Sie sagen: Es gilt nur die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. ({11}) Was gilt denn nun? Sie tönen doch an jeder Straßenecke, dass wir mehr Selbstständige brauchen, ({12}) dass wir also mehr Menschen brauchen, die sich selbstständig machen und damit erwerbstätig sind, und dass die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse auf Dauer nicht so bleiben wird wie bisher. Wenn das stimmt, dann ist die Erwerbstätigenstatistik eine ganz wichtige Größenordnung. Die Zahl der Erwerbstätigen steigt weiter. Mit rund 39 Millionen Menschen waren im Mai 138 000 Personen mehr als im Mai des Vorjahres erwerbstätig. Wir erreichen mit der Erwerbstätigenzahl von Monat zu Monat Rekorde in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das muss man verfolgen; daran muss man arbeiten. Wir alle müssen ein Interesse daran haben, dass die Erwerbstätigkeit in unserem Lande weiter und zügig zunimmt. ({13}) Das erste Ziel unserer Arbeitsmarktreform bleibt, junge Menschen in Arbeit zu bringen. Mit aktuell 568 000 jungen Menschen unter 25 in Arbeitslosigkeit liegen wir im Mai um fast 100 000 unter der Zahl von April. Ich sage Ihnen - diese Botschaft muss klar sein -: Wir werden alle Anstrengungen unternehmen, um zu erreichen, dass am Ende dieses Jahres unter 25-Jährige maximal drei Monate arbeitslos sind. Wir werden alles daransetzen, den Rechtsanspruch umzusetzen und junge Menschen mit einer Beschäftigung, mit einer Qualifikation, mit einer Ausbildung zu versorgen. Hier sind wir auf einem guten Weg. Auch in diesem Zusammenhang wirkt die Arbeitsmarktreform, die wir auf den Weg gebracht haben. ({14}) - „Das ist besonders wichtig“, das sehe ich genauso. Wir werden in unmittelbarer Zukunft ein Modellprojekt auf den Weg bringen - der Kanzler hat es schon angekündigt; das ist unsere letzte Maßnahme in diesem Bereich in dieser Legislaturperiode -; dafür stehen 250 Millionen Euro zur Verfügung. Wir wollen für 50 Modellprojekte zur Beschäftigung Älterer sorgen. Das Verfahren sieht so aus, dass wir die Regionen auffordern, Vorschläge zu unterbreiten. Wir werden uns diese Vorschläge anschauen. Die kreativsten, die besten werden entsprechend gefördert und das ganze Programm wird umgehend umgesetzt. Wer genau hinschaut, der wird merken, dass die Hartz-Reformen wirken. ({15}) Ich empfehle insbesondere, einmal einen Blick auf die Arbeitslosenzahlen in Ostdeutschland zu werfen: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen dort entspricht fast wieder der im vergangenen Jahr. Das heißt, die Zusammenfassung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ist dort weitgehend so vorangeschritten, dass der durch die Umstellung der Berechnung entstandene Berg ein ganzes Stück eingeebnet ist. Ich bin ganz optimistisch, dass wir in den nächsten Monaten schrittweise vorankommen werden. Freuen Sie sich nicht zu früh! Freude kann erst entstehen, wenn der Wahltag abgelaufen ist. Wir werden mit allen Mitteln kämpfen und der deutschen Bevölkerung deutlich machen, dass unsere Reformen sinnvoll, wichtig und richtig sind. Schönen Dank. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Veronika Bellmann.

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär Andres, wenn man Sie hört, dann kann man denken, die Hartz-Reform sei eine einzige Erfolgsgeschichte. Erzählen Sie das einmal den Betroffenen. Die sehen das ganz anders ({0}) - Moment, Herr Brandner. Ihr Kollege Wendt hat sich im Ausschuss zu Recht des Satzes von Alexander Kluge befleißigt: In Gefahr und großer Not ist der Mittelweg der Tod. Wenn man Kompromisse fasst, dann muss man auch dazu stehen. Sie haben gerade heute das beste Beispiel dafür gegeben, wie politisch schlecht miteinander umgegangen wird. ({1}) Fortwährend haben Sie uns unsere Argumente vorgehalten. Wenn auch wir das machen würden, dann könnten wir zum Beispiel einmal über die Vermögensbehalte sprechen, die Sie runtergesetzt hatten und wir durch unsere politische Argumentation wieder hoch gesetzt haben. Lassen Sie uns nicht weiter darüber reden. ({2}) - Ich lasse keine Zwischenfragen zu. Ich bin sehr erfreut darüber, was die Kollegin Dückert gesagt hat. Noch vor Jahresfrist, als wir über Änderungsbedarf bei Hartz IV gesprochen hatten, weil wir, bevor es in Kraft getreten ist, schon einige Sachen gesehen hatten, die nicht in Ordnung waren, war bei Ihnen überhaupt kein Änderungswille vorhanden. Plötzlich ist er da. Das kann man als positiv betrachten; das machen wir auch. Denn in vielem ist Hartz IV nun einmal eine Fehlkonstruktion. Das einzige wirklich Gute daran sind der Grundsatz, Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen, weil beides steuerfinanzierte Systeme sind, und der Grundsatz „Fordern und Fördern“.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) Dem Vorwurf an die Union, den günstigeren Regelungen zum Zuverdienst nicht zugestimmt zu haben bzw. nicht rechtzeitig zugestimmt zu haben, liegt etwas anderes zugrunde. Wir hatten früher die Regelung, dass man 165 Euro hinzuverdienen konnte. Deswegen ging der Verdienst auch nur bis 165 Euro und nicht weiter. Das war kein Anreiz - weder für Arbeitnehmer noch für Arbeitgeber -, etwas in diesem Bereich zu schaffen. Das Fachleutevotum war daher auch, prozentuale Anrechnungslösungen und einen Freibetrag zu schaffen. Die Lösung, die im Anschluss daran gefunden wurde - das haben Sie selbst gesagt -, war weder transparent genug noch war sie unbürokratisch und einen Arbeitsanreiz an sich hat sie auch nicht geschaffen. Deswegen ist es die richtige Entscheidung, die wir jetzt gemeinsam getroffen haben - vielleicht auch noch gerade rechtzeitig -, den Freibetrag pauschal auf 100 Euro festzulegen und höhere prozentuale Anrechnungen zu schaffen. Allerdings hätte ich mir bei dieser Sache auch noch eine einfachere Lösung vorstellen können. Die Kinderkomponente ist noch als positiv zu nennen und auch die Klarstellung der Regelung der Finanzierung bei der Problematik der Frauenhäuser. Alle bisherigen Modellrechnungen zeigen uns, dass den betroffenen Hilfeempfängern tatsächlich mehr Zuverdienst in der Tasche bleibt. Wir werden sehen, ob die erhofften Vorteile eintreten, nämlich ein besserer Anreiz für Langzeitarbeitslose bei gering bezahlten Beschäftigungen, eine Senkung der Schwarzarbeit, Unterstützung der Familien und Bürokratieabbau. Große Bedenken habe ich allerdings bei der Umsetzung. Das wurde schon bei der Diskussion im Ausschuss deutlich. Ich meine, normalerweise ist die Rechnung relativ einfach: 100 Euro Freibetrag, bis 800 Euro 20 Prozent Selbstbehalt und bis 1 200 Euro bzw. 1 500 Euro 10 Prozent. Das klingt alles sehr einfach. Manche würden sagen, man könne es auch mit einer russischen Rechenmaschine durchrechnen. Aber allein die Software macht uns einen Strich durch die Rechnung. Ich hoffe nur, dass es die Betroffenen nicht so sehr trifft, dass sie dann sagen: Das ist wieder das Gegenteil von gut gemeint. Die neue Regelung ist zwar da, aber für uns nicht praktikabel. Wenn ich das alles so betrachte - gerade die Schwierigkeiten, die es noch mit der Software gibt -, dann komme ich zu dem Schluss, dass die Optionsgemeinden das gesamte Thema Arbeitsmarktverwaltung besser anpacken als die Bundesagentur für Arbeit. Deswegen möchten wir nach wie vor, dass es keine Begrenzung bei den Optionen gibt. Das heißt, wer sich als Kommune dazu willens und in der Lage fühlt, der soll diese Aufgabe übernehmen dürfen. Wir hatten in der letzten Woche ein Gespräch mit einem Landrat aus Thüringen, der uns sehr anschaulich gezeigt hat, wie er damit umgeht. Ich glaube, in den Kommunen ist man einfach näher dran. Das gilt auch bei dem Thema der Zuverdienstregelungen. Er hat uns zum Beispiel gesagt, dass er bei sich als Landrat einen Wirtschaftsbeirat hat. In diesem Wirtschaftsbeirat sind auch Unternehmer tätig, die sich jetzt, nach Thematisierung der Zuverdienstregelungen, sicherlich sehr viel mehr bemühen werden, auch solche Arbeitsplätze zu schaffen, auf denen Arbeitnehmer und betroffene Hilfeempfänger neue Zuverdienste erzielen können. Gleichzeitig hat er deutlich gemacht, dass schon in der Begrifflichkeit ein großer Unterschied zwischen der Arbeitsverwaltung und den Kommunen besteht. Bei ihm heißt es zum Beispiel eben nicht „Kunde“ oder „Agentur“, sondern es heißt „Grundsicherungsamt“, weil es eigentlich um nichts weiter geht als darum, wirklich die Grundsicherung zu gewährleisten. ({1}) Bei ihm geht es um den Dienst am Hilfebedürftigen. Die Antworten, die die Bundesagentur für Arbeit inhaltlich und methodisch gefunden hat, sind nicht mehr ausreichend. Das wissen wir. Wir brauchen einfach Mitarbeiter, die sich viel intensiver um die Vermittlung kümmern können und die den Leuten das Gefühl geben: Da ist jemand. Er nimmt mich an die Hand. Er versteht meine Situation. Er rechnet nicht nur nach Fallzahlen ab. ({2}) Ein Zitat vom Landrat Dr. Henning fand ich ganz interessant, in dem er beim Thema Vermittlung auch seine Bürgermeister in die Pflicht nimmt. ({3}) Wir wissen, dass die so genannten 1-Euro-Jobs oder Arbeitsgelegenheiten eine wichtige Möglichkeit sind, doch eine Beschäftigung oder sinnvolle Betätigung zu finden, wenn auch sicherlich immer im Konflikt mit der gewerblichen Wirtschaft; aber es ist ein erster Ansatz. Er sagte also: Ich sehe den Bürgermeister als Hauptfürsorger in seiner Gemeinde. Ich erwarte von ihm, dass er in voller Verantwortung für die betroffenen Familien in seinem Umkreis handelt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Danke schön für den Hinweis. Er sagte weiter, ({0}) dass bei ihm im Grundsicherungsamt eine betriebsame Atmosphäre ist, aber doch ein sensibler und respektvoller Umgang der Mitarbeiter mit den Betroffenen gepflegt wird. ({1}) Ich möchte Ihnen an dieser Stelle noch etwas zu überlegen geben. ({2}) Wenn Sie schon so einen großen Änderungswillen gezeigt haben, dann sollten Sie vielleicht auch noch einmal darüber nachdenken, beim Thema Optionsmodell ebenfalls neu zu befinden. Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Brandner das Wort. - Frau Kollegin, Sie dürfen darauf erwidern. ({0}) Dabei kann man immer noch einiges unterbringen. Bitte.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, die Abgeordnete Bellmann hat in ihrer Rede gerade sinngemäß behauptet, dass Anträge der CDU/CSU auf höhere Altersfreibeträge für Langzeitarbeitslose als Schonvermögen abgelehnt worden sind. ({0}) Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Koalition eine weitaus umfangreichere Freibetragsregelung beschlossen hat, als im Existenzeingliederungsgesetz jemals vorgesehen war. Ich will noch einmal deutlich sagen, dass in Ihrem Entwurf bis zu einem Alter von 45 Jahren überhaupt keine Freibeträge vorgesehen waren, dass bis zu einem Alter von 50 Jahren 13 000 Euro vorgesehen waren und dass bis zu einem Alter von 55 Jahren 15 500 Euro vorgesehen waren. Ich will Ihnen jetzt sagen, welche Freibeträge von der Koalition beschlossen worden sind. Wir haben pro Person pro Lebensjahr einen Betrag von 200 Euro und einen Grundfreibetrag von 4 100 Euro vorgesehen. Das macht bei einem Alter von 45 Jahren einen Altersfreibetrag von 18 000 Euro aus, bei einem Alter von 50 Jahren einen Freibetrag von 20 000 Euro und bei einem Alter von 55 Jahren einen Freibetrag von 22 000 Euro. Hinzu kommt die selbst genutzte Wohnung bzw. ein entsprechender PKW. Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass zumindest im Deutschen Bundestag nicht bekannt geworden ist, dass Sie sich per Gesetz für höhere Freibeträge eingesetzt haben. ({1}) Wir haben diese Regelung durchgesetzt. Von daher bitte ich Sie um Stellungnahme, wie Sie zu dieser Äußerung kommen. ({2})

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Brandner, ich habe mich nicht auf das Gesetzgebungsverfahren ({0}) oder auf die vorliegenden Gesetzentwürfe, sondern auf unser Kompromissverfahren bezogen. Im Kompromissverfahren haben wir mit unserer Argumentation erreicht, dass die Grenzen nach oben geschoben wurden. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um Hartz IV. Es geht darum, dass Langzeitarbeitslose, also Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld II, mehr hinzuverdienen können als bislang zugelassen. Die PDS im Bundestag wird dem zustimmen. Natürlich werden wir nicht Nein sagen, wenn es um Erleichterungen für Hartz-IV-Betroffene geht. Ich sage Ihnen aber zugleich, die Erleichterungen, um die es heute geht, beseitigen bei Hartz IV nicht einmal die unsoziale Spitze, geschweige denn die ungerechte Philosophie. Nun soll es ja bekanntlich Neuwahlen geben. Wenn ich den Bundeskanzler und den Kapitalismuskritiker Müntefering richtig verstanden habe, geht es ihnen dabei um eine Volksabstimmung über ihre Agenda 2010 nebst Hartz IV. Ich finde das gut und demokratisch. Sie können sicher sein, wir werden so viele Bürgerinnen und Bürger wie möglich ermutigen, an dieser Volksabstimmung teilzunehmen. ({0}) Natürlich läuten längst die Wahlkampfglocken. So verspricht Thüringens Ministerpräsident Althaus zum Beispiel Nachbesserungen bei Hartz IV, vorausgesetzt, die CDU/CSU gewinnt die Bundestagswahl. Nun habe ich von Frau Merkel dazu noch nichts gehört, jedenfalls nichts Gutes. Ich weiß nur aus dreijähriger Erfahrung, dass der gesamte rot-grüne Sozialabbau einschließlich Hartz IV der CDU/CSU bislang stets zu lasch war. Wenn von daher CDU-Minister meinen, sie würden wollen, wenn sie denn gewännen, dann kann ich sie nur auffordern: Wollen Sie doch jetzt! Vielleicht gewinnen Sie dann auch die Bundestagswahl. Das wäre zumindest glaubwürdig. Aber genau das tun Sie nicht. Anders verhält sich übrigens das Berliner Abgeordnetenhaus. Es hat sich gestern erneut mit Hartz IV befasst. Beide Regierungsparteien, die SPD und die PDS, haben dem rot-roten Senat ein klares Mandat für eine Bundesratsinitiative erteilt: Die Zuverdienstmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose sollen deutlich erhöht werden, und zwar stärker, als Rot-Grün und die Union es heute zugestehen. Der Arbeitslosengeld-II-Regelsatz soll bundesweit einheitlich gestaltet und angehoben werden, also ohne die soziale Mauer, die die Bundespolitik bestimmt. Auch Ausgegrenzte, die kein Arbeitslosengeld II erhalten, sollen durch beschäftigungspolitische Maßnahmen gefördert werden. ({1}) Die private Altersvorsorge soll bei der Anrechnung zum Arbeitslosengeld II besser geschützt werden, damit Hartz IV nicht Altersarmut potenziert. Schließlich sollen die Kompetenzen und Zuständigkeiten zwischen der Agentur für Arbeit und den Kommunen eindeutiger geregelt werden. Die Bundesregierung will das bislang nicht und die Opposition zur Rechten lehnt das grundsätzlich ab. Sie haben offensichtlich andere Pläne. Die PDS im Bundestag befürwortet die rot-roten Pläne aus Berlin. Wir kennen nämlich aus unserer täglichen Arbeit und aus unseren Sprechstunden die Sorgen und Nöte der Hartz-Betroffenen, im Übrigen nicht nur diese, sondern auch die von manchen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Arbeitsgemeinschaften und Arbeitsagenturen, die sich trotz des schlechten Gesetzes mühen, eine gute Arbeit zu machen. Deshalb werden wir auch nicht müde, auf unsere Alternativen, auf unsere „Agenda sozial“ zu verweisen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Fuchs. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als ich eben Herrn Andres zugehört habe, habe ich den Eindruck gewonnen, dass er bar jeder Realität lebt. Er sagte beispielsweise, dass für Jugendliche bis zum Jahresende ein Rechtsanspruch auf Arbeit durchgesetzt werden sollte, scheint dabei aber die Zahlen völlig vergessen zu haben. Zurzeit gibt es 568 000 Jugendliche, die keinen Arbeitsplatz haben und auf einen solchen warten. Das sind, nebenbei bemerkt, 111 000 mehr als letztes Jahr. Das zeigt, wohin Ihre Politik geführt hat. Wir haben ein weiteres Problem: Die gesamte Situation der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist so miserabel, dass keine Hoffnung auf Besserung der Lage am Arbeitsmarkt in Sicht ist. Daran ist Ihre Politik schuld. Sie sollten einsehen, dass Sie niemand anderen dafür verantwortlich machen können. Ich habe auch kein Verständnis dafür, Herr Andres, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, der Kollege Pofalla würde ja sogar noch bei der Verlängerung des Bezugs von Arbeitslosengeld drauflegen. Jawohl, der Kollege Pofalla hat Recht. Ich sage Ihnen: Das entspricht auch meinem Menschenbild und dem christlichen Menschenbild meiner Partei. ({0}) Es für mich nicht gerecht, jemanden, der mehr als 40 Jahre lang gearbeitet hat, auf die gleiche Stufe zu stellen wie jemanden, der 25 Jahre alt ist und gerade das erste Mal arbeitslos geworden ist. ({1}) Er muss auch etwas von den vielen Jahren, die er in diese Versicherung eingezahlt hat, haben. Ich halte das für notwendig und richtig. ({2}) Wenn Sie dann sagen, das könne man nicht organisieren, dann tun Sie mir Leid. Wissen Sie nicht, dass es eine Rentenversicherung gibt, in der all diese Zeiten aufgeführt sind? Das ist sehr einfach zu organisieren. Die Zahlen sind vorhanden, man kann sie abgreifen. Das wäre überhaupt kein Problem. Herr Andres, Sie sollten darüber einmal nachdenken. Das zeigt aber, wie praxisfern Gewerkschaftssekretäre denken. Sie kennen die Arbeitsplätze nicht mehr und wissen auch gar nicht, was auf dem Arbeitsmarkt passiert. ({3}) Mich macht es betroffen, wenn ein Mann, der 35 Jahre lang geschafft hat, mit 50 Jahren arbeitslos wird. Dem sollten wir bitte etwas mehr helfen als dem jungen Mann, der mit 25 gerade das erste Mal arbeitslos wird. ({4}) Aber zurück zu dem uns heute hier vorliegenden Gesetzentwurf zu den verbesserten Hinzuverdienstmöglichkeiten: Ich halte das für gut. Es muss aber trotzdem immer wieder gelten, dass wir erstens das Lohnabstandsgebot beachten und zweitens dafür sorgen, dass die Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt immer im Vordergrund steht. Wir müssen sehr genau aufpassen, dass hier nicht genau das Gegenteil passiert, nämlich dass die Arbeit auf dem zweiten Arbeitsmarkt mehr gefördert wird als die auf dem ersten. Es ist auch dringend notwendig, dass wir bei den 1-Euro-Jobs aufpassen. Die 1-Euro-Jobs, Herr Kollege Brandner, die wir eingeführt haben, führen in vielen Bereichen schon dazu, dass Arbeit in die falsche Richtung gelenkt wird. ({5}) Wenn es obendrein auch noch so ist, dass derjenige, der einen 1-Euro-Job hat, besser dasteht als jemand, der über ALG II und Zuverdienst arbeitet, dann ist das mit Sicherheit eine Fehllenkung. ({6}) Leider ist mir aufgefallen, dass das, was wir gemeinsam gemacht haben - ich sage durchaus, dass wir das gemeinsam gemacht haben -, ein Fehler geworden ist; denn in vielen Kommunen wird wegen der klammen Lage, die Sie allerdings auch zu verantworten haben, der 1-Euro-Job missbraucht. Das führt dazu, dass Arbeitsplätze im regulären Arbeitsmarkt gefährdet sind. Die Begründung dafür ist natürlich darin zu sehen, dass Sie die Haushaltslage dahin gesteuert haben, wo sie jetzt ist. Meine Damen und Herren, wir haben in diesem Jahr annähernd 60 Milliarden Euro strukturelles Defizit zu erwarten. Dieses Defizit werden Sie uns am 18. September als Mitgift übergeben. Ich sage Ihnen voraus: Wir werden Sie aus dieser Verantwortung nicht entlassen. ({7}) Wir werden den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Wahlkampf sehr genau beweisen, wer die Situation so verfahren hat, wie sie verfahren ist. ({8}) Verehrter Herr Andres, Sie sprachen eben davon, dass Hartz IV eine solche Erfolgsgeschichte sei und Wunder in diesem Lande bewirkt hätte. Ich darf zur Auffrischung Ihrer Erinnerung das eine oder andere dazu sagen und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir folgen könnten. Erstens. Jährlich 350 000 neue sozialversicherungspflichtige Jobs über die Personal-Service-Agenturen wurden uns versprochen. Das wären 1 Million Jobs in drei Jahren. Wie viele sind es geworden, Herr Andres? Ganze 26 000. Zweitens. Sie haben uns die Ich-AGs als Wunderwaffe versprochen. Herr Hartz hat gesagt - der Bundeskanzler hat das begeistert angenommen -, es gäbe pro Jahr 500 000 neue Selbstständige. 500 000 mal drei wären 1,5 Millionen. Wie viele sind es? Im Mai 2005 - um Ihnen die genaue Zahl zu nennen - waren es 235 000. Versprochen, gebrochen: 1,5 Millionen zu 235 000. So gehen Sie mit den Bürgerinnen und Bürgern um. Sie belügen die Bürgerinnen und Bürger von vorne bis hinten. Sie erzählen große Stücke und haben kurz vor der Wahl diese 1,5 Millionen angekündigt. Was ist dabei herausgekommen? 235 000. ({9}) Ein weiterer Beweis. Kapital für Arbeit, der berühmte Jobfloater: 360 000 neue Jobs sollten geschaffen werden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Andres?

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne doch, das verlängert meine Redezeit.

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Dr. Fuchs, da Sie mich hier persönlich der Lüge bezichtigt haben, ({0}) wollte ich Sie Folgendes fragen. Als gelernter Apotheker und langjähriges Vorstandsmitglied der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sind Sie doch sicherlich in der Lage, zu unterscheiden, wer wo was zugesagt hat. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass ich diese Zahlen so nicht gebraucht habe und dass ich beispielsweise die Ich-AG für eine außerordentliche arbeitsmarktpolitische Erfolgsgeschichte halte? Sie rechnen sich irgendwelche Zahlen zusammen, die Sie mir nicht in die Schuhe schieben können. Würden Sie das zur Kenntnis nehmen und bestätigen?

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann gerne zur Kenntnis nehmen, Herr Kollege Andres, dass Sie diese Zahlen nicht selbst gemacht haben, sondern Ihr Herr Hartz sie zusammen mit Ihrer Bundesregierung gemacht hat. Aber Sie sind, soweit ich informiert bin, bis jetzt noch Mitglied dieser Bundesregierung. ({0}) Deshalb sind Sie für Zahlen verantwortlich, die Herr Hartz gemacht hat ({1}) und die Sie den Bürgerinnen und Bürgern als Fakten vorgestellt haben. Der Bundeskanzler hat doch im Französischen Dom, unweit von hier, gestanden, zum Himmel geschaut und geglaubt, er könne mit diesen Zahlen irgendetwas bewirken. Sie können doch nicht sagen, es sei eine Erfolgsgeschichte, wenn von den angekündigten 1,5 Millionen 235 000 tatsächlich eine IchAG gegründet haben. Das können Sie doch nicht ernsthaft meinen. Sie haben schließlich gesagt, es würden 1,5 Millionen Ich-AGs gegründet. Das ist doch ein Unterschied.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Andres?

