Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b so-
wie die Zusatzpunkte 8 und 9 auf:
28 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufassung der Freibetragsregelungen für erwerbsfähige Hilfebedürftige ({0})
- Drucksache 15/5446 ({1}) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Hinzuverdienstmöglichkeiten zum Arbeitslosengeld II im Interesse einer Beschäftigung im
ersten Arbeitsmarkt verbessern
- Drucksache 15/5271 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({3})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
- Drucksache 15/5445 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({4})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
ZP 9 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, Veronika
Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Sozialdumping durch osteuropäische Billigarbeiter
- Drucksache 15/5168 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Klaus Brandner, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Gestern hat der Bundestag mit überwältigender Mehrheit den Vertrag über eine europäische
Verfassung verabschiedet. In der Debatte waren wir uns
darüber einig, dass Europa viele Vorteile mit sich bringt.
Wir haben gerade den 8. Mai würdig begangen, an dem
wir uns daran erinnert haben, dass wir in Europa über
60 Jahre ohne Krieg verbracht haben. Wir wollen jetzt
auch über die wirtschaftlichen Aspekte reden, von denen
viele Mitgliedstaaten, insbesondere auch Deutschland,
profitieren.
Wir sind Exportweltmeister. Unsere Exporte gehen
zu 75 Prozent in die Europäische Union. Angesichts der
hohen wirtschaftlichen und auch gesellschaftlichen Bedeutung muss Europa von uns allen weiterhin als Chance
genutzt werden.
Doch der Wandel und die Veränderungen, die mit
dem größeren Europa einhergehen, laufen nicht immer
ganz reibungslos ab. Viele Menschen erleben Bedrohungen und haben Ängste. Gerade in Grenzgebieten haben die Menschen mit Blick auf osteuropäische Billigarbeiter Angst um ihren Arbeitsplatz. Viele, die als
Fleischer oder Fliesenleger arbeiten, sahen in den letzten
Monaten ihren Arbeitsplatz durch illegale Praktiken bedroht oder haben ihn sogar verloren.
Redetext
Dies müssen wir abwenden. Deshalb gilt, dass das
Zusammenleben in Europa Spielregeln braucht. Eine
dieser Spielregeln ist: faire Löhne und faire Arbeitsbedingungen.
({0})
Darum diskutieren wir heute über die Änderung des Entsendegesetzes. Mit den neuen Regelungen schaffen wir
erstens die Möglichkeit, Sozial- und Lohndumping
einzudämmen, und zweitens schaffen wir die Rahmenbedingungen dafür, dass ein fairer Wettbewerb in Europa
gesichert bleibt.
Hierbei dürfen ausländische Unternehmen nicht benachteiligt werden. Sie dürfen aber auch nicht, wie bisher, aufgrund fehlender Regelungen durch Lohn- und
Sozialdumping Arbeitsplätze in unserem Land gefährden. Dass man sich durch unfairen Wettbewerb Vorteile
verschafft, muss in diesem Land ausgeschlossen werden.
({1})
Deshalb wollen wir mit der Änderung des Entsendegesetzes auch ausländische Arbeitgeber verpflichten,
Mindestlöhne zu zahlen und Mindestarbeitsbedingungen wie Entlohnung von Überstunden, Urlaubsdauer,
Urlaubsgeld usw. zu gewährleisten.
Bislang galt das Entsendegesetz für die Baubereiche.
Es ist bedauerlich - das will ich hier klar sagen -, dass
die Ausweitung auf andere Bereiche erst jetzt erfolgt.
Wir hätten dies schon 1996 erreichen können.
({2})
Damals hat die SPD genau das gefordert und einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht.
({3})
Meine Damen und Herren, schauen Sie sich den derzeitigen Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen an, wo insbesondere die sozialen Missstände beklagt werden. Dabei sind allerdings diejenigen unglaubwürdig, die sich
gegen eine Ergänzung des Entsendegesetzes ausgesprochen und damit eine bessere Bekämpfung von Missbrauch, der zu unfairen Arbeitsbedingungen führt, verhindert haben. Auch das muss heute gesagt werden.
({4})
Faktisch schaffen wir mit der Ausweitung des Entsendegesetzes zunächst einheitliche Rahmenbedingungen
für alle Branchen. Zukünftig soll es den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben, selbst Regelungen für die
jeweiligen Branchen zu treffen und durch ein bundesweites Tarifgefüge sicherzustellen, dass keine Niedrigstlöhne mehr gezahlt werden und unfaire Wettbewerbsbedingungen gar nicht erst entstehen können. Ich sage ganz
bewusst: Das ist eine Regelung im Rahmen der Tarifautonomie. Alle, die nichts von einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn halten, sollten daran erinnert
werden, dass es darum geht, die Tarifautonomie zu stärken und dafür zu sorgen, dass im Rahmen dieser Tarifautonomie bundesweite Regelungen erlassen werden
können und die gesetzliche Festlegung eines allgemeinen Mindestlohnes gar nicht erst nötig wird.
({5})
Wir, meine Damen und Herren, werden die Situation im
Auge behalten. Wir werden die Verantwortung wahrnehmen und, wenn es sein muss, natürlich auch über einen
erweiterten Spielraum reden.
In der Union ist man durch die Zustände, die wir in
der Fleischwarenindustrie erlebt haben, wach geworden.
Herr Stoiber erklärte, nachdem die Probleme in der
Fleischindustrie deutlich wurden, ganz schnell, man
müsse sich ernsthaft Gedanken über einen gesetzlichen
Mindestlohn machen. Das veranlasste Frau Merkel kurz
darauf dazu, öffentlich festzustellen, dass ein gesetzlicher Mindestlohn mit der Union nicht zu machen sei.
Herr Pofalla hat diese Haltung bestätigt, während Herr
Laumann sagte, einer solchen Diskussion stehe er sehr
aufgeschlossen gegenüber, und Herr Weiß von der CDA
sagte, ein staatlicher Mindestlohn stelle eine diskussionswürdige Alternative dar.
Nun wollen wir nicht gesetzlich einen allgemeinen
Mindestlohn festlegen. Wir wollen als ersten Schritt ein
Entsendegesetz, das zulässt, dass im Rahmen der Tarifautonomie faire Bedingungen durch die Tarifvertragsparteien für jede Branche separat geregelt werden. Jede
Branche soll feststellen, welche Verdiensthöhe in ihrem
Bereich notwendig und richtig ist. Wenn die Union, wie
führende Politiker von ihr sagen, aufgeschlossen über
das Thema sprechen will, dann hat sie heute die Möglichkeit, das unter Beweis zu stellen. Ihre Vertreter sollten also nicht nur die Lippen spitzen, sondern auch pfeifen und mithelfen, dass Regelungen, die für faire
Bedingungen am Arbeitsmarkt sorgen, erlassen werden
können.
({6})
Meine Damen und Herren, über die Frage der Wirkungen des gesetzlichen Mindestlohns im Baubereich
wird viel gestritten. Wer kann eigentlich besser Auskunft
über die Wirkungen eines solchen Gesetzes, das seit
1996 in Kraft ist, geben als die Bauindustrie selbst? Natürlich kann ich durch ein Entsendegesetz, das die Möglichkeit zur Festlegung eines Mindestlohns gibt, nicht
den Strukturwandel verhindern. Das ist auch nicht die
Aufgabe. Der Strukturwandel ist aber auch nicht behindert worden. Das stellt die Bauindustrie selbst in aktuellen Stellungnahmen fest. Sie sagt darüber hinaus, der tarifliche Mindestlohn hat nicht preistreibend gewirkt, es
kam zu keiner Verdrängung inländischer Baunachfrage.
Das jedenfalls steht in der jüngsten Stellungnahme der
deutschen Bauindustrie, die auch Ihnen, meine Damen
und Herren von der Opposition, mit Sicherheit zugegangen sein wird.
Insofern sind Aussagen, die das Entsendegesetz oder
gesetzliche Mindestlöhne verteufeln, Schall und Rauch.
Wer das verteufelt, will nicht, dass für faire ArbeitsplatzKlaus Brandner
bedingungen in Deutschland gesorgt wird, will nicht,
dass es ein Regelwerk gibt, das die Bereitschaft der
Menschen, Ja zu Europa zu sagen, erhöht. Sie werden
nämlich nur dann Ja zu Europa sagen, wenn sie wissen,
dass es in Europa fair und korrekt zugeht.
({7})
Fest steht, das Entsendegesetz ist ein Element, um Arbeits- und Wettbewerbsbedingungen innerhalb der Wirtschaft fair zu gestalten. Es kommt bei der Umsetzung
darauf an, dass alle mithelfen: die Sozialpartner, die
öffentlichen Hände und all diejenigen, die Überwachungs-, Kontroll- und Gestaltungsaufgaben wahrnehmen. Die Bundesregierung geht gegen schwarze Schafe
und diejenigen, die die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit missbrauchen, konsequent vor.
({8})
Der Bundeskanzler hat eine Taskforce eingerichtet. Der
Staatssekretär Andres, der gleich noch reden wird, wird
- ich bin davon überzeugt - über einige Erfolge ihrer Tätigkeit berichten.
Die Taskforce zeigt: Es darf nicht nur Sanktionen geben, sondern wir müssen auch weiter an einer effizienten
Kontrolle arbeiten. Dazu muss zum Beispiel die Meldepflicht ausländischer Arbeitgeber angepasst und durch
elektronische Kommunikationswege verbessert werden.
Es kommt darauf an, dass Bund und Länder in dieser
Frage noch enger zusammenarbeiten als bisher; denn wir
sind davon überzeugt, dass ein präventiver Ansatz den
Menschen am ehesten hilft, eine wirksame Kontrolle im
Bereich des Entsendegesetzes und des Missbrauchs von
Niederlassungsfreiheit zu erreichen.
Ich will aber auch sagen, meine Damen und Herren,
dass nicht die ganze Fleisch- und Schlachthofbranche in
Verruf gebracht werden darf. Wer dieses Thema nur zum
Verteufeln nutzt, der dient der Sache nicht. Bei schwarzen Schafen wurden gravierende Missstände aufgedeckt.
Aber es gibt eine große Zahl von Unternehmen, die bereit sind, einen Ehrenkodex und ein Markenzeichen
für Qualitätsprodukte auszuarbeiten, das dafür steht,
dass die Qualitätsprodukte unter fairen Bedingungen
hergestellt und bearbeitet worden sind.
({9})
Dieser Initiative müssen wir Unterstützung verleihen.
Auch ein Großunternehmen aus meinem Wahlkreis, das
Unternehmen Tönnies, ist bereit, einen solchen runden
Tisch mit zu organisieren, weil es darum geht, Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze in Deutschland zu erhalten, und das zu fairen Bedingungen.
Dahinter steckt doch auch, dass es um Investitionen
am Standort Deutschland geht. Es geht darum, dass die
hier vorhandene Arbeit zu menschenwürdigen Bedingungen geleistet wird. Dazu müssen die entsprechenden
Organisationsformen hergestellt werden. Ein solcher
runder Tisch kann dazu dienen, letztlich sicherzustellen,
dass Betriebsräte üblich sind, dass Tarifverträge üblich
sind und dass die Einhaltung von gesetzlichen Mindeststandards nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist.
({10})
Ich hoffe, meine Damen und Herren, dass die Union
mit ihrem Zickzackkurs aufhört. Sie hat das ja bei dem
zweiten Thema, das wir zum Schluss positiverweise einheitlich geregelt haben, gezeigt. Ich will damit ganz klar
auf die Zuverdienstregelung zu sprechen kommen. Wir
hätten eine Zuverdienstregelung natürlich schon längst
haben können; denn Rot-Grün hatte einen Gesetzentwurf
eingebracht, der einen höheren Zuverdienst vorsah, damit sich auch die Aufnahme einer geringer bezahlten Arbeit lohnt. Im Verfahren hat die Union eingelenkt. Das
begrüße ich sehr. Wir legen heute eine Regelung vor, die
transparent ist, die einen echten Anreiz bietet, auch Arbeit in Teilzeit oder mit einer geringeren Bezahlung aufzunehmen, und damit den Weg in den ersten Arbeitsmarkt eröffnet.
Ich begrüße dies sehr und freue mich, dass die Union
mit ihrem Zickzackkurs Schluss gemacht hat. Es kommt
jetzt darauf an, dass wir den Prozess insgesamt voranbringen. Wir konnten gestern Konjunktursignale zur
Kenntnis nehmen: Im ersten Quartal 2005 haben wir seit
vier Jahren das erste Mal wieder ein Wachstum, mit
dem wir in Europa Spitzenreiter und eben nicht Schlusslicht sind.
({11})
Wir werden gleich hören, dass Sie das alles wieder kleinreden. Das ist völlig klar; das kennen wir schon.
({12})
Aber es ist in dieser Zeit doch wichtig, deutlich zu machen: Hier bewegt sich was! Reden Sie doch nicht immer schlecht, sondern helfen Sie mit, wie Sie das auch in
anderen Bereichen in der Vergangenheit getan haben!
Die Opposition kann zeigen, dass sie durch die Zustimmung zu beiden Gesetzentwürfen, zum Zuverdienst und
zum Entsendegesetz, ein gutes Signal für Deutschland
und für den Arbeitsmarkt setzt.
({13})
Das Wort hat nun Kollege Karl-Josef Laumann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dieser Tagesordnungspunkt umfasst ja zwei Gesetzgebungsvorhaben der Regierung: Der eine Teil sind die
Hinzuverdienstregelungen bei Hartz IV, die wir für
sinnvoll halten, die wir in einem gemeinsamen Gesetzentwurf eingebracht haben und die ich teilweise persönlich ausgehandelt habe. Der andere Teil ist das Entsendegesetz. Ich glaube, dass dieses Entsendegesetz
überhastet entstanden ist.
({0})
Ich bin fest davon überzeugt, dass es in vielen Bereichen
gegen die soziale Partnerschaft gerichtet ist, etwa dadurch, dass der Bundesminister auf dem Wege der Verordnung auf Antrag nur einer Tarifvertragspartei einen
entsprechenden Prozess in Gang setzen kann.
Zu dem Gesetzentwurf zu den geänderten Hinzuverdiensten möchte ich sagen: Man kann immer darüber
streiten, ob die Freibeträge, die gewährt werden, so richtig sind oder ob sie höher oder niedriger sein sollten. Das
möchte ich einmal dahingestellt lassen.
Wichtig ist aus meiner Sicht, dass das Arbeiten in
einem regulären Job auf dem so genannten ersten
Arbeitsmarkt attraktiver sein muss als zum Beispiel ein
1-Euro-Job, der immer im zweiten Arbeitsmarkt angesiedelt ist. Ein regulärer Job für einen Empfänger von
Arbeitslosengeld II muss auch so attraktiv sein, dass der
Betreffende lieber arbeitet, als endlose Runden in geförderten Maßnahmen zu drehen. Nichts qualifiziert aus
meiner Sicht für den Arbeitsmarkt so gründlich, wie das
Arbeiten im ersten Arbeitsmarkt, auch wenn es nur wenige Stunden in der Woche sind.
Ich glaube, dass die bisherigen Regelungen, nämlich
nicht nur - wie es früher der Fall war - mit einem Freibetrag zu arbeiten, sondern auch mit Zuverdiensten in
prozentualer Höhe, zwar im Prinzip gut und hinsichtlich
der Anreizwirkung richtig waren, aber im Bereich der
Jobs bis zu einem Verdienst von 400 Euro gegenüber
dem Bereich der 1-Euro-Jobs schlicht und ergreifend unattraktiv waren.
Ich meine, dass wir hier eine vernünftige Lösung gefunden haben. Ich bin auch sehr froh, dass wir eine
Lösung gefunden haben, mit der im Regelfall die Zuverdienstmöglichkeiten der größeren Bedarfsgemeinschaften, also der Bedarfsgemeinschaften mit Kindern,
gegenüber den Zuverdienstmöglichkeiten von Leuten,
die keine Kinder haben, verbessert wurden. Dadurch
wird das Lohnabstandsgebot besser gewahrt.
Wir sollten nicht nur sehen, dass wir das Gesetz zügig
verabschieden, sondern wir sollten vor allen Dingen dafür sorgen, dass die Bundesagentur für Arbeit in der
Lage ist, diese Änderungen zügig zu administrieren.
({1})
Mir macht schon ein wenig Sorgen, dass unter Umständen, wie man hören kann, die Regelungen erst zum
1. Januar des nächsten Jahres in Kraft treten. Wir sollten
im Interesse der Menschen zusehen, dass diese Regelungen spätestens zum 1. August oder 1. September umgesetzt werden.
Der Entwurf eines Entsendegesetzes hat sicherlich
eine ehrenwerte Zielrichtung, nämlich Sozialdumping
zu verhindern. Bevor wir aber einen solchen weit reichenden Schritt tun, müssen wir uns doch fragen, welche
Erkenntnisse die Bundesregierung in den einzelnen
Branchen hat, dass sie jetzt zu diesem gesetzlichen Mittel greifen will. Wir von der Union haben eine Große
Anfrage gestellt, in der wir wissen wollten: Wie ist die
Situation in den einzelnen Branchen? Welche Erkenntnisse haben Sie? Welche Zahlen liegen vor? Diese Große
Anfrage ist bis heute nicht beantwortet. Sie sollte aus unserer Sicht im Übrigen eine Vorbereitung auf die Diskussion sein, wie wir mit diesen Problemen umgehen.
Ich habe den Eindruck, dass dieses Gesetz für die
Menschen, die Angst haben - auch wir sehen, dass es
Branchen gibt, wo die Situation nicht einfach und nicht
in Ordnung ist -, ein Symbol sein soll: Wir haben euer
Problem erkannt und jetzt führen wir ein Instrument ein,
mit dem wir euch helfen. - Aber wenn dieses Instrument
nicht funktioniert, wenn die Leute sehen, dass trotz der
beschlossenen Maßnahmen ihre Situation überhaupt
nicht verändert wird, dann bewirken Sie in einem äußerst sensiblen Bereich bei Menschen, die es auf unserem Arbeitsmarkt oft nicht sehr einfach haben, eine
große Enttäuschung.
({2})
Ich will ganz klar sagen: Die Situation der Menschen
in den Schlachtbetrieben ändern Sie mit dem Gesetzentwurf, den Sie heute vorlegen, überhaupt nicht;
({3})
denn diejenigen aus Osteuropa, die in den Schlachtbetrieben arbeiten, kommen zunächst einmal als Selbstständige.
({4})
Ob diese nun alle, Herr Kollege Niebel, Scheinselbstständige sind, möchte ich bezweifeln. In NordrheinWestfalen wurden in den letzten Monaten in allen großen Schlachtbetrieben Kontrollen in einem erheblichen
Umfang durchgeführt. Natürlich ist es zu Beanstandungen gekommen. Aber es gab auch ganz viele Fälle, in denen die Situation nicht zu beanstanden war. Auch das
muss man sagen.
Sie werden dieses Problem mit den Selbstständigen
aus Osteuropa, die Aufträge beispielsweise in deutschen Schlachthöfen übernehmen, über ein Entsendegesetz nicht lösen können.
({5})
Das Problem hängt damit zusammen, dass es in Europa
eine Dienstleistungsfreiheit gibt, die diese Selbstständigen nach dem EU-Beitritt nutzen können.
({6})
Obwohl der Bundesrat die Bundesregierung dazu aufgefordert hat, ist diese Dienstleistungsfreiheit nicht wie
die Arbeitnehmerfreizügigkeit für einen ÜbergangszeitKarl-Josef Laumann
raum eingeschränkt worden. Darin liegt das Problem. In
dem EU-Vertrag mit Bulgarien und Rumänien hat die
Bundesregierung eine Fußnote durchgesetzt, dass wir
unseren Arbeitsmarkt relativ rasch für diese Menschen
öffnen wollen. Das zeigt, dass Sie genau das Gegenteil
von dem tun, was Sie den Menschen vorzutäuschen versuchen. Da kann man doch einfach nicht mitmachen.
({7})
Nehmen wir ein anderes Beispiel, eine andere Branche, in der es zurzeit Schwierigkeiten gibt: Das sind die
Fliesen- bzw. Plattenleger. Zum Beispiel in der Handwerkskammer Münster - ich komme von dort - haben
die Anmeldezahlen in dieser Branche um 85 Prozent zugenommen. Die Menschen, die jetzt in diesem Bereich
ein Gewerbe anmelden, sind fast ausschließlich aus Osteuropa. Wenn diese ihre Dienstleistung als selbstständige Fliesenleger bei uns anbieten, dies aber zu Quadratmeterpreisen, mit denen man einen deutschen
Fliesenleger weder nach Tarif noch im Hinblick auf das
Urlaubsgeld und die Sozialversicherung, wie es bei uns
der Fall ist, bezahlen kann, dann lösen Sie dieses Problem nicht über den Gesetzentwurf, den Sie heute vorgelegt haben.
({8})
Sie lösen das Problem damit nicht und sollten dies auch
den Menschen nicht vorgaukeln. Es ist doch verrückt,
den Leuten zu sagen: Mit diesen Mindestlöhnen können
wir eure Situation ändern. Dieses Parlament trägt die
Verantwortung dafür, dass diese Situation bei den Fliesenlegern entstehen konnte, indem wir den Meisterzwang beseitigt haben
({9})
und damit die europäische Richtlinie über die berufliche
Qualifikation nicht mehr greift. Das ist die Wahrheit.
({10})
Sie waren aus ideologischen Gründen dafür, den Meisterbrief abzuschaffen. Sie haben es zum Schlimmen verändert.
Wollen Sie den Fliesenlegern helfen? Das kann der
Bundestag in einem Tag machen. Dann müssen Sie den
Meisterzwang für diesen Bereich wiederherstellen. Dann
können Sie zumindest verhindern,
({11})
dass sich Menschen, die nicht schon heute im Ausland
selbstständig sind, in diesem Bereich selbstständig machen. Das wäre die einzige Möglichkeit, um dieser Branche zu helfen.
({12})
Oder sagen Sie: „Wir wollen diesen Wettbewerb“?
Dann muss man aber auch dazu stehen. Nur, ich bin gespannt, wie wir Wettbewerb im gehobenen Dienstleistungsbereich herstellen wollen, wo wir etwa bei Notaren
noch Gebietsschutz haben und wo im Hinblick auf die
Dienstleistungsfreiheit in Europa gar nichts passieren
kann.
Ich sehe die Probleme, die das Dienstleistungshandwerk hier hat; aber mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
lösen Sie diese nicht. Sie machen Versprechungen Menschen gegenüber, die sehr gefährdet sind, weil es aufgrund der europäischen Erweiterung um ihre Existenz
geht. Sie verstehen Ihre Politik nicht mehr, die ihnen am
Ende nicht hilft. Eine solche Politik ist meiner Meinung
nach unverantwortlich.
({13})
Natürlich muss es, auch was die Löhne ausländischer
Arbeitnehmer, die in Deutschland arbeiten, angeht,
Spielregeln geben. Es ist wahr, dass es Bereiche gibt, in
denen die Tarifvertragsbindung zwar auf dem Papier
steht, aber in der Realität sehr zu wünschen übrig lässt.
Dass es ganz klar ist: Auch für die CDU/CSU ist Lohndumping nicht in Ordnung; dagegen muss man vorgehen.
({14})
Es ist für uns nicht in Ordnung - das sage ich hier ganz
deutlich -, wenn wir teilweise Strukturen haben, in denen einzelne Unternehmer die Höhe der Löhne in ihren
Betrieben allein festsetzen können. Das ist nicht das
Spiel, wie wir Koalitionsfreiheit verstehen. Schon
Leo XIII. - der Mann war von 1878 bis 1903 Papst der
römisch-katholischen Kirche - hat gesagt:
({15})
Es ist nicht in Ordnung, wenn Unternehmen einseitig
Löhne festlegen können. - Das ist ein wesentlicher Bestandteil der christlichen Soziallehre, die in meiner Partei und in keiner anderen in Deutschland ihren Schutzpatron hat.
({16})
Deswegen sage ich Ihnen: Es ist ganz normal, Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen abzugeben. Es gibt in Deutschland über 450 allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge.
({17})
Die meisten kommen im Übrigen aus der Zeit, in der die
Union regiert hat. Dies war immer ein ganz normales Instrument der Politik.
Aber man muss sich dieses Instrument Branche für
Branche anschauen. Man muss genau abwägen: Kann
man damit Probleme lösen oder muss man andere Instrumente in die Hand nehmen, um die Probleme zu lösen?
({18})
Ich habe neben anderen ein großes Problem mit Ihrem
Vorschlag, der in der Anwendung demnächst im Grunde
folgendermaßen funktionieren soll: Eine Tarifvertragspartei einer Branche sagt: Wir sind der Meinung, dass in
unserem Bereich keine Ordnung herrscht. Dann muss
zwar der Bundesminister mit der anderen Tarifvertragspartei reden; aber im Grunde kann er durch eine Verordnung am Parlament und der anderen Tarifvertragspartei
vorbei entscheiden, was er in diesem Bereich will. Das
ist nicht unsere Vorstellung.
Unsere Vorstellung ist vielmehr - das haben wir auch
nach 1998, als Sie dieses Gesetz verändert haben, sehr
deutlich gesagt -: Wir sind der Meinung, dass sich die
Tarifvertragsparteien einer Branche über die Frage verständigen müssen, ob Unordnung in ihrem Bereich besteht, und dann der Politik sagen müssen: Wir beantragen eine Allgemeinverbindlichkeit. Aus unserer Sicht
kann der Bundesminister dann nach einem Prüfungsprozess entscheiden; denn ich glaube, dass die Sozialpartnerschaft in den Branchen eine wichtige Voraussetzung
für die Tarifautonomie ist, die sich im Grundsatz bewährt hat. Wir, die Politik, sollten uns nicht danach sehnen, die unteren Löhne festzusetzen. Hinter der Frage,
ob wir das besser als die Tarifvertragsparteien könnten,
mache ich ein ganz großes Fragezeichen.
({19})
Sie werden die Tarifautonomie dann stärken, wenn
Sie es zumindest dabei belassen, dass sich beide Tarifvertragsparteien über diese Frage verständigen müssen.
Schönen Dank.
({20})
Ich erteile das Wort der Kollegin Thea Dückert, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
ungefähr einem Monat, am 8. April, konnten wir in der
„FAZ“ lesen, dass Herr Stoiber bei einem Besuch in
Brüssel erklärte, dass man sich „ernsthaft über einen gesetzlichen Mindestlohn Gedanken machen muss“. Herr
Laumann hat dem zugestimmt und applaudiert.
({0})
Er hat, wie auch Herr Stoiber, darauf hingewiesen, dass
wir in verschiedenen Branchen so etwas wie Mindestlöhne haben müssen, um genau dies in Deutschland zu
vermeiden.
Die Ausweitung des Entsendegesetzes ist ein Mittel
- eines von vielen denkbaren, unterschiedlichen Mitteln -, um genau das, was von Ihnen beklagt wird, aufzugreifen, dem etwas entgegenzusetzen und das zu tun,
was Herr Laumann gerade eingefordert hat: sich unter
Berücksichtigung der Branchen auf die Autonomie der
Tarifvertragsparteien zu beziehen, um in einzelnen Branchen Mindestlöhne einzuziehen, um Lohndumping und
Sozialdumping in Deutschland zu verhindern.
({1})
Nur zwei Wochen später, vielleicht sogar noch eher,
hat sich die Union von den Ausführungen von Herrn
Laumann und Herrn Stoiber distanziert, ganz nach dem
Motto: Was schert mich mein Geschwätz von gestern.
({2})
Sie haben wieder einen Beweis dafür geliefert, dass die
Unionsparteien die Parteien der Unberechenbarkeit und
des Populismus sind.
({3})
Ihre populistischen Versprechen haben Halbwertszeiten
von zwei Wochen.
({4})
In der Tat gilt es, Armutslöhne in Deutschland wirkungsvoll zu bekämpfen; das ist überhaupt keine Frage.
Auch gilt es, jede mögliche Chance dazu zu nutzen.
Aber was schlagen Sie vor? Sie mäkeln am Entsendegesetz herum. Herr Laumann sagt: Wir müssen noch ein
bisschen prüfen. Er fragt: Wie ist das in Deutschland
überhaupt? Dabei hat das Entsendegesetz seinen Praxistest schon bestanden.
({5})
Was schlagen Sie vor, außer dass Sie an den Vorschlägen, die wir gemacht haben, herummäkeln?
({6})
Sie schlagen zum Beispiel eine Abschottungspolitik gegenüber Europa vor. Herr Laumann, Sie haben dieser
Abschottungspolitik mit Hinweisen auf Rumänien und
Bulgarien wieder das Wort geredet. - Wie ich sehe,
nicken Sie.
({7})
Gleichzeitig haben Sie im Zusammenhang mit der
Problematik mit den Fliesenlegern wieder einmal das
Hohelied auf das alte Zunftwesen gesungen.
({8})
Auch Sie, Herr Laumann, wissen, dass dieses Zunftwesen und diese Form der Handwerksordnung, die wir
zum Glück modernisiert haben, in keinem unserer europäischen Nachbarländer existieren.
({9})
In genau diesem europäischen Kontext, in den wir einsteigen wollen, um ein soziales und offenes Europa zu
schaffen, sind solche Formen von Sonderregelungen und
Abschottung, wie Sie sie betreiben wollen, kontraproduktiv.
({10})
Was Sie hinsichtlich der Lohnentwicklung in Europa
wollen - das hat Herr Pofalla in den letzten Wochen gesagt und das ist auch von Frau Merkel gesagt worden -,
ist die Möglichkeit eines Niedriglohnsektors. Sie wollen
eine Abschottung und Sie wollen einen Niedriglohnsektor; das ist Ihre Antwort.
Kollegin Dückert, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Brandner?
Sofort, Herr Brandner, nachdem ich meinen Gedanken zu Ende geführt habe. - Es geht darum, dass genau
die flächendeckenden Niedriglöhne, die Sie vorschlagen,
das Gegenteil von einem Kampf gegen Armutslöhne in
Deutschland bedeuten. Das, meine Damen und Herren,
machen wir nicht mit und deswegen schlagen wir Maßnahmen wie das Entsendegesetz vor.
Herr Brandner.
Frau Kollegin Dückert, Sie haben gerade berichtet,
dass die Union sich gegenüber Europa abschotten will.
Ist Ihnen die Aussage von ihrem ehemaligen europapolitischen Sprecher Peter Hintze bekannt? Er hat gesagt,
der Vorschlag der EU-Kommission, für die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach der EU-Erweiterung bis zu sieben
Jahre als Übergangsfrist vorzusehen, sei zu zögerlich
- wörtlich -:
Solch lange Fristen sind weder politisch noch wirtschaftlich gerechtfertigt.
So zu lesen in einer Presseerklärung der CDU/CSUBundestagsfraktion. Wie erklären Sie sich das?
Es ist relativ schwierig, sich die ständigen Positionsveränderungen innerhalb der Union zu erklären,
({0})
außer vielleicht damit, dass es sich auch hier um tagespolitische, um populistische Äußerungen handelt - wie
in diesem ganzen Bereich - nach dem Motto „Was schert
mich mein Geschwätz von gestern?“.
({1})
Sie wollen Abschottungspolitik und Sie werfen uns
vor, dass das Entsendegesetz ein Arbeitsvernichtungsprogramm sei; Sie verweisen dabei auf das Baugewerbe. Herr Laumann, Sie wissen sehr genau, was die
Probleme im Baugewerbe sind: Natürlich sind durch den
Strukturwandel Arbeitsplätze verloren gegangen, aber
doch mit Sicherheit nicht als Folge des Entsendegesetzes; das wissen Sie. Sie haben selber die unsägliche, unsinnige Politik der Subventionierung im Bausektor in
den 90er-Jahren zu verantworten, die Aufblähung des
Sektors, auf die natürlich Strukturveränderungen und
auch Schrumpfungsprozesse folgen mussten. Das sind
die Ursachen für die schwierige Entwicklung im
Bausektor. Deswegen hat der Hauptgeschäftsführer des
Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, Michael
Knipper, mit Recht darauf hingewiesen, dass in der Bauindustrie ohne die Mindestlöhne des Entsendegesetzes
mehr als 650 000 Arbeitsplätze verloren gegangen wären.
Ein anderer Punkt: Sie beklagen, dass das Entsendegesetz nicht verhindern könnte, dass sich beispielsweise
im Fleischereigewerbe und in anderen Bereichen illegale Machenschaften, Scheinselbstständigkeit und
Lohndumping durchsetzen. Sie haben Recht, Herr
Laumann: Das kann das Entsendegesetz nicht regeln,
weil hier gesetzeswidriges Handeln vorliegt, weil es sich
hier um die Umgehung von Gesetzen handelt, um
Schwarzarbeit, um Scheinselbstständigkeit. Die kann
man nicht mit Gesetzen austreiben, sondern nur durch
Kontrolle, zum Beispiel durch Kontrolle durch die Zollbehörden, durch Kontrolle in den Betrieben und durch
internationale Zusammenarbeit. Ganz sicher reicht dafür
kein Entsendegesetz. Aber es läuft ins Leere, wenn Sie
gerade dieses dem Entsendegesetz vorwerfen.
Meine Damen und Herren, es geht darum, in vielen
Branchen unterschiedliche Möglichkeiten zu ergreifen,
Lohndumping zu verhindern. Wir brauchen dieses, aber
wir müssen dabei gleichzeitig auf die Kraft der Tarifvertragsparteien setzen, auf die Tarifautonomie. Deswegen
ist es sinnvoll, mit dem Entsendegesetz, aber auch mit
anderen Möglichkeiten branchenbezogene Mindestlöhne
durchzusetzen, zum Beispiel durch eine Erleichterung
der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Das
Entsendegesetz ist das eine. Dieser Schritt muss auch in
anderen Branchen folgen.
Ich möchte ganz zum Schluss noch zu einem anderen
Gesetz etwas sagen, über das wir hier sprechen - auch
ein Beweis für die Wendefähigkeit, vielleicht sogar einmal für die Lernfähigkeit der Union -: Es geht um die
Zuverdienstregelung. Ich bin ungeheuer froh, dass es
heute gelingt, die Zuverdienstregelung für die Langzeitarbeitslosen zu verbessern. Es war ein wirklich schwarzer Fleck am Hartz-Gesetz, dass die Union uns gezwungen hat, die Zuverdienstmöglichkeiten gegenüber der
alten Gesetzeslage so zu verschlechtern, wie wir es dann
machen mussten, um die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe überhaupt hinzubekommen.
Sie haben hier gelernt.
Ich möchte trotzdem noch einmal sagen: Gemäß Ihrem Ansatz durften die Menschen, die bis 400 Euro verdienen, keinen Cent dazuverdienen. Wir haben heute ein
Gesetz eingebracht, durch das genau dies für kleine Zuverdienste extrem verbessert wird. Ich bin froh darüber,
weil es in diesem Land ganz viele Leute gibt, die zwar
aktiv sind und Eigeninitiative ergreifen, die es aber aufgrund der engen Arbeitsmarktsituation sehr schwer haben, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukommen. Diesen Menschen können wir ihren Zuverdienst nicht madig
machen. Wir können ihnen nicht jeden Cent abnehmen,
sondern wir müssen sie in ihrer Eigeninitiative unterstützen.
({2})
Deswegen ist es richtig, dass wir hier einfache pauschalierte Regelungen und eine Möglichkeit geschaffen haben, gerade bei Tätigkeiten in Teilzeit und bei ersten
Schritten in den ersten Arbeitsmarkt Unterstützung zu
bieten. Dies ist besser als die 1-Euro-Jobs; sie sind diesen überlegen. Ich begrüße das sehr und freue mich, dass
Sie hier mit im Boot sind. Es hat lange gedauert.
Den Betroffenen hat das übrigens einiges gekostet.
Das finde ich sehr schade. Ab dem 1. Januar 2005 haben
einige der Betroffenen auf Zuverdienst verzichten müssen. Das, was Sie da ausgebremst haben, hat den Menschen geschadet. Jetzt sind Sie auf dem richtigen Weg.
Es ist gut, dass Sie hier mitkommen.
Danke schön.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegen Dirk Niebel, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die rot-grüne Bundesregierung bereitet mit diesem Gesetzgebungsverfahren den Weg für die Enttäuschung vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland. Sie suggerieren den Menschen, die Angst
um ihre Arbeitsplätze haben, einen Lösungsweg und im
Endeffekt streuen Sie ihnen doch nur Sand in die Augen.
({0})
Wenn wir uns anschauen, welche Situation wir vorgefunden haben - ich nehme einmal die Fleisch verarbeitenden Betriebe -, müssen wir feststellen
({1})
- Herr Brandner, nun lernen Sie doch mal ein bisschen
dazu, ich habe ja noch gar nicht richtig angefangen und
Sie blöken schon wieder dazwischen; vielleicht kann ich
Ihnen hier ja noch etwas erklären -:
({2})
Viele Selbstständige aus osteuropäischen Ländern sind
hier tätig. Wir stellen aber auch fest, dass nicht alle vorher in ihren Herkunftsländern tatsächlich selbstständig
gewesen sind.
Wenn ich mich jetzt zurückerinnere, wie diese Bundesregierung die angeblichen Scheinselbstständigen in
Deutschland drangsaliert und verfolgt hat, dann erwarte
ich von Ihnen in allererster Linie, dass Sie den Missbrauch einschränken, dass Sie überprüfen, wer tatsächlich selbstständig ist, und dass Sie gegen diejenigen vorgehen, die rechtsmissbräuchlich in diesen Betrieben
arbeiten.
({3})
Selbst, wenn Sie das dann gemacht und herausgefunden haben, dass nur noch richtige Selbstständige dort tätig sind, greift das Entsendegesetz - das hat der Kollege
Laumann bereits angesprochen - überhaupt nicht. Das
greift nämlich nur bei Angestellten. Also können Sie
auch hier keine Lösung herbeiführen. Sie tun aber so, als
ob den Menschen in den Betrieben geholfen würde. Das
ist schäbig.
({4})
Mindestlöhne, seien sie tariflich oder staatlich festgelegt, sichern und schaffen keinen einzigen Arbeitsplatz; sie vernichten Arbeitsplätze in der regulären Wirtschaft.
({5})
Mindestlöhne in anderen Ländern haben eine komplett
andere Funktion als Mindestlöhne in Deutschland.
({6})
In anderen Ländern, in denen es Mindestlöhne gibt, besteht der Zweck darin, ein Mindesteinkommen zu sichern, damit es nicht zur Armut kommen kann. Exakt
dieser Zweck wird in der Bundesrepublik durch die sozialen Sicherungssystemen verfolgt, nämlich durch das
Arbeitslosengeld II und die Sozialhilfe.
Mindestlöhne, wie Sie sie diskutieren, setzen einen
Mindestpreis für eine bestimmte Leistung fest. Wenn
diese Leistung im Wettbewerb den Preis allerdings nicht
wert ist, dann wird sie zumindest in der regulären Wirtschaft nicht mehr nachgefragt und die Menschen werden
aus dem Arbeitsmarkt faktisch ausgeschlossen.
({7})
Aus diesem Grund setzen wir als FDP-Bundestagsfraktion auf Lohnzuschüsse statt auf Mindestlöhne.
Ich bin sehr froh, dass wir auf unserem Bundesparteitag am letzten Wochenende beschlossen haben, ein Bürgergeld einzuführen, durch das die steuerfinanzierten
Sozialtransfers mit dem Steuersystem zusammengeführt
werden,
({8})
damit hier ein geregelter Niedriglohnsektor geschaffen
werden kann, der auch Menschen mit geringerer Qualifikation die Möglichkeit gibt, ihren Lebensunterhalt wenigstens teilweise wieder durch eigene Arbeit zu verdienen.
({9})
Denn eines ist doch völlig klar: In einer arbeitsteiligen Gesellschaft wie der unsrigen ist Massenarbeitslosigkeit eine der größten Freiheitsberaubungen, die es
gibt. Deswegen müssen wir dagegen angehen, dass Menschen immer weiter aus dem Erwerbsprozess gedrängt
werden. Was ist denn der Grund oder zumindest ein
wichtiger Grund für die hohe Sockelarbeitslosigkeit gerade im geringqualifizierten Bereich? Das sind die starken Sockellohnerhöhungen der vergangenen Jahrzehnte,
({10})
die, Frau Kramme, gut gemeint, aber schlecht gemacht
waren. Die unteren Tariflohngruppen wurden überproportional angehoben. Damit sind die Menschen mit ihrem Gehalt aus der Produktivität herausgewachsen. Der
Arbeitsmarkt wurde faktisch verschlossen. Die Menschen wurden zu 100 Prozent in die Transferleistungen
überführt. Das ist menschenunwürdig und hat mit dem
mündigen Bürger, wie wir ihn uns vorstellen, überhaupt
nichts mehr zu tun.
({11})
Abschottungsprozesse werden auf Dauer nichts nützen. Man sollte vielmehr über flexible Übergangsfristen - auch im Rahmen der Dienstleistungsrichtlinie, die
wir noch zu erwarten haben - nachdenken, die branchenspezifisch und regional unterschiedlich sind.
Ich möchte auch auf den zweiten Entwurf, der hier
vorliegt, eingehen. Ich erkenne an, dass Schwarz, Rot
und Grün hier eine Verbesserung der Hinzuverdienstmöglichkeiten vorsehen. Ich habe - vielleicht können
Sie sich noch daran erinnern - schon im Vermittlungsverfahren gefordert, dass wir bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten erreichen. Natürlich muss derjenige, der
arbeitet, mehr Geld übrig haben als derjenige, der nicht
arbeitet. Natürlich muss man einen Anreiz schaffen, im
ersten Arbeitsmarkt zu verdienen und nicht vorzugsweise im zweiten Arbeitsmarkt.
Das passt übrigens ganz gut zusammen mit der vorhergehenden Position. Die Baubranche sagt nämlich im
„Mannheimer Morgen“ von gestern - ich zitiere -:
Bau beklagt Lohn-Dumping - Billig-Konkurrenz
durch Ich-AGs und Ein-Euro-Jobs
… wegen der Konkurrenz mit staatlich subventionierten Ich-AGs seien reguläre Bautarife häufig
nicht mehr zu bezahlen. Missbraucht würden auch
die Regelungen zum Einsatz von Ein-Euro-Jobbern. Langzeitarbeitslose würden inzwischen häufig von Kommunen und Krankenhäusern bei der
Sanierung ihrer Gebäude eingesetzt. Dies sei jedoch nicht im Sinne des Gesetzgebers.
Ich stimme dem zu. Das war nicht in unserem Sinne.
Wenn wir jetzt aber eine Hinzuverdienstregelung,
wie die von Ihnen vorgelegte, haben, behalten wir immer noch den höheren Anreiz, im zweiten Arbeitsmarkt
tätig zu werden. Wer einen 2-Euro-Job 30 Stunden die
Woche ausübt, wird 240 Euro netto mehr zur Verfügung haben. Wer den gleichen Nettobetrag im ersten
Arbeitsmarkt zur Verfügung haben will, der muss
schon einen 850-Euro-Job bekommen.
Ich denke, hier ist die Anreizwirkung immer noch
eine falsche. Deswegen hat die FDP-Bundestagsfraktion einen eigenen Vorschlag vorgelegt. Bis zu einem
Verdienst von 600 Euro sollen 40 Prozent anrechnungsfrei bleiben, damit es sich tatsächlich lohnt, für sich
selbst zu arbeiten und wieder in den Erwerbsprozess hineinzukommen.
({12})
- Ich verstehe, Frau Dückert, dass Sie traurig sind, weil
die Grünen so etwas Ähnliches auch einmal wollten.
({13})
Aber Sie sind natürlich wieder einmal platt wie eine
Flunder vor Ihrem Koalitionspartner umgefallen. Es tut
mir furchtbar Leid. Wir werden uns bemühen, dass Ihnen dieses Leid in Zukunft nicht mehr entgegentritt.
({14})
Wir werden dafür sorgen, dass Sie wieder in Ruhe die
klaren grünen Thesen, die es irgendwann einmal gegeben hat, vertreten können, und zwar in dem Moment, in
dem wir die rot-grüne Bundesregierung abgelöst haben.
({15})
Ich danke Ihnen.
({16})
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Gerd Andres.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir diskutieren hier in verbundener Debatte
zwei für den Arbeitsmarkt sehr wichtige Gesetze. Die
neue Hinzuverdienstregelung wird stärkere Arbeitsanreize als bisher in allen Einkommensbereichen setzen,
zugleich aber auch eine vereinfachte Lösung für den unteren Einkommensbereich bieten. Darüber hinaus enthält
die Neuregelung große Transparenz für die Hilfebedürftigen und eine Kinderkomponente.
Künftig wird es nur noch zwei Freibetragsstufen geben. Bis zu einem Bruttoeinkommen in Höhe von
800 Euro beträgt der prozentuale Freibetrag 20 Prozent
des 100 Euro übersteigenden Einkommens. Das heißt
übersetzt, 100 Euro darf man immer behalten. Der darüber hinausgehende Betrag wird zu 20 Prozent nicht angerechnet. Für Bruttoeinkommen über 800 Euro beträgt
der zusätzliche prozentuale Freibetrag 10 Prozent. Das
heißt zum Beispiel, bei einem 400-Euro-Minijob wird
künftig Einkommen in Höhe von bis zu 160 Euro freigestellt. Jeder erwerbsfähige Hilfebedürftige kann künftig
sehr einfach ausrechnen, wie viel er mehr in der Tasche
hat, wenn er eine Arbeit aufnimmt, als wenn er nicht arbeitet.
Der Gesetzentwurf sieht weiterhin vor, dass die Regelungen zum so genannten Einstiegsgeld geändert werden. Einstiegsgeld kann künftig auch dann gewährt werden, wenn die Hilfebedürftigkeit durch oder nach
Aufnahme einer Beschäftigung entfällt. Damit wird ein
weiterer möglicher Fehlanreiz beseitigt.
Ich darf ganz ausdrücklich sagen: Dieser Gesetzentwurf ist durch gemeinsame Gespräche zwischen der
Bundesregierung und der CDU/CSU zustande gekommen. Er beendet eine Regelung, die bürokratisch und unlogisch war und die uns im letzten Jahr im Vermittlungsverfahren durch die CDU/CSU aufgezwungen wurde.
Die Union hat erklärt, der neuen Regelung im Bundesrat
zuzustimmen. Herr Laumann, dafür bedanken wir uns
sehr. Sie beseitigen mit der Zustimmung zu diesem Gesetz den Unfug, den Sie im letzten Jahr angerichtet haben. Herzlichen Glückwunsch dazu!
({0})
Sie behaupten etwas anderes; es gibt aber genügend, die
dabei waren.
Die FDP ist bei dieser Regelung entbehrlich; sie war
es auch bei der alten. Man muss, wenn man sich den
FDP-Antrag anschaut, wissen, dass der Vorschlag, der
da gemacht wird, ziemlicher Unsinn ist. Jede Zuverdienstregelung muss nämlich die Balance halten: Sie
soll einerseits Anreiz für zusätzliche Beschäftigung
- raus aus dem Bezug von Transferleistungen - sein; sie
darf andererseits nicht zementieren, dass man die Transferleistungen weiter bezieht und nebenbei ordentlich dazuverdient.
({1})
Wer sich die FDP-Regelung anschaut, der wird feststellen, dass sie einen saftigen Zuverdienst von bis zu
600 Euro einräumt. Er wird, wenn er ein bisschen Ahnung hat, weiter feststellen, dass man mit dieser Regelung die Zahl der Bedarfsgemeinschaften deutlich erhöhen würde. Herr Niebel, mein Vorschlag ist also:
Machen Sie erst einmal ordentlich Ihre Hausaufgaben,
bevor Sie irgendeinen Unsinn erklären!
({2})
Nun sind wir beim zweiten Thema. Dazu ist - das
muss ich hier wirklich einmal sagen - auch ganz viel
Unsinn erzählt worden. Ich möchte etwas zum Entsendegesetz sagen. Wir glauben, dass auch das Entsendegesetz dazu beitragen wird, Arbeit in Deutschland wieder attraktiver zu machen. Wir haben es erlebt: Dem
einen geht der Gesetzentwurf nicht weit genug; auch die
Große Anfrage der CDU/CSU zum Sozialdumping
zeigt, wie stark die politischen Strömungen, die mehr
Protektionismus und sogar Abschottung innerhalb Europas fordern, sind. Dem anderen geht der Entwurf viel zu
weit, weil er ein Entsendegesetz mit einem gesetzlichen
Mindestlohn verwechselt. Kritikern von beiden Seiten
kann ich nur entgegnen: Wir liegen offenbar richtig
schön in der goldenen Mitte.
Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz ist kein Mindestlohn, der generell den Wettbewerb ausschaltet. Ich sage
ausdrücklich: In unserem Haus, im Bundesministerium
für Wirtschaft und Arbeit, gibt es keine Überlegung, einen solchen allgemeinen Mindestlohn einzuführen.
Lohnfindung ist und bleibt primär die Aufgabe der Tarifvertragsparteien, nicht die des Staates.
Mit der Gesetzesänderung können in Zukunft die Tarifpartner aller Branchen eine bundesweit geltende tarifvertragliche Lohnuntergrenze vereinbaren. Damit
haben sie die Möglichkeit, sicherzustellen, dass ausländische Arbeitgeber, die Arbeitnehmer zur Arbeit nach
Deutschland entsenden, verpflichtet werden, ihnen den
deutschen Mindestlohn zu zahlen. Bisher ist diese Regelung im Wesentlichen auf den Baubereich beschränkt.
Sie soll jetzt auf alle Branchen ausgedehnt werden.
Herr Laumann, ich bitte Sie, einen Moment zuzuhören. Wir oktroyieren niemandem etwas auf. Sie müssen
wissen, dass auch bei der Allgemeinverbindlichkeitserklärung eine Tarifvertragspartei alleine einen Antrag
stellen kann.
({3})
Sie haben hier wortreich - mit viel Geklingel - viel
erklärt. Sie haben aber nicht erklärt, was Sie machen
wollen. Ich habe sogar gelernt, dass auch Papst Leo XIII.
gegen einseitige Lohnfestlegungen war. Donnerwetter,
Herr Laumann! Sie haben mit keinem Wort gesagt, was
Sie gerne machen würden.
({4})
Sie haben hier wunderbar etwas beklagt. Das war übrigens streckenweise überhaupt nicht haltbar. Ich weiß:
Bei Ihnen sitzen die BDA und andere nicht nur nebenan,
sondern auch im Nacken; Herr Göhner wird ja hier noch
sprechen.
({5})
Mit diesem Entsendegesetz - damit das völlig klar
ist - sind wir auf die Mithilfe der Tarifvertragsparteien
angewiesen. Zum Tarifvertrag gehören immer zwei Parteien - Herr Laumann, auch dazu herzlichen Glückwunsch! -, die ihn bundesweit abschließen und die dafür
sind, dass er einen Mindestlohn festlegt. Schon mit der
Verabredung des Tarifvertrages macht man doch deutlich, dass man das eigentlich will. Deswegen sind all
Ihre Vorhalte heiße Luft im Wahlkampfgeklingel.
Ich sage Ihnen: Wir bringen dieses Entsendegesetz
- einen schönen Gruß an Herrn Pofalla und andere jetzt ein. Es reicht nicht mehr, dass Herr Stoiber, Sie und
andere vom Arbeitnehmerflügel schöne Sonntagsreden
halten und im Bundesrat das Entsendegesetz kaputtmachen. Wir werden Sie jeden Tag und jede Woche vorführen.
({6})
Ich will etwas zu bestimmten Branchen sagen, weil
auch dazu sehr viel Unsinn erzählt wird. Es gibt in
Europa und damit auch in Deutschland Dienstleistungsfreiheit. Das bedeutet, dass Selbstständige, die hierher
kommen, ihre Dienstleistungen anbieten dürfen. Sie dürfen das im Zweifelsfalle für 1 Euro die Stunde tun; daran
kann sie niemand hindern. Genauso kann sich ein deutscher Selbstständiger so billig verkaufen, wie er Lust
hat. Aber bestimmte Bedingungen müssen eingehalten
werden. Sie können sich darauf verlassen, dass wir diese
Bedingungen knochenhart durchsetzen; auch wenn Sie
die Vorlage im Bundesrat liegen lassen.
Zur Selbstständigkeit gehört nach europäischer
Rechtsprechung so etwas wie eine Mindestform von
Niederlassung. Es reicht nicht, wenn sich 32 polnische
Menschen - ich habe nichts gegen diese Menschen - in
einer Vorstadtwohnung anmelden und alle als Fliesenleger arbeiten wollen. Der Zentralverband des Deutschen
Handwerks und deutsche Behörden dürfen diesen Menschen nicht einfach ungeprüft die notwendigen Bescheinigungen und Zulassungen erteilen. Das kann nicht sein.
Dagegen werden wir vorgehen, damit Sie das wissen.
({7})
Es muss sich um echte Selbstständige handeln. Wir werden das prüfen und entsprechend vorgehen.
Zum Entsendegesetz will ich Ihnen Folgendes sagen:
Ich glaube, dass es seine Wirkung für die Tarifvertragsparteien entfaltet, die das wollen. Das deutsche Gebäudereinigerhandwerk und das Gewerbe wollen diese Regelung nutzen. Davon sind zwischen 700 000 und
800 000 Menschen betroffen.
({8})
Auch die deutsche Landwirtschaft will von dieser Regelung profitieren. Sie alle haben kein Problem damit, dass
man dies einseitig beantragen kann. Sie aber, Herr
Laumann, machen deswegen viel Wind. Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifvertrages wird gegen den erklärten Willen der Bauwirtschaft, der Bauindustrie und der Gewerkschaften von der BDA und
anderen massiv sabotiert, weil sie diese Regelung aus
ordnungspolitischen Gründen nicht wollen. Die Wirtschaft und die Gewerkschaften wollten sie, aber BDA
und andere haben sie verhindert.
Deswegen sage ich Ihnen - das gilt auch aus anderen
Gründen; Herr Göhner, Sie können hier anschließend reden und dürfen all Ihre Positionen darstellen; das ist völlig klar -:
({9})
Wir machen das Entsendegesetz. Damit steht der Bundesrat vor der Nagelprobe. Ich sage noch einmal: Hier
geht es nicht um Sonntagsreden vor Wahlkämpfen, sondern hier sind Bekenntnisse gefragt.
({10})
Ich könnte Ihnen hierzu noch viel erzählen. Deswegen brauchen wir für die Beantwortung Ihrer Großen
Anfrage noch etwas Zeit, Herr Laumann.
({11})
- Passen Sie auf: Wir müssen eine ganze Reihe Daten erheben. Dafür brauchen wir die Mitwirkung der Länder.
Damit Sie eines wissen: Für den kommenden Dienstag
haben wir die versammelte deutsche Fleischwirtschaft
eingeladen. Ich führe viele Gespräche mit vielen Betroffenen. Wir werden auch dafür sorgen, dass Teile der
Landwirtschaft - das haben wir schon verabredet -,
landwirtschaftliche Helfer und Facharbeiter, möglicherweise auch Saisonarbeiter in diese Regelung aufgenommen werden. Wir können das nur da machen, wo dies die
Tarifvertragsparteien wollen. Da, wo sie das nicht wollen, geht es nicht.
Ich sage ganz ruhig und gelassen, Herr Laumann: In
13 europäischen Ländern gibt es einen gesetzlichen
Mindestlohn. Wer keinen gesetzlichen Mindestlohn will,
der muss guten Willens sein und mithelfen, dass in
Deutschland Lohndumping nicht flächendeckend um
sich greift. Das wäre eine Benachteiligung für die betroffenen Arbeitnehmer und ehrliche Arbeitgeber, die sich
mit vernünftigen Wettbewerbsbedingungen auseinander
setzen. Eine Regelung nützt also beiden.
({12})
Wer Lohndumping nicht will, der muss uns helfen,
mit allen Mitteln und Möglichkeiten gegen illegale Praktiken vorzugehen - das werden wir tun -, und der muss
bereit sein, mit den Tarifvertragsparteien Verabredungen
zu treffen, die wir mit dem Entsendegesetz für alle verbindlich regeln können. Diese würden dann auch für Arbeitgeber aus Europa gelten, die mit ihrem Personal hierher kommen. Das ist auch in anderen europäischen
Ländern so. Also, Herr Laumann: weniger Nebelkerzen
werfen, weniger Wahlkampfreden, sondern bei der
Umsetzung handfest mithelfen, damit wir diese Missstände abstellen.
Schönen Dank.
({13})
Ich erteile das Wort Kollegen Alexander Dobrindt,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der EU-Osterweiterung entsteht, ohne dass dies heute von allen Menschen bewusst wahrgenommen worden ist, eines der regional größten Wohlstandsgefälle.
({0})
Dies findet sich mitten in der Europäischen Union. An
keiner anderen Ländergrenze innerhalb Europas macht
sich dieses Wohlstandsgefälle so deutlich bemerkbar.
Dass daraus ganz besondere Probleme entstehen, ist, so
glaube ich, leicht nachvollziehbar. Dass sich diese Probleme auch in einer besonderen Weise in der Arbeitswelt
widerspiegeln - nicht nur da, aber zu einem großen
Teil -, ist zum einen vorhersehbar, zum anderen deutlich
bei den beschriebenen Problembereichen, zum Beispiel
beim Fleischergewerbe und bei den Fliesenlegern, erkennbar geworden. Es werden - da bin ich mir sicher weitere Branchen folgen.
Wir diskutieren hier im Deutschen Bundestag in aller
Regel sehr ausgiebig über die Wettbewerbsfähigkeit der
deutschen Unternehmen. Zu Recht macht man sich Gedanken darüber, wie in einer globalisierten Welt die internationale Konkurrenzfähigkeit aufrechterhalten werden kann. Das Problem aber, das wir heute diskutieren,
besteht in der Konkurrenzfähigkeit unserer Arbeitnehmer und der kleinen Handwerker gegenüber den Wettbewerbern aus dem osteuropäischen Raum.
({1})
Die Unternehmer leben heute - einfach dargestellt zum Teil von einer Mischkalkulation von günstigen Produktionsstätten und von teureren Produktionsstätten. Der
Arbeitnehmer hat diese Möglichkeit nicht. Die Mobilität
ist ihm nicht gegeben. Den Konkurrenzkampf über die
Preisschraube vor Ort kann er natürlich auch nicht gewinnen. Dass beide Mechanismen in einem Zusammenhang stehen, ist klar. Unsere Aufgabe ist es, die Waage
zu halten. Wir müssen die Abwanderung der Unternehmen nach Osten genauso zu verhindern versuchen wie
den Einsatz der Billiglohnkräfte, die die einheimischen
Arbeitskräfte verdrängen.
Die Antwort, die die Bundesregierung auf diese korrespondierende doppelte Problemstellung hat, ist die
Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf
alle Branchen. Das Entsendegesetz löst dieses Problem
mit Sicherheit nicht, das ganz offensichtlich auf Missbrauch beruht bzw. aus der Umgehung der Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit mithilfe der Dienstleistungsfreiheit resultiert. Damit wird nicht nur
Lohndumping betrieben, sondern es werden auch Arbeitszeitregelungen und Standards der Arbeitsbedingungen unterlaufen.
Das Entsendegesetz greift in vielen Fällen nicht. Es
greift nicht bei Briefkastenfirmen und Scheinselbstständigen, wie Sie bei den Fliesenlegern bereits erkannt haben; sie haben ihre freie Preisgestaltung. Das Entsendegesetz greift nicht, weil Sie durch Mindestlöhne
Abwanderungsprozesse der Unternehmen in den Osten
beschleunigen. Das Entsendegesetz greift nicht, weil Sie
durch Mindestlöhne die Schwarzarbeit stärken, und das
Entsendegesetz mit den Mindestlöhnen greift schon gar
nicht, weil Sie damit Ihre eigenen Initiativen, nämlich
mit den Hartz-Gesetzen die Beschäftigungschancen im
Niedriglohnbereich zu verbessern, zunichte machen,
weil Sie den Niedriglohnsektor entscheidend schwächen.
({2})
Die Erfahrungen aus der Bauwirtschaft, die hier
schon mehrmals angesprochen worden sind, zeigen die
Auswirkungen des Entsendegesetzes nur zu einem geringen Teil, und zwar deshalb, weil wir es in der Bauwirtschaft mit immobilen Gütern zu tun haben. Wenn Sie
hier ein Haus bauen wollen, dann müssen Sie die Arbeitskräfte auch hier zur Verfügung stellen und tätig werden lassen, einmal abgesehen vom Fertighaus, das Sie
sich schon heute in Teilen günstig in Polen besorgen
können. Trotz dieser Besonderheit in der Baubranche,
mit immobilen Gütern zu arbeiten, ist seit der Einführung des Entsendegesetzes die Zahl der ausländischen
Entsendearbeiter über die Jahre gleich geblieben. Die
Schattenwirtschaft hingegen hat in diesem Bereich deutlich zugenommen.
({3})
Zusätzlich wird das Entsendegesetz in hohem Maße
unterlaufen, weil die Zahl der geleisteten Stunden höher
ist als die, die offiziell vereinbart werden, und letztlich
die wirklich gezahlte Entgeltsumme nicht ausreichend
kontrolliert werden kann. Weil diese Probleme des Entsendegesetzes allen bekannt sind, wäre es die erste Aufgabe der Bundesregierung gewesen, einen Bericht vorzulegen, in dem steht, wo heute Lohndumping
stattfindet, um welche Branchen es sich bislang handelt,
welche regionalen Besonderheiten dabei auftreten, wo
Verdrängungseffekte entstehen und wo EU-Recht missbraucht und umgangen wird.
({4})
Noch viel wichtiger ist, wo denn zukünftig mit Lohndumping zu rechnen ist. Es wäre nämlich sinnvoller,
wenn sich die Bundesregierung im Vorfeld mit den Problemen auseinander setzen und tragfähige Konzepte entwickeln würde, anstatt zu diskutieren zu beginnen, wenn
Tausende von neuen Arbeitslosen auf der Straße stehen.
({5})
Erst wenn ein solcher fundierter Lohndumpingbericht
vorliegt, können wir darüber reden, ob es neben dem
Baugewerbe sensible Branchen gibt, für die eine Ausweitung des Entsendegesetzes sinnvoll sein kann.
Wir verlangen von der Bundesregierung, dass sie sich
der Wurzel des Problems stellt. Meine Damen und Herren, Sie brauchen uns nicht immer mit irgendwelchen
Abschottungstheorien zu kommen: Hauptursache für all
die entstehenden Verdrängungswettbewerbe am deutschen Arbeitsmarkt sind die fehlerhaften Verhandlungen
der Bundesregierung bei der EU-Osterweiterung.
({6})
Sie haben die Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeschränkt, aber auf die Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit verzichtet. Darin liegt das ursächliche
Problem. Sie haben keine Übergangsfristen bei der
Dienstleistungsfreiheit verhandelt. Dass dies möglich
gewesen wäre, haben uns andere Länder - beispielsweise Österreich - bewiesen. Obwohl Ihnen dies bekannt ist, haben Sie den gleichen Fehler in der Beitrittsakte für Rumänien und Bulgarien wiederholt. Sie haben
auch hier die Dienstleistungsfreiheit nicht eingeschränkt.
Damit sind Sie für weiteres massives Lohndumping verantwortlich, das auf die Arbeitnehmer in diesem Land
zukommen wird.
Wir fordern Sie deswegen auf: Verhandeln Sie an dieser Stelle nach! Bekämpfen Sie die Ursachen und versuchen Sie nicht, mit Notoperationen die Auswirkungen
Ihrer eigenen fehlerhaften Politik zu vertuschen!
Danke schön.
({7})
Ich erteile Kollegin Petra Pau das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden über Hartz IV, konkret über die Freibeträge, die
Empfängerinnen und Empfängern von Arbeitslosengeld II gewährt werden, wenn sie einen Minijob haben.
Die Freibeträge sollen angehoben und die Regeln ihrer
Anwendung vereinfacht werden.
Ich stelle für die PDS fest: Die vorgeschlagene Regelung ist besser als die bisherige, aber sie ist nicht gut.
({0})
Denn sie bricht nicht mit der Logik von Hartz IV; sie gestaltet sie nur aus. Sie lindert ein Gesetz, das dennoch
- und zwar für Millionen Betroffene - in die falsche
Richtung weist.
Lindern ist zunächst einmal nichts Schlechtes. Die
PDS unterbreitet in diesem Sinne seit Monaten zwei
Vorschläge: Gleichen Sie das Arbeitslosengeld II Ost an
das Arbeitslosengeld II West an und heben Sie beide auf
414 Euro monatlich an!
({1})
Für die Ost-West-Differenz gibt es keinen sachlichen
Grund. Sie entspringt Mauern in politischen Köpfen, die
längst verschwunden sein sollten.
({2})
Für die Anhebung des Arbeitslosengeldes II auf
414 Euro gibt es gute Gründe. Das belegen Berechnungen von Sozialverbänden über minimale Alltagskosten.
Lindern kann auch noch andere Formen annehmen. Rot-Rot in Berlin - konkret: Kultursenator
Flierl - hat gemeinsam mit den Berliner Kultureinrichtungen ein 3-Euro-Ticket eingeführt, sodass auch
Hartz-IV-Betroffene wieder Zugang zum Theater, zum
Konzert oder zur Oper haben.
({3})
Rot-Rot in Berlin hat auch - anders als in der Uckermark
und in weiteren Regionen - eine Wohngeldregelung vereinbart, sodass nicht obendrein unzählige Hartz-IV-Betroffene umziehen müssen.
Aber Lindern ist nicht Heilen. Deshalb mache ich
eine andere Rechnung auf als der Wirtschaftsminister.
Sie müssten diese Rechnung eigentlich kennen; denn
Harald Wolf, Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen
in Berlin, und Helmut Holter, Arbeitsminister in Mecklenburg-Vorpommern, haben sie schon mehrfach in die
Debatte eingebracht.
Die Frage lautet schlicht: Warum ist es nicht möglich,
die Bundes- und Landesmittel, die für den Lebensunterhalt, das Wohnen und die materielle Absicherung von
Hartz-IV-Betroffenen sowie für 1- bzw. 2-Euro-Jobs und
für die Qualifizierung der Betroffenen eingesetzt werden, zusammenzuführen? Würde man das tun, dann
könnte man - öffentlich gefördert - reguläre Arbeitsplätze schaffen, die den Betroffenen ihre Würde wiedergeben und den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechen. Das wäre allerdings etwas anderes als Hartz IV.
({4})
Alle mir bekannten Berechnungen ergeben: Es ginge,
allein es fehlt der Wille, und zwar der von Rot-Grün; der
Wille der Opposition zur Rechten fehlt sowieso. Ich wiederhole: Hartz IV ist ein schlechtes Gesetz. Denn es entsorgt ein gesellschaftliches Problem - die Massenarbeitslosigkeit - bei den Betroffenen.
Deshalb halte ich an die Adresse der SPD gewandt
noch einmal fest: Kapitalismuskritik ist sicherlich gut für
einen Vereinsabend. Aber von einer Regierungspartei
wird mehr erwartet.
({5})
Ich erteile Kollegin Anette Kramme, SPD-Fraktion,
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Niebel, Sie stolzieren zwar mittlerweile wie King’s Majesty durch diese Räumlichkeiten.
({0})
Aber Ihre Politik ist dadurch keineswegs aufrichtiger
und besser geworden.
({1})
Lassen Sie mich ein wenig auf die Geschichte der
Europäischen Union eingehen. Folgende zwei Aspekte
waren der Grund für die Schaffung der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft: Friedenssicherung durch wirtschaftliche Verflechtung einerseits und Schaffung von
Prosperität durch wirtschaftliche Verflechtung andererseits. Daraus konnte nur eines resultieren, nämlich ein
Binnenmarkt, der freien Warenverkehr, freien Kapitalverkehr und die Freiheiten einräumt, die uns momentan
so große Probleme bereiten, nämlich die Niederlassungsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit und die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Allen Staaten, die nach 1957 der
EU beigetreten sind, sind diese Rechte gewährt worden.
So haben auch Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, den neuen Beitrittsstaaten in den Europaabkommen in den 90er-Jahren uneingeschränkt Niederlassungsfreiheit gewährt: zum Beispiel Polen ab 1994,
Tschechien ab 1995 und den baltischen Staaten ab 1998.
Herr Laumann und Herr Niebel, Ihr Erinnerungsvermögen scheint insoweit miserabel zu sein. Mit dem Beitritt
im Jahre 2004 sind dann auch Dienstleistungsfreiheit
und Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeräumt worden, allerdings mit erheblichen Beschränkungen.
Gestatten Sie mir, dass ich an dieser Stelle den herausragenden Verhandlungserfolg des Bundeskanzlers
hervorhebe.
({2})
Am Brüsseler Verhandlungstisch haben wir uns mit Österreich in einer Situation der politischen Isolation befunden. Es hat wenig Verständnis für Übergangsfristen
gegeben. Irland und Großbritannien haben immer wieder
signalisiert, dass sie ihre Arbeitsmärkte sofort öffnen
wollen. Aber es ist zäh verhandelt worden und damit haben wir schließlich Erfolg gehabt. Das war ein großer
Erfolg. Ich möchte an dieser Stelle den Bundesgeschäftsführer des Bundesinnungsverbandes des Gebäudereiniger-Handwerkes zitieren:
Nur dank der Zwei-plus-Drei-plus-Zwei-Regelungen, für die wir auch im Interesse unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer äußerst dankbar
sind, konnte das
- gemeint ist das Sozialdumping zum aktuellen Zeitpunkt noch verhindert werden.
Leider ist zunehmend ein Missbrauch der eingeräumten Freiheiten zu beobachten. Durch die Presse ist das
Beispiel der Schlachthöfe gegangen, in denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für Stundenlöhne von
3 bis 5 Euro arbeiten. Es ist zu befürchten, dass es ähnliche Verhältnisse in anderen Branchen geben wird. Es besteht Handlungsbedarf. Aber die Koalition ist bereit, gegen den Missbrauch entschlossen vorzugehen.
({3})
Wir haben eine Taskforce eingerichtet. Das Entsendegesetz ist insoweit ein wichtiger Bestandteil. Es gibt drei
Argumente für das Entsendegesetz.
Erstens. Wir wollen den Schutz der Wanderarbeitnehmer. Wir wollen, dass ausländische Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in Deutschland zu akzeptablen
Stundenlöhnen arbeiten.
Zweitens. Wir wollen gleiche Wettbewerbsbedingungen, und das unter zwei Gesichtspunkten: Wir wollen,
dass inländische Arbeitnehmer im Vergleich zu Kollegen
aus der Rest-EU bestehen können und dass inländische
Betriebe im Vergleich zur europäischen Konkurrenz
nicht nur existieren, sondern erfolgreich bestehen können. Die Baubranche hat uns aufgezeigt: Ein ruinöser
Wettbewerb ist nicht durchzustehen. Unzählige Arbeitnehmer haben unnütz ihre Arbeitsplätze verloren. Unzählige seriöse Betriebe sind Pleite gegangen. Dieser
Skandal sollte hinreichend Lehrstück dafür sein, dass
Schutzregelungen erforderlich sind.
Drittens. Durch die Änderung des Entsendegesetzes
schließen wir gleichzeitig eine Schutzlücke im deutschen Arbeitsrecht. Hintergrund ist Folgendes: Mindestbedingungen für Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten
können wir nur dann festlegen, wenn die Regelung auch
für inländische Arbeitnehmer gilt. Das Verbot der Ausländerdiskriminierung wandelt sich an dieser Stelle in
eine Begünstigung der Inländer um. Wir haben die große
Chance, erstmals generell Mindestlöhne festzusetzen.
Die SPD hat mit Franz Müntefering an der Spitze bereits
im letzten Sommer Vorschläge über Mindestlöhne aufgegriffen.
Hintergrund ist Hartz IV. Sie haben uns im Vermittlungsausschuss aufgezwungen - wir mussten es mit verabschieden -, dass Arbeitnehmer, die Arbeitslosengeld II
beziehen, künftig bereit sein müssen, jede bezahlte Tätigkeit, unabhängig von Arbeits- und Lohnkonditionen,
anzunehmen.
({4})
Wir wollten das nicht.
Zur derzeitigen Situation gehört aber auch Folgendes:
Die Schutzregelungen im deutschen Recht sind insgesamt unzureichend. § 138 Abs. 2 BGB setzt ein auffälliges Missverhältnis zwischen Arbeitsleistung und Verdienst voraus. Die Vergütungsvereinbarung muss unter
Ausnutzung einer Zwangslage, der Unerfahrenheit, des
Mangels an Urteilsvermögen oder einer erheblichen
Willensschwäche zustande gekommen sein.
Das BAG konkretisiert: Lohnwucher liegt erst dann
vor, wenn weniger als zwei Drittel des Tariflohns bzw.
des ortsüblichen Lohns gezahlt wird. In der Bundesrepublik gibt es demzufolge einen ausgeprägten
Niedriglohnbereich. 7,8 Millionen Vollzeitarbeitnehmer
verdienen weniger als 75 Prozent des Durchschnittseinkommens. 12 Prozent der Vollzeitarbeitnehmer verdienen sogar weniger als 50 Prozent des Durchschnitts.
Die Erfahrungen mit dem Entsendegesetz sind positiv. Das sagen sowohl die IG Bau als auch der Arbeitgeberverband. Ich zitiere Michael Knipper:
Ohne dieses Gesetz wären weitere 250 000 Jobs
weggefallen.
18 von 25 Staaten in der EU haben Mindestlohngesetze.
Von der OECD stammt die Aussage: Zwischen der Existenz von Mindestlöhnen und der Beschäftigungshöhe in
traditionellen Niedriglohnbranchen besteht kein nachvollziehbarer Zusammenhang. Die Hans-Böckler-Stiftung berichtet: Neuere Untersuchungen aus den USA
und mehreren europäischen Ländern bestätigen die
OECD.
Wir zählen auf Angela Merkel. Am 11. April 2005 hat
sie im „Handelsblatt“ Folgendes gesagt:
Wenn jetzt andere Branchen, wie aktuell die
fleischverarbeitende Industrie, mit ähnlichen Problemen wie die Baubranche konfrontiert werden,
muss die Politik die vorhandenen Möglichkeiten
prüfen, die Probleme zu lösen.
Wir setzen ausnahmsweise auf Jürgen Rüttgers. Er hat
gesagt, das Entsendegesetz sei ein „geeignetes Mittel,
Auswüchse zu verhindern“.
({5})
Meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposition, ich fordere Sie auf: Tun Sie etwas gegen Lohndumping! Tun Sie etwas gegen Schwarzarbeit! Unterstützen
Sie uns im Bundestag und Bundesrat!
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Reinhard Göhner,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dieser Gesetzentwurf ist gut gemeint. Lohn- und Sozialdumping zu verhindern ist eine vernünftige Zielsetzung. Aber was wird dieser Gesetzentwurf tatsächlich
bewirken? Die Wahrheit ist: Der Gesetzentwurf gibt
keine Antwort auf diese Frage; er gibt nicht einmal eine
Antwort auf die Frage, Herr Andres, für wen er gelten
soll.
Sie sind der Auffassung, dass das die Tarifvertragsparteien entscheiden sollen.
({0})
Dieser Gesetzentwurf regelt das aber nicht so. Nach diesem Gesetzentwurf soll der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit eine Ermächtigung erhalten, per
Rechtsverordnung für alle Branchen Tariflöhne zu gesetzlichen Mindestlöhnen zu erklären. Das ist ein Blankoscheck. Bisher hat uns keiner gesagt, für welche Branche das tatsächlich gelten soll. Das heißt, die Frage, wen
dieses Gesetz betrifft, bleibt völlig unbeantwortet.
Jenseits aller sozialpolitischen und ökonomischen
Fragen will ich zunächst einmal sagen: Wir Abgeordneten, der Gesetzgeber, sollten dann, wenn wir eine solche
Ermächtigung ausstellen, schon wissen, wer davon betroffen sein kann.
({1})
Das Grundgesetz verlangt für solche Rechtsverordnungsermächtigungen deshalb eine hinreichende
Bestimmtheit. Unzulässig sind also unbestimmte, unbegrenzte Ermächtigungen.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahre 2000 zum
jetzigen Entsendegesetz entschieden, dass die Verordnungsermächtigung, die auf die Bauwirtschaft begrenzt
ist, noch den Bestimmtheitserfordernissen von
Art. 80 GG genüge, weil - ich zitiere auszugsweise klar festgelegt ist, welche Tarifverträge mit welchem regelungsunterworfenen Personenkreis durch
Rechtsverordnung auf Außenseiter erstreckt werden können, sodass für den Gesetzgeber bei Erlass
des Gesetzes hinreichend klar vorhersehbar gewesen ist, welchen Inhalt eine spätere Rechtsverordnung haben wird.
Nach dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf ist genau
das überhaupt nicht mehr vorhersehbar. Der regelungsunterworfene Personenkreis ist völlig unbestimmt.
({2})
Nun tragen Sie hier vor, das solle nur für Branchen
mit bundesweiten Tarifvertragsstrukturen gelten. Im bestehenden Entsendegesetz wie in Ihrem Gesetzentwurf
steht davon kein Wort. Das ergibt sich auch aus keiner
anderen Rechtsvorschrift, insbesondere auch nicht aus
Europarecht. Wenn das Ihre politische Absicht ist, dann
sagen Sie doch bitte wenigstens, in welchen Branchen,
in denen es heute bundesweite Tarifvertragsstrukturen
gibt, Sie von dieser Verordnungsermächtigung Gebrauch
machen wollen, damit wir jedenfalls ungefähr erahnen
können, wen Sie eigentlich mit dieser Regelung treffen
wollen.
Zurzeit gibt es bundesweite Tarifvertragsstrukturen
bei Banken, bei Versicherungen, in der Druckindustrie,
in der Entsorgungswirtschaft und in der Papierverarbeitung. Wollen Sie denn ernsthaft in diesen Branchen per
Rechtsverordnung gesetzliche Tariflöhne schaffen? Für
Entsendearbeitnehmer würden Sie damit nichts bewirken. Sie würden nur nicht tarifgebundene deutsche Unternehmen in Tarifbindungen zwingen. Wollen Sie das?
({3})
Wenn Sie das wollen, dann sagen Sie das und sagen Sie
gefälligst, für welche Branchen Sie das anwenden wollen!
({4})
In einer Branche gibt es bundesweite Tarifverträge,
die Sie bei dem von Ihnen vorgesehenen Weg außer
Kraft setzen würden, nämlich in der Zeitarbeitsbranche.
Ihnen geht es um die Gebäudereiniger. Das ist ein
Bereich, über den Sie mit uns reden können, was die
Ausdehnung des Entsendegesetzes angeht. Bei den Gebäudereinigern gibt es einen bundesweiten Tarifvertrag,
den Sie dann außer Kraft setzen würden. Wollen Sie das?
Wollen Sie diese Tarifkonkurrenzen eröffnen? Das hätten Sie klären müssen, bevor Sie einen solchen Gesetzentwurf vorlegen.
({5})
Es gibt in Deutschland aus guten Gründen nur zwei
Branchen, in denen für allgemein verbindlich erklärte
bundesweite Tarifverträge bestehen, die Bauwirtschaft
und die Gebäudereiniger. Tarifautonomie kennt auch negative Koalitionsfreiheit, das heißt die Entscheidung von
Arbeitgeber und Arbeitnehmer, nicht tarifgebunden zu
sein. Dass in der Gebäudereinigerbranche, in der das für
alle deutschen Unternehmen gilt, die Frage aufgeworfen
wird: „Warum dann nicht auch für unsere europäischen
Wettbewerber?“, ist völlig in Ordnung. Aber prinzipiell
muss es nach unserer Überzeugung für eine temporär beschränkte, also befristete, Ausweitung des Entsendegesetzes drei Voraussetzungen geben: Erstens müssen
einzelne Branchen konkret benannt werden und darf
nicht eine Blankoermächtigung für alle erteilt werden.
Zweitens müssen beide Tarifparteien dies wollen; es
reicht nicht, wenn, wie nach Ihrem Gesetzentwurf vorgesehen, nur eine Tarifpartei das will. Drittens müssen
Fakten auf dem Tisch liegen, die zeigen, dass in dieser
Branche Missbräuche nicht schon mit dem bestehenden
Recht abgestellt werden können.
Letzteres ist ein wichtiger Punkt. In dieser Debatte
wird völlig übersehen, dass das Entsendegesetz bereits
heute weitgehend für weite Bereiche des Arbeitsrechts,
zum Beispiel den ganzen Arbeitsschutz und weite Bereiche des Sozialrechts für alle Branchen gilt. Es gibt nur
ein Vollzugsdefizit. Alle bisher bekannt gewordenen
Missbrauchsfälle - alle, die die Bundesregierung benannt hat, alle, die in der Öffentlichkeit benannt worden
sind - sind bereits nach heutigem Recht, nämlich durch
Anwendung des bestehenden Entsendegesetzes, zu unterbinden.
({6})
Es gibt Vollzugsdefizite. Das Gesetz über die Arbeitnehmerüberlassung gilt selbstverständlich auch für Unternehmen aus Polen, die hier Werkverträge übernehmen. Ich erwarte selbstverständlich, dass das Recht, das
für deutsche Unternehmen gilt, genauso auch auf diese
polnischen Unternehmen angewandt wird. Da haben die
zuständigen Vollzugsbehörden jahrelang geschlafen.
Jetzt sind Missstände bekannt geworden. Aber Sie können sie alle abstellen. Alle Fälle, in denen illegale Arbeitnehmerüberlassung erfolgte, in denen das Arbeitszeitgesetz, das für jeden Entsendearbeitnehmer gilt,
missbraucht wurde, in denen es Schwarzarbeit gegeben
hat, in denen Scheinselbstständigkeit vorlag, also alle
diese Fälle des illegalen Verhaltens, zum Beispiel polnischer Unternehmen in Deutschland, können nach dem
heute geltenden Entsendegesetz unterbunden werden.
Sie müssen es nur vollziehen.
Bevor Sie neue gesetzliche Regelungen schaffen,
sollten Sie sich fragen: Wie können wir mit dem geltenden Recht die Missbrauchsfälle abstellen?
({7})
Da Sie bislang - ich wiederhole das - nicht einen Fall
dargelegt haben, in dem man den Missbrauch mit dem
geltenden Recht nicht abstellen kann, frage ich einmal:
Was soll der neue Gesetzentwurf, bei dem Sie uns nicht
einmal sagen, für wen die Regelungen gelten sollen?
({8})
Sie können mit uns über die Ausdehnung des Entsendegesetzes auf Gebäudereiniger reden. Sie können mit
uns über die Frage reden, wie die Allgemeinverbindlichkeit ausgedehnt werden kann. Es gibt aus guten Gründen
zwei Branchen und nicht mehr. Ich glaube nicht daran,
dass in diesem Bereich weiterer Regelungsbedarf besteht. Wenn er aber von Ihnen begründet wird, indem Sie
sagen, dass ansonsten Missbräuche nicht abgestellt werden können, dann können wir darüber reden. Aber Sie
werden uns nicht überzeugen können, Ihnen einen Blankoscheck, den Sie hier verlangen, auszustellen. Einen
solchen Persilschein erhalten Sie von uns nicht.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 15/5446 ({0}) zur federführenden
Beratung an den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
und zur Mitberatung an den Finanzausschuss, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung sowie
an den Haushaltsausschuss gemäß § 96 der Geschäftsordnung zu überweisen. Die Vorlagen auf Drucksachen
15/5271 und 15/5445 sollen an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 sowie die Zusatzpunkte 10 bis 12 auf:
25 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart,
Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Vereinfachung des deutschen Steuerrechts
- Drucksachen 15/501, 15/1548 Präsident Wolfgang Thierse
ZP 10 Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/
CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Sicherung der Unternehmensnachfolge
- Drucksache 15/5448 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Otto
Bernhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Herausforderungen der Globalisierung annehmen, Unternehmensteuern modernisieren,
Staatsfinanzen durch mehr Wachstum sichern
- Drucksache 15/5450 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
ZP 12 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Steuervereinfachung im Vollzug - Vorteil für
Bürger, Betriebe und Verwaltung
- Drucksache 15/5466 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion
der FDP zehn Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Volker Wissing, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
118 Gesetze, 87 Rechtsverordnungen, 3 235 Schreiben
des Bundesfinanzministeriums - so sehen die Eckdaten
eines Steuersystems aus, das weltweit berühmt ist, aber
nicht etwa für seine Effizienz, sondern dafür, dass es
kompliziert und umständlich ist.
({0})
Die Menschen verstehen unser Steuersystem nicht
mehr. Selbst Experten tun sich immer schwerer. Das ist
ein Alarmsignal. Da reicht es nicht aus, wenn die Bundesregierung erklärt, sie habe seit ihrem Amtsantritt
konsequent an der Modernisierung und Vereinfachung
des Steuersystems gearbeitet. Meine Damen und Herren, wenn Sie das Ziel der Vereinfachung jemals vor Augen gehabt haben sollten, haben Sie es wirklich verfehlt.
({1})
Es ist doch geradezu rührend, wie Rot-Grün versucht,
mit der Nagelschere Ordnung in den steuerpolitischen
Dschungel zu bringen. Wir brauchen mehr als Kosmetik.
Unser Steuersystem muss radikal vereinfacht werden.
Die Steuersätze müssen herunter und Subventionen müssen konsequent abgebaut werden.
({2})
Wir brauchen eine klare Reform unseres Steuersystems
hin zu einem einfachen und transparenten System. Das
wäre ein Befreiungsschlag für unser Land und der beste
Beitrag zu mehr Steuerehrlichkeit.
({3})
Rot-Grün fehlt offenbar die Kraft zu entschlossenen
Reformen. Sie verschicken lieber Schreiben und schrauben an kleinen Rädchen herum, statt einen mutigen Neuanfang zu wagen, beispielsweise einen solchen Neuanfang, wie wir ihn von der FDP mit unserem
Steuerkonzept vorgeschlagen haben. Ihre Antwort auf
die Große Anfrage der FDP-Fraktion ist ein einziger finanzpolitischer Offenbarungseid. Es ist sozusagen die
gehisste weiße Fahne eines Bundesfinanzministeriums,
das mit dem Ändern von Gesetzen und Verordnungen
nicht mehr hinterherkommt. Allein im Einkommensteuergesetz haben Sie über 100 Paragraphen gleich mehrfach geändert. Kaum war eine Änderung in Kraft, kam
schon wieder die nächste, weil Sie sich geirrt hatten. Experimentierfreude ist eine durchaus positive Eigenschaft;
Schüler können damit viele Erfahrungen sammeln. Aber
Experimentierfreude ist nicht die beste Grundlage, um
ein Steuersystem effizient zu gestalten.
({4})
Wie sollen sich denn Unternehmen in Deutschland
auf klare Rahmenbedingungen einstellen, wenn Sie die
Gesetze immer wieder ändern? Statt Investoren zu beschimpfen, sollten Sie lieber Ihre Hausaufgaben machen
und für ein gerechtes Steuersystem sorgen. Das aber
bleiben Sie seit Jahren schuldig. Ihren für heute groß angekündigten Antrag zur Körperschaftsteuer- und Erbschaftsteuerreform haben Sie auf die Schnelle auch wieder vertagt.
({5})
Weder aus der Sicht der Unternehmen noch aus der
Sicht der Bürgerinnen und Bürger ist unser Steuersystem
gerecht. Sie sollten einmal die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer fragen, was sie empfinden, wenn sie ihre
Lohnabrechnung anschauen. Die Menschen in unserem
Land fühlen sich doch regelrecht abgegrast.
({6})
Die hohe Steuerbelastung ist schon schlimm genug,
aber dass man auch noch auf so komplizierte Art und
Weise zur Kasse gebeten wird, dafür kann man von den
Betroffenen kein Verständnis mehr erwarten. Sie haben
es in Ihrer Antwort selbst dargelegt: 17 Seiten Formulare
muss ein durchschnittlicher Arbeitnehmerhaushalt ausfüllen, um den Wissensdurst der Finanzbehörden zu stillen.
({7})
- Das haben Sie geantwortet. - Ein umsatz-, gewerbeund körperschaftsteuerpflichtiges Unternehmen, das zudem noch eine Investitionszulage beantragen möchte,
muss sich durch mehr als 50 Seiten quälen. Das gilt für
Großunternehmen mit eigener Steuerabteilung genauso
wie für kleine und mittelständische Unternehmerinnen
und Unternehmer.
({8})
Meine Damen und Herren, viele Unternehmen in
Deutschland treffen ihre Investitionsentscheidungen
längst nicht mehr nach den Regeln des Marktes, sondern
nach der Steuergesetzgebung. So kann eine Gesellschaft
nicht erfolgreich sein.
({9})
Ihre Formularlawine belastet auch die Finanzbehörden,
die alle Angaben nicht nur einsammeln, sondern auch
kontrollieren und auswerten müssen. Auf 185 Formulare
kommt die Bundesregierung und das ist nur eine grobe
Schätzung. In der Antwort auf unsere Anfrage schreiben
Sie selbst, dass Sie die Gesamtzahl der Formulare nicht
kennen.
({10})
- Dass das für Sie klar ist, Herr Schild, wundert mich
nicht. Aber für mich ist eines klar, nämlich dass Sie den
Überblick verloren haben.
({11})
Niemand liebt Steuern und niemand in Deutschland
oder auch anderswo wird Steuern jemals lieben. Aber
die Bürgerinnen und Bürger sind bereit, sie zu akzeptieren, wenn die Steuersätze niedrig sind, wenn das System
gerecht und transparent ist. Nichts von alledem ist bei
uns noch erfüllt.
Wer ein System nicht versteht, der kann es nicht aus
Überzeugung mittragen. Steuerehrlichkeit ist untrennbar mit einem einfachen und gerechten Steuersystem mit
niedrigen Steuern verbunden.
({12})
Die Antwort der Bundesregierung, Herr Poß, zeigt überdeutlich, welche Auswüchse unser Steuersystem angenommen hat. Ich kann Sie nur auffordern: Wenn Sie etwas Gutes für dieses Land tun wollen, dann stellen Sie
schnellstmöglich Ihren Steuerreparaturbetrieb ein. Was
wir jetzt brauchen, sind Reformen und kein Stillstand.
Ich fordere Sie auf: Sagen Sie Ja zu einem einfachen und
gerechten Steuersystem mit niedrigen Steuern, Transparenz und Verständlichkeit, damit die Bürger wieder wissen, wofür sie Steuern zahlen! Sagen Sie Ja zum Steuerkonzept der FDP!
({13})
Ich erteile das Wort Kollegen Reinhard Schultz, SPDFraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war ja ein
kraftvoller Einstieg in die Debatte, Herr Wissing; das
muss ich schon sagen. Die Kollegin Frechen wird im
Einzelnen darstellen, was diese Bundesregierung auf
dem Gebiet der Steuervereinfachung gerade für Arbeitnehmer bereits getan hat und welche praktischen Versuche - Stichwort Experimentierfreudigkeit - zum Beispiel das Land Nordrhein-Westfalen unternommen hat,
um Arbeitnehmern, die nur eine Einkommensart haben,
das Leben gegenüber dem Finanzamt einfacher zu machen. Hoch kompliziert ist es natürlich immer für diejenigen, die sämtliche Einkunftsarten ausschöpfen. Da
muss man dann ein bisschen mehr ausfüllen und ein bisschen genauer hinschauen. Aber diese Leute bedienen
sich in der Regel des Rates von Fachleuten und machen
das nicht alleine; so sind sie letztendlich gut beraten.
Mein Thema ist heute eigentlich mehr die Auseinandersetzung mit der Frage: Was kann man tun, um im internationalen, auch im europäischen Steuerwettbewerb
den Standort Deutschland zu stärken und zu verhindern, dass es zu unnötigen und in großem Maße nicht
hinnehmbaren Gewinnverlagerungen ins europäische
oder außereuropäische Ausland kommt, und was kann
man tun, damit insbesondere kleine und mittlere Unternehmen ihre Unternehmensnachfolge so geregelt bekommen, dass die Nachfolger nicht erst zur Bank gehen
müssen, weil sie einen großen Teil dessen, was sie an
Substanz geerbt haben, durch die Erbschaftsteuerbelastung wieder verlieren?
({0})
- Doch, darüber reden wir sehr gern. Herr Wissing, Sie
haben eben gesagt, wir hätten dazu keine Anträge oder
Gesetzentwürfe in den Bundestag eingebracht. Die Bundesregierung hat - die Koalition trägt das natürlich voll
mit - in den Bundesrat zu beiden Feldern verabredungsgemäß Gesetzentwürfe eingebracht: auf der einen Seite
einen Gesetzentwurf zum Thema Standortverbesserung,
zu dem Komplex Senkung des Körperschaftsteuersatzes,
und auf der anderen Seite einen Gesetzentwurf zum
Thema Unternehmensnachfolge, Stichwort: Erbschaftsteuer.
({1})
- Wir hatten diesen Punkt auf der Tagesordnung, weil
wir uns im Rahmen des üblichen Gegenstromverfahrens
zwischen Bundestag und Bundesrat einen Zeitgewinn
Reinhard Schultz ({2})
versprachen. Aber da der Bundesrat einer Fristverkürzung zugestimmt hat, ist eine schnelle Einbringung nicht
mehr erforderlich. Wir werden auch so vor der Sommerpause dieses Gesetzgebungsvorhaben punktgenau abschließen. Ich verstehe deswegen Ihre Aufregung nicht.
({3})
Ich will etwas zur Sache selbst sagen. Zunächst einmal ist es wichtig, festzustellen, dass wir bei der Unternehmensteuerreform nicht bei null anfangen. Wir haben
schon seit vielen Jahren sehr große Anstrengungen auf
dem Gebiet der Steuerreform im Allgemeinen und auf
dem Gebiet der Unternehmensteuerreform im Speziellen
unternommen.
Der Eingangssteuersatz wurde deutlich herabgesetzt
und die Grundfreibeträge wurden heraufgesetzt. Das hat
dazu geführt, dass 1 Million Steuerbürger überhaupt
keine Steuern mehr zahlen müssen und mit dem Finanzamt so gut wie überhaupt nichts mehr zu tun haben.
Durch den Progressionsverlauf zwischen dem Eingangssteuersatz von 15 Prozent und dem Spitzensteuersatz
von 42 Prozent wurde die Steuerbelastung für alle, auch
für mittlere Unternehmen, deutlich abgesenkt. Dadurch
haben wir auch erreicht, dass die Personengesellschaften, die nach wie vor etwa 90 Prozent unserer Unternehmen ausmachen, deutlich entlastet worden sind. Verstärkt wird dieser Effekt noch dadurch, dass die
Gewerbesteuer in einem großen Umfang von der Einkommensteuerschuld abgezogen werden kann.
({4})
Wir haben natürlich auch viel für die großen Körperschaften getan, indem wir die Definitivbesteuerung eingeführt haben. Was im Unternehmen bleibt, wird mit
25 Prozent besteuert, und lediglich das, was aus dem
Unternehmen in Form von Dividenden oder Ausschüttungen herausgenommen wird, wird mit der Hälfte des
persönlichen Einkommensteuersatzes besteuert. Das
sind große Reformschritte gewesen.
Trotzdem ist nicht zu verkennen, dass sich die Kulisse
um uns herum in Europa, insbesondere nach der Osterweiterung der EU, deutlich verändert hat, was die Unternehmensteuersätze angeht. Natürlich haben wir kein
Interesse daran, dass Unternehmen ihre Erträge oder sogar Unternehmen selbst aus Gründen der Steuervermeidung ins Ausland verlagern. Deswegen haben der
Bundeskanzler und die Opposition beim Jobgipfel verabredet, dass es zu einer Absenkung des Körperschaftsteuersatzes von 25 auf 19 Prozent kommen soll.
({5})
Auch das haben wir verabredungsgemäß in den Bundesrat eingebracht. Wir werden uns damit in kurzer Zeit im
Bundestag beschäftigen.
Eine solche Absenkung wird dazu führen - davon
sind wir fest überzeugt -, dass es Gewinnverlagerungen
ins Ausland - zum Beispiel durch überhöhte Verrechnungspreise - nicht mehr in dem Maße wie bisher geben
wird und dass Gewinne im eigenen Land realisiert werden. Das allein reicht angesichts der Einnahmesituation
des Staates insgesamt natürlich für eine solide Gegenfinanzierung nicht aus.
Wir haben uns über eine ausreichende Gegenfinanzierung Gedanken gemacht und haben geschaut, wo es
noch Steuerschlupflöcher gibt. Die Bemessungsgrundlage für Unternehmen ist sehr breit geworden. Es wird
zwar oft davon geredet, dass sie noch löcherig sei. Aber
man muss feststellen, dass wir sehr viel auf diesem Gebiet getan haben. Es ist aber nicht mehr hinzunehmen,
dass es nach wie vor Steuerstundungsmodelle und
Fonds gibt, die ihre Existenzberechtigung eigentlich nur
der Tatsache verdanken, dass sie zu Beginn ihrer Tätigkeit den Zeichnern solcher Fonds hohe Verluste zuweisen, die dann aber später Gewinne aus diesen Fonds,
finanziert durch die Gemeinschaft der Steuerzahler, ungeschmälert einstreichen können. Das sind keine seriösen Geschäftsmodelle, sondern Modelle zulasten Dritter,
nämlich der Allgemeinheit.
({6})
Wir werden deswegen solche Steuerstundungsmodelle nicht mehr zulassen. Wir gehen davon aus, dass
sich dann diejenigen, die solche Fonds auflegen, Alternativen suchen müssen, die in erster Linie das Ziel haben, möglichst schnell eine reale Wertschöpfung und einen positiven Ertrag zu erreichen. Ansonsten werden
Anleger solche Fonds künftig meiden.
Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass es nicht unbedingt sinnvoll ist, die halbe Hollywoodproduktion aus
deutschen Steuermitteln über solche Verlustzuweisungsmodelle zu finanzieren. Es ist auch nicht sinnvoll, Fonds
für Windkraftanlagen durch die so genannte doppelte
Dividende zu finanzieren, indem zum einen eine garantierte Mindestvergütung bei der Stromeinspeisung vorgesehen ist.
({7})
Über ein Steuerstundungsmodell soll dann zum zweiten
Mal in die Kasse der Allgemeinheit gegriffen werden.
({8})
Es gibt Beispiele noch und nöcher, über die wir im weiteren Beratungsverfahren mit den Betroffenen diskutieren wollen.
Wir schlagen vor, dass angesichts der Tatsache, dass
eine Reihe von Unternehmen eine Vielzahl von Grundstücken und Immobilien zum Teil seit Jahrzehnten als
stille Reserve ungenutzt bei sich bunkern, aber nicht zu
aktivieren wagen, weil sie Angst vor dem Fiskus haben,
in einem überschaubaren Zeitraum eine Lösung geschaffen werden muss, damit diese Unternehmen anderen
diese Immobilien für wirtschaftliche Zwecke im Rahmen einer deutlich verminderten Steuerlast zur Verfügung stellen, sprich: damit sie sie verkaufen können. Wir
erhoffen uns dadurch einen Einstieg in zusätzliche
Reinhard Schultz ({9})
wirtschaftliche Aktivitäten, insbesondere in Regionen
mit alten industriellen Kernen.
Aber wir wissen auch, dass solche Ansätze missbrauchsanfällig sein können. Deswegen werden wir im
weiteren Verfahren sehr darauf achten, dass dieser Gesetzgebungsvorschlag für sich betrachtet auf der einen
Seite so wasserdicht ist, dass es keine Kreislaufgeschäfte
in dem Sinne gibt, dass diese steuermindernd veräußerten Grundstücke hinterher auf Umwegen wieder bei dem
Veräußerer landen. Auf der anderen Seite muss dies natürlich im Licht der noch nicht endgültig entschiedenen
Diskussion über die REITs betrachtet werden; denn da
bewegen sich zwei Dinge aufeinander zu, was gerade
unter dem Gesichtspunkt der Steuerschonungsmodelle
ein großes Maß an Aufmerksamkeit von uns Finanzpolitikern erfordert.