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne.

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass der Bundeskanzler bei der Veranstaltung im Französischen Dom überhaupt nicht zugegen war?

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darf ich wenigstens meine Frage zu Ende stellen, Herr Dr. Fuchs? Das wäre nett von Ihnen; ich lasse mich ja von Ihnen hier auch laufend als Lügner beschimpfen.

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das habe ich nicht getan.

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Doch. Lesen Sie Ihre Rede nach! Sie haben gesagt, ich hätte gelogen. Deswegen frage ich Sie, ob ich diese Zahlen irgendwo benutzt habe. Ich sage Ihnen noch einmal: Ich glaube, dass die IchAG als arbeitsmarktpolitisches Instrument eine außerordentliche Erfolgsgeschichte ist. Wir fördern rund 500 000 Menschen, die sich selbstständig machen, aus der Arbeitslosenversicherung. Das zeigt, dass das eine außerordentliche Erfolgsgeschichte ist. Ich wollte Sie einfach nur fragen, ob Sie das verstehen oder nicht. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Ich bleibe bei meiner Aussage, Herr Andres: In Ihrem Programm zur letzten Wahl ist von 1,5 Millionen Ich-AGs die Rede. Erreicht haben Sie 235 000. Bleiben Sie doch bei der Wahrheit! Genau das ist doch keine Erfolgsgeschichte, wenn Sie vorher den Wähler haben glauben machen wollen, dass er auf diese Art das Problem der Arbeitslosigkeit gelöst bekommt. Sie haben damals im Französischen Dom versprochen - wieder versprochen und gebrochen -, dass mit den Hartz-Reformen die Arbeitslosigkeit innerhalb von drei Jahren um 2 Millionen verringert würde. Lesen Sie dazu bitte Herrn Hartz und Herrn Bundeskanzler nach. Als Mitglied der Bundesregierung sollte Ihnen das bekannt sein. Die Arbeitslosigkeit ist um 1 Million gestiegen. Das bedeutet ein Saldo von 3 Millionen. Das können Sie doch hier nicht wegdiskutieren. Glauben Sie doch nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger so dumm sind, dass sie das nicht merken! ({0}) Fest steht eins: Wir müssen Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt schaffen. Es gibt noch 26,13 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt. Nebenbei gesagt ist das der Stand März; wahrscheinlich sind die Zahlen heute schon wieder schlechter. Mit diesen Arbeitsplätzen sollen 70 Millionen Versicherte finanziert werden. Erklären Sie mir einmal, wie das in der Zukunft funktionieren soll! Daran müssen wir gemeinsam arbeiten. Gott sei Dank werden wir in Bälde die Möglichkeit dazu haben und das Ganze dann in eine andere Richtung bewegen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Neufassung der Freibetragsregelungen für erwerbsfähige Hilfebedürftige auf Drucksache 15/5446 ({0}). Der Aus- schuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 15/5607, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und der Abgeordneten Pau bei Enthaltung der FDP ange- nommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit dem eben festgestellten Stimmenverhältnis angenommen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/5607 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Hinzuverdienstmög- lichkeiten zum Arbeitslosengeld II im Interesse einer Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 15/5271 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU gegen die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Stimmen der FDP bei Enthaltung der Abgeordneten Pau angenommen worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Strobl ({2}), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU Abschiebehindernisse beseitigen - Drucksachen 15/3804, 15/5193 - Berichterstattung: Abgeordnete Rüdiger Veit Josef Philip Winkler b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Dr. Norbert Röttgen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Konsequente Abschiebung ausländischer Extremisten sicherstellen - Drucksachen 15/1239, 15/5525 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Josef Philip Winkler Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Sonntag-Wolgast.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zugegeben: Es ist ja ein bisschen schwer, der Bundesregierung und der sie tragenden rot-grünen Koalition in Fragen der Sicherheits- und Migrationspolitik am Zeug zu flicken. Die meisten Gesetze aus diesem Bereich haben Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen aus der Union, mit beschlossen. Also probieren Sie es einmal mit der Methode, irgendwie die Schraube noch ein Stück weiterzudrehen - übrigens mit geringen Erfolgsaussichten. Die beiden Anträge, über die wir heute Mittag befinden, sind allerdings besonders untaugliche Versuche. Ich möchte kurz erklären, warum. Teils fordern Sie Dinge, die schon getan sind; teils schießen Sie übers Ziel hinaus; teils nehmen Sie längst bewältigte Probleme wie den Fall Metin Kaplan nur noch als Vorwand für Ihren leider aktuell geplanten Feldzug gegen die bevorstehenden Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei. Ich weiß, dass der Antrag vom Juni 2003 veraltet ist. Aber warum bequemen Sie sich dann nicht dazu, ihn der Mottenkiste anzuvertrauen? Sie tun dies nicht, weil Sie ihn heute und in den kommenden Wochen offenbar zur Stimmungsmache nutzen wollen. Zum Glück stehen Sie damit isoliert da. Nicht nur SPD und Grüne, sondern auch die Freien Demokraten werden beide Anträge ablehnen. Und das ist auch gut so. Der Fall Kaplan - dies nur zur Erinnerung - hat bis zur Abschiebung - kein Zweifel - mühselige und ärgerliche Auseinandersetzungen wegen vielfacher Gerichtsurteile gekostet. Aber auch ein Kaplan, so widerwärtig uns sein Denken und sein Handeln sein mögen, hat einen Anspruch auf menschenwürdige und rechtsstaatliche Behandlung. Außerdem haben wir eine unabhängige Justiz, deren Entscheidungen man zwar kritisieren kann, die man aber respektieren muss. Nun zu Ihrem neueren Antrag unter der Überschrift „Abschiebehindernisse beseitigen“. Natürlich braucht man überhaupt nicht darum herumzureden, dass manche Ausländer es darauf anlegen, ihre Ausreise zu verzögern oder zu verhindern. Deshalb haben wir ja im Zuwanderungsgesetz festgelegt, dass zwischen denen, die nicht ausreisen wollen, und denen, die ohne eigenes Verschulden nicht ausreisen können, deutlich unterschieden werden muss. Was ist im neuen Gesetz alles vorgesehen bzw. was wurde auf europäischer Ebene in Angriff genommen? Ich nenne die wesentlichen Maßnahmen: Mithilfe einer Fundpapierdatenbank sollen aufgefundene Papiere passlosen Ausländern leichter zugeordnet werden. ({0}) - Herr Kollege Grindel, das stimmt nicht. - „Ausreisezentren“ sollen die Rückkehrbereitschaft fördern. Falsche Angaben zur Identität oder Staatsangehörigkeit werden unter Strafe gestellt. Wer seine Aufenthaltsdauer mit Tricks zu verlängern versucht, erhält nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nur abgesenkte Leistungen. Ins künftige EU-Visum-Informationssystem werden biometrische Daten aufgenommen, um Personen sicherer zu identifizieren. Zudem gibt es zahlreiche Rückübernahmeabkommen, bilateral und auf Ebene der EU. Sie merken: Der Katalog gesetzlicher Handhabe ist umfassend. So ganz leugnen können Sie dies nicht. Deshalb ist in Ihrem Antrag von „intensiveren“ oder „eindringlicheren“ Bemühungen die Rede. Die Formulierung im Komparativ zeigt, dass Sie zugestehen: Es geschieht allerhand. Es drängt sich allerdings die Frage auf, ob die Länder die gesetzlichen Regelungen nutzen - unter Wahrung eines rechtlich einwandfreien und humanitär verantwortungsvollen Vollzugs, versteht sich. Dazu lieferte nun leider der Hamburger Innensenator Udo Nagel ein trauriges Beispiel. Wie er erst vollmundig verkündete, Hamburg beginne jetzt als erstes Land mit der Rückführung von Afghanen ({1}) - ich sage gleich, wie das abgelaufen ist, falls Sie dies nicht gelesen haben sollten -, wie dann die einen Asylanträge stellten, ein anderer eine Deutsche heiratete und wieder ein anderer länger als sechs Jahre in der Bundesrepublik lebte, also nicht unter den Personenkreis derer fiel, die abgeschoben werden sollen, oder wie das Manöver einfach an einer ausgebuchten Maschine nach Kabul scheiterte! Das alles zeigt, wie man es nicht machen soll. ({2}) Ich nutze den Anlass unserer heutigen Debatte zu dem Appell an die Länderinnenminister, dass sie auf ihrer Konferenz am 23. und 24. Juni für lange hier lebende, sozial integrierte afghanische Familien dauerhafte Bleibemöglichkeiten und beim Pro und Kontra der Rückkehr ethnischer Minderheiten in das Kosovo behutsame, humanitär geprägte Lösungen finden mögen. Das ist mein herzlicher Appell. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand redet einer blauäugigen Großzügigkeit das Wort. Vor Extremisten müssen wir uns schützen. Das Zuwanderungsgesetz, das die Lehren aus dem 11. September 2001 durchaus nachzeichnet, sieht tragfähige Lösungen vor. Bei Unterstützung des Terrorismus, Aufruf zu oder Androhung von politisch motivierter Gewalt wird ein Aufenthaltstitel versagt. Das Verbot der Abschiebung von politisch Verfolgten, die die Sicherheit der Bundesrepublik gefährden, wird eingeschränkt. Das Staatsangehörigkeitsgesetz sieht nun vor einer Einbürgerung die Regelanfrage beim Verfassungsschutz vor. Wir brauchen daran nichts zu verschärfen. Das ist noch ein Grund mehr, Ihre Anträge abzulehnen. Ein anderer Aspekt in Ihrem Forderungskatalog alarmiert mich allerdings mehr. Sie sprechen davon - ich zitiere -, „die Abschiebungsschutzvorschriften der aktuellen Herausforderung anzupassen“. Sie wollen überprüft wissen, ob die Schutzpflichten, die sich aus der europäischen Menschenrechtskonvention ergeben, in Übereinstimmung mit den Sicherheitserfordernissen Deutschlands gebracht werden können. Ich finde das ganz schön verbrämt ausgedrückt. Im Klartext stellen Sie nämlich offenbar die Grundprinzipien der europäischen Menschenrechtskonvention infrage. Das sollten Sie dann aber auch deutlich sagen. Von mir hören Sie ebenso deutlich, dass wir gar nicht daran denken, internationale völkerrechtliche Verpflichtungen auf den Prüfstand zu stellen. ({4}) Wir sind uns doch hoffentlich darin einig: Die Stärke der Demokratie erweist sich darin, dass sie angesichts terroristischer Bedrohung das Notwendige für Schutz und Sicherheit tut, ohne aber die Prinzipien des freiheitlichen Rechtsstaates aufzuweichen. Vielleicht ist dies eine der letzten ausländerpolitischen Debatten, die wir in der laufenden Legislaturperiode führen. Für mich ist es höchstwahrscheinlich die letzte, weil ich nicht wieder kandidiere. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass dieses Thema nicht mehr oder zumindest nicht zu sehr polarisiert. Es muss doch möglich sein, die Probleme, aber auch die Chancen der Migration beim Namen zu nennen. Jawohl, es gibt Missbrauch beim Aufenthaltsrecht; aber wir tun doch viel dagegen. Jawohl, es gibt Ausländerkriminalität; aber es gibt keinen statistischen Beleg dafür, dass ausreisepflichtige Ausländer besonders häufig straffällig werden. Jawohl, Ausreisepflichtige müssen unser Land verlassen, wenn es rechtsstaatlich zu verantworten ist. Es muss doch möglich sein, dass man sich darauf verständigt, sachlich aufzuklären, ({5}) statt zu polemisieren. Die Menschen brauchen auch und gerade in der Ausländerpolitik Information statt Agitation. Es geht immer um Menschen, um das Zusammenleben, das friedliche Zusammensein, um Toleranz und darum, sich aufeinander zuzubewegen. Weder die so genannten Gutmenschen noch die Scharfmacher sind da besonders hilfreich. Sehen wir doch zu - ich hoffe es immer noch für die Zukunft -, dass wir endlich aus diesem Lagerverhalten, aus diesen beiden Gräben herauskommen! Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, wenn es denn stimmt, dass das Ihre letzte Rede war, dann will ich Ihnen im Namen des Hauses sehr herzlich für Ihre vielfältige Tätigkeit danken und Ihnen alles Gute wünschen. ({0}) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ole Schröder.

Dr. Ole Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003628, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich schließe mich selbstverständlich dem Dank und den guten Wünschen für unsere Ausschussvorsitzende Frau Sonntag-Wolgast an. Zu unseren beiden Anträgen. Deutschland galt bisher - das ist allen bekannt - in erster Linie als Vorbereitungs- und Rückzugsraum für Terroristen. Das alleine ist schon schlimm genug. Doch die bisher aufgedeckten islamistischen Strukturen und deren Vernetzung mit den Terrororganisationen machen deutlich, dass Deutschland auch das Ziel von zukünftigen Anschlägen geworden ist. Im jüngsten Verfassungsschutzbericht wird darauf hingewiesen, dass auch Deutschland im Zielkreuz des Terrornetzwerkes al-Qaida steht. ({0}) Das Gefährdungspotenzial ist enorm: Etwa 30 000 islamistische Extremisten leben in der Bundesrepublik Deutschland, von denen ein erheblicher Teil als gewaltbereit einzustufen ist. Der internationale Terrorismus ist eine epochale Bedrohung; darüber sind wir uns im Klaren. Auf absehbare Zeit wird die Verhinderung von Anschlägen die ganz große Herausforderung der Regierung und unserer Behörden darstellen. Die Schlussfolgerungen hieraus sind klar: Wir müssen den Glaubensterrorismus noch entschiedener bekämpfen, als es von Rot-Grün bisher getan wurde. ({1}) Die von CDU und CSU unterstützten Sicherheitspakete I und II und auch das Aufenthaltsgesetz haben Verbesserungen gebracht; auch das muss deutlich gesagt werden. ({2}) Aber die wesentlichen Verbesserungen gehen auf die Initiative der CDU/CSU-Fraktion und der unionsgeführten Länder zurück. ({3}) Doch wir konnten uns nicht mit allen Forderungen durchsetzen. Es bestehen weiterhin Sicherheitslücken, für die der Bundesinnenminister und vor allen Dingen die grüne Koalition verantwortlich sind. ({4}) Meine Damen und Herren, anhand von vier Fragen müssen wir prüfen, ob wir unseren Bürgern wirklich den größtmöglichen Schutz vor dem Terrorismus bieten: Erstens. Wie können wir die Einreise von Terroristen verhindern? ({5}) Zweitens. Wie schaffen wir es, Terroristen, die sich in Deutschland befinden, schneller abzuschieben? Drittens. Was machen wir mit Extremisten, die sich in Deutschland aufhalten, die wir aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit aber nicht abschieben können, beispielsweise weil ihnen im Zielland Folter droht? Viertens. Wie erhalten wir Informationen über die terroristischen Netzwerke, wie erhalten wir Informationen über deren gefährliche Pläne? Zur ersten ganz konkreten Frage: Verhindern wir wirksam die Einreise von Extremisten? ({6}) Hier macht Rot-Grün genau das Gegenteil mit seiner Visapolitik. Ich denke, der Visa-Ausschuss hat eindeutig gezeigt, ({7}) welches Sicherheitsrisiko der grüne Außenminister für unser Land darstellt. Das ist mittlerweile Allgemeinwissen. Der rechtswidrige Fischer/Volmer-Erlass hat dafür gesorgt, ({8}) dass Tausende Kriminelle und auch Extremisten ins Land gekommen sind. Noch vor knapp einem Jahr hat Bundesinnenminister Otto Schily hier an dieser Stelle zu diesem Antrag in erster Lesung behauptet - ich zitiere -: Die Visaerteilung ist unsere freie Entscheidung. Da hat er noch Recht. Und weiter: Intern findet eine sehr sorgfältige Prüfung statt. Ob der Bundesinnenminister über die Missstände Bescheid wusste - was ja schon schlimm genug wäre oder ob der Bundesinnenminister hier an dieser Stelle das Plenum angelogen hat, wird der Visa-Untersuchungsausschuss hoffentlich noch klären können. ({9}) Damit nicht genug, meine Damen und Herren: Zeitungsmeldungen konnten wir entnehmen, dass die Bundesregierung nun auch noch die Sicherheitsprüfung bei der Vergabe von Visa an Reisende aus den Staaten der Golfregion lockert. Gerade die Golfregion stellt das Drehkreuz für den internationalen Terrorismus, für alQaida-Mitglieder, dar. Auch hier werden wir für Aufklärung sorgen. Wir sind gespannt, was die Bundesregierung uns auf unsere schriftlichen Fragen hierzu antworten wird. Zur zweiten konkreten Frage: Wie schaffen wir es, extremistische Ausländer schneller abzuschieben? Hierfür haben wir Vorschläge gemacht. Der Kollege Grindel wird darauf eingehen. ({10}) Drittens. Ich frage ganz konkret: Was machen wir mit islamistischen Extremisten, die wir nach geltendem Recht nicht abschieben können, zum Beispiel weil ihnen im Zielland Folter droht? Wie wollen Sie den Bürgern bei einem in Deutschland verübten Anschlag erklären, warum sich diese Extremisten immer noch relativ frei in Deutschland bewegen können? Es ist selbstverständlich, dass die Sicherungshaft nur das letzte Mittel darstellen kann. Wenn eine Abschiebung von gefährlichen Extremisten nicht möglich ist, so muss die Sicherungshaft aber eine Option sein. Das hat auch der Bundesinnenminister zu Recht gefordert. Er konnte sich innerhalb seiner Koalition aber wieder einmal nicht durchsetzen. Die vierte und vielleicht wichtigste Frage lautet: Wie schaffen wir es, an Informationen heranzukommen? Jeder weiß, dass wir in die geschlossenen Täterkreise, die geschlossenen Netzwerke der islamistischen Terrororganisationen nicht mit V-Leuten eindringen können. Deshalb ist die Kronzeugenregelung von entscheidender Bedeutung. Ich bitte Sie, sich dieser wirkungsvollen Regelung nicht weiter zu verschließen. ({11}) Ein weiterer Punkt ist die Schaffung einer umfassenden Antiterrordatei. Der Bundesrat hat hierfür einen entsprechenden Entwurf eingebracht. Sie von Rot-Grün haben dagegengestimmt. Sie, Frau Stokar von Neuforn, haben hier vollmundig gesagt: Bis Ostern 2005 wird die Bundesregierung einen entsprechenden Antrag einbringen. Ostern 2005 ist vorbei und ein effizienter und effektiver Informationsaustausch zwischen den Behörden ist immer noch nicht gegeben.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, achten Sie auf die Zeit.

Dr. Ole Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003628, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Rot-Grün sollte auch hier endlich einmal seine Hausaufgaben machen, wenn es Ihnen mit der Sicherheit für unsere Bürger ernst ist. Wenn wir in Deutschland das Risiko einer Katastrophe eingrenzen wollen, ({0}) dann müssen wir jetzt schnell handeln. Ich bitte Sie, sich dem nicht zu widersetzen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat der Abgeordnete Josef Winkler. ({0})

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, Herr Tauss, den Auftrag nehme ich an. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schröder, ich dachte, Sie wären schon beim Schreiben Ihres Berichts für den Untersuchungsausschuss. Wenn alle Ergebnisse so klar sind, wie Sie das gerade geschildert haben, dann weiß ich gar nicht, warum Sie sich so darüber aufgeregt haben, dass die Beweisaufnahme bis zur möglichen Neuwahl unterbrochen wird. ({0}) - Ich habe hier überwiegend das Wort. Die CDU/CSU gibt in ihren Anträgen, über die wir heute hier zum wiederholten Male sprechen, vor, sich mit der Beseitigung von Abschiebungshindernissen zu befassen. Herr Kollege Grindel, dass das Wahlkampfmunition sein soll, haben Sie schon gesagt; es ist ein wenig Getöse. In Wirklichkeit zielen Sie darauf ab, eine rigorose und meiner Meinung nach fast schon menschenverachtende Abschiebungspolitik durchzusetzen. ({1}) Herr Niebel von der FDP hat gesagt, Frau Merkel sei auch die Kanzlerkandidatin der FDP. Herr Burgbacher und Herr Dr. Stadler, vielleicht können Sie gleich darauf eingehen, wie die Tatsache, dass Ihre Kanzlerkandidatin solche Anträge ins Parlament einbringt, mit Ihren Ansichten kompatibel gemacht werden kann. ({2}) Wie soll ich diese Anträge sonst werten, wenn zum Beispiel die Nutzung der zulässigen Rechtsmittel oder psychische Erkrankungen generell unter einen Missbrauchsverdacht gestellt werden? ({3}) Die Kollegin Sonntag-Wolgast hat bereits gesagt, dass Sie die Bundesregierung dazu auffordern, sich für eine Aufweichung der menschenrechtlichen Schutzstandards der europäischen Menschenrechtskonvention zu bemühen. Die europäische Menschenrechtskonvention verbietet zu Recht Abschiebungen, auch solche von unliebsamen Straftätern und Extremisten, wenn ihnen Folter droht. Daran wird nicht gerüttelt. Wer das ändern will, der muss eben die europäische Menschenrechtskonvention ändern. Das werden wir nicht mitmachen. ({4}) Der von Personen wie dem erwähnten Metin Kaplan oder von ähnlich gelagerten Fällen ausgehenden Gefahr für die Bundesrepublik kann mit den Mitteln der Strafverfolgungsbehörden und des Zuwanderungsgesetzes - unseres Kompromisses -, wie zum Beispiel neuen Meldeauflagen und Einschränkungen der Freizügigkeit, begegnet werden. Wer diesem Personenkreis gegenüber nach einer Sicherungshaft oder einem kurzen Prozess ruft, der streut der Öffentlichkeit Sand in die Augen. Wir haben hierzu schon gemeinsam einen Kompromiss erarbeitet, dem wir unter Schmerzen zugestimmt haben. Dass Sie sich daran nicht mehr erinnern wollen, ist mir inzwischen auch klar geworden. ({5}) Die Voraussetzungen für eine Abschiebung ausländischer Extremisten in deren Herkunftsländer müssen diese Staaten demnach primär selbst schaffen. Wenn in diesen Ländern zum Beispiel Folter für ein minder schweres Delikt gehalten oder es zugelassen wird, Aussagen vor Gericht zu nutzen, die unter der Folter erpresst wurden, soll es meiner Meinung nach nicht möglich sein - es ist auch nicht möglich -, dass Menschen aus einem Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland in solche Länder abgeschoben werden. Zusammengefasst: Sachgerechte und rechtsstaatliche Maßnahmen gegen Personen wie Metin Kaplan, aber auch Extremisten und potenzielle Terroristen finden unsere Unterstützung. Für eine reine Symbolpolitik und den Abbau von Grundrechten zu Wahlkampfzwecken stehen Bündnis 90/Die Grünen und große Teile der SPD ({6}) - sogar alle - nicht zur Verfügung. ({7}) - Der Kanzler hat mein volles Vertrauen. Ich glaube, das hört er gar nicht so gerne. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das ist aber gefährlich.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte jetzt Ihre Aufmerksamkeit auf eine andere Gruppe von ausreisepflichtigen Menschen richten - die Kollegin Sonntag-Wolgast hat das schon getan; ich will das, was sie gesagt hat, noch einmal unterstreichen -: Es geht um Flüchtlinge aus Afghanistan, die hier seit langen Jahren immer mit kurzfristig verlängerten Duldungen leben und dementsprechend bisher keine Integrationsperspektive hatten und auch noch keine haben. Sie kennen die Geschichte mit den Entscheidungsstopps beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Flucht und die verschiedenen Gerichtsverfahren. Zwar wurde die Abschiebung für immer wieder ausgesetzt. Aber ihnen wurde keine Integrationsperspektive eröffnet. Dabei sind wir uns bei Flüchtlingen aus Afghanistan sicher einig, dass diese Menschen, die vor dem finsteren Bürgerkrieg und dem schlimmen Regime, das dort geherrscht hat, hierher geflohen sind, ihre jahrelange Anwesenheit in unserem Land nicht selbst verursacht haben. ({0}) Die Kettenduldungspraxis - damit komme ich zum Schluss -, die wir als Gesetzgeber überwinden wollten, wird leider auch nach In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes fortgeführt. Ich möchte an dieser Stelle vor allem an Sie, meine Damen und meine Herren von der Unionsfraktionen, aber auch an die Bundesregierung - die, wie gesagt, mein volles Vertrauen hat - appellieren, Ihren Einfluss auf der demnächst anstehenden Innenministerkonferenz dahin gehend geltend zu machen, dass jahrelang geduldete afghanische Flüchtlinge im Rahmen einer Altfallregelung endlich ein Aufenthaltsrecht in Deutschland erhalten. Eine solche positive Entscheidung ist unserer Meinung nach überfällig. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Max Stadler. ({0})

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland erfüllt - und wird das auch in Zukunft tun - humanitäre Verpflichtungen, etwa durch Gewährung des Asylgrundrechts. Wir haben den Zugang in unser Land mit dem Zuwanderungsgesetz vorsichtig und in vernünftiger Weise geregelt. Deswegen ist es auf der anderen Seite völlig konsequent, wenn diejenigen, die kein Recht und keine Duldung mehr haben, in Deutschland zu bleiben, entschlossen abgeschoben werden. ({0}) Insofern teilen wir das Anliegen der Union. Wenn Abschiebungen, die vom Gesetz her geboten sind, durch Rechtsmissbrauch oder Tricksereien verhindert werden, so muss dem entgegengetreten werden. Auch dieses Anliegen aus Ihrem Antrag teilen wir als FDP selbstverständlich. Aber es gibt auch einige Aspekte, die in den Anträgen der CDU/CSU nicht enthalten sind. Das größte Abschiebungshindernis ist in Wahrheit doch meistens die unsichere Lage im Herkunftsland von Flüchtlingen. Wir haben das kürzlich in der Unterrichtung einiger Mitglieder des Innenausschusses durch den renommierten Experten Victor Pfaff aus Frankfurt erfahren, der die schwierige Lage in Afghanistan geschildert hat. ({1}) - Herr Grindel, ich weiß, dass Sie behaupten, andere Informationen zu haben. ({2}) Ich kann nur aufgrund der Delegation von renommierten Experten, die mit Herrn Pfaff gerade dort gewesen ist, sagen: Vorsicht bei Abschiebungen in Gebiete, in denen Leib und Leben der Flüchtlinge gefährdet sind. ({3}) Es gibt ein weiteres Abschiebungshindernis, und zwar nicht rechtlicher, sondern praktischer Art. Viele Menschen, die lange in Deutschland sind und hier ihre Kinder geboren haben, die schon zur Schule gehen, sind hier verwurzelt und integriert. Jeder von uns wird doch in seinem Wahlkreis von Kirche und Schule, von Handwerkern und Vereinen angesprochen, ({4}) weil niemand versteht, dass sich viele in Deutschland aufhalten, bei denen die Integration Probleme macht, aber auf der anderen Seite solche, die bestens integriert sind, ({5}) plötzlich abgeschoben werden sollen. ({6}) Da muss es doch vernünftige Altfallregelungen geben. Ich sage Ihnen am Ende noch eines ganz klar: Mit der FDP gibt es kein Rütteln an der Europäischen Menschenrechtskonvention und an der Antifolterkonvention. ({7}) Ich sage: Hände weg von diesen internationalen Verpflichtungen, die wir zu Recht eingegangen sind! In einer Formulierung einer der Anträge der Union sah es so aus, als ob Sie das nicht mehr gelten lassen wollten. ({8}) Ich habe das schon von dieser Stelle aus gerügt und Sie haben klargestellt, dass es nicht so gemeint gewesen sei. Das ist eine Basis. Aber wir können natürlich nicht einem Antrag zustimmen, in dem eine Formulierung steht, die den Eindruck erweckt, als wollten Sie die Europäische Menschenrechtskonvention zur Disposition stellen. ({9}) Ganz zum Schluss, Herr Kollege Schröder: Sie kommen aus dem schönen Norden unseres Landes. ({10}) Daher ist Ihnen der Landkreis Passau verständlicherweise nicht bekannt. Ich will Ihnen berichten: In Hauzenberg im Landkreis Passau gibt es den ersten Fall, den Sie angesprochen haben. Bei jemandem, der aufgrund bestimmter Umstände des Terrorismus verdächtigt wird und den man im Moment noch nicht abschieben kann - das wird noch kommen -, werden die neuen Möglichkeiten des Zuwanderungsgesetzes, nämlich ihn völlig zu isolieren und total zu überwachen, in einer solchen Weise angewandt, dass alle Ihre Bedenken berücksichtigt sind. Hier haben wir also beim Zuwanderungskompromiss gemeinsam Regelungen geschaffen. ({11}) Die FDP greift berechtigte Anliegen auf; aber wir halten uns an die humanitäre Tradition des Grundgesetzes und an internationale Verpflichtungen, die aus der Antifolterkonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention resultieren. Das ist in diesem Bundestag so und das wird im nächsten Bundestag so bleiben. ({12}) Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Reinhard Grindel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will gerne die Worte meines Kollegen Thomas Strobl wiederholen: Wir müssen uns einmal über das Aufenthaltsrecht des Kollegen Tauss hier im Deutschen Bundestag unterhalten. Er ist manchmal in der Tat schwer zu ertragen. ({0}) Die Menschen fragen oft, wo eigentlich die Unterschiede zwischen CDU/CSU und Rot-Grün sind. An diesem Punkt kann man das klar und deutlich herausarbeiten: Ob es Bleiberechtsregelungen für Illegale sind, ob es die Visaaffäre ist oder Ihre mangelnde Bereitschaft zu einer konsequenten Abschiebung von ausreisepflichtigen Ausländern ({1}) Ihnen geht es in Wahrheit um massenhafte Zuwanderung, auch auf Kosten der Integration der hier lebenden Ausländer. ({2}) Uns geht es um weniger Zuwanderung und mehr Integration der ausländischen Mitbürger, die hier leben. Das ist der zentrale Unterschied. ({3}) Ich will etwas zu dem sagen, was Sie, Frau SonntagWolgast, angesprochen haben, zu den EU-Rückführungsabkommen. Hier hat die EU versagt. Es gibt Rückführungsabkommen mit Hongkong und Macao, aber nicht mit den Hauptherkunftsländern der Ausländer, über die wir uns unterhalten. Es gibt Rückführungsabkommen, die funktionieren, und zwar mit Ungarn, mit Polen und mit Rumänien; die hat Innenminister Rudolf Seiters gemacht. Davon leben wir noch heute. Das ist die Faktenlage bei der Frage der Rückführungsabkommen. Sie waren ein bisschen unvorsichtig, als Sie hier die Abschiebung von afghanischen Flüchtlingen und die Diskussion in Hamburg thematisiert haben. Die praktischen Probleme, die es in der Tat gibt, hat die Ausländerbehörde in Hamburg zu verantworten. Es wäre schon fair gewesen, den Kollegen hier mitzuteilen, dass der Leiter der Ausländerbehörde in Hamburg, Ralph Bornhöft, ein ehemaliger SPD-Bürgerschaftsabgeordneter ist. ({4}) Er ist der Verantwortliche. ({5}) Vielleicht sollten Sie bei Ihren eigenen Genossen aufräumen, bevor Sie den Senat der Freien Hansestadt Hamburg angreifen. ({6}) - Ich weiß, dass es für Sie schwer erträglich ist, dass man sich über die Verhältnisse etwas schlauer gemacht hat. ({7}) - Das ist keine Ablenkung. Es wäre nett, wenn ich bei all Ihren Zwischenrufen kurz die Gelegenheit hätte, ein Sachargument einzubringen. ({8}) - Ja, ich bringe es gerne ein. Bundesinnenminister Otto Schily hat uns am Mittwoch - die Vorsitzende des Ausschusses wird das wissen - einen schriftlichen Bericht über die Lage in Afghanistan und über die Frage der Rückführung von afghanischen Flüchtlingen und Kosovo-Albanern bzw. Flüchtlingen, die in das Kosovo zurückgeführt werden sollen, vorgetragen. In diesem Bericht steht, dass es um die Ausreise von 16 000 afghanischen Flüchtlingen von insgesamt 60 000 Afghanen, die bei uns sind, geht. Man muss der Öffentlichkeit sagen, um was für Personen es sich handelt. Es handelt sich nur um allein stehende männliche Volljährige zwischen 18 und 60 Jahren und vor allen Dingen um Straftäter, die ein erhebliches Strafmaß bekommen haben, die wir zurückführen wollen. ({9}) In dem Bericht von Otto Schily steht auch, dass andere EU-Staaten selbstverständlich abschieben, etwa Großbritannien, die Niederlande und Dänemark. Großbritannien hat im letzten Jahr fast 600 Afghanen abgeschoben. Ich sage Ihnen eines ganz deutlich: Dass man noch nicht einmal Straftäter abschieben können soll, obwohl mittlerweile Tausende von pakistanischen und iranischen Gastarbeitern in Afghanistan arbeiten, hat mit dem Schutz von Flüchtlingen nichts mehr zu tun, aber sehr wohl mit hemmungsloser Zuwanderung durch die Hintertür. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Grindel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sonntag-Wolgast?

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Grindel, ist Ihnen bei Ihrem etwas aufgeregten und polemisierenden Beitrag entgangen ({0}) - darf ich meine Frage stellen? -, dass ich in meinem Plädoyer für einen humanitären Umgang mit afghanischen Flüchtlingen von schon lange hier lebenden Familien, von sozial integrierten Menschen gesprochen habe?