Wir müssen uns darüber hinaus Gedanken darüber
machen, ob nicht aus der Sphäre der Körperschaft- und
Unternehmensteuer insgesamt ein zusätzlicher Deckungsbeitrag erwirtschaftet werden muss. Denn wenn
man sich die Finanztableaus der vorliegenden Gesetze
anschaut, dann sieht man, dass das Ergebnis für die Gemeinden in hohem Maße erfreulich, für die Länder gerade noch erträglich und für den Bund ziemlich schlecht
ist.
({10})
Deswegen muss man ernsthaft darüber nachdenken, ob
man nicht aus Gründen einer gewissen sozialen Balance
und der Außenwirkung solcher steuerpolitischen Vorhaben die Besteuerung von Entnahmen bzw. der Dividendenausschüttung zumindest in dem Maße, wie man den
Körperschaftsteuersatz senkt, erhöht.
({11})
Ich habe in dem Gesetzentwurf der CDU/CSU gelesen - was die Unternehmensnachfolge betrifft, bezieht
sich ja in diesem Falle alles auf Bayern; Herr Faltlhauser
ist ja anwesend -, dass zur Gegenfinanzierung der Ausfälle im Bereich der Erbschaftsteuer vorgeschlagen wird,
die Besteuerung der Ausschüttung etwas zu erhöhen,
nämlich als Bemessungsgrundlage 57 Prozent zugrunde
zu legen.
Da vermischen sich die Systeme sehr stark. Die Erbschaftsteuer ist ein System für sich, eine Ländersteuer.
Der Vorschlag, das zu machen, kam im Wesentlichen
von den Ländern, vor allem aus Bayern. Wir werden
gerne dabei helfen, das so zu gestalten, dass es nicht zu
einem Fass ohne Boden für die betroffenen Bundesländer wird. Aber die Frage der Herabsetzung der Körperschaftsteuer und die Frage der Besteuerung von Ausschüttungen und Dividenden ist etwas, was im
Zusammenhang betrachtet werden muss. Dies muss
auch im Hinblick darauf geschehen, wie der Normalbürger, der alles zu seinem persönlichen Steuersatz versteuern muss, darauf reagiert, dass wir im Steuerwettlauf der
unterschiedlichen Länder in Europa gezwungen sind,
nachzugeben, gleichzeitig bei den Eigentümern, die am
Ende die Gewinne einstreichen, bei der Besteuerung
aber so niedrig bleiben, als hätten wir den Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent erhalten. Auch das muss man
sich fragen. Da sind wir sehr sensibel; da befinden wir
uns in einem sehr ernsten Prüfungsprozess.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin davon überzeugt, dass wir uns in einem weiteren Schritt - auch das
ist verabredet - werden darüber unterhalten müssen, Personengesellschaften und Körperschaften gleich, also
rechtsformneutral zu besteuern. Das kann man nicht
über das Knie brechen. Das hat jeder - natürlich auch die
Länder - anerkannt. Diese Forderung steht aber sowohl
von unserer Seite als auch von Ihrer Seite im Raum. Dabei gibt es unterschiedliche Modelle, über die diskutiert
wird.
Eines kann ich Ihnen schon jetzt angesichts der aktuellen Steuerprognosen, nach denen sich alles sehr labil
bewegt, aber im Bereich der Gewerbesteuer eigenartigerweise ein großes Maß an Stabilisierung eintritt, sagen: Diesen Zugewinn, den wir für die Gemeinden organisiert haben, werden wir im Rahmen einer
rechtsformneutralen Unternehmensbesteuerung nicht gefährden.
({12})
Die Gewerbesteuer bleibt eine Scheibe innerhalb des
Systems der Unternehmensbesteuerung.
Vielen Dank.
({13})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Meister,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Schultz, es ist schon eine schwere
Drohung gegenüber dem deutschen Volk, wenn Sie,
nachdem am gestrigen Tag die Steuerschätzung veröffentlicht worden ist, bei den Steuergesetzen eine Punktlandung ankündigen. Wenn die Koalition nach dem gestrigen Tag eine Punktlandung ankündigt,
({0})
sage ich nur: Schlimmer kann es für die Bundesrepublik
Deutschland nicht mehr kommen.
({1})
Es ist ein absoluter Offenbarungseid, dass sich die
Koalition aus SPD und Grünen heute in den Deutschen
Bundestag traut, aber nicht in der Lage ist, die GesetzDr. Michael Meister
entwürfe zur Körperschaft- und Erbschaftsteuer, die sie
im Kabinett beschlossen hat, dem Deutschen Bundestag
vorzulegen.
({2})
Sie reden zwar über Ihre Gesetzentwürfe, trauen sich
aber nicht, sie vorzulegen.
({3})
Dieser Offenbarungseid ist nicht zu überbieten.
({4})
Nun könnte man das - wie Sie, Frau Scheel, es tun mit Formalien abtun und über Bundesrat und Bundestag
sprechen.
({5})
Hier geht es allerdings um das Essenzielle unserer Politik, die Frage: Wie viel Vertrauen haben die Menschen in
den Gesetzgeber? Mit dieser Vorgehensweise zerstören
Sie massiv das Vertrauen der Investoren.
({6})
Dann wundern Sie sich, dass nicht in Deutschland investiert wird,
({7})
dass wir kein Wachstum haben und dass unsere Wirtschaft nicht in Fahrt kommt.
({8})
Lieber Herr Poß, die Vorsitzenden beider Unionsparteien sind ins Kanzleramt gekommen und haben dem
Regierungschef die Hand gereicht, um gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir in Deutschland mehr Beschäftigung und Wachstum zustande bekommen.
({9})
Dabei wurden Vereinbarungen zur Körperschaftsteuer und zur Erbschaftsteuer getroffen. Der Bundesfinanzminister hat, um einen Gesetzentwurf zur Körperschaftsteuer auf den Weg zu bringen, der sechs DIN-A4Seiten und neun Paragraphen umfasst,
({10})
sechs Wochen gebraucht. Meine Damen und Herren, ich
frage mich: Warum haben wir vor dem Hintergrund der
bedrückenden Arbeitslosigkeit in Deutschland einen
Finanzminister, der nicht in der Lage ist, diese sechs Seiten in kürzerer Zeit aufzuschreiben?
({11})
- Lieber Herr Schultz, wir haben etwas aufgeschrieben.
Unser Gesetzentwurf zur Erbschaftsteuer liegt Ihnen
heute mit seriöser Gegenfinanzierung vor.
({12})
Sie sind zwar nicht in der Lage zu handeln, aber die Opposition ist in der Lage zu handeln.
({13})
Zu diesem Vorgang will ich Ihnen schlicht und ergreifend Folgendes sagen: Das, was am heutigen Tag geschieht, zeigt dreierlei: Erstens. Unsere Kritik an der unzureichenden Gegenfinanzierung Ihrer Gesetzentwürfe
ist berechtigt. Sie wird von Frau Scheel von den Grünen
und auch von Mitgliedern aus den Reihen der SPD geteilt. Ihre eigenen Koalitionskollegen haben erklärt, die
Gegenfinanzierung von Herrn Eichel sei nicht seriös.
({14})
Es gibt keine Blockade der Union. Vielmehr ist im
Finanzministerium unseriös gearbeitet worden. Das ist
der Punkt.
({15})
Der zweite Punkt: Ihre Regierung ist nicht mehr
handlungsfähig. Sie hat im Deutschen Bundestag keine
eigene Mehrheit mehr. Dies dokumentieren Sie heute,
indem Sie nicht in der Lage sind, Ihre Entwürfe zur
Steuergesetzgebung vorzulegen.
({16})
Zum Dritten: Ich frage mich, wohin die SPD will. Sie
haben einen Partei- und Fraktionsvorsitzenden, der an
einem Strang zieht, und Sie haben einen Bundeskanzler,
der an einem Strang zieht. Es ist zwar derselbe Strang,
aber beide ziehen in die entgegengesetzte Richtung.
({17})
Wohin will die SPD? Wollen Sie mehr Investitionen am
Standort oder weniger? Wollen Sie mehr Wachstum oder
weniger? Wollen Sie mehr Beschäftigung oder weniger?
Erklären Sie sich doch einmal! Aber vor dem 22. Mai
haben Sie dazu keinen Mut, Herr Poß.
({18})
Sie sitzen nur da und schreien dazwischen, machen aber
keinen Lösungsvorschlag. Das ist das Problem.
({19})
Herr Kollege Poß, da Sie für die Finanzpolitik der
SPD verantwortlich sind, will ich Ihnen sagen: Sie haben
überhaupt keine Linie. Sie haben überhaupt keine Vorstellung davon, wie sich die Finanzpolitik in Deutschland entwickeln soll. Sie haben jegliche Verlässlichkeit
und jegliches Vertrauen verspielt. Eben hat sich der Kollege Schultz so wunderbar zum Thema Fonds geäußert.
Das ist ein spannendes Thema. Mich würde interessieren
- Frau Kollegin Scheel hat ja gleich das Wort -,
({20})
ob das Bündnis 90/Die Grünen der Meinung ist, dass die
Förderung von Windparks und Windenergie abgeschafft
werden soll. Auch würde mich interessieren, ob die Koalition einheitlich die Linie vertritt, dass diese Förderung
abgeschafft werden soll. Das wäre eine klare und deutliche Positionierung. Wir sind gespannt, von Frau Scheel
zu hören, ob sie das unterstützt, was Herr Schultz gerade
vorgetragen hat.
({21})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, statt Gesetzentwürfen und klaren Ansagen legen Sie heute einen
lapidaren Antrag vor, in dem Sie behaupten, Sie hätten
das Steuerrecht gerechter und einfacher gemacht.
({22})
Gehen Sie doch einfach einmal in Ihre Wahlkreise und
reden Sie einmal mit jemandem, der in einer Firma tätig
ist, und fragen Sie ihn, ob er denn in der Lage ist, zu erkennen, wie einfach und gerecht Sie das deutsche
Steuerrecht bei der Gesellschafterfremdfinanzierung
- § 8 a KStG - gemacht haben!
({23})
Gehen Sie doch einmal in ein kleines Unternehmen und
fragen Sie, ob die Einnahmen-Überschuss-Rechnung,
für die Sie dieses tolle Formular vorgelegt haben, ein
Beitrag ist, das deutsche Steuerrecht einfacher und gerechter zu machen.
({24})
Wenn Sie das dort hören, würde es mich wundern;
zeigen Sie mir den Menschen, der das erklärt! Zeigen
Sie mir einen Menschen, der sagt, Ihre rückwirkenden
Eingriffe hätten das deutsche Steuerrecht einfacher und
verlässlicher gemacht! Sie werden keinen finden.
({25})
Das ist doch Ihr Irrglaube: Sie leben auf einer Insel abseits der Realität, Sie haben keinen Bezug zur Realität.
Sie haben nichts gerechter und einfacher gemacht, Sie
haben es ungerechter und komplizierter gemacht. Das ist
das Ergebnis Ihrer Politik.
({26})
Wir sind bereit, die notwendigen Reformen anzupacken, wir sind handlungsfähig.
({27})
Wir haben einen Gesetzentwurf zur erbschaftsteuerlichen Behandlung von Betriebsübergängen vorgelegt. Nach unserer Übergangsregelung soll die Erbschaftsteuerschuld gestundet werden und innerhalb von
zehn Jahren in Jahresschritten abgegolten werden können. Diesen Gesetzentwurf haben wir mit einer seriösen
Gegenfinanzierung ausgestattet.
({28})
Dies hilft dem Mittelstand, der das Rückgrat unserer Gesellschaft ist und hilft, Arbeitsplätze und Beschäftigung
zu sichern. Deshalb geht es in die richtige Richtung und
es wäre an der Zeit, dass Sie nicht dazwischenrufen,
Herr Poß, sondern dass Sie sagen: Jawohl, das ist ein
vernünftiger Vorschlag; wir haben das im Bundeskanzleramt gemeinsam verabredet und jetzt beschließen wir
das, um Klarheit zu schaffen, um Vertrauen zu schaffen,
um Berechenbarkeit zu schaffen.
({29})
Dann gibt Ihr Finanzminister Hans Eichel den wunderbaren Hinweis, unsere Gegenfinanzierung sei unseriös, man wolle hier dem Bund Geld abnehmen, um den
Ländern etwas zu geben.
({30})
Die Erbschaftsteuer fließt den Ländern zu 100 Prozent
zu. Zur Gegenfinanzierung bei der Einkommensteuer
haben wir den Vorschlag gemacht, sie zu teilen:
42,5 Prozent bekommt der Bund, 42,5 Prozent die Länder, den Rest die Gemeinden. Und dann behauptet Herr
Eichel, der mehr Geld bekommt, ihm würde etwas weggenommen.
({31})
Hat er denn nicht verstanden, wie die Einkommensteuer
auf die verschiedenen Ebenen aufgeteilt wird? Hat Ihr
Finanzminister nicht einmal diesen primitiven Gedanken
im Kopf?
({32})
Da würde ich mir die Frage stellen, was an dieser Stelle
eigentlich zu tun ist. Der Vorwurf, den Herr Eichel erhebt, ist unqualifiziert.
({33})
Er ist eines Finanzministers der Bundesrepublik
Deutschland gar nicht würdig.
({34})
Ich will zu dem Gesetzentwurf sagen: Wir erleben oft
in der Beratung, dass die Koalition, wenn sie etwas vorlegt, zwar Sachverständige zur Anhörung einlädt, aber
der Sachverstand eigentlich gar nicht gefragt ist.
({35})
Wir haben die Absicht, eine Sachverständigenanhörung
zu unserem Erbschaftsteuervorschlag durchzuführen.
Wenn es aus dem Kreis der Sachverständigen sachverständige Vorschläge gibt, werden wir sie auch berücksichtigen und einarbeiten. Wir nehmen den Sachverstand
in Deutschland ernst.
({36})
Deshalb wollen wir ein parlamentarisches Verfahren, das
ernsthaft geführt wird und in dem Vorschläge ernsthaft
geprüft werden.
Ich will aber auch deutlich machen: Ein paar Punkte
Körperschaftsteuer, die Erleichterung bei der Erbschaftsteuer, das sind Steuersatzänderungen, das sind Erleichterungen für den Mittelstand. Aber das ist doch keine
Unternehmensteuerreform.
({37})
Bei einer Unternehmensteuerreform müssten wir uns mit
der Gewerbesteuer beschäftigen, wir müssten Rechtsformneutralität herstellen. Denn 20 Prozent unserer Unternehmen sind Kapitalgesellschaften, 80 Prozent sind
Personenunternehmen. Denen ist mit Veränderungen bei
der Körperschaftsteuer überhaupt nicht geholfen. Unser
Steuerrecht muss EU-tauglich gemacht werden. Kein
Wort sagen Sie dazu. Es fehlt das Engagement der Bundesregierung, auf europäischer Ebene eine gemeinsame
Bemessungsgrundlage anzustreben.
({38})
- Liebe Frau Hendricks, ich würde mir mehr Engagement wünschen. Bisher haben Sie bei der Gesellschafterfremdfinanzierung - ich habe das angesprochen - und
bei anderen Themen immer die Position bezogen: Wir
warten ab, was der EuGH urteilt. Und wenn der EuGH
geurteilt hat, haben Sie darauf reagiert. Wir brauchen
kein Reagieren, wir müssen agieren,
({39})
wir brauchen eine Strategie, wir müssen nach vorne gehen. Daran fehlt es dieser Bundesregierung.
({40})
Ich glaube, notwendig wäre nicht nur die Kraft, in der
Steuergesetzgebung einen großen Wurf vorzulegen
- wie wir mit dem Konzept 21 - und zu beschließen,
sondern wir bräuchten dringend auch auf den anderen
Reformbaustellen endlich eine mutige, entschlossene
und kraftvolle Bundesregierung, um voranzukommen.
Das vermissen wir und wir vermissen leider auch, dass
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün,
überhaupt wissen, wohin Sie wollen.
Kollege Meister, wenn Sie noch ein bisschen reden
wollen, dann bleiben Sie da; denn Frau Parlamentarische
Staatssekretärin, die Kollegin Hendricks, möchte Ihnen
eine Zwischenfrage stellen.
({0})
- Frau Abgeordnete Hendricks, ja.
Wenn Frau Hendricks so nett ist, mir eine Frage stellen zu wollen, dann werde ich dies selbstverständlich gestatten. Bitte sehr.
({0})
Herr Kollege Meister, sind Sie bereit, mit mir gemeinsam zu sehen, dass die Bundesregierung alle Anstrengungen unternimmt, um in Europa zu einer einheitlichen
Bemessungsgrundlage für die Besteuerung der international tätigen Unternehmen zu kommen? Sind Sie bereit,
zu sehen, dass es die Bundesregierung war, die den ersten Vorschlag, der aus der Kommission - damals noch
von dem Kommissar Frits Bolkestein - gekommen ist,
aufgegriffen hat?
({0})
Sind Sie bereit, mit mir zu sehen, dass die letzte Zusammenkunft auf der Arbeitsebene hier in Berlin stattgefunden hat und dass mittlerweile 13 Länder unsere Initiative stützen?
({1})
Sind Sie bereit, mit mir zu sehen, dass wir alles darauf
anlegen, im ersten Halbjahr 2007, wenn die Bundesregierung erneut den Ratsvorsitz hat, zu einem Abschluss
zu kommen? Sind Sie bereit, mit mir zu sehen, dass wir
diese Verabredung mit den Ländern getroffen haben, die
vor und nach uns die Ratspräsidentschaft haben, nämlich
mit Slowenien und Finnland? Sind Sie bereit, mit mir zu
sehen, dass dies alles ist, was man zurzeit tun kann, und
dass wir wirklich auf dem Weg sind, über diese
13 Länder hinauszukommen? Denn selbstverständlich
werden irgendwann auch andere Länder, wie zum Beispiel Großbritannien, merken, dass man gerade vor dem
Hintergrund der von Ihnen angesprochenen EuGH-Urteile nicht mehr ganz allein eine nationale Steuerpolitik
machen kann.
({2})
Vielen Dank für die Fragen, Frau Dr. Hendricks.
Ich will zunächst einmal sagen, dass wir einig in dem
Ziel sind - das will ich ausdrücklich unterstreichen -,
dass wir dringend eine gemeinsame europäische Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer und im Prinzip für die gesamten Unternehmensteuern benötigen,
({0})
weil das sowohl den Unternehmen bei grenzüberschreitenden Tätigkeiten helfen als auch viele Dinge im Steuerrecht erleichtern würde.
({1})
Ich bin ausdrücklich der Meinung, dass wir die
Gedanken - die es an der einen oder anderen Stelle
gibt -, dass deshalb auch die Steuersätze harmonisiert
werden müssten, nicht teilen. Ich bin der Meinung, bei
den Steuersätzen sollten wir Wettbewerb anstreben.
({2})
- Ich bin gefragt worden, zwar nicht von Ihnen, Frau
Scheel, aber von Frau Hendricks, und ich bin jetzt dabei,
zu antworten.
({3})
Ich bin ausdrücklich der Meinung, dass wir bei den
Steuersätzen Wettbewerb brauchen, weil es auch bei der
Leistung Wettbewerb gibt. Deshalb muss auch die Bepreisung über Steuersätze möglich sein.
Ich bin nicht der Auffassung, Frau Hendricks, dass
rechtzeitig und ausreichend etwas getan worden ist. Ich
habe das Beispiel der Gesellschafterfremdfinanzierung
eben genannt. Mittlerweile gibt es auch weitere Urteile,
bei denen es um die Bemessungsgrundlage bei der Körperschaftsteuer geht. Sie selbst als Vertreterin des Finanzministeriums haben im Finanzausschuss immer
wieder vorgetragen: Wir warten mal die Urteile des
Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg ab und dann
versuchen wir, diese Urteile in das deutsche Steuerrecht
einzubauen. Meine Ansage ist: Nein, das ist der falsche
Weg. Wir müssen selbst versuchen, eine Idee dafür, wie
eine Bemessungsgrundlage aussehen kann, in die Europäische Kommission einzuspeisen und dies dort mitzugestalten.
({4})
- Sie machen es leider zu spät und mit zu wenig Engagement. Wir brauchen hier mehr Tempo und mehr Geschwindigkeit, sonst werden wir einen solchen Tag, wie
wir ihn gestern erlebt haben, immer wieder erleben;
denn auf diesem Weg fließt das Steuersubstrat schneller
ab, als wir als nationaler Gesetzgeber hinterherlaufen
und korrigieren können.
Danke schön.
({5})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort Kollegen Joachim Poß, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Lieber Kollege Meister, Sie hatten
mich mehrfach angesprochen, deswegen will ich gerne
darauf eingehen.
({0})
Sie haben das, was Sie ausgeführt haben, garniert mit
der waghalsigen Behauptung, Sie hätten eine Linie in
der Steuer- und Finanzpolitik.
({1})
Wer die Zeitungen seit dem 17. März 2005 aufmerksam
gelesen hat, der konnte feststellen,
({2})
dass Sie jeden Tag in die Büsche abgetaucht sind.
({3})
Sie sind nur einmal konkret geworden, nämlich mit Hilfe
des Kollegen Faltlhauser bei der Erbschaftsteuer, über
deren Relevanz im Einzelnen noch zu diskutieren sein
wird.
({4})
Schauen Sie sich doch nur die heutigen Agenturmeldungen an! Dort steht: Union uneins über Entgegenkommen in Sachen Erbschaftsteuer.
({5})
Ihr Generalsekretär Söder will zur Stabilisierung des
Haushalts Sozialleistungen kürzen, er sagt aber nicht
konkret, was er meint.
({6})
Herr Meister will auch in Leistungsgesetze einschneiden.
({7})
Er sagt aber nicht, welche Maßnahmen er dabei im Auge
hat. Demgegenüber sagt Herr Böhmer, er könne keinen
Vorschlag dazu machen, an welcher Stelle er in seinem
Haushalt noch Einsparungen vornehmen könne. Er fügt
hinzu, er wisse auch nicht, wo der Finanzminister noch
kürzen solle.
Mit diesen Beispielen will ich Folgendes deutlich machen: Wenn die Union behauptet, eine Linie in der
Steuer-, Finanz- und Haushaltspolitik zu haben, so ist
diese Behauptung abenteuerlich. Sie jedenfalls haben
keine Linie. Es gibt nirgendwo so viele Widersprüche
wie bei der CDU/CSU.
({8})
Sie sind nicht regierungsfähig. Das muss man ganz eindeutig feststellen.
({9})
Ministerpräsident Koch - auch das ist eine heutige
Agenturmeldung - kündigt einen neuen Vorschlag zur
Steuerreform an.
({10})
Das ist der dritte Steuerreformvorschlag in den letzten
beiden Jahren. Der erste Vorschlag war das Bierdeckelkonzept von Herrn Merz. Der Bierdeckel ist verschwunden.
({11})
- Herr Merz ist auch verschwunden, er ist jetzt bekannterweise bei einem Hedgefonds tätig, den ich jetzt nicht
charakterisieren will.
({12})
Dazu kann sich jeder selbst seine Gedanken machen.
Ihr zweites Konzept war das gemeinsame Konzept 21
der Union, das eine Nettoentlastung in Höhe von über
10 Milliarden Euro bringen sollte. Das gilt jetzt nicht
mehr. Herr Koch kündigt an: Es gibt keine Nettoentlastung mehr. Sie haben lange gebraucht, um zu diesen Erkenntnissen zu kommen.
Angesichts dieser Meldungen behaupten Sie weiterhin, Sie hätten eine Linie? Meine Damen und Herren,
Herr Kollege Meister, das, was Sie heute Morgen geboten haben, ist lächerlich.
({13})
Herr Kollege Meister, wenn Sie wollen, können Sie
darauf reagieren.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Poß, Ihre Koalition ist dafür verantwortlich, dass dem öffentlichen Gemeinwesen gestern
66,8 Milliarden Euro entzogen wurden.
({0})
Sie macht die Opposition dafür verantwortlich und
bringt nicht die Kraft auf - ich sage das zu Ihnen, Herr
Poß, als stellvertretendem Fraktionsvorsitzenden der
SPD -, dafür die Verantwortung zu übernehmen. Statt
die Opposition zum Rücktritt aufzufordern, wäre es notwendig, Vorschläge zu machen, wie Sie diese Löcher
stopfen wollen.
({1})
Sie sind in der Verantwortung, Sie haben zu regieren. Sie
müssen Deutschland sagen, welche Korrekturen Sie vornehmen wollen.
({2})
Darüber hinaus will ich Ihnen sagen, was Ihr Bundesfinanzminister, der heute Morgen leider nicht hier sein
kann, heute in der „Welt“ sagt:
Das ist nicht die Finanzpolitik, die ich ursprünglich
machen wollte.
Hier stellt sich schon die Frage, welche Finanzpolitik gemacht werden müsste. Dazu erwarten wir im Haushaltsund im Steuerbereich Vorlagen.
({3})
Zur Union: Wir haben heute, auch wenn es Ihnen
nicht gefällt, in Bezug auf die Erbschaftsteuer einen Gesetzentwurf mit voller Gegenfinanzierung vorgelegt. Wir
haben zur Ertragsbesteuerung, zur Einkommensteuer,
zur Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer in der letzten
Sitzungswoche unser Konzept 21 behandelt. Das ist ein
klares Konzept für die Steuerreform in Deutschland.
({4})
Es liegt nur an der von Ihnen nicht erteilten Zustimmung, dass dieses klare Konzept nicht umgesetzt worden ist. Wir haben ein klares Konzept.
({5})
Ihr Finanzminister verletzt seit drei Jahren die
Maastricht-Kriterien und missachtet seit drei Jahren das
Grundgesetz. Er erzählt uns seit drei Jahren, dass er keinen neuen Nachtragshaushalt macht, wenn die Steuerschätzung kommt. Am Jahresende plant er lediglich ein,
wie groß die Verluste geworden sind. Wo ist die Kraft,
gegenzusteuern? Warum gibt es keine Haushaltssperre?
Warum gibt es nicht sofort einen Nachtragshaushalt?
Warum begreifen Sie nicht, dass Sie nicht ständig zulasten künftiger Generationen weitere Schulden machen
können? Wo ist Ihre Verantwortung, Herr Poß, für die
junge Generation und für die künftigen Generationen?
Zwischenrufe, Lachen und Beschimpfen der Opposition
helfen nicht. Sie müssen Ihrer Verantwortung gerecht
werden.
({6})
Ich erteile Kollegin Christine Scheel vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Dr. Meister, anscheinend ist Ihnen entgangen, dass die
Steuerschätzung sowohl für den Bund als auch für die
Länder und die Kommunen gilt. Nach der Steuerschätzung der Bund-Länder-Kommission werden wir bis zum
Jahre 2009 56 Milliarden Euro mehr an Steuereinnahmen haben, aber eben nicht so viel, wie ursprünglich geschätzt wurde. In der Konsequenz heißt das: Es tut sich
gegenüber den heutigen Einnahmen kein Loch auf, sondern lediglich der Aufwuchs der Einnahmen fällt in den
nächsten Jahren geringer aus. Das ist etwas völlig anderes. Die Schuld dafür können Sie auch nicht der Bundesregierung in die Schuhe schieben, sondern hier muss die
gesamtwirtschaftliche Situation betrachtet werden, die
auch Grundlage der Schätzungen ist. Das wissen Sie
sehr gut. Deswegen brauchen Sie hier auch keinen solchen Popanz aufzubauen.
({0})
Zu Ihren Überlegungen hinsichtlich des Verhaltens
der deutschen Bundesregierung in Europa kann man nur
sagen: Guten Morgen, Herr Dr. Meister. Anscheinend ist
die Union aus dem Tiefschlaf erwacht.
({1})
Im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages haben
wir bereits mehrmals darüber diskutiert, wie sich
Deutschland auf europäischer Ebene im Hinblick auf die
Unternehmensbesteuerung für die Zukunft positioniert.
({2})
Frau Dr. Hendricks hat es klipp und klar gesagt: Es
geht um eine einheitliche Bemessungsgrundlage. Die
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Bundesregierung, insbesondere durch den Finanzminister,
und die sie tragenden Fraktionen von Rot-Grün sind der
Auffassung, dass es diese einheitliche Bemessungsgrundlage möglichst schnell geben soll. Es wurde alles
getan, was aus nationaler Sicht getan werden konnte, um
diesem Ziel näher zu kommen. Guten Morgen, Union!
({3})
Zu diesem Popanz, den Sie mit der aktuellen Diskussion zu diesen beiden Gesetzentwürfen aufbauen, kann
ich Ihnen nur sagen: Ich bin sehr froh, dass der Bundesrat bzw. das Gremium, das über die Einhaltung der Fristen entscheidet, mit großer Weisheit eine Fristverkürzung beschlossen hat. Damit haben wir vom Verfahren
her ein Optimum erreicht, indem wir jetzt beide Regierungsentwürfe von Rot-Grün schon im Bundesrat haben.
({4})
Die Stellungnahme des Bundesrates wird erstellt und
der Finanzausschuss des Bundestages - das haben wir
heute Morgen besprochen und gemeinsam mit allen
Fraktionen vereinbart - kann am 15. Juni eine Anhörung
zu diesem Sachverhalt durchführen. Damit können die
abschließende Beratung im Finanzausschuss Ende Juni
und die zweite und dritte Lesung hier im Bundestag am
1. Juli stattfinden.
({5})
Danach können die Beschlüsse des Bundestages dem
Bundesrat zu seiner Sitzung im Juli zugeleitet werden.
Das ist genau so, wie wir es immer gesagt haben und wie
es sich der Bundeskanzler gewünscht hat.
({6})
Deswegen bitte ich Sie: Hören Sie auf, hier einen solchen Popanz aufzubauen, als ob es uns um Verzögerungen gehen würde.
({7})
In der Zeitung liest man jetzt: Front gegen rot-grünes
Steuergesetz bröckelt! CDU-Finanzminister Stratthaus
wirkt auf Union ein! Ich finde das sehr interessant.
({8})
Herr Stratthaus, der immerhin Finanzminister eines sehr
großen, von der CDU regierten Bundeslandes ist, ist der
Auffassung, dass wir diese Reformen jetzt dringend
brauchen. Er sagt, wenn sie jetzt scheitern, wäre die Enttäuschung in der Wirtschaft ein weiterer Belastungsfaktor für die Stimmung in Deutschland.
({9})
Da kann ich nur sagen: Da hat Herr Stratthaus völlig
Recht.
({10})
Deswegen ist es wichtig, dass wir hier vereinbaren,
({11})
ein Stück voranzukommen, und zwar sehr schnell. Hören Sie von der Union auf, Ihre schon ausgetretenen
Pfade noch weiter auszulatschen.
({12})
Hören Sie mit diesen polemischen Auseinandersetzungen auf.
({13})
Gehen Sie mit uns auf die Fachebene. Der Jobgipfel ist
ein Aufbruchsignal.
({14})
Letztendlich wollen wir alle, dass die Steuersätze im
Unternehmensbereich mit Blick auf Europa gesenkt werden und auch Entlastungen für die kleinen und mittelständischen Unternehmen erreicht werden. Natürlich
wollen auch wir keine Finanzlöcher.
({15})
So ist es - Frau Merkel ist jetzt gerade nicht anwesend vereinbart. Alle Seiten - ich sage das wirklich sehr
ernst -, Rot-Grün und die Union, müssen jetzt an der
Umsetzung dieser beiden Gesetzentwürfe konstruktiv arbeiten.
({16})
Fest steht: Wir sind für Finanzierungsvorschläge gesprächsbereit.
({17})
Die Union ist bis heute - genau das ist das Problem - dafür, die Steuersatzsenkungen umzusetzen, sagt aber, dass
das, was an Finanzierungsvorschlägen vonseiten des
Finanzministeriums vorliegt, im Kabinett von Rot-Grün
verabschiedet,
({18})
nicht ausreichend ist. Sie selbst hat aber noch keinen einzigen Vorschlag gemacht.
Ich finde, Folgendes gehört auch zur demokratischen
Ordnung: Wenn man sich auf einem Gipfel an der Diskussion beteiligt - Herr Stoiber war da und mein bayerischer Freund Faltlhauser, der Finanzminister, sitzt auf
der Bundesratsbank - und eine Vereinbarung trifft, dann
kann man diese Vereinbarung nicht einseitig aufkündigen. Man kann nicht sagen: Für die unangenehmen Sachen sind die anderen zuständig und wenn uns das
Ganze nicht passt, dann machen wir überhaupt keinen
Vorschlag. - Vielmehr muss man konstruktiv mitarbeiten.
({19})
Ziel ist natürlich, dass wir in Richtung Rechtsformneutralität gehen. Das ist überhaupt keine Frage. Dazu
gibt es auch einen Vorschlag von den Grünen. Herr
Stoiber hat diesen Vorschlag der Grünen übrigens öffentlich als mehr oder weniger guten Vorschlag bezeichnet.
({20})
Er hat auch die Wortwahl übernommen. Inzwischen bin
ich gespannt, was der Finanzminister sagen wird. In
Fernsehsendungen hat sich der bayerische Ministerpräsident in dieser Frage eindeutig geäußert.
({21})
Fest steht aber auch, dass es keinen Sinn macht,
({22})
die Körperschaftsteuer zum jetzigen Zeitpunkt - das ist
von Herrn Glos gesagt worden, der immerhin CSU-Landesgruppenchef ist, das ist von Herrn Dr. Meister und
auch von Edmund Stoiber unterstrichen worden - nur
auf 22 Prozent zu senken.
({23})
Sehr geehrte Damen und Herren von der Opposition,
wenn man so etwas tut, dann muss man es richtig tun.
({24})
Wir brauchen auch für Investoren ein europapolitisches
Signal.
({25})
Es macht keinen Sinn, in Holperschritten Steuersätze zu
senken, die uns international keinen Schritt nach vorne
bringen.
({26})
Wenn wir es machen, dann machen wir es gescheit. Die
Vorschläge liegen auf dem Tisch.
({27})
Ich bitte Sie - das sage ich zum dritten Mal -, sich daran
konstruktiv zu beteiligen.
({28})
Sie können Ihre Rede jetzt freiwillig beenden, aber
Sie können sie nach Überschreiten der Redezeit nicht
noch durch das Zulassen einer Frage verlängern.
Das ist sehr schade; denn ich hätte gerne gehört, was
Herr Kalb dazu zu sagen hat. Vielleicht hätte er für die
Union einen Vorschlag gemacht, wie sich die Union die
Finanzierung dieser Steuersenkung vorstellt.
({0})
Ich hoffe, wir kommen in der Auseinandersetzung wieder auf einen ruhigen Pfad und können die Polemik insgesamt beenden.
({1})
Dann können wir für das Land gemeinsam entscheiden,
wohin wir wollen. Wir von Rot-Grün wissen, wohin wir
wollen. Beteiligen Sie sich daran. Das wäre schön.
Danke schön.
({2})
Zu einer Kurzintervention erhält das Wort der Kollege
Hans Michelbach für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Nachdem Sie die Frage des Kollegen Bartholomäus
Kalb nicht zugelassen haben, bitte ich Sie - ({0})
Einen Augenblick, bitte. Gelegentlich empfehle ich
vor unnötigen Zwischenrufen, einen Blick in die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zu werfen.
Nach dieser ist es völlig unerheblich, ob es für eine
Wortmeldung zu einer, wie es in der Geschäftsordnung
heißt, Zwischenbemerkung einen unmittelbaren Anlass
gibt, den der vorherige Redner geboten hat. Im Übrigen
muss ich auch nicht darauf hinweisen, dass die meisten
solcher Anlässe notfalls kunstvoll hergestellt werden.
({0})
Nun hat der Kollege Michelbach wieder das Wort.
Herr Präsident, vielen Dank für diese Klarstellung der
Geschäftsordnungslage. Das ist sehr erhellend.
Sehr geehrte Frau Kollegin Scheel, trotz besseren
Wissens haben Sie immer wieder die Behauptung aufgestellt, die Kosten von deutschen Investitionen im Ausland würden in Deutschland steuerlich begünstigt.
Ich will Ihnen noch einmal deutlich machen, dass dies
ökonomisch und steuerrechtlich grundsätzlich falsch ist.
Wir haben Ihnen dies im Finanzausschuss mehrfach erklärt, Sie aber wiederholen diese falsche Behauptung
immer wieder, hier und in Tageszeitungen. Dieser Steuerpopulismus schadet uns.
Fakt ist: Viele Arbeitsplätze in Deutschland werden
gerade bei der schwierigen Binnenkonjunktur dadurch
gesichert, dass Märkte erschlossen und einfache Vorprodukte, die im Ausland gefertigt wurden, eingeführt und
hier zu einem Gesamtprodukt zusammengefügt werden.
Die Betriebe, die im Ausland Investitionen tätigen, erhalten keine Steuersubventionen. Im Gegenteil: Die Gewinne werden im Ausland voll versteuert. Der Ertrag,
der zur Muttergesellschaft nach Deutschland kommt,
wird mit 5 Prozent besteuert und dann erfolgt noch einmal beim Eigentümer eine Besteuerung nach dem Halbeinkünfteverfahren.
Die Investitionen deutscher Unternehmen im Ausland
werden also dreimal besteuert. Deswegen unterlassen
Sie endlich Ihre falsche Behauptung. Sie heizen damit
im Bereich des Steuerrechts dieselbe Stimmung an, die
Herr Müntefering anzuheizen versucht. Sie können als
Vorsitzende des Finanzausschusses nicht fortgesetzt falsche Behauptungen in die Öffentlichkeit tragen.
({0})
Das akzeptieren wir nicht. Selbst die SPD hat dafür im
Finanzausschuss kein Verständnis mehr gehabt. Ich darf
Sie bitten, keine Nebelkerzen mehr zu werfen, sondern
zu einer seriösen Steuerpolitik zurückzukehren.
Vielen Dank.
({1})
Zur Erwiderung Frau Kollegin Scheel.
({0})
Herr Kollege Michelbach, Sie sind doch jemand, der
immer wieder fordert, dass wir Kapitalgesellschaften
und Personengesellschaften gleichbehandeln sollen.
Sie sind jemand, der fordert, genau wie Herr Dr. Meister
das heute getan hat, was ich übrigens richtig finde, dass
wir, was die Unternehmensbesteuerung anbelangt, zu
einer rechtsformneutralen Lösung kommen sollten. Können Sie mir bitte einmal erklären, warum Personengesellschaften eine andere Regelung haben, was steuerliChristine Scheel
che Abzugsfähigkeiten für Kosten im Zusammenhang
mit steuerfreien Einnahmen anbelangt, als das bei den
Körperschaften der Fall ist?
({0})
Wir haben bei den Körperschaften die Situation, dass
es steuerfreie Einnahmen gibt, auf der anderen Seite aber
ein steuerliches Abzugsverbot für Kosten im Zusammenhang mit diesen steuerfreien Einnahmen so nicht
existiert. Unser Ziel ist eine Gleichbehandlung von Personengesellschaften und Körperschaften. Wir müssen
uns gemeinsam überlegen, wie wir diesem Ziel näher
kommen. Jedenfalls kann es nicht sein, dass man sich
- die Entwicklung hat in den letzten Jahren zugenommen - über Abzugsmöglichkeiten in Deutschland steuerlich auf Kosten derjenigen, die hier Steuern zahlen, saniert.
({1})
Die Konsequenz ist nämlich, dass die Verlagerung von
Arbeitsplätzen steuerlich indirekt subventioniert wird.
Das ist der Punkt. Dafür bedarf es einer Lösung. Ich bitte
Sie, zu bedenken, dass es für Personengesellschaften und
für Körperschaften eine gemeinsame Zielrichtung gibt.
Personengesellschaften können das nämlich nicht. International operierende Unternehmen aber können das. Ich
weiß, dass wir eine europataugliche Regelung brauchen.
Das ist richtig.
({2})
Es gibt Vorschläge, die nicht europarechtswidrig sind,
über die wir im Verfahren diskutieren werden.
Danke schön.
({3})
Das Wort erhält nun der Staatsminister für Finanzen
des Freistaats Bayern, Professor Faltlhauser.
({0})
Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister ({1}):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich
bin ich ja für 9 Uhr hierher bestellt worden.
({2})
Die Absetzung der Einbringung des Gesetzes scheint
mir ein bemerkenswerter Vorgang zu sein.
({3})
Ich habe den Eindruck, Schröder laufen die Truppen von
den Fahnen. Wie will denn die Bundesregierung
Deutschland energisch voranbringen, wenn sie bei einem
Projekt, das sie inhaltlich und zeitlich selbst für bedeutend hält, nicht einmal einen Gesetzentwurf im Bundestag einbringen kann?
({4})
Ich glaube, dieser Vormittag zeigt in diesem Punkt die
Handlungsunfähigkeit.
({5})
Ich will mit Blick auf die FDP festhalten: Selbstverständlich muss klar sein, dass sich die Steuerpolitik - das
gilt aktuell wie auch für die nächsten Jahre - vorrangig
der Aufgabe widmen muss, Vereinfachungen zu erreichen, damit das Steuersystem wieder verständlich wird
und im Ergebnis auch wirksam sein kann.
({6})
Ich stelle fest, dass die Bundesregierung keine Vorarbeiten für eine große Steuerreform getroffen hat, Herr
Poß.
({7})
Die Opposition hat dies sehr wohl getan. In diesem Haus
liegt ein einstimmig beschlossener Entwurf der CDU/
CSU vor, der das gesamte Einkommensteuerrecht bis ins
Detail abdeckt.
({8})
Er muss zwar noch um die Komplexität der Unternehmensteuerreform ergänzt werden, aber - dies hat Herr
Koch heute in der Presse angekündigt - wir werden in
diesem Jahr rechtzeitig vor den Wahlen ein Gesamtkonzept vorlegen. Dabei handelt es sich nicht um ein völlig
neues, sondern um ein ausgearbeitetes Konzept. Ich
hätte mir gewünscht, dass die Bundesregierung ein solches Konzept vorgelegt hätte. Das ist ihre Aufgabe.
({9})
Beim Jobgipfel wurde hinsichtlich der Vorschläge
zur Steuersenkung - die wir ausdrücklich begrüßen,
Frau Hendricks - die volle Gegenfinanzierung klar vereinbart. Damit ist eine belastbare Gegenfinanzierung gemeint. Gegenfinanzierung heißt nicht, dass irgendwelche
Steuerentlastungen auf Pump vorgenommen werden.
Dies ist heute nicht mehr vertretbar. Eine volle Gegenfinanzierung bedeutet: keine virtuellen Einnahmen,
keine Einnahmen nach dem Prinzip Hoffnung.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf Nordrhein-Westfalen zu sprechen kommen. NordrheinWestfalen wird nach der jüngsten Steuerschätzung im
nächsten Jahr wohl zusätzliche Einnahmeausfälle in
Höhe von 1,5 Milliarden Euro zu verkraften haben. Wie
soll die dortige Regierung - sicherlich eine andere als
jetzt - dann noch zusätzlich Löcher stopfen können, die
Staatsminister Dr. Kurt Faltlhauser ({10})
sich aus irgendwelchen virtuellen Einnahmen ergeben,
wie es nach den Vorstellungen der Bundesregierung notwendig wäre? Insofern muss die Gegenfinanzierung solide sein.
Wir haben doch beim Amnestiegesetz bereits entsprechende Erfahrungen gemacht, meine Damen und
Herren von der Regierungsseite. Zunächst hatte man auf
20 Milliarden Euro gehofft. Im Gesetz selber ging man
dann noch von 5 Milliarden Euro aus. Im Ergebnis sind
es dann 1,2 Milliarden Euro geworden. Aus dieser Erfahrung muss man doch lernen. Es geht doch nicht an,
auch weiterhin von solchen Hoffnungen auszugehen,
({11})
wie es im Gesetzentwurf der Bundesregierung der Fall
ist. Darin heißt es:
Durch die Senkung des Körperschaftsteuersatzes
wird bei vorsichtiger Schätzung
- ich betone: bei vorsichtiger Schätzung. davon ausgegangen, dass zunächst 6,5 Milliarden
Euro zukünftig wieder der deutschen Besteuerung
unterworfen werden, da sich eine Gewinnverschiebung in ein anderes EU-Land vielfach steuerlich
nicht mehr lohnt. Hieraus ergeben sich Mehreinnahmen von 2,2 Milliarden Euro.
({12})
Das ist doch eine Illusion. Sie können doch nicht glauben, dass Unternehmen in Massen zur Besteuerung in
dieses Land zurückkehren, in dem gleichzeitig die Gewinnerwirtschaftung durch die Unternehmen verteufelt
wird und eine rüde Kapitalismusdebatte stattfindet. Dahin kehrt kein einziger Unternehmer zurück.
({13})
Das Vertrauen in dieses Land ist zerstört. Deshalb
werden die Unternehmer nicht zurückkehren. Insofern
ist die Annahme, dass zusätzliche Einnahmen in Höhe
von 2,2 Milliarden Euro anfallen werden, in höchstem
Maße illusionär.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister ({0}):
Nein. - Auf der Grundlage dieser virtuellen Einnahmen können Sie mit uns keine seriöse Vereinbarung
schließen.
({1})
- Auch wenn Sie so laut schreien, retten Sie NordrheinWestfalen nicht mehr, Herr Poß.
({2})
Ich habe den Eindruck, das ist ein Hilferuf nach außen.
({3})
Sie machen bis zum übernächsten Sonntag nichts mehr
gut.
({4})
Lassen Sie mich etwas zu der Möglichkeit der Verlustverrechnung anmerken, deren Beschränkung Sie auf
50 Prozent anheben wollen. Wir haben bereits im Vermittlungsausschuss deutlich gemacht: Der Sinn des Jobgipfels liegt doch in der Schaffung von Arbeitsplätzen.
Mit dieser Erhöhung der Mindestbesteuerung vernichten Sie aber Arbeitsplätze. Das ist die Realität. Das
ist das Gegenteil von dem, was wir wollen.
({5})
Auch die Hebung der stillen Reserven bei Unternehmensimmobilien, um die es in der Debatte um REITs
geht, ist kompliziert genug. Aber davon Steuermehreinnahmen in Höhe von 700 Millionen Euro oder mehr zu
erwarten, ist doch, halten zu Gnaden, windig. So etwas
können wir doch nicht ernsthaft diskutieren wollen.
({6})
Ich bin bis zur Hälfte mit der Finanzierung - also
2,5 Milliarden Euro - einverstanden. Alles, was darüber
liegt - bis zu den 5,2 Milliarden Euro -, ist ein unseriöser Ansatz. Sie brauchen auch nicht mit dem ausgestreckten Finger auf die Opposition zu zeigen. Es ist
doch Ihre Aufgabe, seriöse Vorschläge zu machen. Das
ist die Aufgabe der Regierung.
Lassen Sie mich noch etwas zum Erbschaftsteuergesetz sagen. Pro Jahr stehen etwa 70 000 Unternehmen
an der Schwelle zu einem Generationenwechsel. 10 000
davon hören dabei auf zu existieren. Richtig ist zwar,
dass es schon heute eine Stundungsregelung gibt. Aber
diese ist für einen Vergleich völlig ungeeignet; denn die
Voraussetzungen für eine Stundung sind restriktiv und
durch die Rechtsprechung noch restriktiver geworden.
Die kann kein Unternehmen erfüllen. Wer das zum Maßstab für den zukünftigen Erfolg des Gesetzes nimmt, hat
keine Ahnung.
({7})
Die Praxis wird beweisen, dass die von uns vorgeschlagene Regelung tatsächlich greift und Arbeitsplätze erhält. Gott sei Dank hat die Bundesregierung das erkannt
und einen - abgesehen von zwei Abweichungen - wortgleichen Gesetzentwurf vorgelegt.
Aber das Gesetz steht nur auf einem Bein. Es kann
doch nicht angehen, dass eine Regierung ein großes Gesetzeswerk ohne Gegenfinanzierung verabschiedet.
Das hat es noch nie gegeben. Wohin sind Sie denn gekommen, Frau Hendricks? Das geht doch nicht. Wenn
Sie einen Gesetzentwurf vorlegen, müssen Sie auch für
eine entsprechende Gegenfinanzierung sorgen. Wir haben das getan.
({8})
Staatsminister Dr. Kurt Faltlhauser ({9})
Zur Gegenfinanzierung will ich noch eines sagen:
Frau Hendricks, wenn wir mit einer Gegenfinanzierung
in einer Größenordnung von 2,5 Milliarden Euro einverstanden sind, dann kommen Sie auf eine Senkung des
Körperschaftsteuersatzes auf 22 Prozent. - Frau
Hendricks, Sie irren nicht nur in der Politik, sondern nun
sogar auch hier herum.
({10})
Wenn Sie also von einer Gegenfinanzierung in Höhe von
2,5 Milliarden Euro ausgehen, dann können Sie den
Körperschaftsteuersatz auf 22 Prozent senken. Das heißt
nicht, dass das unser Ziel ist. Aber bis dahin reicht es.
Darüber hinaus muss die Bundesregierung zusätzliche
Vorschläge vorlegen. Es ist dann logisch, dass man das
auf die Besteuerung der Dividenden umlegt. Herr Solms,
es ist aber keine Erhöhung, sondern eine Anpassung der
Dividendenbesteuerung an eine Senkung der Körperschaftsteuer.
Herr Minister, darf die von Ihnen angesprochene Kollegin Hendricks eine Zwischenfrage stellen?
Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister ({0}):
Aber sehr gerne, Frau Kollegin.
({1})
Bitte schön.