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn Sie zugehört hätten, hätten Sie nicht überhören können, dass ich gesagt habe, dass sowohl der Bundesinnenminister in seinem schriftlichen Bericht an unseren Ausschuss als auch wir immer von der Rückführung von 16 000 afghanischen Flüchtlingen sprechen, wie es auch auf der Innenministerkonferenz vereinbart wurde. Zu diesen 16 000 afghanischen Flüchtlingen gehört der Personenkreis, den Sie erwähnt haben, überhaupt nicht. ({0}) Ich will Ihnen noch etwas vorhalten, damit sie genauer erkennen können, worum es geht. Diese Bundesregierung macht auch in diesen Tagen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Rückführungswerbeaktionen für Afghaner unter der Überschrift: Heimat in Afghanistan Zurückkehren? Wir beraten Sie gern! Damit das Ganze auch verstanden wird, gibt es dies auch in afghanischer Sprache. So viel zu der Frage, ob es unmoralisch, ob es unverantwortlich ist, diese afghanischen Flüchtlinge zurückzuführen. Die eigene Bundesregierung macht solche Werbekampagnen. Vielleicht räumen Sie erst einmal in Ihrem eigenen Laden auf, bevor Sie solche polemischen Angriffe gegen uns starten. ({1}) Innenminister Schily hat uns auch etwas zur Rückführung von Roma und Serben geschrieben. Er schreibt: Bleiberechtsregelungen - wie Sie und auch die Ausländerbeauftragte sie verlangt haben würden der mit UNMIK vereinbarten Weiterentwicklung der Rückführungsprozesse für Minderheiten aus dem Kosovo, die sich voraussichtlich auch positiv auf die freiwillige Rückkehr auswirken dürfte, zuwiderlaufen. Auf der Regierungsbank ist leider kein Vertreter des Bundesinnenministeriums. ({2}) Es wäre ganz schön, wenn Sie Ihre Position einmal mit der vom Bundesinnenministerium koordinieren würden. Ich kann nur sagen: Wo der Bundesinnenminister und sein Ministerium Recht haben, haben sie Recht. Wir unterstützen diese Politik. Es geht darum, dass wir keine zusätzlichen Abschiebehindernisse schaffen wollen. Sie hingegen haben dies versucht, indem Sie sich im Vermittlungsausschuss dafür eingesetzt haben, dass eine Überprüfung von Flüchtlingen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Zukunft unterbleibt und diese sofort eine Niederlassungserlaubnis bekommen. Wir haben das zurückgewiesen und damit erreicht, dass zum Beispiel diejenigen, die als mutmaßliche Straftäter des geplanten Attentats auf Alawi verhaftet wurden - auf diese Verhaftung ist der Bundesinnenminister ja sehr stolz -, nicht unter diese Regelung fallen. Die hätten nämlich eine Niederlassungserlaubnis bekommen, wenn Sie sich durchgesetzt hätten. Damit hätten wir große Schwierigkeiten gehabt, sie abzuschieben. Noch ein Wort zu Kettenduldungen. Ich will ganz klar hervorheben - daran werden wir auch nach einem Regierungswechsel nicht rütteln -, dass wir die Kettenduldungen für diejenigen, die ihre dauerhafte Anwesenheit hier nicht selbst verschuldet haben, abschaffen. Das haben wir im Zuwanderungsgesetz vereinbart; wir haben auch eine Härtfallregelung vereinbart. Eines aber ist völlig eindeutig: Wer seine Papiere vernichtet hat und seinen Reiseweg verschleiert - das trifft für den überwiegenden Anteil der ausreisepflichtigen Ausländer zu -, der kann doch nicht noch mit einem Bleiberecht für seine Rechtsverstöße belohnt werden. ({3}) Die Anwesenheit von mehreren Hunderttausend ausreisepflichtigen Ausländern sorgt für Probleme; ich habe schon in der ersten Beratung darauf hingewiesen. Sie wirkt sich auf die Kriminalität aus und verursacht hohe Kosten für Länder und Kommunen. Es geht nicht an, dass wir auf der einen Seite in den Kommunen keine Kindergärten bauen und Schulen und Straßen nicht sanieren können, sodass vor allem im Baugewerbe Arbeitsplätze wegen mangelnder Investitionen verloren gehen, aber auf der anderen Seite Hunderte von Millionen für ausreisepflichtige Ausländer ausgeben, weil wir ihre Abschiebung nicht hinbekommen. Das verstehen die Menschen in unseren Wahlkreisen nicht. Das verstehen übrigens gerade auch die Wähler Ihrer Partei, der SPD, nicht. Deswegen kann und darf das nicht so bleiben. Spätestens nach dem 18. September - sofern der Bundespräsident den Bundestag auflöst - werden wir dafür sorgen, dass sich das ändert und dass die Menschen in ihre Heimat zurückgeführt werden, wie es das Gesetz vorschreibt. ({4}) Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 15/5193 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Abschiebehindernisse beseitigen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3804 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. Wir kommen zur nächsten Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 15/5525 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Konsequente Abschiebung ausländischer Extremisten sicherstellen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1239 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit wie soeben angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 sowie Zusatzpunkt 5 auf: 24. Erste Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Olaf Scholz, Erika Simm, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Jerzy Montag, Volker Beck ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Offenlegung der Vorstandsvergütungen ({1}) - Drucksache 15/5577 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Präsident Wolfgang Thierse ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Rainer Brüderle, Daniel Bahr ({3}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Stärkung der Eigentümerrechte einer Aktiengesellschaft ({4}) - Drucksache 15/5582 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({5}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Bundesministerin Zypries.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Anfang März haben wir uns mit der SPD-Fraktion darauf verständigt, dass die individuelle Offenlegung der Vorstandsbezüge bei börsennotierten Aktiengesellschaften gesetzlich geregelt werden soll. ({0}) Das Kabinett hat daraufhin auf meinen Vorschlag am 18. Mai das so genannte Vorstandsvergütungs-Offenlegungsgesetz verabschiedet. Heute führt der Bundestag die erste Beratung des gleich lautenden Entwurfs der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen durch. Warum legen wir diesen Gesetzentwurf vor? Seine Geschichte beginnt im Jahr 2001, als die Bundesregierung die Regierungskommission Corporate Governance Kodex eingesetzt hat. Unter Leitung des renommierten Thyssen-Krupp-Aufsichtsratsvorsitzenden Dr. Gerhard Cromme erarbeitete sie 70 Empfehlungen für eine gute Unternehmensführung der börsennotierten Unternehmen. Der so genannte Corporate Governance Kodex, der Unternehmen Leitlinien für gute Unternehmensführung bieten soll, orientiert sich vor allem an einem Grundsatz, nämlich dem der Transparenz. Denn für die Aktionäre als Eigentümer der börsennotierten Unternehmen ist es wichtig, zu wissen, welche Entscheidungen in der Unternehmensführung in Vorbereitung sind und ob diese nachvollziehbar sind. Nur dann ist auch Kontrolle möglich und nur dann, wenn Kontrollmöglichkeiten bestehen, können Fehlentwicklungen verhindert werden. Der Kodex enthält das, was Herr Cromme als „Verhaltensweisen eines ehrbaren Kaufmanns“ umschreibt. Er ist auch im Ganzen gesehen eine echte Erfolgsgeschichte. Im Jahr 2005 werden allein im DAX-Segment durchschnittlich 70 der 72 Empfehlungen befolgt. Insgesamt beträgt die Umsetzungsquote mehr als 97 Prozent. Insofern wird deutlich, dass die Idee der Selbstregulierung funktioniert, in diesem Fall allerdings mit einer einzigen Ausnahme. Diese betrifft die Offenlegung der Vorstandsgehälter. Der Kodex empfiehlt, dass die Vorstandsgehälter individualisiert offen gelegt werden sollen. Wir haben immer sehr dafür geworben. Wir haben die Frist noch einmal verlängert und den Unternehmen gesagt: Bitte tut es selbst, sonst muss der Gesetzgeber handeln. - Die Offenlegung setzt sicherlich einen Kulturwandel in den Unternehmen voraus, zumindest in Deutschland, nicht aber in Großbritannien, Frankreich, Italien, den USA oder Kanada; denn überall dort ist eine individualisierte Offenlegung längst vorgeschrieben. Trotz der verlängerten Frist waren es gleichwohl nur etwa 70 Prozent der DAX-30-Unternehmen, die sich zu einer Offenlegung bereit erklärt haben. Bei den M- und S-DAX-Unternehmen ist die Quote noch deutlich niedriger. Ziel unseres Gesetzes ist die Stärkung der Kontrollrechte der Aktionäre. Es geht nicht darum, einen allgemeinen Informationswunsch der Öffentlichkeit zu erfüllen oder sogar Neid und Neugier zu befriedigen. Das ist nicht unser Ziel. Wir wollen vielmehr, dass die Aktionäre, die Eigentümer der Unternehmen, darüber informiert werden, ob der Aufsichtsrat die Vergütung für den Vorstand angemessen festgesetzt hat. Das Aktiengesetz verlangt schon heute, dass die Bezüge in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben und zur Lage der Gesellschaft stehen. Das sollen Aktionäre künftig nachvollziehen können. ({1}) Der Gesetzentwurf sieht deshalb vor, dass künftig die gesamten Bezüge jedes einzelnen Vorstandsmitglieds unter Namensnennung anzugeben sind. Wir verlangen die Aufschlüsselung in erfolgsunabhängige und erfolgsbezogene Komponenten sowie Komponenten mit langfristiger Anreizwirkung wie Aktienoptionen. Wir wollen auch, dass die Ruhestandsgehälter sowie die Versorgungs- und Abfindungszusagen erfasst werden; denn gerade das ist einer der Punkte, bei denen es in der Vergangenheit immer wieder zu erheblichen Problemen gekommen ist. ({2}) Ganz wichtig: Es geht um eine Stärkung der Aktionärsrechte. Deshalb sollen es letztlich die Aktionäre sein, die darüber entscheiden. Wir ermöglichen es jedem einzelnen Unternehmen, zu sagen: Wir wollen das nicht wissen. - Das können die Aktionäre in der Hauptversammlung mit Dreiviertelmehrheit entscheiden. Ein solcher Beschluss gilt jeweils für fünf Jahre. Um es klar zu sagen: Wir wollen mit dieser Regelung den Kodex, also die freiwillige Selbstverpflichtung zu guter Unternehmensführung, nicht infrage stellen. Das ist nicht das Ziel; denn der Kodex funktioniert, wie gesagt, im Großen und Ganzen sehr gut. Er wird ständig weiterentwickelt. Wenn Sie heute die Zeitung gelesen haben, wissen Sie, dass man sich derzeit mit der Frage beschäftigt, wie die Aufsichtsräte zusammengesetzt sein sollen. Auch das ist ein ganz wichtiges Thema, auf das der Gesetzgeber ein Auge haben wird. An die Kollegen der FDP sage ich - ich muss monieren, dass die Opposition in der Debatte über dieses Thema nicht sehr stark vertreten ist -: ({3}) Unser Vorschlag ist besser, weil er klarstellt, dass zunächst einmal offen gelegt werden muss. Erst dann kann davon abgewichen werden. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, argumentieren Sie: Die Hauptversammlung kann ja entscheiden, ob offen gelegt werden soll. Ich meine, dass das ein Schritt zu wenig ist; denn diese Möglichkeit besteht schon jetzt und wird nicht wahrgenommen. Damit wird die Logik umgedreht. Es hilft uns deshalb nicht weiter. ({4}) Ich appelliere an Sie: Ermöglichen Sie es uns, unseren Gesetzentwurf in der jetzigen Fassung durchzubringen! Es ist nicht unser Anliegen, sondern auch das der Bevölkerung, die bei der Altersvorsorge verstärkt zu Aktien greift und deshalb wissen will, was in den Unternehmen geschieht. Lassen Sie uns den Gesetzentwurf noch in dieser Legislaturperiode durchbringen! Sehen Sie von einer anderen Form der Offenlegung ab! Sonst würde das Verfahren verzögert. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Dr. Günter Krings, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute, in der wahrscheinlich drittletzten Sitzungswoche des Deutschen Bundestages der 15. Wahlperiode, diskutieren wir über die individualisierte Offenlegung der Vergütung der Mitglieder des Vorstandes börsennotierter Aktiengesellschaften. Die Bundesregierung hat sich entschieden, dieses Thema in den zeitlichen Kontext der Kapitalismuskritik des Vorsitzenden der SPD und der SPD-Bundestagsfraktion zu stellen, und Frau Zypries hat sich entschieden, den Regierungsentwurf vier Tage vor der Landtagswahl in NordrheinWestfalen im Kabinett verabschieden zu lassen. Das ist nicht unbedingt Ausweis einer soliden und nachhaltigen Wirtschafts- und Rechtspolitik, sondern offensichtlich Teil eines parteitaktischen Manövers. Das zeigt auch, dass diese Bundesregierung nach jedem Strohhalm greift, um ihr unaufhaltsames Abrutschen in der Wählergunst zumindest ein wenig zu verlangsamen. ({0}) Angesichts der verzweifelten Suche nach Kampfthemen hat man wohl keinerlei Überlegung darauf verwendet, wann der richtige Zeitpunkt ist, ein solches Gesetz einzubringen. Frau Zypries, Sie selbst haben im letzten Jahr mehrfach betont, man solle erst einmal abwarten, wie sich die Sache entwickelt. Mit anderen Worten: Sie haben davon gesprochen, dass man diese Entwicklung beobachten muss. Sie haben eben gesagt, dass zwei Drittel der DAX-Unternehmen inzwischen entsprechend vorgehen, Anfang 2004 war es noch ein Drittel. Das heißt, die Entwicklung ist nicht so schlecht, wie Sie es dargestellt haben. Wir erwarten, dass das eine oder andere Unternehmen in der kommenden Hauptversammlungssaison doch noch die richtige Entscheidung, also die zur Offenlegung, trifft. Parteitaktik Ihrerseits hin oder her - wir werden uns heute und in den folgenden Debatten im Rechtsausschuss mit dieser Frage vertieft beschäftigen. Wir begrüßen ausdrücklich den Ansatz dieses Gesetzentwurfs. Was börsennotierte Aktiengesellschaften angeht, streben auch wir ein hohes Maß an Transparenz im Hinblick auf die relevanten Unternehmensdaten an. Das erfordert schon der internationale, globalisierte Aktienanlagemarkt. ({1}) Die Höhe der Bezüge der einzelnen Vorstandsmitglieder gehört zu den wichtigen Informationen, die Aktionäre zu Recht interessieren. Zwar ist richtig - ich glaube, Sie haben das nicht ausdrücklich erwähnt -, dass nicht die Hauptversammlung, sondern der Aufsichtsrat die Bezüge festlegt und darauf achten muss, dass diese in einem angemessenen Verhältnis zur Aufgabe des jeweiligen Vorstandes und zur Lage der Gesellschaft im Sinne von § 87 des Aktiengesetzes stehen. Richtig ist allerdings auch, dass die Hauptversammlung den Aufsichtsrat auch dabei kontrolliert. Die Offenlegung befriedigt dabei nicht nur die Neugier der Aktionäre, sondern sie ist auch ein berechtigtes Anliegen. Ich begrüße, dass die Bundesregierung in Sachen Transparenz den Vorbildern USA und Großbritannien folgt. Ich erspare mir den Hinweis, dass in der Wirtschaftspolitik der letzten sieben Jahre vieles besser gelaufen wäre, wenn man auch in anderen Bereichen die vielleicht etwas antiquierte deutsche Tradition verlassen und sich an den genannten Ländern orientiert hätte. Wir dürfen die Augen nicht davor verschließen - diese Auffassung teilen übrigens auch viele Unternehmer -, dass die Höhe der Gehälter der Manager und die Höhe der Gehälter der Mitarbeiter in den letzten Jahren auffällig auseinander klaffen. Die entscheidende Frage ist: Wie reagieren wir auf dieses Auseinanderklaffen? Nach einigen Äußerungen der letzten Wochen und Monate von der linken Seite dieses Hauses kann ich mir schon vorstellen, dass viele den Impuls nur schwer unterdrücken können, dass man die Gehälter am besten per Gesetz deckelt ({2}) und weitere gesetzliche Regulierungen vornimmt. Ich finde es begrüßenswert, dass man diesen falschen Weg nicht gegangen ist. ({3}): Märchenstunde! - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Für wen haben Sie denn das jetzt wieder verbreitet?) Wir müssen festhalten, dass es keine objektiven Kriterien für die Höhe von Managergehältern gibt. Wenn es solche Kriterien nicht gibt, dann bleibt als einziges Mittel die Transparenz, um diesem Auseinanderklaffen entgegenzuwirken. In Bezug auf das US-amerikanische Aktienrecht heißt es treffend: Sonnenlicht ist das beste Reinigungsmittel. Wenn ein großer Teil der etwa 1 000 börsennotierten Aktiengesellschaften in Deutschland diese Offenlegung dennoch nicht will, dann ist der Gesetzgeber in der Tat aufgefordert, darauf zu reagieren. Im Kern geht es - da stimmen wir mit allen Fraktionen überein - um die Stärkung von Eigentümerrechten. Lieber Kollege Funke, der FDP-Gesetzentwurf liest sich erst einmal ganz gut. Mit seinem suggestiv-programmatischen Titel „Eigentümerrechte-Stärkungsgesetz“ steht er meines Erachtens aber in der Tradition einiger Gesetzestitel der noch amtierenden Bundesregierung. Ich erinnere nur an das Steuervergünstigungsabbaugesetz ({4}) oder andere. Der Ansatz der FDP, die stets auf die Mehrheit in der Hauptversammlung der Aktiengesellschaft abstellt, verkennt indes, dass nicht nur die Gesamtheit oder die Mehrheit der Aktionäre, sondern jeder Aktionär Eigentümer ist, egal ob er eine Aktie oder Tausende von Aktien hält. Deswegen hat Eigentümerschutz immer auch etwas mit Minderheitenschutz in einer Aktiengesellschaft zu tun. Zwischen dem Interesse der Mehrheit und dem des einzelnen Aktionärs muss daher ein gerechter und vernünftiger Ausgleich gefunden werden. Der liegt sicherlich eher bei einem Quorum von einem Viertel des Kapitals als bei einem von 50 Prozent. Umgekehrt bedeutet Eigentümerschutz aber auch, dass es keinen Sinn macht, Eigentümer zwangszubeglücken. Es erscheint daher zumindest überlegenswert, eine Initiative aus der Mitte der Hauptversammlung heraus zu erwarten, und zwar mit einem nicht zu hohen Quorum, damit die Offenlegung Platz greift. Einige Fragen allerdings werden durch beide Gesetzentwürfe nicht hinreichend beantwortet. Ich erwähne nur die erfolgsabhängigen Vergütungskomponenten; das ist ja eine ganz spannende Frage. Wenn man diese, wie Sie es vorsehen, in absoluten Zahlen ausweist, ist das eine wenig hilfreiche Information, weil sie vergangenheitsbezogen ist. Wichtig ist, das Vergütungssystem, das dahintersteckt, kennen zu lernen, weil es dem Aktionär eben nur dann möglich ist, es gegebenenfalls auf der Hauptversammlung zur Grundlage von Entscheidungen zu machen. Doch gerade die Informationen über das Vergütungssystem können tief in sensible Bereiche und Geschäftsgeheimnisse des Unternehmens hineinreichen; denn ihre Veröffentlichung für die Allgemeinheit kann den Wettbewerbern leicht aufschlussreiche Einblicke in die Unternehmenspolitik geben. Sie schlagen nun vor, zumindest im Rahmen einer Soll-Vorschrift die Grundzüge des Vergütungssystems offen zu legen. Das ist ein Versuch, dieses Problem zu lösen. Allerdings sage ich: Immer dann, wenn der Gesetzgeber Begriffe wie „Grundzüge“ benutzt, verrät das die Hilflosigkeit des Gesetzgebers und lässt den Gesetzesanwender zumeist relativ ratlos zurück. Der eine oder andere von Ihnen mag sich an das eigene juristische Staatsexamen erinnern, wenn es vor einer bestimmten Examensklausur hieß, man müsse nur die Grundzüge des Erbrechts oder die Grundzüge des Insolvenzrechts lernen. In einem solchen Fall waren wir als Studenten relativ ratlos, wie weit und tief das gehen sollte. ({5}) Das ist also ein Begriff, der noch der Diskussion und der Klärung im Ausschuss bedarf. ({6}) Ferner verwundert mich schon sehr - das muss ich an dieser Stelle kurz erwähnen -, dass wir in der Begründung des Gesetzentwurfs leider nur ganz wenig zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Offenlegung finden. Ich erinnere daran, dass 1994, als über eine globale Offenlegungspflicht für den Vorstand diskutiert wurde, sehr wohl verfassungsrechtliche Bedenken erhoben worden sind und einschränkend gesagt wurde, dass keine Rückschlüsse auf einzelne Vorstandsmitglieder gezogen werden dürfen. Ich glaube, dass dieser Vorschlag im Ergebnis verfassungsrechtlich haltbar ist. Allerdings hätte ich dazu noch einige Ausführungen erwartet. Das müssen wir im weiteren Gesetzgebungsverfahren nachholen. Das muss nicht lange dauern. Aber über dieses Thema müssen wir durchaus ernsthaft diskutieren. Die Union ist zu vernünftigen Lösungen bereit. ({7}) Wir sind auch durchaus bereit, zu prüfen, ob wir das noch in dieser Legislaturperiode erreichen können. ({8}) Ich glaube, dass wir noch einige Fragen klären müssen. Das könnte im Rahmen einer Expertenanhörung oder eines Berichterstattergesprächs geschehen. Jedenfalls sind wir für konstruktive Vorschläge offen. An uns soll es nicht scheitern. Wir sollten über diesen Gesetzentwurf noch in dieser Legislaturperiode vernünftig beraten. Allerdings darf das nicht auf Kosten der Qualität gehen. Die von mir angesprochenen Fragen und einige andere müssen vernünftig und solide geklärt werden. Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung machen, die vielleicht von der Bundesregierung als Aufforderung angesehen werden kann, um in ihren letzten Wochen in diesem Bereich noch einmal tätig zu werden. Es wäre nicht schlecht, wenn Sie zeitgleich zu diesem Gesetzgebungsverfahren dafür sorgten, dass der Staat mit gutem Beispiel vorangeht und nicht nur Ankündigungen macht. Er sollte dafür sorgen - dafür braucht man kein Gesetz -, dass die Bezüge von Vorstandsmitgliedern in Gesellschaften, die dem Bund gehören, durchgängig offen gelegt werden. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass der geplagte Bahnkunde und Steuerzahler ein Interesse daran hat, die Bezüge etwa von Herrn Mehdorn zu erfahren. So wie der Aktionär als Privateigentümer ein berechtigtes Interesse an der Offenlegung hat, so hat es auch der Bürger als Steuerzahler. Der Staat wirkt allemal glaubhafter, wenn er in seinem unmittelbaren unternehmerischen Verantwortungsbereich nicht anders handelt, als er es von der Privatwirtschaft erwartet. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Thea Dückert, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist manchmal schon erstaunlich - ich will ja nichts gegen Juristen sagen -, wie Juristen es immer wieder schaffen, einfache Sachen ganz kompliziert darzustellen. Herr Kollege Krings, was wir wollen, ist ganz einfach; Sie brauchen gar nicht zu spekulieren. Wir wollen das, was international längst Standard ist, nämlich eine Offenlegungspflicht auch in Deutschland. ({0}) In der Schweiz, in Frankreich, in Skandinavien, in Großbritannien und in den USA ist das Standard. In den USA ist das schon seit 1932 so. ({1}) Dort hat man in der jüngsten Zeit die Regelungen noch einmal verschärft. Es ist also Standard. Wir wollen das auch hier, weil es selbstverständlich ist, Transparenz herzustellen. Wenn man auf die Erfahrungen im Ausland blickt, stellt man fest, dass das weder zum Zusammenbruch von Großkonzernen noch zur Verarmung von Spitzenmanagern geführt hat. Die Offenlegung von Managergehältern bei uns sollte selbstverständlich sein. Da muss sich allerdings in den Köpfen zum Teil schon noch eine ganz andere Denkweise einstellen; das ist richtig. ({2}) Ich denke übrigens auch, dass es für Unternehmen, an denen der Bund maßgeblich beteiligt ist, ebenfalls selbstverständlich sein sollte. ({3}) Die deutsche Heimlichkeit verursacht im Ausland Kopfschütteln. Die Bundesregierung und die rot-grüne Koalition wollten zunächst auf Selbstverpflichtung setzen. Aber es hat sich nun gezeigt, dass beispielsweise BMW, BASF, Porsche, Daimler-Chrysler nicht bereit sind mitzugehen. ({4}) Deswegen ist es absolut notwendig, dass wir handeln. ({5}) Ich möchte mich bei der Justizministerin ausdrücklich dafür bedanken, dass so schnell gehandelt worden ist. ({6}) - Sie haben doch gerade beklagt, dass es zu schnell geht. ({7}) Vielleicht entscheiden Sie sich einmal, was Sie eigentlich meinen. Die Kontrolle darüber, ob ein Manager sein Millionengehalt auch wert ist, wird in Deutschland offenbar immer noch gescheut. Manager vergleichen sonst gern international, mit Konzernen in den USA oder anderswo, aber den persönlichen Leistungsvergleich wollen sie offenbar nicht antreten. Das ist wirklich ein Armutszeugnis für die deutschen Unternehmen. Es ist ein Bärendienst, der von BMW, BASF, Daimler-Chrysler und Porsche den Managern anderer deutscher Unternehmen erwiesen wird. Deswegen ist es gut, dass wir jetzt handeln. ({8}) Dabei geht es überhaupt nicht darum, dass hohe Bezüge in irgendeiner Weise bekämpft, gedeckelt oder infrage gestellt werden; es geht wirklich schlichtweg darum, ob sie leistungsadäquat sind. Ich denke, dass es sowohl gegenüber den Aktionären als auch gegenüber der Öffentlichkeit eine Rechtfertigungspflicht gibt in der Frage, ob dem Gehalt auch eine entsprechende Leistung gegenübersteht. Dass da im öffentlichen Diskurs immer wieder Fragezeichen gemacht werden, ist völlig klar angesichts dessen, dass auf der einen Seite Millionenbezüge und auf der anderen Seite Arbeitsplatzverluste, Kurseinbrüche und Ähnliches stehen. Wenn das so ist, muss Transparenz hergestellt werden und müssen die Manager gezwungen werden, sich einer Kontrolle zu stellen und einer Rechtfertigung zu unterziehen. ({9}) Wir wollten das schon lange. Ich bin froh darüber, dass es jetzt von der Justizministerin so umfassend auf den Weg gebracht worden ist, dass auch Erfolgsprämien, Pensionszahlungen, Aktienoptionen dargestellt werden müssen, aber auch Abfindungszahlungen und finanzielle Vereinbarungen, beispielsweise bei Übernahmen. Man braucht nur an die Übernahme von Mannesmann zu denken. Wir haben in Deutschland schlechte Erfahrungen gemacht. Allerdings denke ich, dass die Opting-out-Regelung in der jetzigen Fassung zu großzügig ausgefallen ist. Ich habe große Sorge, dass die Ausübung des Stimmrechts durch Kreditinstitute und Großaktionäre zu einer sehr einfachen und schnellen Umgehung der Offenlegungspflicht führt. In den einschlägigen Fachzeitschriften gibt es schon Spekulationen darüber, welches Unternehmen das erste sein wird, in dem ein Freibrief für die Manager ausgestellt wird. Es wird Porsche sein, so wird spekuliert; vielleicht wird es aber auch ein anderes Unternehmen sein. Das ist nur ein Zeichen dafür, dass die Optingout-Regelung zu verschärfen und nicht noch zu erleichtern ist, wie das die CDU/CSU vorschlägt. Wir wollen kein Gentlemen’s Agreement auf den Chefetagen. Wir wollen, dass auch die Kleinaktionäre die Möglichkeit zur Beurteilung bekommen. Die Kultur der Heimlichkeit ist in Deutschland allerdings noch stark verankert, vor allem - wen wundert es? - bei den Kolleginnen und Kollegen von der FDP, die hierzu einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt haben. Ich denke, dieser eigene Gesetzentwurf zeigt, dass es im Grunde genommen darum geht, durch Verfahrenstricks die Beschlussfassung hinauszuzögern bzw. zu verhindern. Dieses Eintreten für Heimlichkeit hat mit sozialer und liberaler Politik überhaupt nichts zu tun, ({10}) sondern ist Klientelpolitik und nichts anderes. Das kennen wir schon. Deswegen wundert uns das nicht. Immer da, wo über mehr Wettbewerb diskutiert wird und Ihre eigene Lobby betroffen ist - ich denke an das Gesundheitsreformgesetz und die Apotheker -, stehen Sie in der ersten Reihe und versuchen, Ihre eigene Klientel zu verteidigen. Ich hoffe, dass Sie damit nicht durchkommen und wir vielmehr in Deutschland das nachvollziehen, was im Ausland längst Alltag ist, nämlich Transparenz. Das beinhaltet eine Rechtfertigung vor den Aktionären und vor der Öffentlichkeit, wie es um die Managergehälter steht. Dann kann gemessen werden, ob ihr Verdienst ihren Leistungen entspricht oder nicht. Darüber sollte wirklich debattiert werden. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Rainer Funke, FDP-Fraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Offenlegung von Vorstandsbezügen beschäftigt uns ja seit über einem Jahr, wobei unterschiedliche Meinungen vertreten wurden. ({0}) Mit dieser Diskussion wurde die Neiddebatte vonseiten der Regierung und der Koalitionsfraktionen immer wieder populistisch angeheizt. ({1}) Das muss man hinnehmen. Die FDP bringt deswegen heute einen Gesetzentwurf ein, der sich mit den eigentlichen Fakten auseinander setzt. Wir als Gesetzgeber sollten uns nicht an der Neiddebatte beteiligen. Ziel ist vielmehr die einzig logische und richtige Regelung, ({2}) nämlich die Rechte der Aktionäre zu stärken. In dieser Hinsicht sind wir mit der Ministerin einer Meinung. ({3}) Die Aktionäre sollen als Eigentümer der Gesellschaften entscheiden, ob die Vorstandsgehälter offen gelegt werden oder nicht. Die These, die hier mehrfach in den Raum gestellt worden ist, dass eine gesetzliche Offenlegung aufgrund des internationalen Vergleichs notwendig sei, stimmt so nicht. In den Ländern, in denen eine gesetzliche Offenlegungspflicht besteht, sind die Gesellschaften anders konzipiert als die deutsche Aktiengesellschaft. In diesen Ländern - es sind zumeist Common-Law-Länder - haben die Gesellschaften nur ein Organ, nämlich das Board. Dieses bestimmt sich selbst sein Gehalt. Deswegen ist ein Zwang zur Offenlegung in diesen Rechtsordnungen gerechtfertigt, um In-sich-Geschäften und Selbstbedienungsmentalität vorzubeugen. Diese Begründung ist aber auf deutsche Gesellschaften nicht zu übertragen; denn hier entscheiden die Aufsichtsräte - in der Regel von Gewerkschaften mitbestimmte Aufsichtsräte - über ein angemessenes Gehalt der Vorstände. Zur Förderung der Transparenz der Vorstandsgehälter sehen wir in unserem Gesetzentwurf eine Stärkung der Aktionärsrechte vor. ({4}) Diese sind die Anteilseigner des Unternehmens. Die Aktionäre sollen selbst entscheiden können, und zwar mit einfacher Mehrheit in der Hauptversammlung, ob sie eine Offenlegung wünschen. Wir können in der Tat, Herr Dr. Krings, darüber diskutieren, ob wir zum Zwecke des Minderheitenschutzes ein anderes Quorum wählen. Da bin ich bei den anstehenden Beratungen im Rechtsausschuss ganz offen. ({5}) - Ich fürchte, auch Sie werden bald dahin kommen, Herr Tauss. Die Aktionäre können ferner festlegen, ob die Offenlegung für jedes Vorstandsmitglied ausgewiesen werden soll. Es obliegt ihnen darüber hinaus, den Auftrag zu erteilen, die Gesamtbezüge des Vorstands nach den einzelnen Positionen aufzuschlüsseln. Nach unserem Vorschlag soll der Beschluss einer Hauptversammlung das Unternehmen für drei Jahre und nicht wie bei Ihnen für fünf Jahre binden. Den Anteilseignern haben wir damit einen maximalen Entscheidungsspielraum gegeben; das ist auch demokratisch. ({6}) Dagegen ist ein gesetzlicher Zwang ein Eingriff in die Rechte der Aktionäre und damit eine Entmündigung. Das können wir nicht mittragen. Deswegen lehnen wir den Entwurf der Koalitionsfraktionen ab. ({7}) Wir erwarten nun von Ihnen, verehrte Kollegen, ein ordentliches parlamentarisches Verfahren, ({8}) so wie bei jedem Gesetzentwurf. Sie kommen in allerletzter Sekunde und bringen diesen Gesetzentwurf ein. ({9}) Wir wollen aber ordnungsgemäß beraten. Herr Scholz, Sie lächeln mich so an, das ist sehr nett. So wie wir es beim KapMuG und beim UMAG gemacht haben, so möchten wir auch diesen Gesetzentwurf ordnungsgemäß mit Ihnen beraten. Das ist auch in dieser Legislaturperiode noch möglich. Wer das Gerücht aufgebracht hat, dass wir den Gesetzentwurf verzögern wollten, weiß ich nicht. Wir wollen ihn nicht verzögern, wir werden konstruktiv daran mitarbeiten. ({10}) - Es stimmt nicht alles, was in den Zeitungen steht, das müssten Sie, Herr Kollege, wissen. ({11}) - Ich bin heute gefragt worden und habe das mehrfach dementiert. Meine Damen und Herren, wir werden hier also nicht in Wahlkampf ausbrechen, ({12}) sondern werden das ordnungsgemäß beraten - wenigstens bei diesem Gesetz. Ich hoffe auf Ihre Mithilfe. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Olaf Scholz, SPDFraktion.