Herr Kollege Faltlhauser, darf ich Ihnen die Frage zurückgeben? - Sie haben mich gerade mehr oder weniger
rhetorisch gefragt, wohin wir gekommen seien, und gesagt, das habe es noch nie gegeben, dass eine Regierung
einen Steuergesetzentwurf ohne Gegenfinanzierung vorgelegt habe. Darf ich Sie daran erinnern, dass erstens
jede Nettoentlastung notwendigerweise ohne Gegenfinanzierung stattfinden muss und dass zweitens diese
Bundesregierung Nettoentlastungen in einer Größenordnung von 56 Milliarden Euro für Familien, Arbeitnehmer und mittelständische Unternehmen durchgesetzt
hat? Darf ich Sie im Übrigen daran erinnern, dass es gerade Ihre Seite - nicht zuletzt Frau Merkel - war, die uns
immer dann, wenn wir eine Gegenfinanzierung angemahnt haben, das Wort von „rechter Tasche, linker Tasche“ vorgehalten hat?
({0})
Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister ({1}):
Frau Kollegin, zum Thema Gegenfinanzierung zwei
Antworten: Erstens. Ich habe gestern und heute in den
Zeitungen gelesen, dass Herr Eichel behauptet: Die Löcher, die nun im Haushalt entstanden sind, sind nicht zuletzt deshalb da, weil die Opposition im Bundesrat nicht
bereit ist, den Abbau bestimmter Subventionen mitzutragen.
({2})
Er sagt weiter: Das Erste und das Wichtigste ist dabei die
Abschaffung der Eigenheimzulage. - Der Regierung
fehlen nach unserer Schätzung 10 Milliarden bis
15 Milliarden Euro. Wenn man die Eigenheimzulage abschafft, dann hat man im ersten Jahr 200 Millionen Euro
und im zweiten Jahr 1,5 Milliarden Euro zusätzlich zur
Verfügung. Damit wollen Sie diesen Riesenkrater füllen? Was soll das? Eine derartige Schauveranstaltung
von Herrn Eichel ist unglaublich.
({3})
Zweitens. Frau Kollegin, das, was Sie zur Nettoentlastung sagen, ist zwar richtig. Aber eine solche war
nicht angekündigt. Auf dem Jobgipfel ist gemeinsam
vom Bundeskanzler und den beiden Parteivorsitzenden
vereinbart worden, dass es eine volle und belastbare Gegenfinanzierung gibt.
({4})
Dazu haben Sie nichts vorgelegt. Sie hätten ja sagen
können: Ich will diese Erbschaftsteuerregelung nicht.
Aber die Bundesregierung hat sie beschlossen. Offenbar
gibt es in Ihren Reihen - die entsprechenden Leute sind
nicht anwesend - ein Murren. Das ist der eigentliche
Grund, warum Sie dafür gesorgt haben, dass die Debatte
über die Körperschaftsteuer abgesetzt wird. Das, was Sie
aufführen, ist eine erbärmliche Veranstaltung.
({5})
Frau Kollegin Hendricks, um Sie zu trösten, möchte
ich noch etwas zu dem Wunderfinanzierungsvorschlag
von Frau Scheel sagen. Hier bin ich nämlich völlig Ihrer
Meinung. Sie haben der Vorsitzenden des Finanzausschusses ein ausgezeichnetes zweiseitiges Papier zugeschickt.
({6})
Dieses Papier entspricht völlig meiner Auffassung. Da
heißt es: Die Vorstellung von Frau Scheel verfälscht und
verkürzt die tatsächliche Rechtslage.
({7})
Außerdem heißt es: Die Umsetzung des Absetzungsverbots scheitert aber regelmäßig daran, dass es praktisch
nicht möglich ist, die nicht abziehbaren Betriebsausgaben den Beteiligungserträgen direkt zuzuordnen. Dann
heißt es: Nicht zuletzt hätte eine Verschärfung des Betriebsausgabenabzugsverbotes zudem nachteilige standortpolitische Wirkungen. - Sehr wahr, Bundesregierung!
Ich fordere Sie auf: Einigen Sie in dieser Koalition sich
endlich auf wichtige steuerpolitische Maßnahmen.
({8})
Sie haben völlig unterschiedliche Auffassungen. Sie
selbst versagen und geben dem Bundesrat die Schuld. Es
kommt auch vor, dass der eine Koalitionspartner etwas
völlig anderes als der andere sagt. Dieses Doppelspiel
muss endlich aufhören.
({9})
Staatsminister Dr. Kurt Faltlhauser ({10})
Ich glaube, dass der Jobgipfel und die entsprechenden
Steuersenkungsvorhaben eine Chance sind. Diese
Chance muss aber entschlossen und auch korrekt genutzt
werden. Frau Hendricks, ich glaube, dass die Bundesregierung hier noch viele Hausaufgaben machen muss.
Wir sind zwar konstruktiv eingestellt, aber wir sind nicht
diejenigen, die für Sie die Arbeit erledigen. Sie sind gewählt worden, um konkrete Vorschläge zu machen. Machen Sie sie endlich!
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Carl-Ludwig Thiele
für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Am 17. März hat der Bundeskanzler hier, im Plenum des Deutschen Bundestages,
eine Regierungserklärung abgegeben
({0})
und am Nachmittag fand im Kanzleramt der Jobgipfel
statt. Dort hat der Bundeskanzler nach Abstimmung mit
den Grünen erklärt, dass die Körperschaftsteuer gesenkt
und der Betriebsübergang für Familienunternehmen erleichtert werden soll. Das Kabinett hat dann mit den
Stimmen der grünen Minister einen solchen Gesetzentwurf beschlossen.
Heute, knapp zwei Monate später, sollte dieser Gesetzentwurf hier im Deutschen Bundestag debattiert werden. Ich muss fragen - ein Großteil der Debatte dreht
sich um genau diese Entwürfe -: Warum debattieren wir
über diese Entwürfe hier eigentlich nicht ordentlich?
Warum liegen diese Entwürfe hier nicht vor?
({1})
Das hat einen ganz simplen Grund: Am Dienstag fingen die Grünen an, dem Kanzler auf der Nase herumzutanzen. Die Fraktion der Grünen hat sich geweigert, diesen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag
einzubringen. Darum wurde die heutige Debatte abgesetzt.
({2})
Das zeigt: Die rot-grüne Koalition ist überhaupt nicht
mehr handlungsfähig.
Parallel zeigt die Steuerschätzung vom gestrigen
Tage, dass die gesamte Politik von Rot-Grün ein einziges Chaos, eine einzige Konfusion darstellt.
({3})
Unser Finanzminister hieß einmal „der eiserne Hans“.
({4})
In seinen Hochzeiten erklärte er: Im Jahr 2005 werden
wir keine Neuverschuldung mehr haben und ab dem
Jahr 2006 wird der Staatshaushalt Überschüsse produzieren. Nun zeigt die Steuerschätzung, dass es in den
nächsten Jahren ein Steuerloch in Höhe von
68 Milliarden Euro geben wird. Das ist das Ergebnis einer gescheiterten Politik. Über dieses Ergebnis kann
man nicht hinwegtäuschen, indem man sagt: Im ersten
Quartal gab es ein Wachstum von 1 Prozent. Darüber
freuen auch wir uns. Aber die Regierung ist von
1,7 Prozent ausgegangen und auch dieser Wert ist nicht
erreicht worden.
({5})
In neun Tagen ist Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Die letzte rot-grüne Landesregierung,
die es in Deutschland als Auslaufmodell überhaupt noch
gibt, steht auf dem Prüfstand. Es sind schwierige Zeiten
für Rot-Grün. Ich erinnere mich noch an früher: Gerade
in der SPD galt in schwierigen Zeiten immer, Solidarität mit seinen Partnern zu üben.
Jetzt erleben wir, wie sich die Grünen vor der Landtagswahl in NRW gegenüber ihrem Koalitionspartner
SPD in unglaublicher Weise profilieren. Der Kabinettsentwurf wird von den Fraktionen nicht übernommen und
die Vorsitzende des Finanzausschusses des Deutschen
Bundestages, Frau Scheel - derzeit zieht sie dem Verfolgen der Debatte das Telefonieren vor -,
({6})
hat erklärt, dass es in der nächsten Sitzungswoche nur einen Gesetzentwurf der Regierung und keinen der Koalitionsfraktionen geben wird.
Heute haben wir die vorläufige Tagesordnung für die
nächste Sitzungswoche erhalten und auf dieser Tagesordnung steht ein solcher Koalitionsentwurf nicht; darauf steht nur die Debatte über die beiden Regierungsentwürfe. Wenn das in der nächsten Sitzungswoche aber
das Einzige ist, über das wir uns in dem Zusammenhang
unterhalten, frage ich mich: Warum haben wir das dann
nicht heute schon behandelt?
({7})
Warum konnte dann heute nicht zumindest über die Regierungsentwürfe förmlich diskutiert werden? - Das ist
ein abenteuerliches Verhalten.
Das zeigt: Solidarität ist eine Sekundärtugend - so
wurde sie von Lafontaine einmal bezeichnet - und diese
Sekundärtugend ist den Grünen fremd. Sie zeigen Solidarität nicht einmal gegenüber dem Koalitionspartner
SPD. Das führt dazu, dass die SPD die Grünen öffentlich
beschimpft und sagt, die Grünen sollten aufhören, Pfeile
aufs eigene Lager zu schicken.
Ein solcher Koalitionspartner ist kein Partner, mit
dem man verantwortungsvoll Politikmodelle, über die
wir ja diskutieren können, verfolgen kann. Wer in einer
solchen Form zeigt, dass er überhaupt keine Rücksicht
auf den Partner nimmt, der hat Vertrauen verspielt.
Ich wünsche mir, dass wir zu einer Einigung in diesem Bereich kommen. Die FDP steht dafür bereit. Gerade bei der Erbschaftsteuer geht es um das Modell,
das die FDP als einzige Partei ins Wahlprogramm geschrieben hat.
Einen Punkt verstehe ich an der Stelle allerdings
nicht. Wie lässt sich dann, wenn der Betriebsübergang
erleichtert werden soll, eine Grenze von 100 Millionen
Euro rechtfertigen? Wir halten sie für verfassungswidrig.
Es wird ja gesagt, die Arbeitsplätze stünden im Vordergrund. Bei Kapitalgesellschaften ist es so: Wenn ein Aktionär verstirbt, wird das Depot bewertet, ein Wert festgelegt und die entsprechende Summe gezahlt. Die
Aktiengesellschaft verliert keinen Cent Kapital. Das ist
im Mittelstand anders.
Ich komme sofort zum Ende, Herr Präsident. - Wir
brauchen aber eine Stärkung des Mittelstands, weil dort
die Arbeitsplätze sind.
Es macht keinen Sinn, zu sagen: „Bei 100 Millionen
Euro, also wenn ein Unternehmen besonders erfolgreich
ist, gilt das nicht mehr“; denn diese Firmen haben genau
dieselben Probleme. Insofern appelliere ich an die
Union, diese Grenze zu überprüfen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich erteile der Kollegin Gabriele Frechen, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Dr. Wissing, ich bin Ihnen ausgesprochen dankbar dafür, dass Sie Ihren Regierungsentwurf, den Sie zurückgezogen haben, noch einmal erwähnt haben.
({0})
- Ihren Gesetzentwurf, Entschuldigung. Sie werden aber
auch ab 2006 keine Regierungsentwürfe machen, auch
wenn sich Herr Thiele hier gerade als neuer Koalitionspartner - statt der Grünen - angebiedert hat.
({1})
Ich habe so die Möglichkeit, noch einmal klipp und
klar zu sagen, was die Sachverständigen von Ihrer Steuerpolitik halten. Die kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis: Nach Ihrem Entwurf gibt es eklatante Verschiebungen von unten nach oben. In den unteren
Einkommensbereichen nehmen die Belastungen zu und
in den oberen Bereichen nehmen die Entlastungen zu.
Das ist Ihre Politik, was Steuern anbelangt. Soziale Gerechtigkeit - Fehlanzeige.
({2})
Auf Ihre Große Anfrage, die heute auf der Tagesordnung steht - auch wenn es ungewöhnlich ist, möchte ich
über das sprechen, was auf der Tagesordnung steht -,
komme ich gern zurück. Die Bundesregierung hat Ihnen
geantwortet: niedrigere Steuersätze, weniger Ausnahmen und kein Reformschritt ohne Vereinfachung. Die
Bundesregierung wird ihre Steuerpolitik auch in Zukunft
an diesen bewährten Maximen ausrichten.
({3})
Diese Auffassung teilt die SPD-Bundestagsfraktion voll
und ganz. - Ich habe gewusst, dass an der Stelle ein Zwischenruf kommt. Ich werden Ihnen das nachweisen, Herr
Dr. Wissing.
Erste Maxime: niedrigere Steuersätze. Zu Ihrer Zeit
musste jeder und jede Steuerpflichtige vom ersten
steuerpflichtigen Euro an - wir hatten damals noch die
D-Mark; aber die Kolleginnen und Kollegen können insoweit, denke ich, folgen - 25,9 Cent Einkommensteuer
bezahlen. Heute sind es noch 15 Cent. Wir haben den
Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent sowie den Körperschaftsteuersatz auf 25 Prozent gesenkt. Die Planung
für die nächste Zeit sieht eine Senkung auf 19 Prozent
vor. Das ist in Europa wettbewerbsfähig.
({4})
Herr Dr. Meister, Sie haben eben angemerkt, dass die
Personengesellschaften nichts von der Senkung des
Körperschaftsteuersatzes hätten. Da gebe ich Ihnen
Recht. Aber was ist denn mit der Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer? So etwas hat es
zu Ihrer Zeit nie gegeben. Für Personengesellschaften ist
doch die Gewerbesteuer heute überhaupt kein Thema
mehr.
({5})
Sie sehen also, die erste Maxime wurde voll erfüllt.
Zweite Maxime: weniger Ausnahmen. Jetzt könnte
ich natürlich das von Ihnen blockierte Steuervergünstigungsabbaugesetz anführen oder die Eigenheimzulage. Das ist aber, wie ich denke, schon zu oft getan worden. Ich gehe noch ein bisschen weiter in die
Vergangenheit zurück. Erinnern Sie sich noch an das
Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002?
({6})
Darin enthalten waren: Begrenzung der Verlustverrechnung, Streichung der Abzugsfähigkeit von Verlusten aus
ausländischen Betriebsstätten in DBA-Staaten, Beseitigung des Missbrauchs beim Zwei-Konten-Modell, Abzugsverbot von Schmier- und Bestechungsgeldern im
Ausland. Das sind nur vier von 70 Ausnahmen, die mit
diesem Gesetz wirksam beseitigt wurden.
Das Finanzamt Bad Homburg, ein Finanzamt mit zugegebenermaßen überdurchschnittlich vielen gut verdienenden Menschen, musste noch 1997 3,1 Millionen
Euro mehr an Einkommensteuer auszahlen, als es eingenommen hatte. Im Jahr 2001 dagegen betrug die veranlagte Einkommensteuer 128,3 Millionen Euro und in
2002 181,9 Millionen Euro.
({7})
Also war auch die zweite Maxime erfolgreich.
({8})
Dritte Maxime: Vereinfachung. Wer hätte nicht gerne
ein Steuerrecht, das einfach und gleichzeitig gerecht ist
und dem Staat die Einnahmen bringt, die er zur Erfüllung seiner Aufgaben braucht?
({9})
Aber keines der konkurrierenden Modelle - das haben
die Landesfinanzminister festgestellt; ich erinnere an die
Diskussion von vor drei Wochen - erfüllt diese Bedingungen. Ein Modell ist nämlich entweder einfach oder
gerecht. Beides geht nicht. Die Folge der Umsetzung eines der Reformmodelle wäre, dass eine Umverteilung
von unten nach oben vorgenommen würde. Das gilt übrigens auch für das Modell, das sich die Union auf die
Fahnen geschrieben hat und mit dem im Moment Herr
Rüttgers versucht, den Menschen in Nordrhein-Westfalen Sand in die Augen zu streuen.
({10})
Die Vereinfachung besteht nämlich unter anderem darin,
dass Sie die Pendlerpauschalen sowie die Steuerbefreiung für Sonn- und Feiertagsarbeit und für Nachtzuschläge streichen wollen. Auf dieser Basis wollen Sie
die Steuersätze senken. Wenn Sie noch mehr Beispiele
brauchen, empfehle ich Ihnen, meine Rede von vor drei
Wochen durchzulesen. Bergmannsprämie, Wohngeld
und Mutterschaftsgeld habe ich da erwähnt.
Es gibt aber noch einen weiteren Ansatzpunkt für
Vereinfachung, nämlich die Steuervereinfachung im
Vollzug, so wie es in unserem Antrag steht: Steuervereinfachung betreiben, ohne dabei die Gerechtigkeit aus
den Augen zu verlieren. Die Frage, die sich stellt und auf
die wir in Nordrhein-Westfalen eine Antwort gefunden
haben,
({11})
lautet: Wie machen wir es einfacher für den Steuerpflichtigen? Dafür ist die Höhe des Steuersatzes weniger
erheblich. Entscheidend ist das Verfahren. Dienstleistungen, Bürgerorientierung, Härte gegenüber Steuerhinterziehern zeigen und zuvorkommend gegenüber Steuerehrlichen sein - das sind die Dinge, auf die es ankommt.
({12})
Der SPD-Finanzminister Jochen Dieckmann hat die
vereinfachte Steuererklärung in Nordrhein-Westfalen zusammen mit Finanzbeamtinnen und Finanzbeamten entwickelt, erprobt und auf alle Finanzämter in NRW
ausgeweitet. Ich will meinen Rat aus der letzten Sitzungswoche wiederholen: Besuchen Sie doch endlich eines der dieses Verfahren anwendenden Finanzämter,
zum Beispiel in Bochum, Geldern oder Herne. Ein Zufriedenheitsgrad von 96 Prozent der betroffenen Steuerpflichtigen spricht für Jochen Dieckmann.
({13})
Zwei von drei Steuerpflichtigen können damit ihre
Steuerklärung auf einem einzigen Blatt Papier abgeben.
Wer Kinder hat, braucht zwei Blätter. Für mehr als die
Hälfte der Steuerpflichtigen wird damit die Steuererklärung deutlich einfacher und der Gerechtigkeitsanspruch
wird nicht angetastet. Da wundert es nicht, dass die
Finanzminister aller Länder, also auch Herr Faltlhauser,
beschlossen haben, diese Form ab 2005 in allen Bundesländern zuzulassen.
Sie sehen, die von Ministerpräsident Peer Steinbrück
geführte Landesregierung hält nicht so viel von Steuerutopien, die von Vereinfachung sprechen und Umverteilung meinen. Sein „Bierdeckel“ hat DIN-A4-Format,
aber er hat den großen Vorteil, dass es ihn wirklich gibt,
und zwar in ganz großer Zahl.
({14})
Wir stimmen überein, dass die Vereinfachungen im
Steuerrecht weitergehen müssen, sowohl in der materiellen als auch in der praxisorientierten Anwendung.
({15})
Die Weiterverarbeitung der elektronischen Steuererklärung zur elektronischen Steuerkarte ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg; die Abgabe der Lohn- und
Umsatzsteuervoranmeldungen auf elektronischem Weg
war ein weiterer. Seit der Einführung von Elster-Lohn
sind 35 Millionen elektronische Steuerbescheinigungen
übermittelt worden. Jede Lohnbuchhalterin und jeder
Auszubildende im Betrieb kann Ihnen sagen, was das an
Bürokratieabbau bedeutet.
({16})
Die einheitliche Wirtschaftsidentifikationsnummer soll ein weiterer Baustein sein. Ich gehe davon aus,
liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema ist Ihnen
ebenfalls noch bekannt. Eine bundeseinheitliche Wirtschaftsnummer, die die Steuernummer ersetzt und die
die Betriebsnummer bei Krankenkassen und Arbeitsagentur sowie die Beitragskontonummer bei der Berufsgenossenschaft und den Kammern ersetzen könnte,
klingt bei dem Nummernsalat, den wir in den Betrieben
haben, fast wie eine Vision. Es ist aber keine. Dieser
Punkt nahm, wie im Protokoll nachzulesen, breiten
Raum in der Ausschusserörterung zum Steueränderungsgesetz 2003 ein. Das Ergebnis kennen Sie; es war wie
immer: Sie haben Nein gesagt.
Stattdessen fragen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, unter Nr. 34 Ihrer Großen Anfrage
- man höre! -:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die
Abschaffung ganzer Steuergesetze das Steuerrecht
vereinfacht?
Ich finde die Frage echt toll. Ich hoffe nur, dass im Innen- und Rechtsausschuss niemand auf die Idee kommt,
Strafgesetze abzuschaffen, um die Bürokratie zu vereinfachen.
({17})
Natürlich führt die Abschaffung von ganzen Gesetzen
grundsätzlich zu Vereinfachung, Bürokratieabbau und
Einsparungen in der Verwaltung,
({18})
aber nur, wenn man sie ersatzlos streicht, Frau
Homburger. Zum ersatzlosen Streichen gehört auch, dass
man sich im Klaren ist, was dann passiert, und dass man
das den Menschen auch sagt.
({19})
Diese Diskussion hatten wir vor drei Wochen zu dem
Bierdeckelkonzept von der CDU/CSU, das auch nicht
konkret geworden ist.
Ich gebe zu, dass ich ziemlich gespannt war, was sich
hinter dem Titel „Herausforderungen der Globalisierung
annehmen, Unternehmensteuern modernisieren, Staatsfinanzen durch mehr Wachstum sichern“ verbirgt. Sie
hatten - so war in der Presse zu lesen - erwartet, dass
unsere Entwürfe zur Umsetzung der Ergebnisse aus dem
Jobgipfel diese Woche debattiert werden; sie werden
erst nächste Woche debattiert. Also haben Sie ganz
schnell ein Papier auf den Weg gebracht. Ich halte es für
richtig, dass wir einen Entwurf vorlegen, in dem sich alle
Mitglieder der Koalitionsfraktionen wiederfinden, hinter
dem alle stehen. Wenn es Differenzen oder Unstimmigkeiten gibt, dann lösen wir sie vorher.
Sie wählen einen anderen Weg: Sie haben die Erbschaftsteueränderung aus Bayern ins Konzept 21 übernommen und jetzt eingebracht. Was lese ich heute Morgen im „Handelsblatt“?
Bei den Unions-Finanzministern, die gestern zur
Finanzministerkonferenz von Bund und Ländern
zusammenkamen, wächst das Unbehagen gegen die
Erbschaftsteuerreform.
({20})
Also bitte: Wir streiten vorher, Sie streiten hinterher.
Wir streiten überhaupt nicht darüber, ob es sinnvoll
ist, die Unternehmensnachfolge steuerlich zu erleichtern.
Aber wir können sehr wohl über die Gegenfinanzierung
streiten. Wir wollen auch nicht darüber streiten, ob man
über eine Erhöhung der Dividendenbesteuerung reden
kann. Aber wir sollten darüber reden, ob sich eine Entlastung der kleinen und mittelständischen Unternehmen,
der Familienunternehmen bei der Erbschaftsteuer nicht
innerhalb der Ländersteuern gegenfinanzieren lässt.
Die Erbschaftsteuer ist eine Ländersteuer. Deshalb ist es
sinnvoll, dass sich die Länderkammer vorrangig damit
befasst.
Was bei dem Papier, über das Sie heute debattieren
wollen, herausgekommen ist, spricht Bände:
({21})
ein dreiseitiger Schnellschuss mit den üblichen Textbausteinen in Floskelform. Ganz am Ende wird die Bundesregierung in vier Spiegelstrichen aufgefordert, ein Konzept für niedrigere Steuersätze vorzulegen, eine
rechtsformneutrale Unternehmensbesteuerung darin einzubetten,
({22})
Einsparvorschläge für die Senkung der Steuersätze vorzulegen und die Kapitalismuskritik zu unterlassen.
({23})
Das ist alles, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Nach meiner Einschätzung klappt die Zusammenarbeit im Finanzausschuss ganz gut.
({24})
- Ich habe ihn gelesen, auch wenn es mir manchmal
schwer fällt, das zu lesen, was Sie zu Papier bringen.
({25})
Angesichts dieses Papiers frage ich mich - sicherlich
nicht nur ich, sondern auch die Menschen draußen im
Land -: Ist es Oppositionspolitikern eigentlich verboten,
mitzuwirken, eigene Vorschläge zu machen oder Konzepte zu entwickeln? Für mich ist Ihr Antrag ein Fetzen
Papier, der nur Floskeln enthält.
Frau Kollegin, bevor Sie nun vollends in Begeisterung ausbrechen, möchte ich Sie auf Ihre abgelaufene
Redezeit aufmerksam machen.
Eine letzte Bemerkung. In der „Westdeutschen Zeitung“ vom 16. April ist zu lesen:
Merkels liebstes Konzept: Konzepte einfordern. Ob
Körperschaftsteuer oder Lohndumping: Die Union
vollzieht eine ordnungspolitische Wende nach der
anderen. Ist das Taktik oder Unvermögen?
Egal was es ist, liebe Kolleginnen und Kollegen: Auf jeden Fall ist es zu wenig.
Ich danke Ihnen.
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Hartmut Schauerte, CDU/CSU-Fraktion.
Liebe Frau Frechen, da Sie für die gegenwärtig notwendigen Maßnahmen kein Konzept haben - die Koalition ist in diesem Punkt völlig zerstritten; ich komme
darauf noch zurück -, beschäftigen Sie sich mit der Vergangenheit, mit lang zurückliegenden Dingen, die - wie
wir heute wissen - nicht wirklich geholfen haben; denn
die wirtschaftliche und finanzpolitische Situation ist
nach wie vor katastrophal.
({0})
Die Steuerschätzung - auch in diesem Punkt ist Ihr
Verhalten interessant - weist ein zusätzliches Defizit in
den nächsten vier Jahren in Höhe von 66 Milliarden Euro aus.
({1})
Sie haben sich also für den Zeitraum von vier Jahren um
66 Milliarden Euro verschätzt. Sie sagen dazu, es liege
nicht an der Bundesregierung, sondern an den Schätzern.
({2})
Entschuldigung! Wo sind wir denn hier? Auf welcher
Basis wird denn geschätzt? Es wird auf Basis der Rahmendaten, die die Bundesregierung vorgibt, geschätzt.
Dazu gehören die Daten der Bundesregierung hinsichtlich des Arbeitsmarktes und des Wachstums.
({3})
Da sich die Bundesregierung schon seit Jahren jedes
Mal katastrophal verschätzt, stelle ich heute die Frage:
Ist das nur Pech oder ist das Absicht?
({4})
Meine Antwort ist: Sie verschätzen sich planmäßig, um
behaupten zu können, Sie hätten verfassungsmäßige
Haushalte.
({5})
Anschließend beschweren Sie sich bei den Schätzern,
dass Sie Ihre Zahlen korrigieren müssen.
({6})
Diese Art und Weise, mit den Zahlen umzugehen, ist absolut unseriös. Herr Poß, dass Sie sich so aufregen, zeigt,
dass Sie wissen, wie unseriös Sie arbeiten.
({7})
Zweite Bemerkung: Sie legen heute - Sie regieren
doch seit sechseinhalb Jahren - einen Antrag zur Steuervereinfachung vor. Was Sie selber machen können,
hätten Sie nicht in Ihren Antrag aufnehmen, sondern einfach nur umsetzen müssen.
({8})
Was Sie von anderen in diesem Antrag verlangen, ist
Unsinn. Sie können mit diesem Antrag nichts erreichen.
Er lenkt nur von Ihrer momentanen Schwäche und von
der Tatsache ab, dass Sie nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll.
Ich komme zu meiner dritten Bemerkung. Was sind
Jobgipfel eigentlich noch wert? Früher gab es einmal
den „Basta“-Kanzler.
({9})
Der war auch nichts wert. Dann wurde ein Jobgipfel
durchgeführt. Die Regierung hat zugesagt, dass sie etwas
macht.
({10})
Die Opposition hat zugesagt, dass sie mitwirkt.
({11})
Wir legen heute unseren Gesetzentwurf vor. Aber weil
Sie immer noch nicht wissen, was Sie wollen, legen Sie
keinen eigenen Gesetzentwurf vor.
({12})
In diesem Zusammenhang gibt es zwei sehr wichtige
Entwicklungen. Eine Entwicklung findet bei den Grünen
statt. Die Grünen haben uns bestätigt, dass das, was die
Bundesregierung bisher vorgelegt hat, völlig unseriös
und nicht finanzierbar ist. Die Grünen sind der Meinung,
man könne das nicht vorlegen, weil es nicht seriös gegenfinanziert ist.
({13})
Das ist die Entwicklung bei den Grünen.
Die SPD hat den Gesetzentwurf ebenfalls nicht vorlegen wollen - jetzt wird es spannend -, weil in der SPD
Tag für Tag der Druck wächst, dieses Programm nicht zu
verwirklichen.
({14})
Sie stehen auch inhaltlich zunehmend nicht mehr dahinter. Ich äußere hier die große Sorge, dass in der SPD die
totale Konfusion eintreten wird, wenn sie in NordrheinWestfalen - was vermutlich passiert - ihre Mehrheit verliert
({15})
und sich die Münteferings mit ihrer Kapitalismuskritik
bei diesem Gesetzgebungsvorhaben durchsetzen werden.
({16})
Ich habe die Sorge, dass der Kanzler seine Zusage,
die er der Oppositionsführung gemacht hat, nicht durchsetzen kann. Sie sind auf dem besten Wege, diese negative Entwicklung voranzutreiben.
({17})
Nun eine vierte Bemerkung, Thema „Erbschaftsteuer
und Kapitalismuskritik“. Im Zusammenhang mit der
Erbschaftsteuer wäre es zum Beispiel eine wirklich
vernünftige Maßnahme, den Verkaufsdruck und den Abwanderungsdruck von mittelständischen Unternehmern
und Unternehmen im Falle des Erbübergangs so zu verringern,
({18})
dass die von Ihnen so kritisierten Hedgefonds deutlich
weniger Aufgaben in Deutschland bekommen.
({19})
Das ist eine wirklich praktikable Maßnahme, mit der Arbeitsplätze erhalten werden, was ja unser oberstes Gebot
ist.
Ich weiß, was bei Ihnen in der Fraktion los ist. Bei
diesem Thema haben Sie noch keinen inneren Frieden
geschlossen. Die Zahl derer, die dieses Thema kritisieren
und sich damit nicht auseinander setzen wollen, wächst
stündlich. Ich garantiere: Es wird in den nächsten Wochen - es dauert drei Wochen, bis wir uns wieder mit
diesem Thema beschäftigen können,
({20})
und nicht eine Woche, Frau Frechen; diese drei Wochen
sind wieder verloren -, also nach der Landtagswahl, aus
Ihrer Fraktion eine Serie von Meldungen dazu geben,
dass man sich mit diesem Thema nicht mehr beschäftigen will. Ich warne vor dieser Korrektur. Dann haben Sie
sich endgültig blamiert und dem Standort Deutschland
und dem Fortbestand von Arbeitsplätzen und Unternehmen in unserem Land schweren Schaden zugefügt.
Eine letzte Bemerkung: Ich bitte darum, dass wir im
Zusammenhang mit der Körperschaftsteuerreform nicht
immer nur auf die 19 und die 25 Prozent schielen. Die
Unternehmensteuerbelastung in Deutschland ist nach
wie vor größer denn 40 Prozent.
({21})
- Natürlich. Haben Sie noch nie etwas von der Gewerbesteuer und vom Solizuschlag gehört? Können Sie nicht
rechnen? Rechnen Sie doch einmal: 25 plus 14 plus 3 ergibt eine Steuerbelastung von 42 Prozent.
({22})
Das ist die Unternehmensbelastung in Deutschland.
({23})
Wichtig und interessant, Frau Frechen, ist: Wegen der
hohen Gewerbesteuer - ({24})
- Die war bis 1998 sehr hoch, weil wir, als wir sie 1997
senken wollten, von Herrn Lafontaine und weiteren Ministerpräsidenten Ihrer Partei,
({25})
zum Beispiel von dem jetzigen Finanzminister Eichel,
daran gehindert worden sind, eine große Steuerreform
durchzusetzen.
({26})
Die ist hier im Bundestag verabschiedet und von Ihnen
gestoppt worden. Sie haben den deutschen Unternehmen, der deutschen Wirtschaft und den deutschen Arbeitnehmern fünf Jahre verspätet Steuersenkungen geliefert. Wir hätten das fünf Jahre vorher haben können,
nämlich beginnend ab 1997.
({27})
Das haben Sie verhindert; das ist schlimm.
Noch einmal zurück.
Zurück, Herr Kollege Schauerte, heißt in diesem Fall,
zum zügigen Ende zu kommen.
- Ja, Herr Präsident. - Die Belastung liegt nach wie
vor bei über 40 Prozent. Das ist im europäischen Maßstab immer noch entschieden zu hoch. Ich hoffe, dass Sie
beim Wahlergebnis in Nordrhein-Westfalen auch wegen
der Höhe der Steuerbelastung eine ganz niedrige Quote
zu erwarten haben.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/5448, 15/5450 und 15/5466 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offen-
sichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a und 29 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der projektbezogenen Mechanismen
nach dem Protokoll von Kioto zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über
Klimaänderungen vom 11. Dezember 1997 und
zur Umsetzung der Richtlinie 2004/101/EG
- Drucksache 15/5447 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Angelika Brunkhorst, Michael
Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Mehr Klimaschutz zu geringeren Kosten
durch nationale Projekte ermöglichen
- Drucksache 15/4948 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Ulrich Kelber für die SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute beginnt der Deutsche Bundestag einen Gesetzgebungsprozess, mit dem im Rahmen des europäischen Treibhausgasemissionshandels weitere Optionen
zum Klimaschutz ermöglicht werden sollen. Das ist eine
gute Nachricht, besonders für diejenigen deutschen Unternehmen, die am Emissionshandel teilnehmen; denn
zusätzliche Optionen wirken natürlich kostendämpfend.
Ganz konkret: Die im Gesetzentwurf vorgesehene Einführung der projektbezogenen Mechanismen des Emissionshandels, Clean Development Mechanism und Joint
Implementation, werden helfen, den Börsenpreis für
Emissionszertifikate zu senken.
Wir liegen in diesem Gesetzgebungsprozess übrigens
voll im Zeitplan, auch wenn die Opposition im Vorfeld
ritualisiert etwas anderes behauptet hat. Ich hoffe, dass
Sie das heute ein Stück weit korrigieren.
({0})
- Man muss nur nach Brüssel schauen, Frau Homburger,
um festzustellen: Noch kein einziges anderes Land der
Europäischen Union hat dort die nationale Umsetzung
gemeldet und in diesen Ländern gibt es keinen Bremsklotz Bundesrat mit einer CDU/CSU-Mehrheit.
Dieses neue Gesetz wird es deutschen Unternehmen
- beginnend in diesem Jahr - ermöglichen, Emissionsberechtigungen auch durch Maßnahmen in Entwicklungsländern zu erwerben - Stichwort: Clean Development Mechanism -, und ab 2008 sind Maßnahmen in
Industriestaaten durch Joint Implementation möglich.
Der Gesetzentwurf zeigt, dass es - trotz anders lautender
Behauptungen der Opposition im Vorfeld der Beratungen; Sie haben ja Forderungen gestellt, die gar nicht europäisches Recht betreffen - tatsächlich um eine Einszu-eins-Umsetzung der europäischen Richtlinie in nationales Recht geht.
Wir wollen kleinen und mittelständischen Unternehmen die Option der projektbezogenen Mechanismen eröffnen. Als einen möglichen Weg hat die Kreditanstalt
für Wiederaufbau, die Bank des Bundes, einen Klimaschutzfonds aufgelegt. Hier können sich auch kleine
und mittelständische Unternehmen beteiligen; denn man
benötigt kein eigenes technisches oder juristisches
Know-how, um sich über den Klimaschutzfonds an Projekten im Ausland zu beteiligen. Der Klimaschutzfonds
investiert das Geld seiner Anteilseigner in solche Projekte. Die gewonnenen Zertifikate gibt der Fonds dann
an seine Eigner aus. Einfacher geht es nicht. Zuletzt
rechnete die Bank mit Kosten von 5 Euro pro Zertifikat
für eine Tonne CO2-Emissionen. Dieser Preis ist deutlich
geringer, als es die aktuellen Börsenpreise sind.
Clean Development Mechanism und Joint Implementation haben jeweils ihre eigenen Chancen und Grenzen.
Diese muss man benennen. Vor allem hinsichtlich des
Clean Development Mechanism ist die Einbindung der
Entwicklungs- und Schwellenländer in den Klimaschutz eine große Chance. Wenn man dabei auf die Nutzung von Senken verzichtet, wie es die Europäische
Union entschieden hat - hier ist sie mit der Koalition einer Meinung -, kann ein echter Technologietransfer in
die Entwicklungs- und Schwellenländer stattfinden. Das
könnte ein Baustein für eine Strategie sein, die Entwicklungs- und Schwellenländer davon zu überzeugen, selber
konkrete Klimaschutzziele zu übernehmen und damit
der Bush-Administration in den USA den wichtigsten
Vorwand zu nehmen, sich nicht am internationalen Klimaschutz zu beteiligen.
Es gibt aber auch Grenzen für die projektbezogenen
Mechanismen. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass
die Europäische Union nicht ihre gesamten Klimaschutzanstrengungen durch Maßnahmen außerhalb der
Europäischen Union erfüllen sollte. Dann ginge nämlich
die Innovationskraft verloren, in Europa selbst neue
Technologien zu entwickeln. Genau diese Technologien
sind es aber, die unserer Industrie Wettbewerbsvorteile
auf den Weltmärkten erschaffen
({1})
und sogar, wenn wir auf Deutschland schauen, in anderen Staaten der Europäischen Union. Außerdem würde
die Glaubwürdigkeit der Industriestaaten leiden, wenn
wir nicht zu Hause beweisen würden, dass Wohlstand
und Klimaschutz zusammengehören und sich nicht widersprechen.
({2})
Deswegen muss die EU den Einsatz der projektbezogenen Mechanismen auf einen bestimmten Anteil der zu
erbringenden Emissionsminderungen begrenzen. Dieser
Anteil sollte möglichst in der ganzen EU einheitlich
sein.
Positive Folge einer solchen gemeinsamen europäischen Regelung ist: Staaten wie Deutschland, die bereits
einen Großteil ihrer Emissionsminderungen erbracht haben, können für ihre restlichen Maßnahmen relativ unbegrenzt auf die projektbezogenen Mechanismen zurückgreifen. Staaten wie zum Beispiel Italien, die noch weit
vom verbindlich eingegangenen Klimaschutzziel entfernt sind, müssten dagegen einen Großteil der Emissionsminderungen im eigenen Land erbringen und auch das ist unsere Hoffnung - auf deutsche Technologien, die wir als Schrittmachernation entwickelt haben,
zurückgreifen.
Im Gesetzentwurf ist die Frage der Begrenzung der
projektbezogenen Mechanismen noch nicht geregelt.
Darüber werden wir sicherlich im Rahmen der Fachberatungen sprechen müssen. Der offenen Beratung über Änderungen im Gesetzentwurf stehen wir positiv gegenüber.
Dazu zählt auch die Frage der Zulässigkeit nationaler Projekte im Rahmen von Joint Implementation.
Darum geht es ja im Antrag der FDP, über den wir heute
auch beraten. Ich habe Sympathie für diesen Vorschlag,
da er durchaus Potenzial für Vereinfachungen bietet. Im
Rahmen der EU ist darüber schon diskutiert worden. Die
EU hat beschlossen, über diese Frage in näherer Zukunft
zu entscheiden. Allerdings tendiere ich auch hier zu einer europaweit einheitlichen Lösung. Das wäre das
Beste für unsere Unternehmen, insbesondere für die Unternehmen, die europaweit agieren; denn bei einer rein
nationalen Umsetzung kämen weitere Probleme zu den
ohnehin vorhandenen Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung nationaler Projekte hinzu. Man müsste
nicht nur auf die Doppelzählung achten, sondern, wenn
wir nur national umsetzen, müssten wir neben dem EUEmissionshandel auch ein Gutschriftensystem schaffen.
Daher möchte ich vonseiten der SPD-Fraktion ein Angebot zum Antrag der FDP-Fraktion machen: Lassen Sie
uns diese Probleme in Kürze in einem überfraktionellen
Expertengespräch behandeln - wir sind ja auch von der
Kreditanstalt für Wiederaufbau angesprochen worden -,
damit wir schauen können, ob wir zu einer einheitlichen,
einvernehmlichen Lösung kommen.
Zusammenfassend: Die projektbezogenen Mechanismen sind die richtige Ergänzung zu den schon umgesetzten Teilen des Emissionshandels. Wir sollten den heute
beginnenden Gesetzesprozess daher zügig abschließen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marie-Luise Dött,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss
mich schon sehr wundern: Vor exakt drei Wochen noch
hat Herr Kelber die Plenardebatte um die Umsetzung der
EU-Verbindungsrichtlinie als Wahlkampfgetöse der
Union abgetan. Dabei handelt es sich um ein bedeutendes Thema: Durch die Verbindungsrichtlinie wird eine
Brücke zwischen dem Emissionshandel und den internationalen Klimaschutzbemühungen gebaut. Es wird Zeit,
dass diese Instrumente ineinander greifen und sich sinnvoll ergänzen können. Deswegen haben wir vor drei Wochen die Bundesregierung aufgefordert, die entsprechende Gesetzgebung möglichst schnell vorzulegen und
auf den Weg zu bringen. In der Plenardebatte hierzu hat
sich die SPD-Fraktion leider jeglicher inhaltlichen Aussage zum Thema verweigert. Vielleicht waren Sie einfach noch nicht so weit. Das Versprechen des SPD-Vertreters in der Debatte vor drei Wochen, man könne seine
Positionen hierzu auf seiner Internetseite nachlesen, war
jedenfalls eine leere Floskel. Ich habe dort nachgesehen,
Herr Kelber: Zur Umsetzung der Verbindungsrichtlinie
und dem Projekt-Mechanismen-Gesetz findet sich auf
Ihrer Homepage gar nichts - keine einzige Position oder
Pressemitteilung.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kelber?
Nein, in diesem Falle nicht.
Heute scheint sich die Haltung der SPD-Fraktion um
180 Grad gedreht zu haben: Sie sind unserer Forderung
nachgekommen und haben zusammen mit den Grünen
einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Verbindungsrichtlinie vorgelegt. Dazu war heute auch ein Redebeitrag der SPD zu hören. Beides begrüße ich ausdrücklich. Der Gesetzentwurf ist taufrisch: Gerade einen
Tag liegt er dem Bundestag vor. Eine inhaltliche Stellungnahme abzugeben wäre aufgrund der kurzfristigen
Vorlage nicht angebracht. Die Komplexität des Themas
gebietet es, sich ausführlicher als nur einen Tag mit dem
Entwurf auseinander zu setzen.
Ich möchte mich daher auf grundsätzliche Erwägungen beschränken. Zum einen werden wir Sie auch in diesem Gesetzgebungsverfahren immer wieder dazu anhalten, saubere gesetzgeberische Arbeit zu leisten; es ist
unsere Aufgabe als Opposition, darauf zu achten. Die
Vergangenheit lehrt uns, wie wichtig dieser Aspekt ist:
Unklare Definitionen und Verweisungen, wie sie zum
Beispiel im Zuteilungsgesetz enthalten sind, sollten
nicht noch einmal passieren. Ich erinnere hier nur an die
Optionsregel, die zwar Arbeitsplätze bei der Anwaltschaft und den Gerichten schafft, in Sachen Rechtsklarheit aber glatt ein Fehlgriff ist.
Zum anderen werden wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion darauf achten, dass die Anerkennung der
Zertifikate möglichst hier in Deutschland gebunden
wird, damit keine Ausweichbewegungen ins Ausland
stattfinden. Natürlich besteht die Gefahr, dass die Zertifikate vor allem in den Mitgliedstaaten umgetauscht
werden, die die schlankesten und effizientesten Systeme
anbieten; die Zertifikate können ja problemlos in
Deutschland verwendet werden, egal wo sie umgetauscht wurden. Ein solcher Trend würde sich zuungunsten der kleinen und mittelständischen Unternehmen auswirken, die nicht europaweit aufgestellt sind. Große
Firmen haben einen oder mehrere Sitze im europäischen
Ausland und können den Umtausch dort vornehmen.
Unternehmen, die nur in Deutschland ansässig sind, sind
allerdings an das hiesige System gebunden. Um solche
Umgehungsbewegungen gar nicht erst aufkommen zu
lassen, gibt es verschiedenste Möglichkeiten:
Erstens. In Deutschland dürfen die Kosten des Anerkennungsverfahrens nicht höher werden als in den anderen Mitgliedstaaten. Das bedeutet auch, dass die behördlichen Kosten nicht eins zu eins auf den Antragsteller
umgewälzt werden können.
Zweitens. Die Genehmigungskriterien müssen sich
eng an die europäische Richtlinie anlehnen und europaweit harmonisiert werden. Damit meine ich, dass von zusätzlichen Anforderungen, die weder nach europäischem
noch nach internationalem Recht vorgesehen sind, abgesehen werden muss.
Drittens. Das Verfahren darf nicht zu aufwendig und
langwierig sein. Das bedeutet, dass vor allem mit Parallel- und Vorregistrierungsverfahren zurückhaltend umgegangen werden sollte.
Wenn in dem Gesetzentwurf diesen Punkten Beachtung geschenkt wird, dann haben wir die gute Gelegenheit, die Anerkennung von internationalen Zertifikaten
in Deutschland reibungslos zu gestalten. Damit würden
wir den internationalen Klimaschutz nach Deutschland
holen und fest verankern.
Vielen Dank.
({0})
Da die Kollegin Dött ihre Redezeit in vorbildlicher
Weise unterboten hat, gebe ich jetzt dem Kollegen
Kelber die Gelegenheit zu einer kurzen Kurzintervention, auf die sie gegebenenfalls, wenn nötig, reagieren
kann. Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - In der Debatte vor drei
Wochen zum gleichen Thema habe allerdings auch ich
meine Redezeit unterschritten, und zwar um 16 Minuten
und 40 Sekunden. Wir haben damals keine ausführliche
Auseinandersetzung geführt, da nicht einmal 1 Prozent
der CDU/CSU-Fraktion bei der Debatte über ihren eigenen Antrag anwesend war.
Der Vorwurf an mich lautete ja, dass ich gesagt hätte,
die Positionen der SPD könne man erhalten, und dass
Sie sie heute Morgen auf meiner Website nicht gefunden
haben. Ich werde natürlich noch mal mit meinem Webmaster über die Übersichtlichkeit reden, aber ich finde,
ein Link auf der ersten Seite ist relativ übersichtlich.
Sie hätten dort die Reden zum Thema vom
15. April 2005 - ich gebe Sie Ihnen nachher markiert -,
vom 24. September 2004, vom 28. Mai 2004 und vom
16. Januar 2004 finden können. Ich habe heute Morgen
dann einfach aufgehört, sie auszudrucken. Am Ende der
Debatte gebe ich sie Ihnen gerne. Dann können Sie sich
noch einmal überzeugen. Ich bin auch immer gerne bereit, meine Website zu erläutern.
Vielen Dank.
({0})
Dem Kollegen Küster wird jetzt vielleicht einleuchten, warum seine Anmeldung einer dringlichen Kurzintervention bei mir nicht sofort auf spontane Zustimmung
gestoßen ist.
Nun erteile ich dem Bundesminister Jürgen Trittin das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Dött,
ich finde, Sie sollten keine Kontroversen führen, wo es
keine gibt.
({0})
Wir alle sind dafür, dass Klimaschutz effizient und
kostengünstig betrieben wird. Was wir heute vorlegen,
ist ein weiteres Instrument dafür, diese Kosten zu optimieren. Was das betriebswirtschaftlich bedeutet, kann
man an Folgendem erkennen: Die niedersächsischen Unternehmensverbände haben das in 50 Anlagen, die am
Emissionshandel teilnehmen, untersucht und dabei festgestellt, dass es mit den heutigen Techniken in diesen
Anlagen ein Minderungspotenzial für Treibhausgase von
25 Prozent gibt. Dies würde pro Tonne deutlich unter
10 Euro kosten. Damit läge man unter dem Preis, der
zurzeit an der Strombörse im Rahmen des Emissionshandels gezahlt werden muss. Das zeigt doch, dass wir
alle gemeinsam aufhören sollten, Klimaschutz als eine
Last zu betrachten. Wir sollten stattdessen dazu übergehen, Klimaschutz als eine Chance zu betrachten, Kosten
einzusparen und unsere Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.
({1})
Dafür gibt uns das, was wir heute hier vorgelegt haben - das Gesetz zu Joint Implementation und zum
Clean Development Mechanism -, ein weiteres Instrument in die Hand. Indem Unternehmen in klimafreundliche Techniken im Ausland investieren, können sie ihre
Emissionsminderungen dort erbringen, und zwar häufig
zu geringeren Kosten als hier. Die Voraussetzung ist klar
- sie sind übrigens auch international vereinbart; das
steht schon im Protokoll, das Sie ja mit ratifiziert
haben -: Es muss sich dabei um zusätzliche Emissionsminderungen handeln; es darf also nicht einfach eine
Fortschreibung im Sinne von Business as usual sein. Wir
haben - übrigens auch international - zum Beispiel
Atomprojekte ausgeschlossen, weil wir dann den Klimaschutz mit unglaublichen Mengen strahlender Altlasten
erkaufen müssten. Auch dies wollten wir alle nicht.
Der Gewinn dieser flexiblen Instrumente ist ein dreifacher: Es werden Treibhausgase vermieden, die Unternehmen sparen Kosten und Entwicklungsländer profitieren - das ist für den Zusammenhang von Umwelt und
Entwicklung von zentraler Bedeutung - von den Investitionen in moderne Technologien. Das ermöglicht Ländern wie China, Indien oder Brasilien, vielleicht eine andere Entwicklung zu durchlaufen, als wir es getan haben.
Sie gehen vielleicht nicht den Umweg über eine ineffiziente, hochgradig Treibhausgase emittierende Industrialisierung, sondern nutzen gleich effiziente, Ressourcen
sparende und klimaschonende Technologien.
Genau darüber - deshalb passt der Gesetzentwurf
heute sehr gut in die Debatte - werden wir ab Montag im
Wahlkreis des Kollegen Kelber, in Bonn, mit Vertretern
von über 170 Ländern diskutieren. Wir werden die Frage
aufwerfen, was nach Kioto, also nach 2012, kommen
soll.
Wenn wir über Clean Development Mechanism sprechen, müssen wir uns über eines besonders im Klaren
sein: Das, was wir heute verabschieden, ist auch ein
Faustpfand dafür, dass der Klimaschutzprozess über das
Jahr 2012 hinaus weitergeht. Wir müssen verhindern,
dass die globale Erwärmung um mehr als 2 Grad steigt.
Darüber waren sich alle Europäer einig. Sie haben beim
Frühjahrsgipfel gemeinsam festgestellt, dass die Industrieländer bis zum Jahre 2020 zwischen 15 und 30 Prozent ihrer CO2-Emissionen im Vergleich zu 1990 einsparen müssen, um die schadhafte Erwärmung zu
vermeiden. Aus diesem Grunde muss der Prozess nach
2012 weitergehen.
Warum ist CDM, sind die Maßnahmen zur sauberen
Entwicklung etwas Besonderes? Wenn der Klimaschutzprozess nicht fortgesetzt wird, dann gibt es auch keinen
Anlass mehr für Investitionen in moderne Technologien.
Das gilt gerade für die Entwicklungsländer. Deswegen
ist das Signal von heute gerade mit Blick auf das, was
wir gemeinsam tun wollen - wir haben die Beschlüsse
immer in einem breiten Konsens gefasst -, so wichtig.
Wir wollen dafür sorgen, dass die Bundesrepublik
Deutschland eine Vorreiterrolle beim Klimaschutz einnimmt. Der heute eingebrachte Gesetzentwurf enthält
die richtigen Instrumente, zum Nutzen des Weltklimas,
zum Nutzen der hiesigen Unternehmen und auch zum
Nutzen der Entwicklungsländer.
({2})
Eigentlich war ich am Ende meiner Rede, aber dann
könnte Frau Dött keine Frage mehr stellen.
Ich würde das der Kollegin Dött wegen der eingesparten Redezeit noch zubilligen, wenn Sie damit einverstanden sind.
Ja, gerne.
Herr Minister, ich hätte auch eine Kurzintervention
machen können.
Auch darauf hätten Sie eine Antwort bekommen.
Da Sie uns als Opposition angesprochen haben,
möchte ich ausführen: Gerade die Opposition hat sich
immer für flexible Instrumente ausgesprochen - Sie erinnern sich bestimmt daran -; denn es ist der Umwelt
egal, wo Treibhausgase eingespart werden. Diesen Satz,
den Sie gerade verwendet haben, haben wir schon immer
verwendet.
Ich erinnere Sie aber gern an die von Ihnen ursprünglich vorgesehene Deckelung, die wir nie gewollt haben.
Wir sind gern bereit, konstruktiv an der Umsetzung der
EU-Verbindungsrichtlinie mitzuwirken. Die entscheidenden Punkte habe ich genannt. Ich will sie gern wiederholen:
Erstens. In Deutschland dürfen die Kosten des Anerkennungsverfahrens nicht höher werden als in den anderen Mitgliedstaaten. Das bedeutet auch, dass die behördlichen Kosten nicht eins zu eins auf den Antragsteller
abgewälzt werden können.
Zweitens. Die Genehmigungskriterien müssen sich
eng an die europäische Richtlinie anlehnen und europaweit harmonisiert sein. Damit meine ich, dass von zusätzlichen Anforderungen, die weder nach europäischem
noch nach internationalem Recht vorgesehen sind, abgesehen werden muss.
Drittens. Das Verfahren darf nicht zu aufwendig und
langwierig sein. Das bedeutet, dass vor allem mit Parallel- und Vorregistrierungsverfahren zurückhaltend umgegangen werden muss.
Vielen Dank.
Liebe Frau Dött, ich glaube, wir können uns über
viele Punkte verständigen. Sie sind auf die Frage der
Deckelung eingegangen; dazu möchte ich zwei Bemerkungen machen.
In wessen Interesse ist es eigentlich, dass es auch in
Ländern der Europäischen Union einen bestimmten Anteil selbst erbrachter Klimaschutzmaßnahmen gibt? Sie
haben völlig Recht: Für das Weltklima ist es egal, wo
CO2 eingespart wird.
({0})
- Kurzfristig ist das egal. - Aber ist es eigentlich im
Sinne der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie,
die ja unter dem Lob des ganzen Hauses im Bereich des
Klimaschutzes viel Vorleistung erbracht hat, die investiert hat, wenn manche Länder die gesamten Kosten für
den Klimaschutz komplett externalisieren, das heißt auf
andere Bereiche übertragen können? An Ihrer Stelle
würde ich noch einen Moment darüber nachdenken. Ich
würde hier zu einer differenzierten Position neigen und
halte den Ansatz, den wir mit der Kommission vereinbart haben, nämlich abzuwarten, bis 8 Prozent erreicht
sind, und dann zu schauen, wie es weitergeht, für richtig,
auch wenn sich zurzeit viele Entwicklungsländer sehr
darüber freuen, dass Spanien zur Erreichung seiner Klimaschutzziele etwa eine halbe Milliarde Euro für CDMMaßnahmen vorgesehen hat. Ob das Geld allerdings
fließen wird, weiß ich nicht.
Zweite Bemerkung, zu Vergangenheit und Kontroversen: Sie haben von unklaren Definitionen gesprochen.
Ich erinnere Sie daran, dass der Gesetzentwurf für das
Zuteilungsgesetz, den das Bundesumweltministerium
hier vorgelegt hat, eine Optionsregelung nicht enthalten
hat. Woran ich mich nicht erinnere, ist, dass Sie das im
parlamentarischen Verfahren heftig angegriffen hätten.
Sie waren im Gegenteil der Auffassung, dass einem entsprechenden Wunsch des Bundesverbandes der Deutschen Industrie nachgekommen werden sollte. Insofern
wäre ich jetzt ein bisschen vorsichtig. Ich greife aber Ihr
Argument, dass das schwierig sei, gerne auf und verspreche Ihnen: Wir werden bei einem neuen Zuteilungsgesetz diese Regel jedenfalls nicht vorsehen. Wenn Sie als
Parlament, als Hohes Haus, eine andere Auffassung dazu
haben sollten, so hätten wir das dann natürlich zu exekutieren. Aber machen Sie uns nicht für Dinge verantwortlich, zu denen wir dezidiert eine andere Meinung gehabt
haben.
Vielen Dank, Frau Dött.
({1})
Ich erteile das Wort der Kollegin Birgit Homburger,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten heute über einen Gesetzentwurf, der das zentrale
Scharnier zwischen dem internationalen und dem nationalen Klimaschutz sein wird, nämlich über die Verbindung des Emissionshandels mit den flexiblen Instrumenten des Kioto-Protokolls. Hier - das haben Sie, Herr
Trittin, in Ihrer Rede auch heute wieder gemacht - tragen Sie die marktwirtschaftlichen Instrumente seit
neuestem wie eine Monstranz vor sich her, nämlich seit
Sie nicht mehr anders können. Wenn man dann allerdings schaut, was Sie tatsächlich tun, kommt man zu
dem Ergebnis, dass Sie bisher die Nutzung der marktwirtschaftlichen Mechanismen, der flexiblen Elemente
des Kioto-Protokolls, die es möglich machen, auch im
Ausland erzielte Emissionsminderungen im Inland angerechnet zu bekommen, verhindert haben. Mit diesem Gesetzentwurf geht es genauso weiter.
({0})
Das kann man an verschiedenen Beispielen deutlichen machen. Herr Kelber, Sie haben gesagt, noch kein
anderes Land habe das national umgesetzt. Die anderen
Länder haben auch nicht die gleichen Probleme wie wir.
Sie wissen ganz genau, dass nach dem Kioto-Protokoll
bereits seit Mitte 2000 die Möglichkeit besteht, Joint
Implementation und CDM einzusetzen, diese flexiblen
Mechanismen zu nutzen. Andere Länder tun das. Die haben längst die Voraussetzungen dafür geschaffen. Nur
Deutschland tut das nicht. Deswegen sind wir so weit
zurück und deswegen ist die Kritik der Opposition, dass
man hier viel schneller hätte handeln müssen, wenn man
tatsächlich etwas für den Klimaschutz tun will, eben
doch richtig.
({1})
Ich freue mich, dass der Gesetzentwurf jetzt nach sieben Monaten endlich vorliegt. Das ist aber auch schon
alles. Schauen wir einmal genauer hin! Der Minister hat
gesagt, wir erreichen damit eine Reduktion der Treibhausgasemissionen bei gleichzeitiger Verminderung der
Kosten für die Unternehmen und wir erreichen einen
Technologietransfer in Entwicklungsländer. Was er vergessen hat, hinzuzufügen, ist, dass wir gleichzeitig
Chancen für den Export von Technologien im Zusammenhang mit erneuerbaren Energien aus Deutschland in
diese Länder eröffnen. All das ist damit verbunden.
Wenn man sich die Richtlinie genau anschaut, dann
stellt man fest, Herr Trittin, dass die Spielräume, die uns
die Richtlinie in Deutschland lässt, mit dem Gesetzentwurf, den Sie heute vorgelegt haben, wieder nicht genutzt werden können.
({2})
- Nein, ich will es Ihnen gerne sagen. Herr Kelber, Sie
selber haben die nationalen Aktivitäten angesprochen.
Wir als FDP haben einen Antrag vorgelegt. Sie wissen
- alle Experten sagen Ihnen das -: Wenn Deutschland
Gast- und Investorland zugleich ist, dann braucht es
keine weitere europarechtliche Grundlage. Lassen Sie
uns doch diese riesigen Emissionsminderungspotenziale
in Deutschland, die beispielsweise im Gebäudebestand
liegen, um Himmels willen endlich nutzen, indem wir
diese Mechanismen hier zulassen. Diese Forderung haben wir an Sie. Ich danke Ihnen, Herr Kelber, dass Sie
bereit sind, mit uns darüber zu sprechen; der Minister ist
es bisher nicht.
({3})
Joint-Implementation-Projekte sind ohne Möglichkeit der Verlängerung bis 2012 begrenzt. Das heißt, angesichts eines Entwicklungsvorlaufs, der dazu führt,
dass eine Realisierung von heute ins Auge gefassten Projekten überhaupt erst in den Jahren 2009 oder 2010 möglich ist, bedeutet diese Befristung eine massive Behinderung von Investitionen in diesem Bereich. Ein anderes
Beispiel: Herr Minister, Sie haben gerade so sehr betont,
dass wir internationale Abkommen umsetzen. Warum
um Himmels willen lassen Sie dann Senkenprojekte
nicht zu? Das ist doch in Marrakesch vereinbart worden.
({4})
Nur noch ein Beispiel, Herr Präsident, dann komme
ich zum Ende: Es sind Zustimmungsvoraussetzungen in
einige Teile des Gesetzentwurfs hineingeschrieben worden. Wenn ich sehe, dass für eine CDM-Maßnahme in
der guten deutschen Art und Weise, mit der wir vorgehen, eine UVP, also eine Umweltverträglichkeitsprüfung, im Ausland vorgeschrieben werden soll,
({5})
dann kann ich nur sagen: Eine bessere Idee, Projektträger abzuschrecken, hätte Ihnen beileibe nicht einfallen
können, Herr Minister.
({6})
Abschließend: Wir brauchen einen Klimaschutzprozess, der über das Jahr 2012 hinausreicht. Wenn Sie auch
andere Länder überzeugen wollen, beispielsweise die
USA, dann wäre es gut, wenn die Umsetzung dies KiotoProtokolls funktionierte. Wir müssen die ökonomischen
und ökologischen Vorteile nutzen. Mit dem Gesetzentwurf, den Sie heute vorgelegt haben, werden Sie dem in
keiner Weise gerecht. Mit dem, was in diesem Entwurf
an Bürokratie enthalten ist, bremsen Sie, statt den Klimaschutz zu fördern. Ich hoffe sehr, dass es uns in den
Beratungen im Ausschuss und im Parlament gelingt,
dies zu ändern, um diese Mechanismen mit einem guten
Gesetz tatsächlich nutzen zu können.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Wilfried Schreck, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der letzten
Debatte zum Thema Emissionshandel haben wir uns am
15. April mit der Forderung zur Umsetzung der EULinking-Directive, also der so genannten Verbindungsrichtlinie, auseinander gesetzt. Heute liegt uns der Entwurf zu einem Projekt-Mechanismus-Gesetz vor und wir
können nun zum Inhalt kommen.
Dazu aus meiner Sicht einige Gedanken: Der Emissionshandel ist durch die Verbindung ökologischer
Forderungen und ökonomischer Anreizsysteme nach
vorherrschender wissenschaftlicher Meinung die wirkungsvollste Methode des Klimaschutzes - wenn er
denn funktioniert. Voraussetzung ist, dass die Regelwerke des europäischen Emissionshandelssystems in nationales Recht umgesetzt werden. Genau dabei sind wir
im Moment. Wir komplettieren diese Umsetzung nach
dem Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz und dem Gesetz zum Nationalen Allokationsplan mit dem Gesetz zur
Einführung der so genannten projektbezogenen Mechanismen.
Wir erfüllen damit auch eine Forderung der deutschen
Wirtschaft. Das Gesetz bietet der Wirtschaft die Chance,
anrechnungsfähige Klimaschutzmaßnahmen zunächst in
Entwicklungsländern und ab 2008 auch in anderen Industriestaaten in Investitionsprojekten zu realisieren.
Wie wir alle wissen, gibt es dazu schon eine umfangreiche Liste bei der Dena. Wir sollten uns also beeilen. Es
könnte bald losgehen. Dabei ist eine breite Palette von
technischen Lösungen denkbar.
Ich möchte mich heute aufgrund der knapp bemessenen Redezeit auf einen der wichtigsten Bereiche konzentrieren. Energieerzeugungsanlagen auf Basis fossiler
Rohstoffe, also Stein- und Braunkohle, Öl und Gas,
werden, realistisch betrachtet, noch lange Zeit den
Schwerpunkt der Stromerzeugung bilden, erst recht im
globalen Maßstab.
Klimaschutz ist ein globales Problem. Also lohnt es
sich, sich mit dem großen Emissionspotenzial insbesondere der Kohle auseinander zu setzen. Gerade dieser
große Anteil bietet große Chancen, mit neuer Technik
hier in Deutschland, aber eben durch die Wirkung der
projektbezogenen Mechanismen auch im Ausland große
Beiträge zur Klimaverbesserung zu erbringen. Das wird
hier in Deutschland einen Modernisierungsschub und
damit einen Investitionsschub auslösen, den wir uns
doch hoffentlich alle schnellstmöglich wünschen.
({0})
Genauso wichtig ist das auch im Ausland. Wenn wir
es geschickt anstellen, bietet uns dieser Weg gewaltige
Chancen in einem klassischen deutschen Kompetenzfeld, dem Maschinen- und Anlagenbau. Die Projekte
in Deutschland führen in einem hohen Grad zu nationaler Wertschöpfung. Aber auch die durch das Gesetz initiierten Investitionen im Ausland bieten die Möglichkeit,
deutsche Ingenieurleistungen und wichtige Komponenten zu exportieren.
({1})
Daran hängt eine große Zahl zukunftsfähiger Arbeitsplätze in unserem Land. Dies gilt natürlich neben dem
konventionellen Kraftwerksanlagenbau auch für Solarund Windenergieanlagen.
({2})
Nicht umsonst sind wir auch da Weltmeister. Wenn ich
die Betriebsrätekonferenz am Mittwoch hier in diesem
Hause Revue passieren lasse, dann stelle ich fest, dass
gerade die Kollegen aus dem Maschinen- und Anlagenbau große Erwartungen in unsere Aktivitäten setzen, um
einen solchen Erneuerungsprozess in Gang setzen zu
können.
({3})
Natürlich spielen bei diesem Modernisierungsprogramm auch Kosten und Effizienz eine große Rolle. Es
lohnt nämlich nicht, aus bestehenden Anlagen mit viel
Geld die letzten Prozentpunkte beim Wirkungsgrad herauszuquetschen. Die letzten Prozentpunkte sind immer
die teuersten. Aber auch dieses Problem wird ein funktionierender Emissionshandel lösen; denn dann gilt nicht
mehr „Klimaschutz - koste es, was es wolle“, vielmehr
gilt, wo und wie er am wirkungsvollsten und am kostengünstigsten zu haben ist.
Noch eine Bemerkung zu der so genannten Exportquote, also der Frage, wie viele Maßnahmen man außerhalb Deutschlands realisieren darf. Ich denke, wir sollten
keinen Klimaschutzisolationismus beginnen und so tun,
als wären wir auf der Insel der Glückseligen. Ebenso
sollte - derzeit sind CO2-Senken noch ausgeschlossen zumindest die Möglichkeit von Projekten zum Beispiel
zur Vermeidung von Bodenerosion bzw. Wüstenbildung
zugelassen werden. Im Übrigen halte ich es für einen
Nachteil, dass die Joint-Implementation-Maßnahmen
erst ab 2008 möglich sein werden. Hier begrenzt uns in
diesem Fall das geltende EU-Recht.
Abschließend: Hinter dem Emissionshandel und hinter den projektbezogenen Maßnahmen steht eine gute
Idee. Der Gesetzentwurf ist etwas komplex geraten.
Vielleicht gelingt uns in der parlamentarischen Beratung, auch mit Unterstützung der Beteiligten, eine sinnvolle Verschlankung. Frau Homburger, mein Kollege
Kelber hat Ihnen schon zugesagt, dass wir Ihren Antrag
prüfen werden.
({4})
Auch ich halte ihn für sinnvoll. Insofern könnten wir
auch auf diesem Feld zügig vorankommen. Ich wünsche
uns eine zielführende und vor allem zügige Beratung.
Vielen Dank.
({5})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Roland Dieckmann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem
heute hier vorliegenden Gesetzentwurf zur Ergänzungsrichtlinie für flexible Mechanismen debattieren wir nach
dem Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz und dem Zuteilungsgesetz das dritte Gesetz zur Umsetzung des
Emissionshandels in Deutschland. Durch die Nutzung
der flexiblen Mechanismen des Kioto-Protokolls wird es
den am Emissionshandel beteiligten Unternehmen ermöglicht, ihre Klimaschutzanstrengungen kosteneffizienter und flexibler zu gestalten.
Hintergrund der flexiblen Mechanismen ist, dass es
im Hinblick auf den ökologischen Effekt völlig egal ist,
wo klimaschädliche Treibhausgase verursacht oder verringert werden. Deshalb ist es sinnvoll, Klimaschutzmaßnahmen dort durchzuführen, wo diese zu den geringsten Kosten möglich sind oder,
({0})
anders ausgedrückt, wo mit den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln eine möglichst große Menge
klimaschädlicher Treibhausgase vermieden werden
kann. Dies ist nun einmal vor allem in den Schwellenund Entwicklungsländern unserer Erde möglich.
({1})
Wir, die Union, haben die Bundesregierung wiederholt aufgefordert, hierfür endlich die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Zuletzt wurde
im April dieses Jahres ein Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu diesem Thema im Plenum debattiert.
Nun hat die rot-grüne Bundesregierung bzw. Sie, Herr
Trittin, endlich einen Gesetzentwurf erarbeitet. Dabei ist
die dafür erforderliche EU-Richtlinie bereits im Oktober
letzten Jahres in Kraft getreten. Die Umsetzung hätte
also viel schneller erfolgen können, ja müssen.
({2})
Hierdurch hätte nicht zuletzt ein erheblicher Beitrag zu
mehr Planungssicherheit bei den betroffenen Unternehmen geleistet werden können.
Die EU-Richtlinie selbst sieht im Gegensatz zu Ihrem
ursprünglichen Gesetzentwurf keine Grenzwerte für die
Anrechnung von Maßnahmen aus flexiblen Mechanismen vor. Ich halte dies auch für richtig und bin froh, dass
die Europäische Union die restriktive Haltung des ursprünglichen Entwurfs nicht fortgeführt hat.
({3})
Auch der heute vorliegende Gesetzentwurf enthält
keine Grenze für die Anrechnung der flexiblen Mechanismen. Damit widersprechen sowohl die Europäische
Kommission als auch die Bundesregierung ganz klar der
Auffassung, die die SPD-Bundestagsfraktion in der Debatte im November 2003 vertreten hat.
({4})
Damals haben Sie - das konnte ich nachlesen - nämlich
noch gesagt, dass eine völlige Freigabe bei den flexiblen
Mechanismen das Ende des Klimaschutzes bis 2012
wäre. Mit dieser Auffassung sind Sie inzwischen allein.
Vielleicht haben Sie aber auch dazugelernt, was Sie ehren würde, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD.
({5})
Die Vorteile der flexiblen Mechanismen liegen auf
der Hand: Sie schaffen mehr Kosteneffizienz und Flexibilität zur Erreichung von Klimaschutzzielen und senken
den Preis der Zertifikate deutlich. Sie fördern den Technologietransfer in Schwellen- und Entwicklungsländer
und erhöhen dadurch deren Umwelt-, Gesundheits- und
Lebensstandards und sie verknüpfen ökologische, ökonomische und entwicklungspolitische Ziele. Die ChanRoland Dieckmann
cen der flexiblen Mechanismen sind also enorm und dürfen deshalb auf keinen Fall ungenutzt bleiben.
Zu viele Regelungen und Beschränkungen führen
dazu, dass der Klimaschutz und der EU-Emissionshandel unnötig verteuert werden, was die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft aufs Spiel setzt und
Tausende von Arbeitsplätzen gefährdet. Am Ende gibt es
dann wieder nur Verlierer: die Umwelt, die Wirtschaft
mit den Unternehmen und den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern und die Entwicklungs- und Schwellenländer unserer Erde.
({6})
So weit darf es gar nicht erst kommen.
Deshalb werden wir uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion in den weiteren Beratungen für eine schlanke,
unbürokratische und einfache Regelung zur Anrechnung
der flexiblen Mechanismen einsetzen.
Mit Blick auf die Zeit möchte ich an dieser Stelle zum
Ende kommen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Lieber Kollege Dieckmann, ich gratuliere Ihnen zu
Ihrer ersten Rede im Plenum des Deutschen Bundestages, verbunden mit allen guten Wünschen für die parlamentarische Arbeit.
({0})
Ich schließe die Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/5447 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit und zur Mitberatung an den Ausschuss für
Wirtschaft und Arbeit sowie an den Ausschuss für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu über-
weisen.
Die Vorlage auf Drucksache 15/4948 soll an den Aus-
schuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vor-
schläge? - Das ist dankenswerterweise nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis h auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katherina Reiche, Dr. Maria Böhmer, Thomas
Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Forschungs- und Innovationsförderung für die
Arbeitsplätze der Zukunft
- Drucksache 15/5016 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria
Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Lage der Forschung in Deutschland
- Drucksachen 15/2528, 15/4793 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann
({3}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Die europäische Spallations-Neutronen-
quelle in Deutschland fördern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina
Reiche, Thomas Rachel, Dr. Christoph
Bergner, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Sachgerechte Planungsentscheidungen
zum Bau einer europäischen Spallations-
Neutronenquelle ermöglichen
- Drucksachen 15/472, 15/654, 15/5174 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Wicklein
Dr. Christoph Bergner
Cornelia Pieper
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({4})
zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina
Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Informatives Berichtswesen als Grundlage ei-
ner guten Forschungs- und Technologiepolitik
- Drucksachen 15/4497, 15/5101 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg Tauss
Hans-Josef Fell
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({5})
zu dem Antrag der Abgeordneten Helge Braun,
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU
7. EU-Forschungsrahmenprogramm wirksam
ausgestalten
- Drucksachen 15/3807, 15/4712 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Helge Braun
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helge
Braun, Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Stärkung der klinischen Forschung in der
Hochschulmedizin
- Drucksache 15/5246 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({6})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschland 2005
und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksache 15/5300 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Daniel Bahr ({8}), Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Deutschland muss aufholen - 2006 bis 2016 Dekade der Innovationen
- Drucksache 15/5360 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann kann auch dies als vereinbart
gelten.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst für die Bundesregierung der Bundesministerin
Edelgard Bulmahn.
({10})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wirtschaftswachstum, sichere Arbeitsplätze, soziale Sicherheit, alles hängt von Bildung
und Forschung sowie von unserer Leistungsfähigkeit
und Stärke ab. Die Lage der Forschung in Deutschland
ist gut. Das zeigt klar der jüngste Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit und bestätigte damit auch den
Kurs der Bundesregierung. Deutsche Unternehmen gehören zu den innovativsten in Europa.
({0})
Wissenschaft und Forschung in Deutschland gehören zur
Weltspitze. Die Produktion in forschungsintensiven
Wirtschaftszweigen wächst deutlich schneller als in anderen Sektoren. Beim Export forschungsintensiver Güter
haben deutsche Unternehmen mit 15,6 Prozent nach den
USA den zweithöchsten Welthandelsanteil.
({1})
Im internationalen Vergleich spielt Deutschland bei
der Forschungs- und Wissensintensität der Wirtschaft
ganz vorne mit. Mit 277 weltmarktrelevanten Patenten auf je 1 Million Erwerbstätige unterstreichen wir
dieses Potenzial und diese Leistungsfähigkeit. Damit liegen wir vor den USA, aber auch vor Großbritannien und
Frankreich sowie deutlich über dem EU- und OECDDurchschnitt. Im 6. EU-Forschungsrahmenprogramm
hat sich die deutsche Beteiligung nun auf rund 21 Prozent gesteigert. Als kleiner Vergleich: 1997 lagen wir
nur bei 16 Prozent.
({2})
Auch das Ausland gibt laut aktueller Forsa-Studie
dem Standort Deutschland gute Noten. Deutsche Produkte und Technologien zählen in vielen Branchen weltweit zur Spitzengruppe. Deutschland ist weltweit führend bei Zukunftstechnologien, wie zum Beispiel der
Nanotechnologie, der Mikrosystemtechnik oder in bestimmten Bereichen der Biotechnologie.
({3})
Was hier auch einmal gesagt werden sollte: Die Gewinne
deutscher Unternehmen wachsen stärker als die der USamerikanischen. Das zeigt diese internationale Studie
ebenfalls.
In ihrem wirtschaftspolitischen Deutschlandbericht
hat die OECD im vergangenen Jahr bestätigt, dass
Deutschland nach Großbritannien das attraktivste Zielland für Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen von
im Ausland tätigen US-amerikanischen Unternehmen
ist.
({4})
So viel zur Realität. Das ist die Wirklichkeit, über die
wir hier diskutieren sollten und die wir zur Kenntnis
nehmen sollten. Gleichwohl zeigt der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit - auch das will ich klar
sagen -, dass die Herausforderungen im internationalen Wettbewerb nicht abnehmen, sondern zunehmen;
denn neben den bekannten forschungsstarken Ländern
investieren inzwischen auch die so genannten Schwellenländer erheblich in Forschung und Entwicklung.
Dazu gehören China und Indien. Aber auch unsere europäischen Nachbarländer wie Großbritannien und Frankreich investieren erheblich in Forschung und Entwicklung.
Die Bundesregierung hat seit 1998 Bildung und Forschung konsequent gefördert und ihre Bedeutung klar
herausgestellt. Wir haben hier massiv investiert. Wir haben diesem Bereich die notwendige Priorität eingeräumt
und damit auch ein klares Signal an die Wirtschaft gegeben. Von 1998 bis 2003 haben Wirtschaft und Staat in
Deutschland den Anteil der Ausgaben für Forschung und
Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt von 2,27 Prozent
auf 2,51 Prozent erhöht. Das hört sich vielleicht gar
nicht so viel an. Aber es sind Milliardenbeträge, die zusätzlich in Forschung und Entwicklung investiert worden sind. Damit haben wir mühsam aufgeholt, was in
den 90er-Jahren von der damaligen CDU/CSU-geführten Bundesregierung verspielt worden ist und durch eine
falsche Politik verloren gegangen ist.
({5})
Wir haben die Entwicklung umgekehrt. Wir haben hier
einen klaren Schwerpunkt gesetzt. Wir haben das Geld,
das wir dort zusätzlich investiert haben, eingesetzt, wo
sich die Innovationskraft unseres Landes am besten entfalten kann, damit die Menschen in unserem Land ganz
konkret von diesen Investitionen profitieren.
Ich will die Schlüsseltechnologien nennen. Seit 1998
hat mein Ministerium die Projektfördermittel für Biotechnologie um rund 80 Prozent erhöht, und zwar mit
klarem Erfolg; denn die Zahl der Biotechnologieunternehmen, insbesondere die der kleinen und mittleren, ist
sehr stark gestiegen. Hier liegen wir inzwischen in
Europa an der Spitze. Wir haben uns vom Importeur zum
weltweit führenden Anbieter der ganzen Bandbreite optischer Technologien - Stichwort „Lasertechnologien“ entwickelt. Unsere Führungsposition in der Welt ist anerkannt. Auch die Nanotechnologie ist inzwischen zum
Wachstumstreiber für viele aufstrebende Branchen, zum
Beispiel für die Automobilbranche, für die Pharmaindustrie oder für den Bereich der optischen Technik, geworden. Hier liegen wir ebenfalls an der Weltspitze.
Unsere Strategie ist klar: Wir fördern das, was
Arbeitsplätze schafft. Es geht uns um die Wahrung und
um die Schaffung von zukunftssicheren Arbeitsplätzen,
damit die Menschen hier, in Deutschland, auch noch in
fünf, in zehn und in 15 Jahren eine Lebensperspektive
haben.
({6})
Weil wir wissen, dass dabei gerade kleinere und
mittlere Unternehmen eine ganz wichtige Rolle spielen, haben wir mit ganz viel Engagement, mit ganz viel
Kraft dafür gesorgt, dass sie in die Netzwerke der Spitzenforschung einbezogen werden. Da geht es um ein
Volumen von rund 1,9 Milliarden Euro. Die Anzahl der
kleinen und mittleren Unternehmen, die sich an dem
Fachprogramm meines Ministeriums beteiligen, ist seit
1998 um mehr als zwei Drittel gestiegen.
Die Schlüsselrolle junger Unternehmen bei der Erschließung neuer Märkte müssen wir weiterhin unterstützen. Das gilt insbesondere für die jungen Unternehmen in den neuen Ländern; denn da sind sie für die
wirtschaftliche Entwicklung ganz besonders wichtig. In
den neuen Bundesländern werden wir deshalb die überproportionale Förderung von Bildung und Forschung
fortsetzen. Mit „Unternehmen Region“, der Gesamtstrategie des BMBF für Ostdeutschland, verfolgen wir in
mehr als 100 regionalen Initiativen eine erfolgreiche, an
den Regionen orientierte Innovationspolitik.
({7})
Die Steigerung der Lebensqualität der Menschen,
zum Beispiel die Verbesserung ihrer Gesundheit, ist ein
weiteres wichtiges Ziel, das wir mit der Forschungspolitik meines Hauses verfolgen. Die Angst vor Alzheimer
oder Parkinson soll irgendwann der Vergangenheit angehören, weil Diagnosemöglichkeiten die Früherkennung
erheblich verbessern und weil wir hoffentlich irgendwann ausgereifte Medikamente zur Therapie haben. Wir
haben die Haushaltsmittel für Gesundheit und Medizin
von 295,4 Millionen Euro im Jahre 1998 auf 405 Millionen Euro im Jahre 2005 gesteigert. Das ist im Übrigen
eine Steigerung von 37,2 Prozent.
Gefördert wird auch das, was zum nachhaltigen und
schonenden Umgang mit den natürlichen Ressourcen
beiträgt, damit unsere Umwelt schützt und gleichzeitig
Arbeitsplätze schafft. Auch auf diesem Gebiet sind wir
inzwischen anerkannt und weltweit führend. Das spielt
für die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes
ebenfalls eine ganz erhebliche Rolle.
Programme und Geld allein schaffen noch keine Innovation. Die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Wir
benötigen mehr denn je gut ausgebildete Menschen. Die
Bundesregierung hat auch dazu die notwendigen Reformen auf den Weg gebracht. Endlich hat die Anzahl der
jungen Menschen, die ein Studium aufgenommen haben,
wieder zugenommen.
({8})
1998 waren wir gegenüber allen anderen Ländern weit
abgeschlagen: Damals lag die Studienanfängerquote
bei 27,8 Prozent. Inzwischen sind es 37,5 Prozent. Ich
sage ausdrücklich: Das ist ein gutes Zwischenergebnis;
wir müssen das Ziel 40 Prozent im Auge behalten und
auch erreichen.
({9})
Die BAföG-Reform hat dabei eine ganz wichtige Rolle
gespielt. Deshalb werden wir den Weg, die Studienmöglichkeiten zu verbessern, konsequent weitergehen.
Mit der Einführung international anerkannter Abschlüsse und mit der erweiterten Autonomie der Hochschulen, etwa bei der Auswahl der Studierenden, haben
wir auch den Universitäten ein zusätzliches Mittel in die
Hand gegeben und wir haben auch dafür Sorge getragen,
dass die deutschen Universitäten an Attraktivität gewinnen, was man an der in den letzten Jahren deutlich gestiegenen Anzahl ausländischer Studierender sehen
kann.
Die Juniorprofessur bietet exzellenten jungen Köpfen die Chance, früh selbstständig zu forschen und zu
lehren. Die Habilitation und das Lehrstuhlprinzip mit der
starken Bindung der Doktoranden an einen Professor
sind international längst unüblich. Eine ausführliche
Darstellung im Zusammenhang mit der Stellung der
Wirtschaftswissenschaften konnte man vor zwei Tagen
im „Handelsblatt“ lesen. Es ist notwendig, dass auch dieser Weg, den wir hier so erfolgreich beschritten haben,
konsequent weitergegangen wird.
Ich bin davon überzeugt, dass die Hochschulen noch
deutlich mehr Eigenständigkeit und Selbstständigkeit erhalten müssen. Dazu reicht es leider nicht aus, die Zahl
der Vorschriften im Bundesrecht deutlich zu verringern
- das haben wir getan -; vor allem müssen die Länder
bereit sein, ihren Hochschulen die Eigenständigkeit und
Selbstständigkeit zu geben, die sie so dringend brauchen.
({10})
Mit dem Pakt für Forschung und Innovation garantieren wir den Forschungsorganisationen bis 2010 einen
jährlichen Mittelzuwachs von mindestens 3 Prozent. Sie
erhalten damit Planungssicherheit und ein Plus von rund
150 Millionen Euro pro Jahr. Davon trägt der Bund allein über 100 Millionen Euro.
Dieser Pakt wird durch die Exzellenzinitiative ergänzt, die außerordentlich wichtig ist, damit auch die
Universitäten in unserem Land die Chance erhalten, die
sie so dringend brauchen, damit sie sich weltweit ein Renommee erarbeiten können, damit sie sich zu forschungsstarken Spitzenuniversitäten entwickeln können
und so auch mit den Universitäten weltweit konkurrieren
können.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, ich finde es, gelinde gesagt, erstaunlich
({11})
- ich fand es erstaunlich; ich kann auch sagen: Ich habe
mich über die Gedankenakrobatik, die Sie dort vollführt
haben, etwas gewundert -, dass Sie in Ihrem Antrag fordern, die Zuweisungen an die Forschungsorganisationen
zwischen 2005 und 2010 verlässlich und angemessen zu
erhöhen, und zwar genau so, wie wir das im Pakt für
Forschung vereinbart haben. Beide Programme - das
wissen Sie - liegen unterschriftsreif auf dem Tisch.
Frau Ministerin, ich darf nur - Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Ich komme zum Ende. - Beide Programme sind von
den Fachministern der Bund/Länder-Kommission bereits beschlossen worden. Genau dem verweigern die
Unions-Ministerpräsidenten ihre Unterschrift.
({0})
Mit Ihrer Blockadepolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, fügen Sie dem Land wirklich
großen Schaden zu.
Albert Einstein hat einmal gesagt:
Wir müssen unser Bestes tun. Das ist unsere heilige
menschliche Verantwortung.
Diese Verantwortung macht vor Ministerpräsidenten genauso wenig Halt wie vor Parlamentariern.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun die Kollegin Katherina Reiche,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir müssen um so vieles besser sein, wie wir teurer
sind. - So Horst Köhler am 15. März dieses Jahres in
seiner Grundsatzrede zu Wirtschaft und Gesellschaft.
Frau Bulmahn, ich stimme Ihnen ausdrücklich darin
zu, dass Forschung, Entwicklung und Wirtschaftswachstum in einem signifikanten positiven Zusammenhang
stehen, weshalb alle Anstrengungen darauf gerichtet
werden müssen, sie zu befördern.
Deutschland hat ohne Zweifel Potenzial. Das sagt in
der Tat auch der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit. Nanotechnik, Optik, Medizintechnik sind ein
Beleg dafür. Aber oftmals klemmt der Innovationsreißverschluss. Er klemmt, weil Rot-Grün in vielen Feldern
auf der Fortschrittsbremse steht. Aus dem Kanzler der
Innovation ist längst ein Kanzler der Illusion geworden.
Was Frau Bulmahn bisher vorgelegt hat, ist gescheitert, entweder vor dem Bundesverfassungsgericht oder
am berechtigten Widerstand der Länder
({0})
oder an fehlenden Mitteln oder in Ermangelung einer
Strategie. Erfolg lässt sich eben nicht herbeireden oder
herbeirechnen;
({1})
Erfolg ist ein Ergebnis von echter Leistung.
Egal ob Sie den Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit vorstellen oder Fragen beantworten: Sie
rechnen sich die Zahlen schön, Sie picken einzelne Ergebnisse heraus, so wie sie Ihnen passen, und erwecken
damit den Eindruck, als hätten Sie den Überblick verloren, oder spielen bewusst falsch.
({2})
Ihren Aufwuchs klauben Sie zusammen, indem Sie
Mittel für Ganztagsschulen oder die Sanierung von baufälligen Gebäuden als Forschungsmittel deklarieren. Die
Wahrheit ist aber, dass die Gesamtausgaben des Bundes
für Forschung und Entwicklung sinken, und das seit
mehreren Jahren: im Jahr 2001 um 1,6 Prozent, im Jahr
2003 um 0,7 Prozent und im vergangenen Jahr um noch
einmal 3,4 Prozent. Das sind Kennzahlen einer Abwärtsspirale und nicht eines Aufschwungs.
({3})
Hans Eichel will Ihnen 2006 500 Millionen bis
700 Millionen Euro aus Ihrem Forschungshaushalt herausschneiden. Ich bin wirklich gespannt, ob Sie sich im
Interesse der Hochschulen und der Forschung in diesem
Land gegen ihn durchsetzen können.
Wenn sie ehrlich wären, müssten Sie auch zugeben,
dass Sie das 3-Prozent-Ziel von Lissabon bis 2010
nicht erreichen werden. Da hilft auch nicht der gebetsmühlenartig vorgetragene Verweis auf die Eigenheimzulage. Sie haben keinen weiteren Vorschlag gemacht, wie
der Kraftakt bewältigt werden soll. Anstatt Kinder und
Familien gegen den Rest der Gesellschaft auszuspielen,
sollten Sie lieber an Vergangenheitssubventionen wie die
Steinkohleförderung gehen.
({4})
Immer mehr Unternehmen verlagern ihre Forschung
und Entwicklung ins Ausland. Beim letzten Innovationscheck der „Wirtschaftswoche“ bekam der Forschungsstandort Deutschland nur noch die Note 3,7. Das ist zu
wenig für ein Land wie Deutschland.
({5})
Als Ergebnis von sieben Jahren Rot-Grün kann festgehalten werden: fast 5 Millionen Arbeitslose und
40 000 Insolvenzen pro Jahr. Auch der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit zieht eine beängstigende
Bilanz. Aus diesem resümiere ich jetzt, Frau Ministerin:
Deutschlands aktuelle Platzierung ist bei fast allen
Kennzahlen schlechter als noch Anfang der 90er-Jahre.
Das ist die Wahrheit. So steht es im Bericht.
({6})
Ich mache Ihnen heute fünf Vorschläge und biete Ihnen an, gemeinsam dafür zu arbeiten, dass Forschung
und Innovation wieder zu mehr Wachstum in diesem
Land führen:
Erstens. Wir sollten die Hochschulen gemeinsam
stärken. Sie haben vollkommen korrekt gesagt, dass die
Hochschulen die Basis für unser Forschungssystem sind.
Ja, sie sind in der Tat der Humus für Innovationen in unserem Land. Sie aber haben den Boden ausgelaugt und
jahrelang nicht gedüngt. Sie haben die Hochschulmittel
zwischen 1998 und 2003 um 2 Prozent gekürzt. Die
Hochschulbauförderung ist von 1,1 Milliarden auf
860 Millionen gesunken. Das Exzellenzprogramm kann
ein Erfolg werden, Frau Ministerin, wenn es auf eine
verfassungsmäßig einwandfreie Grundlage gestellt wird.
Zur Wahrheit gehört aber eben auch, zu sagen, dass es
keinen Cent mehr gibt. Was Sie heute bei der Hochschulbauförderung streichen, verkaufen Sie morgen als
Exzellenzförderung. Das ist linke Tasche, rechte Tasche
und am Ende gibt es keinen Cent mehr.
({7})
Wagen Sie mit uns einen Einstieg in die Vollkostenfinanzierung! Wir halten zudem den Geist Humboldts wach,
wenn Forschung und Hochschule wieder mehr miteinander verzahnt werden. Sie weisen auch zu Recht auf die
Verantwortung der Länder hin, wenn es darum geht, den
Hochschulen wieder mehr Freiheiten zu geben. Aber in
dem Moment, wo Sie den Zeigefinger auf die Länder
richten, zeigen drei Finger auf Sie selbst. Auch Sie sollten überlegen, wo der Bund weitergehen kann.
Zweitens. Deutschland muss wieder zum Gravitationszentrum für junge Wissenschaftler aus aller Welt
werden.
({8})
Wir haben einen großen Kongress mit 500 Jungwissenschaftlern aus dem In- und Ausland durchgeführt.
Deutschland ist nicht unattraktiv, aber andere Nationen
entfalten eine sehr viel stärkere Dynamik und Anziehungskraft. BAT und Professorenbesoldung müssen
langfristig durch flexible Vergütungssysteme ersetzt
werden.
({9})
Die Juniorprofessur war gut gedacht, jedoch schlecht gemacht. Sie ist eben kein Tenure-Track-System, aber das
brauchen wir.
Drittens. Deutschland braucht international konkurrenzfähige Förderinstrumente. Im internationalen Umfeld beobachten wir eine starke Präferenz für indirekte
Finanzierungshilfen für Forschung und Entwicklung. In
18 OECD-Ländern gibt es mittlerweile eine steuerliche
Forschungsförderung. Wir schlagen hier und heute erneut eine solche Forschungsprämie vor, gemäß der Unternehmen, die mit Forschungseinrichtungen und Hochschulen zusammenarbeiten, belohnt werden.
({10})
Viertens. Deutschland braucht eine Nationale Akademie der Wissenschaften. Was uns in Deutschland
fehlt, ist ein geistiges Zentrum einer innovativen Gesellschaft. Es muss nicht Sache der Politik sein, eine solche
Akademie zu errichten. Aber das Gutachten des Wissenschaftsrates liegt jetzt seit über einem Jahr auf dem
Tisch. Das Thema muss wieder auf die Tagesordnung.
Vorschlag Nummer fünf: Wir brauchen ein strategisches Forschungs- und Innovationsministerium.
Manchmal hat man den Eindruck, dass Ihr Haus, Frau
Bulmahn, in den letzten Jahren zu einer Mischung aus
PR-Agentur und Schulministerium geworden ist. Der
Direktor des Albert-Einstein-Instituts, Professor Nicolai,
hat es im Einstein-Jahr dann auch auf den Punkt gebracht:
Hinter der glänzenden Fassade wird genau die Physik, die Einstein betrieb, demontiert.
Das Geld für die Riesen-PR-Kampagne im Einstein-Jahr
hätten Sie möglicherweise besser für die Einrichtung eines Einstein-Lehrstuhls ausgegeben.
({11})
Die Energieforschung ist auf vier Ministerien aufgeteilt,
die sich gegenseitig blockieren. Wir haben nach wie vor
kein komplettes Energieforschungsprogramm. Die Innovationsförderung für den Mittelstand, derentwegen Sie
gerade Ihr Haus gelobt haben, wird zwischen BMBF und
BMWA zerrieben.
({12})
Der Grünen Gentechnik geht es schlecht. Sie fördern,
Frau Künast blockiert. Ebenso sieht es im Bereich Life
Science aus.
Frau Bulmahn, ich weiß nicht, ob Sie die Kraft haben,
alle Ministerien zu überzeugen, dass Innovation nicht etwas ist, was in Ihrem Haus betrieben wird, sondern alle
angeht. Manchmal können einem da Zweifel kommen.
Ein strategisches Innovationsministerium ist mehr als
nur eine Forschungsverwaltung. Es bedeutet nicht nur
ein Klein-Klein von Projekten und Programmen, sondern es ist ein Impulsgeber einer innovativen Gesellschaft.
Setzen Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, gemeinsam mit uns die Vorschläge um, auch die,
die ich nicht erwähnen konnte, die aber in den Anträgen
zusammengefasst sind. Vielleicht gelingt es dann wenigstens, das Jahr 1 nach dem Jahr der Innovation zu einem solchen zu machen.
Vielen Dank.
({13})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans-Josef Fell,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Forschung und Innovation für eine starke
Wirtschaft ist das berechtigte Anliegen aller Fraktionen
in diesem Hause. Sie, meine Damen und Herren von der
Union und der FDP, behaupten seit Jahren unentwegt,
dass Deutschland wirtschaftliches Schlusslicht in Europa
sei.
({0})
Sie reden den Standort unentwegt schlecht, so wie es
auch Frau Reiche gerade wieder getan hat.
({1})
Doch Deutschland ist - das müssen Sie endlich einmal begreifen - die stärkste Wirtschaftsnation in Europa
und eine der stärksten in der Welt.
({2})
Ja, Deutschland hat sogar die Kraft, dieses hohe Niveau
weiter zu steigern. So lag das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes im ersten Quartal dieses Jahres um
1,0 Prozent höher als im Vorquartal. Damit hat Deutschland nicht nur absolut, sondern sogar prozentual die
stärkste wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung in der
Eurozone; so die neuesten Zahlen von Eurostat.
Im Wesentlichen bestätigt wird die starke Wirtschaftsnation auch durch den der heutigen Debatte zugrunde liegenden Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschland 2005. So heißt es in der
Zusammenfassung des Berichtes:
Das Durchsetzungsvermögen der exportierenden
Industrie ist aktuell uneingeschränkt hoch, sie
bricht auf den Weltmärkten alle Rekorde.
Auch zur Forschung gibt die Zusammenfassung eine
eindrucksvolle positive Bewertung. Frau Ministerin
Bulmahn hat dies deutlich gemacht.
Aber weiter heißt es in diesem Bericht auch:
Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie
haben in Deutschland seit einigen Jahren auch in
den öffentlichen Haushalten wieder einen leicht höheren Stellenwert bekommen. Vielfach gelingt es in
anderen Staaten jedoch erheblich schneller, die
Budgets gezielt auf mehr Investitionen zur Verbesserung der technologischen Leistungsfähigkeit auszurichten.
Diese Mahnung, meine Damen und Herren von der
Union, sollten Sie sich viel ernsthafter zu Herzen nehmen. Die rot-grüne Parlamentsmehrheit und die Bundesregierung haben seit Jahren mit mehr Mitteln für Bildung und Forschung für einen höheren Standard als
unter der alten Regierung gesorgt. Frau Bulmahn hat das
deutlich gemacht.
({3})
Jedoch die gerade für unsere Hochschulen und Forschungseinrichtungen weiteren notwendigen Erhöhungen der Ausgaben blockieren Sie in unverantwortlicher
Weise. Allein durch die von Ihnen verursachte Verzögerung des Paktes für Forschung entgehen den institutionell geförderten Forschungseinrichtungen schon in diesem Jahr gut 150 Millionen Euro.180 Millionen Euro für
die Juniorprofessur stehen wegen Ihrer Blockade nicht
zur Verfügung.
({4})
Die Exzellenzinitiative haben Ihre Ministerpräsidenten
schon wieder gestoppt. Damit fehlen den Hochschulen
allein in diesem Jahr 380 Millionen Euro. Mit Ihrer Blockade der Abschaffung der Eigenheimzulage verhindern
Sie notwendige Finanzierungen im Hochschulbau oder
verschiedene Forschungsprojekte, beispielsweise für erneuerbare Energien, im Umweltministerium.
({5})
Meine Damen und Herren von der Union, es ist unerträglich, wie Sie Forschung, Bildung und Innovation in
Deutschland zunehmend schädigen.
({6})
Sogar die ansonsten sehr zurückhaltenden Forscher und
Hochschullehrer haben dies bereits in aller Deutlichkeit
kritisiert. Am 18. Februar haben Wissenschaftsrat, DFG
und Hochschulrektorenkonferenz gemeinsam angemahnt:
Wir halten es für untragbar, dass die Realisierung
von „Pakt“ und „Exzellenzinitiative“ im Zuge der
Föderalismusdebatte zum Spielball wissenschaftsfremder Interessen geworden ist.
({7})
Seitdem sind schon wieder drei Monate verstrichen, in
denen Sie von der Union hier zwar mit Krokodilstränen
das Abwandern von jungen Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern bedauern, zu wenig Aufwuchs bei den
Forschungsmitteln beklagen und Deutschland als Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort schlecht reden. Aber
Ihre Handlungen intendieren genau dies.
({8})
Statt Ihre Blockade gegen Bildung und Forschung endlich aufzugeben, legen Sie heute eine Reihe von Anträgen vor, in denen Sie dann auch noch behaupten, innovativ zu sein. Aber das ist doch nur ein Bauchladen voller
alter Ladenhüter, die Sie schon immer gebracht haben;
nichts Neues ist enthalten.