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren hier ein sehr wichtiges Gesetz, das die Öffentlichkeit, aber auch die Wirtschaft in unserem Lande schon lange verlangt hat. Es geht darum, dass wir eine der ganz wichtigen Voraussetzungen marktwirtschaftlicher Gesellschaften gewährleisten, nämlich Transparenz und Offenheit. Märkte, bei denen man nicht weiß, wer eigentlich was macht, funktionieren nicht. Natürlich gehört es zur Wirklichkeit unserer Republik und zu den Erfahrungen, die wir in der Wirtschaft gewonnen haben, dass manches in den Vorständen und Aufsichtsräten fast wie in einer Gruppe von Leuten, die sich schon lange kennen, ausgemacht wird. Das ist aber mehr Feudalismus als Marktwirtschaft. ({0}) Insofern brauchen wir dringend eine Veränderung in diesem Bereich. Das soll dieses Gesetz zustande bringen. Das Gesetz hat einen zweiten Vorzug, den man unbedingt erwähnen muss: Es ist weise. Es ist ein weises Gesetz, weil wir vorschreiben, dass Vorstandsgehälter offen gelegt werden müssen, sodass jeder Bescheid weiß, was die Vorstände verdienen, und zwar in den Details, die dafür notwendig sind. Aber weil es um die Rechte von Aktionären und Eigentümern geht und nicht um Voyeurismus, sagen wir: Wenn die das partout nicht wissen wollen, dann brauchen sie es auch nicht zu wissen. Mit dieser weisen Lösung, die sich aufdrängt, mit diesem Opting-out, ist auch verbunden, dass jeder Einwand überflüssig ist, dass es sich bei dem Gesetz um ein verfassungsrechtlich bedenkliches Gesetz handele. ({1}) Niemandes Recht ist betroffen, die Aktionäre und die Eigentümer können machen, was sie wollen - allerdings schreiben wir einen Regelfall vor. Das ist - das will ich ausdrücklich sagen - auch dringend notwendig; denn eines sollten wir, wenn wir uns alle hier versichern, eigentlich das Gleiche zu wollen, aber unterschiedliche Vorschläge zu haben, an dieser Stelle nicht machen: Das ist aus meiner Sicht dasjenige, was ich gerne als den Stoiber-Sozialismus bezeichne. Der Stoiber-Sozialismus geht so: Man kündigt in der „Bild“-Zeitung etwas an - alle sind begeistert -, macht es dann aber hinterher nicht wahr oder macht Vorschläge, die so wenig mit der Ankündigung zu tun haben, dass das „Handelsblatt“, die „Wirtschaftswoche“ und die „Financial Times Deutschland“ berichten können: Herr Stoiber ist doch nicht so schlimm. Deshalb müssen wir dieses Gesetz so gestalten, dass es wirklich zur Veröffentlichung von Vorstandsgehältern führt - es sei denn, die Aktionäre wollen das nicht. Der Vorschlag, den wir hier von der Union gehört haben, ist insofern schön, als er Konstruktivität zumindest zeigt ({2}) - „andeutet“, ja; man soll das nicht schlecht finden, wenn jemand Konstruktivität andeutet -, er hat aber einen Nachteil: Es käme dann gar nicht zur Veröffentlichung von Vorstandsgehältern. Das ist eine Variante des Stoiber-Sozialismus. Man erweckt den Eindruck, man sei auch dafür, kann aber den beteiligten Spenden fördernden Wirtschaftskreisen vermitteln: Es kommt doch nicht. Das, glaube ich, ist etwas, was in seiner Unehrlichkeit nicht hilfreich ist. ({3}) Deshalb werden wir den Vorschlag natürlich nicht mitmachen, wir werden nicht sagen: Es kommt nur dann zu einer solchen Regelung, wenn eine Minderheit - ich glaube, von 25 Prozent - der Aktionäre das verlangt; denn dann würde es nie dazu kommen. Im Übrigen ist das Argument auch nicht logisch. Muss sich jemand 25 Prozent des Aktienkapitals kaufen, um herauszufinden, ob die Vorstandsvergütungen so hoch sind, dass es sich nicht gelohnt hat, die Aktien zu kaufen? ({4}) Das ist doch die Konsequenz, die dabei herauskommt. Wir wollen auf dem Kapitalmarkt nicht nur eine Information für diejenigen bieten, die schon Aktionäre sind, sondern es geht auch um diejenigen, die sich überlegen - diese brauchen wir, wenn unsere Marktwirtschaft funktionieren soll -, ob sie sich eine solche Beteiligung kaufen, ({5}) seien es 100 Aktien oder eine Aktie oder wirklich eine Beteiligung von 25 Prozent. Aber dass es immer gleich so viel sein muss, um herauszufinden, ob das Investment richtig ist, ist falsch und macht die Unehrlichkeit Ihrer Position deutlich. ({6}) Meine Damen und Herren, bei aller Diskussion über die Unterschiede geht es mir hier nur darum, deutlich zu machen, auf welche Weise wir miteinander klarkommen können und auf welche Weise nicht. Wir können uns einigen, wenn Sie wirklich ein Gesetz wollen, das zur Veröffentlichung von Vorstandsbezügen beiträgt. Dann werden wir auch über Details reden können. Aber wir werden uns nicht einigen, wenn es nur danach aussehen soll. Das ist der Unterschied zwischen den Vorschlägen, die ich bisher von der FDP und von Ihnen gehört habe, und dem ehrlichen, gut ausgewogenen Gesetzentwurf, den die Bundesregierung hier vorgelegt hat. Schönen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollege Hartmut Schauerte, CDU/CSUFraktion, das Wort.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist vernünftig - darüber brauchen wir uns auch gar nicht künstlich zu streiten -, mehr Transparenz zu schaffen. Was die Cromme-Kommission vorgeschlagen hat, ist zwischen den Parteien unstreitig. Die Frage ist: Wie setzt man das möglichst vernünftig und zielführend um? Es gibt da verschiedene Möglichkeiten. Die erste ist, öffentlichen Druck zu erzeugen und auf freiwillige Lösungen zu setzen. Man kann sich darüber unterhalten, wie lange man das probieren will. Wenn man dann erkennt, dass das Ziel nicht erreicht wird, kann man gesetzgeberisch handeln. Auch das ist völlig unstreitig. Wir können eine kleine Differenz darüber haben, ob das Handeln gerade jetzt richtig ist. Der geplante Zeitpunkt hat ein bisschen ein Geschmäckle. Ihr Müntefering hat die Kapitalismuskritik angefangen. Er hat keine Maßnahmen dagegen und da kommt das gerade zupass. Das ist der Müntefering-Sozialismus: ({0}) Er beklagt die Heuschrecken, hat keine Lösung dafür, lässt dann schnell einen Gesetzentwurf, wie wir ihn hier vorliegen haben, auf die Schiene bringen und sagt: Es ist doch alles gar nicht so schlimm; aber es hilft in dem Sinne, den ich gemeint habe. Dieser Müntefering-Sozialismus hilft uns aber auch nicht weiter. Die erste Möglichkeit ist also Freiwilligkeit und öffentlicher Druck. Die zweite Möglichkeit ist: Wir schreiben vor, dass es beraten werden muss, ({1}) lassen den Aktionären aber die Freiheit, zu entscheiden, ob sie das mit einem Quorum von 25 Prozent beschließen wollen oder nicht. Ihr Gesetzentwurf aber sieht vor, das per Gesetz zu beschließen, es sei denn, 75 Prozent entscheiden sich dagegen. Interessanterweise, Herr Scholz, haben wir in beiden Fällen die 25 Prozent: Sie von unten, wir von oben. ({2}) In jedem Falle entmündigen wir den Teil, der sich nicht durchsetzen kann, und zwingen den anderen Teil. Das ist ein Stück weit ein Streit um des Kaisers Bart. Nur damit das zwischen uns klar ist: Wir wollen, dass Transparenz hergestellt wird. Wir möchten vermeiden, dass das damit verbunden wird, dass man das schon immer wissen wollte und dass alles ungerecht sei, was da geschehe. Wir betrachten das als einen Beitrag, die Neidkultur, die wir in Deutschland leider haben, besser bekämpfen zu können. Wir glauben, dass man, wenn man offen zeigt, was Sache ist, weniger Neid produziert, als wenn man heimlich handelt. Deswegen ist das ein gemeinsames Ziel. Wenn Sie nicht einen Fehler beim Zeitpunkt gemacht hätten, hätten wir überhaupt kein Problem damit, jetzt gemeinsam den richtigen Weg zu definieren, um unser gemeinsames Ziel zu erreichen. Dass der Gesetzentwurf jetzt in einer solchen Hektik verabschiedet werden soll, dass wir vorher kaum noch durch einen Sachverständigen ein paar Rechtsfragen, die es immer noch gibt und die man vernünftig einkreisen könnte, klären lassen können, ist ärgerlich. Sie wissen selber, dass das auch dem Gesetz nicht gut tut. Es täte dem Gesetz gut, wenn wir es einvernehmlich beschließen könnten. Dann hätte es die höchste Akzeptanz und auch die beste erwünschte Wirkung. Ich bedaure, dass das Gesetz jetzt in diesen Clinch gekommen ist. Aber wir konnten das nicht steuern; Sie hätten es steuern können. Wir empfehlen, in einem Berichterstattergespräch noch einmal ernsthaft zu versuchen, den Gesetzentwurf, so hektisch die Zeiten auch sind, einvernehmlich zu formulieren. Dann wird er eines Verdachts enthoben, in den er nicht kommen darf. Ob nicht der eine oder andere das vielleicht geregelt haben möchte, um es hinterher im Wahlkampf zu instrumentalisieren, ist eine andere Frage. Es wäre für die Aktienkultur in unserem Land wichtig, wenn sich dieser Verdacht ausräumen ließe. Wir bieten unsere Bereitschaft an, daran mitzuwirken. Wir legen großen Wert auf Praktikabilität; Kollege Krings hat dies schon angesprochen. In dem einen oder anderen Fall ist eine Veröffentlichung praktikabel. Den entsprechenden Katalog würde ich mir aber gerne noch genauer anschauen. Wir sind daran interessiert, ein bürokratisches Monstrum zu vermeiden. Denn wenn die Umsetzung scheitern würde, wären wir es, die Änderungen durchführen müssten, nachdem wir den Regierungsauftrag erhalten haben. Damit Sie glauben, dass wir wirklich redlich an diesem Thema interessiert sind, möchte ich Ihnen Folgendes versichern: Wenn - aus welchen Gründen auch immer - dieser Gesetzentwurf jetzt nicht verabschiedet wird, werden wir später ein entsprechendes Gesetz verabschieden, das in der von mir beschriebenen Weise wirkt. Wir wollen, dass die offenen Fragen geklärt werden; denn wir brauchen Transparenz. Wenn sich unsere Gesellschaft in diesem Punkt schwer tut, dann müssen wir an der einen oder anderen Stelle für einen Anschubimpuls sorgen, damit es in dieser Frage zu Veränderungen kommt. Ich denke, wir liegen inhaltlich nicht sehr weit auseinander. Dass es bei dieser Sache ein Geschmäckle gibt, hängt mit Fehlern zusammen, die in den Fällen Ron Sommer und Klaus Esser gemacht wurden. Da sind sozusagen Raketen losgegangen, die uns alle wach gemacht haben. ({3}) - Das weiß ich. Guten Morgen, Herr Tauss! ({4}) - Da sind wir ja wach geworden. Es ist interessant, diese Fälle einmal zu rekapitulieren. Ron Sommer stand quasi einem Staatsunternehmen vor. ({5}) Da hätten Sie oder wir - also diejenigen, die gerade den Minister und die Verwaltungsräte stellten - alles klären können. Herr Esser stand einem in vollem Umfang paritätisch mitbestimmten Unternehmen vor. ({6}) Von Gewerkschaftsseite hätte enorm viel getan werden können. Aber die Gewerkschaft hat verschwiegen, dass sie an der Abfindungsregelung für Herrn Esser mitgewirkt hat. Es war schon eine interessante Konstellation. Wir wollen - ich bleibe bei meiner Aussage -, dass es ein solches Gesetz gibt. Ich habe schon die Praktikabilität und die öffentlichen Unternehmen - dies ist mein letzter Gedanke - angesprochen. ({7}) - Wir haben damit überhaupt kein Problem, Herr Tauss. Wir haben einen ganz klaren Kurs: Wir glauben - das ist unser Kerngedanke -, dass es durch mehr Transparenz zu weniger Neid in unserer Gesellschaft kommt. Aber diese Transparenz muss richtig eingestielt werden und darf nicht an den falschen Punkten hochgezogen werden. Insofern haben Sie dieser Sache mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zu diesem Zeitpunkt einen Bärendienst erwiesen. Ich sage noch einmal: Wir sind bereit, mit Ihnen gemeinsam eine Lösung zu suchen. Meine Schlussbemerkung. Die falschen Motive bei dem einen oder anderen, der diesen Gesetzentwurf unterstützt, können uns nicht daran hindern, an dem mitzuwirken, was wir für richtig halten. Ich bin gespannt, ob Sie dieses ernsthafte Angebot annehmen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Nina Hauer, SPD-Fraktion.

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP legt einen Gesetzentwurf mit dem Titel „Eigentümerrechte-Stärkungsgesetz“ vor. Wenn Sie die Rechte der Eigentümer von Aktien und damit von Unternehmen stärken wollen, dann müssten Sie eigentlich unserem Gesetzentwurf zustimmen, Herr Funke. ({0}) Dass Sie nicht verstanden haben, um was es uns eigentlich geht, sieht man an der Problembeschreibung in Ihrem Gesetzentwurf. Dort steht, dass es um die KonNina Hauer trolle der Angemessenheit der Bezüge ginge. Aber darum geht es doch gar nicht. ({1}) Es geht am allerwenigsten um die Höhe der Bezüge. Es geht vielmehr darum, wie sie sich zusammensetzen. Einfach gesagt, geht es darum, festzustellen, nach welchen Regeln der Manager tickt. Sie können das gerne mit der Debatte über die Offenlegung von Nebeneinkünften der Politiker, die Sie ja - vielleicht aus denselben Gründen auch nicht wollen, vergleichen. ({2}) Es geht also darum, aufzulisten, nach welchen Kriterien jemand bezahlt wird: Wird er dafür bezahlt, dass er das Unternehmen nach vorne bringt? Wird er für das Sterben von Beteiligungsgesellschaften bezahlt, wodurch Arbeitsplätze verloren gehen? Wird er dafür bezahlt, dass der Aktienkurs nach oben geht, oder wird er dafür bezahlt, neue Märkte zu erobern? ({3}) Diese Fragen kann man beantworten, wenn man die Vergütungen von Vorständen offen legt. Es geht also überhaupt nicht um die Höhe und um eine Neiddebatte. ({4}) Im Gegenteil: Es geht um die Stärkung der Aktienkultur in Deutschland. Sie sind bei jeder Gelegenheit dabei, wenn es darum geht, große Unternehmen zu verteidigen. ({5}) Unterstützen Sie doch einmal die Aktienkultur! Wir fordern die Menschen auf, ihr für die Altersversorgung vorgesehenes Geld in Aktien anzulegen. Wir wollen erreichen, dass Leute, die Aktien kaufen, mehr Eigentümerrechte haben; Herr Funke, da können Sie gleich mitmachen. Wir müssen ihnen dann aber auch die Möglichkeit geben, zu beurteilen, wie sich das Unternehmen, an dem sie beteiligt sind und dem sie vielleicht einen Teil ihres für die Altersversorgung vorgesehenen Geldes anvertrauen, entwickeln und nach welchen Regeln es aufgestellt sein wird. Dabei geht es nicht darum, zu sagen: Die Vergütung, die gezahlt wird, ist zu hoch. Es geht darum, zu sagen: Die Entwicklung geht in die falsche Richtung. Die Sixt AG hat jetzt angekündigt, auf ihrer Hauptversammlung einen Vorratsbeschluss zu fassen und die Opting-out-Regel zu nutzen, bevor sie überhaupt gesetzlich vorgesehen ist, um festzustellen, dass sie ihre Vorstandsvergütung nicht offen legen wird - mit der Begründung, das Gehalt sei Privatsache. Wer Eigentümerrechte stärken will, darf nicht sagen, dass das Gehalt der Vorstände von Aktiengesellschaften Privatsache sei. ({6}) Das ist Sache der Eigentümer. ({7}) Herr Krings, Ihr Vorschlag, der von Herrn Schauerte unterstützt wurde, hört sich so an, als ob Ihnen nichts anderes eingefallen wäre. Aber wenn man sich genau betrachtet, was Sie da wollen, stellt man fest, dass das natürlich eine perfide Strategie ist. Eine Hauptversammlung ist bei allen demokratischen Regeln, die da gelten mögen, kein Parlament. Aus der Mitte der Hauptversammlung wird es keinen Vorschlag geben. Aber selbst wenn ein solcher gemacht wird und er dann für drei oder fünf Jahre gelten soll, wird es der Hauptversammlung nicht möglich sein, mit der Offenlegung der Bezüge zu hantieren. Denn eine solche wird zwar beschlossen werden können; aber dann wird man die Offenlegung erst über die nächsten Jahre hinweg verfolgen können. Es geht aber darum, dass die Vergütungen schon auf der Hauptversammlung selber offen gelegt sind. Die Hauptversammlung kann sich dann mit einer Dreiviertelmehrheit dazu entscheiden, den Opting-out-Weg zu wählen. Der Gesetzentwurf ist ja in dieser Hinsicht offen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Hauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, ich möchte Sie gern fragen, wie Ihre Haltung zu Unternehmen ist, an denen der Bund zu 100 Prozent beteiligt ist. Mir fällt spontan die KfW und die GTZ - ich könnte noch mehr aufführen - ein, in denen nach meiner Erkenntnis einige Leute höhere Gehälter als zum Beispiel ein deutscher Ministerpräsident bekommen. Sind Sie dafür, diese Gehälter offen zu legen?

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe nichts dagegen, dass man das auch bei Beteiligungsgesellschaften des Bundes macht. Ich finde, das wird die Beteiligungskultur eher stärken als schwächen. ({0}) - Herr Koppelin, wir bringen erst einmal den vorliegenden Gesetzentwurf ein. Die Frage, welches Thema die Hauptversammlung beherrscht, darf aus meiner Sicht nicht lauten: Wollen wir in den nächsten Jahren wissen, was die Vorstände verdienen? Ich muss vielmehr anhand der Vorstandsvergütungen sehen können, wohin sich das Unternehmen, auf dessen Hauptversammlung ich bin, entwickelt. ({1}) Dazu darf ich dann auch etwas sagen. Die Entscheidungen, die da getroffen werden, sind nicht von der Alternative hopp oder top geprägt. Es geht also nicht gegen oder für eine Offenlegung. Die Entscheidung ist vielmehr, ob ich aus der zunächst gesetzlich festgelegten Offenlegung aussteigen will. Aber bevor ich aussteige, kann ich dazu etwas sagen. Das hat mit einer Stärkung der Aktienkultur weitaus mehr zu tun als Ihr Vorschlag, der dazu führen wird, dass sich dieses Thema auf der Hauptversammlung gar nicht in dieser Form stellen wird. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Christian Lange, SPDFraktion.

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 19. Januar dieses Jahres hat eine Gruppe von 40 Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion einen eigenen Entwurf eines Gesetzes zur Transparenz von Vorstandsbezügen aufgelegt. Ich will Ihnen, Frau Ministerin, und der Bundesregierung an dieser Stelle Dank dafür sagen, dass Sie diesen Gesetzentwurf aufgegriffen und damit Sorge dafür getragen haben, dass wir, die Fraktionen wie die Bundesregierung, heute diesen Entwurf eines Gesetzes zur Offenlegung von Vorstandsvergütungen beraten können. ({0}) Warum haben wir dies getan? Wir haben diesen Gesetzentwurf zum Ersten nicht als Gegensatz zum Cromme-Kodex verstanden. Ganz im Gegenteil haben wir immer gesagt: Dies geschieht zusätzlich, weil ein Großteil der im Cromme-Kodex festgelegten Maßnahmen umgesetzt wird und sie kein Gegensatz zu unserem Gesetzentwurf sind, sondern sich ergänzen. Wir haben uns zum Zweiten an die Skandale der vergangenen Jahre erinnert. Einer davon war die Mannesmann-Übernahme. Wir haben uns ganz genau angeschaut, wie die Anklage lautete. Klaus Esser sowie weitere Manager dieses Konzerns mussten sich des Vorwurfs der gemeinschaftlichen Untreue in einem besonders schweren Fall bzw. der Beihilfe verantworten. Sie hatten, so die Anklage, die 180 Milliarden Euro teure Übernahme von Mannesmann durch den Mobilfunkriesen Vodafone Anfang 2000 genutzt, um Managern und Exvorständen des Unternehmens ungerechtfertigte Abfindungen in Höhe von fast 60 Millionen Euro zuzuschieben. Wir haben gedacht: Dies muss uns als Gesetzgeber in der Tat beunruhigen; es besteht Handlungsbedarf. Was ist uns dabei ganz besonders wichtig? Zwei Punkte sind bereits erwähnt worden. Der eine ist der Anlegerschutz. Es in der Tat wichtig, dass auch Kleinaktionäre die Chance haben, Einsicht zu nehmen, und nicht nur die großen, die vielleicht besser informiert sind. Zum Zweiten wollen wir die Aktienkultur in Deutschland stärken, indem wir dafür Sorge tragen, dass nicht nur die 30 DAX-Unternehmen, die den Cromme-Kodex unterzeichnet haben, sondern alle börsennotierten Unternehmen davon erfasst werden - wie es der ursprüngliche Gesetzentwurf vorgesehen hatte. Genau das ist jetzt im Gesetzentwurf enthalten und das finden wir ganz wesentlich. Deshalb fiel es uns leicht, unseren eigenen Gesetzentwurf zugunsten eines gemeinsamen Gesetzentwurfs der Koalition und der Bundesregierung zurückzuziehen. Ich will einen Kritikpunkt aufgreifen, der vonseiten der FDP eingebracht wurde: die Absenkung der Mehrheitsregelung beim Opt-out. Ich will Ihnen ganz deutlich sagen: Ich bin in der Tat der Auffassung, dass dies der falsche Weg ist. Das zeigen übrigens auch die Reaktionen. Ich habe mich gewundert, dass ausgerechnet der Vorstandsvorsitzende der Firma Porsche AG, Herr Wiedeking, diesen Gesetzentwurf als „Sozialismus auf Vorstandsebene“ bezeichnete. Wenn es richtig ist, was die Kollegen der CDU/CSU gesagt haben - dass Transparenz nicht nur die Aktienkultur stärkt, sondern auch gegen Neid und Missgunst hilft -, dann ist dies genau die falsche Antwort. ({1}) Dies bestärkt uns darin, in der Frage des Dreiviertelquorums auf gar keinen Fall herunterzugehen. Lassen Sie mich noch einen Punkt aufgreifen, den Kollege Schauerte erwähnt hat: die Frage der Bürokratie. Wir haben uns in der Tat umgeschaut, wie es in anderen Ländern ist. In Großbritannien gibt es eine Vorschrift, die unserer ähnlich ist; die Offenlegungspflichten werden in einer 27-seitigen Verwaltungsvorschrift im Detail dargestellt. Wenn Sie unseren Gesetzentwurf damit vergleichen, werden Sie feststellen, dass wir den Grundgedanken der Offenlegung aus Großbritannien aufgegriffen haben, dass es uns aber gelungen ist, das auf 4 Seiten darzustellen. Das ist das beste Beispiel dafür, wie man einen schlanken und, wie ich meine, intelligenten Gesetzentwurf auf den Weg bringen kann. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Lange, gestatten Sie kurz vor Ende Ihrer Redezeit noch eine Zwischenfrage der Kollegin Hauer?

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die kommt mir wunderbar gelegen. Gerne.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wie bestellt. - Bitte schön.

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Schauen wir einmal, was sie fragt.

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Lange, ist der Vorwurf gerechtfertigt, das sei wieder so eine rot-grüne Sonderidee, in anderen Ländern werde das ganz anders gemacht?

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, ich bin Ihnen dankbar für die Frage. Insbesondere von Herrn Funke wurde ja darauf hingewiesen, wir würden einen nationalen Sonderweg gehen, ({0}) weil die unterschiedlichen Formen der Vorstände und die Organisation der Aktiengesellschaften - die Sie in den Mittelpunkt gestellt haben - nicht zu vergleichen seien: Boardsystem auf der einen Seite und Aufsichtsrat/Vorstand auf der anderen. Deshalb ist es wichtig, mit unserer Regelung in Deutschland internationale Standards einzuführen, die in großen Ländern wie den USA, Kanada, Großbritannien, Irland, Frankreich, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz und Schweden schon gelten. ({1}) - Die Frage ist in der Tat, Herr Kollege Tauss: Wo nicht? Wenn unser Gesetzentwurf jetzt mit Ihrer Hilfe - so habe ich die Diskussion zumindest verstanden - eine breite Mehrheit im Hause findet, werden wir auch in Deutschland diese internationalen Standards zum Wohle aller Aktionärinnen und Aktionäre einführen. Dafür herzlichen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/5582 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/5577 - Tagesordnungspunkt 24 - soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? ({0}) Mit dem freundlichen Entgegenkommen des Kollegen Schmidt bezüglich seiner frei erfundenen Bedenken kön- nen wir diese Überweisungen einvernehmlich so be- schließen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b so- wie Zusatzpunkt 6 auf: 25 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Klimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Deutschland für die Fußballweltmeisterschaft 2006 fit machen - Längere Öffnungszeiten der Außengastronomie ermöglichen - Drucksache 15/5452 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({1}) Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gudrun Kopp, Detlef Parr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Sperrzeiten für Außengastronomie zur Fußballweltmeisterschaft 2006 verbraucherfreundlicher gestalten - Freigabe der Ladenöffnungszeiten ermöglichen - Drucksache 15/5581 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({2}) Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Faße, Renate Gradistanac, Bettina Hagedorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine Kurth ({3}), Werner Schulz ({4}), Volker Beck ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Öffnungszeiten der Außengastronomie während der Fußball-WM 2006 flexibel handhaben - Drucksache 15/5585 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({6}) Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ich weise darauf hin, dass hier nicht das voraussichtliche Ergebnis der Fußballweltmeisterschaft verhandelt und verkündet wird, sondern dass es sich um die Gestaltung nicht ganz unbedeutender äußerer Rahmenbedingungen handelt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Jürgen Klimke für die CDU/CSU-Fraktion. ({7})