({9})
Ich muss an dieser Stelle einen dringlichen Appell an
die Forscher und an die Hochschulen richten. Auch
wenn sich diese bereits einige Male deutlich gegen die
bildungs- und forschungsfeindliche Politik der Union
geäußert haben: Die Proteste aus diesem Bereich sind offensichtlich immer noch nicht ausreichend.
({10})
Angesichts des Ausfalls von Steuermitteln droht im
kommenden Jahr erstmals ein Rückgang der Mittel für
Bildung und Forschung.
({11})
Auch der vom Kanzler versprochene Zuwachs für die
Forschungsgemeinschaft von jährlich 3 Prozent ist möglicherweise akut gefährdet.
({12})
Helfen kann hier nur ein bundesweiter Proteststurm von
Forschern, Hochschullehrern, Studenten, der Wirtschaft,
ja, der gesamten Gesellschaft, damit die Ministerpräsidenten der unionsregierten Länder endlich wachgerüttelt
werden
({13})
und einem Subventionsabbau nicht nur bei der Eigenheimzulage, sondern auch an anderen Stellen zustimmen.
({14})
Ansonsten, meine Damen und Herren von der Union,
bekommen wir wieder Verhältnisse in Deutschland wie
unter dem ehemaligen so genannten Zukunftsminister
Rüttgers. Unter dessen Verantwortung im Zeitraum von
1992 bis 1998 ist der Anteil der Ausgaben für Bildung
und Forschung im Haushalt von 4,7 Prozent auf
3,2 Prozent radikal zusammengestrichen worden.
({15})
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Die Gesellschaft muss wissen, auf wen sie sich einlässt, wenn sie die wirklichen Forschungs- und Bildungsfeinde der Union wählt.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Flach, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Fell, ich habe das Gefühl, die Gesellschaft weiß im Augenblick nicht so recht, was sie von dieser Debatte überhaupt halten soll. Die eine Seite sagt so und die andere
Seite sagt so.
({0})
Ich ziehe es aus diesem Grunde vor, an dieser Stelle jemanden zu zitieren, der nicht zu unserem erlauchten
Kreis gehört. Herr Bullinger hat treffend gesagt: „Ohne
die Automobilindustrie kann man Deutschland kaum
noch als Hightechland bezeichnen.“
Herr Bullinger ist sicherlich unverdächtig, für eine
Partei zu sprechen. Er ist der technologische Chefberater
der Bundesregierung. Frau Bulmahn, ich muss mich also
fragen, inwieweit Sie überhaupt noch in der Lage sind,
die Situation realistisch zu beurteilen.
({1})
Ich muss auch fragen, inwieweit Sie noch in der Lage
sind, über diese für unser Land grundlegenden Fakten zu
diskutieren.
({2})
Es gibt inzwischen Dutzende von Berichten, die davor warnen, dass unser Forschungsstandort von der
Grundsubstanz lebt, dass wir im Wettbewerb zurückfallen und dass das gesunde Fundament unterhöhlt wird.
Frau Bulmahn, niemand erwartet von Ihnen - ich schon
gar nicht -, dass Sie wie Moses das Meer für uns teilen
und dass Sie die internationalen Globalisierungswinde,
die um uns wehen, aufhalten. Wir erwarten aber natürlich von Ihnen, dass Sie unser Land in diesem Bereich
seefest machen.
({3})
Aber das Manko liegt in Ihrer Haushaltspolitik. Wir erwarten deswegen von Ihnen eine verlässliche Haushaltspolitik. Herr Fell, ich bin entsetzt, dass Sie davon sprechen, der Kanzler denke jetzt darüber nach, seine
Versprechen nicht einzuhalten, die er gegenüber der
Wissenschaft gemacht hat.
({4})
Wir erwarten natürlich auch mutige Reformen unserer
zum Teil wirklich altbackenen Strukturen. Seit Jahren
gibt Deutschland zu wenig für Forschung und Entwicklung aus. Dem Ziel, 3 Prozent des BIP für diesen Bereich auszugeben, haben wir uns in den letzten Jahren
nicht sonderlich erfolgreich genähert. Der Anteil liegt
bei 2,5 Prozent.
({5})
Wenn das BIP jetzt steigt, müssen wir sogar noch ein
wenig Geld mehr in die Hand nehmen.
Wir sind nicht nur auf finanziellem, sondern auch auf
politischem Gebiet nicht viel weiter gekommen. Denken
Sie an die Entrümpelung des HRG, Frau Bulmahn! Denken Sie an den Wissenschaftstarifvertrag und an die Exzellenzinitiative, die wirklich nur schleppend vorankommt!
({6})
Liebe Frau Bulmahn, Sie leisten sich Spiegelfechtereien mit den Ländern. Das Geschrei von Herrn Tauss
unterstreicht das.
({7})
Ich muss einmal eine Analogie zum wirklichen Leben
ziehen. Nach nunmehr sechs Jahren Amtszeit leben Sie
mit den Bundesländern zusammen wie ein altes Ehepaar.
Jeden Morgen überlegen Sie sich, wie man dem anderen
einen Stein in den Weg legen kann. Darunter leidet dieser Standort.
({8})
- Lieber Herr Tauss, ich kann Sie beruhigen. Ich feiere
heute Silberne Hochzeit und führe eine gute Ehe.
({9})
Der Pakt für Forschung, die Exzellenzinitiative und
die Finanzierung des Bologna-Prozesses sind inzwischen Symbole der Politikunfähigkeit von Bund und
Ländern geworden. Darauf sollten wir alle in diesem
Hause nicht besonders stolz sein. Der ewige Kleinkrieg
erfreut zwar die Medien; er hat aber lange verdeckt, dass
viele Akteure den Forschungsstandort verlassen haben.
Wir haben hier immer wieder darüber diskutiert.
Frau Ministerin, die offene Bilanz Ihrer Regierungszeit ergibt unter dem Strich vor allen Dingen eines: Sie
kämpfen verzweifelt gegen die internationale Technologiekonkurrenz. Das ist ganz bestimmt ehrenhaft, hat
aber ausgesprochen geringen Erfolg.
({10})
In der Elektrotechnik werden wir von Asien überholt. In
der Informationstechnologie haben wir zwar aufgeholt,
sind aber nicht mehr Technologieführer.
({11})
In der Mikroelektronik sehen nur 16 Prozent der Experten Deutschland als Innovator. In der Nanotechnologie
sind wir nach wie vor Spitze in der Grundlagenforschung.
({12})
- Selbstverständlich. - Aber wir füllen nicht die Lücke
zwischen der Grundlagenforschung und dem Produkt. In
der Stammzellforschung und in der Pharmaforschung
haben wir die Marktführerschaft verloren.
({13})
Wir sind selbst bei der Automatisierung dabei, den preiswerten Anbietern aus den asiatischen Bereichen Raum
zu geben und unseren Spitzenplatz zu verlieren.
({14})
Betrachten Sie den Antrag zur ESS: Die Engländer
sind gerade dabei, dieses wirklich hochinnovative Projekt abzugreifen. Es ist aus Deutschland verschwunden,
weil Sie an dieser Stelle nicht in der Lage waren, Herrn
Eichel oder auch andere in diesem Lande, die Sie hätten
unterstützen können, dazu zu überreden, dass man dieses
Projekt auf die Schiene bringt. Also hat es wieder einmal
die europäische Konkurrenz übernommen.
Unter dem Strich ist eines klar: Der Wettbewerb ist
knallhart und wird natürlich durch die aufstrebenden Nationen China und Indien sowie in Osteuropa noch härter.
Andere Länder fördern ihre Forschung und Entwicklung
deutlich entschlossener, konsequenter, abgestimmter und
strategisch klarer ausgerichtet.
({15})
Frau Bulmahn, ich frage Sie ganz im Ernst: Wie beabsichtigen Sie in den verbleibenden anderthalb Jahren,
auf die industriepolitische Herausforderung unserer
europäischen Partner zu reagieren? Dazu höre ich von
Ihnen keine Antwort. Wir haben es mit Frankreich zu
tun, das allein im Raumfahrtbereich das Zigfache von
dem ausgibt, was wir ausgeben. Wir haben es mit Italien
und Belgien zu tun, die uns natürlich überholen. Ich höre
von der Bundesregierung keine Antwort auf diese großen europäischen Herausforderungen. Ich wäre Ihnen
sehr dankbar, wenn wir dazu eine wirklich maßgebliche
Debatte führen könnten.
({16})
Ihr Haushalt ist schon heute Makulatur; Herr Fell hat
es eben erwähnt. Ich bin gespannt, ob diese düsteren Voraussagen auch zutreffen werden. Wenn man zu den
Hochschulen und den Wissenschaftlern geht, erkennt
man überall, dass dies auch draußen angekommen ist.
Optimismus greift eben leider nicht um sich, so wie Sie
es eben dargestellt haben.
({17})
Lassen Sie mich etwas zu dem sagen, dass man in der
Bundesregierung versucht, dies rhetorisch glänzend zu
heilen. Der Kanzler hat vor wenigen Tagen erneut von
dem Gründerfonds gesprochen. Jetzt bekommen wir
plötzlich die Entsperrungsmitteilung unserer Haushaltsexperten auf den Tisch, dass dieses große Gründerfondsprojekt auf die Schiene gestellt wird. Das, was
durch die Medien gegangen ist, umfasst knappe 5 Millionen Euro in diesem und knappe 20 Millionen im
nächsten Jahr. Sie glauben doch wohl nicht, dass ich, als
ich dies auf dem VDI-Kongress vor wenigen Tagen den
dort Versammelten mitteilte, Begeisterung geerntet habe.
Gelächter, Frau Bulmahn! Das sind kleine Trippelschrittchen, mit denen wir diesem Standort leider nicht weiterhelfen werden und über die wir vor allen Dingen in den
Medien in dem Sinne lesen werden, dass etwas getan
werden soll, aber noch nicht in der Realität umgesetzt
ist.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tauss?
Kollege Tauss darf heute leider nicht reden.
({0})
Deswegen möchte ihm diese Gelegenheit geben. - Herr
Tauss.
Der Kollege Tauss hat eigentlich keine Probleme zu
reden. In unserer Arbeitsgruppe - Sie haben keine Arbeitsgruppe; Sie müssen sich mit einer Person abwechseln - haben wir genügend qualifizierte Leute, die reden
können.
Trotz des ganzen Gejammers, das Sie anstimmen, ist
es in vielen Bereichen eine zutreffende Beschreibung. In
Baden-Württemberg, in dem Land, in dem Sie mitregieren, wurde gerade gesagt, dass die Förderung von Einbauküchen und Vorgartenzwergen durch die Eigenheimzulage ein wichtigerer Punkt sei als die Förderung von
Bildung und Wissenschaft. Was tun Sie in BadenWürttemberg - ich betone: Sie konkret -, um diese Blockade von mehr als 600 Millionen Euro im nächsten und
60 Millionen Euro in diesem Jahr - zusammen mit der
CDU/CSU verhindern Sie durch Ihre Politik, dass Hunderte von Millionen an die Universitäten fließen - aufzulösen?
Erst einmal zur Klarstellung - damit Sie ganz beruhigt sind -: Selbstverständlich hat die FDP-Fraktion eine
Arbeitsgruppe,
({0})
mit der wir auch sehr intensiv arbeiten, wie Sie alle wissen, wenn Sie unsere Anträge lesen. Auch heute liegt Ihnen ja wieder einer vor. Das ist das Erste.
Das Zweite. Herr Tauss, falls Ihre Frage die Aufforderung an mich sein sollte,
({1})
das nächste Mal für die Landesliste von BadenWürttemberg zu kandidieren, kann ich dies als Nordrhein-Westfälin entschieden zurückweisen. Ich bin und
bleibe Nordrhein-Westfälin.
({2})
Das Dritte. Lieber Herr Tauss - darüber haben wir
schon oft diskutiert -,
({3})
Sie kennen meine persönliche Meinung, dass die Eigenheimzulage in die Mottenkiste gehört.
({4})
Das wissen Sie und das ist nichts Neues. Allerdings diskutieren wir über dieses Thema nun bereits seit einem
Jahr. Die Bundesregierung ist diejenige, die längst hätte
reagieren müssen.
({5})
Ich frage mich: Gibt es für Sie eigentlich nur die Eigenheimzulage und keine andere Subvention, an die Sie herangehen könnten?
({6})
Wie sieht Ihr Haushalt überhaupt aus? Sie „verdummdeudeln“ die Leute, indem Sie ständig von einem einzigen Subventionspaket reden,
({7})
und Sie haben offensichtlich nicht genug haushalterische
Fantasie, um das Ganze anders zu gestalten.
({8})
Sie wissen, dass das nicht funktioniert. Insofern ist das
nichts als ein rhetorischer Gag,
({9})
der immer wieder gut funktioniert, der den Leuten im
Lande - das muss ich Ihnen sagen - aber nicht helfen
wird.
({10})
Meine Damen und Herren, Sie wissen, dass die FDPFraktion in den letzten Jahren - übrigens als einzige
Fraktion - immer wieder dafür gesorgt hat, dass entsprechende Sparvorschläge auf dem Tisch lagen. Ich habe
unser dickes Büchlein heute nicht dabei; nächstes Mal
bringe ich es wieder mit. Auch wissen Sie, dass wir im
Augenblick in Nordrhein-Westfalen heftig über eine
Kürzung der Subventionen für die Steinkohle diskutieren.
({11})
Gerade Sie rasten dabei völlig aus.
({12})
Bei der FDP haben wir es also mit einer Fraktion zu tun,
die haushalterisch ausgesprochen ausgefeilte Vorschläge vorlegt. Wir sind bereit, dieses Geld in Forschung und Entwicklung zu stecken. Genau das werden
wir 2006 tun.
({13})
Frau Kollegin, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem
25-jährigen Ehejubiläum am heutigen Tag.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Martina Eickhoff, SPDFraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Innovation und Forschung
sind unverzichtbare Bausteine für die wirtschaftliche
Entwicklung unserer Gesellschaft. Diesem Leitsatz hat
die rot-grüne Bundesregierung in den vergangenen Jahren Taten folgen lassen. Das zeigen die heute gehörten
Ausführungen der Bundesministerin für Bildung und
Forschung.
Nochmals sei gesagt: Zwischen 1998 und 2003 sind
die Ausgaben des Bundes für Forschung und Entwicklung um 1 Milliarde Euro auf rund 9 Milliarden Euro gestiegen. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung
in Deutschland insgesamt sind von 44,6 Milliarden Euro
im Jahr 1998 auf 53,3 Milliarden Euro im Jahr 2003 gestiegen. Das ist ein beachtlicher Zuwachs von mehr als
19 Prozent.
({0})
Nach den USA hat Deutschland mit 15,6 Prozent den
zweithöchsten Weltmarktanteil bei forschungsintensiven Gütern. Bescheinigt wird dies zum Beispiel durch
den „Wirtschaftsbericht Deutschland“ der OECD.
Die SPD-Fraktion ist sich bewusst, dass der Wohlstand unserer Gesellschaft auf Produktinnovationen
basiert. Unsere Forschungspolitik wird die Menschen zu
Innovationen befähigen. Nachweislich besteht in
Deutschland ein positiver Zusammenhang zwischen Forschungsinvestitionen und Wirtschaftswachstum. Darstellen lässt sich das am Beispiel der Nanotechnologie. Ich
zitiere aus der Antwort der Bundesregierung auf die
Große Anfrage der CDU/CSU mit dem Titel „Lage der
Forschung in Deutschland“:
Die Forschung zur Nanotechnologie in Deutschland
wird von deutschen Firmenvertretern als weltweit
führend eingestuft … Die Mittel für die Förderung
von Forschungsvorhaben im Bereich Nanotechnologie wurden seit 1998 um 440 % auf 125 Mio. €
im Jahr 2004 gesteigert.
Ich wiederhole: um 440 Prozent.
({1})
Mit Unterstützung der vom BMBF initiierten und
geförderten Kompetenzzentren der Nanotechnologie wurden ab 1998 ca. 40 neue Firmen gegründet …
Der von der CDU/CSU-Fraktion eingebrachte Antrag
„Forschungs- und Innovationsförderung für die Arbeitsplätze der Zukunft“ ist ein bunter Strauß von Forderungen, ein wenig tief gehender Rundumschlag, der der angesprochenen Bedeutung der Innovationspolitik nicht
gerecht wird. Aber gut, in wenigen Tagen ist Wahl in
Nordrhein-Westfalen. Einige Details: Sowohl im Antrag
der CDU/CSU-Fraktion als auch im FDP-Antrag wird
das Thema Energieforschung angesprochen. Meine Damen und Herren der Opposition, zu Recht weisen Sie
darauf hin, dass besonders der Energiesektor eine
enorme Wirkung auf die wirtschaftliche Entwicklung
unseres Landes hat und deshalb immens wichtig ist.
Dass dieses Thema für die Regierungskoalition nicht neu
ist, wissen Sie. Bekanntermaßen haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen zum Jahreswechsel einen Antrag formuliert und beschlossen, der da heißt: „Nationales Energieforschungsprogramm vorlegen“. Einige Stichpunkte
aus diesem Antrag lauten: Steigerung der Energieeffizienz, gezielte Förderung von erneuerbaren Energien sowie Entwicklung klimaschonender Techniken zur
Stromerzeugung aus fossilen Energieträgern.
({2})
Wir streben einen Mix an, der die Potenziale der unterschiedlichen Energieträger angemessen berücksichtigt, Effizienzsteigerung erreicht sowie Versorgungssicherheit gewährleistet. Die Bundesregierung wird ein
neues Energieforschungsprogramm vorlegen, das von
der Grundlagenforschung bis zur anwendungsnahen Forschung reicht. Die genannten Stichworte tauchen hier
wieder auf. Konkrete Forschungsfelder werden unter anderem: Technologien zur Nutzung erneuerbarer Energien, Kraftwerkstechnologien, Brennstoffzellen und Energieeinsparungstechnologien.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Erfolge der Energieforschung lassen sich jedoch schon heute benennen.
Das gilt für den Bereich der erneuerbaren Energien,
deren Anteil am Primärenergieverbrauch aufgrund entsprechender Entwicklungen stetig steigt. Das technologische Potenzial der erneuerbaren Energien und die damit verbundenen Exportchancen sind anerkennenswert
und bemerkenswert.
({3})
Aber auch bei den fossilen Energieträgern zeigt sich
der Erfolg von Forschungsprojekten: Moderne Kraftwerkstechnologien können entscheidenden Einfluss auf
die Energieversorgung der Zukunft und den globalen
Umweltschutz nehmen. Darauf hat Ende 2003 unter anderem der von der Bundesregierung eingesetzte Rat für
Nachhaltige Entwicklung hingewiesen. Im Weltdurchschnitt pendelt sich der Wirkungsgrad aller Kohlekraftwerke zurzeit bei 31 Prozent ein. In Deutschland liegen
wir durchschnittlich bei einem Wirkungsgrad von
38 Prozent. Wir erreichen Spitzenwerte von 45 Prozent.
Damit sind wir weltweit führend. Wirkungsgrade von
55 Prozent werden in den kommenden zehn Jahren angestrebt.
({4})
Länder wie China und Russland liegen mit 23 Prozent
weit zurück. Das heißt, wir stehen bei der Kraftwerkstechnologie an erster Stelle. Neben der effizienteren Nutzung vorhandener Energien geht es auch um CO2-Reduktionstechniken. Zum Klimaschutz könnte ein CleanCoal-Kraftwerk enorm beitragen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir sehen an diesen wenigen Beispielen:
Die Innovationspolitik dieser Bundesregierung wirkt.
Unsere Forschungsförderung regt zu sinnvollen Neuerungen an. Ein Beispiel für weniger brauchbare Innovationen war übrigens in dieser Woche auf der Webseite
von „Spiegel online“ zu lesen. Die Schlagzeile hieß
„Anti-Lachkrampf-Mittel - US-Firma erfindet Krankheit zur Arznei“.
Vielen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Maria Böhmer,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich finde es schon bemerkenswert, wie heute
von Regierungsseite und auch vonseiten der Regierungskoalition die Realität ausgeblendet wird. Seit gestern
wissen wir: Die Bundesregierung steht finanziell am Abgrund.
({0})
Die Steuerschätzung hat deutlich gemacht: Es ist mit einem Minus von mehr als 40 Milliarden Euro zu rechnen.
({1})
Das bedeutet, dass Ihre Planungen, Frau Bulmahn, wie
ein Kartenhaus zusammenbrechen werden. Das ist eine
Katastrophenmeldung für Bildung und Forschung in unserem Land.
({2})
Der Bundesfinanzminister hat schon vor einiger Zeit
- wohl wissend offensichtlich - angekündigt, dass drastische Kürzungen im Bereich Ihres Haushalts vorzunehmen wären. Es ist die Rede gewesen von 1 Milliarde
Euro.
({3})
- 1 Milliarde Euro, die dann fehlen wird. Das heißt, hier
werden Hoffnungen und Planungen in den Sand gesetzt.
Das ist so nicht haltbar.
Ich halte es auch für absurd, dass immer wieder
- auch heute - versprochen wird, dass es zu höheren Investitionen für Bildung und Forschung kommt.
({4})
Der Kollege Fell hat immerhin angedeutet, womit zu
rechnen ist. Diese Ehrlichkeit rechne ich ihm hoch an.
Ansonsten muss ich Ihnen sagen: Es fehlt Ihnen an Geld.
Mit ungedeckten Schecks ist hier niemandem gedient.
({5})
- Lieber Herr Tauss, ereifern Sie sich weiterhin. Es
macht jede Debatte munter, wenn Sie so dabei sind.
Das gilt auch für das Versprechen, das Sie mantraartig
wiederholen und das richtig ist, dass nämlich die Investitionen für Forschung und Entwicklung bis 2010 auf
3 Prozent des Bruttosozialprodukts zu steigern sind. Dieser Weg muss gegangen werden. Stellen wir uns aber
einmal vor, was das für Sie bedeutet: Wenn Sie dieses
Ziel erreichen wollten, dann müssten Sie ab jetzt eine
Steigerungsrate von sage und schreibe 9 Prozent vorlegen. Diese Steigerungsrate ist angesichts der finanziellen
Verhältnisse, die Sie zu verantworten haben, doch völlig
illusorisch.
({6})
Im Übrigen: Da Sie vorhin behauptet haben, zu unserer Zeit wären die Dinge so viel schlechter gewesen,
({7})
muss ich Ihnen sagen: Sie weisen heute einen Anteil der
Investitionen am Bruttosozialprodukt von 2,51 Prozent
aus. Wir haben es eben von der Ministerin gehört. Zu unserer Regierungszeit waren es 2,9 Prozent.
({8})
- Das ist Fakt.
({9})
Ich will Ihnen auch noch einmal sehr deutlich sagen,
dass die Mittel von staatlicher Seite zurückgefahren worden sind: 1995 betrug der Anteil der staatlichen Mittel
38 Prozent, heute sind es ganze 31 Prozent.
({10})
Die Leistungen, die im FuE-Bereich dafür sorgen, dass
Deutschland mit 2,51 Prozent gerade noch über die Runden kommt, sind die Leistungen der Wirtschaft und
nichts anderes.
({11})
Angesichts dieser riesigen Haushaltslöcher frage ich Sie
auch, Frau Ministerin: Wie wollen Sie den Pakt für Forschung und die Exzellenzinitiative noch finanzieren?
Woher nehmen Sie die Mittel?
({12})
Oder wird das alles jetzt Makulatur?
Sie wissen: Wir stehen zum Pakt für Forschung und
Innovation.
({13})
Wir sind für die Stärkung der außeruniversitären Forschung; denn sie braucht verlässliche Steigerungen.
({14})
Wir sind auch für die Stärkung der universitären Forschung. Ich sage Ihnen aber deutlich - da können Sie
noch so laut schreien -: Man muss es richtig machen.
({15})
Bei dem Weg, den Sie einschlagen wollten, denke ich
immer noch an „Brain-up“ und an den Wettbewerb der
Spitzenuniversitäten. Der erste Vorschlag für diesen
Wettbewerb grenzte ja schon an Lächerlichkeit. Das ist
in Verhandlungen mühsam auf den Weg gebracht worden. Man kann Elite nicht verordnen, sondern man muss
für die Elite günstige Rahmenbedingungen bis hin zur
Übernahme der vollständigen Kosten für Forschungsprojekte schaffen. In dieser Situation werfen Sie uns
Blockade vor und legen Sie sich ständig quer. Das ist
doch die Wahrheit.
({16})
Gehen Sie auf unsere Vorschläge ein, dann können wir
in Kürze abschließen und die Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen werden endlich,
so Sie es finanzieren können, die finanziellen Mittel haben.
({17})
Das Trauerspiel verfolgen wir auch bei der Föderalismusdebatte. Das ist der nächste Akt, auf den wir genau
schauen werden. Ihr Parteivorsitzender hat endlich eine
Einsicht gehabt. Er hat nämlich den Föderalismus in Bildungsfragen akzeptiert. Frau Bulmahn, was haben Sie
getan? Sie hatten nichts Eiligeres zu tun, als wieder dagegen zu gehen und wieder deutlich zu machen, dass Sie
auch weiter in die Schulpolitik hineinregieren wollen.
({18})
Sie haben eine Pressekonferenz zum Thema Ganztagsschulen einberufen. Sie wissen genau: Schulpolitik ist
Ländersache. Dies soll auch in Zukunft so bleiben; denn
unsere Länder sind die Besseren.
({19})
Die von Ihnen so viel gepriesene Innovationsoffensive hat keinen messbaren Ertrag gebracht. Da können
Sie hier noch so viel vorrechnen. Woran liegt das? Einerseits ist Deutschland in der Grundlagenforschung hervorragend. Wir haben in unserem Land exzellente Forscher. Man muss sich aber immer wieder fragen, wie
lange viele noch in unserem Land bleiben werden.
Deutschland verfügt über Unternehmen, die innovationsbereit und offen sind für neue Ideen und Techniken.
Aber viele hervorragende Forschungsergebnisse bleiben
in den Labors und finden keine Anwendung. Das ist der
Punkt, an dem wir arbeiten müssen. Wir müssen aus der
Grundlagenforschung über die Entwicklung in die Anwendung kommen.
({20})
Nicht nur das Ausland darf aber von dem profitieren,
was in Deutschland erforscht worden ist. Die Anwendung sollte primär in Deutschland stattfinden. Dafür
müssen wir die Rahmenbedingungen setzen.
({21})
Ich will Ihnen die Antwort mit den Worten von Peter
Gruss, dem Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft,
geben. Er hat gesagt:
Das virtuelle Staffelholz zwischen den Forschungseinrichtungen und innovativer Wirtschaft darf …
nicht zu Boden fallen.
Ich glaube, wir sind gut beraten, uns dem Vorschlag
der Max-Planck-Gesellschaft zuzuwenden. Sie schlägt
die Schaffung von Innovationsfonds vor. Mit diesen Innovationsfonds kann die Brücke zwischen Forschung
und Wirtschaft geschlagen werden. Wir stehen hinter
dieser Idee, wir sind dafür, dass diese strukturelle Lücke
schnellstens geschlossen wird. Wir fordern Sie auf: Machen Sie mit! Tun Sie etwas dafür, dass Forschungsergebnisse auch zu entwicklungsfähigen Produkten werden, damit die Chancen wachsen, in unserem Land zu
Arbeitsplätzen und Wachstum zu kommen.
({22})
Man darf an dieser Stelle eines nicht unerwähnt lassen: Die Diskrepanz zwischen Reden und Handeln ist
bei Ihnen immer wieder riesig.
({23})
Das wird an keinem Beispiel so deutlich wie an dem der
Grünen Gentechnologie.
({24})
Sie müssen verantworten, dass die Chancen für Deutschland verloren zu gehen drohen. Rund um den Globus
werden auf 70 Millionen Hektar gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut, in Deutschland gerade einmal
auf 673 Hektar. Das weltweite Marktpotenzial wird auf
500 Milliarden Dollar geschätzt.
Schauen Sie sich vor Ort, dort, wo die Industrie in
diesem Bereich forscht und Arbeiter auf Arbeitsplätze
hoffen, um. Gehen Sie einmal zur BASF. Dort werden
bis zum Jahr 2010 700 Millionen Euro in den Ausbau
der Pflanzenbiotechnologie investiert. Ich sage: möglichst in Deutschland!
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Die IG BCE und der Betriebsrat der BASF kämpfen
mit Vehemenz dafür, dass endlich die Grüne Gentechnologie eine Chance erhält. Wir werden im Vermittlungsausschuss alles daransetzen, dass die Fehler, die Sie im
Gentechnikgesetz gemacht haben, beseitigt werden, damit Deutschland wieder eine Chance hat. Wir werden alles daransetzen, an das anzuknüpfen, was zu unserer Zeit
galt: Deutschland war der größte Technologielieferant
Europas.
Es ist Zeit für eine neue Bundesregierung, damit dieser Weg wieder beschritten wird. Dafür werden wir
kämpfen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Loske,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Böhmer, es ist schon ein wenig abenteuerlich. Einige Ihrer Argumentationen habe ich durchaus verfolgt.
({0})
Ein Argument ist mir besonders aufgefallen. Bis jetzt haben Sie bei jeder Debatte behauptet, die Forscherinnen
und Forscher liefen aus Deutschland weg, alles sei ganz
furchtbar. Braindrain war Ihr Stichwort. Jetzt haben Sie
offenbar gemerkt, dass Sie, wenn Sie den Standort
Deutschland immer so schlechtreden, wie Sie es in der
Vergangenheit getan haben, die Argumentation leicht ändern müssen. Jetzt heißt es: Wer weiß, wie lange die Forscherinnen und Forscher noch bleiben? Die Realität ist
eine ganz andere: Sie kehren zurück, und zwar wegen
unserer Politik und der Rahmenbedingungen, die wir
setzen.
({1})
Ein Zweites können wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Das sind Ihre Zahlen. Sie müssen schon bei der
Wahrheit bleiben.
({2})
1998 lag der Anteil der Ausgaben für Forschung und
Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt bei knapp
2,3 Prozent, heute liegt er bei 2,5 Prozent, das ist ein
deutlicher Aufwuchs. Diese Ansicht könnten Sie möglicherweise teilen. Ihre These ist, der öffentliche Anteil sei
zurückgegangen. Auch diese These stimmt nicht; denn
der Anteil des Bundes ist zwischen 1998 und heute von
8,2 auf knapp 9 Milliarden Euro gestiegen. Sie sagen
hier also die Unwahrheit und das können wir nicht akzeptieren.
({3})
Jetzt zu Frau Flach. Ich hoffe - ich nehme an, das hat
auch die Frau Präsidentin so gemeint -, wir haben vorhin
nicht über Ihre Ehe gesprochen.
({4})
Da ich auch Ihren Mann kenne, gehe ich eigentlich fest
davon aus, dass Sie sich nicht morgens darüber Gedanken machen, wie man dem Partner Steine in den Weg
rollen kann. Vielleicht beschreibt das Beispiel das Verhalten der Länder ganz gut, aber ganz sicher nicht Ihre
Ehe.
({5})
Die CDU hat die These vertreten: Früher war alles
besser. Dazu komme ich gleich noch. Sie haben die
These vertreten: Andere sind durchweg besser. Dass wir
besser werden müssen, darüber besteht Einvernehmen.
Auch darüber, dass die Skandinavier mehr Mittel für
Forschung und Technologie bereitstellen als wir, besteht
Einvernehmen.
Betrachten wir dazu einmal die nüchternen Zahlen:
Der Anteil der Forschungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt beträgt bei uns 2,5 Prozent. In Amerika beträgt
er 2,6 Prozent, ist also nur geringfügig höher. Im Vereinigten Königreich liegt er bei 1,9 Prozent, in Frankreich
bei 2,3 Prozent. Sie sollten uns also nicht ständig so
schlechtreden. Wir müssen besser werden, aber wir sind
nicht schlecht. Das möchte ich noch einmal betonen.
({6})
Das sehen wir auch alle, unabhängig von der Parteizugehörigkeit.
Ein Argument finde ich besonders heuchlerisch und
verlogen, auch wenn es auf der Metaebene natürlich
stimmt, nämlich das Argument: Es ist zu wenig Geld da.
Ja, das stimmt. Warum aber ist zu wenig Geld da?
({7})
Es ist zu wenig Geld da, weil Sie systematisch den Pakt
für Forschung und Innovation blockieren, weil Sie systematisch die Exzellenzinitiative blockieren, weil Sie dem
Abbau aller möglichen Subventionen nicht zustimmen.
Das war nicht nur bei der Eigenheimzulage so, sondern
auch beim Agrardiesel und anderen Subventionen. Sie
sprechen hier also mit gespaltener Zunge und sind nicht
glaubwürdig. Das muss man ganz klar sagen.
({8})
Jetzt zu zwei Forschungsfeldern, bei denen gewaltige
Unterschiede zwischen uns bestehen. Hier nenne ich
zum einen das Thema Biotechnologie. Für uns ist wichtig, das Thema Biotechnologie wesentlich weiter auszudehnen. Zur Biotechnologie gehören für uns auch Themen wie Biokatalyse, Bionik, Bioenergien, Biorohstoffe
usw. Mit Ihrer Verengung des Themas auf Grüne Gentechnik springen Sie viel zu kurz und weisen in die völlig falsche Richtung.
Es gibt Felder, in denen wir Weltspitze sind, zum Beispiel bei der Weißen Biotechnologie; das ist die Biotechnologie, die in industriellen Prozessen außerhalb des
menschlichen Körpers und innerhalb der Fabriken stattfindet. Hier sind wir heute schon Weltspitze
({9})
und diese Position an der Weltspitze wollen wir durch
die Setzung entsprechender Rahmen, beispielsweise
durch das BMBF, weiter ausbauen. Hierdurch werden
wir unsere Position an der Weltspitze halten.
({10})
Unterstützen Sie das und blockieren Sie das nicht dauernd! Das machen Sie nämlich gerade bei der Novelle
des Gentechnikgesetzes. Die Vereinfachung, die wir uns
im Bereich der Weißen Biotechnologie, also im geschlossenen System, vorgenommen haben, versuchen
Sie gerade wieder zurückzunehmen.
Ihre sonstigen Vorstellungen im Vermittlungsausschuss sind wahnsinnig: Erstens. Bezüglich der Haftung
für Schäden durch gentechnisch veränderte Pflanzen
wollen Sie beispielsweise, dass nicht der Verursacher
haftet, sondern dass im Prinzip der Betroffene den Schaden trägt. Sie wollen die Gewinne privatisieren und die
Verluste sozialisieren. Das machen wir ganz eindeutig
nicht mit.
({11})
Zweitens wollen Sie das Standortregister wieder
schließen. Sie wollen, dass die Leute keinen Einblick haben. Auch das ist unakzeptabel. Wir sind für Transparenz. Drittens. Völlig inakzeptabel ist, dass Sie den
Schutz ökologisch sensibler Gebiete komplett kippen
wollen. - Hier bestehen zwischen uns gewaltige Unterschiede. Das ist erkennbar.
Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen: Sie fordern immer wieder ein konsistentes Energieforschungsprogramm ein.
({12})
Wir sind da dran. Das ist jedoch schwierig. Sie jedoch
setzen völlig einseitig auf Atomenergie bzw. Fusionsenergie. Aber das ist die Energie der Vergangenheit und
nicht die Energie der Zukunft. Ich will Ihnen dazu einmal einige Zahlen nennen. Seit den 50er-Jahren sind
80 Prozent der gesamten öffentlichen Energieforschungsmittel innerhalb der OECD in Kernspaltung und
Kernfusion geflossen. Gedeckt werden dadurch nur noch
7 Prozent des Weltenergiebedarfs. Ich fordere Sie daher
auf: Kommen Sie weg von Ihrer einseitigen Fixierung
auf Atomenergie und Kernfusion! Gehen Sie mit uns den
Weg der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz. Dann sind Sie auf der richtigen Seite.
Danke schön.
({13})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marion Seib, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren!
Die Bereitschaft der Wirtschaft zu Innovationen am
Standort Deutschland hat zwar zugenommen. Unsicherheit über die mittelfristigen Absatz- und
Wachstumsaussichten begrenzt jedoch das finanzielle Engagement bei Investitionen in Forschung
und Entwicklung, in hoch qualifiziertes Personal
und in Sachanlagen.
Und:
Vielfach gelingt es in anderen Staaten jedoch erheblich schneller, die Budgets gezielt auf mehr Investitionen zur Verbesserung der technologischen Leistungsfähigkeit auszurichten.
Diese zwei Zitate aus dem Bericht zur technologischen
Leistungsfähigkeit 2005 der Bundesregierung bringen es
tatsächlich auf den Punkt.
Kurzum: Unsere Ausgaben für Forschung und Entwicklung stehen hinter der internationalen Entwicklung deutlich zurück. Das Forschungs- und Innovationsgeschehen ist in anderen Ländern weitaus dynamischer.
China hat seine Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen allein seit Mitte der 90er-Jahre vervierfacht und
sich mit FuE-Ausgaben von 72 Milliarden US-Dollar
auf Rang drei der forschungsreichen Länder katapultiert.
Die trübe Entwicklung zeigt sich auch im gestern veröffentlichten Wettbewerbsindex des International Institute for Management Development in Lausanne; das
konnte man in der „FAZ“ nachlesen. Im Vergleich von
60 Staaten ist Deutschland mittlerweile auf den 23. Platz
abgerutscht. Vor einigen Jahren befand sich unser Land
noch auf Platz 13. Klarer kann sich das rot-grüne Regierungsversagen nicht ausdrücken.
({0})
Forschungs- und Innovationsförderung für die
Arbeitsplätze der Zukunft - wenn wir dieses Thema
diskutieren, so stehen wir in Deutschland vor einem Dilemma. Wir benötigen ganz dringend Arbeitsplätze, vor
allem aber in den Spitzentechnologien, um unsere Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt aufrechterhalten zu
können. Der materielle Wohlstand unserer Volkswirtschaft wird in Zukunft maßgeblich davon abhängen, wie
viele junge Menschen in Wissenschaft und Forschung
tätig sind und wie viele Spitzenleistungen erbracht werden können; denn nur in den wachstumsstarken Bereichen der Spitzentechnologien können langfristig Arbeitsplätze geschaffen werden.
Die Bundesregierung bietet bisher keinen Ausweg
aus diesem Konflikt. Sie steuert vielmehr unentwegt einen Zickzackkurs. Im vergangenen Jahr der Technik erlebten wir ein wahres Feuerwerk an verbalen Worthülsen
in Sachen Innovation und Fortschritt. In diesem Jahr vertreibt Rot-Grün durch Kapitalismusdiskussionen innovative und risikofreudige Unternehmer ins Ausland. Was
nutzt es, wenn der Bundeskanzler Mitte April gemeinsam mit der KfW und einigen Großunternehmen einen
Innovationsfonds für junge Unternehmer in Höhe von
140 Millionen Euro ins Leben ruft und Herr Müntefering
zur gleichen Zeit wenige Stunden später auf die kapitalistischen Heuschrecken einprügelt?
({1})
Was fehlt, ist eine klare Linie der Bundesregierung.
Es fehlt die Botschaft, dass Spitzentechnologieunternehmen in Deutschland ohne Wenn und Aber willkommen
sind.
({2})
Der Bundesregierung fehlen der Mut und die Entschlossenheit, auf die Herausforderungen der globalisierten
Wirtschaft angemessen zu reagieren und damit auf die
Wissensgesellschaft einzugehen. Die bereits erwähnte
Studie aus der Schweiz fasst dies mit den folgenden
Worten zusammen:
Deutschland muss die Reform des Steuersystems,
die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen, die
Entwicklung und Anwendung einer umfassenden
Innovationsstrategie und die Verbesserung des Ausbildungswesens in Angriff nehmen.
Besser hätten auch wir das nicht formulieren können.
Zwei Beispiele für das widersprüchliche zaghafte
Verhalten der Bundesregierung sind besondert markant.
Im Bereich der Biotechnologie stolpert die Regierungskoalition hin und her. Einerseits unterstützt sie die so genannte Weiße Gentechnik vollmundig, andererseits
brandmarkt sie die Grüne Gentechnik als Teufelszeug.
Einen Schlingerkurs fährt die Regierung ebenso in Sachen Energieforschung. Auch wenn Herr Trittin noch
so laut Hurra schreit, wenn ein Atomkraftwerk vom Netz
geht: Deutschland fehlt ein konsistentes neues Energieforschungsprogramm, das alle technologischen Optionen untersucht und offen hält.
Bemerkenswert ist das Themenpapier aus dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit mit dem Titel „Atomkraft: Wiedergeburt eines
Auslaufmodells?“. Hier heißt es zum Beispiel lapidar:
Der nationale Strom-Mix verändert sich wie seit
den Siebziger und Achtziger … nicht mehr. Damals
veränderten Atomkraftwerke die Struktur der
Stromerzeugung; jetzt sind es die unerschöpflichen
Energien aus Wind, Sonne, Wasser, Biomasse und
Erdwärme.
Wirklichkeitsferner geht es nicht mehr. Außer blumigen
Worten fehlt jeder konkrete Hinweis, Herr Kollege Fell,
darauf, wie die Kernenergie kurz- und mittelfristig durch
alternative Energien in Deutschland ersetzt werden kann.
({3})
Zu einer zukunftsgerichteten Forschungs- und Innovationsförderung gehört auch eine preiswerte und von
äußeren Einflüssen weitgehend unabhängige Energieversorgung.
In der Antwort auf unsere Große Anfrage zur Lage
der Forschung in Deutschland schreibt die Bundesregierung:
Die Verbindungen zwischen FuE, Innovation und
Arbeitsplatzschaffung sind in einer arbeitsteiligen
Volkswirtschaft vielschichtig und komplex.
Da hat die Bundesregierung Recht, doch sie lässt dieser
Erkenntnis keine Taten folgen. Ihre Aktionen sind kurzatmig und oft nicht richtig durchdacht. Auf der einen
Seite fördert sie junge Unternehmen mit Innovationsfonds, auf der anderen Seite will sie genau diesen Unternehmen mit einem übertriebenen Antidiskriminierungsgesetz das Leben schwer machen.
({4})
Forschungs- und Innovationsförderung ist langfristige
Zukunftsplanung. Die heutigen Weichenstellungen werden sich erst langfristig auswirken. Deswegen müssen
wir die Technologien mit Innovationspotenzial rechtzeitig identifizieren und unterstützen. In unserem Antrag
haben wir einige Bereiche, natürlich ohne Anspruch auf
Vollständigkeit, genannt. Jetzt kommt es darauf an, eine
optimale Verzahnung von Finanzmitteln, Wissenschaft
und Wirtschaft zu fördern, damit gut bezahlte Arbeitsplätze der Zukunft in Deutschland entstehen und auch
mit exzellent ausgebildeten Fachkräften besetzt werden
können.
Die geschätzten Steuerausfälle in Höhe von 67 Milliarden Euro zeigen deutlich, dass der Spielraum der öffentlichen Hand in den nächsten Jahren gering bleibt.
Umso wichtiger ist es, die Hebelwirkung der Förderprogramme zu optimieren und ständig zu evaluieren. Mit
gutem Beispiel geht hier Bayern mit seiner Politik der
Clusterbildung voran. In den letzten zehn Jahren hat
Bayern zum Beispiel durch den Einsatz von mehr als
3 Milliarden Euro aus Privatisierungserlösen Schlüsseltechnologien wie Life Science, Informations- und Kommunikationstechnologie oder Mechatronik gezielt gestärkt und damit den Boden für leistungsfähige
Wirtschafts- und Wissenschaftscluster bereitet.
Mit der konsequenten Verzahnung von Finanzmitteln,
Wissenschaft und Wirtschaft kann es uns gelingen, innovative Spitzentechnologien dauerhaft in Deutschland zu
etablieren, unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu
erhöhen und damit unseren Sozialstaat zu erhalten.
Diese Chance müssen wir alle nutzen.
Besten Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Wicklein,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der springende Punkt auch bei dieser Debatte ist, dass
die Reden und die Taten der Union einfach nicht zusammenpassen.
({0})
Die Vorschläge der Union in den vorliegenden Anträgen
für Bildung und Forschung sind marginal, bunt zusammengewürfelt und lassen keine wirklich ehrliche Strategie erkennen. Zum Beispiel fordern Sie in Ihren Anträgen mehr Geld für optische Technologie und für die
Nanotechnologie. Wussten Sie eigentlich, dass die Mittel für die Nanotechnologie von 1998 bis 2003 um sage
und schreibe 440 Prozent
({1})
und die für Biotechnologie um 80 Prozent erhöht wurden?
({2})
Sie fordern weiter, die deutsche und die europäische
Luft- und Raumfahrt zu unterstützen. Festzustellen ist:
Auch dank der Bundesförderung ist Europa die Nummer
eins in der Luftfahrtindustrie.
({3})
- So ist es. - Der neue Airbus A380 soll bereits im ersten
Anlauf allein in Deutschland 4 000 Arbeitsplätze schaffen, viele davon in der mittelständischen Wirtschaft.
({4})
Sie wissen, dass selbst aus Ihrer Sicht die Strategie
der rot-grünen Bundesregierung für mehr Forschung und
Innovation richtig und notwendig ist. Doch Ihre Mehrheit im Bundesrat nutzen Sie lediglich, um zu blockieren
und um zu verhindern.
Sehr überrascht hat mich auch Ihr Antrag zur reibungslosen Umsetzung des Bologna-Prozesses in
Deutschland, den wir gestern hier debattiert haben. Ich
kann mir nicht verkneifen, Ihnen daran Ihre Widersprüchlichkeit heute nochmals deutlich zu machen. Ich
freue mich sehr, dass Sie den Umsetzungsprozess in
Deutschland als mustergültig für andere Länder hervorheben. Umso weniger verstehe ich dann, dass Sie den
hessischen und den bayerischen Ministerpräsidenten offensichtlich nicht daran hindern können, sich regelmäßig
als Bremsklötze zu betätigen,
({5})
wollen diese doch mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht den Bund gerade daran hindern, den Bologna-Prozess zu beschleunigen. Aus meiner Sicht ist
das alles schizophren.
({6})
Auch ist es grandios, dass Sie sich im selben Antrag
darüber besorgt zeigen, dass die Bundesmittel für den
Hochschulbau gekürzt werden könnten. Wir haben
heute wieder Ihre diesbezüglichen Befürchtungen gehört.
({7})
Ist nicht auch das eine unzulässige Einmischung des
Bundes in die Länderkompetenz? Vielleicht gibt es auch
hinsichtlich des Hochschulbaus demnächst eine Klage
vor dem Bundesverfassungsgericht durch einen Ihrer
Ministerpräsidenten.
({8})
In der Union gibt es auf breiter Front Widersprüche
zwischen Fordern und Handeln, Herr Rachel. In den Anträgen fordern Sie mehr Geld. Gleichzeitig lehnen Sie im
Bundesrat Vorschläge ab, die mehr Geld bedeuten, und
beharren dort auf der Eigenheimzulage.
({9})
Das Verhalten der Union ist insgesamt wenig vertrauenswürdig, wenig durchschaubar und aus meiner Sicht unehrlich.
In den Beratungen zum Haushalt 2005 zum Beispiel
haben Sie in Anträgen zum Thema Bildung und Forschung auf der einen Seite Kürzungen in Höhe von
100 Millionen Euro und auf der anderen Seite Mehrausgaben in Höhe von 400 Millionen Euro vorgesehen. Das
sind unterm Strich 300 Millionen Euro mehr. Vorschläge
zur Gegenfinanzierung blieben allerdings aus. Interessant ist auch, wo Sie sparen wollen: bei Ganztagsschulen, bei der Chancengleichheit von Frauen und - man
höre und staune - auch bei der Umsetzung des BolognaProzesses.
Lassen Sie mich ein weiteres treffendes Beispiel dafür
anführen, was Sie mit Ihrer Politik beabsichtigen: Sie
wollten allein bei der Arbeitsforschung um
18 Millionen Euro kürzen. Dabei stehen wir gerade in
der Arbeitswelt vor riesigen Herausforderungen. Innovationen sind Menschenwerk. Menschen denken, forschen
und gestalten. Daher genügt es nicht, nur neue Technologien zu entwickeln. Wir müssen vielmehr der wertvollsten betrieblichen Ressource - den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern - eine größere Beachtung widmen.
({10})
Wir brauchen gerade hierfür neue Konzepte und Ideen.
Im Mittelpunkt unserer Politik stehen die Menschen.
Ihre Ideen und Potenziale sind entscheidend für die Innovationsfähigkeit der Volkswirtschaft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unter Rot-Grün haben wir in Forschung und Entwicklung Beachtliches geleistet. Das ist unstrittig. Wir sind gut aufgestellt und
brauchen den internationalen Vergleich nicht zu scheuen.
({11})
Die Ausgaben des Bundes für Forschung und Entwicklung sind - das haben wir heute schon mehrfach gehört seit 1998 um 1 Milliarde Euro auf über 9 Milliarden
Euro gestiegen. Im Übrigen ist auch unser Engagement
im Rahmen der europäischen Forschungsförderung an
dieser Stelle herauszustellen. Schon beim laufenden
6. EU-Forschungsrahmenprogramm geht jeder fünfte
Euro nach Deutschland. Unsere Wissenschaftler sind an
80 Prozent der ausgewählten Vorhaben beteiligt. Wir liegen damit auf Platz eins.
({12})
Derzeit legen wir gerade den Grundstein dafür, dass
wir auch im 7. EU-Forschungsrahmenprogramm diesen
erfolgreichen Weg fortsetzen, indem wir uns jetzt aktiv
in den Entstehungsprozess einbringen. Dennoch sind wir
von unserem gemeinsamen Ziel, die Ausgaben für Bildung und Forschung bis 2010 auf 3 Prozent zu steigern,
noch weit entfernt. Darin sind wir uns einig.
Doch Sie von der Union hindern uns permanent daran, dass wir bei Forschung und Innovation noch etwas
drauflegen können.
({13})
Langsam müsste es Ihnen peinlich sein, die Hochschulen
und Forscher in unserem Land im Stich zu lassen,
({14})
genauso wie übrigens die Unternehmen, die gut ausgebildete Fachkräfte und innovatives Wissen brauchen.
Albert Einstein sagte einmal: „Es lässt sich schwer sagen, was Wahrheit ist, aber manchmal ist es leicht, etwas
Falsches zu erkennen.“ Denken Sie einmal darüber nach
und beenden Sie Ihre Blockaden im Interesse der Studierenden, der Forscher und Wissenschaftler in unserem
Land! Machen Sie den Weg für mehr Innovationen in
Bildung und Forschung und damit für mehr Wachstum
und Beschäftigung frei!
Vielen Dank.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Helge Braun, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben heute eine Rede von der Bundesministerin für Bildung und Forschung gehört,
({0})
in der sie die ganze Zeit den Status quo beschrieben und
die Zahlen, die diesen Status quo bestimmen, schöngeredet hat.
({1})
Wir haben während der gesamten Rede der Bundesministerin nicht einen einzigen Vorschlag gehört, wie
sich die Forschungslandschaft in Deutschland in den
kommenden Jahren unter den Herausforderungen, vor
denen wir stehen, weiterentwickeln soll. Das ist kein
Signal des Aufbruchs im Bereich Forschung und Bildung.
({2})
Es geht hier aber nicht um das Bund-Länder-Verhältnis, sondern darum, dass der Bund erst einmal seine originären Kompetenzen im Bereich der Forschung nutzt,
um Strukturen und Rahmenbedingungen zu schaffen, die
ernsthaft dazu beitragen, dass Deutschland besser wird.
Da heute offenbar der Tag der Familienvergleiche ist,
würde ich das Verhältnis zwischen Bund und Ländern
eher als eines zwischen zwei kleinen Kindern beschreiben. Dabei hat der Bund als eines der beiden kleinen
Kinder ständig Interesse genau an dem Spielzeug, das
der andere hat, während alle Spielzeuge, die er selber in
der Hand hat, automatisch uninteressant sind. Deshalb
sage ich: Frau Bundesforschungsministerin, beschäftigen Sie sich genau mit den Aufgaben, die Sie selber haben, und lassen Sie den Ländern ihre Kompetenz und
Verantwortung, für die sie zuständig sind!
({3})
Das, was uns im Bund fehlt, ist eine strategische
Ausrichtung der Forschungspolitik im Ganzen. Heute
wäre anderthalb Jahre vor der nächsten Bundestagswahl
die letzte Chance gewesen, eine entsprechende Strategie
deutlich zu machen.
({4})
Die entscheidende Frage ist: Wie können wir die Karrierewege von Forschern in Deutschland so organisieren,
dass sie ihre Exzellenz ununterbrochen in Deutschland
ausüben können? Sie haben die Juniorprofessur angesprochen. Aber auf unserem Nachwuchswissenschaftlerkongress wurde deutlich, dass es gerade an dem Punkt,
an dem dieses Instrument aufhört, große Probleme gibt;
denn wir haben nicht wie in Amerika ein Tenure-TrackSystem oder Ähnliches. Junge Forscher in Deutschland
können realistischerweise nicht sagen: Wer exzellent ist,
der kann auch auf Dauer seinen Weg in der Wissenschaft
gehen. Immer wieder müssen Projekte beendet werden,
obwohl sie Exzellenz zeigen, weil die Mechanismen, die
wir in der deutschen Forschungslandschaft vorhalten,
nicht ausreichen.
({5})
Sie nennen immer wieder Beispiele. Aber genau diese
Forschungspolitik in Beispielen ist ein Zeichen des angesprochenen strategischen Mangels. Der Hinweis darauf, dass es in Deutschland 150 Studenten mit Heisenberg-Stipendien gibt, kann doch nicht die Antwort auf
ein im gesamten Forschungsraum bestehendes Problem
sein. Wenn man mit jungen Forschern redet, dann stellt
man zwar fest, dass diese schon einmal jemanden auf einem Kongress kennen gelernt haben, der in den Genuss
solcher Instrumente gekommen ist. Aber die vielen kleinen einzelnen Mosaiksteine führen teilweise dazu, dass
unser gesamtes Forschungssystem undurchschaubar
wird. Von einem strategischen Gesamtaufbau der Karrierewege junger Forscher in Deutschland kann nicht die
Rede sein.
Der zweite Komplex, in dem eine solche Gesamtstrategie fehlt, ist der Bereich der Innovationen - von der
Idee über die Grundlagenforschung zur anwendungsorientierten Forschung bis hin zu Patent und Produkt. Wir
haben in den letzten Jahren enorme Anstrengungen in
Deutschland unternommen, um die Zahl der Patente, die
im Bereich der Hochschule erarbeitet werden, zu erhöhen. Nun sind wir in der Situation, dass uns Venture
Capital, Kapital für Unternehmensgründungen, in erheblichem Maße fehlt. Wenn man sieht, in welchem Maße
die Bundesregierung bereit ist, in diesem Bereich Gelder
zur Verfügung zu stellen oder Mechanismen zu etablieren, die für Kapital sorgen, dann muss man sagen: Sicherlich gibt es in der deutschen Forschungslandschaft
einzelne Initiativen, die dem Ansatz gerecht werden.
Aber wir sind weit davon entfernt, flächendeckend alle
marktfähigen Innovationen auf den Markt zu bringen.
Auch hier fehlt eine grundsätzliche Strategie in der Forschungspolitik der Bundesregierung.
({6})
Der dritte Punkt, bei dem eine Strategie fehlt, ist die
gezielte Forschungsförderung in Deutschland. Das abrupte Beenden der Kernforschung in Deutschland und
die Behinderung der Grünen Gentechnologie wurden bereits als Beispiele genannt. Aber auch die Tatsache, dass
wir teilweise Schlüsseltechnologien viel zu spät fördern
und die Förderung neuer Ideen, die zuerst attraktiv erscheinen, zu einem Zeitpunkt, zu dem sie sich gerade beginnen, richtig zu entwickeln, wieder einstellen, ist ein
Zeichen dafür, dass wir uns - statt Exzellenz zu fördern
und uns in der politischen Gestaltung ein Stück zurückzunehmen - politische Spielbälle zuspielen und uns immer wieder zu stark in die Wissenschaftsfreiheit einmischen. Das Beispiel, dass Frau Künast in der
Ressortforschung einzelnen Forschern sogar die Forschung verbietet, ist nur die Spitze des Eisbergs.
Wir beraten heute auch den Antrag der CDU/CSU
zum 7. EU-Forschungsrahmenprogramm. Die CDU/
CSU will mit diesem Antrag - sie ist die erste Fraktion
gewesen, die dies angegangen ist - deutlich machen,
dass Entbürokratisierung und klarere Strukturen ein notwendiger Schritt in diesem Forschungsraum sind.
Ich habe neulich einen jungen Forscher kennen gelernt. Als ich ihn fragte, was er macht - wir reden immer
von exzellenten jungen Forschern -, hat er geantwortet:
Würde ich meine Tätigkeit realistisch bezeichnen,
müsste ich mich „Antragsforscher“ nennen. Aufgrund
der Tatsache, dass er es einmal geschafft hat, einen Forschungsantrag im Rahmen des 6. EU-Forschungsrahmenprogramms genehmigt zu bekommen, hat er von seiner Hochschule nämlich den Auftrag bekommen, nichts
anderes mehr zu machen, als Anträge zu stellen; denn allein die Fähigkeit, solche Anträge zu stellen, stellt schon
eine Ausnahmequalifikation dar. Das muss sich im
7. EU-Forschungsrahmenprogramm dringend ändern.
({7})
Die Kritikfähigkeit der Bundesregierung in diesem
Haus leidet immer wieder. Heute Morgen war ich eigentlich guter Dinge, als ich die von Wissenschaftsrat, Deutscher Forschungsgemeinschaft und BMBF gemeinsam
herausgegebene Presseerklärung „Sorgenkind klinische
Forschung“ las. Natürlich sehen wir uns im Bereich der
klinischen Forschung großen Herausforderungen gegenüber. In der Gesundheitsforschung - mit diesem Bereich sind zentrale Interessen unseres Landes verbunden - arbeiten immer mehr Mediziner. Am Montag der
letzten Woche fand in Deutschland eine große Demonstration statt; junge Ärzte sind auf die Straße gegangen,
um kundzutun: Wir wollen keine Feierabendforschung
betreiben. Deutschland wird nicht konkurrenzfähig,
wenn Ärzte mit einer regulären Arbeitszeit von
42 Stunden pro Woche - hinzu kommen zehn Überstunden pro Woche, zum Beispiel durch die Patientenversorgung nach Dienstschluss - erst am Feierabend ins Labor
gehen.
({8})
Wir brauchen endlich wieder eine Forschungspolitik,
die die strategischen Aufgaben dieses Landes auch wirklich bewältigt. Diese Bundesregierung hat heute erneut
die Chance verpasst, dazu konstruktive Vorschläge zu
machen.
({9})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Ulla Burchardt von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Opposition wollte diese Debatte, um eine
Bilanz der Forschungs- und Innovationspolitik zu ziehen.
({0})
Sie bemühte diverse Vergleiche. Als letzte Rednerin in
dieser Debatte greife ich diesen Ball gern auf.
Die beeindruckende Bilanz rot-grüner Forschungsund Innovationspolitik liegt Ihnen nicht nur in gedruckter Fassung vor - ich verweise auf die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Union und auf
den Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit -;
vielmehr haben diese Bilanz heute auch Frau Ministerin,
meine Kolleginnen und die beiden grünen Kollegen sehr
deutlich unterstrichen.
({1})
Wer sich heute zu Gemüte geführt hat, was die Oppositionsfraktionen hier geboten haben, der hat festgestellt:
Das waren im Wesentlichen Mäkelei, Schwarzmalerei
und Herumjammern. Man kann wirklich den Eindruck
haben: Sie verwechseln eine Plenardebatte mit einem
Casting für eine Show „Wer ist die beste Jammertruppe
im ganzen Land?“.
({2})
Kommen wir zur Bewertung Ihrer Konzepte.
({3})
Dazu ist bereits etliches gesagt worden. Ihre Konzepte
bestechen durch drei Merkmale:
Erstens. Angesichts der Widersprüchlichkeit Ihrer
Forderungen sind Sie von der selbst aufgelegten Messlatte einer konsistenten Forschungs- und Innovationspolitik weit entfernt. Mit dem Hinweis auf die Finanzdebatte heute Morgen möchte ich an einem Beispiel klar
machen, was überhaupt nicht zusammenpasst: Sie fordern einerseits viel mehr Geld für Forschung und auf der
anderen Seite versprechen Sie im ganzen Land Steuersenkungen in Milliardenhöhe. Ich wiederhole: Das ist
von einer konsistenten Forschungs- und Innovationspolitik weit entfernt.
({4})
Sie fordern Fortschritte in der Forschungs- und Innovationspolitik; gleichzeitig sind Sie die personifizierte
Blockade, und zwar nicht nur hier im Bundestag, sondern auch in den Ländern. Das haben die Kolleginnen,
die vor mir gesprochen haben, sehr deutlich dargestellt.
Zweitens. Das, was notwendigerweise und sinnvollerweise zu tun ist - man beachte Ihre Anträge und manche
Ihrer Vorschläge, die heute vorgetragen wurden; das
setzt sich aus den Textbausteinen der letzten zwei Jahre
zusammen -, haben die rot-grüne Koalition und die Forschungsministerin bereits in Angriff genommen. Auch
dazu wurden diverse Beispiele genannt. Ich verweise nur
auf die Forderung - sie wird in beiden Anträgen gestellt -, regionale Cluster zu fördern. Gehen Sie doch
einmal durchs Land und schauen Sie sich um! Wenn Sie
das getan haben, dann stellen Sie fest, dass die Förderung regionaler Cluster schon lange Wirklichkeit ist.
({5})
Das dritte Merkmal - das scheint mir nun wirklich
das Bemerkenswerteste zu sein; da muss man schon
nach der Innovationsfähigkeit Ihrer Politikkonzepte fragen - ist ein Manko. In Ihren Vorstellungen und Vorschlägen kommt der Mensch als zentrale Quelle für technologische, organisatorische und soziale Innovation
nicht vor; er spielt keine wesentliche Rolle. Das ist der
zentrale Unterschied zwischen Oppositionsvorstellung
und Regierungspolitik. Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt. Deswegen setzen wir auf die strategische Verzahnung von Bildungs-, Forschungs- und Innovationsförderung. Deswegen sind wir auch erfolgreich.
({6})
Ich komme gern zu den Vergleichen. Frau Reiche hat
gesagt, man könne nur echte Leistung messen. Vergleichen wir also einmal die Politik der Forschungsministerin der rot-grünen Bundesregierung mit der Forschungspolitik der Regierungen bis 1998! Wenn man Ihre
Benchmarks nimmt, bleiben sie weit hinter dem zurück,
was nach Ihrer Vorstellung eine fähige Forschungspolitik ist.
Das Problem ist: Sie haben uns im Forschungs- und
Innovationssystem eine Erblast hinterlassen, die angesichts der zeitlichen Reichweite von Investitions- und
Modernisierungsbedarfen nach wie vor - das ist doch die
Wahrheit - schwer auf diesem Land liegt.
({7})
Darum können Sie sich nicht herumdrücken nach dem
Motto - den Eindruck hat man bei allen Rednern der
Union gehabt -: Ich bin damals noch nicht dabei gewesen.
Sie haben die Forschungsausgaben kontinuierlich gesenkt. Frau Böhmer, die Zahl von 2,9 Prozent bezog sich
auf die Jahre 1982/83, also auf die Zeit, als Sie gerade an
die Regierung gekommen waren.
({8})
Alle Forschungsminister, die es bei Ihnen gegeben
hat, haben die notwendigen, vom Wissenschaftsrat auch
damals schon empfohlenen Strukturreformen im Forschungssystem systematisch ausgesessen. Sie sind damals völlig überhöhte Verpflichtungen für Nuklearforschung und Raumfahrt eingegangen und haben die
wirklichen Zukunftstechnologien ausgebremst.
({9})
Von strategischer Forschungsförderung in Ihrem praktischen Regierungshandeln - auch die FDP war damals
dabei; vielleicht ist Ihnen das im Nachhinein peinlich ist bei über 10 000 Einzelprojekten keine Spur.
Herzlichen Glückwunsch, dass Sie endlich den wissenschaftlichen Nachwuchs entdeckt haben! Der kam
nämlich in den 16 Jahren Ihrer Bildungs- und Forschungspolitik überhaupt nicht vor.
({10})
Wir sind für lebenslanges Lernen. Es wäre ganz prima,
wenn auch Sie dem Rechnung trügen.
Der absolute Skandal lag darin, dass Sie bei der Verteilung von Fördermitteln 16 Jahre systematisch parteipolitische Klientelpolitik und systematisch auch eine Benachteiligung SPD-geführter Länder betrieben haben.
({11})
Auch unter einem Minister Rüttgers ist NordrheinWestfalen systematisch benachteiligt worden. Wenn
Herr Rüttgers heute von Heimatliebe spricht, dann ist
das angesichts dessen, was er für dieses Land oder besser gegen dieses Land getan hat, purer Zynismus.
({12})
Er ist sich auch nicht zu schade, den Forschungs- und
Innovationsstandort schlechtzureden. Aus gegebenem
Anlass dazu noch ein paar Fakten:
({13})
NRW ist Exportmeister und exportiert mehr Waren und
Dienstleistungen als Hessen, Niedersachsen, SchleswigHolstein, Sachsen und Berlin zusammen. NRW ist Gründerland. Über alle Branchen hinweg werden in Nordrhein-Westfalen mehr Unternehmen pro Einwohner gegründet als beispielsweise in Baden-Württemberg.
({14})
- Ich sage das, damit Sie ein bisschen über das Land erfahren, Frau Reiche. - NRW ist Investorenland. Mehr als
30 Prozent aller Auslandsinvestitionen gehen direkt
dorthin. Den Rest teilen sich die anderen 15 Bundesländer.
Dass heute in Nordrhein-Westfalen Kohle mit Köpfen, mit dem Know-how und der Kreativität der Menschen gemacht wird, ist der klugen und weitsichtigen
Politik sozialdemokratisch geführter Landesregierungen
zu verdanken,
({15})
die damit zu Beginn des Strukturwandels angefangen haben.
({16})
Dort gibt es heute mit 57 Hochschulen die dichteste
Hochschullandschaft in ganz Europa. In NordrheinWestfalen sind 59 der 264 Sonderforschungsbereiche angesiedelt.
({17})
In Nordrhein-Westfalen sind Clusterbildung, Vernetzung
von Hochschulen, Forschung und Wirtschaft, Wirklichkeit geworden. Bei uns sind die Pro-Kopf-Ausgaben für
Bildung und Wissen stärker gestiegen als in jedem anderen Bundesland.
({18})
Wir haben den Weg zur Selbstständigkeit von Schulen
und Hochschulen verordnet.
({19})
Ich komme noch einmal auf Herrn Rüttgers zurück.
Dass seine damaligen Äußerungen zu Studiengebühren
völlig konträr zu denen sind, die er jetzt macht, ist kein
Wunder. In Nordrhein-Westfalen ist die „Rolle Rüttgers“
mittlerweile eine stehende Redewendung.
Was alle wissen sollten - auch Sie; vielleicht ist es Ihnen entgangen -, ist Folgendes: Herr Rüttgers hat jetzt
im Wahlkampf ein Zukunftsprogramm vorgestellt.
({20})
- Wenn Sie das gut finden, ist Ihnen vielleicht noch nicht
aufgefallen, dass Forschung in diesem Zukunftsprogramm überhaupt nicht vorkommt.
({21})
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Wer die Forschung in dem Programm vergisst, mit
dem er regieren will, der ist nicht nur ein Standortrisiko;
der hat die Zukunft lange hinter sich.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 27 a: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/5016 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 27 c: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/5174. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/472 mit dem
Titel: „Die Europäische Spallations-Neutronenquelle in
Deutschland fördern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der FDP und der CDU/
CSU angenommen.
Noch Tagesordnungspunkt 27 c: Unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/654 mit dem Titel: „Sachgerechte Planungsentscheidungen zum Bau einer Europäischen Spallations-Neutronenquelle ermöglichen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 d: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/5101 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/
CSU mit dem Titel: „Informatives Berichtswesen als
Grundlage einer guten Forschungs- und Technologiepolitik“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/4497 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der CDU/
CSU und der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 e: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/4712 zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel: „7. EU-Forschungsrahmenprogramm wirksam ausgestalten“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3807
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der CDU/CSU und Enthaltung
der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 f bis 27 h: Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/5246, 15/5300 und 15/5360 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 13 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Äußerungen des Bundesministers der Finanzen zu Haushaltsrisiken für den Bundeshaushalt 2005 und zur Mehrwertsteuer
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Andreas Pinkwart, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die ernüchternden Zahlen, die uns gestern die
Steuerschätzer vorgetragen haben, und die Reaktion des
Bundesfinanzministers, der bereits im Vorfeld vor dem
Hintergrund der desaströsen Finanzlage des Bundes eine
Mehrwertsteuerdebatte entfacht hat, machen deutlich,
dass Rot-Grün zunehmend einem Komafall gleicht.
({0})
Rot-Grün bewegt nichts mehr, was Wachstum und
Beschäftigung fördern könnte, und schafft es nicht, die
Krankheit an der Wurzel zu packen. So ist die Beratung
der Pläne, die eigentlich den Standort Deutschland wieder nach vorne bringen sollten und deren Umsetzung
vom Bundeskanzler hier vor einigen Wochen angekündigt wurde, heute von der Tagesordnung abgesetzt worden. Das heißt, hier fehlt es an Kraft, etwas für mehr Investitionen und Arbeitsplätze zu tun. Von dieser Seite ist
eben kein Aufschwung für Deutschland zu erwarten.
({1})
Rot-Grün fehlt aber auch längst die Kraft, die Schuldenproblematik durch wirksame Konsolidierungsanstrengungen in den Griff zu bekommen. Der Haushalt
für dieses Jahr sieht eine Nettoneuverschuldung von
22 Milliarden Euro vor.
({2})
Aufgrund der Steuerschätzung und aufgrund der anderen
Haushaltsrisiken, die noch nicht einmal in Abrede gestellt werden, wissen wir, dass wir mit einer Neuverschuldung von annähernd 40 Milliarden Euro rechnen
müssen. Addiert man den Vermögensverzehr, der für
dieses Jahr geplant ist, hinzu, dann kommen wir in diesem Haushalt auf ein Defizit von insgesamt nahezu
60 Milliarden Euro. Meine Damen und Herren, das ist
die Bilanz Ihrer verfehlten Haushalts-, Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre.
({3})
Der Bundesfinanzminister wird vor dem Hintergrund
dieser desaströsen Bilanz zunehmend zu einer Art Illusionskünstler, der nicht müde wird, seinen Haushalt und
seine Berichte immer wieder neu schönzufärben und
schönzureden; so auch seine Reaktion auf die neuesten
Zahlen. Es ist immer wieder das gleiche Spiel: Die Einnahmen werden seit Jahren überschätzt, die Ausgaben
seit Jahren unterschätzt.
({4})
Beides ist eine Illusion, beides geht nicht auf, und das in
Serie.
Wer trägt die Lasten dieser verfehlten Politik? Sie haben dadurch in den letzten Jahren 200 Milliarden Euro
neue Schulden aufgetürmt und zusätzlich 60 Milliarden
Euro Vermögenswerte aufgelöst. Das ist eine Politik zulasten der zukünftigen Generationen. Es ist in hohem
Maße eine unsoziale Politik, die Sie hier betreiben.
({5})
Es ist nicht erkennbar, auch nicht nach dem Bericht,
den wir vorhin im Haushaltsausschuss bekommen
haben
({6})
- nein, das sind leider Ihre Zahlen -,
({7})
dass Sie hier eine verantwortliche Politik betreiben.
Denn auf Ihren Haushalt kommt - Sie haben sich ja gerade so stark für Bildung und Innovation ausgesprochen im nächsten und in den Folgejahren folgende Situation
zu: Nach der neuen Schätzung fehlen Ihnen weitere
40 Milliarden Euro für die Folgejahre. Die Ausgaben
sollen in der mittelfristigen Finanzplanung nur um ein
viertel Prozent steigen. Das sind Ihre Pläne. Wenn Sie
das ernst meinten, müssten Sie aber schon jetzt Vorschläge vorlegen, die eine Ausgabensenkung von jährlich mindestens 4 Prozent zum Gegenstand hätten.
({8})
Das heißt, Sie müssen jetzt umsteuern
({9})
oder Sie werden Ihrer Verantwortung nicht mehr gerecht.
Wir fordern deshalb, dass Sie einen Kassensturz machen, endlich dem Deutschen Bundestag und der deutschen Öffentlichkeit ehrlich die Haushaltslage darstellen
und nicht immer wieder eine Verschleierung vortragen
und sich hinter Schätzungen verstecken, für die Sie
selbst die Prognosedaten geliefert haben, für die Sie also
selbst verantwortlich sind. Ein ehrlicher Kassensturz,
Offenlegung aller Risiken in den Ausgabenbereichen,
Vorlage eines Nachtragshaushaltes, der deutlich macht,
dass Sie umsteuern wollen, und in Verbindung damit ein
Haushaltssicherungsgesetz!
Wir haben Ihnen als FDP den Weg gewiesen. Wir haben schon bei den Haushaltsberatungen 2005 ein „Sparbuch“ über 12,5 Milliarden Euro vorgelegt. Dieses
könnten Sie umsetzen. Wir haben ein Subventionsabbaubegrenzungsgesetz in den Deutschen Bundestag eingebracht.
({10})
- Subventionsbegrenzungsgesetz. - Sie können ihm zustimmen; es liegt vor. Voriges Jahr haben Sie es abgelehnt. Außerdem haben wir einen Gesetzentwurf für einen nationalen Stabilitätspakt eingebracht, um die
Maastricht-Kriterien ins Grundgesetz zu schreiben.
Meine Damen und Herren, Sie haben die Chance, auf
den Pfad einer vernünftigen Haushalts- und Finanzpolitik zurückzufinden. Wenn Sie die Kraft dazu nicht mehr
finden - bisher haben Sie sie nicht gezeigt -, dann sollten Sie Ihre Stühle räumen und es anderen überlassen,
für das Land das Notwendige zu tun.
({11})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
beim Bundesminister der Finanzen, Karl Diller.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Haushaltsausschuss hat sich mit dem Ergebnis der Steuerschätzungen gerade zwei Stunden lang
sehr intensiv und, wie ich finde, in einer parteiübergreifend sehr sachlichen Debatte auseinander gesetzt. In der
Tat, die Steuerschätzungen sind für Bund und Länder
schlechter, als die Steuerschätzer uns noch im November
für dieses Jahr prognostizierten: für den Bund
3,5 Milliarden Euro, für die Länder 2,5 Milliarden Euro.
Erfreulich ist, dass sich die Steuerschätzer im November bei der Steuerschätzung hinsichtlich der Gemeinden
in einem positiven Sinn getäuscht haben. Die Gemeinden haben nämlich 800 Millionen Euro mehr an Einnahmen in diesem Jahr zu erwarten.
Die Steuerschätzer haben im November nicht das
Steueraufkommen für 2006 geschätzt. Diese Prognose
wird erst im Mai aufgestellt. Deswegen müssen wir die
Steuerschätzung vom Mai dieses Jahres mit der vom Mai
des letzten Jahres vergleichen. Daraus ergibt sich, dass
der Bund nächstes Jahr 10 Milliarden und die Länder
knapp 7 Milliarden Euro weniger zu erwarten haben.
Die Gemeinden haben erfreulicherweise noch einmal
400 Millionen Euro mehr an Einnahmen zu erwarten als
im vergangenen Jahr geschätzt.
Die Gründe für diese Entwicklung sind, dass das nominale Bruttoinlandsprodukt weniger stark wächst als
damals unterstellt.
({0})
In diesem Jahr beträgt das Wachstum statt 2,7 Prozent
nur 1,6 Prozent. In den nächsten Jahren wird es ebenfalls
geringer ausfallen. Daraus ergeben sich die bereits erwähnten Mindereinnahmen bei den Steuern.
({1})
Was die Steuerschätzer in ihre Schätzungen übrigens
nicht mehr einbezogen haben, war eine Zahl, die das Statistische Bundesamt gestern mitteilen konnte.
({2})
Wir haben im ersten Quartal dieses Jahres gegenüber
dem letzten Quartal des vorigen Jahres
({3})
ein Wirtschaftswachstum in Höhe von 1 Prozent. Damit
waren wir Spitze in Europa. Im nationalen Vergleich war
es das höchste Wachstum seit vier Jahren.
({4})
- Diese Zahl ergibt sich aus dem Vergleich des ersten
Quartals dieses Jahres mit dem Vorquartal. Sie bezieht
sich also nicht auf das ganze Jahr, mein lieber Herr Professor. Das müsste ein Professor eigentlich wissen.
({5})
Wir haben deswegen die Hoffnung, dass die Prognosen
der Steuerschätzer für dieses und für das nächste Jahr im
unteren Bereich absolut sicher sind und wir keine weiteren Einbrüche mehr haben werden.
Auf der Ausgabenseite gibt es Belastungen, die sich
dadurch ergeben, dass wir Neuland betreten, nämlich die
Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe,
die wir gemeinsam beschlossen haben. In diesem Bereich gibt es überhaupt keine Erfahrungswerte. Wir haben aber mittlerweile die Erkenntnis gewonnen, dass es
eine nicht unerhebliche Mehrbelastung in einer Milliardengrößenordnung zu verkraften gilt.
Die Frage ist: Ist diese Mehrbelastung die typische
Folge einer Strukturreform - sehr oft ist es der Fall, dass
man nach einer Strukturreform zunächst mehr Geld in
die Hand nehmen muss, bevor sich mittel- und langfristig Einspareffekte einstellen - oder ist es die Folge dessen, dass sich Menschen in diesem System befinden, die
eigentlich dort nicht hineingehören? Ich nenne beispielsweise arbeitsunfähige Sozialhilfeempfänger, die von den
Kommunen in die Finanzzuständigkeit des Bundes verschoben worden sind. Es gibt auch noch andere Fälle
von Beziehern, die eigentlich nicht in dieses System hineingehören.
Lassen Sie uns noch auf die Ernsthaftigkeit der Debatte in der Vergangenheit rekurrieren. Die FDP hat bei
den Beratungen zum Bundeshaushalt für dieses Jahr Anträge gestellt und Kürzungsvorschläge in Milliardengrößenordnung gemacht. Aber bei näherem Betrachten beinhalteten diese Vorschläge einen Gesetzesbruch bzw.
einen Rechtsbruch.
({6})
Denn die Kürzung der Arbeitslosenhilfe um einen Milliardenbetrag hätte bedeutet, dass den Menschen der Anspruch, den sie für Dezember 2004 hatten und der am
1. Januar gebucht wurde, verweigert worden wäre.
({7})
Sie wollten zweitens den Bundeszuschuss an die BA
kürzen. Sie wollten außerdem tiefe Einschnitte in mehrstelliger Millionenhöhe in einem Bereich vornehmen,
über den wir gerade diskutiert haben: bei der Forschungsförderung und -entwicklung. Sie wollten bei der
Forschungszusammenarbeit kürzen.
({8})
Sie wollten bei den Unternehmungsgründungen kürzen.
({9})
Sie wollten bei den innovativen Wachstumsträgern und
bei den Existenzgründungen kürzen.
({10})
Wir dagegen wollen in diesem Jahr für Bildung und Forschung, für Ausbildung und Weiterbildung 30 Prozent
mehr ausgeben als Sie in Ihrer Regierungszeit.
({11})
Auch die CDU/CSU soll betrachtet werden. Im Jahre
2003 haben Sie es vorgezogen, keinen einzigen Antrag
im Hinblick auf den Haushalt 2004 zu stellen.
({12})
Das zeigte Ihre Ratlosigkeit.
({13})
Im Jahre 2004 haben Sie im Hinblick auf den Haushalt 2005 Anträge in Milliardenhöhe gestellt, die folgendes Qualitätsmerkmal hatten: Sie waren rechtswidrig.
Sie wären ein Vertragsbruch gewesen. Den Zuschuss für
die Steinkohle von heute auf morgen auf null zu setzen
({14})
oder um eine Milliardengrößenordnung zu kürzen stellt
den Bruch eines Vertrages dar, den übrigens noch die
Kohl-Regierung abgeschlossen hat und den wir bedienen
müssen.
({15})
Der Gipfel der Unverschämtheiten war Ihr Vorschlag,
12 Prozent aller flexibilisierten Mittel zu kürzen. Das
hätte nämlich bedeutet, dass wir von heute auf morgen
Tausende von Beamtinnen und Beamten nicht mehr hätten bezahlen können.
({16})
Das wäre ein klarer Rechtsbruch gewesen.
({17})
Bei der Befragung der Haushaltsdirektoren des Bundesrechnungshofes und des Bundesverfassungsgerichts,
was diese 12-prozentige Kürzung der flexibilisierten
Mittel für sie bedeuten würde, haben diese mit der
Schulter gezuckt. Beim Bundesrechnungshof wären
plötzlich Stellen nicht mehr bezahlbar gewesen.
({18})
Beim Bundesverfassungsgericht hätten wir einen ganzen
Senat einsparen müssen und damit hätte Ihre Klage gegen den Haushalt überhaupt nicht bearbeitet werden
können. So logisch sind Ihre Anträge.
({19})
Sie fordern ein Haushaltssanierungskonzept.
({20})
Als ersten Beitrag zu dieser Debatte würde ich folgenden
Vorschlag machen: Ziehen Sie Ihre Anträge zu Steuersenkungen,
({21})
zur Abschaffung der Gewerbesteuer sofort zurück!
({22})
Denn das reißt ein Loch von 20 Milliarden Euro im Jahr
in die Etats des Gesamtstaates. Das ist nicht zu bezahlen.
({23})
Der Union empfehle ich, den in ihrem Antrag „Pakt
für Deutschland“ gemachten Vorschlag, den Beitrag zur
Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 5 Prozent zu senken, sofort zurückzuziehen.
({24})
Denn das reißt in die Bundesagentur für Arbeit ein Loch
von 11 Milliarden Euro. Sie könnte keine Weiterbildungs- und Fortbildungsförderung und auch keine Hilfe
zur Existenzgründung mehr bezahlen.
({25})
Sie müsste zusätzlich das halbe Personal entlassen.
Wenn Sie das nicht wollten, müssten Sie die fehlenden
Einnahmen dem Bundeshaushalt entnehmen. Dann gäbe
es zwar eine Senkung des Beitragssatzes, aber wir hätten
im Bundeshaushalt zusätzlich ein 11-Milliarden-EuroProblem.
({26})
Ich könnte das fortsetzen, was Ihre Vorschläge angeht.
Ich will auf Folgendes hinweisen: Die SPD hat Ihnen
den Vorschlag gemacht,
({27})
einen Pakt für die Finanzen zu schließen.
({28})
Dazu liegen Ihnen Vorschläge vor. Steuerhinterziehung
ist energisch zu bekämpfen.
({29})
Administrative Missstände in der Zusammenarbeit der
Länder untereinander und mit dem Bund im Rahmen der
Finanzverwaltung sind zu überwinden. Wir haben den
Ländern vorgeschlagen, ihre gesamte Finanzverwaltung
durch den Bund übernehmen zu lassen, damit die bestehenden Missstände endlich beseitigt werden.
({30})
Dann sollten sich Ihre beiden Fraktionen endlich dazu
entschließen, Subventionen nicht nur auf der Ausgabenseite zu kürzen. Da waren wir sehr erfolgreich - denn
wir konnten dies allein beschließen -,
({31})
indem wir in der Zwischenzeit die Hälfte aller Subventionen gekürzt haben. Wir sind bei den Subventionen auf
der Ausgabenseite von 11 Milliarden auf 5,9 Milliarden
Euro heruntergekommen, weil Sie dagegen nichts unternehmen konnten.
({32})
Aber unserem Vorschlag, die Subventionen auch auf der
Einnahmenseite zu kürzen, haben Sie bisher immer widersprochen, weil Sie Ihre Klientel, die davon betroffen
wäre, schützen wollen. Das können wir uns nicht weiter
erlauben.
({33})
Das Wort hat der Kollege Steffen Kampeter, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Bundeshaushalt im Jahre 2005 hat bei Gesamtausgaben von 254 Milliarden Euro eine strukturelle
Unterdeckung in einer Größenordnung von 60 Milliarden Euro. Der für den Haushalt zuständige Staatssekretär stellt sich hier hin
({0})
und kritisiert die Vorschläge von CDU/CSU und FDP,
durch die das strukturelle Defizit von 60 Milliarden Euro
verringert werden könnte,
({1})
macht selbst aber keinen einzigen Vorschlag zur Verbesserung der gegenwärtigen Situation.
({2})
Das zeigt - ebenso wie die Abwesenheit nahezu der gesamten Arbeitsgruppe Haushalt der SPD-Fraktion, die
offenbar die Wahrheit kennt -,
({3})
dass die Regierung mit ihrem finanzpolitischen Latein
vollständig am Ende ist.
({4})
Wenn jeder vierte im Bundeshaushalt eingeplante
Euro nicht durch dauerhafte Steuereinnahmen finanziert
ist, dann ist das ein finanzpolitischer Offenbarungseid.
({5})
Wenn gleichzeitig auch der letzte noch vorhandene Vermögenswert mobilisiert wird, den man in der Zukunft
vielleicht noch sinnvoll hätte verwenden können, dann
ist das die umfassendste Plünderung der Zukunftschancen der nachfolgenden Generationen und Politiker.
({6})
Die Steuerschätzung, die den Anlass für diese Debatte
liefert, leidet seit Jahren unter den falschen Vorgaben der
Bundesregierung.
({7})
Die Bundesregierung zwingt die Steuerschätzer durch
überhöhte Wachstumsangaben, die Einnahmesituationen des Bundes, der Länder und der Kommunen zu beschönigen. Gleichzeitig legt sie Haushalte vor, die - wie
beispielsweise der gegenwärtige Bundeshaushalt - allein
im Bereich der Arbeitsmarktpolitik unter einer Unterdeckung in Höhe von 11 Milliarden Euro leiden, und gaukelt den Menschen bei der Verabschiedung des Haushalts vor, alles wäre in Ordnung.
An dieser Situation sind nicht, wie ich es in diesen Tagen in der Zeitung lese, die Steuerschätzer schuld. Daran
ist vielmehr die Regierung schuld, die vorsätzlich falsche Angaben macht, mit denen sie uns alle in die Irre
führen will.
({8})
Die Regierung kennt auf alle Haushaltsprobleme nur
eine Antwort: Steuererhöhungen, Steuererhöhungen,
Steuererhöhungen. Erst kürzlich haben Sie die Tabaksteuer erhöht. Wir haben davor gewarnt, so vorzugehen,
wie Sie es getan haben, waren aber im Grundsatz nicht
dagegen. Wir haben Ihnen allerdings gesagt: Die von Ihnen geplante Anhebung der Steuersätze wird zu geringeren Einnahmen führen. Das Ergebnis der in dieser
Woche durchgeführten Steuerschätzung ist, dass die
Steuerschätzer - anstatt, wie angekündigt, Mehreinnahmen auszuweisen - die Einnahmen aus der Tabaksteuer
um 2 Milliarden Euro nach unten korrigiert haben.
({9})
Die Tatsache, dass das Haushaltsloch des Bundes in diesem Jahr 3,5 Milliarden Euro beträgt, macht deutlich,
dass es handwerkliche Schlampigkeiten waren, die zu
der gegenwärtigen Haushaltssituation geführt haben.
({10})
Sie werden nie begreifen, dass hohe Steuersätze nicht
zwangsläufig hohe Steuereinnahmen bedeuten. Sie werden nie begreifen, dass die Bürgerinnen und Bürger in
diesem Land nicht begeistert sind, Steuern zu zahlen. Sie
haben noch nie begriffen, dass Steuerpolitik nicht nur
Gesellschafts-, sondern auch Wirtschaftspolitik ist
({11})
und dass es in der Steuerpolitik ein ehernes Gesetz ist,
dass Senkungen der Steuersätze und Befreiungen der
Bürger ihre Leistungsbereitschaft erhöhen und zu Mehreinnahmen im Haushalt führen können.
({12})
Wann werden Sie das endlich einmal begreifen?
({13})
Sie fordern uns auf, unsere Gesetzentwürfe zur Senkung der Steuersätze in bestimmten Bereichen, die Sie
verzerrt wiedergegeben haben, zurückzuziehen. Ihr Kabinett hat gerade einen, wie ich finde, richtigen Gesetzentwurf zur Senkung des Körperschaftsteuersatzes beschlossen, weil offensichtlich auch Sie der Meinung
sind, dass zu hohe Steuersätze in Deutschland ein
Bremsklotz für Wachstum und Beschäftigung sind und
unsere Haushalte eher ruinieren.
Wenn wir diese Initiative auch für den Mittelstand
nutzbar machen, für eine Steuerentlastung der Jobbringer, der kleinen und mittelständischen Unternehmen sorgen und dieses Vorhaben auch noch solide finanzieren
könnten, dann hätten wir endlich einmal einen positiven
Beitrag zur Verbesserung der Situation in unserem Land
geleistet, anstatt uns einfach nur gegenseitig zu beschimpfen, ohne aber Vorschläge in den Deutschen Bundestag einzubringen.
({14})
Es ist - darauf möchte ich hinweisen - eine Mär, dass
die Union im Bundesrat Einsparungen bzw. den Abbau
von Subventionen blockiert habe.
({15})
Wir haben bei dem in den Koch/Steinbrück-Vorschlägen
vorgesehenen Subventionsabbau mitgemacht und nur
zwei Vorschlägen, die wir nicht für richtig halten, nicht
zugestimmt: der vollständigen Streichung der Eigenheimzulage und der Kürzung der Kilometerpauschale.
Ich will Ihnen sagen: Damit stehen wir nicht allein.
Fragen Sie einmal die Sozialdemokraten in Hessen, was
sie zur Kürzung der Eigenheimzulage sagen. Da hier
eben bereits nordrhein-westfälischer Wahlkampf gemacht wurde, frage ich Sie: Wollen Sie den Bürgerinnen
und Bürgern in einem solchen Flächenland zum gegenwärtigen Zeitpunkt tatsächlich - vor dem Hintergrund
eines Spritpreises pro Liter Super in Höhe von 1,20 Euro
bis 1,25 Euro - auch noch die Kilometerpauschale kürzen oder streichen?
({16})
Die Art und Weise, in der Sie argumentieren, ist unsolide
und unseriös. Das können wir Ihnen nicht durchgehen
lassen.
({17})
Das Letzte, worauf ich hinweisen möchte, ist Folgendes: Herr Kollege Diller -
Herr Kollege, Sie haben keinen letzten Punkt mehr,
weil Sie keine Zeit mehr haben.
({0})
Die Anzeige blinkt doch erst!
Herr Kollege, Sie haben keine Zeit mehr.
Konsolidierung, verbunden mit wachstumsfördernden
Strukturreformen, größere Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt,
Herr Kollege Kampeter, Sie sind im Minus!
niedrigere Steuersätze und ein produktiver Finanzmarkt erzeugen Wachstum und konstante Steuereinnahmen.
Diesen Satz von Theo Waigel sollten Sie endlich einmal
beherzigen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kampeter, ich will mit der ruhigeren Tonlage weitermachen, mit der Sie auch begonnen haben.
({0})
Sie haben von struktureller Unterdeckung des Haushalts
gesprochen. Das finde ich gut, das hat mich fast hoffnungsvoll gestimmt. Wenn Sie von struktureller Unterdeckung des Haushalts reden, erwecken Sie den Eindruck ernsthafter Analysefähigkeit. Doch die Union
reagiert darauf entweder mit Steuersenkungsvorschlägen
({1})
oder mit Kritik an der Minderveranschlagung bei Ausgaben im Haushalt; das waren Ihre Vorschläge. Sie polemisieren immer gegen Steuererhöhungen. Sie haben ein
Konzept, nach dem Sie die Steuern massiv senken wollen, doch umgekehrt haben Sie eine Klage beim Verfassungsgericht eingereicht, in der Sie uns den Vorwurf machen, wir würden die Ausgaben im Haushalt nicht
ehrlich benennen. Gleichzeitig wollen Sie ebendiese
Ausgaben, nämlich im Arbeitsmarktbereich, weiter absenken. Das passt nicht zusammen. Das zeigt, dass Sie
Angst haben, einen eigenen, belastbaren Kurs einzuschlagen.
({2})
Ich möchte jetzt etwas zum Thema „Union und Steuern“ sagen. Sie sprechen von katastrophalen Steuerausfällen. Das ist unglaubwürdig, weil Sie nicht die Kraft zu
wirklichem Subventionsabbau im Steuerbereich haben.
({3})
Das haben Sie hier gerade noch einmal ganz deutlich unterstrichen: 2- und 4-Prozent-Schritte bei Koch/
Steinbrück, das geht gerade eben noch, aber an die richtig großen Steuersubventionstatbestände heranzugehen
haben Sie nicht die Kraft; das wollen wir hier einmal
festhalten.
({4})
Jetzt komme ich einmal dazu, was die Union mit ihrem Programm vorschlägt - Herr Meister hat sich da der
Öffentlichkeit gegenüber hervorgetan -: dass man bei
den Ausgaben kürzen müsse. Herr Meister hat davon gesprochen, 5 Milliarden Euro im Haushalt einzusparen;
das sind ungefähr 2 Prozent der Ausgaben. Im
Jahr 2004, im letzten Jahr, hat diese rot-grüne Regierung
die Ausgaben im Vergleich zum Jahr 2003 um 2 Prozent,
um ebendiese 5 Milliarden Euro, zurückgeführt - trotz
einer wahrlich nicht einfachen wirtschaftlichen Situation. Das will ich Ihnen einmal sagen, weil Sie immer
davon reden, wir würden so viel ausgeben.
({5})
Ich möchte von Ihnen wissen, was Sie vorschlagen, damit wir im Haushalt 2005 zusätzlich 5 Milliarden Euro
einsparen. Inflationsbereinigt haben wir die Ausgaben
wieder gesenkt.
({6})
Auf Ihre Vorschläge trifft das nicht zu. Ich will Ihnen
einmal sagen, was Herr Meister vorschlägt - das muss
man einmal so ehrlich analysieren -: 5 Milliarden Euro
sind 2 Prozent. Er sagt ausdrücklich: überall ein bisschen. Ein Anteil von 2 Prozent bei der Rente entspricht
1,5 Milliarden Euro. Das heißt: Im Durchschnitt verliert
jeder Rentner beim Vorschlag der Union 100 Euro.
({7})
Vertreten Sie das nach außen! Dann sind Sie ehrlich.
Oder Sie wollen die Rentner mit dem vollständigen
Kassenbeitrag zur Krankenversicherung belasten; das
entspricht derselben Größenordnung. Herr Meister
spricht von Klarheit und Wahrheit und Sie verlangen das
auch.
({8})
Dann sagen Sie doch ganz klar, dass Ihnen die Nullrunde
bei den Rentnern nicht reicht,
({9})
dass Sie 1,5 bis 1,7 Milliarden Euro zusätzlich sparen
wollen. Wenn Sie diesen Vorschlag nach außen vertreten, dann kommt in Ihre eigene Debatte mehr Ehrlichkeit; das möchte ich hier einmal deutlich festhalten.
({10})
Ich will jetzt etwas zur Analyse sagen, warum wir
diese Haushaltssituation haben und was wir tun sollen;
danach fragen Sie ja.
({11})
Ich finde, dass wir in den letzten Jahren eine sehr restriktive Ausgabenpolitik geplant und im Haushaltsvollzug
auch eingehalten haben - bis auf den Bereich Arbeitsmarkt, wo wir bislang gescheitert sind.
Wir sind bis jetzt an unseren Zielsetzungen beim Arbeitsmarkt gescheitert; das gebe ich auch zu. Man sieht
auch an dieser Steuerschätzung, dass wir zum Beispiel
im Bereich der Lohnsteuerentwicklung im laufenden
Jahr einen großen Einnahmeverlust haben werden. Im
Ausgabenbereich, auch in der Sozialversicherung, werden wir zusätzlich schwere Belastungen haben.
({12})
Ich sage deswegen: Wir müssen die Lösung - auch
für die Haushaltsprobleme - im Bereich des Arbeitsmarktes und dort insbesondere der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung suchen.
({13})
Dazu hat diese Regierung schon eine Menge Reformprozesse auf den Weg gebracht. Darin liegt auch eine langfristige Lösung der Probleme bei den öffentlichen Finanzen.
Ihre Polemik - hier nehme ich die Union noch schärfer ins Blickfeld, die die Ausgaben mithilfe der Rasenmähermethode, also pauschal um einen bestimmten Prozentsatz, senken will - entbehrt jeder Konkretion. Wenn
man Ihnen das mit der Rente hier sagt, dann erschrecken
Sie mächtig. Das passt auch nicht mit dem zusammen,
was Herr Storm hier gestern vertreten hat.
Tschüs.
({14})
Das Wort hat der Kollege Otto Fricke, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Ja, natürlich komme ich wieder mit dem dicken Buch,
Herr Diller, dazu aber später. - Wenn man sich anschaut,
wie der Haushalt gegenwärtig aussieht, dann kann man
ihn eigentlich nur mit einem schönen Wort beschreiben,
das da heißt: Die Lage ist hoffnungslos. Wenn man die
Koalition hört, dann heißt es noch: Aber sie ist nicht
ernst. Faktisch ist es umgekehrt: Die Lage ist ernst, sehr
ernst, sie ist aber nicht hoffnungslos.
({1})
Ich werde auch begründen, warum. Zu der Frage, warum
sie nicht hoffnungslos ist, haben Sie hier fast nichts gesagt, außer der Tatsache, man wolle beim Arbeitsmarkt
ein bisschen tun.
Wenn man hier jetzt eine Liste der Haushaltsrisiken
aufstellen wollte, in der steht, was alles passiert, dann
würde sie beinhalten: Hartz IV, Zuschüsse zu den Krankenkassen, ERP-Vermögen, Bundesbankgewinn, Steuerschätzungen, Postpensionen aller Art, Rentenfragen,
Pflegeversicherungsprobleme usw. Sie haben keinen
einzigen Bereich, in dem Sie sagen können, dass Sie irgendwo Licht am Ende des Tunnels sehen.
({2})
Ich glaube, bei Ihnen ist es sogar so weit, dass Sie noch
gar nicht wissen, in welche Richtung Sie im Tunnel
überhaupt gehen.
({3})
- Ja, ich habe wirklich das Gefühl.
Jetzt komme ich zu der Frage, ob man denn Hoffnung
haben kann.
({4})
Herr Diller sagt da wieder: Ihre Vorschläge von der Opposition, die Sie gemacht haben, sind alle nichts. - Herr
Diller, ich sage auch noch einmal Ihren Koalitionären:
Man muss Mut haben.
({5})
Hören Sie, was der Verfassungsgerichtspräsident sagt. Er
sagt: Ich erwarte vom Parlament mutigere Entscheidungen. - Darum dreht es sich beim Haushalt. Der dokumentierbare Mut fehlt.
({6})
Diese 450 Seiten unseres „Liberalen Sparbuchs
2005“, das ich Ihnen hier zeige, mögen falsch und nicht
in Ordnung sein, aber sie sind ein Versuch. Ich kann
mich nicht erinnern, dass irgendeine Fraktion, etwa als
Sie in der Opposition waren, irgendwelche Kürzungsvorschläge, außer beim Jäger 90, gemacht hat. Sie haben
stattdessen immer nur erhöht. Wir als FDP - die CDU/
CSU etwas weniger; vielleicht wird sie demnächst aber
etwas mutiger - haben das gemacht. Was ist übrigens
das Ergebnis? Hier liegt dann auch unsere Verantwortung gegenüber dem Bürger.
({7})
Es ist nicht so, dass man sagt, es sei gut, dass die Vorschläge gemacht werden. Nein, man versucht, es kleinzureden.