Jürgen Klimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als Noch-Oppositionspolitiker ({0}) hat man ja selten Grund zur Freude. Kleine und Große Anfragen an die Regierung werden mehr schlecht als recht beantwortet. Für die eigenen Anträge erhält man, wenn man Glück hat, inoffiziell Lob von der Konkurrenz, sie werden aber abgelehnt. Kleine Freuden hat man dadurch, dass man die anderen Fraktionen, so wie heute, mit eigenen Initiativen etwas zum Rotieren bringt. Den Kollegen Burgbacher nehme ich hier ausdrücklich aus; denn wir haben in Sachen Sperrzeiten ja die gleiche verbraucherfreundliche Haltung. Herr Kollege Burgbacher, in der Frage der Ladenöffnungszeiten unterscheiden wir uns etwas. Deswegen stimmen wir Ihrem Antrag in diesem Punkt nicht zu. Wir enthalten uns bei der Abstimmung darüber. Uns geht es primär um die Außengastronomie und eine Verbesserung der Situation dort. Als wir unsere beiden Anträge eingereicht haben - wir als CDU/CSU und Sie als FDP -, habe ich mit Interesse darauf gewartet, was Rot-Grün macht und ob überhaupt etwas kommt. Ich habe mich insgeheim gefragt, ob die Sozialdemokraten und die Grünen ihre spaßfreie Haltung korrigieren und ob sie unserem Antrag zustimmen, weil sie momentan sowieso nicht so viel zum Lachen haben. Haben Sie vielleicht sogar selbst die Freude entdeckt, länger als bis 22 Uhr im Freien eine Apfelschorle oder meinetwegen auch eine Gerstenkaltschale zu trinken? ({1}) Nein, weit gefehlt, Frau Irber. Sie können die Enttäuschung, die ich hatte, als ich den rot-grünen Antrag sah, gar nicht nachvollziehen. Er war nicht nur offensichtlich mit der heißen Nadel gestrickt, er ist einfach schlecht ({2}) und er geht am Kern der Sache vorbei. Sie gönnen uns, den Deutschen, und unseren Gästen zum Confederations Cup und zur WM wirklich nicht den Hauch von Spaß. ({3}) Ich habe es in meiner letzten Rede hierzu ja schon einmal gesagt: Sie wollen Multikulti, aber zu deutschen Ladenschlusszeiten. Das funktioniert nicht. Weil ich den Eindruck habe, dass Sie die Grundlagen immer noch nicht richtig verstanden haben, darf ich Ihnen noch einmal deutlich machen, worum es wirklich geht: Die allgemeine Sperrzeit, die grundsätzlich auch für die Außengastronomie gilt, beginnt je nach Bundesland zwischen 1 Uhr und 5 Uhr morgens. Die Sperrzeitenregelungen für die Außengastronomie werden durch die Länder bzw. durch kommunale Bestimmungen in Verbindung mit immissionsschutzrechtlichen Vorschriften eingeschränkt und daher eben auf 22 Uhr festgelegt. ({4}) - Dann endet der Spaß, genau. - Das Hauptproblem der Außengastronomie ist also der Lärmschutz. Deshalb genügt für die Außengastronomie die alleinige Änderung des § 18 Gaststättengesetz nicht, da für die Festlegung der Sperrzeiten immer die von der Freiluftgaststätte ausgehende Geräuscheinwirkung berücksichtigt werden muss. ({5}) In der Regel führt das eben zum Schließen der Biergärten nach 22 Uhr. Hier liegt der Kern des Problems. Freiluftgaststätten werden nach der TA Lärm, der Technischen Anleitung Lärm, beurteilt. Um es einfach zu formulieren: Weil die Außengastronomie nicht in dieser TA Lärm aufgeführt ist, gibt es zurzeit keine gesetzlichen Vorschriften, die die Immissionen bzw. die Geräuscheinwirkung von Freiluftgaststätten beurteilen und bewerten können. Trotzdem ziehen Gemeinden und Gerichte bei Rechtsstreitigkeiten die TA Lärm zur Beurteilung der Geräuschimmissionen von Biergärten als Richtschnur heran. So ist das leider. Das bedeutet in der Konsequenz, dass die Geräusche von Freischankflächen - das sind hauptsächliche menschliche Kommunikationsgeräusche; manchmal klirrt vielleicht ein Glas - wie technischer Lärm gemessen und nach der Technischen Anleitung Lärm bewertet werden. ({6}) Diese kompromisslose Anwendung der auf die Bewertung von Industrielärm zugeschnittenen TA Lärm führt zu einer Überbewertung des individuellen Nachbarschutzes und zu unsozialen und unverträglichen Ergebnissen. ({7}) Menschliche Kommunikationsgeräusche, das Reden, das Lachen, die Unterhaltung, vielleicht auch einmal das Singen, sollten eben nicht wie technische Geräusche, zum Beispiel Bohren, Hämmern oder Sägen, bewertet werden. Deshalb sind ein gesondertes Messverfahren und höhere Grenzwerte für Geräuschimmissionen unter Berücksichtigung von kurzfristig höheren GeräuschspitJürgen Klimke zen für die Außengastronomie nicht nur sinnvoll, sondern auch erforderlich. Um dieses Kernproblem geht es. Hier ist das Parlament als Gesetzgeber gefragt. Hier müssen wir agieren. Das ist auch die Hauptforderung des Antrages der Liberalen und unseres Antrages. Wenn Sie das alles richtig verstanden haben, liebe Kollegin, dann müssen Sie Ihren Antrag zurückziehen und unserem Antrag zustimmen. Das, was Sie uns als Forderung präsentieren, ist eigentlich nur traurig. ({8}) Sie beziehen sich als Kronzeugen für Ihre Haltung auf zwei Bundesländer. Ich weiß gar nicht, ob Sie gemerkt haben, dass dies CDU-regierte Länder sind, ({9}) nämlich Hamburg und Niedersachsen, die mit einer Ausnahmeregelung besonders verbraucherfreundlich sind. Diese kommen den Wünschen der Gäste und der Branche durch ein zweijähriges Pilotprojekt nach. In Niedersachsen geschah dies durch einen Ministererlass. Das ist auch gut so. Es ändert aber, liebe Kollegin Irber, nichts an der Tatsache, dass es einer bundeseinheitlichen endgültigen, alles klärenden Regelung bedarf; denn in beiden Ländern handelt es sich nur um eine zeitlich begrenzte Ausnahme. ({10}) Das, was im Norden im Moment diskutiert und auch umgesetzt wird, soll offensichtlich auch bald im Süden erfolgen. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg hat angekündigt, die Sperrzeiten in BadenWürttemberg ganz aufzuheben. ({11}) Das Bundesland der Biergärten, Bayern, hat sich in dieser Hinsicht offensichtlich noch nicht gerührt. Diese Forderung geht vor allen Dingen auf die Landesverbände des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes und der Tourismusindustrie zurück. Das CDU-regierte Nordrhein-Westfalen wird sich dieser Forderung anschließen. Wir müssen uns während der WM und auch schon in den nächsten Wochen beim Confederations Cup als modernes, gastfreundliches, attraktives und offenes Land präsentieren. Darauf weisen Sie in Ihrem Antrag zu Recht hin. Aber Sie tun es nicht, sondern kündigen es nur an und erklären, dass das ganz schön sei. Das, worauf es ankommt, nämlich unter die bisherigen Regelungen einen Schlussstrich zu ziehen und ein neues Gesetz zu machen, ist nicht Ihre Sache. Das machen Sie nicht, sondern Sie reden nur darüber hinweg. Es gibt lauschige Appelle an die Bundesregierung und an die Länder, den Tourismusstandort Deutschland zu verbessern. ({12}) Aber da, wo Sie in der Verantwortung sind, kneifen Sie. Das geht nicht. Lassen Sie mich noch auf einen anderen Punkt hinweisen. Dieses Problem ist nicht neu. Bereits im Jahre 2001 hat der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband einen Brandbrief an den Wirtschaftsminister Müller geschrieben. Dieser Brief vom Juni 2001 ist nun vier Jahre alt. Dort heißt es - ich darf daraus zitieren -: Alljährlich strömen Millionen von Gästen in die Biergärten, Straßencafés, Restaurants und sonstige Betriebe mit Außengastronomie. Bedauerlicherweise erleben wir aber auch Jahr für Jahr, dass die Biergärten an warmen Sommerabenden bereits um 22 Uhr schließen und die Gäste nach Hause geschickt werden müssen. … Der Bundesgesetzgeber kann den unbefriedigenden Zustand durch Erlass einer eigenen Bundesimmissionsschutzverordnung „Außengastronomie“ beseitigen. Geschehen ist nichts. So schrieb der entsprechende Verband vor vier Jahren. Gestern erklärte der Verbandspräsident Ernst Fischer - ich darf wieder zitieren -: Eine Verschiebung des Freiluft-Zapfenstreichs auf 24.00 Uhr ist in Deutschland längst überfällig. Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass Wirte ihre Gäste an den wenigen schönen Tagen im Jahr trotz Sommerzeit noch bei Helligkeit nach Hause schicken müssen. Eine Ausweitung der Öffnungszeiten wäre ein wichtiger Impuls, der endlich wieder einen Umsatzschub für Deutschlands Gastronomen und mehr Lebensqualität für die Bürger bringen würde … Diese Regelung passt nicht mehr in das Jahr 2005 und nicht in ein Land, das Weltoffenheit, Lebensfreude und Gastfreundlichkeit zu seinem Markenzeichen machen möchte … Es heißt weiter: Nichts wäre leichter, als solch eine Verordnung am Freitag ({13}) - also hier und heute im Bundestag zu verabschieden. Das wäre ein echtes Deregulierungsprogramm, das den Staat keinen Cent kosten würde, den Unternehmen aber die Möglichkeit gäbe, dann Geschäfte zu machen, wenn sie wirklich nachgefragt würden … Ich kann mich dem zum Abschluss nur voll und ganz anschließen. Stimmen Sie unserem Antrag, stimmen Sie dem FDP-Antrag zu! Das ist der sehnlichste Wunsch der ganzen Branche. ({14}) Herzlichen Dank. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Brunhilde Irber, SPDFraktion. ({0}) - Verehrte Frau Kollegin, die Geschäftsordnung schlösse das nicht aus. Ob wir das aber ernsthaft zur Beförderung der Debatten empfehlen sollten, sollten wir noch einmal in Ruhe bedenken. Bitte schön. ({1})

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland freut sich auf die Fußballweltmeisterschaft 2006 und natürlich auch auf den Confederations Cup in diesem Monat. Die ganze Welt wird bei uns im nächsten Jahr zu Gast sein. Die Tourismusbranche wird ihre Chance nutzen. Ich bin davon überzeugt, dass sie bestens präpariert ist. Ich möchte mich bei der Bundesregierung, beim Bundesinnenminister und beim Wirtschaftsminister bedanken, ({0}) die die Rahmenbedingungen hierfür geschaffen und die Deutsche Zentrale für Tourismus mit den entsprechenden finanziellen Mitteln ausgestattet haben. ({1}) Die Rahmenbedingungen für den wirtschaftlichen und sportlichen Erfolg sind gegeben. Das wissen auch die meisten und sie handeln danach. Allerdings werden zwei Fraktionen des Deutschen Bundestages nicht müde, das Gegenteil zu behaupten. Herr Kollege Klimke, Sie haben das eben wieder vorgetragen. Allerdings widerspricht das jeder Vernunft. Ich weiß nicht, warum wir uns wieder mit diesen Anträgen beschäftigen müssen, nämlich mit dem Antrag der CDU/CSU „Deutschland für die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 fit machen Längere Öffnungszeiten der Außengastronomie ermöglichen“ und dem der FDP. Erstens ist es unbestritten, dass die Bundesregierung enorme Anstrengungen unternimmt, die Fußball-WM zu einem absoluten Highlight zu machen, und zweitens sind längere Öffnungszeiten in der Außengastronomie für die WM möglich. Wozu also dieser Antrag der CDU/CSU? Er ist überflüssig und geht inhaltlich an den Tatsachen vorbei. Mit dem FDP-Antrag „Sperrzeiten für Außengastronomie zur Fußballweltmeisterschaft 2006 verbraucherfreundlicher gestalten - Freigabe der Ladenöffnungszeiten ermöglichen“ verhält es sich genauso. Die Sperrzeiten für die Außengastronomie sind verbraucherfreundlich und die Flexibilität der Ladenöffnungszeiten zur WM ist bereits vorhanden. ({2}) Wozu also dieser Antrag der FDP? Er ist ebenfalls überflüssig und geht an den Tatsachen vorbei. ({3}) - Nein, der Dehoga spinnt nicht, aber ich nehme an, er ist nicht gut informiert und Sie offensichtlich auch nicht. Aber dazu komme ich noch. Wenn es die WM im nächsten Jahr nicht gäbe, dann müsste man sie erfinden; denn sonst, liebe Kolleginnen und Kollegen, hätten Sie keine Gelegenheit, im Deutschen Bundestag zum dritten Mal mit diesem Thema zu kommen und uns damit zu beschäftigen. Es ist wie jedes Jahr: viel Wirbel um nichts. ({4}) Das, was Sie veranstalten, ist der blanke Populismus. Das wissen Sie auch genau. Deshalb stellen Sie Ihre Anträge. Im Grunde genommen ist das Zeitverschwendung. Einmal mehr bemühen Sie den Lärmschutz als Hauptproblem der Außengastronomie. Freiluftgaststätten sind aus dem Anwendungsbereich der TA Lärm ausgenommen. So soll es auch bleiben. Alles andere bedeutet mehr Bürokratie und dürfte darüber hinaus wenig effizient sein. Man stelle sich nur einmal vor, wie vor Ort ein gesondertes Messverfahren für menschlichen Kommunikationslärm aussehen würde. Ich habe das Ganze einmal als Arbeitsbeschaffungsprogramm für Lärmmessungsingenieure bezeichnet. Das erinnert mich wirklich an die Schildbürger. ({5}) Wenn jemand lärmt und ein Anwohner die Polizei ruft, dann muss die Polizei anrücken und den Lärm messen. Womit bitte? Da steht noch ein Fragezeichen. Dann geht es in ein bürokratisches Verfahren. ({6}) Es gibt wahrscheinlich eine Gerichtsverhandlung. Wenn das Ihr Beitrag zum Bürokratieabbau ist, dann gute Nacht Deutschland. Aber Spaß beiseite. Kollege Klimke hat sich kürzlich in einer Antwort auf eine schriftliche Anfrage von Frau Staatssekretärin Wolf informieren lassen. Heute war er nicht so charmant zu ihr. Ich zitiere: Für Freiluftgaststätten gelten lediglich die Grundpflichten des § 22 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes für sonstige nichtgenehmigungsbedürftige Anlagen. Bei der Anwendung des § 22 BundesImmissionsschutzgesetz ist auf eine einzelfallbezogene Berücksichtigung aller Umstände abzustellen, sodass flexible Lösungen für die zeitlich begrenzten Großereignisse des Confederations Cup und der Fußballweltmeisterschaft aus der Sicht des Bundes möglich sind. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Bewährt hat sich Folgendes: Die Bundesländer befinden über die Regelung der Sperrzeiten. Wo die Länder die Kompetenzen auf die Kommunen übertragen haben, sind die Kommunen die Entscheidungsträger. Das ist auch gut so. ({7}) Die Kommunen sind am ehesten in der Lage, sowohl das berechtigte Ruhebedürfnis der Anwohner als auch die sozialen Bedürfnisse der Gaststättenbesucher, aber auch die wirtschaftlichen Interessen der Außengastronomiebetreiber in angemessener Weise zu berücksichtigen. Dies gilt in besonderer Weise für die Fußballweltmeisterschaft, die ein herausragendes Ereignis ist. Die Länder können - und wollen es im Übrigen auch - die Sperrzeiten eigenverantwortlich regeln. Alles andere ist auch Unsinn. Es gibt keinen Vorschlag zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzrechtes, der unbürokratisch, verbraucherfreundlich und gleichzeitig praxistauglich wäre. Gerade Sie von der FDP predigen ja gebetsmühlenartig den Bürokratieabbau. ({8}) Hier aber würden Sie eine Monsterbürokratie aufbauen. Auch Ihre Jahr für Jahr wiederkehrende Argumentation zum gewandelten Konsumentenverhalten und zur Sommerzeitregelung ändert nichts an der bewährten Praxis. ({9}) Ihre Argumentation wird auch nicht dadurch schlüssiger, dass Sie die entsprechenden Passagen wechselseitig - zum Teil wortgleich - voneinander abschreiben. Das ist der einzige Beitrag zum Bürokratieabbau, den ich in Ihren Anträgen erkennen kann. Nehmen Sie doch einfach zur Kenntnis, dass sich die Länder in eigener Kompetenz anstrengen, ihre touristischen Metropolen für die Besucher von nah und fern so attraktiv wie möglich zu machen. ({10}) Das liegt in deren eigenem Interesse - sie sind auch zuständig - und alles andere ist abwegig. Beleg dafür, dass die Länder das auch tun, sind die neuesten statistischen Zahlen zum Inlandstourismus. So stieg die Anzahl der Übernachtungen im ersten Quartal 2004 zum Beispiel in Berlin um 17 Prozent, in Hamburg um 5 Prozent. Dieser Trend zeichnet sich auch in München, Köln, Leipzig und vielen anderen Städten ab. ({11}) Also sind die vorgelegten Konzepte richtig. Übrigens: Baden-Württemberg, Hamburg und Niedersachsen machen es uns bereits vor. Die CDU-Männer Oettinger, Wulff und von Beust nutzen den gegebenen Rahmen zur Verlängerung der Sperrzeiten aus. Die drei haben am wenigsten auf Ihre Initiativen hier aus dem Deutschen Bundestag gewartet. ({12}) Nun kommen wir zu den Ladenöffnungszeiten. Es ist verständlich, dass sich die FDP gerne als Liberalisierungspartei profilieren will. Das kennen wir und das ist auch in Ordnung. ({13}) - Ja. - Aber mit dem Confederations Cup und der Fußball-WM führt die politische Debatte ins Nirwana. Man braucht nämlich nicht zu fordern, was ohnehin schon umgesetzt wird. Am 2. März 2005 - jetzt hören Sie gut zu - hat der Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik einen Beschluss gefasst, um für die beiden Fußballgroßereignisse die Voraussetzungen für längere Ladenöffnungszeiten zu schaffen. Der beschlossene Rahmen sieht vor, dass die Länder Allgemeinverfügungen erlassen. Bei einer Allgemeinverfügung handelt es sich um eine Einzelfallregelung, die sich an viele Adressaten, in diesem Fall an die Einzelhändler, richtet. Die Öffnungszeiten könnten dann jeweils am Spielort und in dessen Einzugsbereich zum Beispiel wie folgt aussehen: von Montag bis Samstag von 6 bis 24 Uhr und am Sonntag von 14 bis 20 Uhr. Ich denke, das ist genug. ({14}) - Nein, dazu brauchen wir keine Kontrollbehörde. Das ist eine einfache Regelung, die auch mit dem Ladenschlussgesetz konform geht. Diese Ausnahmeregelungen stehen - das habe ich gerade gesagt - in Einklang mit § 23 Abs. 1 Ladenschlussgesetz. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit ist nicht zwingend gefordert, festzulegen, in welcher Weise die beiden Großereignisse im öffentlichen Interesse stehen. Denn solange keine weitere Regelung erfolgt, legen die Länder das selber fest. Das ist die einfachste Lösung. Was wollen Sie denn eigentlich? Es ist alles im Lot. Die Gäste können kommen. Deutschland ist gut vorbereitet. Hotellerie und Gastronomie werden zu den Gewinnern zählen. Damit ist klar: Bei den Sperrzeiten in der Außengastronomie und den Ladenöffnungszeiten ist es am effektivsten, wenn die vorhandenen Möglichkeiten zur Flexibilität sinnvoll umgesetzt werden. Genau das geschieht derzeit. Deshalb hätten Sie sich - das muss ich an dieser Stelle wiederholen - Ihre Anträge sparen können. Wir haben derzeit in Deutschland wahrlich Wichtigeres zu tun, als im Deutschen Bundestag die Abseitsfalle zu üben. Kurzum: Schließen Sie sich unserem Antrag an! Dann steht es 2:0 für Deutschland. Danke schön. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zur Verbesserung des Spielergebnisses erhält jetzt der Kollege Burgbacher für die FDP-Fraktion das Wort. ({0}) - Im Gegenteil. ({1})

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ob alles im Lot ist, wie die Frau Kollegin festgestellt hat, entscheidet nicht die SPD-Bundestagsfraktion, sondern niemand anders als die Verbraucher und die vor Ort tätigen Gastronomen. ({0}) Liebe Kollegin Irber, es ist schon richtig, dass wir in der 14. und 15. Legislaturperiode entsprechende Gesetzentwürfe eingebracht haben. Dass die Union unsere Gesetzentwürfe, selbst in der Begründung, weitgehend abgeschrieben hat, ehrt uns und erleichtert uns die Zustimmung. Die Begründung ist weitgehend wortgleich, teilweise stimmt der Text sogar mit meiner Rede überein. ({1}) Das freut mich und bestätigt mich darin, dass wir einigermaßen richtig liegen. ({2}) Es gibt doch ein Problem. Es ist zwar richtig, dass in drei Ländern Pilotversuche - in Baden-Württemberg übrigens auf massiven Druck der FDP; auch das hat unser Gesetzentwurf bewirkt - durchgeführt werden, Tatsache bleibt aber, dass die Länder und Gemeinden, die Sperrzeiten festlegen wollen, Probleme haben. Wir sind uns doch völlig einig - das sollten wir auch nicht wegdiskutieren -, dass die Entscheidungen über Sperrzeiten von den Gemeinden vor Ort getroffen werden sollen, weil diese es am besten können. ({3}) Wie wir wissen, gilt die TA Lärm nicht für die Außengastronomie. Aber die Rechtspraxis zeigt: Sobald geklagt wird, greifen Städte und Gemeinden wie auch die Gerichte auf die TA Lärm zurück. Wenn sich aber die Rechtspraxis völlig von dem entfernt, was wir ursprünglich wollten, dann ist der Gesetzgeber gefragt, der entsprechende Gesetzesänderungen vornehmen muss, damit die Rechtspraxis in die von uns beabsichtigte Richtung geht. Deshalb halten wir die Änderung der TA Lärm für richtig. Menschlicher Lärm ist anders zu behandeln als Sägen, Hämmern und Bohren. ({4}) Das ist doch selbstverständlich. Das Ausgehverhalten hat sich völlig verändert, seit die Sommerzeit eingeführt wurde. Das können Sie nicht bestreiten. Deshalb müssen wir eine andere Lösung finden. Erinnern Sie sich an den vergangenen Sommer. Es ist doch ein Ärgernis: Die Menschen sitzen froh draußen und genießen das, bis sie um 22 Uhr zum Gehen aufgefordert werden. Das verärgert beide Seiten und hat den Effekt, dass die Gäste, statt sich in das Lokal hineinzusetzen, nach Hause gehen. Das bedeutet einen erheblichen Umsatzausfall für die Gastronomie. Wer davor die Augen verschließt, sieht die Realität in Deutschland nicht. ({5}) Ich komme jetzt zu dem Argument, hier werde Bürokratie geschaffen. Man sollte mit seinen Argumenten schon auf dem Teppich bleiben. An dem bisherigen Verfahren wird nichts geändert. Die einzige Ausnahme ist, dass andere Grenzwerte gelten sollen. Ob sie in jedem Fall gemessen werden müssen, ist nicht unser Problem. Es geht allein um die Festlegung anderer Grenzwerte. Erlauben Sie mir noch eine Anmerkung zum Ladenschluss. Auf der Tagesordnung steht auch die Beratung unseres Gesetzentwurfs, in dem wir mit der Forderung, die Zuständigkeit für die Festlegung der Ladenöffnungszeiten den Ländern zu übertragen, den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts folgen. Leider haben Sie in der Föderalismuskommission nicht mitgemacht. Deshalb ist es noch nicht dazu gekommen. Wir fordern: Setzt den Ladenschluss für die Fußballweltmeisterschaft aus! „Die Welt zu Gast bei Freunden“ - wir wollen alles tun, dass die Fußballweltmeisterschaft zu dem Werbeevent für Deutschland wird. Dafür müssen wir jetzt die Voraussetzungen schaffen. Wenn Sie heute nicht dazu bereit sind, dann werden wir es im kommenden Herbst tun. Das sage ich Ihnen fest zu. Herzlichen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Undine Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen, Sie alle haben sicherlich mitbekommen, dass wir heute im Deutschen Bundestag über das politisch wichtige Thema der Öffnungszeiten von Biergärten reden, also darüber, wie lange sie geöffnet haben dürfen. Nicht, dass ich meinen würde, dass das kein wichtiges Thema ist! Ganz im Gegenteil: Das kann über vieles an einem Abend entscheiden. Trotz allem glaube ich, dass es schon reichlich Anträge zu diesem Thema gegeben hat. Die Argumente sind auf vielfältige Weise ausgetauscht worden. Vor allem wissen wir alle, dass die derzeitige Handhabung der Sperrzeitenregelung gar nicht so unflexibel ist, wie es immer dargestellt wird. Herr Klimke, wenn Sie schon nicht wissen, wie fröhlich es auf Veranstaltung der Grünen zugehen kann, und meinen, dass wir immer nur Müsli picken, ({0}) dann sollten Sie zumindest wissen, dass die in Deutschland geltenden Sperrfristen vor Ort individuell angepasst werden können. Darüber entscheiden die Länder. Diese geben ihre Kompetenz oft - wie ich finde: zu Recht - an die Kommunen ab, da diese in der Regel am besten wissen, was vor Ort verträglich ist oder nicht. ({1}) - Sogar Herr Burgbacher sagt, dass wir uns darin einig sind. - Das verwundert mich nun wieder sehr, wenn ich an die zurückliegende Debatte über eine Föderalismusreform denke. Dort wurde ständig herausgestellt, dass sich der Bund bei Regelungen betreffend den Sport- und Freizeitlärm völlig herauszuhalten habe, weil das ausschließlich in der Zuständigkeit der Länder verbleiben solle. Nun sind wir der Meinung, das dort zu belassen. ({2}) Ausnahmen sind bereits getroffen worden. Die Freie und Hansestadt Hamburg, die sich auch entsprechend frei benimmt, hat rechtzeitig zur Sommersaison 2005 als erste Metropole Öffnungszeiten im gastronomischen Außenbereich bis 24 Uhr erlaubt, und zwar ganz ohne Zutun des Bundes. Die anderen Beispiele sind bereits genannt worden. Wie gesagt, all das ist im Einklang mit den geltenden Gesetzen möglich. Dass wir kein gastfreundliches Land seien, ist, glaube ich, eine etwas abenteuerliche Behauptung. Sonst hätte der Tourismus in Deutschland nicht so gute Ergebnisse und Wachstumsraten zu verzeichnen. Ich glaube daher, dass Sie es völlig falsch anpacken. Wo Wettkämpfe stattfinden, wird es natürlich Sieger und Verlierer geben. Diejenigen, die sich über einen Sieg freuen, werden sich vor Glück im Biergarten aufhalten, diejenigen, die eine Niederlage zu beklagen haben, vielleicht aus Trauer. Es sei allen gegönnt. Ich glaube nicht, dass wir erleben müssen, dass die Feierfreudigen zum Schluss an der Tankstelle enden. Seien Sie also ganz unbesorgt. Es gibt erste gute Anzeichen. Eines darf man bei der Debatte aber auch nicht vergessen: Es gibt nicht nur diejenigen, die ihr Spaßbedürfnis befriedigen wollen, sondern auch Menschen, die nicht ausschlafen können, weil sie arbeiten müssen. Deren Bedürfnisse müssen bei Entscheidungen mit berücksichtigt werden, wer wie lange öffnen darf. Deshalb ist es richtig, dass vor Ort alle Beteiligten sorgfältig darüber nachdenken, was möglich ist, und dann entscheiden. Wir sind mit den bestehenden Regelungen sehr gut bedient; denn sie führen zu vernünftigen Ergebnissen. Ich möchte alle ermutigen, weiterhin vernünftige Absprachen zu treffen. Sie können sich sicherlich vorstellen, dass wir Ihre Anträge nicht ganz so großartig finden und eher der Meinung sind, dass der Koalitionsantrag, wenn schon ein Antrag notwendig ist, richtig ist. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/5452 - Tagesordnungpunkt 25 a -, 15/5581 - Tagesordnungspunkt 25 b - und 15/5585 Zusatzpunkt 6 - an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Ich stelle Einvernehmen fest. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 7 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes ({0}) - Drucksache 15/4493 ({1}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2}) - Drucksache 15/5606 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Bürsch Silke Stokar von Neuforn b) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/5610 16950

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Abgeordnete Susanne Jaffke Klaus Hagemann Alexander Bonde Otto Fricke Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FDP-Fraktion vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist hierzu eine halbstündige Debatte vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Dr. Michael Bürsch für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Große Ereignisse finden manchmal am 3. Juni statt. Als Mitglied der CDU/CSU-Fraktion würde ich wahrscheinlich sagen: Dies ist ein guter Tag für Deutschland. Als Berliner würde ich sagen: Europäer, schaut auf dieses Land! Als bescheidener Schleswig-Holsteiner sage ich persönlich nur: Ich freue mich, dass der Bundestag die zweite und dritte Lesung des Informationsfreiheitsgesetzes auf meinen Geburtstag gelegt hat. ({0}) Das ist für mich ein besonderes Zeichen. ({1}) - Nicht dafür, Herr Kollege. ({2}) Das heute beratene Informationsfreiheitsgesetz orientiert sich an der Leitidee „Demokratie braucht Transparenz“. Unsere Demokratie lebt davon, dass Bürgerinnen und Bürger die Entscheidungen in Politik und Verwaltung verstehen und nachvollziehen können. Das ist ein Postulat der Bürgergesellschaft. Unsere Demokratie ist nur dann lebendig, wenn die Bürgerinnen und Bürger informiert sind, wenn sie einen Einblick haben, was in der Verwaltung geschieht. ({3}) Es ist nachvollziehbar, dass sich viele von der Politik abwenden. Sie beklagen Bürokratie und wiehernde Amtsschimmel zu Recht, wenn sie außen vor gelassen werden, wenn sie den Eindruck haben, dass sie nicht Bescheid wissen und dass das auch so sein soll. Bei uns in Deutschland herrscht im Grunde genommen noch immer die eherne Überzeugung vor: Es gilt das Prinzip der Amtsverschwiegenheit; die Wahrung des Amtsgeheimnisses ist so hoch zu halten, dass daran auch in 100 Jahren keiner rüttelt. Ich glaube, dass das kein Paradigma für das 21. Jahrhundert ist. Viele Industrieländer haben uns vorgemacht, dass es auch anders geht. Bekanntlich gibt es nur noch drei sehr kleine Länder - eines davon ist Malta -, die kein Informationsfreiheitsgesetz haben. Wenn nun endlich auch wir ein solches Gesetz verabschieden, dann schlagen wir den Weg der Modernisierung ein. Das neue Bürgerrecht auf Information wird auch dazu beitragen, dass die öffentliche Verwaltung weniger korruptionsanfällig ist. Wenn sich die Bürger zu jeder Zeit über alle Vorgänge in der Verwaltung informieren können, wenn es also zu mehr Transparenz kommt, dann wird das zu weniger Kungelei und zu weniger Korruption führen. Davon bin ich überzeugt. Auch wenn wir heute dieses Gesetz verabschieden, das das neue Bürgerrecht auf Information regelt, handeln wir verantwortungsbewusst; wir stellen natürlich sicher, dass wichtige Geheimnisse der öffentlichen Verwaltung nicht preisgegeben werden. Manche Kritiker befürchten, der Schutz des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung sei nicht mehr sichergestellt. Andere haben schon das Schreckensbild des Zusammenbruchs der öffentlichen Verwaltung an die Wand gemalt. Ich kann allen Zweiflern, Skeptikern und Kritikern versichern: In diesem Gesetz sind genug Sicherheit gewährleistende Regelungen enthalten; wir haben in diesem Gesetz genügend vertrauensbildende Maßnahmen verankert, damit auch in Zukunft sichergestellt sein wird, dass Amtsgeheimnisse, die nicht verraten werden dürfen oder über die nicht informiert werden soll, der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Klaeden möchte Ihre knappe Redezeit durch eine Zwischenfrage verlängern.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich nehme natürlich jede Gelegenheit wahr, auf Fragen zu diesem Gesetz jede Antwort zu geben, die Sie brauchen.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Bürsch, zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! ({0}) Nachdem Sie hier im Plenum so sehr für Informationsfreiheit eingetreten sind, frage ich Sie: Warum haben eigentlich die Mitglieder der Koalition im Untersuchungsausschuss sogar Presseartikel als „Verschlusssache - nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft?