Seien wir alle ehrlich: Das Hauptproblem, das wir als
Haushälter haben, ist doch ein anderes. Wir haben heute
auch im Ausschuss darüber gesprochen und da wundere
ich mich wirklich nicht, dass so wenige Haushälter der
SPD da sind. Es ist doch ganz einfach so, dass wir gegenüber früher folgendes Ergebnis haben: Als Haushälter entscheiden wir doch nicht mehr wirklich darüber, ob
unser Haushalt ins Defizit rutscht. Das Defizit entsteht
durch Leistungsgesetze, die uns die Sozial- und Arbeitsmarktpolitiker unserer eigenen Fraktionen - meine muss
ich dabei ausdrücklich ausnehmen - vorlegen.
Ich weiß gar nicht, wo sich Herr Diller jetzt hinbewegt hat.
({8})
- Ah, er sitzt da vorne. - Jetzt kommt Herr Diller und
sagt, unsere Vorschläge seien schlecht. Ich nenne nur ein
kleines Beispiel, nämlich den Steuerzuschuss an die
Krankenkassen. In diesem Jahr gehen 2,5 Milliarden Euro an die Krankenkassen. Die CDU/CSU hat brav
mitgeholfen, die SPD hat sich nicht dagegen gewehrt.
Die Gesundheitsministerin hat sogar gelächelt und sich
gefreut, während der Finanzminister - das möchte ich
ausdrücklich sagen - wirklich in die Tischkante gebissen
und gesagt hat, er sei ein solidarischer Minister und er
tue das.
({9})
Jetzt stellen Sie aufgrund der Klauseln, die Sie selbst
eingefügt haben, fest, dass Sie das am liebsten rückgängig machen wollen. Als wir aber den Antrag hier gestellt
und gesagt haben, dass wir das genau so machen sollten,
um einzusparen, da war das unsozial.
({10})
Nachher kommen Sie immer wieder zu dem Ergebnis,
dass die Vorschläge, die auf den ersten Blick kurzfristig
unsozial sind, das sind, was der Haushalt sein sollte,
nämlich langfristig verantwortungsvoll.
Denn jeder Euro, den Sie an Neuverschuldung aufnehmen - Sie tragen die Verantwortung -, ist ein Euro,
den wir und unsere Kinder und Kindeskinder irgendwann einmal über Steuern zurückzahlen müssen. Das
müssen Sie den Bürgern sagen. Jeder neue Euro Schulden heißt: Ihr zahlt später höhere Steuern. Hier nehmen
wir als Politiker - das will ich für die FDP ausdrücklich
sagen - eine Verantwortung wahr. Wir haben sie übrigens auch durch die Verfassungsklage wahrgenommen.
({11})
- Sie steht nicht dazu im Widerspruch.
({12})
Das Gericht urteilt unabhängig vom Verhalten der Opposition über den eigentlichen Gesetzentwurf und dessen
Verfassungsmäßigkeit. Dabei ist egal, was dagegen oder
dafür beantragt wird.
({13})
Es ist eine objektive Kontrolle. Ich wäre froh - und ich
glaube, das gilt, wenn wir ehrlich sind, für uns alle -,
wenn das Verfassungsgericht uns Haushaltspolitiker
manchmal in die Schranken weisen würde. Wir Politiker
haben immer wieder einen Fehler gemacht, von dem wir
uns als FDP mit diesem Buch nun getrennt haben: Wir
haben den Bürgern immer wieder mehr versprochen, als
möglich war.
Wir müssen die Bürger mitnehmen, wir müssen ihnen
sagen, dass wir über unsere Verhältnisse leben. Wir müssen überall sparen, jeder muss seinen eigenen Gürtel enger schnallen, um überhaupt auf die Füße zu kommen.
Zum Schluss: Der Bundeskanzler hat einmal gesagt,
({14})
woran man ihn messen soll. Er hat das klar und deutlich
gesagt. Ich frage Sie daher: Wollen Sie nicht ehrlicherweise zugeben, dass der Bundeskanzler, wenn man ihn
an den Haushaltszahlen und Wirtschaftsdaten misst, die
Messlatte nicht nur unterschreitet, sondern darunter
durchtaucht? Das ist das Ergebnis Ihrer Haushaltspolitik,
das liegt in Ihrer Verantwortung.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat die Kollegin Petra Merkel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
froh, dass die Atmosphäre etwas ruhiger geworden ist.
Auch im Ausschuss haben wir in Ruhe diskutiert. Das
finde ich bei diesem Thema wirklich wichtig; denn die
Situation ist ernst und wir nehmen sie auch ernst. Es ist
richtig, was Herr Fricke gesagt hat: Die Situation ist
nicht hoffnungslos.
Herr Fricke, Sie haben Ihr Buch hoch gehalten, schlagen Sie doch einmal eine beliebige Seite auf. Sie werden
sicher einen Volltreffer landen; denn Sie haben auf jeder
Seite um 1 000 Euro gekürzt. Wenn Sie auf 440 Seiten
um jeweils 1 000 Euro kürzen, kommt etwas heraus.
({0})
Ich gebe ja zu, dass Sie sich Mühe geben. Das ist doch
schon etwas.
({1})
Vielleicht hätten Sie sich aber schon am Anfang der Legislaturperiode Mühe geben müssen, als es wirklich um
den drastischen Abbau von Subventionen ging.
({2})
Wo waren Sie, als es um das Steuervergünstigungsabbaugesetz - ein Wortungetüm, hinter dem drastischer
Subventionsabbau steckt - ging? Damals haben wir uns
nahezu mit jedem und jeder im Land angelegt. Ich kann
mich noch sehr gut erinnern: Damals sind Sie abgetaucht, damals wollten Sie nicht mitmachen. Sie schreien
bei jedem Punkt, wir sollen Subventionen abbauen, aber
damals haben Sie nicht mitgemacht.
Ich kann mich noch gut an die Gespräche erinnern,
die ich darüber mit meinem Blumenhändler an der Ecke
geführt habe. Wir haben darüber gefightet, dass wir die
Mehrwertsteuer von für ihn 7 auf 16 Prozent erhöhen
wollten. Er sagte: Wie können Sie das machen? Dann
müssen wir entlassen. Das ist dramatisch. - Das war im
November.
({3})
Wir haben das weiterverfolgt und gesagt: Wir müssen
jetzt rangehen und alle gleichermaßen runtersetzen.
({4})
Wir dürfen zum Subventionsabbau nicht nur ein Lippenbekenntnis ablegen, sondern müssen ihn wirklich machen.
Wissen Sie, welches Ergebnis es gab? Anfang Januar
hatten wir das Gesetz zwar nicht umgesetzt, aber die
Blumen waren teurer. Als ich fragte, wie kommt das eigentlich, antwortete mein Blumenhändler: Mehrwertsteuererhöhung. Ich sagte, das kann doch gar nicht sein,
wir haben sie doch gar nicht erhöht. Der Großhandel hat
die Preise erhöht.
({5})
Vor diesem Hintergrund muss ich sagen, wir müssen
schneller arbeiten, schneller herangehen und manchmal
mutiger springen. Wir dürfen nicht so kleinmütig wie in
der Vergangenheit sein.
({6})
Der Subventionsabbau wäre uns nicht leicht gefallen,
aber wir hätten den Etat insgesamt um 42 Milliarden
Euro entlastet.
({7})
Nach langen Kämpfen im Vermittlungsausschuss konnten wir die Subventionen um 11 Milliarden Euro kürzen.
Unser Ziel waren aber 42 Milliarden Euro. Sie sind weggetaucht, weil Sie sich nicht mit ihrer eigenen Klientel
anlegen wollten.
({8})
So kommen wir aber nicht weiter. Unsere Vorschläge
liegen auf dem Tisch. Ich bin sicher, ihre Umsetzung
wäre möglich.
({9})
- Herr Kampeter, niemand hat ein Patentrezept. Keiner
kennt den Königsweg.
({10})
Wir aber haben eine Möglichkeit vorgeschlagen. Sie jedoch haben nicht eingeschlagen, sondern sind weggetaucht.
({11})
Ich finde es gut, dass die SPD heute noch einmal einen Vorstoß zum Abschluss eines Finanzpakts gemacht
hat. Hier müssen wir schauen, was bei Steuerhinterziehung, beim Abbau von Steuervergünstigungen - unser
Konzept dazu liegt immer noch auf dem Tisch -, bei der
Erbschaftsbesteuerung und was bei den Föderalismusstrukturen passiert.
({12})
Wir dürfen nicht nur darüber reden, sondern wir müssen
da rangehen.
Wenn heute einer in diese Diskussion reinzappt,
schlägt er die Hände über dem Kopf zusammen. Wir
müssen doch weiterkommen und ich denke, dazu gibt es
auch eine Möglichkeit; denn jeder sieht, dass wir die
Probleme lösen müssen und nicht nur darüber reden dürfen.
Wir haben auch eine Menge gemacht. Es ist nicht so,
dass wir untätig gewesen sind. Das gilt beispielsweise
für die Stabilisierung der Sozialsysteme. Auch das ist
nicht einfach gewesen. Wir haben die Sozialversicherungsbeiträge so stabilisiert, dass sie nicht angehoben
worden sind. Da ging es um 4 bis 5 Prozent. Das war
eine unglaubliche Leistung. Bei den Krankenkassenbeiträgen ist eine Senkung erfolgt und die Rentenbeiträge
sind auf 19,5 Prozent stabilisiert worden und nicht auf
21 oder 22 Prozent gewachsen.
({13})
Wir haben also die Begleitkosten von Arbeit stabil gehalten bzw. gesenkt.
Wir wissen alle, dass wir noch mehr machen müssen.
Das Gesundheitssystem ist noch nicht so stabil, wie wir
es brauchen. Deswegen stellt sich auch die Frage nach
einer Bürgerversicherung, nach neuen Systemen, um unser System im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zu verbessern. Die Bürgerversicherung ist eine Antwort auf die Fragen zum Gesundheitssystem. Meine
persönliche Auffassung ist, dass wir in dieser Form
- alle sind beteiligt und alle müssen mit einzahlen - auch
an die Rente herangehen müssen. Diesen Vorschlag
müssen wir weiter ausbauen.
Wir haben weit reichende Reformen auf dem Arbeitsmarkt auf den Weg gebracht. Das fiel uns allen nicht
leicht, aber wir haben es geschafft. Auch durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe haben
wir eines geschafft: Wir haben den Kommunen durch
den Wegfall der Sozialhilfe Luft verschafft; denn über
90 Prozent der Sozialhilfeempfänger sind aus der Sozialhilfe herausgefallen
Frau Kollegin, auch Sie müssen zum Ende kommen.
- und beziehen jetzt Arbeitslosengeld II. Das schafft
den Kommunen genau wie die Gemeindefinanzierung
Spielraum.
({0})
Ich kann nur den Gemeinderäten und Stadtvätern raten:
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.
Schauen Sie nach, was Sie dadurch alles gewonnen
haben, und investieren Sie in die kleinen und mittelständischen Betriebe und die Handwerker.
({0})
Machen Sie Ihre eigenen Aufträge.
Schönen Dank und schöne Pfingsten.
({1})
Das Wort hat der Kollege Bartholomäus Kalb, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ein bisschen zur Szenerie: Im Juni 2003 stand in
der „Passauer Neuen Presse“: Schröder lehnt höhere
Steuern ab. Ende des Jahres 2004 bzw. Anfang dieses
Jahres sagte Müntefering im „Handelsblatt“: Mindestens
in dieser Legislaturperiode wird es keinen Ansatz geben,
Steuern zu erhöhen.
({0})
Jetzt will Eichel die Mehrwertsteuer erhöhen, nicht zuletzt ausgelöst durch das Papier von Frau Hajduk,
({1})
die jedoch heute nichts, aber auch gar nichts dazu gesagt
hat.
({2})
Es wäre doch sehr interessant gewesen.
Minister Eichel hat gestern in der Pressekonferenz
noch einmal begründet, warum er eine Mehrwertsteuererhöhung für notwendig hält. Er führt aus, dass die Steuerlastquote so dramatisch gesunken sei, dass dies so nicht
bleiben könne. Die Steuerlastquote jedoch ist nur ein statistischer Durchschnittswert. Hier muss die Frage gestellt werden: Wer trägt bei uns im Lande überhaupt
noch die Steuerlast? Das sind die vielen Leistungserbringer, die immer geringer werdende Zahl der Erwerbstätigen, die die komplette Steuer- und Abgabenlast zu tragen haben.
({3})
Das alles ist Ausfluss der katastrophalen wirtschaftlichen Lage, in der wir uns befinden.
Wir haben heute früh über die Steuerreformen und die
Vorschläge diskutiert. Von einigen ist eine strukturelle
Reform des Steuerrechts angemahnt worden. Aber
90 verschiedene steuerrechtsändernde Gesetze, die Sie
in sechs Jahren auf den Weg gebracht haben, haben doch
nicht zur Vereinfachung und zu mehr Durchsichtigkeit
und Nachvollziehbarkeit des Steuerrechts geführt, sondern zu einer Verkomplizierung in einem bisher nicht für
möglich gehaltenen Ausmaß.
({4})
Der Kollege Kampeter hat schon darauf hingewiesen:
Sie haben sich darauf gestützt, Steuern zu erhöhen. Sie
brauchen sich nur den BMF-Bericht für den Monat April
und die Einnahmenentwicklung der letzten Jahre bei den
Verbrauchsteuern anzuschauen. Sie werden dann merken, dass die Einnahmen in den Bereichen Mineralölsteuer, Tabaksteuer, Ökosteuer, Energiesteuer und
Stromsteuer nicht gestiegen, sondern gesunken sind.
Dies müsste man zumindest doch berücksichtigen.
Der Haushalt gerät immer stärker aus den Fugen. Ich
will doch darauf hinweisen, wie weit Sie jeweils von der
Wirklichkeit entfernt sind. Im Jahre 2002 haben Sie für
den Haushalt eine Neuverschuldung von 21 Milliarden
Euro eingeplant, abgeschlossen haben Sie ihn mit
31,9 Milliarden Euro; 2003 waren 18,9 Milliarden Euro
geplant, abgeschlossen wurde mit 38,6 Milliarden Euro
Neuverschuldung; 2004 waren 29,3 Milliarden Euro eingeplant, abgeschlossen haben Sie mit 39,5 Milliarden
Euro Neuverschuldung, und zwar nur wegen der statistischen Tricks. Wir sind schon gespannt, wie am Ende dieses Jahres die Zahl aussehen wird. Dazu sind hier schon
Angaben gemacht worden.
Sie selber widersprechen heute nicht mehr. Als Kollege Austermann die Defizite, die im Zusammenhang
mit den Hartz-IV-Gesetzen entstehen würden, mit
5 Milliarden Euro beziffert hat, gab es hier noch große
Empörung und Gelächter. Heute sagen Koalitionsvertreter und Regierung übereinstimmend, die Differenz
könnte ungefähr 6,5 bis 9 Milliarden Euro ausmachen.
Sie haben jedoch keine Antwort auf diese Fragen.
Stattdessen kündigen Sie gleichzeitig an, dass Sie
mehr Investitionen tätigen wollen. Letztes Jahr haben
Sie dem Haushalt in der Bewirtschaftung 2,4 Milliarden
Euro an Investitionen zur Deckung anderer Ausgaben
entzogen. Die Investitionsquote liegt heute weit unter
9 Prozent und wird auch in diesem Jahr weit unter
9 Prozent liegen. Es handelt sich in diesem Land um eine
klassische Desinvestition. Das heißt, neben die explizite
Verschuldung tritt auch noch die implizite Verschuldung,
weil wir auch bei der Infrastruktur der nachfolgenden
Generation die Lasten übertragen.
Mich hat das, was der Herr Staatssekretär gesagt hat,
etwas empört. Es heißt immer: Wenn die Opposition
Vorschläge macht, dann sind sie sozial ungerecht und
dann müssten verschiedene Dinge genauer benannt werden. - Ich kann nur sagen: Die Zeit ist vorbei, in der wir
uns diese Spielchen leisten können. Wir können uns
keine grünen Spielwiesen mehr leisten wie Antidiskriminierungsgesetz und Widerstand gegen die Planungsrechtsvereinfachung.
({5})
Wir können es uns auch nicht mehr leisten, jeweils mit
dem Finger auf die anderen zu zeigen, sondern wir müssen - das ist die Verantwortung von uns Bundespolitikern - auch Vorschläge machen, wie wir auf der Ausgabenseite für alle staatlichen und kommunalen Ebenen
Entlastungen erreichen, weil uns sonst die öffentlichen
Haushalte irgendwann völlig um die Ohren fliegen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde es Klasse, wenn Sie mir immer so schöne Vorgaben machen und mir sagen, wozu ich hier sprechen
soll. Aber keine Sorge: Das weiß ich selbst immer noch
am besten.
({0})
Die FDP hat heute diese Aktuelle Stunde im Verbund
mit dem Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen beantragt.
Es ist völlig klar, um welche Themen es eigentlich geht.
({1})
In diesem Kontext hat sie so getan, als ob wir dann,
wenn die FDP an die Regierung käme, in Deutschland
keine Probleme mehr hätten, weder im Haushalt noch in
verschiedensten strukturellen Zusammenhängen, was
soziale Sicherungssysteme anbelangt.
({2})
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Es wäre eine Katastrophe, wenn das, was Sie in den letzten Jahren und Monaten vorgeschlagen haben, Realität werden würde.
({3})
Ich sage Ihnen, warum. Sie haben uns zwar Ihr liberales Sparbuch vorgestellt, was Sie immer mit sich herumtragen.
({4})
Auf der anderen Seite haben Sie einen Gesetzentwurf
zur Steuerreform vorgelegt, ihn dann aber zwischenzeitlich wieder zurückgezogen,
({5})
weil er inhaltlich überhaupt nicht mehr aktuell ist, nicht
finanzierbar ist und Sie dafür keine Unterstützung aus
den von Ihnen mitregierten Ländern bekommen. Das ist
doch die Wahrheit.
({6})
Deswegen: Hören Sie auf, immer solche Luftschlösser
aufzubauen. Das Gleiche gilt übrigens für Ihre Bürgerversicherung. Von der wissen Sie auch, dass sie nicht
finanzierbar ist.
({7})
Wir haben das letzte Mal gesehen, was wir von Ihrem
wunderbaren Vorschlag, beim Subventionsabbau die Rasenmähermethode anzuwenden, gehabt haben. Wir hatten nämlich das letzte Mal das Problem, dass wir bei den
Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur plötzlich Einbrüche gehabt haben, die sich sehr negativ auf den Bundesverkehrswegeplan ausgewirkt haben.
({8})
Die Konsequenz war, dass jetzt Finanzierungen aufgebaut worden sind, um die örtliche Bauwirtschaft zu stärken und das zu tun, was letztendlich im Zusammenhang
mit Investitionen in diesem Sektor notwendig ist. Das
heißt, alles das, was Sie vorschlagen, passt hinten und
vorne nicht zusammen. Das sind nur ein paar Fragmente
und viele Prosatexte, aber in Wirklichkeit ist nur Luft dahinter.
({9})
Die Union hat ein Steuerkonzept vorgelegt und gesagt: Das ist die Zukunft für die Nation, die Steuererklärung passt auf einen Bierdeckel.
({10})
Dann konnten wir hier feststellen, dass das Steuerkonzept weg war, der Bierdeckel weg war und Herr Merz
weg war. Dann gab es einen neuen Vorschlag, der
„Steuerkonzept 21“ hieß. Heute ist in den Tickermeldungen nachzulesen, dass Herr Koch, bekanntlich Ministerpräsident in Hessen und CDU-Mitglied,
({11})
einen neuen Vorschlag gemacht hat, weil das, was die
Union in Sachen Steuer vorgeschlagen habe, nichts gewesen sei. Wie der neue Vorschlag aber genau aussehen
soll, darüber müsse man noch reden und Überlegungen
anstellen. Das heißt: viel Prosatext, viele Ankündigungen, aber nichts dahinter.
({12})
Dann gibt es immer noch die Überlegungen zur Kopfpauschale. Aber auch die ist nicht finanzierbar.
({13})
Das heißt konkret: Sie haben alle paar Monate einen
neuen Vorschlag, der im Widerspruch zum vorhergehenden Vorschlag steht, und was danach kommt, weiß man
auch nicht. Dann gute Nacht, schöne Welt. Ich möchte
nicht, dass wir mit einer solchen Beliebigkeit konfrontiert werden
({14})
und dass dann auch noch der Anspruch erhoben wird, regierungstauglich zu sein. Sie sind nicht regierungstauglich, weil Sie nicht einmal eine klare Position zwischen
CDU und CSU hinbekommen, geschweige denn mit der
FDP. Es gelingt Ihnen nicht, eine klare Linie zu irgendeinem Thema im Zusammenhang mit der Steuer-, Finanzund Abgabenpolitik zu finden.
({15})
Ich muss abschließend sagen, dass das gelungen ist,
was der Bund aus eigener Kraft leisten kann, nämlich die
Finanzhilfen des Bundes zu reduzieren.
({16})
Die Finanzhilfen des Bundes sind in einer Größenordnung von rund 50 Prozent zurückgefahren worden. Wir
haben die Ausgaben des Bundes seit 1990 von
15,2 Prozent auf mittlerweile 11,4 Prozent reduziert. Wir
haben die niedrigste Staatsquote seit der Wiedervereinigung, meine Damen und Herren von der FDP. Von wegen: Staatsquote runter. Hören Sie auf, immer einen solchen Unsinn zu erzählen, wir hätten eine exorbitant hohe
Staatsquote und das sei das Problem für die Bundesrepublik Deutschland!
({17})
Wir sind der Auffassung, dass die Dinge gut vorangehen. Wir haben einen Rückgang der Schwarzarbeit. Das
ist sehr positiv. Wir haben einen Rückgang des Umsatzsteuerbetrugs. Vor einem Jahr betrug die Größenordnung
18 Milliarden Euro, heute liegt sie bei 15 Milliarden
Euro, was immer noch schlimm genug ist, aber wir sind
hier am Ball. Es geht darum, die Steuern vernünftig einzuziehen.
({18})
Wir wollen keine Steuererhöhungsdebatten führen, sondern die Bodenhaftung behalten und keine Luftnummern
abziehen.
Danke schön.
({19})
Das Wort hat der Kollege Norbert Barthle, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Kollegin Scheel, zum Thema Haushaltsrisiken und Mehrwertsteuer haben wir leider nicht viel
von Ihnen gehört.
({0})
Dafür gab es eine kräftige Beschimpfung der Opposition.
({1})
Das scheint die Strategie der Regierung zu sein. Man
muss leider feststellen, dass solche Debatten in diesem
Hause regelmäßig wiederkehren. Man kommt sich schon
fast wie am Silvesterabend bei „Dinner for one“ vor: The
same procedure as every year.
Wir erleben immer wieder, dass Herr Clement den
Jahreswirtschaftsbericht, den er vorgelegt hat, im folgenden Jahr wieder korrigieren muss. Zuerst erzählt er uns:
Die Welt ist wunderbar. Wir erleben Wachstum; jetzt
geht es aufwärts. - Im Jahr darauf muss er sich selbst
korrigieren.
Finanzminister Eichel bietet uns dasselbe Schauspiel.
Erst sagt er uns, die Steuereinnahmen würden wieder zunehmen, wir würden die Maastricht-Kriterien einhalten
und die Neuverschuldung werde niedriger ausfallen als
im Vorjahr.
({2})
Dann muss auch er sich Jahr für Jahr korrigieren. Es ist
immer wieder dasselbe Prozedere.
Wir Haushälter sagen ja, der Haushalt sei das Schicksalsbuch der Nation.
({3})
Das ist es auch tatsächlich. Aber unter dieser Regierung
und diesem Finanzminister ist daraus ein Märchenbuch
geworden. Das ist das eigentlich Schlimme an dieser
Entwicklung.
Leider hat dieses Vorgehen schon ein Stück weit System. Immer dann, wenn wichtige Wahlen vor der Tür
stehen, erleben wir eine seltsam verfälschte Wahrnehmung der Dinge. Ich will in diesem Zusammenhang
daran erinnern, wie es seinerzeit bei der Bundestagswahl
2002 war. Die Menschen draußen im Lande vergessen
das ja sehr schnell. Im September 2002 hat Herr Eichel
festgestellt: Wir sind auf dem Weg zu einem Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung. Er sagte noch im Juli:
„Mit uns wird es keine Kehrtwende zurück in den Verschuldungsstaat geben; wir machen keine neuen Schulden“ und so weiter und so fort.
({4})
Der Höhepunkt war dann das Wahlplakat mit der Aufschrift: „Stoiber heißt: Neue Schulden - Armer Staat.
Schröder heißt: Solide Finanzen - Aktiver Staat.“
({5})
Eigentlich müsste Ihnen angesichts dieses Plakats die
Schamesröte ins Gesicht steigen.
({6})
Ich würde mir wünschen, dass Herr Müntefering und
Herr Schröder einen Canossagang zu Herrn Stoiber unternehmen, um sich für dieses Plakat zu entschuldigen,
denn die Wirklichkeit sieht doch ganz anders aus.
Wie sieht denn die Pro-Kopf-Verschuldung aus? In
Bayern beträgt die Verschuldung 3 012 Euro pro Kopf,
in Baden-Württemberg etwas über 4 000 Euro und in
Nordrhein-Westfalen 7 244 Euro. Das ist die Wahrheit,
die Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen sollten.
({7})
Wenn wir schon beim Thema Neuverschuldung sind:
Wir müssen Jahr für Jahr eine Neuverschuldung von annähernd 40 Milliarden Euro in Kauf nehmen. Ich habe
einmal ausgerechnet, was das bezogen auf diese Aktuelle Stunde bedeutet. Justament in dieser einen Stunde
machen wir neue Schulden in einem Volumen von
9 576 000 Euro.
({8})
- Das dürfen Sie zu Hause gerne ausrechnen. Ich halte es
für erschreckend, dass solche Angaben permanent mit
humorigen Bemerkungen weggesteckt werden.
Lassen Sie uns etwas sachlicher werden. Frau Kollegin Hajduk, ich durfte vor wenigen Tagen in der „Stuttgarter Zeitung“ ein Zitat von Ihnen nachlesen, das ich
hoffentlich richtig wiedergebe:
„Man muss zur Kenntnis nehmen, dass angesichts
verfestigter Ausgabenstrukturen und schmaler gewordenen Einnahmeerwartungen verfassungsgemäße Haushalte auf Jahre nicht gesichert sind.“
Damit droht der Verstoß gegen Artikel 115 Grundgesetz zur Regel zu werden.
Ich gebe Ihnen Recht, was die Aussage dieses Zitats
anbelangt. Dem kann man nicht widersprechen; es ist so
richtig. Nicht richtig ist aber, was Sie in diesem Zitat
mitbehaupten. Sprachwissenschaftler nennen das Präsupposition.
({9})
Die Formulierung „angesichts verfestigter Ausgabenstrukturen“ stimmt nicht, Frau Kollegin, denn die Ausgabenstrukturen haben Sie verfestigt. Wir sind der Auffassung, dass man auch bei den konsumtiven Ausgaben
ansetzen muss statt nur bei den Einnahmen. Das ist der
große Unterschied.
({10})
Wenn ich Ihre Einlassungen heute früh im Haushaltsausschuss richtig verstanden habe, dann sind Sie sogar
bereit, diesen Weg mitzugehen.
({11})
Aber ganz offensichtlich ist diese Koalition nicht dazu
bereit; denn Sie geben mit dieser Äußerung die Auffassung der Mehrheitskoalition wieder. Das ist der entscheidende Punkt. In diesem Land fehlt es - wenn Probleme
bestehen - an der Bereitschaft, ernsthaft zu sparen, statt
nur die Einnahmen zu erhöhen.
({12})
Meine Redezeit ist leider abgelaufen.
Danke.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Ortwin Runde, SPDFraktion.
Wenn man sich die Steuerschätzung ansieht,
({0})
dann stellt sich die Frage, welche Lehre daraus zu ziehen
ist. Es gibt ein positives Signal, das sich auf die Gemeindefinanzen bzw. die Gewerbesteuer bezieht.
({1})
Dank gemeinsamer Anstrengungen ist es uns im
Dezember 2003 im Vermittlungsausschuss nicht nur gelungen, diese Steuer zu stabilisieren, sondern auch dafür
zu sorgen, dass die Gemeinden statt eines Gewerbesteueraufkommens in Höhe von 22 Milliarden Euro, wie es
vor einigen Jahren der Fall war, mittlerweile etwa
28 Milliarden Euro verbuchen können.
({2})
Laut Steuerschätzung sind hier in diesem Jahr
0,8 Milliarden Euro und im nächsten Jahr 0,4 Milliarden
Euro mehr zu erwarten. Eine positive Entwicklung! Das
sollte man sich als Beispiel nehmen. Es geht auch darum, Besteuerungsgrundlagen zu festigen, Bemessungsgrundlagen zu verbreitern und Schlupflöcher zu schließen. Der Weg, den wir gemeinsam gegangen sind, ist
vernünftig.
({3})
Es ist aber eine gefährliche Situation, dass der Bund im
laufenden Jahr bei den Steuereinnahmen ein Minus von
3,5 Milliarden Euro und die Länder ein Minus von
2,5 Milliarden Euro zu verzeichnen haben.
Herr Kampeter, es gibt ja einen interessanten Gegensatz. Wenn ich die Pressestimmen vernehme, dann stelle
ich fest, dass alle Ländervertreter, insbesondere Herr
Koch und Herr Stratthaus, sagen: Angesichts der gegenwärtigen Situation dürfen keine weiteren Steuersenkungen versprochen oder vorgenommen werden. Was haben
Sie aus der Finanzsituation gelernt? Das bedeutet doch
ganz klar, dass man mit dem Klammersack gepudert
wäre, wenn man die Gewerbesteuer mit einem momentanen Aufkommen in Höhe von 28 Milliarden Euro infrage stellte.
({4})
Ich habe Herrn Faltlhauser heute Morgen ganz genau
zugehört. Er hat gesagt, zum Herbst hin wolle die Union
ein abgestimmtes Unternehmensteuerkonzept vorlegen.
Ich bin gespannt, was mit der Gewerbesteuer geschehen
soll. Ich kann Ihnen garantieren, dass es zum Herbst hin
kein Konzept geben wird; denn die entscheidende Frage
ist, wie Sie die Gewerbesteuer mit einem momentanen
Aufkommen in Höhe von 28 Milliarden Euro auf die
Körperschaftsteuer sowie auf die Lohn- und Einkommensteuer umlegen wollen. Ich möchte sehen, wie Sie
das hinbekommen.
({5})
Diese Nummer wird noch viel tragischer als das, was wir
bei der Kopfpauschale erlebt haben.
({6})
Hier wären Sie gut beraten, sich noch einmal mit den
Ländern abzustimmen und zu schauen, was möglich ist.
Das hat natürlich auch mit der Frage zu tun - hier
habe ich heute Morgen ebenfalls genau zugehört -, ob
man den Körperschaftsteuersatz senken soll, um deutsche Unternehmen im europäischen Vergleich wettbewerbsfähiger zu machen. Wir sind übereinstimmend der
Auffassung, dass der Körperschaftsteuersatz von 25 auf
19 Prozent gesenkt werden muss. Das ist eine sinnvolle
Maßnahme, die - so die Länderseite - voll gegenzufinanzieren ist. Aber so wie die Haushaltssituation nach
der Steuerschätzung aussieht, ist eine volle Gegenfinanzierung ohne Inkaufnahme von Haushaltsrisiken erforderlich. Das wird die Herausforderung sein, vor der wir
in den nächsten Wochen stehen.
({7})
Ein bisschen enttäuscht bin ich, dass Herr Faltlhauser
in der Debatte über die Erbschaftsteuer, die ja Angelegenheit der Länder ist und ihre Haushalte betrifft,
({8})
keine Vorschläge für eine Gegenfinanzierung gemacht
hat.
({9})
Ich weiß von den Länderkollegen, die ich ja alle aus der
Vergangenheit kenne, dass darüber sehr kontrovers diskutiert wird. Diese sagen: Solche Einnahmeausfälle können wir uns eigentlich nicht leisten; so wünschenswert
eine steuerliche Förderung von Unternehmensübergängen auch ist, müssen wir darauf achten, welche Einnahmeausfälle damit verbunden sind und ob unsere Gestaltungsspielräume eingeengt werden. Ich bin auf die
weiteren Beratungen in den nächsten Wochen gespannt.
({10})
Wir können aus den Ergebnissen dieser Steuerschätzung lernen, dass es sinnvoll ist, im kooperativen Föderalismus bei der Festigung der Besteuerungsgrundlagen
zusammenzuwirken. Wenn man das tut, kann man sich
über die Absenkung von nominalen Steuersätzen unterhalten.
Herr Kollege!
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Georg Fahrenschon, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Diese Debatte ist auf jeden Fall in einer Hinsicht
spannend: Wir haben gerade den fünften Redner der Regierung bzw. der sie tragenden Koalition gehört; doch
zum Thema hat bislang kein einziger einen Vorschlag
gemacht.
({0})
Das zeigt wieder einmal, wer in dieser Republik Vorschläge macht und am politischen Prozess teilnimmt und
wer die Verhältnisse einfach nur noch hinnimmt, weil er
nicht mehr regierungsfähig ist.
({1})
Wenn wir uns mit dem Thema Mehrwertsteuererhöhung konkret auseinander setzen, dann können wir festhalten, dass die Vorschläge von Rot-Grün in Bezug auf
eine Mehrwertsteuererhöhung ein Paradebeispiel dafür
sind, wie man es nicht machen darf, weil so Verunsicherung in die Bevölkerung hineingetragen wird und genau
das Gegenteil von Sicherheit und Kontinuität in der
Steuer-, Finanz- und Wirtschaftspolitik ausgestrahlt
wird.
Von Anfang an, im Grunde seit Beginn der Amtszeit
von Hans Eichel, spielt die Mehrwertsteuer eine zentrale
Rolle. Bereits im ersten Regierungsjahr ging es darum,
30 Milliarden DM einzusparen. Schon damals stand eine
Mehrwertsteuererhöhung auf der Tagesordnung.
({2})
Ein Jahr nach der Regierungsübernahme, genau gesagt: am 9. Oktober 2000, ging es darum, die Höhe der
Ökosteuer zu reduzieren. Der Kanzler prüfte Alternativen zur Ökosteuer und brachte die Mehrwertsteuer in die
Diskussion.
Den Wechsel von der Ökosteuer zur Mehrwertsteuererhöhung könnte Schröder noch vor dem Jahresende ankündigen. Damit könne, so SPD-Strategen,
der öffentliche Druck aus der nächsten Stufe der
Ökosteuer-Erhöhung zum Januar 2001 genommen
werden.
Das stand in der „Welt“ vom 9. Oktober 2000. Die
Mehrwertsteuerdebatte war damit eröffnet.
Etwa sechs Monate später, am 2. März 2001, musste
der Finanzminister Pläne zur Erhöhung der Mehrwertsteuer dementieren. Es hieß, die Finanzierung der Rentenkasse durch die Ökosteuer sei gesichert. Die Äußerungen des Ministers Hans Eichel seien, so sein
Pressesprecher am Tag danach, überinterpretiert worden.
Es hieß, Rot-Grün plane keine Mehrwertsteuererhöhung.
Dann war Pause, weil das desaströse Finanzloch im
Bundesetat vor der Bundestagswahl 2002 bewusst verschwiegen wurde - Kronzeuge ist Oswald Metzger -;
sonst hätten Sie 2002 ebenfalls über eine Mehrwertsteuererhöhung debattiert.
Nach der Bundestagswahl 2002 hat es bis zum
25. November 2002, also nur wenige Wochen, gedauert,
bis die Mehrwertsteuer wieder ein Thema war. Der Finanzminister sagte in einem Interview mit dem „Focus“:
Wenn wir unsere Vorschläge nicht durchsetzen können,
denken wir über eine Änderung der Mehrwertsteuer
nach.
Im Oktober 2003 präsentierte der Finanzminister im
Zusammenhang mit dem Haushaltsbegleitgesetz 2003
- oh Wunder! - Ideen zur Mehrwertsteuererhöhung;
denn er musste das erste Mal - um es auf Bayerisch zu
sagen - die Hosen herunterlassen und einen Nachtragshaushalt in Höhe von 43,4 Milliarden Euro - das war
Nachkriegsrekord - vorlegen. Da er Angst hatte, diesen
Nachtragshaushalt über neue Schulden finanzieren zu
müssen, hat er selber eine Mehrwertsteuererhöhung ins
Gespräch gebracht.
({3})
Ein halbes Jahr später kam es dann zum Super-GAU
- ich zitiere -:
Gestern wurde in Koalitionskreisen bekannt, dass
Kanzler Gerhard Schröder und der SPD-Vorsitzende
Franz Müntefering am Mittwoch vergangener Woche Pläne Eichels für eine Mehrwertsteuererhöhung
um fünf Prozentpunkte in drastischer Weise zurückgewiesen haben.
Hans Eichel wollte mit den Mehreinnahmen von jährlich
45 Milliarden Euro - er wollte sich die Arbeit leicht machen - einerseits die Lohnnebenkosten senken und andererseits den Etat sanieren.
Fünf Monate später, im Oktober 2004, sagte der damalige Finanzminister des Landes Schleswig-Holstein:
Wir verlassen die politische Debatte über das Sparen;
wir schlagen lieber eine Erhöhung der Mehrwertsteuer
vor.
Aufgrund der von ihr von Anfang an betriebenen
Politik ist diese Regierung mittlerweile ein Standortrisiko in Deutschland.
({4})
Angesichts des derzeitigen Zustands der deutschen
Volkswirtschaft ist es, liebe Frau Hajduk, für die Binnenkonjunktur wirklich Gift, wieder einmal eine Mehrwertsteuererhöhung ins Spiel zu bringen. Es ist schon ein
spannendes Bild, wie Sie jetzt hier ganz allein an der
Spitze der grünen Bundestagsfraktion sitzen; Ihre eigenen Leute haben Sie nämlich im Stich gelassen.
({5})
In der Debatte um die Streichung von Steuersubventionen habe ich noch eine spannende Idee für Sie.
({6})
Sie sagen doch immer, wir müssten Steuersubventionen
streichen.
({7})
Erwägen Sie doch einmal folgenden Gedanken, der zu
Ihnen passen würde: Während die Mehrwertsteuer in
Deutschland 16 Prozent beträgt, beträgt sie zum Beispiel
in Schweden und in Dänemark 25 Prozent. Im Grunde
ist das niedrige Mehrwertsteuerniveau bei uns im Vergleich zu Schweden und Dänemark eine Steuersubvention des Staates.
({8})
Es wäre doch ein toller Vorschlag - auf den warten wir
jetzt noch -, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, um Steuersubventionen zu streichen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Die Mehrwertsteuererhöhung wäre Gift für die Konjunktur. Lassen Sie die Finger davon und kehren Sie
wieder zu einer vernünftigen Steuerpolitik zurück!
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Karin Roth, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe eigentlich gedacht, die Aktuelle Stunde sei
dazu da, dass wir ein Stück weit sachlich darüber diskutieren und vor allem nicht nur aus der Finanzsicht, sondern auch aus der wirtschaftspolitischen Sicht der Frage
nachgehen,
({0})
wie wir die Entwicklung in Deutschland voranbringen.
Wir müssen dabei die Steuereinnahmen - das hat der
Staatssekretär schon gesagt - auch unter der Bedingung
des wirtschaftlichen Wachstums sehen. Ich bin enttäuscht worden. Den Damen und vor allem den Herren
der Opposition geht es offensichtlich nur darum, die
Menschen in unserem Land zu verunsichern. Gerade der
letzte Beitrag war ja eine Arie über die Mehrwertsteuererhöhung.
({1})
Ich darf darauf hinweisen, dass die letzte Mehrwertsteuererhöhung 1997 war und mit Ihren Stimmen im Bundestag beschlossen worden ist.
({2})
Deshalb sage ich Ihnen: Seien Sie vorsichtig!
({3})
- Wir haben damals zugestimmt. Wir waren dafür, die
Mehrwertsteuer zu erhöhen, weil wir den Rentenversicherungsbeitrag nicht erhöhen wollten. Das war die
Argumentation.
({4})
Nun ist der Herr Barthle schon weg; wahrscheinlich
war es so wichtig, dass er nicht mehr zuhören konnte.
Karin Roth ({5})
({6})
Herr Barthle hat gesagt, wir müssten an die Ausgaben
richtig rangehen. Er hat leider vergessen zu sagen, wo.
({7})
Im Haushalt gibt es einen großen Posten, nämlich
80 Milliarden Euro, die wir im Rahmen der Steuerfinanzierung der Rente ausgeben. Möchte Herr Barthle bei
diesen Ausgaben einsparen? Wenn er das möchte, dann
- das hat meine Kollegin Hajduk schon angemerkt muss er den Rentnern sagen, dass er die Renten kürzen
will. Sie müssen es den Menschen sagen.
({8})
Dazu sind Sie nicht in der Lage. Im entscheidenden Moment ducken Sie sich immer weg.
({9})
Das gilt für die CDU/CSU, für die FDP sowieso.
({10})
Wir sind auf dem richtigen Weg, wenn wir sagen
- Ortwin Runde hat schon deutlich gemacht, wie schwer
das ist, sowohl für die Länder als auch für den Bund -:
Wir müssen die Staatsausgaben konsolidieren,
({11})
aber wir dürfen die Konjunktur nicht abbremsen - das ist
wichtig -; denn die Konjunktur ist Voraussetzung für
Wachstum und Beschäftigung sowie Steuereinnahmen.
({12})
Das Wissen um diese Logik ist bei Ihnen abhanden gekommen.
Man sieht diesen Zusammenhang auch. Wir haben im
ersten Vierteljahr zur Überraschung aller eine doppelt so
hohe Wachstumsrate, als erwartet worden ist. Wir sind in
der Eurozone jetzt vorn.
({13})
Kaum haben wir ein bisschen mehr Wachstum und Beschäftigung,
({14})
machen Sie jetzt Folgendes - das gilt vor allem für die
FDP -: Sie reden es schlecht.
({15})
Wir brauchen eine andere Debatte.
({16})
Für uns ist wichtig, dass wir die Staatsfinanzen stabilisiert haben. Die Frage ist, was Sie machen, Herr
Koppelin. Sie erzählen ständig über Subventionsabbau.
Sie halten Ihr Gebetsbuch hoch.
({17})
Aber wenn es um die Fakten geht, dann - das ist die
Wahrheit - rudern Sie zurück und sagen: Nein, das wollen wir nicht. Das ist ein Missverständnis. - Ich sage Ihnen: Wer sonntags über Steuersubventionen redet und
sich montags nicht mehr daran erinnert,
({18})
der besitzt nicht die Fähigkeit zum Regieren. So sieht es
aus.
({19})
Es geht Ihnen nur darum, im Steuerbereich etwas für
Ihre Klientel zu tun,
({20})
aber umgekehrt sind Sie nicht bereit, Ihre Verantwortung
im Bundesrat wahrzunehmen.
({21})
Der Bundesrat blockiert nämlich den Subventionsabbau.
Das ist der entscheidende Punkt. Wir haben deutlich gemacht, was wir wollen. Sie haben aber die von uns unterbreiteten Vorschläge nicht Realität werden lassen.
({22})
Der Vorschlag der CDU/CSU, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 1,5 Prozentpunkte zu senken,
würde dazu führen, dass im Haushalt der Bundesagentur
für Arbeit 11 Milliarden Euro fehlen. Wenn Sie diesen
Betrag über Steuereinnahmen gegenfinanzieren wollen,
müssen Sie hier und heute sagen, wie Sie sich das konkret vorstellen. Sie können doch nicht auf der einen Seite
Steuern senken, auf der anderen Seite aber Vorschläge
unterbreiten, die dazu führen, dass noch weitere Staatsausgaben erforderlich werden.
({23})
Aus meiner Sicht weisen Ihre Forderungen in die falsche Richtung. Wir müssen die Investitionen stärken,
wir müssen
({24})
die Verkehrsinfrastruktur ausbauen, also Dinge tun, die
die Konjunktur ein Stück weit anregen.
Karin Roth ({25})
({26})
Damit sorgen wir für mehr Wachstum. So werden auch
wieder mehr Steuereinnahmen kommen. Diese Logik legen wir zugrunde, nicht nur die einfache Logik des Sparens, das am Ende nichts bringt.
({27})
Das Wort hat der Kollege Peter Rzepka, CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Alle Jahre wieder das gleiche Bild. Steuerschätzung Mai 2002: 65 Milliarden Euro weniger, Steuerschätzung Mai 2003: 126 Milliarden Euro weniger,
({0})
Steuerschätzung Mai 2004: 61 Milliarden Euro weniger und Steuerschätzung Mai 2005: 66 Milliarden Euro
weniger als ursprünglich angenommen und den Haushaltsplanungen zugrunde gelegt.
({1})
Wieder einmal werden die optimistischen Wachstumsprognosen dieser Bundesregierung in dramatischer
Weise von der Realität widerlegt. Jedes Jahr aufs Neue
werden im Bundeshaushalt leichtfertig die Einnahmen
zu hoch und die Ausgaben zu niedrig angesetzt. Es rächt
sich zunehmend, dass dieser Bundesregierung jegliche
ordnungspolitische Orientierung fehlt.
({2})
Die aktuelle Diskussion um eine Erhöhung der Mehrwertsteuer passt in dieses Bild. Eine Erhöhung der
Mehrwertsteuer wäre Gift für die Konjunktur und würde
die binnenwirtschaftliche Entwicklung zusätzlich belasten. Gelingt es den Unternehmen, die Erhöhung auf die
Konsumenten abzuwälzen, wird die Binnennachfrage
weiter geschwächt. Kann die Steuererhöhung nicht an
die Verbraucher weitergegeben werden, tragen die
Unternehmen, vor allem der Einzelhandel und das Handwerk, die zusätzlichen Belastungen. Die Wachstumsund Beschäftigungskrise würde sich ausweiten,
Schwarzarbeit weiter zunehmen, Steuer- und Beitragseinnahmen würden erneut zurückgehen. Sie erleben es
gerade bei der Tabaksteuer - der Kollege Kampeter hatte
schon darauf hingewiesen -: Steuererhöhungen können
im Ergebnis zu Steuermindereinnahmen führen.
({3})
Deshalb ist es unverständlich, warum im Bundesfinanzministerium offenbar Pläne zur Erhöhung der Umsatzsteuer verfolgt werden. Es gibt nur eine denkbare
Erklärung: Es ist die pure Verzweiflung des Bundesfinanzministers. Wir haben einen Bundesfinanzminister,
der die Übersicht verloren hat, dessen Haushaltspläne
Jahr um Jahr danebenliegen, der sich jedes Jahr mit Verstößen gegen das Grundgesetz und die Maastricht-Kriterien blamiert, der mit Tricks wie der Versilberung der
Postpensionsverpflichtungen und dem Verkauf von Kreditforderungen versucht, über die wahre Haushaltslage
zu täuschen. „Tricksen, täuschen, tarnen“ nennt das die
„Süddeutsche Zeitung“ von heute. Der Minusminister
braucht mehr Geld um fast jeden Preis, weil er es versäumt hat zu sparen und weil er kein steuerpolitisches
Gesamtkonzept hat.
Auch den Grünen fehlt der notwendige Sachverstand
in der Steuerdebatte. Die Kollegin Hajduk will die
Mehrwertsteuer gar um 2 Prozentpunkte anheben. Überdies wollen die Grünen zur Finanzierung der Körperschaftsteuersenkung die Exportwirtschaft mit 5 Milliarden Euro jährlich mehr belasten und legen damit die Axt
an diesen sehr erfolgreichen Zweig der deutschen Volkswirtschaft.
Auf Initiative der Grünen wurden die Gesetzentwürfe
des Bundesfinanzministers zur Senkung der Körperschaftsteuer und der Erbschaftsteuer von der Tagesordnung der heutigen Sitzung genommen. „Wir haben
grundsätzliche Bedenken mit beiden Gesetzentwürfen“,
sagt der wirtschaftspolitische Sprecher der Grünen unter
Verweis auf die neue Steuerschätzung. Der zuständige
stellvertretende Fraktionschef der SPD wirft dem kleinen Koalitionspartner vor, der Opposition Steilvorlagen
zu liefern, obwohl auch in der SPD-Fraktion die vom
Bundeskanzler angekündigten Steuergesetze heftig umstritten sind.
In dieser Situation stellt sich doch die Frage, ob dieser
Finanzminister überhaupt noch irgendeinen wesentlichen Einfluss auf die Steuerpolitik dieser Regierungskoalition hat.
({4})
Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Koalition nicht
die Kraft haben wird, die Unternehmensteuern zu senken, und nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen
die Mehrwertsteuer erhöht.
({5})
Die Haltung der Unionsfraktion ist demgegenüber
ganz klar: Mit uns wird es keine zusätzliche Belastung
der Bürger und Unternehmen zum Stopfen von Haushaltslöchern geben. Eine kurzfristige Konsolidierung der
öffentlichen Finanzen muss auch über die Kürzung von
Ausgaben erreicht werden. Was wir jetzt brauchen, sind
ein Nachtragshaushalt und ein Haushaltssicherungsgesetz.
Die Unionsfraktion fordert den Bundesfinanzminister auf, endlich eine Haushaltsplanung vorzulegen, die
auf realistischen Wachstumsprognosen beruht. Der Konsolidierungsbedarf muss von einer soliden Basis aus berechnet werden. Alles deutet darauf hin, dass es zu Einschnitten kommen muss, auch in Leistungsgesetze. Der
schrittweise Abbau von Subventionen, der ja mit dem
Koch/Steinbrück-Papier bereits begonnen wurde, muss
jetzt fortgesetzt werden. Es ist an der Zeit, dass der Bundesfinanzminister handelt, meine Damen und Herren.
Ihnen wünsche ich frohe Pfingsten. Schönen Dank.
({6})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 1. Juni 2005, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch unseren
Zuschauerinnen und Zuschauern auf der Tribüne ein
schönes Pfingstfest.
Die Sitzung ist geschlossen.