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich kann mir die Antwort leicht machen: weil es das Informationsfreiheitsgesetz noch nicht gab. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sonst hätten wir das Datum Ihres Geburtstags wahrscheinlich nie erfahren, Herr Kollege Bürsch.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich merke schon: Es wird eine eher fröhliche Sitzung; der Anlass unserer heutigen Beratung ist aber ernst. Jeder hat an seinem Geburtstag einen Wunsch frei. Der Wunsch geht in folgende Richtung: Das Informationsfreiheitsgesetz hat im Gesetzgebungsverfahren Kritik aus zwei Richtungen erfahren. Die einen haben sich darüber beschwert, dass das Informationsfreiheitsgesetz viel zu kurz greife. Die Einschränkungen des Informationsanspruches in bestimmten Bereichen, zum Beispiel in § 3, seien inakzeptabel. Von der ganz anderen Seite wurde uns dagegen vorgeworfen, wir würden das Abendland und die traditionelle deutsche Verwaltungskultur abschaffen, zu der nun einmal das Amtsgeheimnis als zentraler Glaubenssatz auch für die nächsten 100 Jahre gehöre. Die Kritik von beiden Seiten ist - ganz ohne Emotionen und leidenschaftslos gesagt - noch nicht von Erfahrung geprägt. Denn wir stehen mit dem Informationsfreiheitsgesetz noch am Anfang. Allerdings gibt es in vielen anderen Ländern Erfahrungen. Es gibt auch in vier Bundesländern Erfahrungen. Diese sprechen genau dafür, dass die Verwaltungen nicht lahm gelegt werden, dass es keine Prozessfluten gibt und dass Amtsgeheimnisse nicht ohne Not verraten werden. Dieses Informationsfreiheitsgesetz ist ein erster Versuch, ein Bürgerrecht auf Information einzuführen, damit dem Bürgerengagement und der Bürgergesellschaft in Deutschland eine Gasse zu schaffen ({0}) und dadurch die öffentliche Verwaltung auf diesem Gebiet zu modernisieren und eine Verwaltungskultur einzuführen. Wir werden die Erfolge und die Nachteile, die Risiken und die Nebenwirkungen nach fünf Jahren ganz genau analysieren. Aus dieser Bewertung werden wir die nötigen Konsequenzen ziehen und entscheiden, ob das Gesetz geändert werden muss und, wenn ja, an welcher Stelle. Nun wende ich mich ganz persönlich an die verehrte Kollegin Philipp. Wir haben über das Gesetz schon sieben Jahre beraten, verehrte Frau Kollegin. Alles, was zu diesem Gesetz gesagt und geschrieben werden musste, ist getan worden. Ich selbst habe an einer Stelle ironisch gesagt: Der Grundsatz „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“ ist hier nun wirklich unterlegt worden. ({1}) Frau Philipp, wenn Sie nun nach sieben Jahren - einschließlich der Beratung im Plenum und in den Ausschüssen des Bundestages - immer noch sagen, Sie hätten nicht genug Zeit gehabt, um dieses Gesetz zu lesen, dann frage ich mich: Wie haben Sie es eigentlich bewerkstelligt, die Gesetze zur Gesundheitsreform oder zur Rentenreform mit zu tragen, die von Ihrer Fraktion unterstützt wurden? Wie sind Sie mit diesen Gesetzen umgegangen, wenn Sie innerhalb eines halben Jahres nicht in der Lage sind, zu verinnerlichen, was in diesem kurzen Gesetz von 15 Paragraphen steht? ({2}) Lesen Sie einfach. Sie haben jetzt noch eine halbe Stunde Zeit und können anschließend zustimmen. Ich bitte um breite Zustimmung im Hause. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Beatrix Philipp, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Beatrix Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002750, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Vorsitzender! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Dr. Bürsch, selbstverständlich und gern gratuliere auch ich Ihnen zu Ihrem Geburtstag. Ich mache aber sogleich zwei Bemerkungen außerhalb meiner Ausführungen zu Ihrem Beitrag: Wie ernst Sie das Informationsfreiheitsgesetz wirklich nehmen, macht nicht nur die Antwort auf die Frage von Herrn von Klaeden deutlich, so witzig sie auch formuliert war. Auch der Ausnahmekatalog, den Sie im Gesetzentwurf festschreiben mussten - ich habe das schon in der ersten Lesung gesagt -, und die Beratungsdauer geben zu denken. Wenn Sie hier schon dem staunenden oder auch nicht staunenden Publikum erklären, dass Sie sechseinhalb Jahre gebraucht haben, dann sollten Sie dazusagen, dass dies Ihre interne Beratungszeit war. So lange haben Sie gegackert, bis Sie das Ei gelegt haben. Von uns können Sie dann nicht ernsthaft erwarten, dass wir das im Hauruckverfahren machen. Zum Schluss Ihrer Rede hin haben Sie, Herr Dr. Bürsch, von Nachteilen und Risiken gesprochen und gesagt: Dann müssen wir in fünf Jahren einmal nachsehen, wie es bis dann gelaufen ist. Wissen Sie, eigentlich ist die Bevölkerung - das kann man an den letzten Wahlergebnissen sehen - diese Probeläufe Ihrer Gesetzesvorhaben, wie auch immer Sie sie zu Mehrheiten gebracht haben, leid. Dieses hier vorliegende Gesetz ist wieder einmal ein solcher Probelauf. Deswegen werde ich gleich ausführen, warum wir diesem Gesetz nicht zustimmen können. Wir haben Ihnen angeboten - ich habe das ernst gemeint; Sie kennen mich lange genug: wenn ich etwas nicht ernst meine, dann würde ich es nicht so sagen -, diesen Gesetzentwurf ergebnisoffen zu prüfen und uns ernsthaft damit auseinander zu setzen. Ich habe immer erklärt, dass es erheblichen Beratungsbedarf gibt. Von Ihrem innenpolitischen Sprecher, Herrn Wiefelspütz, ist mir auch zugesagt worden, dass meine Fraktion die dafür notwendige Zeit bekommt. Dass es sich um eine äußerst schwierige Materie handelt, macht nicht zuletzt die Tatsache deutlich, dass Sie, wie ich eben schon gesagt habe, sechs Jahre gebraucht haben, um diesen Entwurf auf den Tisch zu legen. Ich will der Vollständigkeit halber hinzufügen, dass wir gesagt haben: Es gibt einen Entwurf der CDU NordrheinWestfalen, auf dessen Basis wir möglicherweise zu einem Kompromiss finden können, der als Basis für Gespräche dienen kann. Aber Sie haben uns die notwendige Zeit nicht eingeräumt. Die Krönung der nicht eingehaltenen Zusagen, Herr Dr. Bürsch, und auch des künstlich aufgebauten Zeitdrucks ist die Tatsache, dass erst am Dienstag, zum Teil erst am Mittwoch mitgeteilt wurde, dass heute die abschließende Beratung stattfindet. Das entspricht jedoch dem Verfahren, in dem Sie den Gesetzentwurf eingebracht haben. Sie haben erst zwei Tage vorher gesagt, dass es so weit ist. Hier so zu tun, als ob reichlich Zeit gewesen ist, ist einfach nicht in Ordnung. Das sollten Sie nicht tun. Das entspricht eigentlich auch nicht unserem Verhältnis. ({0}) Wir teilen die angestrebten Ziele, Herr Dr. Bürsch. - Ich weiß nicht, ob es Sie überhaupt interessiert, was wir dazu sagen. ({1}) Vielleicht sagen Sie sich: „Wir haben eine Mehrheit; uns das jetzt noch die letzten Monate von der Opposition anzuhören, haben wir nicht nötig“ oder so. ({2}) Ich meine schon, dass es sich um eine ganz ernste Sache handelt. Deshalb wäre es nett, wenn Sie wenigstens zuhören, wenn ich darlege, warum wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen können und wo wir zweifellos Gemeinsamkeiten haben. ({3}) Dazu gehört, dass wir die angestrebten Ziele unterstützen. Ich weiß auch nicht, wer gegen Transparenz stimmen kann, wer gegen Korruptionsbekämpfung sein will. ({4}) - Herr Tauss, wenn Sie meine letzten Reden hier im Protokoll nachgelesen haben, ({5}) werden Sie wissen, dass ich großes Verständnis für Zwischenrufe habe. Am besten ist es, wenn sie witzig sind. Aber was Sie seinerzeit während meiner Rede veranstaltet haben, hatte mit Zwischenrufen nichts zu tun; es waren ungeheuerliche Störungen. Ich bitte Sie jetzt am Anfang wirklich, damit nicht schon wieder zu beginnen. Es stört einfach. Gegen Zwischenrufe habe ich nichts - darauf könnte ich auch eingehen -, aber solche ständigen Störungen von ein und derselben Seite finde ich nicht in Ordnung. ({6}) Ich meine das ganz ernst. Also: Wer kann etwas gegen Transparenz und Korruptionsbekämpfung haben? Wer kann etwas gegen mehr Teilhabe der Menschen an politischen Prozessen haben? Aber es gibt grundsätzliche und rechtliche Bedenken und ganz massive Bedenken gegen die Umsetzung des Gesetzes in der Praxis. Dass Sie sich nicht an interne Vereinbarungen halten, Herr Dr. Bürsch, mag Ihre Sache oder Sache der SPD sein - daran haben wir uns schließlich schon gewöhnen müssen -, aber dass Sie dann auch noch einen so schlechten Entwurf vorlegen, ist nicht mehr nur Ihre Sache. So versuchen Sie unter der Überschrift Informationsfreiheitsgesetz den Eindruck zu erwecken, es gehe um ein bisschen mehr Freiheit, um einen offenen Umgang mit Informationen. Aber gerade dann, wenn ein Gesetzentwurf, wie in diesem Fall, weit reichende Folgen für unser Rechtssystem und damit eigentlich für uns alle hat, gehört es sich, den Menschen das auch zu sagen und darüber ausgiebig und intensiv zu beraten. Es hilft auch nicht, darauf hinzuweisen, dass andere Staaten positive Erfahrungen mit einem solchen Gesetz gemacht haben, wenn sich deren Verwaltungsaufbau und auch deren Rechtssystem dezidiert von unserem unterscheiden. Die wesentlichen Gründe für unsere Ablehnung sind folgende: Erstens: zur angeblichen Verbesserung der Aufsicht über den Staat durch das Informationsfreiheitsgesetz. Die Behauptung, dass Informationszugangsrechte die Kontrolle staatlichen Handelns wesentlich verbessern, gehört eigentlich in den Bereich der Volksverdummung. Wir leben in einem Rechtsstaat, dessen Struktur, demokratische Legitimation und Kontrolle über jeden Zweifel erhaben sind. Die Rechtssicherheit in Deutschland wird von vielen ausländischen Experten immer wieder als positiver Standortvorteil aufgeführt. Diese zusätzliche punktuelle willkürliche Kontrolle der Verwaltungstätigkeit durch irgendwen - durch irgendwen! -, wie das Gesetz es vorsieht, verbessert weder die gleichmäßige noch die kontinuierliche Aufsicht über den Staat. Diese Umkehr des Rechts, Herr Dr. Bürsch, haben Sie in der Anhörung als einen Kulturwandel bezeichnet. ({7}) Damit das völlig klar ist: Genau diesen Kulturwandel wollen wir nicht. ({8}) Zweitens: Angriff auf den Datenschutz. Man glaubt es kaum. Meine Fraktion hat im Bereich der KriminaliBeatrix Philipp tätsbekämpfung immer wieder Schwierigkeiten, die berechtigten Interessen von Ermittlern und Sicherheitsbehörden gegen überzogene Datenschutzbedenken durchzusetzen. Der Datenschutz wird in vielen dieser Fälle - da gibt es einige Beispiele, die nachzulesen sind fast wie eine Monstranz durch den Deutschen Bundestag getragen. Damit scheint es jetzt vorbei zu sein. ({9}) - Fluggastdaten beispielsweise oder großer Lauschangriff. Ich habe schon beim Stasi-Unterlagen-Gesetz - ich darf das noch einmal in Erinnerung rufen - erfahren müssen, dass die Mehrheit dieses Hauses, für mich völlig unverständlich, vom Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung zugunsten des öffentlichen Interesses Abschied genommen hat. Nun soll im vorliegenden Gesetzentwurf auch noch die verfassungsrechtlich gebotene Zweckbindung der Datenfreigabe selbst bei Daten Dritter wegfallen. Damit ist der bisherige quasi automatische Schutz von Daten nicht mehr gegeben. Vielmehr hat nun der zuständige Bearbeiter in der jeweiligen Behörde die Daten aktiv zu schützen. Dieser Beamte, sofern es noch einer ist, muss darüber entscheiden, ob er die gewünschten Informationen dem Antragsteller zugänglich macht oder nicht. Er muss bei Ablehnung des Antrags nachweisen und begründen, warum er dies tut. Da wundert mich schon sehr das Schweigen unseres Datenschutzbeauftragten; das ist fast beängstigend. ({10}) Drittens: der völlig voraussetzungslose Zugang zur Information. Der deutsche Verwaltungsrechtsschutz ist über mehrere Prüfungsinstanzen gestaffelt und bietet dem Bürger einen Rechtsschutz, wie er im internationalen Vergleich kaum erreicht wird. Der Prüfungsaufwand, der damit verbunden ist, ist im Interesse der Bürger enorm, aber er ist durchschaubar und kalkulierbar. Damit dieser Aufwand nicht ins Uferlose wächst, ist Grundvoraussetzung der Klagebefugnis, dass die Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechts geltend gemacht wird. Mit anderen Worten: Es kann eben nicht jeder gegen alles klagen, sondern er muss schon konkret in seinen eigenen Rechten betroffen sein. Dieser Filter hat sich bewährt und sichert auch die Arbeitsfähigkeit der Verwaltungsgerichte. ({11}) Wenn nun das IFG keinerlei berechtigtes Interesse für einen Informationsanspruch mehr verlangt, wird dies Auswirkungen auf unser Verwaltungsrechtsschutzsystem haben, deren Folgen noch gar nicht absehbar sind. Meine Fraktion hat eigentlich keine Lust, erst in fünf Jahren zu überprüfen, wie es nun gelaufen ist. Das kann man vorher absehen. Das Bemühen, nach einer differenzierten Lösung für dieses Problem zu suchen, haben wir sehr vermisst. ({12}) Viertens: der Informationsanspruch für jedermann. Kern der Gesetzesbegründung ist, dass das Verwaltungshandeln transparenter werden soll. So steht in der Begründung: Das Informationsfreiheitsgesetz dient damit vor allem der demokratischen Meinungs- und Willensbildung. Bisher konnte mir niemand erklären - vielleicht können Sie das ja, Herr Tauss -, wieso alle Menschen nach diesem Gesetz einen Informationsanspruch haben sollen. Es gibt auf dieser Erde - das lehrt die Lebenserfahrung nicht nur wohlmeinende Staaten und Menschen. Deshalb geht es einen großen Teil der Menschheit überhaupt nichts an, was in deutschen Verwaltungsakten steht. Gerade unter Zugrundelegung der oben zitierten Begründung sollte sich das Informationsfreiheitsgesetz unserer Meinung nach an die Mitglieder unseres demokratischen Gemeinwesens richten, also an alle deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Im Rahmen der europäischen Vereinigung spricht natürlich einiges dafür, dieses Recht auf alle EU-Bürger auszuweiten, aber eben nicht auf jedermann, egal, in welchem Teil unserer Erde er lebt. ({13}) Meine Damen und Herren, über diese grundsätzlichen Bedenken hinaus gibt es zahlreiche offene Fragen bezüglich der praktischen Umsetzung des Gesetzes, die ich nur anreißen kann: Die Vermutung, demnächst gebe es eine doppelte Aktenführung, ist nicht von der Hand zu weisen. ({14}) - Das wissen Sie doch genauso gut wie ich. ({15}) Die Frage, wie mit auf Bundesebene vorhandenen Landesakten zu verfahren ist, ist ungeklärt. Den Konflikt, Herr Dr. Bürsch, wenn, wie vorgesehen, eine Person gleichzeitig für den Datenschutz und für die Informationsfreiheit zuständig ist, ({16}) müssen Sie auflösen. Herr Dr. Eigen hat nach der Anhörung, als ich ihn darauf angesprochen habe - während der Anhörung ging es nicht, weil meine Fragezeit begrenzt war -, gesagt, damit habe er auch ein Problem. Als Vorsitzender von Transparency International ist er ja eigentlich ein Befürworter des Gesetzes. ({17}) Und last but not least, meine Damen und Herren: der völlig unzureichende Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen. Da eine klare Definition fehlt, was darunter zu verstehen ist, werden die Gerichte zukünftig klären müssen, was ein Betriebs- und Geschäftsgeheimnis ist. Dass dies von erheblicher Bedeutung für die Betriebe ist, brauche ich sicherlich nicht besonders zu betonen. Offen ist auch die Frage, wie es mit Informationen aus Genehmigungs- oder Überwachungsmaßnahmen aussieht. Auch hier wird alles in das Ermessen der Behörde gestellt. Hier bahnt sich eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Anwälte und für Gerichte an; wer den Zeitfaktor für Gerichtsverfahren kennt, dürfte als betroffener Unternehmer schnell einen weiteren Standortnachteil ausgemacht haben. ({18}) Davor können Sie doch nicht einfach die Augen verschließen. Gerade im Bereich hochsensibler Daten sollten wir keine Experimente auf dem Rücken derer machen, die eigentlich Arbeitsplätze hier in Deutschland schaffen und sich hier ansiedeln sollten. Es gibt keine Missbrauchsklausel. Und schließlich: Inhalt und Verfahren erinnern zwangsläufig an das Antidiskriminierungsgesetz; ich meine, Sie hätten daraus lernen können. Uns drängt sich die Vermutung auf, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bevölkerung unter dem populären Titel „Informationsfreiheitsgesetz“ ein ähnliches Schicksal ins Haus steht wie mit dem Antidiskriminierungsgesetz. Beide Gesetze - auch das können Sie nicht von der Hand weisen - bringen einen ungeheuren Bürokratiezuwachs mit sich. ({19}) Das Gebot aber ist Bürokratieabbau. Daran sollten Sie arbeiten. Danke schön. ({20})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Silke Stokar von Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein zentrales Reformvorhaben von Rot-Grün wird heute im Bundestag zum Abschluss gebracht. Nach sechs, fast sieben Jahren Diskussionen und Verhandlungen ({0}) ist es gelungen, die Widerstände zu überwinden. Deutschland bekommt ein Informationsfreiheitsgesetz. ({1}) Meine Damen und Herren, gemeinsam mit meiner Kollegin Grietje Bettin habe ich für die grüne Fraktion dieses Gesetz in unendlicher Geduld verhandelt. Weil das ein Erfolg im Team ist, teilen wir uns die kurze Redezeit von fünf Minuten. ({2}) Ich bitte deswegen die Opposition um Verständnis, dass ich auf die vielen einzelnen Bedenken und Einwände jetzt nicht mehr eingehen kann. Nur so viel zur CDU: Sie hatten nicht nur eine lange Diskussionsphase, Sie hatten hier auch eine lange Redezeit. Ihre Einwände gegen das Informationsfreiheitsgesetz und Ihre Position dazu sind hier trotzdem nicht deutlich geworden. Das ist Ihr Problem. ({3}) Ich sage auch etwas zur FDP, weil ich Ihre Einwände kenne: Ja, dieses Gesetz ist ein Kompromiss. Grüne Politik geht weiter als rot-grüne Kompromisse. Auch wir haben uns mehr gewünscht, aber wir stehen hier heute zu dem gemeinsam errungenen Kompromiss. Sie haben in Ihrer Zeit der Regierungsbeteiligung in diesem Bereich überhaupt nichts zustande gebracht. Wir müssen nur nach Niedersachsen sehen: Der Datenschutzbeauftragte tritt resigniert zurück, weil er die schwarz-gelbe Politik nicht mehr ertragen kann. ({4}) Das Informationsfreiheitsgesetz ist ein Beispiel für die erfolgreiche und auch vertrauensvolle Zusammenarbeit der rot-grünen Koalitionsfraktionen - ich würde sie gerne mit Ihnen fortsetzen. Das Ergebnis ist mehr Transparenz für die Bürgerinnen und Bürger und eine Modernisierung der öffentlichen Verwaltung. Es liegt jetzt am Bundesrat, dieses tolle Gesetz nicht zu blockieren. ({5}) Ich möchte mich ausdrücklich bei der SPD-Fraktion, aber auch bei all den Verbänden, die unser Vorhaben konstruktiv unterstützt haben, bedanken. Ermuntern möchte ich die Verwaltung, Informationsfreiheit als Chance zu begreifen. Machen Sie von den Ausnahmeregelungen des Gesetzes zurückhaltend und bürgerfreundlich Gebrauch! Übernehmen Sie den Grundsatz der Transparenz als Leitbild für eine moderne Verwaltung! Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass wir das hier zum Abschluss gebracht haben. Ich denke, wir feiern nachher auch noch ein bisschen. Ich richte noch einen Dank an die Arbeitsebene; die Beteiligten sitzen hier irgendwo auf der Tribüne. Ich bedanke mich bei allen, die zu diesem Erfolg beigetragen haben. Es ist gut für die Bürgerrechte in Deutschland, dass wir jetzt ein Informationsfreiheitsgesetz bekommen. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler, FDP-Fraktion.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach diesem Plädoyer der Kollegin Stokar für ein Informationsfreiheitsgesetz ({0}) möchte ich Sie fragen, ob wir denn die internen Protokolle der von Ihnen geduldig geführten Verhandlungen über das Zustandekommen einmal nachlesen dürfen; denn dann bekämen wir vielleicht Aufschluss darüber, warum Sie bis heute gebraucht haben, Ihr Versprechen aus der Zeit der Regierungsbildung 1998 endlich zu erfüllen. ({1}) Wir haben ja gesehen, wo die Diskussionsfronten verlaufen sind: auf der einen Seite die Parlamentarier, auf der anderen Seite die natürlichen Feinde jeder Transparenz von Behördenhandeln, die Ministerien. ({2}) Die Bundesgesundheitsministerin, Ulla Schmidt, hat die Verabschiedung dieses Gesetzes noch vor wenigen Wochen persönlich blockiert, wie wir lesen konnten, ({3}) weil sie Bedenken von Krankenkassen aufgegriffen hat. Diese sind vom Bundesdatenschutzbeauftragten, von Herrn Bürsch und von Frau Stokar als unberechtigt zurückgewiesen worden. ({4}) Aber das war die Problematik in Ihren Reihen. ({5}) In der Sache sagen wir als FDP: Wir unterstützen ein Informationsfreiheitsgesetz. Dies ist eine alte bürgerrechtliche Forderung, die zu einem Zugewinn an Demokratie führt. ({6}) Frau Kollegin Philipp von der CDU/CSU-Fraktion, die Einwände, die Sie heute vorgetragen haben, könnten sich hören lassen, wenn dies das erste Gesetz dieser Art auf der ganzen Welt wäre. ({7}) Aber es gibt längst eine praktische Erprobung. Die Bundesrepublik Deutschland ist hier Schlusslicht in der internationalen Entwicklung. ({8}) Es gibt eine Tradition im angelsächsischen Raum. Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung hat ein solches Gesetz erkämpft. ({9}) Auch die Regelungen in Kanada hätten wir uns zum Vorbild nehmen können usw. ({10}) Die praktische Erfahrung zeigt, dass das funktioniert. Sie haben einen bedenkenswerten prinzipiellen Einwand erhoben. Sie haben gesagt: Wer vor einem Verwaltungsgericht klagen will, muss nach unserem System von dem Verwaltungshandeln, gegen das er vorgeht, selber betroffen sein. Das ist aber etwas anderes als die Information über Verwaltungshandeln allgemein. ({11}) Diese steht in einer Demokratie jedermann zu. Das ist der Unterschied. Deswegen teilen wir als Liberale Ihren Einwand nicht. ({12}) Allerdings hätten wir uns ein großzügigeres und bürgerfreundlicheres Gesetz gewünscht. Die Debatte in Deutschland ist nach jahrelangem Stillstand doch überhaupt nur vom Fleck gekommen, weil ({13}) die Humanistische Union und andere Bürgerrechtsorganisationen einen eigenen Entwurf vorgelegt haben, ({14}) nachdem Sie nicht zu einer Einigung gekommen sind. Dieser Entwurf, den Sie natürlich kennen, war großzügiger und hätte mehr an wirklicher Information geboten als der Minimalkompromiss, auf den Sie sich bei SPD und Grünen geeinigt haben. ({15}) Der Ausnahmetatbestand in § 3 ist viel zu weit gefasst. Ungünstig ist auch, dass es bereichsspezifische Regelungen in anderen Gesetzen und daneben jetzt ein Informationsfreiheitsgesetz gibt. Das führt nur zu Unklarheit und Verwirrung. Die Regelung eines einheitlichen Anspruches auf Information wäre richtig gewesen. ({16}) Aus diesen Gründen, meine Damen und Herren, sagen wir: Sie gehen einen Schritt in die richtige Richtung. Was Sie machen, ist aber nicht liberal und bürgerfreundlich genug. Wir wollen den Gesetzentwurf nicht ablehnen, weil das Grundanliegen von uns geteilt wird; aber wir können auch nicht zustimmen, weil es wirklich nur eine Minimalregelung ist. ({17}) Daher enthalten wir als FDP uns hier im Bundestag heute der Stimme. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Jörg Tauss für die SPD-Fraktion.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen! Meine lieben Kollegen! Auch von meiner Seite natürlich herzlichen Glückwunsch. Dass mit Ausnahme des zwangsverpflichteten Geschäftsführers der Unionsfraktion, Herrn Klaeden, niemand den Ausführungen von Frau Philipp zuhören wollte, ist im Nachhinein verständlich; ich kann es nachvollziehen. Denn, liebe Frau Kollegin Philipp, durch Ihre Rede hat sich deutlich gezeigt, dass das Verständnis der Union von einem modernen Staat hinter das Schwedens im Jahr 1766 zurückfällt, als sich die schwedische Gesellschaft bereits ein Informationsfreiheitsgesetz gegeben hat. Lieber Herr Stadler, ich würde mir mit Blick auf den nächsten Herbst gut überlegen, ob Sie mit der Union koalieren wollen. Allein der heutige Tag hat gezeigt: Mit diesem Verständnis eines modernen Staates ist die Union nicht regierungsfähig. Man sollte es ihr ersparen. ({0}) Frau Kollegin Philipp, eine herzliche Bitte hätte ich, nämlich dass Sie in den Argumentationen ein bisschen ehrlicher sind. Es gab mehrere Angebote von Kolleginnen und Kollegen - mich können Sie nicht leiden, das sei dahingestellt; aber es gab auch Angebote von anderen, zum Beispiel vom Kollegen Bürsch -, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Ich habe also an Sie die herzliche Bitte, hier keinen Popanz aufzubauen. ({1}) Sie hätten die Chance gehabt. Aber Sie haben sie nicht genutzt. ({2}) Das hängt damit zusammen, dass in Ihren Reihen keine Einigung über ein Informationsfreiheitsgesetz erzielbar war. Die Widersprüche bei Ihnen sind viel zu groß. Diese Tatsache wollen Sie mit Ihrem Verhalten übertünchen. ({3}) Liebe Frau Philipp, es wurde siebeneinhalb Jahre lang diskutiert, und da reden Sie von internen Diskussionen. Offensichtlich gehen an Ihnen alle gesellschaftspolitischen Debatten vorbei. Lesen Sie es einfach einmal nach! Dazu bedarf es keiner Informationsfreiheit, sondern eines kurzen Besuchs etwa in der Bibliothek des Deutschen Bundestages. ({4}) Es gab die Debatten der Bertelsmann-Stiftung, es gab Konferenzen, es gab Anhörungen und Podiumsdiskussionen. Richtig ist allerdings: An all diesen Veranstaltungen haben Sie nicht teilgenommen. Das muss einmal festgestellt werden. Ihre Kritik beruht im Wesentlichen auf der Ablehnung eines vernünftigen und modernen Informationsfreiheitsgesetzes. Was Sie hier zum Datenschutz gesagt haben, ist völlig falsch. Der Datenschutz ist mit diesem Informationsfreiheitsgesetz nicht aufgehoben. Ganz im Gegenteil: Datenschutz und Informationsfreiheit sind zwei Seiten einer Medaille. Im Grunde ist auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, wie dies in den Ländern der Fall ist, gleichzeitig zuständig für das Recht auf Zugang zu Akten und Informationen. Die vernünftige und gute Lösung, die wir gefunden haben, trägt dem Datenschutz und gleichzeitig dem Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf Informationsfreiheit insgesamt Rechnung. Liebe Kollegin Philipp, angesichts einer globalisierten Welt zu sagen, man solle den Informationszugang bitte schön auf irgendwelche deutschtümelnden Menschen reduzieren, ({5}) zeugt nicht von einem großen Verständnis für eine globalisierte und moderne Welt, sondern von einer veralteten Auffassung, der Ihre Politik entspricht. ({6}) In den USA gehört die deutsche Wirtschaft zu denen, die am intensivsten den Rechtsanspruch im US-amerikanischen Informationsfreiheitsgesetz in Anspruch nehmen. Man muss sich das einmal vorstellen: In den USA nehmen die Deutschen diesen Anspruch wahr, aber die CDU will, dass in Deutschland ein Amerikaner das entsprechende Recht nicht in Anspruch nehmen darf. Absurder geht es nicht mehr. Sie haben damit deutlich gezeigt, wie weltfremd Sie sind. ({7}) Lieber Kollege Stadler, ich freue mich, dass nach 25 Jahren die FDP entdeckt hat, dass sie einmal eine Rechtsstaatspartei war. Ich würde mich freuen, wenn Sie an diese Tradition eines Karl-Hermann Flach und anderer anknüpfen könnten. Darüber würden wir uns alle freuen. Aber eines ist auch klar: Schwarz-gelbe Länder sind bis jetzt nicht aufgefallen, als es um die Informationsfreiheit ging. ({8}) In Baden-Württemberg würde für Sie eine gute Gelegenheit bestehen, aktiv zu werden. Sie haben heute in der Presse optimistisch dargestellt - das finde ich gut -, dass Sie, die FDP, die Union dazu bewegen wollen, im Bundesrat die Dauerblockade der schwarz-gelben Länder an dieser Stelle zu durchbrechen. Das wird Ihnen positive Überschriften in den morgen erscheinenden Zeitungen einbringen. Sie haben allerdings ein bisschen zurückhaltender gesagt - das geht nicht so deutlich aus der Pressemeldung hervor -, dass Sie versuchen wollen, Ihre fünf Länder zu einer Enthaltung zu bewegen. Angesichts der Tatsache, dass Sie heute hier sagen, Sie hätten sich viel Weitergehendes vorgestellt, habe ich die herzliche Bitte an Sie: Tun Sie alles, damit das Gesetz, das wir großartig finden, durch die fünf Länder im Bundesrat, in denen Sie politische Verantwortung mittragen, nicht blockiert wird. Das ist Ihre persönliche Verantwortung. Wir werden die Neuentdeckung des Rechtsstaats und der Bürgerrechte durch die FDP an Ihrem Verhalten in diesem Punkt messen. ({9}) - Wir haben sogar einige Ihrer Punkte aufgenommen. Nicht alles, was Sie vorschlagen, ist schlecht. - Sie haben die Chance an dieser Stelle, sich aus der babylonischen Gefangenschaft Ihrer schwarz-gelben Oppositionszeit zu befreien. Wir werden Sie daran messen, ob Ihnen das gelingt. Ich will die letzten Sekunden meiner Redezeit nutzen - mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident -, den beteiligten Büros recht herzlich zu danken. Es ist ein Gesetz aus der Mitte des Parlaments. Die Beamtinnen und Beamten haben entgegen der Legende durchaus positiv mitgewirkt. Wir sind stolz darauf, dass Abgeordnete des Deutschen Bundestages in einer entscheidenden Situation so lange bereit waren, sich jeden Morgen um 7 Uhr für eine Stunde zu einer Sitzung zu treffen, bis der Gesetzentwurf fertig war. Das haben wir getan; die Beamten haben dabei mitgeholfen. Unsere Büros haben Tag und Nacht gearbeitet. Ich denke, diese Arbeit ziert das Parlament. Dazu gehört auch der neue Ansatz, liebe Frau Kollegin Stokar, dass dieses Parlament ein Gesetz, das es sich selbst gegeben hat, auch selbst evaluiert. Wo man hier kritische Ansatzpunkte sehen will, wird Ihr Geheimnis bleiben.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Tauss, Sie hatten vorhin den Schluss Ihrer Rede in Aussicht gestellt.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. Lieber Kollege Wiefelspütz, lieber Kollege Bürsch, liebe Kollegin Stokar und liebe Kollegin Bettin - ich habe fast alle Namen erwähnt, die ich erwähnen wollte, wenn es auch nicht die korrekte Reihenfolge war, was die Höflichkeit gegenüber Damen angeht -: Es ist ein gutes Gesetz, es ist ein guter Tag für Deutschland. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie sich von der Miesmacherei der Union nicht irritieren. Das gilt vor allem für die FDP, lieber Herr Stadler. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten abschließend das Informationsfreiheitsgesetz. Die Bürgerinnen und Bürger sollen ein grundsätzliches Recht auf Information durch die Verwaltung und weitere Einrichtungen erhalten. Die Informationen werden also nicht mehr von Amts wegen zugeteilt. Es geht also um nicht mehr und nicht weniger als einen Paradigmenwechsel. In Europa gibt es zurzeit - Kollege Stadler hat es schon gesagt - nur noch vier Staaten, die kein Informationsrecht für alle Bürgerinnen und Bürger haben. Auch in der Bundesrepublik haben wir schon Erfahrungen mit Informationsfreiheitsgesetzen. Die vier Bundesländer Berlin, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben längst solche Gesetze. Deshalb hatte die PDS im Bundestag die rot-grüne Initiative bereits im Dezember letzten Jahres als längst überfällig begrüßt. Wir haben sie begrüßt, weil mehr Informationen immer auch ein Mehr an Demokratie ermöglichen. Wir haben sie begrüßt, weil mehr Transparenz Korruption erschweren kann. Wir haben diese Initiative begrüßt, weil das neue Recht die Bürgerinnen und Bürger als Souverän stärkt. In der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes habe ich aber auch prophezeit, dass sich SPD und Grüne werden entscheiden müssen: entweder ein schlechtes Gesetz mit Bundesinnenminister Schily oder ein gutes Gesetz trotz Schily. Herausgekommen ist offenbar ein Gesetz mit Otto Schily. Nun haben wir wieder einmal ein Problem. Denn unterm Strich steht: vorne gut gedacht, aber hinten schlecht. Deshalb wird sich die PDS bei der Abstimmung enthalten. ({0}) Natürlich hat sich längst herumgesprochen: Nahezu alle Ministerien der rot-grünen Bundesregierung haben auf die Bremse getreten und ein besseres Gesetz verhindert. ({1}) Das zeigt: Der angestrebte Mentalitätswechsel im Verhältnis zwischen Behörden und Bürgern, zwischen Staat und Demokratie, zwischen Geheimniskrämerei und Transparenz hat sicherlich noch einen langen Weg vor sich. Damit wäre ich dann bei unseren drei Hauptkritikpunkten. Das Gesetz räumt den Bürgerinnen und Bürgern zwar grundsätzlich ein Recht auf alle sie interessierenden Informationen ein. ({2}) Aber die lange und auch auslegbare Liste der Ausnahmen stellt genau diesen Grundsatz wieder infrage. ({3}) Ausgenommen werden fast alle Vorgänge, die mit Geld zu tun haben. Nun sagt ein Sprichwort: „Beim Geld hört die Freundschaft auf.“ Aber wir wissen auch: Beim Geld kann Korruption zugreifen. Schließlich: Informationen haben ihre Zeit und die vergeht bekanntlich schnell. Das Gesetz indes hält die Bürgerinnen und Bürger ein bis zwei Monate hin, bis sie ihre Informationen erhalten. ({4}) Auch das widerspricht dem neuen Geist. Es gab im März eine parlamentarische Anhörung. Der Mehrheit der angehörten Experten ging der Gesetzentwurf nicht weit genug. ({5}) Durchgesetzt haben sich allerdings die Bedenken der Minderheit. ({6}) Fazit: Wir hätten dem Gesetzentwurf gern zugestimmt, weil wir ein solches Gesetz für wichtig und unverzichtbar für einen modernen Bürgerrechtsstaat halten. Aber der Gesetzentwurf greift zu kurz. Deshalb werden wir uns jetzt enthalten.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält die Kollegin Grietje Bettin das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir verankern heute hier im Deutschen Bundestag ein elementares Bürgerrecht: ({0}) Jeder und jede Interessierte soll zukünftig freien Zugang zu Informationen bekommen, die sonst hinter Aktendeckeln verschlossen geblieben wären. Damit wird das Prinzip des Amtsgeheimnisses in das Prinzip einer offenen und bürgerfreundlichen Verwaltung umgewandelt. Wir Grüne haben dafür schon sehr lange gekämpft und nun zusammen mit den Sozialdemokraten im Bund durchgesetzt, was sich in vielen Ländern, zum Beispiel in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen usw., schon sehr lange bewährt hat. Endlich befinden wir uns auf Augenhöhe mit unseren europäischen Nachbarn. Dort ist der Informations- und Aktenzugang schon längst eine Selbstverständlichkeit. ({1}) Nun ein paar Worte zur Bürgerfreundlichkeit in Kombination mit dem Bürokratievorwurf, der im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf häufiger erhoben worden ist. Unser Ziel ist: Bürger und Amtsstuben sollen zu Partnern werden, sie sollen zukünftig zusammenarbeiten und sich nicht sozusagen gegenseitig kritisch auf die Finger schauen. Wir haben hier nichts zu verbergen. Das sollten die Bürgerinnen und Bürger auch so deutlich zu spüren bekommen. ({2}) Dabei sparen wir Aufwand durch die Internetklausel, die wir in diesem Gesetzentwurf verankert haben; sie verhindert eine unnötige Antragsflut. ({3}) Die Bürgerinnen und Bürger sollen von sich aus schauen, was im Internet an Informationen preisgegeben wird. Noch ein paar Worte dazu, warum die Vorlage dieses Gesetzentwurfes so lange gedauert hat. Es ist klar: Hier soll eine wirkliche Philosophieumkehr in deutschen Amtsstuben stattfinden. Viele Bedenken - teilweise zu Recht, teilweise auch unbegründet - mussten aus dem Weg geräumt werden. ({4}) Wir haben einige Kompromisse eingehen müssen, die uns auch schwer gefallen sind. Gerne hätten wir beispielsweise eine Abwägungsklausel bei den Betriebsund Geschäftsgeheimnissen gehabt. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen - gerade auch von der FDP -, lassen Sie uns die Chance auf einen einfachen Informationszugang für die Menschen nutzen. So weit, wie wir heute hier sind, sind Sie nicht gekommen - nicht in Baden-Württemberg, nicht in Rheinland-Pfalz, nicht in Sachsen-Anhalt. ({5}) Ab dem 1. Januar 2006 sollen die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland die Chance bekommen, ein neues Recht in Anspruch zu nehmen. ({6}) Dafür sollten wir gemeinsam die letzte Kraftanstrengung im Bundesrat und die letzte Hürde hier nehmen. Abschließend möchte auch ich allen Kolleginnen und Kollegen danken, die so konstruktiv an diesem Gesetzentwurf mitgewirkt haben. Dank von meiner Seite insbesondere auch noch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter! Ich danke allen und wünsche diesem Gesetz viel Erfolg. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nach diesen geballten guten Wünschen schließen wir nun die Aussprache und kommen zu den Abstimmungen. Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Informationsfreiheitsgesetzes auf Drucksache 15/4493. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5606, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit großer Mehrheit angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP und einer fraktionslosen Kollegin angenommen. ({0}) Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der FDP-Fraktion auf Druck- sache 15/5625. Wer stimmt für diesen Entschließungs- antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 c auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Ernst Burgbacher, Gisela Piltz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1}) - Drucksache 15/5357 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Rainer Funke, Dr. Hermann Otto Solms, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({3}) - Drucksache 15/5358 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Ladenschluss - Drucksache 15/5370 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({5}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die werden wir nicht benötigen, da die Kollegen Klaus Hagemann, Dr. Günter Krings, Rainder Steenblock und Ernst Burgbacher ihre Reden zu Protokoll gegeben ha- ben.1) Wir können dann gleich die notwendigen Überweisungsbeschlüsse fassen. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den genannten Drucksachen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes - Drucksache 15/5221 ({6}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({7}) - Drucksache 15/5618 - Berichterstattung: Abgeordnete Horst Schild Klaus-Peter Flosbach Kerstin Andreae Carl-Ludwig Thiele 1) Anlage 2 Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Auch hierzu sollte eine halbstündige Debatte stattfin- den. Die dazu gemeldeten Redner Horst Schild, Klaus- Peter Flosbach, Kerstin Andreae und Carl-Ludwig Thiele haben ihre Reden zu Protokoll gegeben, sodass wir auch hier gleich zur Abstimmung über den Gesetz- entwurf kommen können.1) Abstimmung über den von der Bundesregierung ein- gebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Versiche- rungsaufsichtsgesetzes auf Drucksache 15/5221. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 15/5618, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die diesem Beschlussvorschlag zustimmen wollen, dem Ge- setz also in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera- tung einstimmig angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- ben. - Möchte jemand dagegen stimmen oder sich der Stimme enthalten? - Das ist nicht der Fall. Dann ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung einstimmig angenom- men. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 29: Beratung des Antrags der Abgeordneten Kurt- Dieter Grill, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU 1) Anlage 3 Europäische Energiepolitik marktwirtschaftlich gestalten - Richtlinien entbürokratisieren - Drucksache 15/5327 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({8}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Die hierzu von den Fraktionen benannten Redner und Rednerinnen Rolf Hempelmann, Kurt-Dieter Grill, Michaele Hustedt und Gudrun Kopp sowie der Redner für die Bundesregierung, der Parlamentarische Staatsse- kretär Gerd Andres, geben ihre Reden zu Protokoll.2) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/5327 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages auf Mittwoch, den 15. Juni 2005, 13 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen, soweit Ihre sonstigen Verpflichtungen es zulassen, ein schönes Wochenende. Die Sitzung ist geschlossen.